I Karl A. E. Enenkel Die Erfindung des Menschen
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Karl A. E. Enenkel
Die Erfindung des Menschen Die Autobiogr...
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I Karl A. E. Enenkel Die Erfindung des Menschen
II
III
Karl A. E. Enenkel
Die Erfindung des Menschen Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius
Walter de Gruyter · Berlin · New York
IV
Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019352-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
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Vorwort Manche Bücher verlangen ihren Verfassern viel Mühe, Zeit und Geduld ab. Das gilt in vollem Ausmaß für dieses Buch. Jedoch hat mir die Arbeit an ihm zugleich soviel Freude bereitet, dass der Moment, an dem es gilt, sie nach Goethes Wort in der Italienischen Reise „für fertig zu erklären“, also gewissermaßen von ihr Abschied zu nehmen, nicht nur willkürlich, sondern fast schmerzlich erscheint. Während es natürlich reizvoll ist, Arbeiten zügig in ein bis zwei Jahren zum Abschluss zu bringen, gibt es Themen, die sich dem widersetzen. Das Thema dieses Buches zählt dazu. Seine Komplexität hat bedingt, dass eine längere Zeitspanne zu seiner Bewältigung erforderlich war, ja dass die jetzt vorliegende Arbeit in ihren Hauptteilen zweimal, und in manchen Teilen sogar dreimal geschrieben wurde. Da das Buch nicht nur in einem längeren Zeitraum, sondern an verschiedenen Orten – in Wien, Rom, Moskau, Mönichkirchen und natürlich auch Leiden – entstanden ist, haben mehrere Organisationen, Institute und Personen an seiner Entstehung Anteil gehabt, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Eine erste Version, die ungefähr die Hälfte des Umfangs des jetzt vorliegenden Buches hatte, war 1999 fertiggestellt worden. Das Projekt, das dazu führte, ist von der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen (KNAW) für fünf Jahre finanziert worden. Ohne das Fellowship, das mir die Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen in großzügiger Weise zur Verfügung gestellt hat, hätte die vorliegende Arbeit nicht zustande kommen können. Weiter hat die Arbeit durch ein Forschungssemester, das ich 2002/2003 als Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien verbringen durfte, sehr gewonnen. An dieser Stelle möchte ich dem damaligen Direktor des IFK, Gotthart Wunberg, für die freundliche Einladung danken sowie dem gesamten IFK-Team für die ganz hervorragende und ungewöhnlich herzliche Betreuung. Den Fellows am IFK, besonders Siegfried Schmidt und Gerd Baumann, danke ich an dieser Stelle für die inspirierenden Diskussionen, die mich dazu anregten, die Grundlagen neu zu überdenken. Die Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO) hat für diese Periode meine Unterrichtsvertretung an der Universität Leiden finan-
VI
Vorwort
ziert. Für zwei Forschungsaufenthalte in Rom danke ich dem Koninklijke Nederlandse Instituut (KNIR) für die freundliche Aufnahme. Meinem Assistenten Coen Maas möchte ich für seine tatkräftige Mitarbeit an der Bibliographie meinen Dank aussprechen. Die Lipsius- und Junius-Kapitel, die in Moskau entstanden sind, haben von den Diskussionen, die ich auf langen Winterspaziergängen mit Olga Novikova führte, sehr profitiert. In den unterrichtsfreien Perioden stand mir bei meinen Eltern in Mönichkirchen immer ein ruhiges Haus mit einer wunderbaren Aussicht auf die Bergwelt der Voralpen zur Verfügung, ein idealer Ort zum Schreiben und Nachdenken. Schließlich gebührt mein besonderer Dank meinem Kollegen Stephan Busch, der das Manuskript korrekturgelesen, mir wertvolle Hinweise gegeben und mich vor manchem Fehltritt behütet hat. Wien und Leiden, im August 2006
Karl Enenkel
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Inhalt
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
I.
1 1
II.
Einleitung. Gegenstand und Methodik . . . . . . . . . . 1. Beunruhigende Perspektivwechsel . . . . . . . . . . . 2. Diskontinuitätsansage: die Autobiographik als Kampfmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Autobiographie – eine Textgattung? . . . . . . . 4. Geschichten wie Kleider. Die Verfasstheit der Erinnerung in der humanistischen Autobiographik . . . . . 5. Autobiographik als Kommunikation: der Bezugsrahmen der internationalen Respublica litteraria . . . . . . 6. Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Aufbau und Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . Francesco Petrarca: Autobiographie in Briefen . . . . . 1. Die Ausgangslage: auf der Suche nach der Autorisierung der Autobiographik . . . . . . . . . . 2. Erster Vorstoß in die Autobiographik: räumliche und literarische Verortung in Metrischen Briefen . . . 2.1 Machtergreifung durch räumliche Verortung . . 2.2 Autorisierung der Briefautobiographik durch literarische Verortung: Petrarca als neuer Horaz 3. Petrarcas Lebenslauf: Antikenfindung – (Er)Findung eines Vaterlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neuer Vorstoß in den autobiographischen Raum: die (Er)Findung des humanistischen Privatbriefes (Familiarium rerum libri, 1345–1366) . . . . . . . . . 5. Einschreibung in den literarischen Ewigkeitsraum: die Erfindung des Posteritas-Diskurses . . . . . . . .
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VIII
Inhalt
III.
Biographie als Manifest des Humanismus: Boccaccios Leben und Gewohnheiten des Herrn Franciscus Petracchi von Florenz (De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Auf der Suche nach einem Zugangspass zum Humanismus: Giovanni Boccaccio – Iohannes de Certaldo . . 88 2. Biographie als Hierarchiekonstituierung der Respublica litteraria: Einschreibung Petrarcas in den Suetonischen Kaiserdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3. Umbruch des Suetonischen Diskurses: rhetorisches Personenlob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Gesichter wie Kleider. Die Manipulation des Äußeren durch Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5. Gewaltsame Neuinstallierung eines Diskurses: die Religion des Ruhmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
IV.
Petrarca, Brief an die Nachwelt: Umgestaltung des biographischen in den autobiographischen Diskurs (1370/71) . . 1. Dekorumsuche: das passende Gewand des Autobiographen oder Autobiographie ex negativo . . . . . . . . . 2. Zwischen Voyeurismus und Monumentalästhetik: der Ort des Individuellen und Privaten im Brief an die Nachwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sein Name sei Petrarca. Die Erfindung der humanistischen Identität . . . . . . . . . . . . . .
V.
Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie Von meinen geheimen innerlichen Konflikten (De secreto conflictu curarum mearum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wunden und Gewalt: das Identitätskonstrukt auf der Schlachtbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Respublica litteraria auf den zweiten Rang: Entautorisierung des Autors und des Publikums . . . 3. Augustins Rolle im Secretum: Personifizierung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Identitätskonstrukt im Beichtstuhl . . . . . . . . 5. Augustin und die Neuorientierung des Humanismus: paratextuelle Meditation philosophischer Texte . . . .
108 109
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127 127 131 133 135 142
IX
Inhalt
VI.
VII.
Der Ursprung der modernen Autobiographie? Giovanni Conversinos Haushaltsbuch des Lebens (Rationarium vite; nach 1393/1401) . . . . . . . . . . . 1. Beichte und Dokumentierungsrede: hermeneutische Wahrhaftigkeit an der Wiege der modernen Autobiographie . . . . . . . . . . . . 2. Irrungen, Wirrungen: Conversinos Lebenslauf . . . 3. Der Beichtdiskurs und seine Übertragung in die Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ein religiöses Erbauungsbuch? Conversino und Augustins Confessiones . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Inversion des religiösen Bekenntnisdiskurses . . . . 6. Apologie: Augustins Confessiones als Beglaubigungsmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ein humanistisches Erbauungsbuch: Conversinos Konversion und Petrarcas vita-solitaria-Ideal . . . . 8. Haushaltsbuch des Lebens: Senecas philosophische und Conversinos humanistische Buchhaltung . . . 9. Epilog. Der Zusammenprall von Wunschrede und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Ursprung des Renaissance-Übermenschen (uomo universale): die „Autobiographie“ des Leon Battista Alberti (1438) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung. Das Konzept des uomo universale . . . . . 2. Ein Bastard sucht Akzeptanz: Albertis Lebenslauf . . 3. Eine Autobiographie? Diskursfriktionen . . . . . . . 4. Diogenes: die (Er)Findung der Philosophenbiographie 5. Phantombild des Verfassers der Alberti-Biographie . . 6. Lapo da Castiglionchio . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Diskursverschiebungen: die Topik des AlbertiBiographen und Burckhardts uomo-universale-Ideal 8. Epilog. Die diskursive Verortung der Vielseitigkeit des Leon Battista Alberti in der Reihenbiographie des Bartolomeo Facio (1455/1456) . . . . . . . . . . . . .
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226
X VIII.
IX.
X.
XI.
Inhalt
Seiltanz zwischen Ovid-Legitimierung und OvidContrafakturierung: Giannantonio Campanos erste Autobiographie (1455/56) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung. Ein Loblied auf die Mobilität des sozialen Aufsteigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Hirten zum Hofdichter: Giannantonio Campanos Lebenslauf bis zum Jahr 1457 . . . . . . . . . . . 3. Abfassungsdatum und literarischer Kontext des autobiographischen Fragments . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fakturierung und Contrafakturierung: neuer Ovid – Anti-Ovid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographische Beglaubigung in der Welt des Traums: Giannantonio Campanos Elegie Somnus (1455/56) . . . . 1. Einleitung. Die autobiographische Narratio im Schlaf 2. Ein Fall für Psychologen – Autobiographie als erotisches Bekenntnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die diskursive Verortung der Traumautobiographie oder das Problem der Liebeselegie als Auftragswerk . . 4. Mein Name sei Campano. Der Dichter, seine neue Heimat und die epische Selbstkonstituierung . . . . . Autobiographik als Welteroberung: Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II., 1432–1464) . . . . . . . . . . 1. Einleitung. Das politische Machtmittel der autohistoriographischen Rede . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Humanist auf den Stuhl des Petrus: die spektakuläre Karriere des Enea Silvio . . . . . . . . . . . . 3. Briefautobiographik 1 (ab 1432): ‚Die Entdeckung der Welt und des Menschen‘ oder Weltkontrolle durch die Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Briefautobiographik 2 (1444): Versuch der (Rück)Eroberung des Dichterraumes durch Selbstkonstituierung als neuen Horaz . . . . . . . . . . . .
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Päpstliche Autobiographik: die Aufzeichnungen (Commentarii; bis 1464) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 1. Das Verschwinden der Autobiographie im Religionsstreit: ein Deutscher als Verfasser der Commentarii . . 300
Inhalt
XI
2. Enzyklopädik? Diaristik? Memoiren? Automatischer Erlebnisflux? Unzusammenhängendes Erzählen? Zur Komposition der Commentarii . . . . . . . . . . . 304 3. Papst und Caesar: Pontifikatsgeschichte als Feldherrndiskurs oder die Maximierung der Evidenzrede . . . . 312 4. Enea und Aeneas: hermeneutische ‚Erlebnisse‘ oder Einschreiben in den epischen Diskurs . . . . . . . . . 319 XII.
XIII.
XIV.
Papstbiographie: Giannantonio Campano . . . . . . . . 1. Missglückter und posthumer Hofbiograph des Papstes: Giannantonio Campano von Paul zu Pius . . 2. Eine Verschwörung der Respublica litteraria? Der Kontext der Pius-Biographik . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Campanos Vita Pii und die Commentarii: Faktenkonstituierungen des autobiographischen und des biographischen Diskurses . . . . . . . . . . . 4. Der Papst ins Gewand des römischen Kaisers: Anwendung, Transformation und Nuancierung des Suetonischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Biographie als Fürstenspiegel – Fürstenspiegel als Papstkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Biographien-Wettstreit im Gefängnis: Platina gegen Campano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Todessehnsucht am Schwarzen Meer: Michael Marules’ lyrische Autobiographik im „Exilgedicht“ („De exilio suo“; 1489/90; 1497) und anderen Gedichten . . . . . . 368 1. Einleitung. Psychologisches Selbstporträt eines suizidalen Erlebnislyrikers? . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 2. Literarische Ehrenrettung eines Kampfverweigerers? Marullos Exilgedicht in die Aeneis . . . . . . . . . . . 376 3. Marullos verschiedene Exile von Russland bis Neapel: Dekonstruktion von Marullos Biographie oder die (auto)biographische Relevanz poetischer Geographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4. Lyrische Gegenwart und Authentizität. Zur Abfassungszeit des Exilgedichts . . . . . . . . . . 397 5. Michael sei ein Konstantinopolitaner. Faktenvergewaltigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
XII
Inhalt
6. Mein Name sei Tarchaniota . . . . . . . . . . . . . . 7. „Es ist Sitte meiner Väter …“: Griechischer Heldentod als Mittel der Alteritäts-Selbstpräsentation . . . . 8. „De exilio suo“ – eine Apologie der Griechen? Der Fall Konstantinopels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Venus, Ovid und der Kreuzzug: Zusammenführung der Interpretationsstränge . . . . . . . . . . . . . . . 10. Posthume Gräzisierung eines lateinischen Autors: die Verortung des ‚Erlebnislyrikers‘ in der Biographik des Paolo Giovio (1546) . . . . . . . . . . . . . . . . XV.
XVI.
Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus’ Liebesbrief an die Nachwelt (1514) . . . . . . . . . . . . . 1. Diskursbruch? Selbstlob als autobiographische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Dörfler zum Dichter: Eobans Lebenslauf . . . . 3. Autobiographie als literarischer Liebesbrief . . . . . . 4. Autobiographik als Heroinenrhetorik, erste Ebene: erotische Selbstkonstituierung . . . . . . . . . . . . . 5. Autobiographik als Heroinenrhetorik, zweite Ebene: vom Liebesbrief zum Werbeschreiben des Autors an die Respublica litteraria . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Wahrheit und Überprüfbarkeit? . . . . . . . . . . . . 7. Autobiographisches Duell: Einschreibung in die Respublica litteraria als neuen Ovid . . . . . . . . . . Tod eines humanistischen Helden: Trauerbiographik für Eobanus Hessus (1540; 1543) . . . . . . . . . . . . . . . 1. ‚Erlebnisdichtung‘? – Jacobus Micyllus’ Trauergedicht für Eobanus Hessus mit Biographie (Epicedion Eobano Hesso continens vitae ipsius descriptionem) . . . . . . . . 2. Wiedergabe „individueller Stimmung“: Georg Ellingers hermeneutische Interpretation der neulateinischen Dichtung am Beispiel des Micyllus 3. Humanistisches Trauerritual: Selbstbestätigung der Respublica litteraria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Diskursadaption: vom Heroinenbrief zur metrischen Trauer- und Memorialbiographie . . . . . . . . . . . 5. Das Leben eine Reise oder Eoban als homerischer Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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450
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Inhalt
XVII.
Die wunderbaren Wirkungen der Dokumentierungsrede: Erasmus’ Leitfaden für seine Biographie (Compendium vitae) und andere autobiographische Lebensabrisse (1516–1529) 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die biographische Dokumentierungsrede: Erasmus’ Brief an Lambertus Grunnius . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Kontext des Compendium vitae und des Briefes Nr. 1436: Todeserwartung und humanistische Polemik 4. Florentius – Erasmus, Biographie – Autobiographie: die inhaltliche Gleichläufigkeit der Lebensabrisse . . 5. Maskenspiel: die publizistische Verwertung des autobiographischen Plädoyers . . . . . . . . . . . . 6. Kindheit und Jugend: die inhaltliche Selektionierung der Lebensabrisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die diskursive Verortung der Lebensabrisse: juristische Narratio . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Authentische Dokumentierung? Die drei Lebensabrisse im Vergleich oder im Glaspalast der virtuellen Wirklichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Chronologische Dokumentierung . . . . . . . . B. Kausale und sachliche Dokumentierung . . . . . 9. Die Tilgung von Lebensfakten: das wundersame Verschwinden des Bruders im Compendium vitae . . . 10. Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
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494 494 497 506 511
XVIII. Autobiographie in die Allegorie oder die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie (1527–1530) . 513 1. Einleitung. Ort der Kindheit – Erkennen und Befremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 2. Sannazaro’s Lebenslauf: Jacobus Sannazarius wird Actius Sincerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 3. Die Verlandschaftung der Autobiographie 1: Topothesie, Ekphrasis . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 4. Die Verlandschaftung der Autobiographie 2: Arkadien, der Ort der Akademiker . . . . . . . . . . 531 5. Der sakrale Akt: Properz’ und Sannazaros Dichterweihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 6. Der geniale Gattungswanderer: allegorisches Dichterleben auf den Spuren Vergils und darüber hinaus . . 540
XIV
Inhalt
7. Verbannung aus der Dichterlandschaft – eine Rechtfertigung des Inspirationsverlustes? . . . . . 542 8. Das passende Ethos des Autobiographen: Exil und Sprachverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 XIX.
XX.
XXI.
Diskurskaleidoskop. Die multiple Autobiographik des österreichischen Edlen Sigmund von Herberstein (1553–1564) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung. Autobiographik eines Mannes ohne Eigenschaften, im Licht der zweiten Selbstbiographie (bis 1553) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskursumbruch. Vom Rechenschaftsbericht des Botschafters zum Adelsbuch (1556–1558) . . . . . . . 3. Vom Adelsbuch und vom Rechenschaftsbericht des Botschafters zur Posteritas-Publikation: die erste lateinische Autobiographie (1558) . . . . . . . . . . . 4. Kleider machen Leute: die Prunkausgabe der deutschen Adelsbuch-Autobiographie (1560) . . . . . 5. Humanismus und Adel: die Prunkausgabe der lateinischen Autobiographie (1560) . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsverdopplung? Persönlichkeitsspaltung? Diskursspaltung? Dichterisches und prosaisches Ich in den Autobiographien des schweizer Reformators Joannes Fabricius/Hans Schmid (1565) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung. Zwei Autobiographien . . . . . . . . . . . 2. Fabricius’ Lebenslauf: Ausbildung zum protestantischen Pfarrer und humanistischen Schulmann . . . . 3. Klage- und Trauerdiskurs gegenüber Gelehrten- und Bildungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schmid sei Ovid. Die Dichterautobiographie und der Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Appendix. Joannes Fabricius’ Dichterautobiographie Vita Ioannis Fabricii Montani eodem auctore . . . . . . .
546
546 553
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575 575 581 582 596 613
Der seltsame Zauber der stupsnasigen Zicklein Westflanderns: Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt (1573) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 1. Diskursfriktionen im Brief an die Nachwelt: Spannungsverhältnis zwischen Authentizitätsrede und Wunschwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619
XV
Inhalt
2. De Sluperes Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . 3. In Sincerus’ Schatten: Sluperius’ Bukolisierung der Autobiographie als Sannazaro-Imitation und Katholizismus-Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Referenzpunkt der Bukolik: der Niederländische Aufstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Selbstkonstituierung des Vergilianischen Dichters in Bezug auf den Herrscher: das politische Statement der Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Appendix. Lateinischer Text von Sluperius, Brief an die Nachwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII.
Paranormale Autobiographik: Gerolamo Cardanos De vita propria (1574–1576) . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exhibitionismus am „Nabel der Werke“? . . . . . . 2. Augustus. Die geheimen Kräfte des Suetonischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Autobiographie als Selbstvergewisserung im Feld der okkulten Kräfte: der Zusammenhang von De vita propria mit dem Dialog mit Fazio (1574) . . . . . . . 4. Marc Aurels Ad se ipsum oder Autobiographie als Meditationshilfe zur Lebensbemeisterung . . . . . .
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. 658 . 666
XXIII. Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: François du Jons (Junius’) Vita (1575–1578; 1595) . . . . 1. Präzise Lesersteuerung eines autobiographischen Paktes: die diskursive Textverortung des Herausgebers Merula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Junius’ Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Diskursverdopplung aus der Textgenese: zu Abfassungszeit, Abfassungsort und Publikation der Schrift . . . . 4. Diskontinuität der Werte. Statt römischer Triumph Triumph der Machtlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Prädestination der Erwählten: Autobiographie als Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Einschreibung in eine Bekehrungsgeschichte: Junius’ Vita und Augustins Confessiones . . . . . . . . . . . .
670
670 680 685 694 700 708
XVI
Inhalt
7. Junius’ narrative Textorganisation: zeitdeckendes Erzählen als Meditationshilfe zur Einübung der Prädestinationslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 8. Diskursumbruch: vom Augustinischen Bekenntnisdiskurs in den Diskurs der kalvinistischen Welteroberung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 XXIV.
XXV.
Autobiographie als Genealogie: Joseph Scaligers Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae (1594) . . . . . . . . 1. Lesersteuerung: der humanistische, historische Überlieferungspakt des Herausgebers Janus Dousa d.J. . . . 2. Verunsicherungen: Selbstlob, Scheltrede, Hassrede . . und andere Inversionen des autobiographischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Netz der Invektiven oder wie Giulio Bordon sich in Julius Caesar Scaliger verwandelte . . . . . . . . . . 4. Dokumentierungsrede und Beglaubigungsdiskurs . . . 5. Virtus Scaligera: die autobiographische Tugendrede als Adelsbeleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Scaliger, „ein alter Holländer“: Autobiographien als Quellen frühneuzeitlicher Identitätsgefühle? . . . . . Dekonstruktion einer Autobiographie: Kaspar Schoppes kommentierte Neuauflage von Scaligers Epistola (1607) . . 1. Eine unerwartete Diskursverlagerung: der detaillierte Kommentar zu einer zeitgenössischen Autobiographie 2. Der biographische Kontext: Schoppes Lebenslauf . . . 3. Dekonstruktion: Zerlesen der Autobiographie in Argumentation und Typographie . . . . . . . . . . . 4. Entvirtuosisierung: Dekonstruktion von Scaligers Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Netzwerk und Netzwerkspaltung: Sinn und Hintergrund der autobiographischen Dekonstruktion 6. Schoppes autobiographische Dekonstruktion als jesuitisches Komplott? . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der protestantische Humanist nach Rom: Neukonstituierung des Netzwerkes . . . . . . . . . . .
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733 736 743 747 752
756 756 759 761 765 769 772 774
XVII
Inhalt
XXVI. Odysseus auf der Rückreise ins Vaterland oder Chamäleontik als autobiographische Methode: Justus Lipsius (1600) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einstieg: Autobiographie in den Diskurs der Privatkorrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lipsius’ Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstkonstituierung in der Respublica litteraria . . . . 4. Thematische Verortung der Autobiographie im Privatbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Autobiographie als Vorlage für ein literarisches Monument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Autobiographische Chamäleontik als Methode . . . . 7. Der „Neue Mensch“: das Haus der Liebe als ethischer Rückhalt der autobiographischen Chamäleontik . . . 8. Das Humanistenporträt als Andachtsbild: Joannes Woverius’ Publikation des Lipsius-Porträts (1606) . . .
777 777 783 785 790 794 797 814 818
XXVII. Rückblick, Überblick, Ausblick. Theoretische Weiterentwicklung der gewonnenen Ergebnisse . . . . . . . . . . 823 XXVIII. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachschlagewerke, Handbücher . . . . . . . . . 2. Studien zur Theorie der Autobiographie . . . . 3. Auswahlbibliographie zur Geschichte der (Auto)biographik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Biographik und Autobiographik der Antike 3.2 Auswahlbibliographie zur volkssprachlichen (Auto)biographik der frühen Neuzeit und ergänzende Bibliographie zur lateinischen (Auto)biographik der frühen Neuzeit . . . . 4. Bibliografie zu den einzelnen, in diesem Buch behandelten Autoren . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Beunruhigende Perspektivwechsel
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I. Einleitung. Gegenstand und Methodik 1. Beunruhigende Perspektivwechsel Bis zum heutigen Tage habe ich in der Tat nahezu mein ganzes Leben auf Wanderschaft verbracht. Meine Irrfahrten kann man mit denen des Odysseus vergleichen; wenn ich ebenso berühmt wie er wäre und ebenso glänzende Taten vollbracht hätte, könnte man sagen, dass seine Irrfahrten sich weder über ein größeres Gebiet erstreckten noch länger dauerten als die meinen: Odysseus verließ sein Vaterland erst im reiferen Mannesalter, einem Alter, in dem einem die Zeit immer kürzer vorkommt. Ich aber bin in der Verbannung gezeugt, in der Verbannung geboren, und die Geburt war so schwer und gefährlich, dass nicht nur die Hebammen, sondern sogar die Ärzte meine Mutter längere Zeit für tot hielten. So fingen für mich die Gefahren an, noch ehe ich geboren war und ich betrat die Schwelle des Lebens im Zeichen des Todes. Daran erinnert sich Arezzo, eine vornehme Stadt Italiens, wohin mein aus seinem Vaterland vertriebener Vater, begleitet von einer großen Schar Wohlgesinnter, geflüchtet war. Von dort wurde ich im siebenten Monat weggebracht und auf dem rechten Arm eines kräftigen jungen Mannes in der ganzen Toskana herumgetragen. Er trug das ganz in Linnen eingewickelte Kind – es tut gut, mich gemeinsam mit dir an die Anfänge meiner Irrfahrten zu erinnern – an einem knotigen Stock baumelnd, um den zarten Körper nicht durch Berührung zu verletzen, genauso wie einst Metabus Camilla. Als er beim Überqueren des Arno von seinem strauchelnden Pferd abgeworfen wurde, wäre er bei dem Versuch, den ihm anvertrauten Schatz zu retten, fast selbst in der heftigen Strömung ertrunken. In Pisa war die toskanische Irrfahrt zu Ende. Von dort wurde ich im siebenten Lebensjahr wieder fortgerissen und übers Meer nach Frankreich gebracht: Als ich unweit von Marseille in winterlichen Nordstürmen Schiffbruch erlitt, hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre zum zweiten Mal aus der Vorhalle meines jungen Lebens abberufen worden. […] nempe cui usque ad hoc tempus vita pene omnis in peregrinatione transacta est. Ulixeos errores erroribus meis confer: profecto, si nominis et rerum claritas una foret, nec diutius erravit ille nec latius. Ille patrios fines iam senior excessit; cum nichil in ulla etate longum sit, omnia sunt in senectute brevissima. Ego, in exilio genitus, in exilio natus sum, tanto matris labore tantoque discrimine, ut non obstetricum modo sed medicorum iudicio exanimis haberetur; ita periclitari cepi antequam nascerer et ad ipsum vite limen auspicio mortis accessi. Meminit haud ignobilis Italie civitas, Aretium, quo pulsus patria pater magna cum bonorum acie confugerat. Inde mense septimo sublatus sum totaque Tuscia circumla-
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Gegenstand und Methodik tus prevalidi cuiusdam adolescentis dextera; qui – quoniam iuvat laborum discriminumque meorum tecum primitias recordari – linteo obvolutum, nec aliter quam Metabus Camillam, nodoso de stipite pendentem, ne contactu tenerum corpus offenderet, gestabat. Is, in transitu Arni fluminis, lapsu equi effusus, dum honus sibi creditum servare nititur, violento gurgite prope ipse periit. Finis Tusci erroris, Pise; unde rursus etatis anno septimo divulsus ac maritimo itinere transvectus in Gallias, hibernis aquilonibus haud procul Massilia naufragium passus, parum abfui quin ab ipso rursus nove vite vestibulo revocarer.1
Dieses Buch fängt mit Francesco Petrarca, dem Initiator der humanistischen Bewegung, an. So charakterisiert Petrarca im programmatischen Vorwortbrief zu seinem innovativen autobiographischen Riesenprojekt Privatangelegenheiten (Familiarium rerum libri) um 1350 sein Leben. Dem modernen Leser bietet der Text so starke Momente des ‚Erkennens‘ dar, dass er sich davon sozusagen ‚unmittelbar‘ angesprochen fühlen kann. Das liegt zunächst an dem Autobiographieangebot als solchem, welches ihm der Text macht. Für den modernen Leser stellt die Autobiographie sowohl eine beliebte als auch legitime Textgattung dar. Ihre Legitimität scheint gewissermaßen außer Frage zu stehen, auch insofern, als sich die ‚Gattung‘ auf eine einige Jahrhunderte alte Texttradition berufen kann, aus der Meisterwerke der Weltliteratur wie Rousseaus Confessions und Goethes Dichtung und Wahrheit hervorgegangen sind. Der autobiographische Appell hat sich so fest im kollektiven Gedächtnis eingenistet, dass man geradezu von einer Autobiographieberechtigung sprechen könnte. Bekannte Personen des öffentlichen Lebens, Künstler, Politiker, Sportler, Intellektuelle, aber auch unbekannte, sogenannte ‚kleine‘ Leute besitzen das Recht, eine Autobiographie zu verfassen bzw. autobiographische Aufzeichnungen anzulegen. Für Literaten gilt die Berechtigung a fortiori. In den letzten zwei Jahrhunderten waren sie über weite Strecken geradezu einem ‚Autobiographiezwang‘ ausgesetzt. Von Schriftstellern von Rang und Namen wurde erwartet, dass sie ein derartiges Werk herausbrächten, und zwar so sehr, dass die sich dagegen auflehnten. Es verwundert daher nicht, wenn Leser im Allgemeinen automatisch davon ausgehen, dass das Autobiographische ein geeignetes literarisches Thema abgebe. Petrarcas Text scheint diesen Erwartungen voll entgegenzukommen. Er geht offenbar ohne Abstriche von der Autobiographieberechtigung aus, indem er ganz nach Lust
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Francesco Petrarca, Familiarium rerum libri XXIV, I, 1, 21–23. Siehe V. Rossi, U. Bosco (Hrsg.), Francesco Petrarca. Le familiari (Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca 10–13), 4 Bde., Florenz 1933–1942, Bd. I, 7–8.
Beunruhigende Perspektivwechsel
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und Laune, ohne Rechtfertigungen und Kautelen, sozusagen aus dem Vollen schöpfend von seinem „ganzen Leben“ berichtet. Die hohe Bewertung der Autobiographie und autobiographischer Texte hängt mit einer (meist impliziten) Authentizitätserwartung zusammen. Ein breites Publikum erwartet, dass in Autobiographien authentische Lebenserfahrungen vorlägen bzw. Sachverhalte vermittelt würden, die aus keiner anderen Quelle hervorgehen – dass der Leser also durch sie über Information verfügt, die an Authentizität kaum überboten werden kann. Diese Erwartung speist nebenher einen gewissen Voyeurismus, dessen Appell sich der moderne Rezipient schwerlich entziehen kann. Petrarcas Bericht scheint dieses Begehren zu befriedigen, indem er Einblicke in ganz Privates bietet. Der Leser darf offenbar sogar bei seiner Geburt ‚dabeisein‘ und ‚mitschauen‘; er darf ‚mitschauen‘, wie ein kräftiger junger Diener „das ganz in Linnen eingewickelte Kind“ „an einem Stock baumelnd“ trug, wobei er beim Überqueren des reißenden Arno fast ertrank. Die Evidenz, die zum ‚Mitschauen‘ einlädt, wird unter anderem dadurch erzeugt, dass visuelle Eindrücke wiedergegeben werden und sich die erzählte Zeit der Erzählzeit annähert. Die Sensation der Gefahr tut ein Übriges, dem erlebnislüsternen Leser die Lektüre schmackhaft zu machen. Die allgemeine Authentizitätserwartung hat schon im 19. Jahrhundert in die Theorie der Autobiographie Eingang gefunden, in Gestalt von Wilhelm Diltheys wirkungsmächtiger Hermeneutik. Für Dilthey stellten Autobiographien Texte dar, die durch ihre besondere Beschaffenheit gewissermaßen die Lösung seines philosophischen und historischen Kernproblems ermöglichten – die Überwindung der Kluft zwischen Objekt und Subjekt. Wenn das Subjekt mit dem Objekt eins wird, kann der ‚hermeneutische Zirkel‘ durchbrochen werden. Dilthey war der Ansicht, dass Autobiographien, indem sie authentische „Erlebnisse“ des Individuums vermitteln, gerade dieses Kunststück zustande bringen.2 Während die Hermeneutik als historische Methode nicht mehr aktuell ist, 2
W. Dilthey, „Das Erleben und die Selbstbiographie“, in: Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1981, 235–251 (rezenter in: G. Niggl, Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1998 (2. Auflage), 21–32). Ders., Beiträge zum Studium der Individualität (Sitzungsberichte der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 13), Berlin 1896. Zu Diltheys Theorie siehe W. Flach, „Die wissenschaftstheoretische Einschätzung der Selbstbiographie bei Dilthey“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), 172–186 und M. Jaeger, Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Stuttgart-Weimar 1995.
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Gegenstand und Methodik
wird sie in der Philosophie, der Psychoanalyse und bei der Interpretation literarischer Texte nach wie vor angewendet. Durch ihre besondere Wertpositionierung der Autobiographie beansprucht sie gerade auf diesem Gebiet eine wichtige Rolle. Insofern hat Wagner-Egelhaaf in ihrer grundlegenden Diskussion der Theorie der Autobiographie (2000) der Hermeneutik zu Recht die erste Stelle eingeräumt (während sie im Übrigen keine Vertreterin dieses Modells ist).3 Die mit der hermeneutischen Authentizitätserwartung verbundenen Kriterien der ‚Wahrheit‘ und der ‚Wahrhaftigkeit‘ besitzen für ein Gutteil der Autobiographieforschung des 20. Jahrhunderts (einschließlich der Theorie der Autobiographie) Relevanz.4 In besonders wirkungsmächtiger Weise hat Georg Misch die hermeneutische Autobiographieinterpretation gefördert, indem er diesen Ansatz seiner monumentalen Geschichte der Autobiographie (1949–1964) zugrundelegte, dem bisher umfassendsten Werk zur Autobiographik.5 Im Laufe des 20. Jahrhunderts tendierte man dazu, der ,autobiographischen Wahrheit‘ einen Sonderstatus zuzusprechen, der sie von der historischen Faktizität abhebt. Roy Pascal hat in seinem vielzitierten 3
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M. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart-Weimar 2000, 19–26. WagnerEgelhaafs Monographie zeichnet sich vor allem durch die kluge Darlegung der Theorie der Autobiographie (18–100) aus, mit der sie Ordnung in das wuchernde Gestrüpp der divergenten und oft nicht zu Ende gedachten Interpretationen bringt. In ihrem historischen Teil, besonders in den Abschnitten zu der Autobiographie der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ist die Monographie weniger überzeugend (wie die Verfasserin selbst einzuräumen scheint, 100: „nur skizzenhaft“), was jedoch nicht zuletzt auf den Mangel brauchbarer Detailstudien zurückzuführen ist. Es wäre dem Verf. willkommen gewesen, wenn er Wagner-Egelhaafs theoretische Grundlagendiskussion für diese Arbeit, die in ihren Hauptteilen zwischen 1996 und 2002 entstanden ist, zu einem früheren Zeitpunkt zur Verfügung gehabt hätte. Zu seinen theoretischen Positionen ist der Verf. durch eingehende Detailanalysen humanistischer Autobiographien im Zusammenspiel mit den bis dato erschienen theoretischen Aussagen, die sich im Laufe der Untersuchung in progressiver Weise als unhaltbar herausstellten, gekommen. Es bedeutete eine willkommene Bestätigung des zum Teil sehr mühseligen Weges, dass sich diese Positionen in Bezug auf Wagner-Egelhaafs neue, überzeugende Grundlagendiskussion aufrechterhalten ließen. Vgl. dazu unten. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 40. G. Misch, Geschichte der Autobiographie, 4 Bände in 8 Hälften, Frankfurt am Main 1949–1969 (Bd. 1 in 2 Hälften: Das Altertum, 3. stark verm. Aufl., 1949 u. 1950; Bd. 2 in 2 Hälften: Das Mittelalter: Die Frühzeit, 1955; Bd. 3 in 2 Hälften: Das Hochmittelalter im Anfang, 1959 u. 1962; Bd. 4 in 2 Hälften: Das Hochmittelalter in der Vollendung. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leo Delfoss, 1967 und: Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, bearb. von Bernd Neumann, 1969).
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Werk Design and Truth in Autobiography der Autobiographie eine „Gefühlswahrheit“ attestiert, die über die faktische Wahrheit hinausgeht (1960/1965).6 Diese sei eine wunderbare, einzigartige und eigentümliche Wahrheit: „Beyond factual truth, beyond the ‚likeness‘ the autobiography has to give that unique truth of life as it is seen from inside, and in this respect it has no substitute or rival“.7 Nach Pascal und anderen entspringt die Autobiographie grundsätzlich dem Trieb nach Selbsterkenntnis. Elisabeth Bruss (1974/1998) erhebt in ihrem der Theorie der Sprechakte verpflichteten Ansatz die Wahrheitsorientierung und die Wahrhaftigkeit ebenfalls zum Definitionskriterium der Autobiographie: „Die Information und die Ereignisse, über die im Zusammenhang mit der Autobiographie berichtet wird, müssen unbedingt wahr sein, wahr gewesen sein oder hätten wahr sein können“. Wenigstens erwarte man von einem „Autobiographen, dass er von seinen Aussagen überzeugt ist“.8 Sloterdijk (1978) hat den hermeneutischen Ansatz in seinen autobiographischen Forschungen auf die Formeln „Organisation von Lebenserfahrung“ und „Politik der Subjektivität“ gebracht.9 Lejeune hat das hermeneutische Autobiographieverständnis in seinem formalistisch-rezeptionsästhetischen Ansatz als allgemeine Lesererwartung und als Gattungsmerkmal der Autobiographie beschrieben.10 Velten (1995), der ihm in vieler Beziehung folgte, ist hierin noch weiter gegangen, indem er das Wahrheits- bzw. Wahrhaftigkeitskriterium, das Authentizitäts-, ja das Faktizitäts- und Dokumentierungskriterium in seine Interpretation der frühneuzeitlichen, deutschen Autobiographie als Gattungsmerkmal übernahm.11 Niggl (2005) setzt die subjektive Wahrheit als gattungskonstituierendes Merkmal der Autobiographie ein, welche dem „Gesetz
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London 1960. Deutsche Übersetzung u. d. T. Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965. Pascal, Design and Truth in Autobiography, 195. E. W. Bruss, „Die Autobiographie als literarischer Akt“, in: Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie (258–279), 274 (zuerst 1974 u. d. T. „L’autobiographie considerée comme acte littéraire“). P. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, (Diss. Hamburg) München 1978. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 8. Für eine Kritik an Lejeunes Übertragung des Wahrheitskriterium in seine rezeptionsästhetische Gattungsdefinition vgl. R. Elbaz, „Autobiography, Ideology, and Genre Theory“, in: Orbis Litterarum 38 (1983), 187–204. H. R. Velten, Das selbstgeschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29), Heidelberg 1995.
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Gegenstand und Methodik
der unausweichlichen Wahrheitsbekundung“ folge.12 Er geht von einer „gattungsimmanenten Wahrheit der Autobiographie“ aus, welche sich als „Grundwahres“ des Lebens definiere, ohne dass hier die Nachprüfbarkeit der Einzelfakten (wie bei Velten) inkludiert wäre.13 Die Authentizitätserwartung, die dieser Gattungsauffassung zugrunde liegt, kommt sinnfällig dadurch zum Ausdruck, dass Niggl für Autobiographie einmal den Begriff „Selbsterlebensbeschreibung“ verwendet.14 In psychoanalytischen Interpretationen autobiographischer Texte ersetzt man die Annahme der faktisch-materiellen Wirklichkeitsfestlegung durch die der Dokumentierung seelischer Wirklichkeiten, welche durch eine hermeneutische Interpretation entschlüsselt werden können (z. B. Goldmann 1988 und 1994).15 In diesem Sinn ist auch Pietzcker (2005) von der Authentizität der autobiographischen Erinnerungsstruktur ausgegangen.16 Zur Zementierung der Authentizitätserwartung stellte man also auf breiter Front der faktischen Wahrheit andere Wahrheiten, die der Innenperspektive, der Gefühle (Pascal), der subjektiven Vorstellung (vgl. Sloterdijks „Politik der Subjektivität“), des Individuums, der kulturellen Identität, der sozialen Identität usw. zur Seite. Psychologische, psychoanalytische, sozial-psychologische, soziologische und anthropologische Studien zur Autobiographie bzw. zu einzelnen Autobiographien,17 die sämtlich von der Authentizitätserwartung ausgehen, richten ihre Interpretationen auf diese Weise ein. Petrarcas Text scheint eine hermeneutische Interpretation nahe zu legen, indem er einen Bericht solcher „authentischer Erlebnisse“ liefert. Die mächtige Subjektwirklichkeit, die sich hier zu entfalten scheint, wirkt in der Tat verlockend. Noch in eine rezente Petrarca-Biographie (1998) haben die Angaben über die dramatische Arno-Überquerung als
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G. Niggl, „Zur Theorie der Autobiographie“, in: M. Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Köln-Weimar-Wien 2005, 7. Ebd. Ebd., 4. S. Goldmann, „Leitgedanken zur psychoanalytischen Hermeneutik autobiographischer Texte“, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 23 (1988), 242–260; Ders., „Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie“, in: H.-J. Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, StuttgartWeimar 1994, 660–675. Pietzcker, C., „Die Autobiographie aus psychoanalytischer Sicht“, in: Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien, 15–27. Für diese Bereiche vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 26–39 (Sozialgeschichte und Psychologie) und 82–93 (Anthropologie), mit einschlägiger Literatur.
Beunruhigende Perspektivwechsel
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historische „Begebenheit“ bzw. als authentische Erinnerung des alten Petrarca Aufnahme gefunden.18 Der Authentizitätserwartung widerspricht im Urteil des modernen Lesers die literarische Gestaltung des autobiographischen Textes nicht. Mit der Akzeptanz der Autobiographie als Gattung geht die Akzeptanz ihrer literarischen Ausgestaltung einher. Petrarca scheint auch in dieser Beziehung den Erwartungen entgegenzukommen. Seine Selbstgeschichte lässt klar einen literarischen Anspruch erkennen. Der Leser kann ihn aus der kunstvollen Erzählweise und der teilweise gehobenen Wortwahl ablesen, und nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Petrarca die Geschichte „seines ganzen Lebens“ zu einem Werk der Weltliteratur, Homers Odyssee, in Beziehung setzt. Allerdings mag den modernen Leser befremden, dass der Autobiograph sein Leben zeichnet, indem er sich selbst nachhaltig, direkt und in einer geradezu naiv wirkenden auto-laudativen Rhetorik mit einer Gestalt der antiken Mythologie vergleicht. Was Petrarca hier macht, scheint sich nicht zu gehören, mit der Gattungserwartung inkompatibel zu sein. Das liegt zum einen daran, dass Mythos, besonders dichterischer Mythos, in der Moderne in vieler Beziehung als Gegensatz zu geschichtlicher Realität erfahren wird, während die geschichtliche Realitätsreferenz wenigstens intentional als Definitionsgrundlage der Autobiographie vorausgesetzt wird. Zum zweiten an der allzu nachdrücklichen Einbindung des eigenen Lebens in die literarische Antike. Ein Vergleich wie der obige ähnelt einem rhetorischen Exerzitium, das dem authentischen ‚Erleben‘ des ‚Individuums‘ entgegengesetzt zu sein scheint. Dem zweiten Vergleich („wie einst Metabus Camilla“) werden die meisten modernen Leser in ihrer Interpretation keine wichtige Rolle zubilligen. Abgesehen davon, dass die Namen Metabus und Camilla keine distinkten Assoziationen heraufrufen, erscheint der Vergleich, da er ja als eine Art parenthetischer Zusatz angeboten wird, wie eine gelehrte Arabeske, ein im Grunde verzichtbarer Schnörkel. Halten wir diese zweigleisige Perzeption fest und versuchen wir, den Text von einer anderen Warte aus zu betrachten, indem wir uns in einen durchschnittlichen, gebildeten (d. h. der lateinischen Sprache mächti18
F. Neumann, Francesco Petrarca (Rowohlts Monographien 50527), Reinbek bei Hamburg 1998, 15: „Nicht ohne schmerzliches Gefallen erinnert er sich Jahre später an die Mühen und Gefahren, die er in seiner Kindheit zu gewärtigen hatte, und besonders an eine Begebenheit, die die Welt fast um einen großen Dichter gebracht hätte […]“.
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Gegenstand und Methodik
gen, mit der lateinischen Literatur einigermaßen vertrauten) Leser aus Petrarcas Zeit hineinversetzen. Die Herangehensweise eines solchen Lesers weicht von der oben skizzierten augenfällig ab. Zunächst geht sie von einem intertextuellen Textverständnis aus: Der Leser ist davon überzeugt, dass die Interpretation eines Textes wesentlich von seiner Anbindung an bereits vorhandene Texte abhängig ist. Auffälligerweise fühlt er sich gerade von dem Vergleich „wie einst Metabus Camilla“ direkt angesprochen. Er ‚erkennt‘ mühelos, dass die Gestalten einem der Basistexte der lateinischen Kultur, Vergils Epos Aeneis, entstammen. Da er zu der Gruppe der Gebildeten gehört, hat er die Aeneis in der Schule gelesen. Dabei ist mitentscheidend, dass er von der Grundschule an über ein sehr gut trainiertes Gedächtnis verfügt. Der Schulunterricht war davon geprägt gewesen, dass man vieles auswendig lernen und immer wieder aus dem Gedächtnis reproduzieren musste. Dem frühneuzeitlich-spätmittelalterlichen Schüler wurde ständig eingebläut, wie wichtig die Abrufbarkeit von Wissensinhalten aus dem Gedächtnis sei. In der Tat besaß er kaum andere Suchmittel – Indizes, Konkordanzen, Lexika, Datenbanken usw. Nicht zuletzt aufgrund seines sattelfesten Gedächtnisses erinnert sich der Leser an das elfte Buch von Vergils Aeneis, wo die Geschichte von Metabus, dem streitbaren Volskerkönig, der aus seinem Reich vertrieben wurde, und seiner Tochter, der Heldin Camilla, die – gewissermaßen eine antike Jeanne d’Arc – zu Pferde gegen die Trojaner kämpfte und in der Schlacht starb, erzählt wird.19 Der Leser registriert, dass der Text intertextuell verankert ist, und somit Autorität besitzt. Es handelt sich also um einen lesbaren und lesenswerten Text, der hier vorliegt. Bemerkenswerterweise verringert die Anbindung an den Mythos für den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Leser nicht die Authentizität des Textes, im Gegenteil: Das individuelle Erleben wird dadurch erst erfassbar und erhält erst dadurch seine Gültigkeit. Die Anbindung an den literarischen Mythos bildet eine dringend erforderliche Bestätigung, gewissermaßen den ‚Wahrheitsbeweis‘ des autobiographischen Geschehens. Der Transport des kleinen Petrarca in einem an einem Stock baumelnden Bündel würde ohne den Verweis auf den Mythos wie eine lose, wunderliche und unmotivierte Behauptung wirken. Die Anbindung an den Mythos hingegen beglaubigt das autohistorische Geschehen: Sie vergewissert den Leser, dass es sich um die Geschichte einer gefährlichen Flucht handelt, bei der ein reißender Fluss überwunden werden musste. 19
Vergil, Aeneis XI, 532–835.
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Metabus, der Volskerkönig, war – wie Petrarcas Vater – aus seiner Vaterstadt von seinen Stadtgenossen vertrieben worden. Er nahm sein Kind – wie Petrarcas Vater – auf der Flucht mit; dabei musste er, wie Petrarcas Vater, einen brausenden Fluss überqueren, den durch heftige Regenfälle gefährlich angeschwollenen Amasenus. Die Überquerung des Flusses stellte den flüchtenden König vor ein furchtbares Dilemma: Der Fluss war zu hoch um hindurchzuwaten. Er musste also schwimmen. Wenn er schwamm und sein Töchterchen Camilla mitnahm, würde dieses unweigerlich ertrinken. Wenn er es aber zurückließ, würde es ebenfalls umkommen. Wenn er selbst den Fluss nicht überquerte, würde er den Feinden, die ihm schon auf den Fersen waren, in die Hände fallen, die sowohl ihn als auch sein Töchterchen nicht verschonen würden. Also eine Situation von höchster Dramatik. Da kam der König auf die Idee einer auffälligen Flussüberquerung: Er legte sein Kind in eine Hülle von Eichenkork, welche er mit Bast an seinem Speer festband, den er über die Wasser des brausenden Amasenus schleuderte. Die Intertextualität speist hier sogar die besondere Bildlichkeit des Textes, welche abermals beglaubigend wirkt und welche die Geschichte dem Leser besonders nachhaltig einprägt: Als vom Throne verjagt, aus Abgunst gegen seine hochmütige Macht, Metabus einst Privernum verließ, den uralten Stadtstaat, Nahm er fliehend inmitten des Kriegsgetümmels sein kleines Kind als Geleit zur Verbannung mit fort und nannte es nach dem Namen der Mutter Casmilla mit leichter Ändrung Camilla. Selbst an der Brust es bergend, erklomm er die Ketten der Höhen Einsamer Wälder; allseits bedrängen ihn sausende Speere, Und mit Kriegern umschwärmten ihn wild die verfolgenden Volsker. Da, in der Mitte der Flucht, hoch über die Ufer hin flutend, Schäumte der Strom Amasenus: ein Wolkenbruch hatte so sehr ihn Aufgeschwellt. Jener, zum Schwimmen sich rüstend, fühlt sich gehemmt durch Liebe zum Kind, er bangt um die traute Bürde. Als alles Er überlegt, kommt jäh er, doch schwer, zu diesem Entschlusse: Riesig ragte sein Speer, den er als Krieger in starker Faust mitnahm, gediegen und knotig, feuergehärtet. Hieran macht er sein Kind, mit Korkeichenbaste umwickelt, Fest und schlingt es, handlich zum Wurf, um die Mitte des Speeres. Diesen in der mächtigen Rechten schwingend […] Rief ’s, zog an seinen Arm und schwang den gewirbelten Wurfspeer Weit hinaus; laut rauschte die Flut, hoch über den wilden Strom flog bang am sausenden Speer die arme Camilla.20
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Aeneis XI, 539–555 und 561–563. Übersetzung (mit Adaptionen) von J. Götte, Wiesbaden 1984.
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Gegenstand und Methodik
Übrigens birgt die Gleichsetzung von Mythos und Geschichtlichkeit für Petrarcas zeitgenössischen Leser nichts Außergewöhnliches in sich. Geschichte handelt für ihn von Helden und ein Heldenepos wie Vergils Aeneis oder Homers Odyssee ist für ihn wesentlich Geschichte. Auch dieses Interpretationsmuster ist ihm seit dem Schulunterricht geläufig. Spricht ihn aber der Inhalt der Stelle in gleichem Maß an? Zunächst erfüllt ihn die Tatsache, dass hier ein Autor so nachdrücklich über sich selbst redet, nicht mit freudigem Erkennen. Autobiographie ist für ihn weder eine legitime Textgattung noch eine legitime, auf der Hand liegende Verstehensfigur von literarischen Texten. Die ausführliche und explizite, direkte Rede über sich selbst verortet er prinzipiell als Hochmutsgestus (superbia), als Selbstverliebtheit (philautia), als antispirituelle, der vergänglichen und hinfälligen Welt zugewandte Eitelkeit (vanitas), sowie als Verstoß gegen das christliche Demutsgebot. Er ist nicht davon überzeugt, dass der Mensch in einer Selbstbeschreibung seine individuelle Persönlichkeit besonders hervorkehren solle. Randnotizen bzw. persönliche Einschübe sind erlaubt (Müller nannte derartiges „autobiographische Mitteilungen“),21 nicht jedoch die breite und eindringliche autobiographische Erzählung. Aus diesen Gründen irritiert ihn der Tatbestand des eindringlichen autobiographischen Diskurses einigermaßen. Von einem literarischen Text erwartet er nicht die Festlegung persönlicher (individueller) authentischer Erlebnisse. Je persönlicher und individueller, desto verdächtiger ist ihm ein Text. Von da her stellen sich der Literarizität von ‚Erlebnissen‘ mächtige Hindernisse in den Weg. Es ist a priori unklar, ob sie überhaupt den Status der Literaturwürdigkeit erreichen können. Schon im Schulunterricht hat der spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Leser gelernt, dass Literatur von Helden und Heldentaten, von denkwürdigen geschichtlichen Ereignissen oder von religiösen Themen handeln soll. Wieso nimmt sich Petrarca überhaupt so wichtig, dass er sogar von Vorfällen seiner Kindheit erzählt? Die Kindheit betrachtet der frühneuzeitlich-spätmittelalterliche Leser als eine tugendlose Zeit, also eine Periode, von der es überhaupt kaum Sinnvolles zu berichten gibt. Der Autor hätte über diesen Aspekt seines Lebens besser schweigen sollen. Umso merkwürdiger ist, dass er darauf offenbar noch irgendwie stolz ist, worauf die Parenthese „es tut gut, mich gemeinsam mit dir an die Anfänge meiner Irrfahrten zu erinnern“ hinzuweisen scheint. Diese 21
U. Müller, „Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter“, in: Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie, 297–320.
Diskontinuitätsansage: Autobiographik als Kampfmittel
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Parenthese scheint sogar auf eine besonders schlimme Selbstverliebtheit hinzudeuten. Der einzige Umstand, der die Rede über sich selbst rechtfertigt, ist gerade die Einschreibung der Autohistorie in den literarischen Mythos der Epik. Die autobiographische Geschichte, die Petrarca erzählt, weist die Merkmale des epischen Diskurses auf: Es geht um eine gefährliche Flucht, die auf eine Verbannung aus der Vaterstadt folgt. Es geht um Abenteuer, um die riskante, heldenhafte Überwindung von Hindernissen, die sich dem reisenden Helden in den Weg stellen. Petrarca konstituiert sich damit als epischer Held. Mittels dieser Selbstkonstituierung autorisiert er sich zur autobiographischen Rede.
2. Diskontinuitätsansage: die Autobiographik als Kampfmittel Nach diesem Perspektivwechsel hat unser anfängliches Bild des Textes Risse bekommen. Eine tiefe Kluft tut sich auf, eine grundlegende, verunsichernde Diskontinuitätserfahrung drängt sich auf, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Erwartungen, mit denen moderne Leser an den Text herangehen, sind denen von Petrarcas Zeitgenossen geradezu diametral entgegengesetzt. Das, was bei einer ersten Textlektüre als problemlose Kontinuität erscheint, zerbröckelt bei einer rezeptionsästhetischen Betrachtung, welche die Ausgangspunkte des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Lesers berücksichtigt, auf beunruhigende Weise zu einem Haufen schwer verständlicher Informationsbruchstücke. Kurioserweise macht der Text auf den modernen Leser einen plausibleren Eindruck als auf den Zeitgenossen Petrarcas. Es handelt sich dabei freilich nur um ein scheinbares Verstehen, das durch ein teleologisches Lektüreverhalten erzeugt wird. Dieses behindert den modernen Leser in Wirklichkeit jedoch, den Text adäquat zu goutieren, d.h. seine grandiose Diskontinuitätsansage zu verstehen. Was Petrarca hier macht, ist revolutionierend und aufrüttelnd. Der Diskurs, den er entwirft, schafft eine ungewöhnliche Formation, ein völlig neues Regelsystem, das seine zeitgenössischen Leser erst einmal verarbeiten mussten. Die Wertesysteme und literarischen Verstehensfiguren, nach denen sie operierten, reichen zum Verständnis dieses Textes nicht mehr aus. Philautia, superbia und vanitas sind keine Begriffe, die zu einer sinnvollen Interpretation führen. Der Ort, den Petrarca für sein autobiographisches Schreiben beansprucht, befindet sich jenseits dieser Kategorien. An ihm nimmt die Antike einen anderen Stellenwert ein als
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Gegenstand und Methodik
jener, der ihr gemeinhin zugesprochen wird. Es ist nicht mehr der Ort der objektiven, unpersönlichen und gewissermaßen überzeitlichen Wissensautorisierung. Für Petrarca ist die Antike eine bewegliche, dynamische, persönliche, historischem Wandel unterliegende und im vollen Sinn des Wortes sogar lebendige Angelegenheit. Alle Personen, Autoren und Texte der Antike leben für ihn auch im Hier und Heute. Das geht bis zur Konkretisierung der physischen Existenz im leibhaftigen Kodex. Z. B. zeigt Petrarca seinem Gesprächspartner Cicero – konkretisiert in einer Handschrift – seine Lebensweise, sein Haus, seinen Garten und seine unmittelbare Wohnumgebung. Deshalb trägt er das, was ihm widerfährt, in die Ränder seiner ‚lebendigen‘ Vergilhandschrift ein, wie zum Beispiel die Nachricht, die ihm ein Bote vom Tod seiner Geliebten Laura überbringt. Deshalb macht es für ihn Sinn, die antiken Autoren zur Gestaltung des eigenen Lebens heranzuziehen, mit ihnen eine fundamentale Diskussion anzugehen und sich mit ihnen im eigentlichen Wortsinn zu ‚vergleichen‘, d. h. sich mit ihnen sowohl gleichzusetzen als auch Unterschiede zu registrieren, und sie mit seinem geradezu gewalttätigen literarischen Aktionismus auf den Veränderungsfeldzug, mit dem er das gesamte literarische Feld seiner Zeit überzieht, mitzunehmen. Mit dem von Petrarca entworfenen Humanisten trat in der europäischen Geistesgeschichte ein neuer Typus des Intellektuellen auf, dessen erklärtes Ziel es war, die Geisteskultur radikal zu reformieren. Dieses Streben impliziert eine bewusste, nachhaltige und zum Teil polemische Distanzierung. Für die Humanisten bedeutete das eine Distanzierung von gut einem Jahrtausend europäischer Kultur (zum Teil inklusive ihrer eigenen Zeit), jener langen Periode, die heute allgemein als „Mittelalter“ etabliert ist. Die Akzeptanz des Begriffs Mittelalter als historische Periode, mit dem dazugehörigen Forschungsgebiet der Mediävistik, übertüncht zumeist die Tatsache, dass „Mittelalter“ ursprünglich als polemischer Negativbegriff konzipiert wurde: Seine Erfinder waren die Humanisten, die mit „Mittelalter“ (medium aevum) den ihrer Meinung amorphen Zeitabschnitt zwischen der griechisch-römischen Antike und der Aufbruchsperiode der frühen Neuzeit bezeichneten. Diese Distanzierung bildet wesentlich einen riskanten und martialischen intellektuellen Gewaltakt. Die Überwindung des amorphen kulturlosen Zeitgiganten konnte nach Meinung der Humanisten nur durch herkulischen Einsatz, durch energetische Sonderleistungen erfolgen. Nichts weniger als die radikale, planmäßige „Wiedergeburt“ der Kultur („Renaissance“) war ihr Ziel. In dem Maß, in dem sie ihrer Aufgabe gerecht zu werden meinten, betrachteten sie sich selbst als heroische Kulturbringer.
Diskontinuitätsansage: Autobiographik als Kampfmittel
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Dies führt uns zu der Frage, weshalb gerade die Humanisten für das autobiographische Schreiben besonderes Interesse verdienen. Sie waren es, die die Autobiographik neu entdeckten und damit einen neuen literarischen Diskurs konstituierten. Dabei (er)fanden sie, zum Teil in mühseliger Kleinarbeit, die Formen und Modalitäten, in denen diese Art des Schreibens über den Menschen überhaupt stattfinden konnte. In ihren Neuansätzen spielt das aktionistische Erschaffen die Hauptrolle. Bei diesem Schaffensprozess geht es niemals um unproblematisches, einfaches ‚Beschreiben‘ oder ‚Abbilden‘. Der Mensch stellt in diesem Sinn niemals ein festes Objekt dar, das man nur dokumentarisch festlegen, sozusagen ‚fotografieren‘ könne. Er ist im Gegenteil ein höchst unsicherer Gegenstand, der nicht a priori vorhanden ist. Er wird erst durch die Literatur konstituiert. Dabei entfalteten die Humanisten von Anfang an eine bemerkenswerte Kreativität. Bei der Autobiographik, die hier zwischen ca. 1350 und ca. 1610 entstand, handelt es sich weder um simple Gebrauchstexte, noch um einförmige, monolithisch-regelmäßige, homogene und gattungskonforme Texte. Von einer Textgattung ‚Autobiographie‘, welche sie als Vorbild heranziehen hätten können, konnten sie nicht ausgehen.22 Auch schrieben sie, wie noch zu zeigen sein wird, keine Textgattung ‚Autobiographie‘ fest, die zu einer verbindlichen Einheitlichkeit bzw. zu einem homogenen Textcorpus geführt hätte. Vielmehr kam es zu einer Reihe spannender und divergenter Kunststücke und Textexperimente, welche diversen literarischen Diskursen verbunden sind. Dabei machten sie kaum je bei den Diskursen, die sie als autobiographische Medien aufspürten, Halt. Vielmehr waren sie geneigt, Diskursänderungen, -brüche und -umbrüche vorzunehmen, und verliehen damit ihren autobiographischen Versuchen jeweils neue Dimensionen. Diese literarische Experimentierlust soll im vorliegenden Buch nachvollzogen, geortet, festgehalten und interpretiert werden. Die humanistischen Autobiographieexperimente gestalten sich umso interessanter, als sich ihre Autoren den Raum des autobiographischen Schreibens erst kämpferisch erobern mussten. Denn die ausdrückliche schriftliche Festlegung des eigenen Lebens stellte, wie bereits vorgeführt wurde, eine traditionell verpönte Form des Schreibens dar, die durch Fremd- und Selbstzensur strukturell unterdrückt wurde. Es bedeutete eine Art Mutprobe, sich gegen diese Zensur frivol aufzulehnen. In gewisser Weise läuft die gewagte autobiographische Experimentierfreudigkeit mit der grundlegenden martialischen Diskontinuitätsansage des Hu22
Siehe unten.
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manismus parallel. Möglicherweise wurde der autobiographische Appell vom humanistischen Selbstbild des heroischen Kulturbringers gespeist, insofern gesteigertes Selbstwertgefühl häufig eine erste Voraussetzung autobiographischen Schreibens bildet. Nebenher kann auch das Bewusstsein mangelnder Akzeptanz einen autobiographischen Stimulus hervorbringen, besonders in Situationen eines intellektuellen Umbruchs. Dem Humanismus eignet ein distinktes Umbruchsbewusstsein: Gegenläufig zur intellektuellen Aufbruchsstimmung war die materielle und soziale Einbettung des Humanismus unfest, variabel und zum Teil prekär; es gab keine festen Nischen, die für die Vertreter der neuen intellektuellen Strömung bereit standen. Die Humanisten mussten sich ihre gesellschaftliche Akzeptanz erst erzwingen. Gerade die literarische Selbstdefinition kann eine brauchbare Waffe für einen solchen Eroberungsfeldzug abgeben. Die Tatsache, dass sich hier eine Gruppe von Intellektuellen das autobiographische Wort erteilt, ist bedeutend. Diese Autoren beanspruchen das Recht, über sich selbst zu reden, über sich selbst das Sagen zu haben, sich selbst zu konstituieren. Dies verleiht dem fraglichen Begriff des Autors eine neue Dimension. Die Schriftsteller, deren Selbstkonstituierungen in diesem Buch untersucht werden, treten nachdrücklicher, distinkter und selbstbewusster als Texthersteller auf und beanspruchen eine Autorität, die sie präziser, stringenter und einprägsamer definieren als ihre mittelalterlichen Vorgänger und ihr intellektuelles Umfeld. Die Antike spielt bei den Selbstkonstituierungen der Humanisten eine entscheidende Rolle. Das ist nicht in dem Sinn zu verstehen, dass sie ein verbindliches Modell in Gestalt der Textgattung ‚Autobiographie‘ geliefert hätte. Eine solche gab es in der Antike nicht.23 Jedoch stellten die antiken Texte verschiedene Diskurse bereit, die die Humanisten in kreativen, gewagten und zum Teil geradezu gewalttätigen Anwendungsweisen für ihre autobiographischen Selbstdefinitionen heranzogen. Es ist ein vorrangiges Anliegen des vorliegenden Buches, diese Diskurse bzw. Diskursformationen zu orten und die literarischen Prozesse zu analysieren, mit welchen die frühneuzeitlichen Humanisten die antiken Diskursvorgaben bei ihren Selbstdefinitionen anwendeten und umgestalteten. In diesem Sinn ist das Buch dem Nachleben der Antike gewidmet. Eine Untersuchung der antiken Vorbilder, die der humanistischen 23
Das geht u. a. auch aus dem von W. Reichel herausgegebenen Sammelband Antike Autobiographien, Köln-Weimar-Wien 2005, hervor.
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Autobiographik zugrunde liegen, hat z. B. Anthony Grafton in seiner Cardano-Monographie gefordert.24 Diese soll in vorliegendem Buch geliefert werden. Die antiken Referenztexte werden in diesem Buch nicht als monolithische ‚Vorbilder‘ oder Vorbildtexte aufgefasst, die einen gewissermaßen automatischen ‚Einfluss‘ ausübten, sondern als unfeste Variablen, die zu völlig unterschiedlichen Aufgaben herangezogen werden konnten. Sie bilden ein nahezu unerschöpfliches Kreativpotential, eine ungeheuer flexible Knetmasse, mit der sich neuartige Gebilde herstellen ließen, Gebilde, die den Rahmen des Herkömmlichen in unterschiedlichster Weise sprengten. Die wunderbare Wirkungskraft der Antike liegt nicht in ihrem ‚Säulencharakter‘ bzw. ihrer ‚klassischen‘ Einförmigkeit, sondern gerade ihrem Alteritätspotential. Die antiken Texte konnten jederzeit als Antidotum zu festgefahrenen eigenzeitlichen Vorstellungen eingesetzt werden. Sie bildeten das Reservoir der permanenten, fundamentalen Kritik an der eigenen Zeit. Es ist ihre grundsätzliche Fremdartigkeit, die das Denken anregte und noch immer anregt. Eine Untersuchung der der humanistischen Autobiographik zugrundeliegenden antiken Diskurse ist zugleich ein Beitrag zu der fesselnden Alteritätsdiskussion, welche die Humanisten mit ihrem intellektuellen Umfeld führten.
3. Die Autobiographie – eine Textgattung? In der literaturgeschichtlichen und literaturtheoretischen Forschung ist Autobiographie vielfach (wenn nicht mehrheitlich) als Textgattung aufgefasst worden, so zuletzt noch von Niggl (2005).25 Dabei wird angenom24
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A. Grafton, „Cardano on Cardano“, in: Ders., Cardano’s Cosmos. The Worlds and Works of a Renaissance Astrologer, Cambridge, Massachusetts-London 1999, 181: „The task of the student of such texts (i.e. Renaissance autobiographies) is […] not to reduce them to historical rubble by showing that they misinterpret the facts, but to identify the models that writers used in particular cases, to analyze what these enabled them to achieve, and to tease out, where possible, the tensions between remembered and recorded experience and available literary forms. These questions, though easy to pose, are often hard to answer […]“. Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, passim (bsd. 5–8 und 50–52); Elbaz, „Autobiography, Ideology, and Genre Theory“, mit einer fundamentalen Kritik der Gattungstheorie, besonders von Lejeune, Bruss und Pascal; Niggl, „Zur Theorie der Autobiographie“.
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men, dass es eine Textgattung gibt, die sich dadurch auszeichnet, dass der Autor einer Lebensbeschreibung und das Objekt derselben identisch sind. Lejeune, der mit seinen zahlreichen Arbeiten zur Autobiographie das Feld wesentlich mitgestaltete, hat eine weithin akzeptierte Definition aufgestellt, in der er – von einem formalistisch-rezeptionsästhetischen Gesichtspunkt ausgehend – die Autobiographie mittels des von ihm so genannten „autobiographischen Paktes“ definierte (1975). Nach Lejeune schließt der Autobiograph mit dem Leser einen Pakt, indem er ihm (mindestens durch den Titel) bestätigt, dass er, der Autor, sowohl mit dem Erzähler als mit dem Objekt des Berichts identisch ist. Wenn er dies nicht tut, dann handelt es sich um Belletristik, konkretisiert als autobiographischer Roman.26 Lejeune misst der besonderen Schreibsituation ein so großes Gewicht bei, dass sie bei ihm die Grundlage für eine eigene Literaturgattung abgibt. Für sein Hauptproblem, die Abgrenzung des Romans des 18. bis 20. Jahrhunderts von der Autobiographie, besitzt sein formalistisch-mathematischer Trennungsvorschlag eine gewisse Relevanz. Jedoch stellt sich die formalistisch-mathematische Sicherheit, die er postuliert, als durchaus fraglich dar. Das gilt a fortiori für die Autobiographik früherer literarischer Epochen, ganz besonders für die frühneuzeitliche Autobiographik. Dennoch hat Lejeunes Definition auch in die Erforschung der frühneuzeitlichen Autobiographik Eingang gefunden, z. B. in Veltens Untersuchung der deutschen Autobiographik des 16. Jahrhunderts (1995).27 Inwiefern lässt sich der autobiographische Pakt als Definitionskriterium einer Gattung auf die Autobiographik der frühen Neuzeit anwenden? Ein erstes Indiz liefert die Tatsache, dass es im frühneuzeitlichen Humanismus und in der Frühen Neuzeit insgesamt keinen Begriff für „Autobiographie“ gab. Ein solcher kam erst nach der Frühen Neuzeit auf, zuerst in der deutschen Form „Selbstbiographie“, im Jahre 1796 in Seybolds Sammlung Selbstbiographien berühmter Männer.28 Im Humanis26
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Ph. Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994 (zuerst u. d. T. Le pacte autobiographique, Paris 1975); vgl. auch den denselben Titel tragenden Essay ‚Le pacte autobiographique‘, erstmals in: Poétique 4 (1973), 137–162; die deutsche Übersetzung in: Ders., Der autobiographische Pakt, 13–51 und in: Niggl, Die Autobiographie, 214–257. Velten, Das selbstgeschriebene Leben, bsd. 6–21. Selbstbiographien berühmter Männer. Ein Pendant zu J. G. Müllers Selbstbekenntnissen, gesammelt von Prof. [David Christoph] Seybold, 2. Bde., Winterthur 1796. 1799. Vor Seybolds „Selbstbiographien“ redete man im deutschen Bereich von „Bekenntnissen“, vgl. Johann Gottfried Herder, Bekenntnisse merkwürdiger Männer
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mus der Frühen Neuzeit war eine weit verbreitete Bezeichnung für autobiographische Texte Vita, der normale Begriff für „Biographie“. Zwischen „Autobiographie“ und „Biographie“ gab es also keinen begrifflichen Unterschied. Schon aus dieser Tatsache kann man ablesen, dass man in der Frühen Neuzeit der spezifischen Schreibsituation, in der der Autor (plus Erzähler) und das Objekt einer Lebensbeschreibung identisch sind, keine solche Bedeutung zumaß, dass man aus ihr eine eigene Textgattung hergeleitet hätte. Inwiefern kann Lejeunes Ausgangspunkt, die Annahme, dass der Autor mit dem Leser einen Pakt schließen wollte, indem er bestätigte, dass er mit dem Objekt des Werkes identisch sei, für frühneuzeitliche, humanistische autobiographische Texte maßgeblich sein? Grundsätzlich ist hier zu fragen, welche Relevanz eine scharfe und explizite Abgrenzung zwischen Belletristik und Sachliteratur für die frühneuzeitlichen, humanistischen Texte gehabt haben könnte; zweitens, ob bzw. inwiefern die Autoren ein Interesse daran gehabt haben könnten, diese Grenzziehung zu bestätigen; drittens, welche materielle Form eine solche Bestätigung gehabt haben könnte. Die erste Frage ist prinzipiell negativ zu beantworten. Die Humanisten orientierten sich in ihrer literarischen Produktion grundsätzlich an dem antiken, römischen Literatur- und Wissenschaftsbegriff der „studia humanitatis“: Literatur und Wissenschaft in einem. Der Dichtung wurde, für den modernen Leser vielleicht paradoxerweise, ein höherer Wahrheitsgehalt zugeschrieben als den meisten ‚referentiellen‘ Textsorten. Wenn man sich diese Situation vergegenwärtigt, wird weiter klar, dass die Humanisten kaum Interesse daran gehabt haben können, den etwaigen Status der ‚Non-Fiction‘ zu bestätigen. Eine der ersten humanistischen Autobiographien, Petrarcas Brief an die Nachwelt, positioniert sich durch die Titelüberschrift als ‚fiktionaler‘ Text, während der Autor darin in direkter Form von seinem Leben erzählt; die Autobiographie des deutschen Humanisten Helius Eobanus Hessus29 präsentiert sich sogar explizit als Gedicht, als metrischer Heroinenbrief. Heroinenbriefe sind schon von ihrer Schreibsituation her fiktionale Texte: Der Heroinen-Autor fingiert im Namen mythologischer Gestalten metrische Briefe, die an andere mythologische Gestalten ge-
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von sich selbst. Herausgegeben von Joh. Georg Müller. Erster Band. Winterthur 1791. Einleitende Briefe, in: Herder’s Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. 18, Berlin 1883, 1037–1103. Eobanus Posteritati, s. unten Kap. XV.
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Gegenstand und Methodik
richtet sind.30 Gleiches gilt mutatis mutandis für die Autobiographien des Jacopo Sannazaro, des Giannantonio Campano, des Johannes Fabricius und viele andere mehr. Der autobiographische Pakt als Ausgangspunkt zerrinnt in der humanistischen Autobiographik zu nichts. Es wird hier nichts bestätigt, im Gegenteil: Es wird verschleiert, verhüllt und mittels verschiedener literarischer Darstellungsstrategien dementiert. Jedoch findet in der literarischen Konstruktion eine spannendere Ich-Konstituierung statt als es jegliche Form einer quasi-amtlichen Bestätigung vermitteln hätte können. Darüber hinaus weist die Definition des „autobiographischen Paktes“ noch weitere Schwachstellen auf. Wie kann der Umstand, dass der Autor nicht explizit bestätigt, mit dem Gegenstand identisch zu sein, die Grundlage einer Textdefinition bilden? Was, wenn der Autor nicht bereit ist, die Autobiographie offiziell zu publizieren oder zu autorisieren? Wäre diese deshalb etwa keine Autobiographie? Wäre also Petrarcas Geheimautobiographie (Secretum) keine Autobiographie, weil der Autor sie zu Lebzeiten meist in der Schublade behielt? Wäre ein nicht offiziell publiziertes Werk eines Autors mithin kein Werk? Was, wenn der Autor die Autobiographie zwar publiziert, aber nicht unter seinem Namen, sondern entweder anonym, oder unter einem Pseudonym, oder so, als ob sie von einem dritten verfasst worden sei? Was könnte eine namentliche Bestätigung überhaupt wert sein, wenn die humanistischen Autobiographen ihre Werke in der Regel nicht mit ihren bürgerlichen Namen, sondern mit Künstlernamen, mit Phantasienamen, ausstatteten?31 Wäre die Tatsache, dass ein Werk mit „Helius Eobanus Hessus“ ‚unterzeichnet‘ ist, eine Bestätigung dafür, dass Herr Koch dafür verantwortlich sei, oder die ‚Unterschrift‘ „Actius Sincerus“ ein Zertifikat dafür, dass Herr Jacopo Sannazaro der Autor sei? Dieser Habitus der Humanisten zeigt, dass sie sich mit ihren literarischen Produkten einer semi-amtlichen Identitätsbestätigung entzogen. Hinzu treten Komplikationen, die mit der Überlieferungslage frühneuzeitlicher autobiographischer Texte zusammenhängen, insofern es sich um Handschriften und Frühdrucke handelt. Handschriften und In-
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Für den Heroinenbrief siehe die grundlegende Studie von H. A. Dörrie, Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968. Für den niederländischen Bereich O. van Marion, Heldinnenbrieven. Ovidius’ Heroides in Nederland, Diss. Leiden 2005. Vgl. I. Bywater, „The Latinizations of the Modern Surname“, in: Journal of Philology 33 (1914), 76–94.
Autobiographie – eine Textgattung?
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kunabeln weisen keine Titelseite auf, auf der der Autor die Identität von Autor und dargestelltem Objekt bestätigen hätte können. Darüber hinaus ist es in der handschriftlichen Überlieferungssituation für einen Autor prinzipiell unmöglich, seinen Text zu kontrollieren. Was wäre in dieser Hinsicht eine Bestätigung des Autors wert? Ein Beispiel: Gesetzt, ein Autor hätte in einer Überschrift (Incipit) zu einem autobiographischen Text angegeben, er sei der Verfasser. Dann kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Fall eintreten, dass ein Kopist die Autorsangabe weglässt. Für den nächstfolgenden Leser sind dann sowohl der Autorsname als auch die Bestätigung verschwunden. Übrig bleibt dann nur mehr „vita“, der Begriff für Biographie. Der Leser wird damit eingeladen, den Text als Biographie zu rezipieren. Es handelt sich hierbei keineswegs um einen nur in der Theorie existierenden Fall. So erging es zum Beispiel einer der bedeutendsten und umfangreichsten humanistischen Autobiographien, den Commentarii des Enea Silvio Piccolomini, welche von der frühneuzeitlichen Leserschaft mehrheitlich als Biographie gelesen wurde. Eine formalistische Gattungsdefinition, die von der besonderen Schreibsituation ausgeht, wie die des autobiographischen Paktes, gibt für die humanistische Autobiographik auch deshalb kein geeignetes Kriterium her, weil den Humanisten in nicht wenigen Fällen daran gelegen war, die Schreibsituation als solche zu verschleiern. Das autobiographische Schreiben nähert sich in derartigen Fällen der Biographik an oder präsentiert sich sogar offen als solche. Ein gutes Beispiel ist der autobiographische Lebensabriss des Erasmus (Compendium vitae), der wie folgt anfängt: Er (Erasmus, Anm.) wurde in Rotterdam am Namenstag der Heiligen Aposteln Simon und Judas geboren. Seine Mutter, die Tochter eines Arztes namens Petrus, hieß Margareta. Sie stammte aus Septimontium, auf Niederländisch Zevenberge. […] Sein Vater namens Gerard hatte ein heimliches Verhältnis mit obengenannter Margareta, wobei er hoffte, sie heiraten zu können. […]. Es gibt einige Leute, die behaupten, es sei zum Streit gekommen. Das nahmen die Eltern und Brüder dem Gerard übel […].
Der Text selbst gibt von seiner Anlage her keinen klaren Hinweis darauf, dass es sich um eine Autobiographie handelt. Andererseits wird auch kein Beweis angetreten, dass eine Biographie vorliege, zum Beispiel durch die – fingierte – Einführung einer anderen Erzählinstanz. Dass in dem Text anstatt der ersten Person (Ich-Form) die dritte verwendet wird, beweist – obwohl dies der Leseerwartung moderner Autobiographierezipienten widerstrebt – keinesfalls, dass es sich um eine Biographie han-
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Gegenstand und Methodik
delt. Humanistische Autobiographen verwendeten nicht selten die dritte Person, unter anderem, da diese distinkte Vorteile mit sich brachte (z. B. Erasmus, Enea Silvio Piccolomini, Josephus Justus Scaliger). Zum Beispiel konnte sie aufgrund der Distanz und der Objektivität, die sie suggerierte, besonders überzeugend wirken. Es gibt Fälle, in denen die semantisch gleichberechtigte Koexistenz von Autobiographien und Biographien innerhalb eines Werkes von vorneherein geplant war, zum Beispiel in Joannes Meursius’ Athenae Batavae, eine Sammlung von Lebensbeschreibungen von Leidener Professoren.32 Ein Teil dieser Lebensbeschreibungen ist von dritten (Biographien), ein Teil von den jeweiligen Professoren selbst verfasst worden (Autobiographien). Dass zwischen diesen Werken ein Unterschied bestehen sollte, beabsichtigte Meursius nicht, im Gegenteil: Von ihrem Inhalt, ihrer Strukturierung und ihrem Stil her sollten sie sich so weit wie möglich ähneln. Die unterschiedliche Schreibsituation definiert hier nachweislich keine unterschiedlichen Gattungen. Sie hat hier ausschließlich praxisbestimmte Gründe: Meursius ersuchte Professoren, die zu dem Zeitpunkt, als er die Athenae Batavae zusammenstellte, in Leiden anwesend waren, um einen Beitrag über sich selbst. Diese Überlegungen zeigen auf, dass es kein erfolgversprechender methodischer Ausgangspunkt wäre, von der Schreibsituation bzw. dem „autobiographischen Pakt“ ausgehend eine Textgattung ‚Autobiographie‘ festlegen zu wollen, die sich eben dadurch von anderen Textgattungen, z.B. einer Gattung namens ‚Biographie‘ unterscheidet. Das autobiographische Schreiben ist für den Humanismus zunächst nichts weiter als eine besondere Art bzw. ein Sonderfall des biographischen Schreibens. Daraus folgt im übrigen nicht, dass unsere Studie der Gattung ‚Biographie‘ zuzuordnen wäre. Denn von einer homogenen Gattung, die diesen Namen trägt bzw. die den Humanisten als Universalvorbild gedient hätte, kann ebenfalls nicht die Rede sein. Wie zu zeigen sein wird, gestalteten die Humanisten ihre Autobiographik in einer Reihe unterschiedlicher Diskurse, die zu einem beträchtlichen Teil auf andere antike Textgattungen als die Biographie zurückgehen. Wenn wir die Autobiographik als Sonderfall der (nicht als Gattung aufgefassten) Biographik betrachten, so ist es dennoch legitim, diesem Sonderfall ein spezifisches Interesse entgegenzubringen. Denn aus der Konstatierung, dass man im Humanismus aus der besonderen Schreibsituation des Autobiographen keine Textgattung ableitete, folgt nicht, 32
Leiden, Andreas Cloucquius, 1625.
Autobiographie – eine Textgattung?
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dass man kein Gefühl für Unterschiede zwischen der biographischen und der autobiographischen Schreibsituation gehabt hätte. Ich glaube, dass es sinnvoll sein wird, dem nachzugehen. Dass es vermutlich Unterschiede in der Art der Darstellung gab, lässt sich am besten anhand eines einfachen Experimentes anschaulich machen. Versuchen wir (indem wir die bedeutungsvariable dritte Person einsetzen), den eingangs zitierten Text als Biographie aufzufassen: Bis zum heutigen Tage hat er in der Tat nahezu sein ganzes Leben auf Wanderschaft verbracht. Seine Irrfahrten kann man mit denen des Odysseus vergleichen; wenn er ebenso berühmt wäre wie dieser und ebenso glänzende Taten vollbracht hätte, könnte man sagen, dass Odysseus’ Irrfahrten sich weder über ein größeres Gebiet erstreckten noch länger dauerten als die seinen. […] Er […] wurde in der Verbannung gezeugt, in der Verbannung geboren, und seine Geburt war so schwer und gefährlich, dass nicht nur die Hebammen, sondern sogar die Ärzte seine Mutter längere Zeit für tot hielten. So fingen für ihn die Gefahren an, noch ehe er geboren war, und er betrat die Schwelle des Lebens im Zeichen des Todes. […] Von dort [Arezzo] wurde er im siebenten Monat weggebracht und auf dem rechten Arm eines kräftigen jungen Mannes in der ganzen Toskana herumgetragen. Dieser trug das ganz in Linnen eingewickelte Kind […] an einem knotigen Stock baumelnd, um den zarten Körper nicht durch Berührung zu verletzen, genauso wie einst Metabus Camilla. Als der Mann beim Überqueren des Arno von seinem strauchelnden Pferd abgeworfen wurde, wäre er bei dem Versuch, den ihm anvertrauten Schatz zu retten, fast selbst in der heftigen Strömung ertrunken. In Pisa war die toskanische Irrfahrt zu Ende. Von dort wurde er im siebenten Lebensjahr wieder fortgerissen und übers Meer nach Frankreich gebracht: Als er unweit Marseille in winterlichen Nordstürmen Schiffbruch erlitt, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre zum zweiten Male aus der Vorhalle seines jungen Lebens abberufen worden.
Der Text erzeugt nunmehr – trotz der Geringfügigkeit der Eingriffe – ein höchst unbehagliches Gefühl, eine Art Schwindelgefühl. Die Perspektive scheint nicht mehr zu stimmen, die räumliche Orientierung durcheinandergeraten zu sein. Worauf will dieser Biograph hinaus? Aus seiner Darstellung scheint eine perverse Lust hervorzugehen, elende und hilflose Situationen, in denen sich der Gegenstand der Biographie befand, hervorzukehren. Aus welchem anderen Grund würde der Biograph so stark hervorheben, dass das hilflose Knäblein bei der Geburt fast gestorben sei? Dass es schon mit sechs Monaten in der ganzen Toskana herumgetragen wurde und dabei in einem Bündel an einem Stock baumelte, außerdem fast im Wasser ertrunken wäre und weiter, dass es auf der Überfahrt nach Marseille – schon wieder! – beinahe ertrunken wäre? Dieser Biograph hat offenbar eine seltsame Beziehung zu seinem Darstellungsgegenstand. Es scheint, als ob er seinen Helden möglichst bald loswerden will. Jedenfalls muss der Biograph eine ekelhafte Person sein, mit einem Hang zu übler
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Gegenstand und Methodik
Nachrede (durch die Bemerkung „wenn er ebenso berühmt wie Odysseus gewesen wäre“ schlägt der Vergleich zum Nachteil des Biographisierten aus) und einem ständigen Juckreiz, allzu Privates auszuplaudern (wozu z. B. „im Exil gezeugt“ ( genitus), „an einem knotigen Stock baumelnd“ („de stipite pendentem“), „ganz in Linnen ein gewickelt“ („linteo ob volutum“), „nicht nur die Hebammen, sondern sogar die Ärzte“ oder „zarten Körper“ („tenerum corpus“)? Es ist zwar richtig, dass der Zeugungsakt, aus dem Petrarca hervorging, in Arezzo stattgefunden haben muss (sein Vater war 1302 aus Florenz verbannt worden;33 Petrarca wurde am 20. Juli 1304 geboren), jedoch wurde es nicht als Aufgabe des Biographen betrachtet, derartiges mitzuteilen. Das wirkt indiskret, wenn nicht unappetitlich. Was im Fall des autobiographischen Schreibens erlaubt ist, kann also im Fall des biographischen Schreibens heftige Irritationen hervorrufen. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass es Diskursunterschiede gab. In unserem Buch soll der Versuch gemacht werden, diese dingfest zu machen. Methodisch folgt daraus, dass man die Autobiographik des Humanismus nicht sinnvoll darstellen kann, ohne die Biographik entsprechend zu berücksichtigen. Daher erschien es notwendig, in diesem Buch in einigen Fallstudien Autobiographien systematisch mit Biographien zu vergleichen (Petrarca, Enea Silvio Piccolomini, Marullo, Eobanus Hessus). Die Biographik lenkt nicht vom Gegenstand der Autobiographik ab, sondern hilft vielmehr, diese zu problematisieren, zu analysieren und dem Verständnis zuzuführen. Man könnte nun die Frage stellen, ob es, wenn es eines der Darstellungsziele ist, das Autobiographische des autobiographischen Schreibens dingfest zu machen, nicht wünschenswert wäre, schließlich doch eine Textgattung „humanistische Autobiographie“ zu definieren. Dies würde voraussetzen, dass die autobiographischen Texte der Humanisten ein homogenes Corpus ergeben. Das ist jedoch, wie in vorliegendem Buch im Detail vorgeführt werden wird, nicht der Fall. Zur Sichtung der Probleme ist es sinnvoll, die maßgebliche Gattungsdefinition, die Lejeune – vom autobiographischen Pakt ausgehend – geliefert hat, ins Auge zu fassen. Nach ihr ist die Autobiographie ein rückblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Leben erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt,34 33 34
Vgl. U. Dotti, Vita di Petrarca, Bari 1992 (urspr. 1987), 6. Lejeune, Der autobiographische Pakt, 215.
Autobiographie – eine Textgattung?
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bzw., wie Lejeune die Autobiographie in seiner L’autobiographie en France definiert: Nous appelons autobiographie le récit rétrospectif en prose que quelqu’un fait de sa propre existence, quand il met l’accent principal sur la vie individuelle, en particulier, sur l’histoire de sa personnalité.35
Die Definition als „Bericht“ impliziert, dass es sich jeweils um eine „sachlich-nüchterne, folgerichtige Darstellung eines Handlungsablaufs ohne ausschmückende Abschweifungen“ handle.36 Dies kann jedoch keinesfalls einen gemeinsamen Nenner der frühneuzeitlichen humanistischen Autobiographik abgeben. Die „sachlich-nüchterne Darstellung von Handlungsabläufen“ mag für einige Autobiographien aufgehen, für die Mehrzahl jedoch nicht. Letzteres erhellt schon aus der Tatsache, dass die Humanisten keine erkennbare Trennungslinie zwischen Belletristik und referenziellen Texten zogen. In den humanistischen Autobiographien wird literarisch und rhetorisch ausgeschmückt, ausführlich und breit, episch und lyrisch geschildert, jedoch auch elegisch und epigrammatisch verkürzt und verdichtet (Zusammenstreichung, ja sogar Streichung der Handlungsabläufe), episch und lyrisch idealisiert, im historischen Narrativ oder in der elegischen Verdichtung dramatisiert usw. Sogar der eingangs zitierte Text Petrarcas, der sich bei einer ersten, ungenauen Betrachtungsweise als ‚Bericht‘ auffassen lässt (siehe jedoch unten!), entzieht sich von seiner Grundstruktur her der geforderten nüchternen Sachlichkeit – seine Grundstruktur bildet der mythologischhistorische Vergleich (comparatio), ein rhetorisch-literarisches Schmuckmittel par excellence. Eine Autobiographie ist nach Lejeune ein Prosatext. Gibt dies aber eine adäquate Definition für die humanistischen Autobiographien ab? In metrischen Texten kann man ebenfalls beschreiben, schildern, erzählen – sein Leben aufzeichnen. Dies war schon in der römischen Antike der Fall, zum Beispiel in Ovids Autobiographie (Trauergedichte IV, 10), welche im Elegischen Distichon verfasst ist. Warum hätten die Humanisten die metrische Dichtung als sinnvolles Medium der Autobiographie abschreiben wollen? Schon aufgrund der hohen Wertschätzung, welche sie der Poesie entgegenbrachten, ist dies wenig wahrscheinlich. In der Tat benutzte ein nicht geringer Teil der humanistischen Autobio-
35 36
Ph. Lejeune, L’autobiographie en France, Paris 1971, 14. G. von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1969 (5. verbesserte Auflage), 78.
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Gegenstand und Methodik
graphen metrische Formen mit großer Kreativität: Giannantonio Campano (zwei Mal), Eobanus Hessus, Jacopo Sannazaro (mehrere Male), Francesco Petrarca (viele Male), Michele Marullo (mehrere Male), Joannes Dantiscus, Joannes Fabricius und viele andere, und zwar in diversen Dichtungsgattungen (metrischer Brief, Elegie, Idylle, epigrammatische Lyrik, Heroinenbrief, Epos). Dieser Befund zeigt, dass wir es nicht mit einem homogenen Textcorpus zu tun haben. Neben Prosatexten, die – wie noch zeigen sein wird – ebenfalls nicht homogen sind, finden sich metrische Texte, die ihrerseits in sehr divergenten Textsorten verfasst sind und verschiedenen Gattungen zugehören, welche jeweils Eigengesetzlichkeiten und spezifische Diskursmerkmale einbringen. Statt einer leicht fasslichen Einheitlichkeit trifft man ein Kaleidoskop von Formen, Medien und Diskursen an. Die Tatsache der divergenten medialen Verfasstheit der humanistischen Autobiographik lässt es nicht ratsam erscheinen, eine Textgattung „humanistische Autobiographie“ beschreiben zu wollen. Wagner-Egelhaaf plädiert in ihrer grundlegenden theoretischen Erörterung der Autobiographie ebenfalls gegen eine derartige Herangehensweise: „Abgesehen davon erscheinen aus heutiger Sicht die bemühten Versuche der älteren Forschung, die Autobiographie von anderen Gattungen abzugrenzen und das diesbezügliche Unterscheidungsinstrumentarium unendlich zu differenzieren, wenig ergiebig, weil sie an heute mehr interessierenden Fragen wie derjenigen nach der kulturellen Funktion der autobiographischen Selbstvergegenständlichung oder der topischen Verfasstheit der autobiographischen Rhetorik vorbeisehen“.37 Für die deutschen Autobiographien des 16. Jahrhunderts liegt ein rezenter Versuch vor (Velten, 1995), sie als Textgattung zu beschrieben und zu definieren, der von Lejeunes Autobiographiedefinition ausgeht. M. E. ist dieser Versuch insofern problematisch, als er die Diversität der Texte nicht genügend zum Ausdruck bringt. Das analysierte Textcorpus, auf welches sich die Befindungen stützen, ist zu klein (nur acht Autobiographien) und zu einseitig (nur protestantische Schriften). Dennoch soll die Frage gestellt werden, ob sich die spezifischen Definitionskriterien dieses Versuchs in irgendeiner Form auf die humanistischen Texte anwenden lassen. Die Schwierigkeiten, die sich aus Lejeunes Autobiographiedefinition ergeben, brauchen hier nicht nochmals diskutiert werden (s. oben). Es soll hier um zwei weitere Kriterien gehen, aufgrund derer Velten die Gattung ‚Autobiographie‘ festsetzt. In dieser Definition 37
Autobiographie, 7–8.
Autobiographie – eine Textgattung?
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fungiert als gattungskonstituierendes Merkmal Nr. 1, dass man von der frühneuzeitlichen Autobiographie vor allem „Wahrheit und Nachprüfbarkeit“ und damit eine dokumentähnliche Verfasstheit erwartet habe. Der problematische Charakter dieses Ansatzes lässt sich anhand des eingangs zitierten autobiographischen Textes Petrarcas demonstrieren. Zunächst ist klar, dass Petrarca konkrete Angaben macht, besonders in Bezug auf seine Flucht durch die Toskana. Von welchen Fakten hätte Petrarca aber gemeint, dass der Leser sie nachprüfen würde? Wie hätte der Leser zum Beispiel die Angaben nachprüfen sollen, dass der kleine Petrarca „von einem kräftigen jungen Mann“ „an einem knotigen Stock baumelnd“ „in der ganzen Toskana herumgetragen worden sei“? Welchen Faktenwert bzw. welche faktische Relevanz soll die Information haben, dass der Mann ihn in der rechten Hand trug? Und überhaupt: Wie soll man sich die Art des Tragens vorstellen? Petrarcas Bericht erweist sich bei näherem Zusehen als merkwürdig widersprüchlich: Einerseits sagt er, dass er auf dem rechten Arm eines Mannes herumgetragen worden sei („sublatus sum […] dextera“), andererseits, dass er an einem Stock hing („nodoso de stipite pendentem“), also wohl über der Schulter. Was also ist wahr? Und welche Überprüfbarkeit besitzt die Angabe, dass der Diener mitsamt seiner wertvollen Last – wohlgemerkt – fast ertrunken sei („prope ipse periit“)? Wie will Petrarca dies übrigens selbst wissen? Die Schwierigkeit der Sachlage wird unten sogleich weiter gezeigt werden, wo von der autobiographischen Erinnerung die Rede sein wird. Dabei wird sich herausstellen, dass die vermeintlichen überprüfbaren Fakten einem ganz anders gelagerten Diskurs entstammen. Aus den Detailanalysen, die in vorliegendem Buch vorgenommen werden, wird sich wiederholt zeigen, wie schlüpfrig die frühneuzeitlichen ‚Berichte‘ in Bezug auf „Wahrheit“ und „Überprüfbarkeit“ sind. Man darf vorwegnehmen, dass sich die Autoren nicht einmal in Bereichen, wo die Angaben in der Tat überprüft hätten werden können (z. B. Dokumente, Publikationsdaten gedruckter Werke) von irgendeinem Zwang der Wahrheits- bzw. Dokumententreue eingeschränkt fühlten. Das Kriterium „Wahrheit und Nachprüfbarkeit der Fakten“ stellt sich also nicht geeignet heraus, auf seiner Grundlage eine Textgattung „Autobiographie“ zu konstituieren. In den autobiographischen Werken Petrarcas und anderer Humanisten ging es nicht zuvorderst um Wahrheit und Nachprüfbarkeit. In einigen der (weinigen) Texte, die Velten analysiert hat, mag „Wahrheit und Nachprüfbarkeit“ eine gewisse (aber nicht gattungskonstituierende) Rolle gespielt haben, für die meisten frühneuzeitlichen Texte geht dies jedoch nicht auf.
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Gegenstand und Methodik
Ein zweites Definitionskriterium, das die Gattung der frühneuzeitlichen Autobiographie bestimme, sei, dass das autobiographische Schreiben grundsätzlich „Erzählen“ sei. Auch dieses Definitionskriterium kann keine Gültigkeit beanspruchen. Wie oben gezeigt, gestaltete sich das autobiographische Schreiben der Humanisten in verschiedenen Textgattungen, und zwar sowohl Prosa als auch Poesie. Diese Textgattungen gehorchen eigenen Gattungsgesetzen, und nicht bei jeder bildet das Erzählen den Tenor der Darstellung. Der frühneuzeitliche Autobiograph kann sich dafür entscheiden, sein Leben eben nicht zu erzählen, sondern es, wiederum in verschiedenen Formen, statisch festzulegen. In Prosatexten kann er sich zum Beispiel für ein Charakterporträt entscheiden, in welchem er das, was ihm vermeldenswert erscheint, in thematisch angelegte Kapitel einfängt, wie es zum Beispiel Cardano in seiner Autobiographie De vita propria getan hat. Er kann sein Leben in Szenen und Situationen festhalten, die in keinem narrativen (jedoch in einem anderen) Zusammenhang stehen. Aus diesen Gründen soll in vorliegendem Buch nachdrücklich nicht eine Textgattung „Autobiographie“ beschrieben, sondern das autobiographische Schreiben bzw. die Autobiographik der Humanisten in seiner divergenten medialen Verfasstheit analysiert und erörtert werden. Es ist dringend erforderlich, dass wir uns der Plurimedialität, der Pluriformität und der Diskontinuität der verschiedenen Erscheinungsformen der Autobiographik öffnen. Indem wir dies tun, erweitern und vertiefen wir unsere Aufmerksamkeit gegenüber dem fesselnden Prozess der Selbstkonstituierung, der hier stattfindet.
4. Geschichten wie Kleider. Die Verfasstheit der Erinnerung in der humanistischen Autobiographik Aufgrund der besonderen Verfasstheit der der humanistischen Autobiographik – der kreativen und gewaltsamen Einschreibung in die antike Literatur, der prinzipiellen und massiven Diskontinuitätsansage, der pluriformen Medienakrobatik usw. – bilden die Hermeneutik bzw. der Hermeneutik verpflichtete Interpretationen keinen ausreichenden Ansatz zu einem adäquaten Verständnis dieser Art des autobiographischen Schreibens. Das lässt sich anhand der Weise zeigen, auf welche in diesen Texten die autobiographische Erinnerung aufgefasst wird. Dabei können wir wieder auf das eingangs zitierte Textbeispiel – Petrarcas Lebensge-
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schichte – zurückgreifen. Petrarca sagt hier, dass er sich gerne mit dem Leser (konkretisiert in Gestalt seines Freundes, des niederländischen Musikers Lodewijk Heyliger van Beringen) an die Ereignisse seiner Kindheit erinnere. Was bestimmt diese Erinnerung? Wie verläuft sie? An was und wie erinnert sich der Autobiograph? Nach welchen Regeln ist seine Erinnerung eingerichtet? In einer hermeneutischen Textlektüre geht man davon aus, dass der Autor die Absicht habe, dem Leser authentische Erinnerungen zu vermitteln, und legt dem Leser die Lektüreverpflichtung auf, die dargebotenen Angaben als authentische Erinnerungen zu verstehen. Der Autor erinnert sich also an das, was er selbst sicher und authentisch weiß (Wahrheit) oder zu wissen meint (Wahrhaftigkeit), wofür er also, in diesem Sinn, Wahrheit beanspruchen kann bzw. was der Leser (im Sinne Veltens) sogar überprüfen kann. In Petrarcas Erinnerung – wie er selbst angibt, bereitet sie ihm Lust („es tut gut, mich gemeinsam mit dir an die Anfänge meiner Irrfahrten zu erinnern“) – steht vor allem ein Ereignis im Zentrum: die Flucht als Kleinkind (in einem Bündel) durch die Toskana. Es ist entscheidend zu verzeichnen, dass diese Erinnerung schon von ihrem Ansatz her nicht authentisch sein kann. Petrarca war zur Zeit der beschriebenen Ereignisse (einige Monate altes Kleinkind) entschieden zu jung für authentische Erinnerungen, die bekanntlich erst bei Zweieinhalb- bis Dreijährigen einsetzen können. Irrte sich Petrarca also, etwa indem er seine Erinnerungen mit denen seiner Eltern verwechselte? Wie sich aus untenstehendem ergibt, wohl kaum. Es war von Anfang an nicht sein Ziel, getreulich Lebensfakten oder Lebenserfahrungen wiederzugeben. Auch erwartete er von seinem zeitgenössischen Leser nicht, dass er seine Ausführungen in diesem Sinn verstehen werde. Vielmehr erwartete er von ihm ein intertextuelles Textverständnis. Petrarca schrieb sich mit seiner „Erinnerung“ schwungvoll und gewagt in die antike Literatur ein. Es geht ihm bei „Erinnerung“ nicht um die Erinnerung an die Fakten und Erfahrungen des eigenen, vergangenen Lebens, sondern um die Erinnerung an die antike Literatur bzw. um die Konstituierung des eigenen Lebens als Rückerinnerung an die antike Literatur. Petrarca erinnert sich nicht daran, was ihm als Baby genau widerfahren ist, sondern an die Odyssee und die Aeneis. Aus der Erinnerung an die Antike entwickelt sich das Diskursregulativ der Identitätsstiftung durch Einbindung in die Antike. Anhand unseres Beispiels lässt sich dieser Selbstkonstituierungsprozess bis in die Details verfolgen. Oben registrierten wir die Widersprüchlichkeit bezüglich der Art des Tragens: auf dem rechten Arm („dextra sublatus“) oder an einem Stock baumelnd über der Schulter. Hinzuzufügen ist,
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Gegenstand und Methodik
dass die zweite Art des Tragens wenig einleuchtet, besonders wenn man berücksichtigt, dass der Diener auf einem Pferd geritten sein soll. Das an einem Stock baumelnde Baby hätte eher einem Schleuderball geglichen, der gefährlich hin und her schlingerte. Es lässt sich nicht nachvollziehen, weshalb Petrarcas Vater seinem ältesten Sohn eine Gehirnerschütterung antun hätte wollen. Wie kam also das Bündel am Stock in die Welt? – durch Selbstdefinition über Rückerinnerung an die antike Literatur. Es war der Volskerkönig Metabus, der sein Töchterchen Camilla einbündelte und an seinem hölzernen Speerschaft festband. Daher baumelte auch das Bündel Petrarca an einem Stück Holz. Allerdings machte der Volskerkönig das Bündel nicht an seinem Speerschaft fest, um das Kind zu tragen. Es ging um den dramatischen Kindeswurf über den Fluss. Wie wenig Petrarca von einer etwaigen Authentizitätserwartung seiner Leser ausging, zeigt schon die Tatsache, dass er bezüglich der Art des Tragens die konstatierte, merkwürdige Doppeldeutigkeit bestehen lässt. Jedoch brauchte Petrarca das an einem Stock hängende Babybündel zu einer möglichst wirkungsvollen Evozierung der Aeneis-Stelle: Das an einem Stock baumelnde Bündel ruft sofort die dramatische Szene der verzweifelten Flussüberquerung herauf, genau das, was nötig war, um die Flucht als episches Ereignis zu konstituieren. Es wird damit manifest: Die fundamentale und massive Einschreibung in die Antike regelt mehr, als sich aufgrund der hermeneutischen Authentizitätserwartung vermuten lässt. Die Antikeneinschreibung und -erinnerung regelt so radikal, dass sie die Lebensfakten und wirklichen Lebenserfahrungen vielfach völlig überlagert, ändert oder in ein total anderes Fahrwasser bringt. Betrachten wir einmal die Angabe näher, dass Petrarca mit sechs Monaten in der ganzen Toskana herumgetragen worden sei, bis die Flucht in Pisa zum Stillstand gekommen sei. Wie verhält sich dies zu der damaligen Situation? Als Petrarca sechs Monate alt war, fand keineswegs eine wilde Flucht (aus Arezzo) durch die ganze Toskana statt, sondern eine einfache und kurze Fahrt der Mutter Eletta mit dem Kleinkind, die sich, da sie offiziell wieder ins Florentiner Grundgebiet zurückkehren durfte, von Arezzo in das etwa 35 km entfernte Incisa Val d’Arno, wo die Familie ihren ursprünglichen Wohnsitz hatte und wo noch stets Ser Petraccho’s Vater Parenzo lebte, begab.38 Es kann also von Irrfahrten, noch dazu gefährlichen und ungewissen, keine Rede sein. Die „Reise“ konnte, da man zu Pferde war, leicht in etwa vier Stunden absolviert werden. 38
Dotti, Vita di Petrarca, 5–6. Für das Petrarca-Haus in Incisa Val d’Arno vgl. Toscana (Guida d’Italia del Touring Club Italiano), Milano 1974, 349.
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Da es sich nicht um eine wilde Flucht handelte, sondern um eine so einfache und kurze und noch dazu geplante Reise, hatte man genug Zeit und brauchte also keine gefährliche Überquerung eines hohes und wildes Wasser führenden Flusses (vgl. Fam. I, 1, 23: „violento gurgite“) zu unternehmen, bei der man Kopf und Kragen riskierte wie Metabus, dem die Volsker auf den Fersen waren. Der Abstand zwischen der episch-literarischen zur historischen Wirklichkeit ist noch größer, als sich auf den ersten Blick vermuten ließ: Wenn man von Arezzo nach Incisa Val d’Arno gelangen will, braucht man den Arno gar nicht zu überqueren! Man kann langsam und gemütlich das Val d’Arno hinaufreiten, durch die Orte Ponticino, Montevarchi, Giovanni Valdarno und Figline Valdarno und kann dabei stets auf dem (von Arezzo aus gesehen) linken Ufer des Arno bleiben. Der „Zwischenfall bei der Flussüberquerung“ ist also nicht in der historischen Wirklichkeit zu situieren,39 sondern beruht auf der epischen Lebenseinschreibung Petrarcas. Nach Pisa reiste Petrarca weder mit sechs Monaten, noch sonst als Kleinkind. Erst als er sieben Jahre alt war, begab er sich dorthin (1311),40 jedoch handelte es sich wiederum weder um eine Flucht noch um ungewisse Irrfahrten. Es war eine absichtsvolle und geplante Reise, die damit zusammenhing, dass in diesem Jahr der deutsche König Heinrich VII. sich in der nämlichen Stadt aufhielt. Dort sammelten sich die exilierten Florentiner Ghibellinen, die Kaisertreuen, zu denen die Familie Ser Petraccho’s zählte, in der Hoffnung, Heinrich werde sie nach Florenz zurückführen. Als der sieben Jahre alte Petrarca nach Pisa reiste, wurde er weder von einem Diener in der Rechten getragen noch baumelte er als Bündel an einem Stock. Allerdings verfügte er für diese Reise bereits über authentische Erinnerungen, und somit wusste auch der Autobiograph Petrarca, dass das, was er hier aufschrieb, mit diesen Erinnerungen nicht übereinstimmte. Das Authentizitäts-, Wahrheits- und Wahrhaftigkeitskriterium steuert hier nachweislich nicht die humanistische autobiographische Erinnerung. Wie kam diese mit den Lebensfakten und Lebenserfahrungen eklatant in Widerspruch stehende Erinnerung zustande? Abermals dadurch, dass Petrarca sein Leben als Erinnerung an die antike Literatur definierte. Er erinnert sich an die Odyssee, das homerische Epos, das die Irrfahrten des 39
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Dotti, Vita di Petrarca, 9 und Neumann, Francesco Petrarca, 15 fassen die Flußüberquerung als historisches Fakt auf. S. Dotti, Vita di Petrarca, 9. Neumann, Francesco Petrarca, 16, gibt irrtümlich 1310 als Jahr der Pisareise an.
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vom Sturm verschlagenen Helden besingt. Indem Petrarca sein Leben an das des antiken Helden anbindet, transformiert er die Ortswechsel seiner Kindheit zu Irrfahrten. Auf wundersame Weise vermischen sich die Meeresfahrten des Odysseus mit den petrarkischen „Irrfahrten“ („errores“) durch die indefinite See „der ganzen Toskana“. Dazu passt, in ebenso wundersamer Übereinstimmung, das gefährliche Durchschwimmen eines wild wogenden Flusses, wobei ein ‚Kamerad‘ fast ertrunken wäre. Die Weise, in der dieser Erinnerungsdiskurs geregelt wird, führt in einen viel umfänglicheren und komplexeren Textgestaltungsprozess über: dieser findet anhand der diversen Textgattungen der antiken Literatur, ihrer Topiken, Textpräsentationssysteme (z.B. Rhetorik), Textstrukturierungsmodi, der diversen Schreibstile der lateinischen antiken Autoren, ja der Grammatik der lateinischen Sprache statt. Alle diese Gestaltungsmittel, Medien und Regelsysteme sind für die humanistische Autobiographik ganz entscheidend. Eine Einleitung kann natürlich nicht der Ort sein, dies im Einzelnen auszuführen. Das soll im Laufe des Buches geleistet werden. Festhalten dürfen wir vorläufig, dass den humanistischen Autobiographen ein überaus reicher Schatz an Regeln, Regelsystemen, Diskursen und Referenztexten zur Verfügung stand. Als hervorragende Kenner der antiken Literatur waren sie mit diesem Schatz mehr als vertraut. Sie konnten in ihren Selbstkonstituierungen frei über ihn verfügen. Diese Tatsache verleiht dem humanistischen Autobiographen eine weitgehende Autonomie in Bezug auf die ‚Wirklichkeit‘ der Lebensfakten und Lebenserfahrungen, und schafft einen bemerkenswerten Freiraum der Selbstkonstituierung. Auch aufgrund dessen ist jeder Versuch, Fiktionalität von Faktizität, fiktionale von referentiellen Texten verbindlich trennen zu wollen (wie in Lejeunes autobiographischem Pakt) im Hinblick auf die humanistische Autobiographik zum Scheitern verurteilt. Der Freiraum, der diesbezüglich beansprucht wird, nähert sich in gewissem Sinn sogar dem, den sich autobiographische Romane des 20. Jahrhunderts genommen haben. Max Frisch zum Beispiel hat in seinem autobiographischen Roman Mein Name sei Gantenbein, dessen Titel die Vorgaben des autobiographischen Paktes ad absurdum führt,41 die Autonomie des Autors über die Lebensfakten und -erfahrungen besonders einprägsam auf den Punkt gebracht: 41
Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt a. M. 1975, S. 20. Der Titel bestätigt und leugnet zur gleichen Zeit, dass er, der Autor, Max Frisch, mit der dargestellten Person identisch sei.
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Ich stelle mir vor: Ein Mann hat einen Unfall, beispielsweise Verkehrsunfall, Schnittwunden im Gesicht, es besteht keine Lebensgefahr, nur die Gefahr, dass er sein Augenlicht verliert. Er weiß das. Er liegt im Hospital mit verbundenen Augen lange Zeit. Er kann sprechen. Er kann hören: Vögel im Park vor dem offenen Fenster, manchmal Flugzeuge, dann Stimmen im Zimmer, Nachtstille, Regen im Morgengrauen. Er kann riechen: Apfelmus, Blumen, Hygiene. Er kann denken, was er will, und er denkt … Eines Morgens wird der Verband gelöst, und er sieht, aber schweigt; er sagt nicht, dass er sieht, niemand und nie. Ich stelle mir vor: Sein Leben fortan, indem er den Blinden spielt auch unter vier Augen, sein Umgang mit Menschen, die nicht wissen, dass er sie sieht, seine gesellschaftlichen Möglichkeiten, seine beruflichen Möglichkeiten dadurch, dass er nie sagt, was er sieht, ein Leben als Spiel, seine Freiheit kraft eines Geheimnisses usw. Sein Name sei Gantenbein. Ich probiere Geschichten an wie Kleider!
Der Selbstdarstellungsprozess wird hier als ein Anprobieren von Geschichten beschrieben, als eine Sammlung vorgestellter Situationen, Potentialitäten sowie diverser Fiktionen. Der Autor schaltet und waltet in dieser Beziehung, wie er will. Die Selbstdarstellung ist ein höchst kreativer Prozess, kein getreues Beschreiben eines festen hermeneutischen ‚Individuums‘ bzw. einer feststehenden hermeneutischen ‚Persönlichkeit‘ mit einer bestimmten naturgegebenen ‚Identität‘. Es handelt sich um einen Schaffensprozess, bei dem nach Lust und Laune geschnitten, geschoben, geklebt, – gebastelt wird. Max Frisch bastelt ‚sich selbst‘: „Ein Mann hat einen Unfall […] Sein Leben fortan, indem er den Blinden spielt […] Sein Name sei Gantenbein“. Aus diesem Geschichten-Anprobieren-Wie-Kleider und diesem autobiographischen Basteln lässt sich für die humanistische Autobiographik ein relevantes Paradigma ableiten. Die Humanisten basteln ihre Autobiographien, indem sie diese aus diversen antiken Materialien (Geschichten, Themen) zusammensetzen und in diversen antiken Textgattungen mit unterschiedlichen Regelsystemen (Diskursen), medialen Verfasstheiten und in divergenten Textpräsentationssystemen organisieren. Petrarca zum Beispiel konstituiert sich selbst in dem oben zitierten Text, indem er Geschichten der antiken Epik anprobiert wie Kleider – das Kleid des herumirrenden Helden Odysseus, das Babybündel der Camilla. Dem ging, wie sich zeigen ließ, keine feste, so beschaffene Existenz voraus. Der ‚wirkliche‘ Petrarca irrte nicht umher wie Odysseus und er hing nicht als Bündel an einem Stock/Speerschaft wie Camilla. Das Auffinden und Anprobieren literarischer Kleider, wie es die Humanisten vornehmen, ist in seiner Kreativität nicht zuletzt ein lustvoller
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Prozess. Der Autor steht gewissermaßen vor dem Spiegel der literarischen Selbstkonstituierung und betrachtet mit freudiger Aufmerksamkeit, was für ein Mensch da jeweils zustande kommt. In diesem Sinn ist Petrarcas Bemerkung zu verstehen, dass es ihm Freude bereite, sich gemeinsam mit dem Freund an seine frühe Kindheit zu erinnern. Für Lodewijk Heyliger van Beringen (ca. 1304–1360) konnte dieses Sich-Miterinnern keine wörtliche Bedeutung im Sinne authentischer Erinnerungen haben (er hatte keine authentische Erinnerung an Petrarcas Kindheit, da er sich zu dieser Zeit in weiter räumlicher Entfernung – in den Niederlanden – befand, ja noch nicht einmal je etwas von Petrarca gehört hatte). Aber sowohl er als auch der allgemeine Leser kann das Anprobieren der antiken Kleider, das Basteln mit antiken Materialen und Regelsystemen mitverfolgen, wobei ihm die sich häufenden Momente des Miterkennens bei der Lektüre Freude bereiten. In diesem Sinn ist der Haupttitel des Buches Die Erfindung des Menschen zu verstehen. Das humanistische autobiographische Schreiben ist keine Art des Abbildens fester, so beschaffener Individuen und Existenzen, sondern ein kreativer Prozess. In dieser Beziehung ist die Herangehensweise des vorliegenden Buches neueren Autobiographieauffassungen verwandt, die den Konstruktcharakter, die sprachliche, mediale oder rhetorische Verfasstheit und die Literarizität der Texte in den Mittelpunkt des Interesses rücken.42 Die Analysen von Eakins, Elbaz, Finkelstein, Goodwin, Greenblatt, de Man und anderen haben wertvolle Erkenntnisse zu Tage gefördert. Eine eingehende Beschreibung dieser Studien kann hier unterbleiben, da WagnerEgelhaaf eine solche bereits vorgelegt hat43 und da sich die Methodik der vorliegenden Arbeit keinem der genannten Werke im Besonderen ver42
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Elbaz, „Autobiography, Ideology, and Genre Theory“ (1983); P. J. Eakin, Fictions in Autobiography: Studies in the Art of Self-Invention, Princeton, New Jersey 1985; J. Finkelstein, The Fashioned Self, Philadelphia 1991; J. Goodwin, Autobiography. The Self Made Text, New York-Oxford-Toronto 1993; S. Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning from More to Shakespeare, Chicago, Illinois 1980; P. de Man, „Autobiography as De-Facement“, in: Modern Language Notes 94 (1979), 919–930 (deutsch u. d. T. „Autobiographie als Maskenspiel“, in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Ch. Menke, Frankfurt a. M. 1993, 131–146); L. Marcus, Auto/biographical Discourses. Theory, Criticism, Practice, Manchester 1994; B. Scheffer, Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie, Frankfurt a. M. 1992; B. Effe,„Autor-Ich oder Rollen-Ich? Die Destruktion des autobiographischen Rezeptionsmodus in Theokrits 7. Idyll“, in: Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien, 93–107 (2005). Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 58–63; 71–82.
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pflichtet weiß. Zum Beispiel ist die Kritik, die Systemtheoretiker wie Scheffer oder Dekonstruktivisten wie Derrida und De Man geliefert haben, überaus wertvoll. Jedoch schien es im Bezug auf die hier erörterten Texte nicht sinnvoll, das Band zwischen den Konstrukten und der historischen Wirklichkeit völlig durchzuschneiden, wie dies z. B. vom Dekonstruktivismus vorgeschlagen wurde. Statt der hier genannten Ansätze wurde in dieser Arbeit die historische Diskursanalyse bevorzugt, die sogleich erörtert werden wird. Die geschilderte Methode der probierenden und bastelnden Antikenrezeption setzt ein ungeheuer großes Kreativitätspotential frei, das den Humanisten ermöglichte, sich ihr Leben, ihre Identität zu basteln und sich sozusagen Leben anzuziehen wie Kleider. Es wird sich jedoch herausstellen, dass die Auswahl der Kleider nicht völlig willkürlich oder zufällig stattfand. Ein Ziel des Anprobierens von Kleidern ist letztlich, dass man jenes findet, das gut passt. Davon wird dieses Buch handeln: von den passenden Geschichten, von der Auswahl und der Adaption der Diskurse und Inhalte, die mit der jeweiligen autobiographischen Problematik in Zusammenhang stehen. Diese Problematik hängt jeweils mit der historischen und historischliterarischen Situation zusammen, in der sich der Autobiograph befindet. Der historische Kontext des autobiographischen Schreibens gerät daher in diesem Buch niemals aus dem Blickfeld. Er bildet das Umfeld und die Einbettung des literarischen Selbstkonstituierungsaktes, und weiter, soweit dies eruiert werden kann, das Vergleichsmaterial, mit Hilfe dessen die spezifischen Konstruktionen dingfest gemacht werden können. In Petrarcas Fall bildet die Tatsache, dass er als Sohn eines vertriebenen Florentiners den Hauptteil seines Lebens außerhalb der Toskana, ja außerhalb Italiens – in der Provence – verbringen musste, den historischen Kontext. Der Status der ‚Heimatlosigkeit‘ bestimmt sein autobiographisches Problem, das er in seinen autobiographischen Schriften immer wieder thematisiert. Er ist der „ewige Fremdling“ („peregrinus ubique“), der auf Erden nirgends beheimatet ist, ja sich in seiner eigenen Zeit niemals zuhause fühlt, gewissermaßen eine Personifikation der immerwährenden Alterität. Deshalb passt auf ihn die Geschichte des Odysseus, der ein Gutteil seines Lebens in der Fremde herumirrt, deshalb die tragische Geschichte der Jungfrau Camilla, die schon als Kind aus ihrer Heimat vertrieben wurde, in einer fremden Umgebung (im Wald) aufwuchs und einen Beruf ergriff, der ihrem Geschlecht fremd ist, der waffenkundigen Kämpferin und Jägerin. Auch Camilla ist eine Alteritätsgestalt.
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5. Autobiographik als Kommunikation: der Bezugsrahmen der internationalen Respublica litteraria Das autobiographische Schreiben der Humanisten ist weiter ein Akt der Kommunikation, der in einer realen historischen Situation stattfindet und auf diese abgestimmt ist. Die Humanisten wollen ihre Leser von gewissen Gegebenheiten und Sichtweisen überzeugen. Dies hängt mit den variablen und zum Teil prekären Lagen zusammen, in denen sie sich befinden. In diesem Sinn weisen die autobiographischen Texte der Humanisten einen starken rhetorischen Organisationsgrad auf. Das gedachte Publikum ist prinzipiell das der Respublica litteraria, der internationalen und supranationalen Gemeinschaft der Gebildeten, welche eo ipso der lateinischen Sprache kundig waren. Die spezifische Verfasstheit dieses Publikums bedingt, dass es die Diskurse, Diskursänderungen und Diskursumbrüche, in denen die Humanisten sich selbst konstituierten, orten und verstehen konnte. In diesem Sinne – in Bezug auf ihre Einbettung in und ihre Orientierung auf reale historische Kontexte – sind die hier diskutierten humanistischen Autobiographien den sogenannten Egodokumenten zuzuordnen, deren Erfassung in den letzten beiden Dezennien vehement vorangetrieben worden ist.44 Die Erforschung der Egodokumente hat besonders auf den Gebieten der Entdeckung, Sammlung, Edition und Erschließung als historische Quellen große Fortschritte gemacht. U.a. ist das, was Rudolf
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Vgl. B. von Krustenstjern, „Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert“, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 462–471; R. M. Dekker, „Egodocumenten: een literatuuroverzicht“, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 101 (1988), 161–189; Ders., „Ego-Dokumente in den Niederlanden vom 16. bis zum 17. Jahrhundert“, in: W. Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, 33–57; R. M. Dekker, „Verzeichnen und Edieren niederländischer Ego-Dokumente vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert“, in: Editio 9 (1995), 80–95. W. Schulze, „Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?“, in: B. Lundt, H. Reimöller, F. Seibt (Hrsg.), Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, Köln-Weimar-Wien 1992, 417–450; K. Arnold, S. Schmolinsky, U. M. Zahnd (Hrsg.), Das dargestellte Ich. Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit (Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit 1), Bochum 1999.
Autobiographik als Kommunikation
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Dekker und andere für den niederländischen Raum, besonders für das 16.und 17. Jahrhundert, geleistet haben, richtungsweisend.45 Gegenstand dieser Arbeit sind die humanistischen, lateinischen autobiographischen Texte zwischen ca. 1350 und ca. 1610. Hierzu wurden umfängliche Quellen- und Detailstudien betrieben. Zum Teil wurde handschriftliches Material in neuen kritischen Textausgaben in Vorstudien herausgegeben (Petrarca, Epistola posteritati, Campano),46 wurden historische Kontexte in Vorstudien separat gesichtet (Junius, Lipsius, Miraeus, Petrarca, Meursius)47 bzw. zum Zweck der vorliegenden Arbeit kritische Texte erstellt, ohne sie herauszugeben (Vergerio, de Slupere, Junius). Weiter wurden separate Vorstudien zu antiken Quellentexten in ihrem historischen Kontext erstellt (Ovid, Sueton).48 Die arbeitsinten45
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R. Lindeman, Y. Scherf, R. M. Dekker, Egodocumenten van Noord-Nederlanders van de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst, Rotterdam 1993; Dies., Reisverslagen van Noord-Nederlanders uit de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst, Haarlem 1994. K. A. E. Enenkel, „A Critical Edition of Petrarch’s Epistola Posteritati with an English Translation“, in: Ders., B. de Jong-Crane, P. Liebregts (Hrsg.), Modelling the Individual. Biography and Portrait in the Renaissance (DQR Studies in Literature 23), 243–281; K. A. E. Enenkel, Francesco Petrarca. De vita solitaria, Buch I. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar, Leiden-New York-KopenhagenKöln 1990; Ders., „Rätsel eines unvollendeten Gedichtes: Giannantonio Campanos ‚autobiographisches Fragment‘ in Urb. Lat. 338“, in: F. Forner, C. M. Monti, P. G. Schmidt (Hrsg.), Margarita amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili, Mailand 2005, Bd. I, 233–254. K. A. E. Enenkel, „Hartstochtelijk op zoek naar God: de autobiografie van de Leidse Hoogleraar Franciscus Junius“, in: J. Hendriksen (Hrsg.), Hartstocht. Dieslezingen 1996, Leiden 1996, 16–26; K. A. E. Enenkel, „Humanismus, Primat des Privaten, Patriotismus und Niederländischer Aufstand: Selbstbildformung in Lipsius’ Autobiographie“, in: Ders., Ch. L. Heesakkers (Hrsg.), Lipsius in Leiden. Studies in the Life and Works of a Great Humanist on the Occasion of his 450th Anniversary, 13–45; K. A. E. Enenkel, „Lipsius als Modellgelehrter: Die Lipsius-Biographie des Miraeus“, in: G. Tournoy, J. de Landtsheer, J. Papy (Hrsg.), Justus Lipsius Europae lumen et columen. Proceedings of the International Colloquium Leuven, 17–19 September 1997 (Supplementa Humanistica Lovaniensia 15), 47–66; K. A. E. Enenkel, „Modelling the Humanist: Petrarch’s Letter to Posterity and Boccaccio’s Biography of the Poet Laureate“, in: Ders., de Jong-Crane, Liebregts (Hrsg.), Modelling the Individual., 11–49; K. A. E. Enenkel, „Het ,Nederlandse‘ nationale bewustzijn in biografische reeksen: Miraeus’ Elogia Belgica en Meursius’ Athenae Batavae“, in: Ders., S. Onderdelinden, P. J. Smith (Hrsg.), „Typisch Nederlands“: de Nederlandse identiteit in de letterkunde, Voorthuizen 1999, 27–54. K. A. E. Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10: Rhetorische Strategien und Interpretation“, in: A. P. Orbán, M. G. M. van der Poel (Hrsg.), Ad Litteras. Latin Studies in Honour of J. H. Brouwers, Nimwegen 2001, 113–129; K. A. E. Enenkel, „Biographi-
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Gegenstand und Methodik
sive Durchleuchtung des historischen Kontextes zu den einzelnen Autobiographien, welche für die beschriebene Herangehensweise erforderlich war, ist für den relativ langen Zeitraum, den die Arbeit beansprucht hat, mitverantwortlich. Bei alledem versteht sich diese Arbeit nicht als Materialsammlung. Die Analyse der Texte, die nach den oben skizzierten Gesichtspunkten vorgenommen wurde, steht im Vordergrund.49 Schon daraus erhellt, dass flächendeckende Vollständigkeit – trotz der Vielzahl der hier analysierten Texte – nicht beansprucht werden kann. Es ist das Hauptanliegen dieses Buches, die Prozesse, wonach sich das autobiographische Schreiben der Bildungselite zwischen ca. 1350 und 1610 gestaltete, sichtbar zu machen.
6. Diskursanalyse Von ihren erkenntnistheoretischen Prämissen her ist diese Arbeit der historischen Diskursanalyse, die Michel Foucault mit besonderer Eindringlichkeit in seiner Archäologie des Wissens vorgelegt hat, verbunden.50 Die Archäologie des Wissens ist ein vibrierendes, energiegeladenes Werk, das mit den Begriffsmonolithen, den falschen, aber umso hartnäckigeren Homogenitäten, Totalitäten, Teleologien der historischen Wissenschaften aufräumt und kreativen Freiraum erobert. Entscheidend ist die Freilegung der Diskontinuitäten, die Auflösung des irrigen Glaubens an feste Objekte oder Gegenstände, feste Subjekte, feste Aussagen, die Erkenntnis, dass diese vermeintlichen Entitäten in je variablen Diskursen immer wieder neu konstituiert und formiert werden. Sinnvolle Aussagen
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sches Werten und biographische Ambiguität. Ein Vergleich von Suetons Augustus-Vita und Plinius’ Panegyricus“, in: Wiener Studien 116 (2003), 155–171. Dass dieser Arbeit nicht der Begriff ‚Ego-Dokument‘ zugrundegelegt wurde, hat seinen Grund lediglich darin, dass er sich für die angestrebte Analyse nicht effektiv im Sinne eines Erkenntniszuwachses herausgestellt hat. M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973 (französisch 1969); Ders., Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971 (französisch 1966); U. J. Schneider, Michel Foucault, Darmstadt 2004, bsd. 82 ff. („Archäologie des Wissens“), 95–97 („Demontage der Geistesgeschichte“); 101–117 („Die Ordnung des Diskurses“); U. Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln 1998; W. Seitter, „Ein Denken im Forschen. Zum Unternehmen einer Analytik bei Michel Foucault“, in: Philosophisches Jahrbuch 87 (1980), 340–363; C. Kammler, „Historische Diskursanalyse“, in K.-M. Bogdal (Hrsg.), Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, 31–55.
Diskursanalyse
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kann man nicht über Objekte, Subjekte usw. machen, sondern nur über die Diskurse, genauer die Regelsysteme, nach denen über bestimmte Objekte usw. gesprochen wird. Diese erkenntnistheoretische Energie wollen wir uns für die Methodik dieses Buchs zunutze machen. Wir werden keine ‚Geschichte der humanistischen Autobiographie‘ schreiben, in der wir ‚die humanistische Autobiographie‘ als festes Objekt ‚abbilden‘. Wir fragen prinzipiell nach den verschiedenen Diskursmerkmalen des autobiographischen und des biographischen Schreibens, nach den Regeln, nach denen die diversen Diskurse eingerichtet sind, nach den Regelsystemen, die den Diskursen zugrunde liegen, nach literarischen Darstellungsmodellen, kollektiven literarischen Gedankenmustern, literarischen Praktiken und möglichen diskursbestimmenden Versatzstücken, sowie nach den Diskurswechseln, -änderungen, -transformationen, -sprüngen, -umbrüchen, die je entstehen, wenn die Darstellungsmodelle, kollektiven Gedankenmuster, Praktiken und Versatzstücke aktiviert und adaptiert werden. Wir wollen dabei die Formation der Autobiographik ergründen: Autobiographik als Prozess. Dabei wird sich herausstellen, dass das humanistische autobiographische (und biographische) Schreiben prinzipiell kein einfaches Abbilden oder Beschreiben von festen Individuen oder Objekten, festen Menschen, feststehenden Lebensläufen usw. war. Kriterien wie „Wahrheit“, „Nachprüfbarkeit“ und Ähnliches sind dafür völlig unbrauchbar. Der einzelne Mensch ist kein festes Objekt, das im literarischen Werk wiedergegeben wird. Der Mensch Petrarca etwa, wie er in seinen Autobiographien sichtbar wird, war nicht vorab, außerhalb des literarischen Werkes, schon da, sondern er wird erst im literarischen Werk konstituiert. Wir werden in diesem Buch zeigen, wie sich die Autoren in den betreffenden literarischen Werken je konstituieren. Das soll im Titel des Buches zum Ausdruck gebracht werden: Die Erfindung des Menschen. Autobiographien sind keine Abbildungen, sie konstruieren und konstituieren Menschen. Foucault für eine Studie zur Autobiographik heranzuziehen, hat einen besonderen Reiz insofern, als er selbst zumeist vermieden hat, sich mit autobiographischen Texten auseinanderzusetzen51 (er hatte eine 51
Mit Ausnahme der Einführung („Introduction“) zu Rousseaus Dialogen, in: Rousseau juge de Jean Jacques. Dialogues, Paris 1962; vgl. M. Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 2003, 7–27. Bezeichnenderweise beginnt der Aufsatz mit der prächtigen lapidaren Feststellung „Dies sind Anti-Bekenntnisse“.
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Gegenstand und Methodik
ausgesprochene Vorliebe für Fremddarstellungen) und er zum Generalangriff gegen die Hermeneutik geblasen hat, welche die Autobiographie als Domäne beansprucht. In diesem Buch wird sich zeigen, dass Foucaults Scheu vor autobiographischen Texten sachlich nicht ganz begründet ist und dass sich seine erkenntnistheoretischen Errungenschaften auch in der Konfrontation mit diesem sperrigen Material bewähren. WagnerEgelhaafs Diskussion der Theorie der Autobiographie entspricht dieser Ansatz insofern, als sie dafür plädiert, dass in der Erforschung der Autobiographie besonders die mediale Verfasstheit der Texte in den Blick genommen werden sollte. Obwohl ihre Beschreibung der Diskursanalyse als Herangehensweise zur Erforschung autobiographischer Texte eher blass bleibt (nur zwei kurze, unspezifische Absätze),52 liefert sie mehrfach wertvolle Denkansätze, die für eine Anwendung der historischen Diskursanalyse auf autobiographische Texte sprechen.
7. Aufbau und Präsentation Aus dem Bisherigen ist klar geworden, dass es nicht sinnvoll sein würde, eine „Geschichte der Autobiographie“ zu schreiben, einen organischen Gattungskörper ,abzubilden‘, etwa indem man seine Glieder (Sub-Gattungen, Perioden, Gruppen, Themen) in einzelnen Kapiteln beschreibt. Ebenso verfehlt wäre jegliche idealtypologische oder teleologische Gestaltung. Was wir erstreben, ist eine dynamische Gestaltung, die uns in den Formationsprozess der humanistischen Autobiographik hineinzieht und ihn sichtbar macht, die Diskurse und ihre Regelungen, sowie die Änderungen, Transformationen und Umbrüche der Diskurse zu Tage fördert. Die nicht vorhandene Homogenität des Gegenstandes erfordert umso mehr, dass wir uns der Diskontinuität öffnen und uns Einzelereignissen zuwenden. Das Ereignis muss unbedingt ernstgenommen werden. Und jede Autobiographie ist einzelnes Ereignis, das unsere Aufmerksamkeit verdient. Jede Autobiographie ist in der Tat etwas Besonderes; sie handelt von einer besonderen Lebensproblematik und verhandelt diese in spezifischen Diskursen auf eine spezifische Weise. Es gibt keine Autobiographien zweier oder mehrerer Humanisten, die einander ähneln wie ein Ei dem anderen. Jede Autobiographie bedarf daher der genauen Analyse und des Detailstudiums. Es stellte sich deshalb als die beste und effektivste Präsentationsweise heraus, die Kapitel oder Ab52
Autobiographie, 70–71.
Aufbau und Präsentation
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schnitte dieses Buchs einzelnen autobiographischen Werken zu widmen. Dabei wurde der Aufeinanderfolge der Kapitel im Grossen und Ganzen die Entstehungszeit der Texte zugrundegelegt, jedoch ohne irgendwelchen Bedeutungsanspruch (etwa im Sinne genereller Entwicklungslinien). Diese Reihenfolge ist praktisch sinnvoll, weil sich einige Texte aufeinander beziehen und sich etwaige Bezugnahmen am einfachsten auf diese Weise zeigen lassen. Wesentlich ist eine dynamische Präsentation, die in den Formationsprozess hineinführt. Diese kann am besten dadurch erreicht werden, dass man in einem ersten Lektüregang, bei dem Textbeispiele angeboten werden, Diskontinuitäten, die sich aus der Rezeption des Textes ergeben, freilegt, etwa nach dem Muster, das in dieser Einleitung vorgeführt wurde. Der Text wird dadurch in Bewegung geraten, und eine offenere, neugierigere Herangehensweise ermöglichen, im Sinne der „Archäologie“ Foucaults, die sich nicht als eine Ausgrabung festgefügter Schichten versteht, sondern als „Lehre der Verunsicherung, von der destabilisierenden Wirkung historischer Arbeit“.53 Schon nach diesem ersten Lektüregang werden die Texte nicht mehr das sein, was sie zunächst zu sein schienen. Der historische Kontext wird in der Präsentation nicht zu kurz kommen: Er wird auf mehrfache Weise in die fortlaufende Analyse der Texte eingebaut. Zusätzlich wird, meist als separate Texteinheit, ein Lebenslauf der einzelnen Autobiographen angeboten, zum einen, weil er für die Analyse des jeweiligen autobiographischen Problems und seiner literarischen Gestaltung eine notwendige Voraussetzung bildet, zum anderen, weil er bei den Lesern nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Sodann widmet sich der Text fortlaufend den diskursiven Prozessen der Selbstgestaltung. Der Autor hofft, dass auf diese Weise eine Erörterung der humanistischen Autobiographik zustande gekommen ist, die den Leser zum Mit- und Weiterdenken anregt.
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Schneider, Foucault, 86.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
II. Francesco Petrarca: Autobiographie in Briefen 1. Die Ausgangslage: auf der Suche nach der Autorisierung der Autobiographik Die zu Eingang des Buches zitierte Lebenscharakteristik Petrarcas als eines ständig Reisenden sprudelt förmlich über vor Freude am autobiographischen Schreiben.1 Die Gedanken scheinen sich wie von selbst zu bilden, mit einer alles durchdringenden Selbstverständlichkeit und Folgerichtigkeit, bis in den Satzrhythmus und die Atemsequenz hinein. Der Eindruck der Natürlichkeit und lustvollen Leichtigkeit, mit der Petrarca voranschreitet, verdeckt die Tatsache, dass dies alles andere als selbstverständlich war; dass es für diese Autobiographik keinen vorgeprägten Diskurs, keine gebrauchsfertige Textsorte, keinen geeichten Stil gab; dass das autobiographische Schreiben an sich nicht allgemein akzeptiert war; dass es von einer hohen Schamschwelle behindert wurde; ja dass ihm der Makel der moralischen Anrüchigkeit anhaftete. Der Pioniergeist Petrarcas stieß also sozusagen in ein literarisches Niemandsland vor. Petrarca entdeckte ein Land, das schwer zugänglich war, in dem es keine gebahnten Pfade, keine Grenzsteine oder andere Zeugen fester Besitzverhältnisse gab. Die scheinbare Leichtigkeit übertüncht, dass dieser Entdecker in Sachen Autobiographik mit einem doppelten Problem kämpfen musste: Erstens, auf welchem Weg, auf welche Weise könnte man vorankommen? Zweitens, wie könnte es gelingen, das eroberte Gebiet so sicherzustellen, dass es vom Leserpubli1
Eine Gesamtdarstellung zu Petrarcas Autobiographik liegt bisher nicht vor. Bibliographische Angaben zu Einzelstudien, die bestimmte Werke betreffen (Secretum, Epistola Posteritati etc.) entnehme man der Bibliographie. Auch gibt es bisher keine überzeugende Darlegung seiner autobiographischen Methodik. Das Untenstehende versteht sich als Versuch, die diskursiven Regeln dieser fesselnden Selbstkonstituierungen herauszuschälen und sichtbar zu machen.
Autorisierung der Autobiographik
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kum anerkannt würde, bzw. die neu geschaffene Autobiographik zu autorisieren? Diese beiden Probleme waren miteinander verbunden. Petrarca inspirierte sich in seinen literarischen Erfindungen an den antiken römischen Autoren; zugleich verwendete er diese als erste Legitimationsinstanz. Beide Probleme wurden dadurch verstärkt, dass die Autobiographik von der antiken römischen Literatur nicht ohne weiteres vorsanktioniert war; dass explizite Autobiographik in der antiken römischen Literatur nur in wenigen Ausnahmefällen vorkommt, was a fortiori für die Prosaliteratur gilt. Es lässt sich diesbezüglich ein ausgesprochener Autobiographik-Engpass feststellen.2 Für den gebildeten Römer sprach vieles dagegen, direkt und offen über sich selbst zu reden. Das meiste Persönliche wurde strikt als Privatsache betrachtet, die auf keine Weise ‚veröffentlicht‘ werden durfte. Zudem besaß der gebildete Römer ein überaus stark ausgeprägtes Gespür für Takt, soziales Dekorum, sozialhierarchisches Auftreten, dezentes Verhalten sowie für kleine und große Peinlichkeiten, die in seiner Erfahrungswelt immer und überall hervorzubrechen drohten. Wo immer möglich, zog er ein distanziertes und reserviertes Auftreten vor. Gegen diesen Hintergrund betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass das autobiographische Schreiben in der antiken römischen Literatur auf nur
2
Der Engpass der römischen Literatur an expliziter Autobiographik spiegelt sich auch in der rezenten Sammlung von M. Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Köln-Weimar-Wien 2005. Sieht man von christlichen Selbstdarstellungen ab (Augustin, Sidonius Apollinaris), gibt es nur drei Aufsätze, die sich mit antiken römischen Themen beschäftigen (Baier, „Autobiographie in der späten römischen Republik“; C. Klodt zu Statius’ Gedicht „Ad uxorem“; A. B. Birley, „Hadrian, De vita sua“). Ein ähnliches Bild zeigt der entsprechende Abschnitt in Wagner-Egelhaafs Monographie Autobiographie (104–113). Wagner-Egelhaaf behandelt nur Augustus’ Inschrift auf dem Monumentum Ancyranum (Res gestae), Marc Aurels philosophische Spruchsammlung Ad se ipsum (in griechischer Sprache verfasst) und natürlich Augustins Confessiones (107–113). Augustus’ inschriftlich überlieferte ‚Autobiographie‘, die in der Forschungsliteratur relativ viel Aufmerksamkeit erhalten hat, war Petrarca, ebenso wie Mark Aurels Ad se ipsum, nicht zugänglich. Das umfängliche Material, das Georg Misch in seiner Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum (3. stark verm. Aufl., 1949 u. 1950) zusammengetragen hat, setzt sich zum größten Teil nicht aus Autobiographien zusammen, sondern aus vielen ganz unterschiedlichen Texten, die der Hermeneutiker Misch auf irgendeine Weise autobiographisch interpretiert hat. Vgl. auch H. Sonnabend, Geschichte der antiken Autobiographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart-Weimar 2002.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
ganz wenige Ausnahmen und Redesituationen beschränkt blieb. Thomas Baier hat in einem rezenten Aufsatz zur „Autobiographie in der späten römischen Republik“ (2005) die Beschränkungen des autobiographischen Schreibens gebührend hervorgehoben.3 Die weitgehenden Einschränkungen gelten im Übrigen nicht nur für politisch exponierte Römer. Auch einem Schriftsteller hätte man es in der römischen Antike (vom 3. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr.) nicht abgenommen, wenn er eine einige hundert Seiten lange Prosabeschreibung seines Lebens, von der Kindheit an, mit voller Entfaltung seines Gefühls-, Geistes- und Privatlebens, verfasst hätte. Rousseaus Confessions oder Goethes Dichtung und Wahrheit (beide etwa 900 Normalseiten lang) – die Ikonen der modernen Autobiographik – hätte man als Akte heilloser Verrücktheit betrachtet, als bizarre Verirrungen, als Bücher, die es nicht verdienten, gelesen zu werden. Aber auch Max Frischs mittellange autobiographische Erzählung Montauk (206 Normalseiten) hätte bei antiken Römern Verwunderung und Kopfschütteln hervorgerufen, nicht nur wegen der Ausführlichkeit der Selbstdarstellung, sondern auch wegen der Diskursivität, in der sie verfasst ist. Ein kurzes Textbeispiel möge genügen, diese Reaktion nachzuvollziehen. Man sehe das Pingpong-Match, das der Autobiograph mit seiner amerikanischen Freundin Lynn austrägt: Der Pingpong-Tisch ist an diesem Abend frei. Lynn muß dann ihre Zotteljacke doch ausziehen, später sogar die Ärmel ihrer Bluse krempeln; es zahlt sich aus, dass zu Hause, jenseits des Atlantik, ein Pingpong-Tisch steht. Lynn ist flinker, schneidet aber die Bälle nicht und ärgert sich, wenn sie einen geschnittenen Ball nicht erwischt; ihr Ärger hilft ihm. Zugleich freut es sie, dass es wirklich ein Match wird. Das Tick-Tack in dem kahlen Raum tönt lustig. Was ihm zu Hause nur selten gelingt, jetzt aber fast immer: die kommenden Bälle, die langen, erst in ihrer sinkenden Flugbahn zu nehmen, meist unter Tischhöhe. Man hat dann mehr Zeit, und es kostet keine Punkte, wenn er, der Dicke, weniger flink ist. Natürlich erwischt sie ihn fast jedesmal, wenn sie den Ball ganz kurz hinters Netz gibt, was aber, da seine Bälle ziemlich scharf kommen, nicht allzu oft gelingt. Sein Hemd, das weiße, das bessere von den beiden, die er mitgenommen hat für das kurze Wochenende, ist schon völlig verschwitzt; das kommt von der Bückerei, wenn der Ball unter eine Truhe rollt.4
Cicero gehört zu den römischen Ausnahmefällen, insofern er sich daranmachte, autobiographische Schriften zu verfassen, sämtlich Aufzeichnungen über sein Konsulat. Es geht hier um drei Versuche: eine 3 4
In: Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien, 124–142. Max Frisch, Montauk, Frankfurt a. M. 1975, 122.
Autorisierung der Autobiographik
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Denkschrift in griechischer Sprache (Hypomnema)5, eine in lateinischer (Commentarii) sowie ein lateinisches Epos (De consulatu suo).6 Eine interessante Übereinstimmung ergibt sich daraus, dass sowohl Frischs Werk als auch Ciceros Versuche je einen relativ kurzen Lebensabschnitt in den Blick nehmen (Montauk: zwei Tage; Ciceros Denkschriften: einige Wochen – die Zeitspanne, in der Cicero die Verschwörung Catilinas vereitelte), womit in beiden Fällen Erzählzeit und erzählte Zeit konvergieren. Bei Frisch kommt das in zeitdeckenden Beschreibungen privater Ereignisse, wie im gerade zitierten Abschnitt, zum Ausdruck. – Hätte Cicero in seinen Denkschriften Ähnliches darstellen können? Von der biographischen Wirklichkeit her ist ja anzunehmen, dass sich Cicero in den nämlichen Wochen irgendwann zur Entspannung aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und sich wohl auch irgendwann die Zeit mit Spiel vertrieben hat. Dennoch kann man ausschließen, dass es in seinen Denkschriften derartige Beschreibungen gegeben hat. Sie hätten sich weder mit dem Gefühl des römischen Senators für Dekorum vertragen, noch mit den diskursiven Anforderungen, welche man an in Prosa verfasste Selbstdarstellungen stellte – welche unter anderem voraussetzen, dass dem Privaten ein Riegel vorgeschoben war. Wenn Cicero Ähnliches veröffentlicht haben würde, hätte er sich allgemeinem Gespött ausgesetzt. Man würde eine solche autobiographische Tat als kindische Einfältigkeit, unmotivierte Vertrauensseligkeit und lächerliche Geschwätzigkeit betrachtet haben (man stelle sich vor: einen Senator, der beschreibt, wie er Ball spielt und sich kindisch freut, wenn er gewinnt; der ganz glücklich ist, wenn er das Aufprallen der Bälle auf dem Boden hört; der sich wegen seines Bauches Sorgen macht, weil er ihm beim Ballspiel im Wege ist; der beschreibt, wie er sich bückt, um die Bälle aufzuheben und dabei gehörig ins Schwitzen gerät!), und überhaupt als inadäquates Auftreten, das einem Menschen, der mit dem Regelsystem der sozialen Kommunikation vertraut ist, einfach nicht unterlaufen darf. Der Römer betrachtete das autobiographische Schreiben als öffentlichen Vorzeigeakt, für den der Begriff des Dekorum essentiell war. Nur was dem Dekorum- und Dezenzgefühl entsprach, durfte vorgezeigt werden. Das war in der Prosa (commentarii, Tatenbericht/res gestae, vita) im 5
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O. Lendle, „Ciceros Hypomnema Peri tes hypateias“, in: Hermes 95 (1967), 90–109. Jeweils nur in Bruchstücken überliefert. Vgl. dazu Baier, „Autobiographie in der römischen Republik“, 128–133.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
Grunde auf Fakten des öffentlichen Auftretens beschränkt.7 Die Diskursivität moderner Autobiographik seit Goethe und Rousseau geht jedoch von der weitgehenden Vorzeigbarkeit des Privaten aus. Die Unübertragbarkeit der Schilderungen privater Ereignisse, wie sie in Frischs Montauk vorliegen, ergibt sich aus der Andersartigkeit des antik-römischen Diskursregulativs für das autobiographische Schreiben. Dem Privat-, Seelen- und Geistesleben wird seit Rousseau und Goethe eine wichtige, identitätsstiftende Rolle bei der Selbstdefinition des Individuums zuerkannt, und zwar einschließlich des Sexuellen.8 Beispielhaft ist, wie Rousseau in seinen Confessions die sexuelle Lust hervorkehrt, die dem Minderjährigen von Fräulein Lambrecier verabreichte Schläge bereiteten: „denn ich hatte in dem Schmerz und sogar in der Scham eine Art Wollust empfunden, die mehr Lust als Furcht in mir zurückgelassen hatte, sie noch einmal, von derselben Hand bewirkt, zu verspüren. Da sich in alles dies wahrscheinlich eine verfrühte Regung des Geschlechts mischte […]“.9 So ist auch das oben wiedergegebene Pingpong-Match als sexuelles Spiel zu verstehen, wie sich Max Frisch in der Autobiographie Montauk überhaupt über die Darstellung seines aufkeimenden Verhältnisses zu seiner jungen Freundin definiert. Er beobachtet die Frau, durch die Beobachtung ergreift er von ihr langsam Besitz. Indem er sich selbst in der dritten Person beschreibt, verstärkt er seine Machtposition als Beobachter. Er beobachtet die Frau und er spielt mit ihr. „Ihr Ärger hilft ihm“. Er bespielt sie mit den Waffen seines Geistes (geschnittene Bälle), sie reagiert emotional (gerade Bälle). Aber auch die Frau hat Initiative: Sie „erwischt ihn“, „es ist ein richtiges Match“. Die Darstellung des Sexuellen ist insofern ein erhellendes Beispiel, als es die Diskursivität der Autobiographik seit Rousseau paradigmatisch vorführt: Von einem Autobiographen erwartet man, dass er sich ‚entblößt‘ und sich dem Leser ganz privat, aus unmittelbarer Nähe zeigt. 7 8
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Ebd. Vgl. B. Nübel, Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800: Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz, Tübingen 1994; K. Stüssel, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Tübingen 1993; D. Satonski, „Die Entwicklungsidee in Goethes Dichtung und Wahrheit“, in: Goethe-Jahrbuch 99 (1982), 105–116; H. Schnur, „Identität und autobiographische Darstellung in Goethes Dichtung und Wahrheit“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1990, 28–93; E. Seitz, Talent und Geschichte. Goethe in seiner Autobiographie, Stuttgart 1996. Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse. Aus dem Französischen von E. Hardt […], Frankfurt a.M. 1985, 49–50.
Autorisierung der Autobiographik
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In der römischen Prosaliteratur waren derartige Selbstentblößungen verpönt, nicht, weil man eine puritanische Scheu gegenüber dem Sexuellen gehabt hätte, sondern weil man der Ansicht war, dass sich das Private grundsätzlich nicht zur öffentlichen Selbstdarstellung eigne. Daraus erhellt, dass es für Petrarca, der sein Privat-, Seelen- und Geistesleben darstellen wollte, kein Leichtes war, Vorbilder und Autorisierungsinstanzen in der römischen Prosaliteratur zu finden. Die Ausblendung des Privaten wird in der römischen Prosaliteratur nur in den seltensten Fällen durchbrochen, unter denen Ciceros Privatkorrespondenz herausragt (Epistulae ad Atticum; Epistulae ad familiares). Diese Ausnahme ist allerdings nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass Cicero die große Mehrzahl dieser Briefe nicht zur Veröffentlichung bestimmte, und folglich auch keine autobiographische Zurschaustellung seiner selbst beabsichtigte.10 Für die Schwierigkeiten, mit denen sich Petrarca auseinandersetzen musste, ist weiter bezeichnend, dass Ciceros Privatkorrespondenz im Mittelalter verschollen und weitgehend unbekannt war.11 Nur einem zufälligen Fund aus dem Jahr 1345 verdankte Petrarca den Zugang zu einem Teil dieser Korrespondenz (Ad Atticum).12 Über die Folgen dieses Fundes wird unten noch zu berichten sein. Klar ist jedenfalls, dass Petrarca, als er mit seiner Autobiographik anfing (um das Jahr 1333), Ciceros Privatbriefe als Autorisierungsinstanz nicht zur Verfügung standen. Diese Ausgangslage bringt mit sich, dass Petrarcas Aufbruch ins Neuland der Autobiographik zunächst nicht über die Pfade der lateinischen Prosaliteratur stattfand, sondern über die der lateinischen Dichtung. Auf diesem Gebiet gab es mehrere Möglichkeiten, Privates zur Darstellung zu bringen. Jedoch würde es nicht das Richtige treffen, wenn man
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Vgl. Baier, „Autobiographie in der späten römischen Republik“, 133–134. Für die Überlieferung der Briefe Ad Atticum vgl. L. D. Reynolds (Hrsg.), Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, Oxford 1986 (2. Aufl.), 135–137 (R. H. Rouse) „there is no known use of the letters to Atticus by any medieval writer“. Für Petrarcas mühevolle Aneignung der Briefe vgl. K. A. E. Enenkel, „Heilige Cicero, help mij! Hoofdlijnen van de Cicero-receptie in het Italiaanse Renaissance-humanisme“, in: Ders. – P. A. W. van Heck – R. Th. van der Paardt (Hrsg.), Zoals de ouden zongen. Over de receptie van de klassieken in de Europese literatuur, Emmeloord 1998 (2. Auflage 2004), 9–42 mit weiterführender Literatur. Vgl. weiter J. Friedrichs, „Petrarcas Briefe in die Vergangenheit und die antike Cicero-Kritik“, in: Res publica litterarum 23 (2000), 104–109.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
gebahnte Pfade voraussetzte. Das klarste Vorbild, Ovids Dichterautobiographie Tristia IV, 10, war für Petrarca als Legitimationsinstanz unbrauchbar, da er den römischen Liebesdichter moralisch verurteilte. Ähnliches gilt mutatis mutandis für die Elegiker Tibull und Properz. Petrarca war mit ihren Gedichten vertraut, erkannte sie jedoch nicht als Autorisierungsinstanzen an. Im schier weglosen Land stieß er auf die im Hexameter verfassten Briefe des Horaz (Epistulae), welche zwar ebenfalls keine Autobiographien darstellen, jedoch einen interessanten Zugang zum Privaten zu eröffnen schienen.
2. Erster Vorstoß in die Autobiographik: räumliche und literarische Verortung in Metrischen Briefen 2.1. Machtergreifung durch räumliche Verortung Den ersten Vorstoß in den autobiographischen Raum unternahm Petrarca mit lateinischen Gedichten, die er zu einer Sammlung (Epistole metrice) vereinigte.13 In Einzelbeschreibungen (einzelner Tage, bestimmter Themen) führt uns Petrarca seine Lebens- und Geisteswelt vor: An Guglielmo aus Verona. Der ruhlose Anblick der Stadt und die süße Liebe zum lieblichen Land spornte mich an, die glasklaren Quellen aufzusuchen, Den wunderschönen Ursprung der Sorgue; ein gewaltiger Ansporn ist er Dem Dichter, dem Geist gibt er seine angeborenen Flügel wieder. Dort, wo Du Dir einst nicht zu schade warst, mit mir das Geröll wegzuwälzen Und den unfruchtbaren Boden umzugraben, könntest Du jetzt einen Garten erblicken, der in voller Frühlingsblüte steht mit einer Vielfalt von Blumen: Die Natur wich hier unserem Werk. Einen Teil des Gartens Umströmt der tiefe Fluss, einen anderen umfängt der kühle Berg mit seinen abstürzenden Felsen, bietet Schutz vor dem heißen Südwind. Dort fällt im Mittag der Schatten. Ein weiterer Teil des Gartens Öffnet den warmen Westwinden sich. Aber dort verwehrt eine Steinmauer Dem Vieh und den Hirten den Zugang. Hoch in den grünenden Zweigen Haben Luftvögel ihre Nester gebaut, Uferschwalben in den Klippen […] Dort verbrachte ich, danach lechzend, gerade einmal einen Tag, freilich nicht einmal
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D. Rossetti (Hrsg.), Poesie minori del Petrarca sul testo latino ora corretto […], 3 Bde., Mailand 1829–1834; Joannes Herold (Hrsg.), Francisci Petrarchae […] Opera quae extant omnia […], 3 Bde., Basel, Henrichus Petri, 1554 (Reprografischer Nachdruck Ridgewood, New Jersey 1965), Bd. III.
Räumliche und literarische Verortung in Metrischen Briefen
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Einen ganzen; mit so vielen Fallstricken und Aufgaben fesselt mich die päpstliche Kurie. Das geschieht mir Unglücklichem recht, der ich die Fesseln, obwohl sie mir bekannt waren, Mir freiwillig anlegen ließ und aufzwingen dem abgewetzten Nacken das Joch. Jetzt aber tut es gut, mich an jenen Tag zu erinnern: Jetzt, da ich frei wandelnd das Wasser, die Wiesen und die angepflanzten Bäume bewundere Und die Lorbeerbäume, die von fernher herbeigeholt wurden, Sehe ich überall, in den Baumstrünken, im Fluss, das Gesicht meines Guglielmo: Auf diesem Hügel saßen wir, als wir müde waren. Auf diesen Rasen legten wir uns still hin. Hier, da die reinen Wellen des Flusses vorüberglitten, scherzten wir; Hier, an dieser Stelle, riefen wir aus einer langen Verbannung die Musen zurück. Hier war es angenehm, die griechischen und lateinischen Dichter Zu vergleichen und uns zu erinnern an die heiligen Werke der Alten, Und unsere Mühsal zu vergessen. Hier, an dieser Stelle, dehnten wir unser Mahl aus In der Nacht, gelabt von unserem Gespräche. Während ich mich an dies im Einzelnen erinnere, geht jener so kurze Tag Unmerklich zu Ende und kann ich mich nicht einmal am Abend von Vaucluse trennen […].
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Ad Guillelmum Veronensem Turbida nos urbis species et dulcis ameni Ruris amor tulerat vitreos invisere fontes Mirandumque caput Sorge, quod vatibus ingens Calcar et ingenio generosas admovet alas. Hic, ubi te mecum convulsa revolvere saxa Non puduit campumque latis laxare malignum, Vernantem variis videas nunc floribus ortum Natura cedente operi; pars amne profundo Cingitur, ad partem preruptis rupibus ambit Mons gelidus calidumque iugis obversus ad austrum. Hinc medio ruit umbra die. Pars nuda tepenti Porta foret zephyro. Sed et hinc procul arcet agrestis Murus ab accessu prohibens pecudesque virosque. Aerias sed enim ramis viridantibus alte, Litoreas volucres scopulis intexere nidos […] Hic unus cum pace dies exactus aventi Vix totus, tot me laqueis, tot Curia curis Implicat. Id meritum, qui vincula nota libenter Infelix tritaque iugum cervice recepi. Nunc tamen illius iuvat hic meminisse diei: Dum latices, dum prata vagus dumque insita miror Arbuta, dum lauros alia regione petitas, Obvia Guilelmi facies truncisque vadisque Inque oculis tu solus eras: hoc aggere fessi
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Sedimus; has tacito accubitu compressimus herbas; Lusimus hic puris subter labentibus undis; Hic longo exilio sparsas revocare Camenas, Hic Graios Latiosque simul conferre poetas Dulce fuit veterumque sacros memorare labores Nostrorum immemores; hic cenam in tempore noctis Traximus, alterno pariter sermone refecti. Singula dum repeto, lux illa brevissima furtim Labitur et Clausa vix serum valle revellor […].14
Dieser Text scheint den modernen Leser direkt anzusprechen. Der Autor besitzt offensichtlich etwas, das man als ‚Naturgefühl‘ bezeichnen könnte – er liebt die Natur, besetzt sie mit positiven Werturteilen und schreibt ihr weiter eine ästhetische Qualität zu. Wie für die Modernen, die in ihrer Freizeit massenhaft Naturgebiete aufsuchen, ist die Natur für ihn angenehm, wertvoll und ‚schön‘. Auch dass er sich als Gärtner betätigt, bildet ein Moment des Erkennens ebenso wie die Tatsache, dass er dem Garten ästhetische und emotionale Werte zuschreibt. Weiter mag den modernen Leser das zeitdeckende autobiographische Erzählen ansprechen. Petrarca beschreibt einen Tag seines Lebens: einen Tag, den er alleine in Vaucluse verbringt; einen Tag, an dem er sich an ein Zusammensein mit dem Freund am nämlichen Ort erinnert. Der Eindruck des zeitdeckenden Erzählens wird dadurch verstärkt, dass im Text sogar das Ende des Tages (Einbruch der Dunkelheit) wiedergegeben wird. Das zeitdeckende autobiographische Erzählen bewirkt, dass der Leser sich dem Autobiographen ganz nahe wähnt: Während er die Verszeilen liest, erlebt er gewissermaßen den Tag mit. Diese Art der Selbstkonstituierung erscheint sowohl legitim als auch reizvoll. Sie ähnelt jener, die etwa Max Frisch in seinen Schilderungen privater Ereignisse in Montauk vorgenommen hat. Der Vorteil des zeitdeckenden autobiographischen Erzählens erscheint evident: Es bietet dem Leser die Möglichkeit dar, sich bei der Lektüre mit dem Autobiographen zu identifizieren. Dieser Effekt wird durch die Schilderung sinnlich wahrnehmbarer Details verstärkt. Wir sehen die Wiesen, die Bäume, den Garten, die 14
Epistole metrice III, 3, ed. Herold, (repr. 1966), Bd. III, 1360–1361; Poesie minori, ed. Rossetti, Bd. II, 190–192; Opere di Francesco Petrarca, a cura di E. Bigi, Milano 1963, 468–471. Herolds Ausgabe hat in Verszeile 2 „nitidos“ statt „vitreos“; in Verzeile 9 drucke ich nach Herold „ad“ („at“ Rossetti), in Verszeile 25 mit Herold „quin“ („qui“ Rossetti); in Vers 28 hat Herolds Ausgabe irrtümlich „vagos“ statt „vagus“. Vers 38 druckt Herold „relicti“, Rossetti „referti“, wo man wohl besser „refecti“ lesen sollte. In Vers 40 hat Herold „revolvor“, während „revellor“ zu lesen ist.
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Mauer, das Geröll, den Fluss, die vorübergleitenden Wellen vor uns. Diese Darstellungsmethode lädt den Leser ein, die zeitliche Distanz zu vergessen und sich selbst in das autobiographische Geschehen hineinzuversetzen. Der Inhalt des Textes wirkt dadurch authentisch und nachvollziehbar. Weiter erscheint dem modernen Leser legitim und sinnvoll, dass das autobiographische Schreiben die Gedanken- und Gefühlswelt des Autobiographen zum Ausdruck bringt: das Bewusstsein der Einsamkeit, die Liebe zu dem abwesenden Freund, die Erinnerung an eine gemeinsame, schöne Zeit, die Lust an der Schönheit der Natur sowie die Ablehnung der Stadt als Lebensraum. Petrarcas Brief an Guglielmo scheint einem Brief von Goethes Werther, der an einen Freund, der zufällig ebenfalls Wilhelm heißt, gerichtet ist und das Datum des 4. Mai 1771 trägt, überraschend nahezustehen: [Lieber Wilhelm,] Wie froh bin ich, dass ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu seyn! […] Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahreszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Straus voller Blüten, und man möchte zur Mayenkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumzuschweben, und alle seine Nahrung darinne finden zu können. Die Stadt ist selbst unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. […] Der Garten selbst ist einfach, und man fühlt gleich bei dem Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan bezeichnet, dass sein selbst hier genießen wollte. […]
Petrarca, der seinen Naturgarten in Vaucluse anlegte, scheint so ein „fühlendes Herz“ zu sein, eine schwärmerische, romantische Seele, die sich der Natur an den Busen wirft und sich an den schönen Blumen labt wie ein „Mayenkäfer“. Was jedoch befremden mag, ist die Form. Von einer Autobiographie erwartet der moderne Leser, dass sie ein Prosatext sei. Lesererwartungen und maßgebliche Autobiographiedefinitionen der Literaturwissenschaft (Lejeune und andere) stimmen hierin überein.15 Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Gattung des Briefes. Für den modernen Leser kommt 15
Lejeune, „Der autobiographische Pakt“, in: Niggl, Die Autobiographie, 215. Dafür, dass man im modernen Autobiographieverständnis davon ausgeht, dass es sich um Prosatexte handeln solle, vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, passim und der Verf. im vorliegenden Werk in: Kap. I, „Einleitung. Gegenstand und Methodik“.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
unerwartet, dass ein Brief in Versen verfasst ist, zumal an einen guten Freund. Ein Freundschaftsbrief soll (gleichviel ob es um Gebrauchsliteratur oder um Belletristik geht) persönliche und aufrichtige Mitteilungen enthalten und er soll in einem natürlichen und ungekünstelten Stil geschrieben sein. Die gekünstelte Form von Petrarcas metrischer Poesie wirkt dieser Diskursregel der Briefpoetik entgegen. Der erforderlichen Natürlichkeit wirken weiter bestimmte inhaltliche Elemente entgegen: Zum Beispiel, dass der Verfasser gleich in den ersten Zeilen ‚abhebt‘, die Niederungen des ‚gewöhnlichen‘ Lebens verlässt und sich auf den Flügeln des Geistes in die Höhen des Dichtertums emporschwingt. Nebenher fällt auf, dass der Informationswert des Schreibens für Guglielmo äußerst gering ist. Das gilt nicht zuletzt für die detaillierte Beschreibung des Gartens, die im Zentrum des Briefes steht: Guglielmo kannte den Garten und seine Lage aus eigener Anschauung. Daraus erhellt jedenfalls, dass Petrarcas Brief etwas anderes ist als die literarische Nachahmung eines Gebrauchstextes. Einen Schlüssel zum Verständnis dieser neuartigen Biographik bietet die Tatsache, dass der Adressat kein zufälliger Freund ist, sondern ein geistiger Mitstreiter, der Gelehrte, Humanist und Dichter Guglielmo da Pastrengo aus Verona. Die inhaltlichen und formalen Eigenschaften des autobiographischen Diskurses beziehen sich auf diesen Umstand: Humanistische Dichter reden einander in lateinischer Poesie an; sie verlassen die Niederungen der menschlichen Zivilisation und begeben sich an einsame, in der Natur gelegene Dichterorte, an denen sie Inspiration empfangen; an diesen Orten, die wie Bergspitzen aus den Ebenen des alltäglichen Lebens emporragen, verfassen sie metrische Briefe. Der Verortung des Ichs kommt in der Autobiographik der Epistole metrice eine zentrale Rolle zu: Es ist hauptsächlich die Beschreibung eines Ortes, die zur Selbstdefinition dient: des Tales Vaucluse in der Provence, besonders seines letzten Abschnittes vor der spektakulären Felsenwand, wo der unterirdische Strom der Sorgue aus dem Felsen schießt und wo Petrarca in unmittelbarer Nähe ein Haus mit Garten besaß. Die Bedeutung dieses Ortes beschränkt sich nicht auf die biographisch-historische Wirklichkeit in dem Sinn, dass Petrarca eben jene Abschnitte seines Lebens beschreibt, in welchen er sich in dem geliebten Landhaus aufgehalten hat. Dem Ort kommt sowohl die Funktion einer grundlegenden autobiographischen Verortung zu, welche die Autobiographik steuert und strukturiert, als auch eine symbolische Bedeutung, welche die autobiographische Tat autorisiert.
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Obwohl die Ortsbeschreibung namentlich konkretisiert wird (Quelle der Sorgue), ist sie mit topischen Elementen durchsetzt, die den autobiographischen Text in einem humanistischen Dichter-Diskurs situieren. Petrarcas intendierte Leser – Leute wie Guglielmo da Pastrengo – waren mit Leichtigkeit imstande, seine Codierung, die auf die lateinische Dichtung der Antike zurückgeht, zu erkennen: eine Quelle, Schatten, Blumen, Bäume, Vögel – der locus amoenus als klassischer Dichterort.16 Der locus amoenus ist ein an bestimmte Regeln gebundenes Symbol. Seine Aktivierung steuert geradezu zwangsläufig die Interpretation des Textes. Der Autobiograph verortet sich damit in literarischer Hinsicht: Er konstituiert er sich als lateinischer Dichter.17 Der Inhalt, der dem Leser vermittelt wird, ist, auf eine Kurzformel gebracht: „Seht her, ich bin ein lateinischer Dichter“. Dass das Dichtertum des Autobiographen durch Umstände des äußeren Lebens ins Gedränge geraten ist, tut dem keinen Abbruch; es motiviert im Gegenteil die spezifische Art der Selbstpräsentation, indem sie eine Selbstbestätigung liefert. Ähnlich sollte später Jacopo Sannazaro in seiner Dichterautobiographie Ad Cassandram Marchesiam (um 1530) vorgehen: Während er behauptet, aus bestimmten Gründen nicht mehr dichten zu können, bestätigt er sich als Dichter, indem er sich in der Dichterlandschaft verortet.18 Auch das Gärtnern, das in Petrarcas Brief an Guglielmo angesprochen wird, beschränkt sich nicht auf die konkrete Wirklichkeit, obwohl Guglielmos Besuch auf historischen Tatsachen beruht – er fand im Jahr 1338/39 statt, als Guglielmo als Gesandter der Della Scala, der Stadtherren von Verona, nach Avignon gereist war – und obwohl durchaus glaublich ist, dass die beiden Freunde in Petrarcas Garten Pflanzen setzten. Es geht jedoch weder um die Tätigkeit des Gärtnerns selbst (etwa als Hobby), noch um die Verschönerung des Landhauses als solche, noch um das Anlegen eines Nutzgartens. Die Pflanzen, die Guglielmo da Pas16
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Eine eindringliche, einflussreiche Beschreibung des locus amoenus als topisches Element hat Ernst Robert Curtius in seinem Klassiker Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern-München 1973 (8. Aufl.), 197–206, geliefert. Speziell zum locus amoenus in der antiken Literatur vgl. P. Hass, Der locus amoenus in der antiken Literatur: Zu Theorie und Geschichte eines literarischen Motivs, Bamberg 1998 sowie G. Schönbeck, Der locus amoenus von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962. Wie sich aus Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 197–206, ableiten läßt. Siehe unten Kap. XVIII „Autobiographie in die Allegorie oder die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie (1527–1530)“.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
trengo und Petrarca setzten, sind Lorbeerbäume – Symbole des Ruhmes, besonders des Dichterruhmes. Indem Petrarca in seinem Garten Lorbeerbäume pflanzt, konstituiert er sich als berühmter Dichter, als Diener der „Laurea“, zugleich der Name der Geliebten, die als Gegenstand seiner Dichtung seinen Ruhm mitbegründete. Indem Guglielmo beim Pflanzen der Lorbeerbäume hilft, bestätigt er gewissermaßen Petrarcas Dichterexistenz. Indem Petrarca Guglielmo in dieser symbolträchtigen Handlung darstellt, konstituiert er seinerseits den Freund als Dichterkollegen und Mithumanisten. 2.2 Autorisierung der Briefautobiographik durch literarische Verortung: Petrarca als neuer Horaz Aus der Verbindung von Briefüberschrift, Metrum und Inhalt ergeben sich weitere diskursive Verankerungen, die die Interpretation von Petrarcas Brief an Guglielmo da Pastrengo steuern. Die Kombination von Briefüberschrift mit dem Versmaß des Hexameters veranlasst den Leser, Petrarcas Gedicht im Diskurs der Epistulae des Horaz zu verstehen. In den mittelalterlichen Handschriften, aus denen Petrarca und seine Leser den Horaztext kannten, waren die einzelnen Gedichte durch Überschriften, die den Adressaten angeben (z. B. Ad Maecenatem),19 als Briefe gekennzeichnet.20 Diese Textorganisation ist auch in der Horaz-Handschrift Petrarcas, die sich heute in der Biblioteca Medicea Laurenziana befindet, vorhanden.21 In den Briefen des Horaz spielt das Thema Stadtund Landleben, welches der Dichter in ein Spannungsverhältnis setzt, eine zentrale Rolle.22 Petrarca geht davon aus, dass dem Leser sowohl die Briefe des Horaz als auch die thematische Anbindung geläufig ist. Petrarca verortet sich somit als neuer Horaz. Er fordert den Leser auf, seine autobiographischen Gedichte im Diskurs der Horazischen zu lesen. 19
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Zu den Adressen vgl. W. Allen et alii, „The adresses in Horace’s first book of the Epistles“, in: Studies in Philology 67 (1970), 253–266. Zum Briefcharakter der Epistulae vgl. H. J. Hirth, Horaz, der Dichter der Briefe. Rus und urbs – die Valenz der Briefform am Beispiel der ersten Epistel an Maecenas, Hildesheim–Zürich–New York 1985, 70–105; O. A. W. Dilke, „Horace on the Verse Letter“, in: C. D. N. Costa (Hrsg.), Horace, London-Boston 1973, 94–112; E. P. Morris, „The form of the epistle in Horace“, in: Yale Classical Studies 2 (1931), 79–114. Plut. 34, cod. 1. Vgl. die Facsimile-Ausgabe: L’Orazio Laurenziano gia di Francesco Petrarca, Rom 1933 (mit einer Einleitung von E. Rostagno). Dies hat Hirth in Horaz, der Dichter der Briefe überzeugend aufgezeigt.
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In dem oben zitierten Brief an Guglielmo wird vom Leser erwartet, dass er sich insbesondere Epistulae I, 16 in Erinnerung rufe, in der Horaz eine Beschreibung seines Landguts im Sabinerland (Sabinum) liefert: Damit Du nicht fragen musst, lieber Quinctius, ob mein Gut seinen Herren Ernährt mit seinem Ackerland oder ihn reichlich beschenkt mit Oliven […], So will ich wortreich (loquaciter) beschreiben Dir Aussehen und Lage des Landguts: Wenn Du Dir vorstellst, in einer ununterbrochenen Kette von Hügeln liege Ein schattiges Tal, doch so, dass die Vormittagssonne die rechte, Die Nachmittagssonne die linke Seite erwärmt, so wirst Du das Klima Loben des Landguts. Und was würdest Du sagen, wenn Du weißt, dass die Hecken Tragen in Fülle rote Kirschen und Pflaumen? Dass Eichen und Steineichen Mit reicher Frucht erfreuen das Vieh, mit kühlem Schatten den Gutsherrn? Wenn Du das sehen könntest, würdest Du sagen, Tarent sei mit seinem Grün näher herangerückt [an die Umgebung Roms, Anm.]. Es gibt sogar eine Quelle, reich genug, um Einem Fluss seinen Namen zu geben – der Hebrus fließt nicht kühler und reiner Durch Thrazien; sie strömt hier, gut für ein gereiztes Gemüt, Gut für einen gereizten Magen. Dieser Zufluchtsort, so lieblich, Ja, wenn Du mir glauben magst, so bezaubernd, dass er mich, Sogar an Septembertagen frisch hält.23
Die Epistulae des Horaz zeichnen sich durch ihre ingeniöse und komplexe Komposition, durch den Reichtum der in ihnen entfalteten Gedankenwelt und ihre reflektierende Darbietungsweise aus.24 Sie sind nicht als geradlinige Autobiographie des Horaz zu verstehen, jedoch bietet namentlich das erste Buch, das im Jahre 20 v. Chr. veröffentlicht wurde, nach der Auffassung mancher „sein bestes Selbstporträt“ und „das deutlichste Abbild seines Wesens und seiner Welt“.25 Während die Verfasserintention und die Interpretation in der modernen Forschung
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Horatius, Epistulae I, 16, 1–16; Übersetzung unter Verwendung von Quintus Horatius Flaccus, Epistulae. Briefe. Lateinisch/deutsch. Übersetzt und hrsg. von B. Kytzler, Stuttgart 1986. Zu Epistula I, 16 siehe L. Voit, „Das Sabinum im 16. Brief des Horaz“, in: Gymnasium 82 (1975), 412–426. Vgl. Hirth, Horaz, der Dichter der Briefe; M. J. McGann, Studies in Horace’s first book of the Epistles, Brüssel 1969. So z. B. Kytzler im Nachwort zu Horatius, Epistulae, 146; ähnlich urteilen J. H. Bury, „Horace’s personality and outlook on life as revealed in his Satires and Epistles“, in: Greece and Rome 3 (1934), 65–73 oder K. Abel, „Horaz auf der Suche nach dem wahren Selbst“, in: Antike und Abendland 15 (1969), 29–46.
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umstritten ist26 und es sicherlich verfehlt wäre, jede Verszeile als autobiographisches Statement aufzufassen, dürfte in Bezug auf Epistulae I, 16, 1–17 klar sein, dass der Dichter an dieser Stelle eine der nicht eben zahlreichen autobiographischen Redeanlässe, die dem dekorumorientierten Römer nach allgemein akzeptierter Meinung gestattet waren, thematisiert hat. Eine Beschreibung des Landguts entspricht sogar in der Prosaliteratur – man vergleiche den Prosabrief Plinius’ d.J. mit einer Beschreibung seines Laurentinum 27 – für den Fall der Veröffentlichung ohne Abstriche den Anforderungen des Dekorum. Es bedeutete eine günstige soziale Verortung, über sein Landgut zu reden, weil der Besitz eines solchen den gehobenen Status des Besitzers zum Ausdruck brachte. Horazens Gedicht spiegelt diesen Grundzug des römischen Villendiskurses, indem er den Besitzerstolz des Inhabers des Landgutes sowohl zum Ausdruck bringt als auch reflektierend thematisiert.28 Schon aufgrund seiner eingehenden Horazlektüre ist anzunehmen, dass Petrarca mit den Grundzügen des römischen Villendiskurses vertraut war, und dasselbe gilt wohl auch wenigstens für einen Teil seiner gelehrten Leser. Petrarca hätte also den Horaztext und das Thema in diesem Sinn zu einer sozialen Selbstkonstituierung als stolzer Landgutbesitzer verwenden können. Das wäre auch insofern nicht abwegig gewesen, als das Landgut in der Vaucluse in der Tat auf seine gehobene soziale Stellung hinwies: Es war das Geschenk seines ‚Mäzens‘, des Kardinals Giovanni Colonna. Die Parallele mit Horaz, der sein Landgut von dem Urbild der Mäzene, Cn. Cilnius Maecenas, erhalten hatte, lag diesbezüglich zum Greifen nahe, drängte sich geradezu auf. Umso auffälliger ist, dass Petrarca auf diese vor der Hand liegende Diskursübernahme verzichtete. Obwohl der Brief des Horaz sogar zum Teil dieselben Ingredienzien aufweist wie Petrarcas metrischer Brief an Guglielmo (lieblicher Ort mit Schatten, Bäumen, kühlem Fluss), hinterlässt er einen anderen Gesamteindruck. Bei Horaz steht die Beschreibung des Landguts selbst im Mittelpunkt, und zwar so, dass durch die Hervorkehrung seiner positiven Eigenschaften der Stolz des Besitzers hervortritt – in diesem Sinn vergleicht der Verfasser seine Villa im Sabinerland mit dem noblem Villenort Tarent und das Bächlein, dass durch sein Land fließt, mit dem berühmten Strom Hebrus. 26 27 28
Vgl. den Forschungsüberblick in Hirth, Horaz, der Dichter der Briefe, 43–63. Plinius d. J., Epistulae II, 17. Von der Mischung von naivem Besitzerstolz und ironischer Distanzierung als Präsentationsmodus wird noch unten die Rede sein.
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Bei Petrarca geht es jedoch weniger um die Beschreibung des Landgutes als um das Ich des Dichters, besonders um sein Innenleben: Er, Petrarca, verlässt die Stadt, weil er an ihr leidet, er hat die Eingebung, sich zur Quelle der Sorgue zu begeben, er wird von der Landschaft inspiriert, er erinnert sich an den Besuch des Freundes, er bereut, das Hofleben gewählt zu haben, er bringt es am Abend kaum über sich, Vaucluse zu verlassen. Horaz hingegen kehrt sein Innenleben nicht hervor. Er maskiert sein Ich, indem er gleich in der Eingangszeile von der Perzeption des Briefadressaten (und damit des Lesers) ausgeht. Es ist der Leser, der erwartet, dass Horaz sein Landgut beschreibt, der ihm sozusagen die autobiographische Rede abverlangt. Es ist bezeichnend, dass sich Horaz sogar von der autobiographischen Rede als solcher distanziert, indem er die Redesituation der Villenbeschreibung als Geschwätzigkeit ironisiert (Vers 4: „loquaciter“). Es geht Horaz nicht darum, seine individuellen Befindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Was er vorträgt, gilt gewissermaßen für jeden Römer, der ein Landgut sein eigen nennt. Jeder ist stolz, ein Landgut zu besitzen; jeder möchte, dass es reiche Ernte abwerfe und sich in einer günstigen klimatischen Lage befinde; für jeden gilt, dass es der Gesundheit zuträglich sein soll usw. In dieser Hinsicht ist das Autobiographische bei Horaz kein Selbstzweck, sondern Bestandteil von Reflexionen über allgemeine ethische Fragen, die den Römer der Oberschicht betreffen. Es stellt einen wesentlichen Unterschied zu Horaz dar, dass bei Petrarca die autobiographische Selbstkonstituierung das wesentliche Anliegen der Epistole metrice bildet. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Horaz ist, dass Petrarca sein Landgut durch die Hervorhebung topischer Elemente als Dichterort stilisiert. Die Beschreibung des Horaz weist mehr konkrete Elemente (Kirschen, Pflaumen, Eicheln) auf, und zwar Elemente, die nicht so angelegt sind, dass sie die Villa als Dichterort kennzeichnen würden. Kirschen und Pflaumen etwa vermitteln keine spezifische dichterische Inspiration. Der Bewohner von Horazens Villa könnte durchaus ein beliebiger Römer sein. Er mag Obst und er zieht sich aus der Hitze der Stadt aufs angenehm kühle Land zurück, aber er ist kein Dichter.29 Dieser Zug korrespondiert mit einem Hauptthema der horazischen Epistulae, der Be29
Es geht hier natürlich um die Verfasstheit der Beschreibung, nicht um die tatsächliche Beschaffenheit des Sabinum. Dieses lässt sich im Übrigen sehr wohl als Dichterort darstellen, wie Horaz andernorts, z. B. in seiner Lyrik, vorgeführt hat. Vgl. hierzu E. A. Schmidt, „Das horazische Sabinum als Dichterlandschaft“, in: Antike und Abendland 23 (1977), 97–112.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
hauptung, dass der Verfasser das Dichtertum im engeren Sinn, seine Existenz als Lyriker, nunmehr an den Nagel gehängt habe.30 Und wie steht es mit dem Besitzerstolz bei Petrarca? Für Petrarca spielt er keine Rolle: Petrarca stellt sich im Grunde gar nicht als Besitzer dar. Er betrachtet seine Bleibe in der Vaucluse nicht als ‚Landgut‘. Von Landbau im engeren Sinn, von Nutzgewächsen, Obst, Gemüse, Getreide usw., ist bei ihm keine Rede. Es geht ihm ausschließlich um die Ästhetik und die Inspiration des Dichterortes. Blumen und Lorbeerbäume, das ist das einzige, was in seinem Garten zu wachsen scheint. Das Vieh ist bei Horaz Teil des Landguts, Petrarca wehrt es bezeichnenderweise mittels einer Mauer von seinem Aufenthaltsort ab. Petrarca sagt nicht „Ich bin der stolze Besitzer dieser Villa, die den Mann ernährt“, sondern: „Ich bin ein Dichter“. Dem Stolz des Villenbesitzers steht der Stolz des Dichters gegenüber. Diese Unterschiede zeigen eine Diskursänderung an: vom Villendiskurs zum Dichterdiskurs. Auch in der Art der Präsentation ist ein Diskurswechsel erkennbar. Der Ton, der die Musik macht, ist ein anderer. Horaz relativiert den Villenstolz durch ironische Distanzierung, die er durch einige komisch wirkende Übertreibungen sowie durch die Art der Früchte, die auf seinem Landgut wachsen, herstellt. Horazens Landgut wirft nicht die hochwertigen Oliven und Weintrauben ab, sondern ordinäres Obst wie Kirschen und Pflaumen und nicht zuletzt Eicheln, also Viehfutter! Bei Petrarca ist für ironische Distanzierung oder Selbstspott kein Platz. Mit der Selbstkonstituierung als lateinischer Dichter, die mit dem Aufenthalt in der Vaucluse verbunden ist, ist es ihm völlig Ernst. Mit allzumenschlichen Eigenschaften wie lächerlichem Besitzstreben oder irdischem Villenstolz will er nichts zu tun haben. Es geht ihm im Gegenteil darum, sein essentielles Anders-Sein zu unterstreichen, sich von seinen Zeitgenossen abzuheben, indem er sich als antiker Dichter zeichnet, der an der Quelle der Sorgue in Denkerpose sitzt, in einem Dichtergarten, den er exzentrischerweise selbst angelegt hat, während seine Zeitgenossen normalerweise derartige Arbeiten Dienstleuten überliessen. Der Vergleich mit dem Horaztext, zu dem Petrarca den Leser einlädt, hat also eine doppelte Funktion: Einerseits soll der antike Text Petrarcas Selbstkonstituierung als auf dem Lande lebender und mit der Natur verbundener Dichter legitimieren und autorisieren; andererseits fungiert das Gedicht des Horaz als Kontrastfolie, welche dazu dient, Petrarcas besondere Art der Dichterexistenz hervorzuheben. 30
Bsd. Epistulae I, 1 und I, 19. Vgl. Hirth, Horaz, der Dichter der Briefe, 110–185.
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Die Epistole metrice sind ein autobiographisches Werk mit sinnübergreifendem Zusammenhang, in dem sich Petrarca vor dem Publikum der Gebildeten, die die lateinische Sprache beherrschten, als Dichter konstituierte. Die ironischen, im Modus des Selbstspotts präsentierten Selbstdarstellungen des Horaz übersetzte er in den Diskurs der Ideologie des inspirierten Dichters. Ein konstituierender Bestandteil dieses Dichterdiskurses ist die Einsamkeit. Der inspirierte Dichter kann nur in der Landeinsamkeit schöpferisch tätig sein: Der Dichter wird zum Eremiten.31 Petrarcas Umbeugung des Diskurses wird anhand der Tatsache besonders gut sichtbar, dass er Versatzstücke für dieses spezifische Bild gerade bei Horaz aufspürte, dem die hehre Einsamkeit nichts bedeutete. Das lässt sich augenfällig anhand der Rezeption von Horazens Brief an Florus (Ad Florum)32 zeigen, eines jener Horaz-Briefe, welche Petrarca vielfach zitierte, verwendete und nachahmte. Horaz scheint hier einen Lebensabriss zu liefern, mit einer Darstellung seiner intellektuellen Entwicklung, die auf die auffällige Mitteilung hinausläuft, dass er mit dem Dichten aufgehört habe: Und außerdem: meinst Du, ich könne in Rom noch Gedichte schreiben? Inmitten all der Probleme und Plagen? Der eine bittet mich als Bürgen Herbei, der andere fordert mich auf, zu seiner Dichterlesung zu kommen und alle anderen Verpflichtungen hintanzustellen. Der eine liegt krank danieder auf dem Hügel des Quirinalis, der andere am äußersten Rand des Aventin, und beide soll ich Besuchen. Du siehst, diese Entfernungen sind recht angenehm und recht menschlich! „Aber die Alleen sind frei, nichts hindert dich dort am Dichten!“ Da hastet sich schon ein aufgeregter Bauunternehmer mit seinen Maultieren und Trägern, Der Baukran hievt empor bald einen Steinblock, bald einen riesigen Balken; Da schleppt sich ein Trauerzug mit klobigen Rädern vorbei, Dort reißt ein tollwütiger Hund aus, da rennt ein schmutziges Schwein Vorbei: Komm nur, und ersinne jetzt wohlklingende Verse! Der gesamte Chor der Dichter liebt bekanntlich den Wald und flieht aus der Stadt, Und betet Bacchus an, wie es sich gehört, der sich freut an Schatten und Schlummer. Du aber willst, dass ich inmitten des Tag und Nacht niemals endenden Lärms Singe und auf den schmalen Pfaden wandle der Dichter?33 31
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Für die Bedeutung der Einsamkeit für Petrarca siehe K. A. E. Enenkel, Francesco Petrarca. De vita solitaria, Buch I. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar, Leiden-New York-Kopenhagen-Köln 1990. Horatius, Epistulae II, 2. Horatius, Epistulae II, 2, 65–80.
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Die Selbstdarstellung des Horaz ist in diesem Brief noch stärker, noch offener vom Diskurs der ironischer Distanzierung und des Selbstspotts gekennzeichnet: Horaz stellt sie durch die komische Übertreibung der Unannehmlichkeiten, die ihm in Rom widerfahren, her. Der Dichter, der die Stadt durchstreift, setzt sich an einem augenscheinlich ruhigen Ort hin, um endlich zu dichten – da kommt ein Bauunternehmer mit Maultieren und Trägern daher und (man stelle sich vor!) ein Leichenzug. Die Übertreibung ist so grotesk, dass hier das autobiographische Schreiben selbst persifliert zu werden scheint. Horaz meidet den Ernst wie der Teufel die Kirche. Er tändelt und spielt mit dem Leser. Er manipuliert ihn, indem er ihn lachen macht. Keinesfalls erfüllt die Beschreibung des Lebens in Rom einen autobiographischen Selbstzweck: Sie dient nur als rhetorisches Argument, mit dem sich Horaz rechtfertigt, dass er keine Gedichte mehr verfassen kann. Aber nicht einmal das kann völlig ernst gemeint sein. Durch das Medium, in welchem er sein ‚Anliegen‘ vorträgt, führt Horaz seine eigene Argumentation gewissermaßen ad absurdum: Im Lärm, behauptet Horaz, könne er keine Dichtung verfassen, während er dies in Versen ausdrückt. Anhand der Rezeption dieses Briefes lässt sich die Radikalität, mit der Petrarca den Diskurs transformierte, besonders augenfällig zeigen. In einer literarischen Nachahmung, in die er wohlgemerkt die einzelnen Versatzstücke der horazischen Selbstpersiflage sorgfältig aufnimmt, beseitigte Petrarca mit derselben Sorgfalt gerade Ironie, Selbstspott und Persiflage.34 Petrarcas Darstellung gipfelt in dem an sich selbst und seine Dichterkollegen gerichteten moralischen Imperativ, dass der Dichter die Stadt zu verlassen habe: „Silva placet Musis, urbs est inimica poetis“ („Den Musen gefällt der Wald, die Dichter hassen die Stadt“).35 Es ist bezeichnend, dass Petrarca diese Verszeile zu einem Motto seiner Existenz erhoben hat. Davon wird noch unten im Zusammenhang mit seiner Geheimautobiographie (Secretum) die Rede sein.36 In seiner Selbstkonstituierung als neuer Horaz präsentiert sich Petrarca stets auch als Anti-Horaz, der den Diskurs der metrischen Briefe zuweilen so stark abänderte, dass er ihn in sein Gegenteil verkehrte. Mit der metrischen Selbstbiographie stieß Petrarca auf inspirierende Weise in den autobiographischen Raum vor, bohrte eine schier unerschöpfliche Quelle der Selbstdarstellung an. Die Form der horazischen 34 35 36
Epistole metrice II, 3 (ed. Herold), 1344–1345. Ebd., 1344. Siehe Kap. V „Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie Von meinen innerlichen Konflikten (De secreto conflictu curarum mearum)“.
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Epistula ermöglichte ihm, die verschiedensten autobiographischen Inhalte zu behandeln: Reisen37, Freundschaft, Hofszenen, Begegnungen, Krankheit, Krieg, Überschwemmung (des Gartens) sowie Alltägliches wie Ärger mit den Dienern, Gespräche, Einladungen zum Essen usw. Dabei geht es Petrarca prinzipiell nicht um ein memoirenhaftes Festhalten des Geschehens, sondern um Selbstkonstituierung durch die Darstellung seines Geistes- und Seelenzustandes. Es ist ihm – anders als Horaz – stets darum zu tun, dem Leser den „Zustand seines Geistes“ (status animi) zu eröffnen. So berichtet er in einem metrischen Brief dem bereits genannten Guglielmo da Pastrengo von einer schweren Erkrankung, die ihn in Parma befiel:
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An den Redner Guglielmo da Pastrengo aus Verona. Ich werde von heftigen Fiebern belagert, und fürchte, dass ich dem Tod nahe bin. Währenddessen belästigt mich der unwillkommene Wächter, der auf dem hohen Turm Ausschau hält, mitten in der Nacht mit seinem rauen Geschrei. Das grässliche Kriegshorn ertönt; der Schrecken des Krieges umfliegt die Gemäuer. Die reichen Ackerländer werden von den Barbaren geplündert, Mit unschuldigem Blut die lieblichen Fluren getränkt. Das ohnmächtige Volk stöhnt auf, die Väter stehen schweigend an der Schwelle Und die Wehklagen der Weiber erklingen in den traurigen Weilern. Während mich all dies bedrückte, habe ich mich in die hohe Feste Der Ratio zurückgezogen und, ich gestehe es gerne, verlasse diese Zeit. Dies ist soweit der Zustand meines Geistes […]. Guglielmo Veronensi Oratori. Febribus obsideor validis mortemque propinquam Suspicor. Haec inter turri vigil improbus alta Excubat et rauco pernox obmurmurat ore. Classica dira fremunt, belli circumvolat horror. Ditia barbaricis vastantur rura rapinis Innocuusque cruor per dulcia funditur arva. Vulgus inane gemit, taciti stant limine patres Femineeque sonant per compita mesta querele. Singula dum premerent, celsam rationis in arcem Evasi, fateorque libens, hec tempora linquor. Hactenus hic animi status est […].38
Vgl. Horatius, Epistulae I, 11. Epistole metrice III, 11 (ed. Herold), 1364. Herolds Text weist in Verszeile 6 irrtümlich „aura“ auf (man lese „arva“). Die Orthographie wurde der in Petrarcas Zeit gängigen angepasst, die Interpunktion modernisiert.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
Dieser Brief scheint dem rezenten hermeneutischen Autobiographieverständnis besonders gut zu entsprechen, da er offensichtlich ein Erlebnis des Dichters authentisch wiedergibt. Wir sehen den Dichter vor uns: Er liegt fiebernd im Bett. Mitten in der Nacht schrickt er vom Schlaf auf. Vom Turm aus schlägt der Wächter Alarm. Der Feind plündert das Gebiet vor der Stadt. Die Ackerfluren strömen von Blut über. Die Väter stehen fassungslos an der Türschwelle. Die Weiber heben ein verzweifeltes Klagegeschrei an. – Petrarca hat die Ereignisse äußerst eindringlich und bildkräftig formuliert. Die Bilder stehen dem Leser vor Augen, er kann sich ihnen kaum entziehen. Es sind nicht zuletzt die Bilder, welche die Authentizität des Erlebnisses zwingend zu bezeugen scheinen. Der Brief macht zudem den Eindruck größtmöglicher Unmittelbarkeit, da Erzählzeit und erzählte Zeit zusammenfallen. Abermals hat Petrarca für seine Autobiographik das zeitdeckende Erzählen verwendet. Das zeitdeckende Erzählen und die Bildersprache verstärken einander. Rechtfertigt der Brief in der Tat eine hermeneutische Textlektüre? War es Petrarcas Anliegen, in dem kurzen Briefchen an seinen Freund (nur 12 Zeilen) ein Erlebnis, als Momentaufnahme seines Lebens, auf authentische Weise sozusagen fotografisch ‚festzuhalten‘? Zunächst wird man an der Authentizität der äußeren Ereignisse, die von den Bildern so eindrucksvoll transportiert werden, leise Zweifel anmelden dürfen. Gesetzt, Petrarca wäre in der Tat mitten in der Nacht aufgewacht und hätte sich zum Fenster hinausgelehnt: Wie hätte er in der Dunkelheit feststellen können, dass draußen vor der Stadt die Väter schweigend an den Türschwellen stehen und dass die Fluren von Blut überströmt wurden? Es ist nicht wahrscheinlich, dass Petrarca dies tatsächlich beobachtete. Das Bild besitzt einen allgemeinen, für literarische Kriegsdarstellungen topischen Charakter. Daraus ergibt sich ein Indiz, dass es Petrarca – jedenfalls in dieser Beziehung – wohl nicht um ein authentisches Festhalten empirischer Beobachtungen ging. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man berücksichtigt, dass die Schilderung der militärischen Lage reichlich unspezifisch ist. Eigentlich können wir uns von den Ereignissen kein richtiges Bild machen. Wollte Petrarca, wenn die tatsächlichen Ereignisse zweitrangig sind, vor allem den seelischen Eindruck, den das Erlebnis hervorrief, authentisch festhalten? Wollte er dem Freund (und dem Leser) getreulich von der Erfahrung der panischen, beklemmenden Angst berichten, welche ihn damals in Parma befiel? Von dem Gefühl der Todesnähe, welches ihm die Krankheit einflößte?
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Es ging, wie ich glaube, Petrarca nicht um die authentische Festlegung des Erlebnisses selbst, sondern abermals um eine Selbstkonstituierung und Selbstkonstruktion durch eine bestimmte Diskurseinschreibung. Denn der Brief weist eine Codierung auf, welche die autobiographische Darstellung einem spezifischen Diskurs zuordnet. Den Schlüssel liefert die Bemerkung, dass sich Petrarca „auf die hohe Feste der Ratio zurückgezogen“ habe. Die Formulierung „Feste der Ratio“ („arx rationis“) bindet Petrarcas Epistola metrica an die philosophische Diskussion an, die im ersten Buch von Ciceros Tusculanae disputationes stattfindet, aus dem sie eine wörtliche Übernahme darstellt (I, 10). Dort wird über die philosophische Bekämpfung der Angst vor dem Tod disputiert. Durch die Anbindung an die Tuskulanen-Stelle verortet Petrarca seinen metrischen Brief im Diskurs der stoischen Ethik, genauer: der stoischen Affektbekämpfung. Die stoische Philosophie beauftragt den Menschen, seine Emotionen durch den effektiven Einsatz der Ratio systematisch zu bekämpfen.39 Der Mensch soll, wenn er von (heftigen) Emotionen heimgesucht wird, sich durch philosophische Meditation die passenden rationalen Argumente in Erinnerung rufen, um sich klarzumachen, dass die aufkeimenden Emotionen sowohl auf falschen Vorstellungen beruhen als unsinnig und kontraproduktiv sind. Damit soll bewirkt werden, dass die Ruhe des Geistes (tranquillitas animi) wieder einkehrt, das Ideal der stoischen Lebensführung. Was geht in dem Brief also vor? Petrarca konstituiert sich als stoischen Philosophen. Er zeigt sich selbst in einer in doppeltem Sinn physisch bedrohlichen Situation (Krankheit, Krieg), die zusätzlich die Gefahr heraufbeschwört, geistig-seelisch in den Status des Affekts abzurutschen. Petrarca führt vor, wie ein in der stoischen Philosophie Geübter in einer solchen Situation zu handeln habe: „Ich habe mich auf die Feste der Ratio zurückgezogen“ heißt: „Ich habe die rationalen Hilfsgedanken aktiviert, um den Affekt zu bekämpfen“. Der rationale Hilfsgedanke, den er hier anwendet, ist sowohl effizient als auch von seiner eleganten Prozedur her reizvoll: Petrarca spielt die beiden Quellen der Angst (Krankheit, Krieg) gegeneinander aus, neutralisiert die eine mit der anderen. Weil Krieg ausgebrochen ist, ist die durch die Krankheit vermittelte Todesangst überflüssig (es lohnt sich ja nicht mehr zu le39
Vgl. hierzu R. Sorabij, Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford U. P. 2000, 1–300 und S. M. Braund, C. Gill (Hrsg.), The Passions in Roman Thought and Literature, Cambridge 1997, mit weiterführender Literatur.
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ben).40 Die Eleganz dieses Ratio-Einsatzes zeichnet den geübten Philosophen aus. Daraus darf man ableiten, dass die Schilderung empirischer Beobachtungen oder authentischer Erlebnisse in der zitierten Epistola metrica keinen Selbstzweck darstellt. Was hier vorliegt, ist eine subtile Selbstkonstruktion, die Petrarca bei der Ausübung einer stoischen Meditation zeigt. Zur philosophischen Meditationstechnik gehört das Aufrufen von Bildern und das genaue Registrieren von Gefühlszuständen und deren Ursachen. Diese bilden mithin nicht den eigentlichen Gegenstand der autobiographischen Beschreibung, sondern sind der Meditation untergeordnet, die Petrarca zur Selbstkonstituierung heranzieht. Die Tatsache, dass sich Petrarca bei einer stoischen Meditation beschreibt, lässt die bildkräftige Schilderung der äußeren Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen – sie sind Bestandteil der Meditationstechnik! Wenn ein stoischer Philosoph von einer Krankheit befallen wird, stellt er sich vor, dass es Schlimmeres gibt: z. B. Krieg. Dabei wird er in seinem Geist Bilder aufrufen, die die Schrecken des Krieges zeigen. Das bedeutet: Man kann nicht ausschließen, dass sich die geschilderten Ereignisse, abgesehen vielleicht vom Alarmruf des Wächters, lediglich in der Vorstellung Petrarcas abspielen. Die hier beobachtete Diskursivität gilt für eine Reihe von metrischen Briefen. Welchen autobiographischen Sinn haben diese Darstellungen stoischer Meditationen? Petrarca konstruierte sich selbst in den Epistole metrice, indem er das Ideal des lateinischen Dichters mit dem des stoischen Philosophen verquickte. Für letztes waren sowohl Ciceros Tusculanae disputationes als auch Senecas Prosabriefe (Epistulae ad Lucilium), die er über weite Strecken auswendig kannte, ausschlaggebend. Aus ihnen bezog Petrarca den Inhalt und die Methode seiner stoischen Meditationen. Die Epistulae ad Lucilium stellen einen philosophischen Lehrgang dar, in dem Seneca seinen geistigen Schüler Lucilius und seine Leser zur stoischen Philosophie hinzuführen versucht und bei dem es um das Einüben der richtigen Gedanken zur Lebensbemeisterung geht.41 Petrarca hat diesbezüglich den Diskurs verlagert: Bei der Über-
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Vice versa kann man die Schrecken des Krieges angesichts der Krankheit und des herannahenden Todes verachten. Vgl. I. Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969; M. Hengelbrock, Das Problem des ethischen Fortschritts in Senecas Briefen, Hildesheim 2000; M. Wacht, „Angst und Angstbewältigung in Senecas Briefen“, in: Gymnasium 105 (1998), 507–536.
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bringung der stoischen Meditation in die metrischen Briefe verlagert er die Didaxe in den Hintergrund und hebt die Selbstkonstituierung hervor. Wie schon für den Baustein des Dichterideals gilt auch für die Selbstdarstellung als Philosoph, dass dafür weniger die Erinnerung an die tatsächlichen Ereignisse des eigenen Lebens, sondern vor allem die Erinnerung an die antike Literatur ausschlaggebend ist. Die Erinnerung an zeitgeschichtliche Ereignisse spielt in Petrarcas metrischen Briefen hingegen kaum eine Rolle. Man könnte sogar sagen, dass er sie bewusst in den Hintergrund drängte. Denn die Vernachlässigung derselben kann keinesfalls von einem Material- oder Erfahrungsmangel bedingt sein. Petrarca hatte Funktionen inne, die ihm politische Einsichten und Erfahrungen vermittelten, war Diplomat, Gesandter und Ratgeber von Fürsten. Bezeichnend ist, dass er nicht einmal, wenn er in einem metrischen Brief eine diplomatische Mission behandelt, relevante historische Informationen vermittelt. Z. B. wurde Petrarca 1354 von Kardinal Giovanni Visconti von Mailand nach Avignon entsandt, um in der Sache eines Friedens zwischen Venedig und Genua zu verhandeln. Darüber berichtet uns Petrarca in seinem metrischen Brief nichts, ja er nennt nicht einmal global den Zweck seiner Mission. Stattdessen fokussiert er auf seinen Status animi, indem er wiedergibt, welche Gedanken und Meditationen der Auftrag bei ihm aufrief.42 Wie verhält sich Petrarcas Selbstkonstituierung als stoischer Philosoph zu der Diskursivität der Horazischen Briefe? Führt sie von diesem Diskurs so weit weg, dass man auch diesbezüglich feststellen müsste, dass sich Petrarca als Anti-Horaz darstellt? Zunächst war es der Befund der Horazischen Epistulae selbst, der Petrarca zu seiner Selbstkonstituierung als Philosoph in den Epistole metrice inspirierte. Denn Horaz selbst hat die philosophische Gedankenführung zum Bestandteil des Diskurses der metrischen Briefe erhoben,43 und zwar umso nachdrücklicher, als er die Beschäftigung mit der Philosophie explizit als Programm seiner Epistulae festschrieb und diese zudem als persönliche Entwicklung vom lyrischen Dichter zum Philoso42 43
Epistole metrice III, 19 (ed. Herold), 1365. Vgl. hierzu R. Mayer, „Horace’s Epistles I and Philosophy“, in: American Journal of Philology 107 (1986), 55–73; P. Grimal, „La philosophie d’Horace au premier livre des Epîtres“, in: Via Latina 72 (1978), 2–10; C. W. Macleod, „The Poetry of Ethics: Horace, Epistle I, 19“, in: Journal of Roman Studies 69 (1979), 16–27; O. Gigon, „Horaz und die Philosophie“, in: Die antike Philosophie als Maßstab der Realität, Zürich-München 1977, 437–487; A. Rabe, „Das Verhältnis des Horaz zur Philosophie“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 39 (1930), 77–91.
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phen autobiographisch darstellte. Im Einleitungsbrief zu der Sammlung konnte Petrarca lesen (Epistulae I, 10–11): „Also lege ich jetzt meine Verse und den übrigen Tand beiseite: / Ich beschäftige mich und verhandle jetzt ausschließlich, was wahr ist und was sich ziemt“ („Nunc itaque et versus et cetera ludicra pono: / Quid verum atque decens curo et rogo et omnis in hoc sum“). Weiter findet sich in den Horazischen Briefen reichlich stoisches Gedankengut. Zum Beispiel endet der oben zitierte Brief, in dem Horaz sein Landgut beschreibt (I, 16), mit einer stoischen Meditation, in der sich der stoische Weise („vir bonus et sapiens“) von den irdischen Gütern lossagt (I, 16, 73–79). Wenn man dem stoischen Weisen androht, ihm seinen Besitz abzunehmen, soll er sagen: „das Vieh, das Vermögen, die Einrichtung, das Silberzeug? – Das magst du alles gerne nehmen!“ („Nempe pecus, rem/Lectos, argentum? – tollas licet!“, 75–76). Wenn man ihm androht „In Handschellen und Fußfesseln werd ich dich gefangen halten unter einem grausamen Gefängniswärter!“, antwortet er: „Gott selbst wird mich frei machen, sobald ich es nur will“ („Ipse deus, simulatque volam, me solvet“, 76–78), d. h. er ruft den stoischen Selbstmord als ultimatives Verteidigungsschild der stoischen Autarkie ab.44 Während der Diskurs der metrischen Briefe des Horaz philosophisches Denken, stoisches Gedankengut und die Technik der Meditation vorgab, nahm Petrarca eine wesentliche Richtungsänderung des Diskurses vor. Bei Horaz steht die Didaxe im Vordergrund: Er präsentiert seine philosophischen Reflexionen nicht als Autobiographik, sondern richtet sich damit vornehmlich an die Leser, die er moralisch zu belehren und zu bessern versucht. Zum Beispiel verbindet Horaz in Epistula I, 16 die Beschreibung des Landgutes mit philosophischen Belehrungen an den Adressaten Quinctius und den Leser im erweiterten Sinn: „Du aber lebst richtig, wenn du dich bemühst, das zu sein, was man von dir hört“ (Z. 17); „Wen anders freut erfundene Ehrung, schreckt erfundene Schande, als den Mann, der voll von Fehlern ist und Heilung braucht?“ (Z. 39–40); „Verloren hat seine Waffen, verlassen den Standplatz der Tugend, wer immerzu beschäftigt ist mit Gelderwerb und ganz in ihm versinkt“ (Z. 67–68). Dabei erweist sich Horaz als kluger und einfühlsamer Didaktiker, indem er nicht ex cathedra belehrt, sondern seine Lehrinhalte auf leichtfüßige, zurückhaltende und humoristische Weise präsentiert. Er gebärdet sich nicht als stoischer Weiser, sondern drängt seine Person 44
Natürlich konnte Petrarca als überzeugter Christ diesen stoischen Meditationsschritt nicht mitmachen.
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in den Hintergrund oder ironisiert sie durch Selbstspott bzw. subversive Bekenntnisse. Petrarca ändert den Diskurs radikal, indem er auf die Didaxe nahezu gänzlich verzichtet. Er bezieht die philosophischen Gedanken ausschließlich auf sich selbst nach dem Muster, das in dem metrischen Brief ‚aus Parma‘ ersichtlich wurde. Petrarca geht es bei der Präsentation der philosophischen Gedanken – im Gegensatz zu Horaz – zuvorderst um die Autobiographik, die Darstellung seines Geistes. Insofern erweist er sich auch in Bezug auf die Philosophica als Anti-Horaz. Ein wichtiger Vorteil der Briefform war, dass Petrarca den „Zustand seines Geistes“ in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeiten zeigen konnte. In einer Autobiographie aus einem Guss wäre es kaum möglich gewesen, stets den Zustand des Geistes zu beschreiben, ohne den Leser zu langweilen. Das Kaleidoskopartige, Knetbare und Unabgeschlossene der Form sprach den skeptischen Perfektionisten und ruhelosen Textverbesserer Petrarca in besonderem Maße an. Man konnte beliebig neue metrische Briefe hinzufügen, alte streichen, kürzen, abändern, erweitern. Auf diese Weise erstellte Petrarca gewissermaßen eine flexible Autobiographie. Die Epistole metrice stellen nicht die Autobiographie einer kurzen, abgeschlossenen Periode seines Lebens dar, sondern begleiteten ihn über lange Jahre. Damit erschließt er den metrischen Brief auch der Darstellung der persönlichen Entwicklung. Horaz nahm die Behauptung einer bestimmten persönlichen Entwicklung lediglich zum Ausgangspunkt der Briefsammlung (der frühere Dichter ist nunmehr Philosoph), Petrarca macht sie zum eigentlichen Gegenstand der Briefsammlung. Im Widmungsbrief an Barbato da Sulmona skizziert er die langwierige Persönlichkeitsentwicklung, die in den Epistole metrice dargestellt wird, gleichsam aus der Vogelflugperspektive.45 Aus der Tatsache, dass sich Petrarca mehr als zwanzig Jahre seines Lebens in metrischen Momentaufnahmen konstituierte, leitet sich ein interessanter Nebeneffekt ab: Die wirkungsvolle diskursive Formidee der Selbstkonstituierung erwies sich als wesentlicher Bestandteil seiner Identität. Wenn sich ihm die Frage stellte: „Wer bin ich?“ „Wer ist Petrarca?“ war er imstande, jederzeit die gleichlautende Antwort zu geben – ein Dichter nach dem Vorbild der Alten, ein Dichter, der entweder in der Wirklichkeit oder im Geiste den klassischen Dichterort bewohnt und
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Epistole metrice I, 1 (ed. Herold), 1330.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
der sich von dort aus mit lateinischen metrischen Briefen an seine Zeitgenossen richtet, indem er sie jeweils vom Zustand seines Geistes unterrichtet. Das autobiographische Schreiben war ihm zum Modus vivendi geworden. Trotz der Knetbarkeit der Form und dem Vorkommen von Elementen des ‚alltäglichen‘ Lebens ist in Petrarcas metrischen Briefen nichts zufällig oder beliebig. Alles ist bis ins Letzte konstruiert und das Ergebnis stets erneuerter Meditation und Erinnerung. Dabei geht es nicht so sehr um die möglichst faktengetreue und genaue Erinnerung an die persönlichen Lebensereignisse, als um eine kreative und möglichst einprägsame Überführung derselben in die Diskurse der antiken Literatur bzw. um eigenständige und manchmal subversive Weiterführung dieser Diskurse, an denen er sein Leben oder vielmehr seinen autobiographischen Modus vivendi rieb. Es ist daher klar, dass die Präsenz der Diskursstifter par excellence, der antiken Autoren – Senecas, Horazens, Ciceros usw. – für seine Selbstkonstituierung grundlegend ist. Nur mit ihrer Hilfe vermag Petrarca seine Identität zu bestimmen. Im intellektuellen Spiel holt er sie möglichst nahe an sich heran, indem er sie mit den Handschriften, die er bei sich hat und immer wieder meditierend studiert, identifiziert. In diesem Sinn wohnen die antiken Autoren bei ihm, in seinem Studiolo bzw. in seinem Landhaus an der Quelle der Sorgue, wie er in einem metrischen Brief an Jacopo Colonna hervorhebt. In der Einsamkeit der Vaucluse sind diese Geistesgrößen seine Gefährten, […] comites […] latentes, Quos mihi de cunctis simul omnia secula terris Transmittunt lingua, ingenio, belloque togaque Illustres; nec difficiles, quibus angulus unus Edibus in modicis satis est, qui nulla recusant Imperia assidueque adsint et tedia nunquam Ulla ferant, abeant iussi redeantque vocati. Nunc hos nunc illos percunctor, multa vicissim Respondent et multa canunt et multa loquuntur […].46 […] meine verborgenen Gefährten, Die mir alle Jahrhunderte von allen Teilen der Erde her zu mir senden, Männer, die berühmt sind durch ihre schriftstellerische Begabung, durch ihr Talent als Feldherr oder Politiker. Sie sind keine lästigen Hausgenossen: Sie sind zufrieden mit einer Ecke In meinem keineswegs großen Haus. Sie weisen keinen Auftrag ab; sie sind Immerzu für mich da; wenn ich es ihnen befehle, ziehen sie sich zurück und 46
Epistole metrice I, 7 (ed. Herold), 1338.
Petrarcas Lebenslauf
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Wenn ich sie rufe, stehen sie schon wieder vor mir. Mal befrage ich diese, mal jene: Sie geben ihrerseits mir reichlich Antwort, Singen mir viele Lieder vor und reden viel mit mir […].
Die antiken Autoren leben in Petrarcas Haus, sie gehören zu seinem Privatbereich, sie sind ein Teil seiner selbst. Er kommuniziert unablässig mit ihnen47 und lässt sie an seinem Leben teilhaben so wie auch er an ihrem Leben teilhat oder vielmehr erst durch ihre Präsenz ‚lebt‘ bzw. seine heikle Identität – die Identität des Mannes, der sich „überall ein Fremder“ wähnte48 – erst mit ihrer Hilfe zu konstituieren vermag.
3. Petrarcas Lebenslauf: Antikenfindung – (Er)Findung eines Vaterlandes In welchen Bahnen verlief das Leben des Mannes, der die antiken Autoren in seinen Haushalt aufnahm und bei dem autobiographisches Schreiben und die Erinnerung an die Antike wesentlich miteinander verbunden sind?49 Wie sich aus dem zu Eingang zitierten Prosatext ablesen lässt, spielte für Francesco Petrarca das Gefühl des Verbannt-Seins, der Unbeständigkeit, des Flüchtigen, die Vorstellung, überall ein Fremder zu sein, eine große Rolle. Die Verbannung des Vaters ist eine reale Gegebenheit, die den Verlauf von Francescos Kindheit und Jugend bestimmte. Er wurde im Jahre 1304 im Exil, in der toskanischen Stadt Arezzo, geboren, als Sohn des verbannten Florentiner Bürgers und Anwalts Ser Petraccho. Nachdem sich seine jahrelang gehegte Hoffnung auf Rehabilitierung nicht erfüllte,
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Vgl. Enenkel, Francesco Petrarca, De vita solitaria, 506–516 (Kommentar zu De vita solitaria I, 6, 6 „Das ‚hohe Geistergespräch‘“). Vgl. E. H. Wilkins, „Peregrinus ubique“, in: Ders., The Making of the Canzoniere and other Petrarchan Studies, Rom 1951. Für diesen Zweck kann selbstverständlich nur ein kurzer Aufriss von Petrarcas Biographie geboten werden. Zu weiterführender Lektüre sei auf U. Dotti, Vita del Petrarca, Bari 1992 (2. Aufl.; gegenwärtig die materialreichste und faktensicherste Biographie) hingewiesen. In Teilen veraltet, aber eindrucksvoll und materialreich ist G. Körting, Petrarcas Leben und Werke, Leipzig 1878. E. H. Wilkins, Life of Petrarch, Chicago 1961 ist zwar ein Klassiker, aber aufgrund der unrichtigen Datierung und der naiven Interpretation von Petrarcas Privatkorrespondenz weitgehend unbrauchbar. Kürzere Einführungen zu Petrarcas Leben bieten H. W. Eppelsheimer, Petrarca, Bonn 1926; K. Foster, Petrarch. Poet and Humanist, Edinburgh 1984; N. Mann, Petrarch, Oxford-New York 1984; G. Hoffmeister, Petrarca (Sammlung Metzler 301), Stuttgart 1997; F. Neumann, Francesco Petrarca, Hamburg 1998. Nützliche Ergänzungen bietet A. Foresti (Hrsg.), Aneddoti della vita di Francesco Petrarca, Brescia 1928 (Neudruck hrsg. von A. T. Benvenuti, Padua 1977).
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entschloss sich Ser Petraccho 1310, eine neue Existenz aufzubauen, zuerst in Pisa und, als das Unternehmen nicht den erwünschten Erfolg brachte, in Avignon, dem neuen Standort der päpstlichen Kurie, wo ein Anwalt und Notar ein Auskommen finden konnte. Die Art, in der sich Petrarcas Existenz mit der seines Vaters verband, hatte auf die (Er)Findung des Humanismus einen größeren Einfluss, als man vielleicht vermuten würde. Zunächst übte die Schicksalsgemeinschaft der Exilierten in Verbindung mit der Übersiedlung in die Provence eine prägende Wirkung auf Petrarcas Geist aus. Der bedrohliche Identitäts- und Kulturverlust stand ihm von Kindheit an vor Augen: Mit acht Jahren fand sich der kleine Francesco nicht nur fernab seiner Vaterstadt, sondern zudem in einem völlig andersartigem kulturellen Kontext, in dem statt des vertrauten Italienischen französisch gesprochen wurde, und in dem alles, was Rang und Namen hatte, französisch dachte. Es ist verständlich, dass ein Kind, das unter solchen Umständen aufwächst, ein besonderes Bedürfnis hatte, seine Identität zu eruieren und zu bestätigen. Hinzu kamen die positiven Nebenwirkungen der erzwungenen Übersiedlung nach Frankreich: In höherem Maß als Florenz war Avignon zu dieser Zeit ein internationales Zentrum, in dem Intellektuelle aus ganz Europa zusammentrafen, was durch die mächtige Wirkung, welche der Papst und die übrigen Kirchenfürsten als Arbeitgeber und Netzwerk-„Provider“ entfalten konnten, verstärkt wurde. Für Petrarca ergaben sich in Avignon Chancen, die er in Florenz nicht gehabt hätte. Zweitens kümmerte sich der Vater, der als Advokat der Gruppe der Lateinkundigen zugehörte, um die Ausbildung des Sohnes. Zuvorderst schien es ihm wichtig, wahrscheinlich weil er schon damals den Wunsch hegte, dass sein Sohn ebenfalls die Laufbahn eines Juristen einschlagen sollte, dass dieser so schnell wie möglich die lateinische Sprache erlernte. Bewusst wählte er für Francescos ersten Lateinunterricht nicht, wie üblich, die Fabeln Äsops oder die Weltchronik Prosper von Aquitaniens aus, sondern Cicero, der ihm geeigneter schien, sowohl weil er besseres Latein schrieb, als auch, weil spielerisch Fachinhaltliches mitgelernt werden konnte. Cicero war selbst Anwalt gewesen, vielleicht der beste, den es in Rom je gegeben hatte, und hatte sich außerdem als Verfasser rhetorischer Lehrbücher einen Namen gemacht. Wie Cicero selbst war auch Ser Petraccho davon überzeugt, dass ein Anwalt gründliche Kenntnisse in der Rhetorik benötige. Francesco erlernte das Lateinische schnell und war überhaupt ein hervorragender Schüler. Folglich wurde er zum Jurastudium entsandt, zuerst nach Montpellier, dann an die berühmte Universität von Bologna. Er entdeckte jedoch allmählich, dass ihn die Rechtswissenschaft auf Dauer nicht fesselte. Die meiste Zeit widmete er dem Studium der antiken Autoren. Es war ihm ein Herzenswunsch, damit auf irgendeine Weise fortfahren zu können. Es war jedoch nicht leicht, dieses spezifische Interesse mit einem konkreten Beruf zu verbinden. Während des Studiums in Bologna machte er nähere Bekanntschaft mit Jacopo Colonna, dem Spross einer einflussreichen römischen Adelsfamilie. Ein Teil der Familie hielt sich damals, ebenso wie Ser Petraccho, in Avignon auf.50 Jacopo hörte wahrscheinlich von Francescos Unzufrieden-
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Für die Colonna siehe A. Rehberg, „Die Colonna“, in: V. Reinhardt (Hrsg.), Die großen Familien Italiens, Stuttgart 1992, 171–188 und Ders., Kirche und Macht im römischen Trecento. Die Colonna und ihre Klientel auf dem kurialen Pfründenmarkt (1278–1378 ), Tübingen 1998.
Petrarcas Lebenslauf
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heit mit dem Jura-Studium, zu dem er vom Vater gezwungen wurde. Als der Vater unerwartet starb, gab Francesco das Jura-Studium (obwohl er kurz vor dem Abschluss stand) auf und kehrte nach Avignon zurück. Das väterliche Erbe war jedoch bald aufgebraucht, so dass sich Francesco nach einer neuen Einkommensquelle umsehen musste. Sein Studienfreund Jacopo Colonna, der inzwischen den Studienabschluss in Bologna geschafft hatte, bot ihm eine Stelle im Haushalt seiner Familie an, als Privatsekretär bzw. Hauskaplan und Prinzenerzieher für Agapito Colonna. In der zum Teil kargen Freizeit, die ihm von der Tätigkeit bei den Colonna übrig blieb, arbeitete Petrarca an seinem Lieblingsprojekt, dem intensiven Studium der antiken Autoren. Diese von der Außenperspektive her betrachtet wenig spektakuläre Tat war ein erster wichtiger Schritt zur Erfindung des Humanismus. Herkömmlicherweise wurden die antiken lateinischen Autoren nur dazu verwendet, die lateinische Sprache zu erlernen, als Vorschule für ein Studium an den höheren Fakultäten: Jura, Medizin, Theologie. Die Humanisten machten sie jedoch zu einem selbständigen Studienobjekt. Hinzu kam Francescos aktive und kreative Beschäftigung mit der lateinischen Literatur: Er hatte den Ehrgeiz, ein lateinischer Schriftsteller zu werden wie Vergil und Cicero. Die Antike war zu Petrarcas Zeit alles andere als ein gut erschlossenes Forschungsfeld. Schon der Erwerb der Wissensträger, der Texte, war ein Problem. Das in vielen Handschriften aufbewahrte oder vielmehr verborgene Wissen musste an einem Ort zusammengebracht, in einer Bibliothek vereinigt werden. Das Sammeln von Texten mag dem modernen Leser, der mit der Problematik der Handschriftenwelt nicht vertraut ist, weder bemerkenswert noch ein besonderes Verdienst erscheinen. Heute sind alle überlieferten antiken Texte bequem zugänglich, die meisten sogar, weil in Taschenbuchformat gedruckt, leicht erschwinglich. In Petrarcas Zeit befanden sich die antiken Texte jedoch lediglich in diversen Kloster- und Dombibliotheken, ohne dass leicht zu eruieren war, wo welches Werk vorrätig war. Privater Buchbesitz war zumeist sehr eng bemessen. Außerdem waren die antiken Texte weder gesichert noch stabil: Die handschriftliche Form bedingte Überlieferungsprobleme: Fehler schlichen sich ein, Wörter, ja ganze Sätze und Verse etc. konnten weggefallen, die Reihenfolge der Worte verdreht, Abkürzungen missverstanden worden sein. Durch mehrfaches fehlerhaftes Abschreiben konnte ein Text zum Rätsel werden. Petrarca setzte sich zum Ziel, die antiken Texte kritisch zu säubern. Handschriftenvergleich war ein wichtiges Mittel. Um die Handschriften zu ergattern, war ein zentraler Standort wie Avignon äußerst hilfreich. Petrarca startete mit Hilfe des Colonna-Netzwerkes eine methodische Handschriftensuche – Gesandte und Bekannte verließen selten ohne Suchauftrag Avignon. So stellte Petrarca die größte Privatbibliothek seiner Zeit, die den lateinischen Autoren der Antike gewidmet war, zusammen. Petrarcas Verbindung mit den Colonna hatte noch eine andere wichtige Auswirkung. Als Jacopos Bruder Giovanni die Kardinalswürde erlangte, war er im von Franzosen dominierten Kardinalskollegium der einzige Italiener. Daher rührte eine ideologische Symbiose mit Petrarca, ebenfalls ein Italiener auf fremdem Boden. Petrarca entwickelte im Laufe der Jahre eine rom- und italozentrische Ideologie. War Avignon überhaupt der richtige Standort für die päpstliche Kurie? Sowohl der Kardinal als auch Petrarca waren der Meinung, dass der Papst in Rom seine Residenz haben sollte. Petrarca verband dies mit einer umfassenden humanistischen Ideologie: Das römische Reich der Antike sollte im alten Glanz erstrahlen, Zentrum der geistlichen (und weltlichen) Macht sein. Die römischen Helden, ein Scipio, ein Cato, ein Cicero, ein
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
Caesar, ein Augustus, sollten die glänzenden moralischen Vorbilder sein, an denen sich die Gegenwart zu orientieren habe. In der römischen Geschichte fand Petrarca die ersehnte Identität. Es wird nicht verwundern, dass er bald vergaß, was er dem Standort Avignon verdankte. Avignon wird ihm zum Symbol des moralischen Verfalls der Gegenwart, der Sünden dieser Welt, des Verwerflichen. Der Hass gegen Avignon bildete ein stets wiederkehrendes Thema in seinen Werken. Er redet nicht von der römischen Kurie, sondern von der „sogenannten römischen Kurie“. Je mehr sich Petrarca diesem Thema widmete, desto quälender empfand er den Aufenthalt in der verhassten Stadt. Jedoch hielt ihn sein Dienstverhältnis zu den Colonna von einer bleibenden Rückkehr nach Italien ab. Gegen den Hintergrund dieses unauflöslichen Dilemmas konzipierte und verfaßte Petrarca seine lateinischen Hauptwerke, das Epos Africa, in dem er mit Vergils Aeneis wetteiferte, eine Sammlung antiker Biographien (De viris illustribus), die Metrischen Briefe, den ersten Prosatraktat Rerum memorandarum libri – eine Sammlung klassischer Exempel, mit der er den Historiker Valerius Maximus zu übertreffen versuchte –, das Bucolicum carmen, in dem er abermals mit Vergil wetteiferte, sowie die Prosatraktate, in welchen er die Lebensform der Weltflucht behandelte, De vita solitaria und De otio religioso. Abgesehen davon entstanden eine Reihe italienischer Liebesgedichte und zahlreiche lateinische Briefe, die Petrarca in den Sammlungen des Canzoniere und der Privatangelegenheiten (Familiarium rerum libri) vereinigte. 1341 fand jenes Ereignis statt, das Petrarca als Höhepunkt seines Lebens betrachtete: Die Stadt Rom krönte ihn zum Dichter und verlieh ihm das Ehrenbürgerrecht. Die Dichterkrönung bedeutete für Petrarca die wichtigste Anerkennung seiner Leistung als Dichter und Humanist. In den Vierzigerjahren des 14. Jahrhunderts knüpfte Petrarca immer engere Beziehungen zu italienischen Fürstenhöfen an. Erst 1353 fasste er aber den Entschluss, die Provence zu verlassen: Die Visconti holten ihn nach Mailand. Nach dem Dienst bei den Visconti wurde der mittlerweile berühmte Dichter und Denker von anderen italienischen Fürstenhöfen eingeladen. Er besaß in der Folge Häuser in Pavia, Padua und Venedig. Seine letzten Jahre verbrachte er in Padua, unterstützt von der Fürstenfamilie Carrara, besonders in Arquà, einem Dörfchen mitten im Hügelland südlich von Padua. In Arquà führte er ein der Literatur gewidmetes Leben und gab seinen Werken zu ihrer Veröffentlichung den letzten Schliff. Neu entstanden an diesem Ort die Altersangelegenheiten, gewissermaßen sein literarisches Vermächtnis.
4. Neuer Vorstoß in den autobiographischen Raum: die (Er)Findung des humanistischen Privatbriefes (Familiarium rerum libri, 1345–1366) An Giovanni Colonna, aus der Stadt Rom. Welchen Brief erwartest du aus der Stadt Rom, nachdem du einen so ausführlichen von den Bergen der Umgebung empfangen hast? Du warst sicher davon überzeugt, dass ich etwas Großartiges schreiben würde, wenn ich endlich in Rom eingetroffen sein würde. Vielleicht für die Zukunft hat sich mir ein ungeheuer um-
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fangreiches Material dargeboten: Im Augenblick freilich getraue ich mich nichts anzufangen, völlig überwältigt vom wunderbaren Eindruck, den diese gewaltigen Gegenstände auf mich machen, und von massiver Bewunderung völlig zugeschüttet. Nur eines muss aus mir heraus: Das gerade Gegenteil von dem, was du vermutetest, ist eingetroffen. Denn du pflegtest, ich erinnere mich, mir immer wieder von einer Reise nach Rom abzuraten, vor allem mit dem Argument, dass durch den Anblick der Ruinen, der nicht mit dem Ruhm der Stadt und der hohen Meinung, die ich mir aus der Lektüre der Bücher aufgebaut habe, korrespondierte, meine dichterische Inspiration abflauen würde. Und ich selbst habe, obwohl ich vor Sehnsucht fast verbrannte, meine Reise gerne aufgeschoben, da ich befürchtete, dass der faktische Anblick und die leibliche Gegenwart, die immer Feinde des Ruhmes sind, das großartige Gebilde, das ich mir in meinem Geist errichtet hatte, herabsetzen würden. Jedoch haben der faktische Anblick und die leibliche Gegenwart – was für ein Wunder! – nichts herabgesetzt, sondern im Gegenteil alles nur noch erhöht. Rom stellte sich als wahrlich groß heraus und seine Überreste waren größer als ich gedacht hatte. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, dass die Stadt den Erdkreis bezwang, sondern dass sie ihn erst so spät bezwang. Herzlich, Rom, am ersten März [1336], auf dem Kapitol. Ad Iohannem de Columna, ab urbe Roma. Ab urbe Roma quid expectet, qui tam multa de montibus acceperit? Putabas me grande aliquid scripturum, cum Romam pervenissem. Ingens michi forsan in posterum scribendi materia oblata est; in presens nichil est, quod inchoare ausim, miraculo rerum tantarum et stuporis mole obrutus. Unum hoc tacitum noluerim: contra ac tu suspicaris accidit. Solebas enim, memini, me a veniendo dehortari, hoc maxime pretextu, ne, ruinose urbis aspectu fame non respondente atque opinioni mee ex libris concepte, ardor meus ille lentesceret. Ego quoque, quamvis desiderio flagrarem, non invitus differebam, metuens ne quod ipse michi animo finxeram, extenuarent oculi et magnis semper nominibus inimica presentia. Illa vero, mirum dictu, nichil imminuit, sed auxit omnia. Vere maior fuit Roma, maioresque sunt reliquie quam rebar. Iam non orbem ab hac urbe domitum, sed tam sero domitum miror. Vale. Rome, Idibus Martiis, in Capitolio (Familiares II,14).
Wir halten in diesem Brief von Petrarcas Privatangelegenheiten offensichtlich eine Reiseskizze in Händen, die durch ihre Spontaneität und Authentizität besticht. Petrarca ist anscheinend als Tourist nach Rom gereist und bei einem ersten Rundgang durch die Stadt kritzelt er auf dem Kapitol, vom Anblick der antiken Überreste ganz überwältigt, schnell und gewissermaßen beiläufig ein paar Zeilen für seinen Freund hin, der, wie aus dem Briefchen hervorgeht, anscheinend bereits mehrere solcher brieflicher Reiseskizzen empfangen hat. Diese Art des Schreibens erscheint uns so plausibel, dass sie jede weitere Erörterung überflüssig macht. Die intensivierte Kommunikation durch Gebrauchstexte ist durch die Etablierung der Post in der Neuzeit eine Selbstverständlichkeit geworden, eine Kommunikation, die sich durch den Aufmarsch der
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elektronischen und digitalen Mail in der letzten Zeit nochmals gesteigert und intensiviert hat. Der ohnehin schon einleuchtende Tatbestand der Verwendung der Gebrauchstextsorte Brief wird durch den Kontext des Reisetourismus noch einleuchtender. Es erscheint ja von vorneherein klar, dass man auf Reisen gerne Briefchen oder Ansichtskarten an Freunde schreibt oder ihnen E-Mail- oder SMS-Berichte schickt, in denen man angibt, wo man sich befindet und was einen gerade beschäftigt. Jedoch ist an diesem Briefchen bei näherem Zusehen gar nichts gewöhnlich oder selbstverständlich, weder die Textsorte, noch die Situation des Schreibens, noch der Inhalt. Um 1336 gab es den Privatbrief als Medium zur Vermittlung spontaner, persönlicher Eindrücke und Gedanken nicht, weder als Gebrauchsliteratur noch als Literatursorte. Für die meisten von Petrarcas Zeitgenossen war diese Verwendung des lateinischen Briefes überraschend, ja verblüffend. Lateinische Briefe spielten eine wichtige Rolle im öffentlichen, politischen, diplomatischen, ökonomischen, religiösen, akademischen und rechtlichen Bereich, und dementsprechend waren ihre Gegenstände bedeutend, ihr Stil formelhaft, gekünstelt, gravitätisch und von der Alltagssprache so weit entfernt wie heute etwa ein juristischer Schrieb. Die Briefpoetik war von der formalistischen Ars dictaminis geprägt.51 Der Brief hatte vor allem den Charakter eines Dokuments, das nach den Regeln der Kunst aufgestellt war. Spontanes Gekritzel über persönliche Befindlichkeiten erwartete niemand. Noch überraschender musste wirken, dass Petrarca explizit vermeldet, dass er das Gekritzel an Ort und Stelle, also draußen, im Freien hingeworfen habe. Das war nicht der Brauch. Ebenso merkwürdig musste dem zeitgenössischen Leser Petrarcas Reiseziel vorkommen: bloßer Tourismus, um die Ruinen der römischen Antike zu betrachten. Obwohl im 14. Jh. nicht wenig gereist wurde, war der Tourismus als solcher ungebräuchlich. Wenn man reiste, dann hatte das eine konkrete Zielsetzung, schon wegen der Beschwerlichkeit, Gefährlichkeit und langen Dauer des Reisens. Kaum einem von Petrarcas Zeitgenossen hätte eingeleuchtet, dass jemand eine Reise von ca. 1000 km (Avignon-Rom) mit einer durchschnittlichen Dauer von zwei bis drei Wochen, mit den gebräuchlichen Unbilden der Übernachtungen (schmutzige Herbergen, Ungeziefer, zwielichtige Gestalten, Mahlzeiten mit fragwürdigen Ingredienzien), des Wegs (zumeist Sandstrassen, also so gut wie immer entweder staubig oder schlammig; fehlende Beschilderung) und der man51
M. Camargo, Ars dictaminis. Ars dictandi, Turnhout 1991.
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gelnden Sicherheit (man schwebte immer in Gefahr, von Wegelagerern ausgeraubt zu werden) unternommen hätte, nur um verfallene Gebäude zu betrachten. Es gab um 1336 weder eine besondere Wertschätzung für das verfallene Gebäude, die Ruine, noch konnte von einer wissenschaftlichen Erforschung der archäologischen Reste die Rede sein. Wer die Situation vor Ort kannte, konnte Petrarca vielleicht noch weniger verstehen. Das Zentrum Roms mit den antiken Überresten war ein heruntergekommenes Gebiet. Zwischen den abbröckelnden Gemäuern grasten Ziegen und Schafe, und daneben konnte man ausgemergelte Hirtenhunde mit filzig-gelblichem Fell und in Lumpen gekleidete Hirten erblicken. Was auf den ersten Blick einleuchtend erschien, stellt sich bei näherem Zusehen also in mehrfacher Hinsicht als ziemlich exzentrische literarische Tat dar. Tiefe Risse in der Kontinuität klaffen auf. Petrarcas Brief weist eine Diskursivität auf, die seine Zeitgenossen befremdet haben muss.52 Für den lateinischen Privatbrief fehlte Petrarca lange Zeit ein verwertbares Beispiel aus der antiken Literatur. Senecas Briefe an Lucilius (Epistulae ad Lucilium), mit denen Petrarca sehr gut vertraut war, können nicht als solches gelten, da sie eine Einführung in die Philosophie darstellen, die von Didaxe und philosophischem Inhalt beherrscht wird. Petrarca war sich dessen bewusst. Insbesondere machte auf ihn die Tatsache Eindruck, dass Seneca Autobiographik als Gegenstand des lateinischen Briefes schon im Vorfeld abblockte, indem er gegen Cicero Stellung bezog. Im 118. Brief kritisiert er dessen Briefe an Atticus für ihren alltäglichen und unbefriedigenden Inhalt. Er, Seneca, werde im Brief nicht schreiben, was gerade vorfällt oder was ihm einfällt, nicht „welcher Wahlkandidat gerade Schwierigkeiten hat, inwiefern man Caesar, inwiefern man Pompeius vertrauen könne“ oder „was für ein harter Knochen der Wucherer Caecilius ist“, sondern Sinnvolles, das heißt, ausschließlich über philosophische Fragen. 52
Zur Autobiographik der Familiarium rerum libri vgl. K. A. E. Enenkel, „Die Grundlegung humanistischer Selbstpräsentation im Brief-Corpus: Francesco Petrarcas Familiarium Rerum libri XXIV “, in: T. van Houdt et alii (Hrsg.), Self-Presentation and Social Identification. The Rhetoric and Pragmatics of Letter Writing in Early Modern Times (Supplementa Humanistica Lovaniensia 18), Leuven 2002, 367–384, mit weiterführender Literatur; zu den Familiares vgl. weiter D. Goldin Folena, „Familiarium rerum liber. Petrarca e la problematica epistolare“, in: A. Chemello (Hrsg.), Alla lettera. Teoria e pratiche epistolari dai Greci al Novecento, Mailand 1998, 51–82.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
Diese Kritik, die sich Petrarca gut einprägte, bedeutete nichts weniger als eine Autobiographikzensur, ein Verbot der autobiographischen Prosakorrespondenz. Zugleich vermeldete Seneca etwas, das Petrarca mit gespitzten Ohren registrierte: Ciceros Briefe an Atticus! Diese Briefe waren verschollen. Wie gerne hätte Petrarca sie in Händen gehalten! Senecas Polemik resultierte auf diese Weise in einem Suchauftrag. Obwohl sich das Colonna-Netzwerk, das sich über ganz Europa ausstreckte, bei der Handschriftensuche oft als hilfreich erwiesen hatte, blieb das Resultat im Fall der Atticus-Briefe stets negativ. Eine Verkettung gewissermaßen zufälliger Ereignisse trat im Jahre 1344 ein, als sich Petrarca in Parma aufhielt, als ständiger Gast des Stadtherren Simone da Correggio. Als dieser unerwartet verstarb, brach unter seinen drei Söhnen ein erbitterter Kampf aus, was zur Folge hatte, dass Parma belagert wurde. Petrarca erkrankte damals, worüber er in dem oben analysierten metrischen Brief reflektierte. Man registriere übrigens: Als Medium für Persönliches verwendete Petrarca damals metrische Briefe. Sobald er sich erholt hatte, floh Petrarca inkognito auf einem Pferd aus Parma. Er floh Richtung Bologna, das von den Kampfhandlungen nicht betroffen war. Dort wollte er bleiben, bis sich die Lage in Parma gebessert haben würde. Unterwegs, in der Nähe von Modena geriet er in einen Hinterhalt von Straßenräubern, die ihm nachsetzten. Nur durch einen Parforceritt konnte er ihnen entkommen, stürzte dabei allerdings vom Pferd und fiel auf seine rechte Hand, die ihn stark schmerzte. Während er sich in Bologna nur langsam erholte, besserte sich die Lage in Parma allerdings nicht. Nach einiger Zeit ergab sich die ernüchternde Schlussfolgerung, dass er den Plan, in Parma sesshaft zu werden, aufgeben musste. Gegen seinen Willen musste er sich also wieder aus Italien verabschieden. Im Jahre 1345 reiste Petrarca gegen Norden, zurück ins verhasste Avignon. In Verona machte er Halt, unter anderem um seinem Freund Guglielmo da Pastrengo einen Besuch abzustatten. Nebenher nutzte er die Unterbrechung der Reise zum Besuch der Bibliothek des Domkapitels. Vielleicht aufgrund eines Hinweises seines Freundes entdeckte er dort eine Handschrift mit Ciceros Briefen an Atticus, den verschollenen, lange Zeit gesuchten. – Höchst erfreut entschloss sich Petrarca kurzerhand, in Verona zu bleiben und die Briefe – trotz seiner lädierten Schreibhand – selbst abzuschreiben. Er las die Briefe, während er schrieb, und was er las, steigerte sein Interesse. Was er hier in Händen hielt, war ein Vorbild, wie das Privatleben in lateinischen Prosabriefen beschrieben werden konnte. Die Lektüre setzte er in einen kreativen Plan um. Was, wenn auch er, Petrarca, sein
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Privatleben in Prosabriefen festlegen würde? Damit vervielfachten sich die Möglichkeiten des autobiographischen Schreibens. Noch in Verona skizzierte Petrarca einen ersten Plan für die Autobiographik in Prosabriefen. Der in chronologischer Hinsicht erste Brief des neu konzipierten Werkes trägt das lapidar formulierte Datum: Aus dem Land der Lebenden, am rechten Ufer der Etsch in der Stadt Verona der Transpadana, am 16. Juni, im Jahr […] 1345.
Entscheidend ist der ‚fruchtbare Irrtum‘ Petrarcas, der davon ausging, dass Cicero die Briefe in literarischer Absicht und zum Zweck der Veröffentlichung geschrieben habe, ja davon ausgehen musste, weil er die Briefe überhaupt erst aufgrund der Tatsache gesucht hatte, dass sie Seneca ca. 100 Jahre nach Ciceros Tod noch vorlagen. Petrarca konnte nicht anders als daraus den Schluss ziehen, dass sie publiziert worden waren. Heute ist allgemein bekannt, dass es sich – bis auf wenige Ausnahmen – um Privatbriefe im strikten Sinn handelt; dass sie streng vertraulich sind. Petrarca las die Briefe jedoch mit den Augen eines Autobiographik-Fokussierten und erblickte in ihnen das lang ersehnte literarische Vorbild. Ciceros Briefe an Atticus bedeuteten für den nunmehr einundvierzigjährigen Petrarca die ultimative Legitimation für ein neues autobiographisches Großprojekt. Nach der Lektüre der Briefe an Atticus konnte er Senecas ‚Autobiographieverbot‘ offiziell für nichtig erklären: […] Ich bedachte dabei, wie Cicero gerade um solcher Dinge willen von Seneca verspottet worden ist. Doch will ich in diesen Briefen hauptsächlich der Art des Cicero folgen und nicht so sehr der des Seneca. Seneca hat nämlich die gesamte Moralphilosophie, welche sich in seinen übrigen Schriften findet, in seine Briefe gesteckt. Cicero aber behandelt die philosophischen Themen in seinen übrigen Werken, jedoch Privatangelegenheiten, Neuigkeiten und die vielfältigen Gerüchte seines Zeitalters in seinen Briefen. Was Seneca darüber denkt, ist seine Sache. Für mich – ich gestehe es – stellen Ciceros Briefe eine höchst erfreuliche Lektüre dar. Bringt sie doch Erholung von der Konzentration auf schwierige Gegenstände, die den Geist erschöpft, wenn sie ohne Unterlass aufrechterhalten wird, die ihn aber erfreut, wenn sie gelegentlich unterbrochen wird. Du wirst hier vieles finden, was freundschaftlich an Freunde, darunter auch an dich, geschrieben ist, manches über öffentliche und private Angelegenheiten, manches aber auch über meine Seelenqualen – denn dieser Stoff ist gar zu ergiebig – manches aber auch über andere Sachen, wie sie sich zufällig ergaben. Ich habe gewissermaßen nichts anderes vor Augen gehabt als meinen Seelenzustand und verschiedene Angelegenheiten, die erwähnenswert waren, meinen Freunden zu erzählen. Ich stimme dem zu, was gerade wieder Cicero in seinem ersten Brief an seinen Bruder sagt: Es sei „der eigentliche Sinn des Briefes, den Adressaten über das zu informieren, was ihm nicht bekannt ist“ (Kursivierungen vom Verf. ).
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Petrarca: Autobiographie in Briefen […] memor in hoc irrisum a Seneca Ciceronem; quamquam in his epystolis magna ex parte Ciceronis potius quam Senece morem sequar. Seneca enim, quicquid moralitatis in omnibus fere libris suis erat, in epystolis congessit; Cicero autem philosophica in libris agit, familiaria et res novas ac varios illius seculi rumores in epystolis includit. De quibus quid Seneca sentiat, ipse viderit; michi, fateor, peramena lectio est; relaxat enim ab intentione illa rerum difficilium, que perpetua quidem frangit animum, intermissa delectat. Multa igitur hic familiariter ad amicos, inter quos et ad te ipsum, scripta comperies, nunc de publicis privatisque negotiis, nunc de doloribus nostris, que nimis crebra materia est, aut aliis de rebus, quas casus obvias fecit. Nichil quasi aliud egi nisi ut animi mei status, vel siquid aliud nossem, notum fieret amicis; probatur enim michi, quod prima ad fratrem epystola Cicero idem ait, esse „epystole proprium, ut is, ad quem scribitur, de his rebus, quas ignorat, certior fiat“.53
Damit hatte Petrarca eine Briefpoetik entworfen, die das Autobiographik-Potential des Humanismus entscheidend erweiterte. Nach Petrarca schrieb so gut wie jeder Humanist Privatbriefe in lateinischer Prosa, oftmals mit autobiographischem Inhalt. Aus der Geschichte der Grundlegung des autobiographischen Briefcorpus54 geht hervor, dass die Spontaneität, durch die der Brief aus Rom besticht, auf Fiktion beruht. Petrarca schrieb das Briefchen mehr als 10 Jahre nach seinem Rom-Besuch. Nachdem Petrarca im Jahr 1345 beschlossen hatte, eine umfassende Autobiographie in Briefform zu schreiben, war die Konsequenz, dass er die Prosabriefe, die sein Leben vor 1345 betrafen, erst erfinden musste.55 Das betrifft vier ganze Bücher (ca. 150 Normalseiten). Bei dieser Neukonstituierung seines Lebens wählte er die Themen aus, die seine Identität – er bezeichnet diese als „Zustand“ bzw. „Beschaffenheit seines Geistes“ („status animi“) – ausmachten: das Reisen, die Romzugehörigkeit, Humanismus und Liebe zur Antike, Anti-Scholastik, Avignonfeindlichkeit, sein Schriftstellertum, sein Verhältnis zu seinen Mäzenen und die vita contemplativa (vita solitaria).56 53
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Privatangelegenheiten (Familiarium rerum libri) I, 1, 32–33; das Zitat stammt aus Cicero, Briefe an Bruder Quintus (Ad Quintum fratrem) I, 1, 37. Zur Textgenese der Familiares vgl. G. Billanovich, „Dall’Epystolarum mearum ad diversos liber ai Rerum familiarium libri XXIV “, in: Ders., Lo scrittoio del Petrarca, Rom 1947, 1–55. Vgl. die Arbeit des Verf. „Die Grundlegung humanistischer Selbstpräsentation im Brief-Corpus“. Für eine näheren Erörterung dieser Themen und ihre Rolle in der Komposition der Familiares s. die Arbeit des Verf. „Die Grundlegung humanistischer Selbstpräsentation im Brief-Corpus“. Für die vita solitaria s. die Arbeit des Verf. Francesco Petrarca. De vita solitaria, Buch I. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar.
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Das „spontane“ und zufällige Gekritzel erweist sich bei näherem Zusehen also weder als spontan noch als zufällig noch als Gekritzel noch ist es an Ort und Stelle entstanden. Es erfüllt auch keine Funktion mehr, die man direkt mit seinem ‚Sitz im Leben‘ identifizieren könnte. Der Adressat, Kardinal Giovanni Colonna, war aller Wahrscheinlichkeit nach bereits tot, als Petrarca das Briefchen an ihn verfasste. Es geht in dem Briefchen ausschließlich um Petrarca selbst, indem es eine wichtige Säule in seinem Autobiographie-Gebäude bildet: Es führt gleich fünf Hauptthemen von Petrarcas Identität bzw. „status animi“ vor – das Reisen, die Romzugehörigkeit, die Liebe zur Antike, sein Schriftstellertum und sein Verhältnis zu seinen Mäzenen. Dabei zeichnet sich das ‚Gekritzel‘ durch eine ungeheure Komplexität aus, die sich bei einem ersten Lektüregang nicht vermuten ließ. Es verknüpft auf ingeniöse Weise diese autobiographischen Hauptthemen zu einem dichten Gewebe, wobei die einzelnen Fäden so gewoben werden, dass sie einander verstärken und bestätigen. Petrarcas Schriftstellertum beruht auf einem sehr spezifischen, für seine Zeit bemerkenswerten Verhältnis zu einem Mäzen, das der Dichter wie folgt definiert: Der Mäzen (ein Kardinal) erwartet von Petrarca nichts weiter als dass er literarische Werke hervorbringt. Der Schriftsteller besitzt völlige Freiheit, er kann tun und lassen, was er will, kann sich aufhalten, wo er will, kann reisen, wohin er will, wann immer ihm dies in den Sinn kommt. Die Reisen dienen ausschließlich der persönlichen Entwicklung und der Inspiration des Schriftstellers. Petrarca wählte als Reiseziel Rom, weil ihn diese Stadt am meisten interessierte und in seinem schriftstellerischen Werk inspirierte. Der Mäzen ist vor allem um die Inspiration seines Schriftstellers besorgt. Wenn er ihm von der Reise abriet, so hatte das den Grund, dass er befürchtete, der Anblick der fragwürdigen römischen Realität könne die Inspiration des Schriftstellers beeinträchtigen. Interessanterweise hegt der Schützling des Mäzens denselben ängstlichen Gedanken. Was für eine Erleichterung, dass er sich als unbegründet herausstellte! Der Rombesuch steigerte des Schützlings Liebe zur Antike, die dieser für sein Schriftstellertum braucht, nur noch. Man kann also für die Zukunft viel von ihm erwarten. Petrarca weist hier auf sein historisches Werk über die Helden der römischen Antike, De viris illustribus, sein lateinisches Epos Africa sowie auf seine den Wissensschatz der Antike erschließende Enzyklopädie Rerum memorandarum libri hin. Aus der literarischen Retrospektive betrachtet erwies sich der Rom-Besuch als äußerst günstig für seine persönliche Entwicklung. Bereits die Dichte des Gewebes lässt auf seinen Konstruktcharakter schließen. Es ist ein wesentliches Merkmal dieses autobiographischen
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Schreibens, dass es nicht einfach eine Erinnerung an das vergangene Leben darstellt, sondern eine literarische Neukonstituierung. Diese hebt sich sogar in bemerkenswerter Weise von der Realität ab. Merkwürdigerweise ist der Tod des Mäzen-Kardinals in gewisser Weise die Voraussetzung für die autobiographische Neukonstituierung. Petrarcas Rolle im Haushalt des Kardinals war: Privatsekretär, Gesandter, Hauskaplan und Prinzenerzieher. Mit der idealen Freiheit, die er in der autobiographischen Selbstkonstituierung der Familiares vorspiegelt, war es nichts. Wenn der Kardinal Petrarca auf die Reise schickte, so musste dieser bestimmte Aufgaben erfüllen, Nachrichten überbringen usw. Die persönlichen Befindlichkeiten des Schützlings bildeten kein Hauptinteresse des Kardinals, und schriftstellerische Leistungen waren ihm zwar willkommen, jedoch betrachtete er sie als nachgeordnet. Petrarcas autobiographische Neukonstituierung beruht auf einer Erinnerung an die Antike: an Horazens dichterische Darstellung seines Verhältnisses zu Cilnius Maecenas. Darin spielt die Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichberechtigung des Dichters in der Tat eine wesentliche Rolle. Indem Petrarca sich in dieses antike literarische Verhältnis einschrieb, machte er sowohl den zeitgenössischen Mitgliedern der Respublica litteraria als auch potentiellen ‚Mäzenen‘ ein interessantes Leseangebot: Er schuf damit gewissermaßen das Urbild der idealen humanistischen Existenz, eine Schablone, die in Zukunft für die Regelung des literarischen Lebens herangezogen werden konnte. Mit der Erfindung der humanistischen Prosakorrespondenz hatte Petrarca die Möglichkeiten seiner Autobiographik abermals erweitert und vervielfacht, sowohl in inhaltlicher als formaler Hinsicht. Der Prosabrief ließ eine noch größere Anzahl von Gegenständen und weitere Nuancierungen und Schattierungen zu. Petrarcas Selbstkonstituierung fokussierte nicht mehr nur auf den Dichter. Ciceros Briefe waren für Petrarca kein eng anliegendes, sondern ein komfortables, weites, elastisches Gewand. Die Themen Ciceros stellten für ihn keine zwingenden Vorgaben dar. Ciceros Hauptthema, die Politik, beredet Petrarca höchstens am Rande. Es ging ihm vor allem, jetzt aber in stark erweiterter Form, um sein Privatleben. Von dieser Formel konnte Petrarca nicht genug bekommen. Die Privatangelegenheiten begleiteten ihn von 1345 an bis an sein Lebensende. In diesem Sinn besitzt die mythische Geschichte, dass der autobiographische Briefschreiber Petrarca mit der Feder in der Hand gestorben sein soll, ikonische Berechtigung.
Die Erfindung des Posteritas-Diskurses
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5. Einschreibung in den literarischen Ewigkeitsraum: die Erfindung des Posteritas-Diskurses In seinen letzten Lebensjahren, zurückgezogen in der Einsamkeit von Arquà, war Petrarca damit beschäftigt, das Großprojekt der Autobiographik in Prosabriefen zum Abschluss zu bringen, indem er die Altersangelegenheiten (Res seniles), die Fortsetzung der Privatangelegenheiten (Res familiares), zur Publikation vorbereitete. Die Briefautobiographik der Altersangelegenheiten tendierte zu immer genaueren, detaillierteren und eingehenderen Darstellungen. Literatur wurde jetzt für den Verfasser mehr denn je lebenskonstituierend – Petrarca lebte in seinen und durch seine Briefe, mit denen er sich in die Welt schrieb. Der Brief ist für ihn der Inbegriff der Macht des geschriebenen Worts. Er vermag Zeit und Raum zu überbrücken. Das Schreibpult in Arquà fungiert als eine Art Machtzentrale. Die Machtzentrale blickt über Hügel in die Ferne, sie denkt und schaltet im Hinblick auf die Ferne, sie richtet sich auf Rom und Avignon, Mailand und Neapel, Pavia und Prag, Deutschland, Italien, Frankreich sowie auf das ganze lateinische Europa, und, darüber hinaus, den Zeit-Raum überbrückend, sowohl auf die römische und griechische Antike als auch in die unbestimmte Zukunft hinein. In seinen Privatangelegenheiten hatte Petrarca die Zeit auf spektakuläre Weise überwunden, indem er mit den Alten geredet hatte;57 dies versuchte er in den Altersangelegenheiten zu contrafakturieren, indem er sich in dem Brief, den er als Schlussstein der Alterangelegenheiten und des Projekts der Briefautobiographik insgesamt bestimmte, direkt an uns Nachgeborene richtet: 1
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Vielleicht hast Du etwas über mich gehört – obwohl es gar nicht sicher ist, dass die geringe und unbedeutende Bekanntheit, die ich mir erworben habe, lange fortdauern und sich über weite Gebiete erstrecken wird – und vielleicht wirst Du dann wissen wollen, was für ein Mensch ich war und was aus meinen Werken geworden ist, vor allem aus denen, deren ferner Ruhm Dich erreicht hat, oder deren Titel Du vom Hörensagen kennst. Über den ersten Gegenstand wird man geteilter Meinung sein; redet doch jeder über den anderen nicht, wie es die Wahrheit gebietet, sondern wie es die Willkür ihm eingibt. Weder Lob noch Tadel kennen ein Maß.
Vgl dazu J. Friedrichs, „Petrarcas Briefe in die Vergangenheit und die antike Cicero-Kritik“, in: Res publica litterarum 23 (2000), 104–109; M. Rener, „Petrarca ludens. Anmerkungen zu Petrarcas Briefen and die Klassiker unter besonderer Berücksichtigung des Briefes an Vergil (Fam. xxiv 11)“, in: Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 16 (1992), 100–119; Enenkel, „Heilige Cicero, help mij! Hoofdlijnen van de Cicero-receptie in het Italiaanse Renaissance-humanisme“.
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Also denn: Ich war einer von Euch, ein sterbliches Menschlein, und stammte weder von Adeligen noch von ganz gewöhnlichen Leuten ab, sondern – wie Kaiser Augustus zu sagen pflegte – von einer „alten Familie“. Als Sohn ehrbarer Leute, von Geburt Florentinern, die ein bescheidenes Vermögen besaßen, welches – um die Wahrheit zu gestehen – auf geringe Reste zusammengeschmolzen war, und die aus der Vaterstadt verstoßen worden waren, wurde ich im Exil, in Arezzo geboren, im Jahr unseres Herrn Jesus Christus 1304, am Montag, dem 20. Juli bei Sonnenaufgang. Mein Charakter war von seinen Anlagen her weder schlecht noch respektoder schamlos, und ich wäre so geblieben, wenn mir nicht der Umgang mit schlechten Leuten geschadet hätte. Meine Jugend hat mich mit irrigen Ansichten erfüllt, das Mannesalter gänzlich verdorben, das Greisenalter aber hat mich wieder auf den rechten Pfad gebracht und mich aus eigener Anschauung gelehrt, dass das, was ich lange zuvor immer wieder gelesen hatte, wahr ist: dass die Jugend und die Lust eitle und leere Dinge sind; oder vielmehr war es Er, der die verschiedenen Weltenalter geschaffen hat, der Weltenschöpfer, der es zulässt, dass die erbärmlichen Sterblichen in ihrem völlig unfundierten Hochmut vom Wege abschweifen, jedoch manchmal auch, dass sie ihr eigentliches Wesen erkennen, indem sie, wenn auch spät, ihre Sünden einsehen. Als junger Mann besaß ich keinen besonders kräftigen, jedoch einen sehr geschmeidigen Körper. Ich behaupte nicht, dass ich besonders schön war, lediglich, dass ich in jungen Jahren Gefallen erregte. Ich besaß eine lebhafte Gesichtsfarbe, die zwischen durchscheinender Blässe und dunklem Rot wechselte. Meine Augen sind ausdrucksvoll und ich besaß lange Zeit eine besonders ausgeprägte Sehschärfe, welche mich jedoch nach meinem sechzigsten Lebensjahr unverhofft im Stich gelassen hat, so dass ich mich gegen meinen Willen mit einer Brille behelfen mußte. Ich erfreute mich Zeit meines Lebens einer hervorragenden Gesundheit, bis mich das Greisenalter mit dem bekannten Heer seiner Krankheiten und Gebrechen heimsuchte. Den Reichtum habe ich immer besonders verachtet, nicht weil ich nicht reich und vermögend hätte sein wollen, sondern weil ich die Sorgen ablehnte, die Reichtum unweigerlich mit sich bringt. Auch aus exquisiten Speisen habe ich mir nie etwas gemacht – mit einfachen und gewöhnlichen Nahrungsmitteln habe ich stets angenehmer gelebt als alle Jünger des Apicius mit der erlesensten Feinkost. Die sogenannten Bankette – in Wirklichkeit handelt es sich um Fress- und Saufgelage, die der Bescheidenheit und Sittlichkeit schaden – haben mir nie zugesagt. Zu diesem Zweck einzuladen oder eingeladen zu werden, erschien mir immer beschwerlich und nutzlos. Mit Freunden zusammen ein bescheidenes Mahl einzunehmen habe ich jedoch immer als so angenehm erfahren, dass mich nichts mehr erfreute als die Ankunft eines Freundes und ich niemals gerne ohne Tischgenossen mein Essen zu mir nahm. Dabei war mir nichts so zuwider wie Tafelluxus, nicht nur weil er moralisch verwerflich ist und einen Gegensatz zur Schlichtheit bildet, sondern auch weil er Umstände macht und Unruhe ins Haus bringt. In meiner Jugend litt ich an einer heftigen Liebe, die jedoch nur einer einzigen Person galt und niemals die Grenzen der Ehrbarkeit verletzte, und ich hätte noch viel länger an ihr gelitten, wenn nicht der schwer zu ertragende, aber heilsame Tod der Frau die bereits schwächer züngelnde Flamme zum Er-
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löschen gebracht hätte. Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte die Lustgefühle des Fleisches nicht gekannt; mit einer solchen Behauptung würde ich mich aber Lügen strafen. Jedoch kann ich wenigstens das zuversichtlich behaupten, dass, obwohl das Feuer der Jugend und die Zusammensetzung meiner Körpersäfte mich dazu hinrissen, ich jene Schweinerei in meinem Geiste immer verwünscht habe. Sobald ich mich aber meinem vierzigsten Lebensjahr näherte, habe ich, obwohl ich noch genug Feuer und Körperkraft besaß, nicht nur jene schändliche Tat verworfen, sondern sogar die Erinnerung an sie so gründlich abgelegt, dass es den Anschein hatte, als hätte ich niemals ein Weib auch nur begehrlich angeschaut. Dies zähle ich zu den Grundbausteinen meiner Glückseligkeit, und danke Gott dafür, dass er mich noch bei voller Gesundheit und Körperkraft von jener schändlichen und mir stets verhassten Knechtschaft befreit hat. Aber ich wende mich nunmehr anderem zu. Hochmut bemerkte ich bei anderen, mir war er fremd, und, wenn ich schon ein unbedeutender Mensch war, so erschien ich mir in meinem eigenen Urteil stets nur noch unbedeutender. Meine Neigung zum Jähzorn hat mir sehr häufig geschadet, anderen freilich noch nie. Ich darf ruhig behaupten – weil ich sicher weiß, dass ich die Wahrheit rede – dass ich zwar sehr jähzornig und ungeduldig war, jedoch Beleidigungen sehr schnell vergessen habe, während ich Wohltaten niemals vergaß. Um Freundschaften mit ehrbaren Männern habe ich mich immer sehr bemüht und sie stets mit größter Treue gepflegt. Aber das ist die Geißel der Greise, dass sie so häufig den Tod ihrer Freunde beweinen müssen. Mit freundschaftlichen Beziehungen zu Fürsten und Königen und Freundschaften zu Adeligen war ich so gesegnet, dass man mich darum beneidete. Die wichtigsten und mächtigsten Könige meiner Zeit liebten und umwarben mich. Weswegen, ist mir schleierhaft; das mögen sie selbst wissen. Bei einigen war ich sogar auf eine solche Weise zu Gast, dass es den Anschein hatte, sie wären bei mir zu Gast, und dass mir aus ihrer Vornehmheit niemals Verdrießlichkeiten, sondern nur viele Annehmlichkeiten erwuchsen. Dennoch habe ich viele, denen ich sehr zugetan war, verlassen: eine so starke Freiheitsliebe erfüllte mich, dass ich Fürsten, deren bloße Berühmtheit meine Freiheit zu bedrohen schien, soweit es mir möglich war, aus dem Wege ging. Ich besaß weniger eine brillante Intelligenz als ein gründliches moralisches Gespür, das sich für jede moralisch einwandfreie und dem Seelenheil zuträgliche Beschäftigung eignete, jedoch vor allem zur Moralphilosophie und zur Dichtkunst hinneigte. Für die letzte verlor ich im Laufe der Zeit das Interesse, da ich von der heiligen Schrift ergriffen wurde, deren verborgene, von mir in früheren Tagen verschmähte Schönheit ich nunmehr erkannt hatte. Der Poesie schrieb ich von jenem Zeitpunkt an nur mehr den Stellenwert einer Verzierung zu. Neben vielen anderen Gegenständen widmete ich mich vor allem der Altertumswissenschaft, da mich unser Zeitalter stets mit Abneigung erfüllte – sosehr, dass, wenn mich die Zuneigung zu den mir Teuren nicht abhalten würde, ich fast wünschen möchte, in einer beliebigen anderen Zeit geboren zu sein, nur nicht in unserer, und unsere zu vergessen, indem ich versuche, mich im Geiste immerzu in andere Zeitalter zu versetzen. Deshalb galt meine besondere Vorliebe den Historiographen, deren Uneinigkeit mich gleichwohl störte; in Zweifelsfällen war für mich entweder die Wahrschein-
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Petrarca: Autobiographie in Briefen lichkeit in der Sache oder die Autorität, die der betreffende Historiograph genießt, ausschlaggebend. 10 Meine Redekunst war, wie einige behaupteten, klar verständlich und ausdrucksvoll, meiner Meinung jedoch schwer verständlich und ausdrucksschwach. Im täglichen Verkehr mit Freunden und Bekannten habe ich mich nie um die Rhetorik gekümmert, und ich wundere mich darüber, dass Kaiser Augustus sie bei solchen Gelegenheiten sehr wohl angewendet hat. Wenn jedoch der Anlaß oder der Ort oder die Zuhörerschaft etwas anderes erforderten, dann habe ich es dennoch ein wenig versucht. Mit welchem Resultat, weiß ich nicht; das mögen die Zuhörer beurteilen! Wenn ich nur gut gelebt hätte, würde ich mir wenig daraus machen, wie ich geredet hätte. Es ist ein leeres und eitles Unterfangen, lediglich mit seiner Redekunst Ruhm zu erhaschen. (1) Fuerit tibi forsan de me aliquid auditum – quamquam et hoc dubium sit, an exiguum et obscurum longe nomen seu locorum seu temporum perventurum sit – et illud forsitan optabis, nosse, quid hominis fuerim aut quis operum exitus meorum, eorum maxime, quorum ad te fama pervenerit vel quorum vel tenue nomen audieris. Et de primo quidem varie erunt hominum voces: ita enim ferme quisque loquitur, ut impellit non veritas, sed voluptas; nec laudis nec infamie modus est. (2) Fui autem vestro de grege unus, mortalis homuntio, nec magne admodum nec vilis originis, familia – ut de se ait Augustus Cesar – antiqua. !Honestis parentibus, Florentinis origine, fortuna mediocri et – ut verum fatear – ad inopiam vergente, sed patria pulsis Aretii in exilio natus sum, anno huius etatis ultime que a Cristo incipit MCCCIIII, die Lune ad auroram !XIII" Kalendas Augusti." (3) Natura quidem non iniquo neque inverecundo animo, nisi ei consuetudo contagiosa nocuisset. Adolescentia me fefellit, iuventa corripuit, senecta autem correxit experimentoque perdocuit verum illud, quod diu ante perlegeram: quoniam adolescentia et voluptas vana sunt; imo etatum temporumque omnium conditor, qui miseros mortales de nichilo tumidos aberrare sinit interdum, ut peccatorum suorum vel sero memores sese agnoscant. (4) Corpus iuveni non magnarum virium, sed multe dexteritatis obtigerat. Forma non glorior excellenti, sed que placere viridioribus annis posset; colore vivido inter candidum et subnigrum, vivacibus oculis et visu per longum tempus acerrimo, qui preter spem supra sexagesimum etatis annum me destituit, ut indignanti michi ad ocularium confugiendum esset auxilium. Tota etate sanissimum corpus senectus invasit et solita morborum acie circumvenit. (5) Divitiarum contemptor eximius, non quod divitias non optarem, sed labores curasque oderam, opum inseperabiles comites. Nam perpetrarent, ut ista cura esset, lautarum facultas epularum. Ego autem tenui victu et cibis vulgaribus vitam egi letius quam cum exquisitissimis dapibus omnes Apicii successores. Convivia que dicuntur – cum sint commessationes modestie et bonis moribus inimice – semper michi displicuerunt. Laboriosum et inutile ratus sum ad hunc finem vocare alios nec minus ab aliis vocari. Convivere autem !modeste" cum amicis adeo iocundum, ut eorum superventu nil gratius habuerim nec unquam volens sine sotio cibum sumpserim. Nichil michi magis quam pompa displicuit, non solum quia mala et humilitati contraria, sed quia difficilis et quieti adversa est.
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(6) Amore acerrimo, sed unico et honesto in adolescentia laboravi, et diutius laborassem, nisi iam tepescentem ignem mors acerba, sed utilis extinxisset. Libidinum me prorsus expertem dicere posse optarem quidem, sed, si dicam, mentiar. Hoc secure dixerim, me quanquam fervore etatis et complexionis ad id raptum, vilitatem illam tamen semper animo execratum. Mox vero ad quadragesimum etatis annum appropinquans, dum adhuc et caloris satis esset et virium, non solum factum illud obscenum, sed eius memoriam omnem sic abieci, quasi nunquam feminam aspexissem. Quod inter primas felicitates meas numero, Deo gratias agens, qui me adhuc integrum et vigentem tam vili et michi semper odioso servitio liberavit. Sed ad alia procedo. (7) Sensi superbiam in aliis, non in me, et cum parvus fuerim, semper minor iudicio meo fui. Ira mea michi persepe nocuit, aliis nunquam. Intrepide glorior – quia scio me verum loqui – indignantissimi animi, sed offensarum obliviosissimi, beneficiorum vero permemoris. (8) Amicitiarum appetentissimus honestarum et fidelissimus cultor fui. Sed hoc est supplicium senescentium, ut suorum sepissime mortes fleant. Principum ac regum familiaritatibus et nobilium amicitiis usque ad invidiam fortunatus fui. Maximi regum [et] mee etatis et amarunt et coluerunt me. Cur autem nescio, ipsi viderint. Et ita cum quibusdam fui, ut ipsi quodammodo mecum essent et eminentie eorum nullum tedium, commoda multa perceperim. Multos tamen eorum, quos valde amabam, effugi: tantus fuit michi insitus amor libertatis, ut cuius vel nomen ipsum illi esse contrarium videretur, omni studio declinarem. (9) Ingenio fui equo potius quam acuto, ad omne bonum et salubre studium apto, sed ad moralem precipue philosophiam et ad poeticam prono. Quam ipsam processu temporis neglexi, sacris literis delectatus, in quibus sensi dulcedinem abditam, quam aliquando contempseram, poeticis literis non nisi ad ornatum reservatis. Incubui unice, inter multa, ad notitiam vetustatis, quoniam michi semper etas ista displicuit, ut, nisi me amor carorum in diversum traheret, qualibet etate natus esse semper optaverim et hanc oblivisci, nisus animo me aliis semper inserere. Historicis itaque delectatus sum, non minus tamen offensus eorum discordia, secutus in dubio, quo me vel veri similitudo rerum vel scribentium traxit autoritas. (10) Eloquio, ut quidam dixerunt, claro ac potenti; ut michi visum est, fragili et obscuro. Neque vero in comuni sermone cum amicis aut cum familiaribus eloquentie unquam cura me attigit, mirorque eam curam Augustum Cesarem suscepisse. Ubi autem res ipsa vel locus vel auditor aliter poscere visus est, paulo annisus sum, idque quam efficaciter, nescio; eorum sit iudicium, coram quibus dixi. Ego, modo bene vixissem, qualiter dixissem, parvi facerem. Ventosa gloria est de solo verborum splendore famam querere.58
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Epistola posteritati 1–10; der lateinische Text der Epistola posteriati wird nach der kritischen Ausgabe von K. A. E. Enenkel, „A Critical Edition of Petrarch’s Epistola Posteritati with an English Translation“, in: Ders., B. de Jong-Crane, P. Liebregts (Hrsg.), Modelling the Individual. Biography and Portrait in the Renaissance, 243–281 zitiert.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
Dieses Selbstporträt – erschütternd und beruhigend, peinlich und tröstend, stolz und resignierend, selbstbewusst und selbstzweifelnd zugleich – spricht uns im wahrsten Sinne des Wortes direkt an. Der Autor scheint unsere Gedanken zu erraten: Es entspricht in der Tat unserem Erfahrungshorizont, dass wir einen berühmten Schriftsteller vor uns haben, in der Tat sind uns die Titel einiger seiner Werke geläufig, es liegt auf der Hand, dass wir mehr über ihn wissen wollen. Das angesprochene und zugleich eingelöste Moment des Erkennens zieht uns unaufhaltsam in den Text hinein. Aber es gibt noch mehr, das uns direkt anspricht. Aufgrund der Details, die er uns über seine praktische Lebensführung sowie über sein Innenleben übermittelt, scheinen wir sozusagen direkt neben diesem Mann zu stehen, er lässt uns offensichtlich ganz nahe an sich heran. Wir erfahren, dass er nicht gerne Bankette besucht, aber nur allzu gern mit Freunden ein einfaches Mahl einnimmt, dass er zum Jähzorn neigt, dass ihm seine Freiheit lieber ist als alles andere auf der Welt. Ja sogar einen Blick auf seinen Körper gewährt er uns, seine Glieder, seine Gesichtsfarbe, seine Augen, die Sehschwäche im Alter. Wie Petrarca die antiken Autoren hautnah erfahren wollte, so wollte er, dass wir ihn hautnah erleben. Weiter ist ansprechend, dass diese Autobiographie mit vielen persönlichen Statements gespickt ist. Wir hören, was der Autor gerne mag und was ihm zuwider ist. Dadurch entsteht der Eindruck der Aufrichtigkeit seiner autobiographischen Tat, der Verfasser scheint dadurch zu bestätigen, dass es ihm Ernst ist, sich auf eine intensive autobiographische Kommunikation mit dem Leser einzulassen. Gefühle und Gedanken, die offensichtlich bei der Niederschrift der Autobiographie entstanden sind, verstärken den Eindruck der Authentizität, etwa wenn er angibt, wie sehr es ihm zuwider ist, jetzt eine Brille tragen zu müssen, oder wie sehr er darunter leidet, dass man im Alter so häufig mit dem Tod von Freunden konfrontiert wird. Andererseits mag dem Leser die Bescheidenheit, mit der sich Petrarca präsentiert, übertrieben vorkommen, etwa wenn der Wortkünstler und Autor hunderter Seiten lateinischer Prosa und Poesie behauptet, seine Redekunst sei nach seiner persönlichen Auffassung schwer verständlich und ausdrucksschwach gewesen. Auch fällt auf, dass Petrarca in dieser Autobiographie ständig etwas in Abrede stellt, korrigiert, abschwächt, oft sagt, was oder wie er nicht ist. Die Betonung der Bescheidenheit und das ständige Abschwächen bildet einen merkwürdigen Kontrast zu der Tatsache, dass der Autobiograph offensichtlich keine geringe Meinung von sich hat: Innerhalb weniger Seiten vergleicht er sich zweimal mit Kaiser Augustus, sogar in Bezug auf seine Abstammung!
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Weiter irritiert der statische Charakter des autobiographischen Textes. Der Autor fasst stets zusammen, der Text scheint nicht vorwärtszukommen. Das Statische der Darstellung monumentalisiert und stößt dadurch ab. Eine Reihe moderner Interpreten hatte Schwierigkeiten mit diesem Charakterporträt, das im Brief an die Nachwelt dem chronologischen Lebensabriss vorangestellt wird. Man konnte sich nicht erklären, wie dies zusammengehören sollte. Der Autobiograph schien zwei unvereinbare Kompositionsstrukturen zu verfolgen: einerseits ein nicht-chronologisches, andererseits ein chronologisches Modell. Man versuchte dies textgenetisch zu erklären, indem man annahm, dass die beiden Teile des Briefes an die Nachwelt unabhängig von einander, in verschiedenen Perioden von Petrarcas Leben entstanden seien: das Porträt in den Fünfzigerjahren, der chronologische Lebensabriss in den letzten Lebensjahren. Kurz vor seinem Tod habe Petrarca die beiden Teile zusammengefügt, jedoch ohne einen überzeugenden Zusammenhang herzustellen. Diese Auffassung, die maßgebliche Petrarca-Spezialisten wie Enrico Carrara, Arnoldo Foresti und Ernest Hatch Wilkins vertraten, hat sich in der Petrarca-Forschung durchgesetzt und hat in bedeutende Petrarca-Biographien, z. B. die Ugo Dottis, Eingang gefunden.59 Die Form eines humanistischen autobiographischen Textes ist hier einmal mehr auf Unverständnis gestoßen. Versuchen wir einmal von dem Gedanken, der Brief an die Nachwelt sei das Resultat einer misslungenen Textgenese, abzusehen und fragen wir, was Petrarca veranlasst haben könnte, in seiner Autobiographie ein statisches Charakterporträt mit einem chronologisch angeordneten Lebensabriss zu verbinden. Der Brief an die Nachwelt sollte nicht als selbständiges Werk veröffentlicht werden, sondern als Schlussbrief des achtzehnten Buches der Altersangelegenheiten. Somit liegt der Befund 59
Dotti, Vita del Petrarca; A. Foresti, Aneddoti della vita di Francesco Petrarca, Brescia 1928 (Neudruck hrsg. von A. T. Benvenuti, Padua 1977); E. Carrara, „L’epistola „Posteritati“ e la leggenda Petrarchesca“, in: Ders., Studi petrarcheschi ed altri scritti: raccolti a cura di amici e discepoli, 2 Bde., Turin 1959, Bd. I, 3–76 (ursprünglich in: Annali dell’istituto superiore di Magistero del Piemonte 3 [1929], 273–341). Vgl. weiter A. S. Bernardo, „Petrarch’s Autobiography: Circularity Revisited“, in: Annali d’Italianistica 4 (1986), 45–72; H. Heinze, „Francesco Petrarca ‚Posteritati‘“, in: Renaissance-Hefte 1 (1992), 23–30; E. Keßler, „Antike Tradition, historische Erfahrung und philosophische Reflexion in Petrarcas Brief an die Nachwelt“, in: Buck (Hrsg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance, 21–34.
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Petrarca: Autobiographie in Briefen
‚Ausgabe eines schriftstellerischen Werkes mit Schriftstellerbiographie‘ vor. Dies war ein Usus, mit dem Petrarca vertraut war, besonders im Hinblick auf die von ihm so geliebten antiken Dichter. In ihrer mittelalterlichen Form waren die handschriftlichen Werkausgaben von Horaz und Vergil standardmäßig mit einer Vita versehen. Auch Petrarcas Vergilund Horazhandschriften (heute in der Biblioteca Ambrosiana und der Biblioteca Medicea Laurenziana) waren auf diese Weise eingerichtet. Indem Petrarca für sich selbst diese Darstellungsart wählt, stellt er sein Leben im Diskursrahmen der Klassikerbiographie dar – er präsentiert sich seinem Publikum gegenüber als klassischer lateinischer Dichter. Der ursprüngliche Verfasser der Vergil- und Horazbiographie war der in trajanischer und hadrianischer Zeit tätige Beamte und Gelehrte Gaius Suetonius Tranquillus. Kennzeichnend für Suetons biographische Methode ist,60 dass er sein Material in inhaltlich gegliederten Rubriken anbietet. Er wendete, diesbezüglich seiner Zeit weit voraus, eine Art Zettelsystem an, wie es noch bis vor etwa 25 Jahren für jede wissenschaftliche Arbeit in den Humaniora erforderlich war (und jetzt durch die elektronische Datei ersetzt worden ist). Im Gegensatz zu den meisten antiken Biographen schrieb Sueton mit wissenschaftlicher Methode, d. h. er ließ der Niederschrift ausführliche archivarische Recherchen und ein eingehendes Studium der historischen Quellentexte vorangehen. Noch auffälliger ist, dass er seine systematische thematische ‚Verzettelung‘ in die Darstellung übernahm: Zum Beispiel in der Vergil-Biographie finden sich thematische Rubriken zu Aussehen, Gesundheit, Eßgewohnheiten, Liebesleben und Schreibgewohnheiten des Dichters. Der Suetonische biographische Diskurs ist für Petrarcas Selbstporträt ausschlaggebend.61 Dass Sueton im Spiel war, wird schon dadurch nahegelegt, dass sich Petrarca im Brief an die Nachwelt mit Kaiser Augustus verglich, wobei er jeweils eine intertextuelle Verbindung zu Suetons Augustus-Biographie, der eindrucksvollsten Lebensbeschreibung der Kaiserbiographien (De vita Caesarum), herstellte. Gerade in den Kaiserbiographien hat Sueton das nicht-chronologische, statische Rubrikensystem 60
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Zu Suetons biographischer Methode vgl. K. A. E. Enenkel, „Biographisches Werten und biographische Ambiguität. Ein Vergleich von Suetons Augustus-Vita und Plinius’, Panegyricus“, in: Wiener Studien 116 (2003), 155–171 (mit weiteren Literaturangaben); A. Wallace-Hadrill, Suetonius. The Scholar and his Caesars, Yale U. P. 1983, und H. Gugel, Studien zur biographischen Technik Suetons, Wien 1977. Für die Sueton-Rezeption im 14. Jahrhundert vgl. W. Berschin, „Sueton und Plutarch im 14. Jahrhundert“, in: Buck (Hrsg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance, 35–43.
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mit einer chronologischen Darstellungsweise verbunden: Er erzählt jeweils das Leben des betreffenden Kaisers bis zur Kaiserernennung in chronologischer Form, worauf die Regierungszeit des Kaisers in statischen, thematischen Rubriken dargestellt wird. Somit ergibt sich, dass Petrarca sein eigenes Leben im Diskurs der Kaiserbiographien darstellte – ein Tatbestand, der weitreichende Auswirkungen auf die autobiographische Selbstkonstituierung hat. Wir haben einen Schriftsteller vor uns, der sich als Kaiser oder Kaisergleicher konstituierte. Dem wird unten weiter nachzugehen sein. Für die Verbindung von chronologischem Lebensabriss und statischen Porträt lag Petrarca noch ein weiteres Textvorbild vor, und zwar eines, das sein eigenes Leben zum Gegenstand hatte, die Biographie Leben und Gewohnheiten des Herrn Franciscus Petracchi von Florenz (De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia). Der Verfasser dieses Textes war der Humanist in spe Giovanni Boccaccio.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
III. Biographie als Manifest des Humanismus: Boccaccios Leben und Gewohnheiten des Herrn Franciscus Petracchi von Florenz (De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia) 1. Auf der Suche nach einem Zugangspass zum Humanismus: Giovanni Boccaccio – Iohannes de Certaldo Der enorme Erfolg, den Boccaccio mit seinem Decamerone, welcher den Status der Weltliteratur erlangte, hatte, überschattet die Tatsache, dass er seine italienischen Werke nur als Nebensache betrachtete und sich vor allem bemühte, als Humanist und Autor lateinischer Schriften Anerkennung zu finden. Dies ist ihm, der den größten Teil seiner Werke in lateinischer Sprache und unter seinem Humanistennamen Iohannes de Certaldo verfasste, schließlich, wenngleich vor allem posthum, gelungen, u. a. mit seinem mythologischen Handbuch Genealogie der heidnischen Götter (Genealogie deorum gentilium) sowie der biographischen Sammlung Berühmte Frauen (De mulieribus claris). Es war freilich ein äußerst schwieriger und steiniger Weg, den der 1313 in dem toskanischen Städtchen Certaldo als Sohn eines Florentiner Kaufmanns (Boccaccino di Chelino) geborene Humanismus-Aspirant zurücklegen musste.1 Die Umstände, von denen er behindert wurde, skizziert er in einem autobiographischen Bericht in der Genealogie der heidnischen Götter (XV, 10): Mich hat die Natur, wie die Erfahrung bestätigt hat, vom Mutterleibe an zur Dichtung erschaffen, und dafür bin ich meiner Meinung nach geboren worden. Ich erinnere mich nur zu gut daran, dass mein Vater von meiner Kindheit an alles mögliche versuchte, um mich zum Kaufmann zu machen, und dass er mich, als
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Die ergiebigsten biographischen Übersichtswerke zu Boccaccio sind V. Branca, Giovanni Boccaccio. Profilo biografico, Florenz 1977 (Neudruck Florenz 1997; englische Übersetzung u. d. T. Boccaccio. The Man and his Works, New York 1976) und G. Körting, Boccaccio’s Leben und Werke, Leipzig 1880.
Boccaccios Lebenslauf
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ich das Jünglingsalter noch nicht erreicht hatte, aber in der Rechenkunst bereits unterrichtet worden war, einem sehr bedeutenden Kaufmann als Lehrling übergab, bei welchem ich in sechs Jahren nichts anderes getan habe als die unwiederbringliche Zeit nutzlos zu vergeuden. Da nun einige Anzeichen darauf hindeuteten, dass ich zu wissenschaftlichen Studien besser befähigt sein würde, befahl mein Vater, dass ich – um mit den erworbenen Kenntnissen später einmal reich zu werden – das Studium des kanonischen Rechts aufnehme, und wirklich mühte ich mich unter einem hochberühmten Lehrer ungefähr ebenso lange Zeit erfolglos damit ab. Ich empfand sowohl gegen den Handel als auch gegen das Rechtsstudium einen derartigen Widerwillen, dass mir weder die Gelehrsamkeit des Lehrers noch die Autorität des Vaters […] noch auch die Bitten und Vorwürfe der Freunde für eine der beiden Beschäftigungen Liebe beizubringen vermochten: So sehr zog mich meine Neigung zur Dichtkunst hin.
Während der Florentiner selbst seine ‚natürliche Neigung‘ betonte, spielte bei seinen feurigen Versuchen, als humanistischer Schriftsteller Anerkennung zu finden, Petrarca die Hauptrolle.2 Boccaccio hielt sich, als er vom Initiator des Humanismus ergriffen wurde, in Neapel auf. Es gab dort einen humanistischen Zirkel, der sich aus Bewunderern Petrarcas zusammensetzte. Führende Personen des Kreises waren der PetrarcaFreund Barbato da Sulmona3 und der Augustinermönch Dionigi da Borgo San Sepolcro, der Verehrer, Freund und Beichtvater Petrarcas, der nach langer Tätigkeit in Avignon seit kurzem am Königshof von Neapel4 das Amt des Hofastrologen (astrologus et theologus Regis) übernommen hatte.5 Boccaccio machte mit Dionigi da San Sepolcro zwischen 1337 und 1340 Bekanntschaft. Gleich die ersten Schriften Petrarcas, die Dionigi Boccaccio vermittelte, zogen den Kaufmannssohn in Petrarcas autobiographischen Diskurs hinein. Dies betrifft unter anderem die an Dionigi adressierte autobiographische Epistola metrica, in der der Meister 2
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Für die Rolle, die Petrarca für Boccaccio spielte bzw. für das Verhältnis der beiden vgl. U. Kocher, „‚Interpres rerum tuarum‘ – Boccaccio und Petrarca, eine ungleiche Freundschaft“, in: K. A. E. Enenkel – J. Papy (Hrsg.), Petrarch and his Readers in the Renaissance, Intersections. Yearbook for Early Modern Studies 6 (2005), 53–71; L. Freedman, „Petrarch’s Letter to Boccaccio and the Young Man’s Wish to be a Poet“, in: Euphorion 84 (1990), 75–88; G. Velli, Petrarca e Boccaccio. Tradizione, memoria, scrittura (Studi sul Petrarca 7), Padua 1979. N. F. Faragnia, „Barbato dal Sulmona e gli uomini di lettere della corte di Roberto d’Angiò“, in: Archivio storico italiano 3 (1889). W. Goez, König Robert von Neapel. Seine Persönlichkeit und sein Verhältnis zum Humanismus, Tübingen 1910. G. di Stefano, „Dionigi da Borgo S. Sepolcro, amico del Petrarca e maestro del Boccaccio“, in: Atti della Reale Accademia delle Scienze di Torino. II: Classe di scienze morali, storiche e filologiche 96 (1961/1962), 273–314.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
seine humanistische Dichterexistenz in der Einsamkeit der Vaucluse festgeschrieben hatte.6 Boccaccio machte sich diese autobiographische Lebensschilderung gründlich zu eigen, indem er sie in sein Zitatalbum (Zibaldone Laurenziano) kopierte, das er sich nach dem Brauch von Studenten und Gelehrten angelegt hatte, um wichtige Aussprüche und Texte ständig abrufbereit zu haben. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt trug Boccaccio also Petrarcas Autobiographik stets abrufbereit bei sich. 1341 stieß die Petrarca-Verehrung des Neapolitaner humanistischen Zirkels in eine neue Dimension vor. Er war fieberhaft damit beschäftigt, eine Dichterkrönung Petrarcas in die Wege zu leiten und diesen nach Neapel einzuladen. König Robert zeigte sich bereit, Petrarca in Neapel zum Dichter zu krönen. Nicht zuletzt der einflussreiche Hofastronom Dionigi da Borgo San Sepolcro, der direkten Zugang zum König hatte, trug das seine dazu bei. Petrarca reiste in der Tat nach Neapel, wo ihm der König ein zeremonielles Examen abnahm, in welchem er ihm die Befähigung zum Status des gekrönten Dichters (poeta laureatus) bescheinigte.7 Obwohl die Krönungszeremonie in der Folge in Rom vorgenommen wurde, war es vor allem der Neapolitaner Humanistenkreis, der sich die Initiative auf die Habenseite rechnen konnte, was unter anderem eine definitive Bestätigung durch den Meister bedeutete. Boccaccio erblickte diese Situation als ausgelesene Möglichkeit, sich selbst einen Zugangspass zur humanistischen Respublica litteraria bzw. seine Anerkennung als Humanist zu sichern. Nachdem das Leben Petrarcas nunmehr einen krönenden Höhepunkt erreicht hatte, schien es passend, dieses Ereignis in einer Biographie zu feiern. Boccaccio bot sich als Verfasser dieser Biographie an.8 Wenn es ihm gelingen sollte, seinen Namen auf diese Weise unauflöslich mit dem seines Vorbildes zu verbinden, konnte er auf seine Etablierung als Humanist hoffen.
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Epistole metrice I, 4. Für die Dichterkrönung vgl. E. H. Wilkins, „Die Krönung Petrarcas“, in: A. Buck (Hrsg.), Petrarca, Darmstadt 1976, 100–167 (urspr. u. d. T. „The Coronation of Petrarch“, in: Speculum 18 (1943), 155–197). Aus den Datierungshinweisen, die sich in dem Werk selbst finden, ergibt sich, dass die Biographie in der zweiten Hälfte des Jahres 1341 oder in den ersten Monaten des Jahres 1342 verfasst wurde. Da Petrarcas Dichterkrönung und die Reise zu den Correggio nach Parma noch behandelt wird, kann das Datum der Niederschrift nicht vor der zweiten Hälfte des Jahres 1341 fallen. Da Boccaccio weiter voraussetzt, dass Papst Clemens VI. (Pierre Roger de Beaufort, 1342–1352) noch nicht angetreten ist und offensichtlich davon ausgeht, dass Papst Benedikt XII. (Jacques Fournier, 1334–1342) noch am Leben ist, muss er das Werk vor Anfang Mai 1342 – am 25. April 1342 starb Benedikt – verfasst haben.
Einschreibung in den Suetonischen Kaiserdiskurs
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2. Biographie als Hierarchiekonstituierung der Respublica litteraria: Einschreibung Petrarcas in den Suetonischen Kaiserdiskurs Ein konstituierendes Merkmal des Suetonischen Kaiserdiskurses ist die wichtige Rolle, die in den thematischen Rubriken dem Privatleben zugeteilt wird. In der Augustus-Biographie erfährt der Leser unter anderem, wie sich der Kaiser im Umgang mit Familienmitgliedern und Freunden verhielt, welche Wohnungen, welche Einrichtung er vorzog, welche literarischen und wissenschaftlichen Neigungen er besaß, und er wird über Augustus’ Eßgewohnheiten, Freizeitgestaltung, Liebesleben, Aussehen, körperliches Befinden einschließlich seiner Krankheiten und besonderen Körpermerkmale informiert: Wie sparsam Augustus in Mobiliar und Hausgerät war, erkennt man an den noch heute erhaltenen Ruhebetten und Tischen. Das meiste davon ist kaum für einen Privatmann elegant genug. Selbst das Bett, in dem er schlief, soll niedrig und sehr bescheiden gepolstert gewesen sein. Er trug fast nur einfache Kleider fürs Haus, die von seiner Schwester, Gattin, Tochter oder seinen Enkelinnen angefertigt wurden. Seine Toga war weder zu eng noch zu weit; der Purpurstreifen daran war nicht zu breit und nicht zu schmal, dagegen trug er etwas hohes Schuhwerk, um größer als in Wirklichkeit zu erscheinen […] Was Augustus an Speise zu sich nahm – denn auch das möchte ich nicht unerwähnt lassen –, war überaus wenig und bestand meist nur aus Hausmannskost. Schwarzbrot, Sardinen, handgepreßter Kuhkäse und frische Feigen von der Sorte, welche zweimal im Jahr Früchte tragen, waren seine Lieblingsgerichte. Dabei pflegte er auch vor der Hauptmahlzeit zu jeder Zeit und überall, sobald er Appetit verspürte, zu essen. Er sagt darüber einmal in seinen Briefen wörtlich: „Wir haben im Wagen etwas Brot und Datteln genossen […]“ und an einer anderen Stelle: „Auf der Rückkehr von der Regia nach hause habe ich in meiner Sänfte eine Unze Brot mit einigen hartschaligen Weinbeeren gegessen […]“ Sein Äußeres zeichnete sich durch eine hervorragende Schönheit und in jedem Alter durch große Anmut aus, obwohl er alle Toilettenkünste verschmähte. Die Pflege seines Haars war ihm so gleichgültig, dass er sich dies in Eile von mehreren Friseuren zugleich schneiden und den Bart bald mit Schere, bald mit dem Messer abnehmen ließ. Hierbei pflegte er stets etwas zu lesen oder zu schreiben […] Seine Augen waren hell und glänzend […] Im Alter aber sah er mit dem linken weniger scharf. Seine Zähne standen weit auseinander, sie waren klein und schadhaft; sein Haar etwas gelockt und dunkelblond, die Augenbrauen zusammengewachsen, die Ohren mittelgroß; seine Nase oben etwas vorspringend, unten leicht gebogen […].9
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Sueton, Divus Augustus 73, 76 und 78; Übersetzung nach Sueton. Cäsarenleben. Neu herausgegeben und erläutert, mit einer Einleitung von R. Till (Kröners Taschenausgabe 130), Leipzig 1936, 134–137.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
Welchen diskursiven Sinn hat das Private in den Kaiserbiographien? Warum konzentrierte sich Sueton nicht auf das innen- und außenpolitische Auftreten des Kaisers? Er ging davon aus, dass im politischen System des Prinzipats der private Haushalt des Kaisers einen geradezu universalen Einfluss hatte; dass das Römische Reich de facto von einem Individuum regiert wurde, dessen persönliche Vorlieben, Geschmack und Marotten den Regierungsstil bestimmten. Sueton konnte auf eine außerordentlich interessierte Leserschaft rechnen. Nicht zuletzt deshalb konnte er seine Angaben in einem trocken-zurückhaltenden und sachlichen Stil vortragen, der sich weitgehend des wertenden Kommentars enthielt.10 Damit war zugleich eine politische Lektion verbunden: Genaue Kenntnisse über das Privatleben des Kaisers waren außerordentlich nützlich für den Umgang mit dem Kaiser. Dieses Wissen sollte man geschickt und behutsam anwenden, indem man dem Kaiser durch Akzeptanz desselben zu behagen versuchte. Dass Boccaccio den Diskurs der Kaiserbiographien auf einen Privatmann und Schriftsteller übertrug, scheint zunächst ein kurioser Diskurswechsel zu sein. Inwiefern konnte dies akzeptabel sein? Auf den ersten Blick wirkt es unsinnig, einem Privatmann die Macht eines Römischen Kaisers zuzusprechen, der mit dem Heben seiner Augenbrauen Existenzen machen oder zerbrechen konnte. Jedoch traf merkwürdigerweise gerade letzteres zu. Petrarca konnte, jedenfalls nach Boccaccios Ansicht, Existenzen machen oder zerbrechen. Humanistenzirkel wie in Neapel gab es auch in Köln, Mailand, Avignon, Prag, Florenz, Verona, Ravenna, Venedig, Paris usw. Die Neuformation der Bildung, die Petrarca initiiert hatte, war nicht nur europäisch dimensioniert, sondern zudem hierarchisch strukturiert, mit Petrarca selbst als Spiritus regens und hierarchischem Oberhaupt. Wer der neuen literarischen Sekte zugehören wollte, konnte dies am besten auf dem Weg einer Approbation durch Petrarca erreichen. Wem Petrarca den Zugang verweigerte, der hatte kaum eine Chance, von der neuen humanistischen Respublica litteraria anerkannt zu werden. Auf diese Weise kam Petrarca eine Machtposition zu, die man mit der eines Römischen Kaisers vergleichen konnte. Er regierte monarchisch über das neu aufkeimende humanistische intellektuelle Leben. Es war höchst sinnvoll, seine persönlichen Vorlieben, Geschmack und Marotten zu kennen. Wie sollte man ihn behandeln und bewirten, wenn man 10
Siehe die Arbeit des Verf. „Biographisches Werten und biographische Ambiguität“.
Einschreibung in den Suetonischen Kaiserdiskurs
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ihn zu sich einlud? Im Brief an die Nachwelt, der Boccaccios Biographie weiterspinnt, gibt Petrarca einschlägige Hinweise: Aus exquisiten Speisen habe ich mir nie etwas gemacht – mit einfachen und gewöhnlichen Nahrungsmitteln habe ich stets angenehmer gelebt als alle Jünger des Apicius mit der erlesensten Feinkost. Die sogenannten Bankette – in Wirklichkeit handelt es sich um Fress- und Saufgelage, die der Bescheidenheit und Sittlichkeit schaden – haben mir nie zugesagt. Zu diesem Zweck einzuladen oder eingeladen zu werden, erschien mir immer beschwerlich und nutzlos. Mit Freunden zusammen ein bescheidenes Mahl einzunehmen habe ich jedoch immer als so angenehm erfahren, dass mich nichts mehr erfreute als die Ankunft eines Freundes und ich niemals gerne ohne Tischgenossen mein Essen zu mir nahm. Dabei war mir nichts so zuwider wie Tafelluxus, nicht nur weil er moralisch verwerflich ist und einen Gegensatz zur Schlichtheit bildet, sondern auch weil er Umstände macht und Unruhe ins Haus bringt.11
Der Leser kann daraus entnehmen, dass sich Petrarca ähnlich betrug wie Kaiser Augustus. Das Statement korrespondiert mit dem Anspruch, der auch sonst aus dem Brief an die Nachwelt hervorgeht. Indem Boccaccio nunmehr Petrarcas Leben in den Diskurs der Suetonischen Kaiserbiographien einschrieb, tat er etwas, was seines Erachtens dem intellektuellen Monarchen höchst willkommen sein würde: Er bestätigte und bekräftigte den Machtanspruch des gerade erst gekrönten poeta laureatus. Durch seine Dichterkrönung, die im symbolischen Zentrum der irdischen Macht, auf dem Kapitol in Rom, stattfand, hatte sich Petrarca als offiziell beglaubigtes gekröntes Haupt der humanistischen Respublica litteraria konstituiert. In der Krönungsrede (collatio laureationis) erklärte er die Symbolik eingehend. Als wichtigstes Krönungssymbol fungierte nicht zufällig der Lorbeerkranz – er war, wie Petrarca dort stolz bemerkt, auch von den Römischen Kaisern der Antike getragen worden.12 Für Boccaccio war der hierarchische Anspruch ein ganz wesentlicher Punkt seiner Petrarca-Biographie – die Dichterkrönung bildet den Darstellungsschwerpunkt der chronologischen Lebenserzählung, wie unter anderem aus einer Analyse des Verhältnisses der Erzählzeit zur erzählten Zeit hervorgeht: Die Beschreibung der Dichterkrönung weist die mit Abstand größte Erzähldichte auf. Außerdem ist die gesamte chronologische Lebenserzählung bei Boccaccio teleologisch auf das Endziel der Dichterkrönung ausgerichtet. 11 12
Epistola posteritati (ed. Enenkel) 5; der lateinische Text wurde oben, S. 82, zitiert. Collatio laureationis (ed. Godi) 11, 1 „Der Lorbeerkranz also, der sowohl den Kaisern als auch den Dichtern gebührt […]“ („Laurea igitur, et cesaribus et poetis debita […]“).
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Boccaccios Petrarca-Biographie
3. Umbruch des Suetonischen Diskurses: rhetorisches Personenlob Suetons Kaiserdiskurs erweckt durch seinen Detailreichtum, durch die Nähe, welche mit Hilfe der präzisen Darstellung des Privatlebens erzielt wird, sowie durch seine sachliche und informative Präsentationsweise, welche Werturteile vermeidet, den Eindruck höchster Authentizität. Boccaccio folgt Sueton in Bezug auf die ersten Punkte, weicht jedoch, was die Präsentationsweise betrifft, auffällig von ihm ab. Seine PetrarcaBiographie ist mit Wertungen durchtränkt. Dieser Tatbestand lässt sich nicht als weiter unbedeutende Nebensächlichkeit abtun. Obwohl auch Boccaccio das Privatleben behandelt und Details liefert, entsteht ein völlig anderer Gesamteindruck. Der Suetonische Diskurs hat bei Boccaccio eine folgenreiche Umbeugung, ja einen Umbruch erfahren. Als Beispiel möge folgender Abschnitt dienen: Sein (Petrarcas) Vortrag ist einnehmend und geistreich; dennoch ergreift er selten das Wort, wenn man ihn nicht zuerst anspricht; dann antwortet er jenen, die ihn fragen, freilich mit in angemessenem Ernst wohldurchdachten Worten, so dass er sogar völlig ungebildete Leute zu fesseln versteht und sie in einer sich über längere Zeiträume hin erstreckenden Rede sozusagen in seinen Netzen gefangen hält, ohne dass sie irgend Langeweile oder Überdruss verspüren, ja im Gegenteil, so dass sie sogar einen vielfältigen Genuss fühlen – in solchem Maße, dass manche Zuhörer eingestehen, es sei eine wahre Geschichte, dass die Schiffe der Gefährten des Odysseus aufgrund der Gesänge der Sirenen versanken, während sie bemerken, dass sie von der Süße dieses Vortrags irgendwie behext wurden. Und es gibt andere Leute, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die nämlichen Bienen, die sich einst Plato und Ambrosius, als sie noch Knäblein waren, im Schlaf auf die Lippen gesetzt und sie mit Nektar benetzt hatten, sich auch ihm (Petrarca), als er ein Knäblein war, gesättigt von Delphis Thymianblüten, auf die Lippen setzten […]. Ja, darüber hinaus – was wunderbar zu sagen ist – war seine rhetorische Kraft bei allen so wirkungsvoll, dass die persönliche Anwesenheit, die sonst berühmten Menschen etwas von ihrem Ruhm abzunehmen pflegt, diesen bei ihm noch erhöhte, so sehr, dass geradezu das Gegenteil der Fall zu sein schien […] Und was soll ich von seinem Geist sagen? Es gab nichts, das er nicht verstand, nichts, worüber er im Zweifel gewesen wäre; alles war ihm sonnenklar und deutlich […]. Was sein Gedächtnis betrifft, muss man ihn eher für göttlich denn für menschlich halten […]. Prolatione placidus et iocosus, sed rara locutione utitur nisi interrogatus, et tunc verba debita gravitate pensata sic interrogantibus profert in patulo, ut ad audiendum attrahat etiam idiotas, et eosdem per longissima spacia durante sermone sine tedio, imo cum delectatione multiplici, ut ita loquar, teneat irretitos in tantum, ut sint, qui hunc audiendo concedant verum a cantibus Sirenarum sociorum ducis Naricii naves fuisse submersas, dum se a dulcedine prolationis istius quodam-
Umbruch des Suetonischen Diskurses: Personenlob
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modo comperiant fore captos. Et alii sunt, qui firma teneant fide, quod eedem apes, que Platoni Ambrosioque dormientibus parvulis melle labia delinirunt, huic timo cyrrhensi sature etiam parvulo delinissent. […] et ultra, quod est mirabile dictu, in tantum [aliis] sua prevalet affabilitas inter cunctos, ut, quos ceteris solet famosis sue fame presentia derogare, huic auget, ut apparet, eo, quod de eo contrarium evenisse quam pluries iam est visum. […] Quid de ipsius ingenio referam? Nil ei ambiguum, nil obscurum, sed omnia illi patent clara lucida aperta. […] Memoria vero illum divinum potius quam humanum autumo reputandum […].13
Zunächst erscheint dem modernen Leser eine derartige Darbietungsweise maßlos übertrieben. Sie fordert ihn dazu heraus, den Biographen der unkritischen Haltung gegenüber seinem Gegenstand zu bezichtigen. Die Irritation, die sich aus der ungebremsten Bewunderung ergibt, wird durch die mythologischen (Sirenen) und mystifizierenden historischen Vergleiche (Bienen auf Platos und Ambrosius’ Lippen) noch erhöht: Der Biographisierte wird in die Regionen des Übernatürlichen bzw. der weit entfernten Antike versetzt. Dies zusammengenommen mit universalistisch-hyperbolischen Formulierungen wie „es gab nichts, das er nicht verstand, alles war ihm sonnenklar“ oder „was sein Gedächtnis betrifft, muss man ihn eher für göttlich denn für menschlich halten“ entfernt sich der Text von den Anforderungen, welche der moderne Leser an eine Biographie stellt. Dieser geht davon aus, dass eine Biographie in Bezug auf Methodik, Grundlagenforschung und Präsentationsweise einem aus der Geschichtswissenschaft sich ableitenden Standard entsprechen soll. Man setzt voraus, dass der Biograph gründliche Quellenrecherchen betreibt sowie, dass er das Quellen- und Archivmaterial kritisch benutzt und nuanciert betrachtet. Boccaccios biographischer Diskurs ist nicht nach diesen Regeln eingerichtet. Obwohl er die Erfahrungen von ‚Augenzeugen‘ vorschiebt, ist der Inhalt dieser Erfahrungen wenig konkret, ja geradezu wirklichkeitsfremd. Es soll Augenzeugen gegeben haben, die, als sie Petrarca reden hörten, eingestanden, „es sei eine wahre Geschichte, dass die Schiffe der Gefährten des Odysseus aufgrund der Gesänge der Sirenen versanken“; es soll andere Augenzeugen gegeben haben, die die Geschichte, dass sich dem Knäblein Plato und dem Knäblein Ambrosius Bienen auf die Lippen setzten, bestätigten, als sie Petrarca reden hörten. Diese Inhalte sind literarische Gemeinplätze, die Humanisten anwendeten, um die übernatürliche, bezaubernde Kraft der rhetorisch wohltemperierten Rede zu 13
Boccaccio, De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 260–261.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
bekräftigen. Derartiges konnte jeder Intellektuelle, der mit der Tradition des klassischen Altertums vertraut war, denken, und zwar, ohne dass er Petrarca je reden gehört hätte. Aus der Darstellung Boccaccios lässt sich nicht ableiten, dass er tatsächlich Recherchen in Gestalt von Interviews veranstaltet hätte. Die vage Ungenauigkeit seiner Behauptungen ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass er seine ‚Augenzeugen‘ weder namentlich benennt noch sonst spezifiziert. Vergleicht man Boccaccios diskursive Textorganisation mit der Suetons, so ergeben sich gravierende Unterschiede. Suetons Detailangaben sind konkret und zeigen, selbst wenn ihr Inhalt bizarr ist, dass sie auf Quellenrecherchen beruhen. Boccaccios Detailangaben hingegen fördern Gemeinplätze und vage Werturteile zu Tage. Die Behauptung, dass sich auch auf Petrarcas Lippen Bienen setzten, die „von Delphis Thymianblüten gesättigt“ gewesen sein, entzieht sich der Lebenswirklichkeit sowohl Petrarcas als auch des Neapolitaner Humanistenkreises. Das griechische Delphi war in der Luftlinie ungefähr 1000 km von Petrarcas Geburtsort Arezzo entfernt, keine Biene konnte von dort in die Toscana gelangen. Die Ortsangabe „Delphi“ besitzt ausschließlich symbolischen Wert. Delphi ist der Ort des antiken Apollo-Heiligtums. Wenn sich dem Knäblein Petrarca Bienen aus Delphi auf die Lippen gesetzt haben sollen, so will das sagen, dass er ein berühmter Dichter werden würde. Der Hinweis auf den antiken Mythos (Odyssee) verstärkt dieses Bild. Es geht hier um ein Darstellungsmittel des rhetorischen Personenlobes, um die mythologische und historische comparatio. Sueton hat darauf sowie auf andere Darstellungsmittel des rhetorischen Personenlobes verzichtet. Allerdings stellt er diesbezüglich in der antiken Literatur eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Vielleicht ist sie erst durch die Tatsache ermöglicht worden, dass alle Kaiser, die er behandelte, bereits gestorben waren. Für Boccaccio, der nicht an das Regelsystem, das die moderne Geschichtswissenschaft dem Biographen auferlegt, noch an eine sklavische Nachahmung des Suetonischen Diskurses gebunden war, war entscheidend, dass man eine Biographie prinzipiell als soziale Handlung betrachtete, für die die Spielregeln des sozialen Dekorums grundlegend waren. Eine distanzierte, neutrale Präsentationsweise barg die Gefahr in sich, diese Spielregeln zu verletzen. Gehen wir von obigem Textbeispiel aus: Als Fakten kann man herausschälen, dass Petrarca großen Wert darauf legte, sich gewählt auszudrücken, sowie dass er sich gerne dazu bitten ließ. Wenn man dies in die Suetonische, wertungsarme Darstellungsart
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überträgt, ergibt sich etwa: „Petrarca legte großen Wert darauf, sich in rhetorisch geschliffener Weise auszudrücken und wohldurchdachte, gewichtige Argumente vorzubringen. Dabei zog er es vor, nicht selbst das Wort zu ergreifen, sondern sich bitten zu lassen […].“ Diese Darstellungsweise hätte bei zeitgenössischen Lesern zwiespältige Gefühle aufgerufen. Es war nicht klar, wie der Biograph dem Objekt seiner Darstellung gegenüberstand. Der irritierende Eindruck lag auf der Lauer, dass der Biograph den Helden seiner Darstellung auf subtile Weise verunglimpfen oder vielleicht sogar verleumden – ihm somit das soziale Dekorum aberkennen wollte. Zum Beispiel legt die Betonung der Intention die Vermutung nahe, dass der Biograph suggerieren wollte, Petrarca sei ein eingebildeter und eitler Mann gewesen. Auf welche Weise konnte der frühmoderne Biograph das erforderliche Dekorum herstellen? Diesbezüglich war er auf das Regelsystem des aus der Antike tradierten rhetorischen Personenlobes angewiesen. Die Rhetorik war in der Antike die zentrale Schaltstelle, welche das soziale Dekorum generierte (laudatio) oder eben vernichtete (Invektive). Sie richtete sich auf die Öffentlichkeit und konstituierte vor den Augen der Res publica (Staat) ein Bild gewisser Mitglieder derselben. Das rhetorische Personenlob war ein ganz wesentlicher Bestandteil der Kunst des römischen Redners. Es war an strenge Regeln gebunden, die der Redner bereits im Schulunterricht erlernte. Dem entspricht, dass es in den Rhetorikleitfäden, die uns aus der römischen Antike überliefert sind, jeweils grundlegend behandelt wird. Als Beispiel möge der Rhetorikleitfaden des Meisterpädagogen Quintilian, die Institutio oratoria (Ausbildung des Redners), dienen. Der folgende Abschnitt bietet einen illustrativen Einblick in die inventio des Redners: Mehr Mannigfaltigkeit (als andere Gegenstände) weist das Lob von Personen auf. Denn zunächst lässt es sich in verschiedene Zeitabschnitte gliedern: in die Zeit, die der Geburt der betreffenden Person vorausging, und die, in der sie selbst lebten; bei denen, die bereits verstorben sind, auch noch die Nachwelt. Zur ersten Kategorie gehören Vaterland, Eltern und Vorfahren, die auf völlig verschiedene Arten behandelt werden können: Entweder kann man es als eine bewundernswerte Leistung darstellen, sich einer adligen Herkunft würdig bezeigt zu haben, oder aber, eine unbekannte Familie durch seine Taten berühmt gemacht zu haben […]. Das Lob der betreffenden Person selbst muss man aus ihrem Geist, Körper oder von äußeren Umständen her gewinnen. Hierbei ist das, was sich auf den Körper und die äußeren Umstände bezieht, zwar weniger ergiebig, kann aber dennoch auf verschiedene Weise ausgewertet werden; denn zuweilen ist es die Schönheit und Kraft, die wir als Lobargumente verwenden, wie Homer in bezug auf Agamemnon und Achill, zuweilen aber erweckt gerade ein schwächlicher Körper viel
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Boccaccios Petrarca-Biographie Bewunderung, wenn etwa derselbe Dichter von Tydeus sagt, er sei zwar klein gewesen, aber ein großer Kämpfer. Die Gaben des Glücks (äußeren Umstände) tragen zu Ansehen und Würde von Personen bei, zum Beispiel im Fall von Königen und Herrschern – denn in reicherem Maße bietet sich hier der Stoff, Tüchtigkeit darzustellen; je geringer aber die Mittel gewesen sind, um so größerer Ruhm lässt sich aus ihnen für die hervorragenden Taten des Helden gewinnen. Freilich lobt man das, was von äußeren Umständen abhängt und was dem Menschen durch Zufall zuteil geworden ist, nicht um seiner selbst willen – weil sie die betreffende Person besessen hat –, sondern weil sie sich dieser Glücksgüter auf moralisch einwandfreie Weise bedient hat […]. Das Lob des Geistes ist jedoch immer das eigentliche und echte Lob, doch auch dieses lässt sich auf mehrere Arten erzielen […].14
Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, dass man das Personenlob, insbesondere die Erfindung der Lobargumente, in der Antike als eine an bestimmte Regeln gebundene Kunst betrachtete. Je kunstvoller, je regelgerechter die Lobargumente gestaltet waren, auf desto mehr Zustimmung und Akzeptanz konnte ein Lobtext rechnen. Dadurch entstand ein ungeheuer weiter Spielraum für den Redner. Das Publikum goutierte nicht die Faktentreue, sondern vielmehr die Kreativität, mit der sich der Redner in diesem Raum fortbewegte. Das Regelsystem des rhetorischen Personenlobes war einer der wichtigsten Diskurse, welche die spätmittelalterlichen Intellektuellen aus der Antike übernahmen. Wenn Personen in Prosatexten dargestellt werden sollten, war dieses Regelsystem stets abrufbereit, besonders, wenn es sich um offizielle Biographien handelte. Man könnte sogar behaupten, dass ein spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Biograph der Entscheidung, mit welcher Tendenz er seinen Gegenstand behandeln, ob er ihn loben oder tadeln solle, kaum aus dem Wege gehen konnte. Wenn wir die Ausgangslage von Boccaccios Petrarca-Biographie berücksichtigen, wird dies eigentlich von vorneherein klar: Die Biographie sollte den monarchischen Anspruch des Anführers der neuen Intellektuellen bestätigen, und zwar vor einem Publikum von Gleichgestimmten und geistigen Mitstreitern – jenem Kreis, dem Boccaccio nur allzu gern angehören wollte. Welchen Sinn hätte zu diesem Zweck eine nüchterne, neutrale oder kritische Betrachtung gehabt? Boccaccio hätte damit sein Lesepublikum, einschließlich Petrarca selbst, nur vor den Kopf gestoßen und
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Quintilian, Institutio oratoria III, 7, 10–15; Übersetzung (mit Änderungen) nach H. Rahn aus: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. und übers. von H. Rahn, Darmstadt 1995 (3), Bd. I, 353.
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sich das Odium eines böswilligen Kritikasters, der sich sozial ausgrenzt, zugezogen. Es war somit von vorneherein klar, dass Boccaccio einen Darstellungsmodus wählen musste, der dem Regelsystem der Lobrede (laudatio; encomium) entsprach. Wenn wir Boccaccios Petrarca-Biographie verstehen wollen, ist es erforderlich, sie von diesen Vorgaben her zu analysieren. Wenn man sich diese Ausgangspunkte vergegenwärtigt, wird man nicht überrascht sein, wenn sich die Biographie nicht als das Resultat genauer historischer Recherchen herausstellt. Die erforderliche Arbeitsweise – die kunstvolle, kreative Anwendung der Lobtopik – legt geradezu eine gewisse Nachlässigkeit in Bezug auf sachliche Details nahe. Hiervon lassen sich in der Tat einige Beispiele beibringen. So gibt Boccaccio unrichtigerweise an, dass Petrarca seinen ersten Schulunterricht in Avignon erhielt (richtig wäre: Carpentras),15 dass er sein Universitätsstudium in Bologna anfing (richtig: Montpellier),16 dass er einen Mäzen mit dem Namen Pietro Colonna (richtig: Iohannes/Giovanni de Columna) hatte.17 Man mag diese historischen Unrichtigkeiten als störend empfinden; sie zeigen aber nicht an, dass Boccaccio seine Aufgabe schlecht gelöst hat. Denn für die Hauptaufgabe, die kunstvolle und kreative Anwendung der Lobtopik auf die Person Petrarca, waren diese Details unwichtig. Wie wenig Wert auf Quellenrecherchen gelegt wurde, ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass der Text sogar das Geburtsjahr Petrarcas unrichtig wiedergibt (1307 statt 1304).18 In dem Diskurs, in dem sich Boccaccio bewegte, war Dokumentierung völlig nebensächlich. 15
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Boccaccio, De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 254; ed. Massera, 238. Boccaccio, De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 254–255; ed. Massera, 238–239. Boccaccio, De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti S. 257; ed. Massera, 240: „Petri de Columna cardinalis“. Die falsche Angabe von Petrarcas Geburtsjahr (1307 statt 1304) könnte auch auf das Konto der handschriftlichen Überlieferung gehen. Jedoch tritt in Boccaccios Text derselbe Irrtum an zwei von einander unabhängigen Stellen auf: am Anfang der Vita und bei der Altersangabe im Hinblick auf die Dichterkrönung (Petrarca im 34. statt im 37. Lebensjahr; Boccaccio, De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 253 und 258; ed. Massera, 238 und 241). Dieser Befund deutet darauf hin, dass der Fehler von Boccaccio stammt. Massera (364) hat diesen Umstand bei seinem Versuch, Boccaccio zu ‚retten‘, nicht berücksichtigt.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
Boccaccios Petrarca-Biographie lässt sich am besten ‚von innen heraus‘ verstehen, indem man die rhetorischen Konstruktionsschritte mitverfolgt, mit denen sie erstellt wurde: Welche topischen Regeln die Konstituierung der Person bestimmten, welche Probleme sich dabei ergaben und welche Argumente Boccaccio zu ihrer Lösung ‚(er)fand‘. Dies soll anhand einiger Beispiele exemplarisch gezeigt werden. Wie unter anderem aus Quintilians Vorschriften für das rhetorische Personenlob ersichtlich wird, war zur Konstituierung einer Person zunächst eine passende Behandlung ihrer Abstammung/Herkunft (Familie – Eltern – Vaterstadt) erforderlich. Dabei ging man davon aus, dass eine hervorragende Abstammung auf die gelobte Person abstrahle und zur Erstellung ihres sozialen Dekorums beitrage. Im Fall Petrarcas besagten die Fakten ‚leider‘ nur, dass er von Bürgern abstammte. Dabei wurde der Biograph weiter mit dem Problem konfrontiert, dass der Vater verbannt worden war und Petrarca nicht in der Vaterstadt, sondern in dem eher unbedeutenden toskanischen Städtchen Arezzo geboren worden war. Ein Verbannter hat sein Bürgerrecht verloren, ist vaterstadtlos – der Lobbiograph entdeckt, dass er auf ein Minenfeld geraten ist. Wie entschärft er das gefährliche Material? Boccaccio betrachtete die Fakten als so unpassend, dass er ihnen gegenüber eine größere Kreativität für angebracht hielt. Taktisch erschien es ihm wesentlich, sowohl den Vater als auch die Vaterstadt Florenz zu ‚retten‘. Zu diesem Zweck leugnete er den Tatbestand der Verbannung: Der Vater Ser Petraccho habe sich nicht an der Verschwörung beteiligt. Nachdem einige Männer aus seinem Bekanntenkreis beschuldigt worden waren, sei Ser Petraccho mit seiner Familie freiwillig ins Exil gegangen.19 Letztes stellt eine freie Erfindung Boccaccios dar, um den Topos des rhetorischen Personenlobes Abstammung/Herkunft zu seiner vollen Wirkungskraft bringen zu können. Da der Vater in Boccaccios biographischer Neukonstituierung seine Heimat nicht verloren hat, ist die berühmte Stadt Florenz gemäß der Lobtopik einsetzbar. Boccaccio erweiterte die Lobwirkung von Florenz durch die superlativische Bestimmung „die reichste Stadt Etruriens“.20 Wer „aus der reichsten Stadt Etruriens“ stammt, hat einen Dekorum-Vorsprung gegenüber dem Knäblein, das irgendwo in der Provinz zur Welt kommt. Auch den sozialen Status von
19 20
Ebd. De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 253; ed. Massera, 238.
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Petrarcas Elternhaus konstituierte Boccaccio neu, indem er den Vater als Adligen bezeichnet.21 Wie Quintilian in seiner Darlegung des Personenlobs angibt, soll man für das Kindesalter andere Eigenschaften hervorheben als für das Erwachsenenalter. Lobenswerte Eigenschaften des Kindes- und Jünglingsalters stellen im Regelwerk der Rhetoriktraktate gute Anlagen, Lernwilligkeit, Fleiß und Ausdauer dar. Diesbezüglich hatte Boccaccio leichtes Spiel. Auf negatives Material hatte der Leser ohnehin keinen Zugriff. So kann Boccaccio ganz einfach Petrarcas ungeheuren Fleiß, den er bei seinem Jura-Studium an den Tag gelegt haben soll, preisen: „Unausgesetzt“ habe er die Gesetzestexte studiert, so dass der Dichtergott Apoll schon befürchten musste, er werde seinen Jünger verlieren – während diese Furcht bekanntlich ziemlich unbegründet war. Nachdem das Individuum den Lernprozess mit Fleiß und Ausdauer hinter sich gebracht hat, soll es, indem es das Erlernte in die Tat umsetzt, seine Tugend zeigen. In diesem Sinne schreiben die Rhetoriktraktate vor, dass bei der Darstellung des Erwachsenenalters tugendhafte Taten im Vordergrund stehen sollen. Die Schwierigkeit, die sich bei einem Schriftstellerleben ergibt, ist, dass ein Tatenbericht im eigentlichen Sinn nicht erbracht werden kann. Boccaccio fand hier zwei Lösungen: Erstens stellte er Petrarcas Rückzug in die Vaucluse als moralische Großtat dar, zweitens setzt er die Produktion literarischer Werke mit militärischen Heldentaten gleich. Gedankenfiguren, die höchstes Lob erzeugen, ergeben sich weiter aus der Feststellung, dass der Gelobte in irgendeiner Hinsicht einzigartig sei oder als erster bestimmte Leistungen erbracht habe. Boccaccio hat die letztgenannte Gedankenfigur bei der Darstellung der Dichterkrönung angewendet: Petrarca wäre der erste gewesen, sagt er, der seit dem römischen Epiker Statius zum Dichter gekrönt worden sei. Auch hier setzt sich die Anwendung der rhetorischen Regel leicht über die historischen Fakten hinweg: Tatsächlich waren vor Petrarca Albertino Mussato (am 3. 12. 1315), Dante (September 1321, posthum) und übrigens auch Petrarcas Lehrer Convenevole da Prato (1336) zu Dichtern gekrönt worden.22 Diese Beispiele sollten zeigen, auf welche Weise der Petrarca von Boccaccios Biographie durch den Diskurs des rhetorischen Personenlobes 21
22
De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 254; ed. Massera, 238. Vgl. Wilkins, „The Coronation of Petrarch“, 114–116 (Mussato); 117–118 (Dante); 118–119 (Convenevole da Prato).
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Boccaccios Petrarca-Biographie
konstituiert wurde. Nichts beruht hier auf einfacher Faktentreue, vielmehr stellt sich die Person in ihrer prinzipiellen Machbarkeit als Konstrukt heraus. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass Boccaccio Petrarca Geschichten wie Kleider anlegte, bis sie optimal zu dem rhetorischen Verwendungszweck der Biographie ‚passten‘.
4. Gesichter wie Kleider. Die Manipulation des Äußeren durch Intertextualität In Boccaccios Biographie findet sich eine Beschreibung von Petrarcas Aussehen.23 Dieses Darstellungsmittel scheint nach dem modernen Biographieverständnis, das an Bildbeigaben gewöhnt ist, von vorneherein plausibel. Man will wissen, wie der Biographisierte ausgesehen hat, am liebsten in verschiedenen Lebensphasen usw. Dabei geht man davon aus, dass photographische Beigaben ein realistisches Bild der betreffenden Person vermitteln. Da in der Zeit Boccaccios die graphischen Reproduktionsmöglichkeiten, die das gedruckte Buch bereitstellt, nicht vorhanden waren, kann man sich vorstellen, dass er zum geschriebenen Wort als Medium zur Wiedergabe des Äußeren griff. Wenn man das Porträt, das Boccaccio von Petrarcas Aussehen erstellte, in dieser Diskursivität liest, erzeugt es jedoch Befremden: Boccaccios Angaben bewirken nicht, dass uns Petrarca – von dem uns übrigens eine Reihe gemalter und gezeichneter Porträts überliefert sind24 – vor Augen steht. Die Angaben wirken äußerst schematisch, ja sogar unspezifisch, z. B. dass Petrarca „harmonische Glieder“ und eine gemischte Gesichtsfarbe besessen haben soll. Die Mitteilung, dass sein Gesicht „rund“ („facies rotunda“) gewesen sei, klingt rätselhaft. Es erscheint fraglich, ob Boccaccio mit seinem ‚Porträt‘ eine realistische Abbildung von Petrarcas Aussehen beabsichtigte. Dies ist in der Tat nicht der Fall. Nicht einmal wenn es um die Abbildung des Äußeren geht, erfüllen die Texte hermeneutische Authentizitätserwartungen bzw. rechtfertigen eine naive Lektüre. Die Wirkung, die Boccaccios Porträt beim frühneuzeitlichen Leser hervorruft, ergibt sich aus seiner intertextuellen Verankerung. Schon von der Tatsache als sol23
24
De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 256; ed. Massera, 242. Zu den Porträts Petrarcas vgl. J. B. Trapp, Studies of Petrarch and his Influence, London 2003, den ersten Abschnitt „Petrarch Illustrated“.
Gesichter wie Kleider
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cher, dass ein Porträt des Äußeren vorhanden ist, geht ein intertextueller Fingerzeig aus. Denn die moderne Leseerwartung, die eine gewissermaßen natürliche Berechtigung von Bildbeigaben in Biographien voraussetzt, trügt. Weder die Biographie der Antike noch des Mittelalters weist eine Diskursregelung auf, die die Beschreibung des Äußeren als standardisiertes Darstellungsmittel einfordert. Die Darstellung des Äußeren bzw. des Körpers verweist vielmehr geradewegs auf Suetons Biographik. Der frühneuzeitliche Leser war leichthin imstande, diese intertextuelle Anbindung zu erkennen. Dabei erinnerte er sich im Besonderen an die Suetonische Vergil-Vita, die am weitesten verbreitete antike Schriftsteller-Vita, da sie stets mit den Werken des berühmtesten römischen Dichters mitüberliefert wurde. Aus dieser intertextuellen Anbindung ergibt sich die grundsätzliche Leseanleitung: Der Biographisierte ist ein Schriftsteller vom Format des Vergil, ein hochberühmter Dichter. Aufgrund dieser intertextuellen Anbindung besitzt die Darstellung des Äußeren eine statusbestimmende Wirkung. Weiter führt die Anbindung zu einer tatsächlichen Identifizierung mit Vergil: Petrarca sei Vergil. Boccaccio geht darin weiter, als die Konstatierung der Petrarkischen Vergilnachahmung (Petrarca schrieb wie sein Vorbild ein römisches Nationalepos) erfordert hätte. Er behauptet, dass Petrarca („falls die Lehre des Pythagoras richtig ist“) die Reinkarnation Vergils sei.25 Der springende Punkt ist natürlich nicht die Kautel, sondern die Reinkarnationsbehauptung selbst, wohlgemerkt in einem intellektuellen Kontext, in dem die Reinkarnationslehre als ketzerisch abgelehnt wurde. Die Reinkarnationsbehauptung bewirkt, dass die Darstellung des Äußeren zu einem intertextuellen Problem und gleichzeitig zu einem Diskursproblem gerät. Denn die Diskursvorgabe Boccaccios – die Biographie eines zeitgenössischen, lebenden Dichters im Kontext seiner Verherrlichung durch die Respublica litteraria zu erstellen – brachte bestimmte Anforderungen an das Dekorum mit sich, die sich nur mit Hilfe der Anwendung eines lobenden Darstellungsmodus lösen ließen. Das bedeutet, dass der Biograph unvorteilhafte oder hässliche Körpermerkmale nicht vorbringen durfte. Sueton war in seiner Vergil-Biographie nicht an diese Vorgaben gebunden, Vergil hatte längst das Zeitliche gesegnet und Sueton schrieb auch nicht ‚von innen heraus‘, etwa als Dichterkollege. Deshalb fühlte 25
De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 256; ed. Massera, 242.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
er sich berechtigt, nach Belieben realistische Elemente einzubringen. Vergil habe demnach eine sehr dunkle, dunkelbraune Gesichtsfarbe besessen, ja er sei „schwarz wie Tinte“ („aquilo colore“) gewesen. Weiter sei die Form seines Schädels „bäurisch“ („facies rusticana“), d. h. „eckig“, unsymmetrisch, ungeschlacht, gewesen.26 Eine in den Vatikanischen Museen erhaltene Büste Vergils aus dem 1. Jh. n. Chr., deren Typus Sueton möglicherweise gekannt hat, vermag diese Angaben zu bestätigen. Das Gesicht ist völlig unsymmetrisch, seine äußeren Linien bilden eine Art Käsedreieck. Dadurch entsteht der Gesamteindruck eines hässlichen Gesichtes (Abb. 1). Durch die intertextuelle Anbindung stand dem frühneuzeitlichen Leser das hässliche Vergil-Gesicht mit dem „bäurischen Schädel“, der „schwarz wie Tinte“ war, vor Augen. Dies wirkte dem Dekorum, das Boccaccio mit seiner Lobbiographie Petrarcas erstrebte, entgegen. Boccaccio löste das Problem, indem er Suetons Text modifizierte und ‚berichtigte‘. Petrarca, die Reinkarnation Vergils, habe nicht denselben eckigen Bauernschädel, sondern runde Gesichtszüge besessen, wie sie dem Gebildeten ziemen. Das gleiche gilt für den dunkelbraunen Teint, den man mit der bäuerlichen Lebensweise assoziierte, während ein Intellektueller eine hellere Gesichtsfarbe haben sollte. Also mischt Boccaccio Petrarcas Gesichtsfarbe zu einem dezenteren Teint ab, der „männlich“ („quadam decenti viro fuscositate permixtus“), jedoch keineswegs „bäurisch“ wirkt. Boccaccios biographische Arbeitsweise lässt sich diesbezüglich nicht als realistisches ‚Abbilden‘, sondern als intertextuelles ‚Basteln‘ verstehen. Er stellt dadurch ein Gesicht her wie ein Kleid, welches dem diskursiven Dekorum-Anspruch der Lobbiographie entsprechen sollte.
5. Gewaltsame Neuinstallierung eines Diskurses: die Religion des Ruhmes Bei dem Leser des 14. Jahrhunderts, der mit dem Regelwerk der mittelalterlichen Biographik vertraut war, muss der Einleitungssatz der Petrarca-Biographie eine Art Schwindelgefühl hervorgerufen haben:
26
Vergil-Biographie 8.
Die Religion des Ruhmes
Abb. 1: Antike Vergil-Büste, Vatikan, Musei Vaticani.
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Boccaccios Petrarca-Biographie
Der Dichter Franciscus Petracchi, ein berühmter Mann, hervorragend durch seinen Lebenslauf, seine Gewohnheiten und durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse, erblühte unter Papst Benedikt XII. zu unermesslichem Ruhm, der sich über die ganze Erde erstreckte. Franciscus Petracchi poeta, vir illustris ac vita moribusque et scientia clarus sedente Benedicto XII pontifice maximo gloriosissima fama per orbem floruit universum.27
„Unermesslicher Ruhm, der sich über die ganze Erde erstreckte“ – will der Verfasser damit andeuten, dass diese Geschichte einen schlechten Ausgang hat? Faust-Gewitterwolken drohend aufrufen? Den spirituellen Untergang des Helden schon im Vorfeld einkalkulieren? Die obligatorische christlich-mittelalterliche Weltverachtung verbot eine solche Hervorhebung des Individuums. Ruhm (gloria) ist eine Kategorie, die sich auf das Spirituelle bezieht und dabei wesentlich Gott zukommt. Boccaccio installiert jedoch mit einem Gewaltstreich das Streben nach irdischem Ruhm von Anfang an als Grundregel seiner Biographie. Dem irdischen Ruhm verleiht er den Status einer religiösen Kategorie, die das Handeln des Menschen bestimmt. Das Ruhmstreben ist in dieser Diskursregulierung nichts weniger als ein sittlicher Imperativ. Die grundlegende moralische Frage, die der Mensch sich jeweils zu stellen hat, lautet: Was kann ich tun, um berühmt zu werden? Boccaccio konstituiert Petrarcas Leben so, als ob der Biographisierte in seinem Handeln immerzu von diesem Gedanken gesteuert worden sei. Zum Beispiel motiviert er Petrarcas Entschluss, sich in die Einsamkeit der Vaucluse zurückzuziehen, mit dem Gedanken „damit ihm die Nachwelt nicht vorwerfen könne, er habe versäumt, den Schatz seines Talentes zu heben“ („ne de infossi talenti culpa redargueretur a posteris“).28 Die Nachwelt – die Ruhmspenderin par excellence – fungiert hier als oberste Gerichtsinstanz, der der Mensch Rechenschaft schuldig ist. Gefordert wird von ihm, dass er alles tun müsse, um Ruhm zu erwerben; Ruhm erwirbt man, indem man „den Schatz seines Talentes hebt“ – konkret: literarische Werke verfasst. Literatur verleiht dem Menschen ‚ewigen‘ Ruhm, insofern das geschriebene Wort die physische Existenz des Menschen überdauert.
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De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 253; ed. Massera, 238. De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia, ed. Solerti, 257; ed. Massera, 240.
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Indem Boccaccio die Biographie ins Zeichen des Ruhmstrebens setzt, schreibt er Petrarca in diesen unzeitgemäßen, überraschenden Diskurs ein. Er ruft damit den antiken Ruhmesgedanken gewissermaßen gewaltsam zurück, der sich in den Schriften Ciceros und den Selbstaussagen römischer Dichter findet, des Horaz, Ovid, Properz und anderer. An diesen Stellen brachten sie enthusiastisch ihre optimistische Überzeugung zum Ausdruck, dass sie sich mit ihrem dichterischen Werk ein Denkmal für die Ewigkeit errichtet hätten. Es ist symptomatisch, dass dieser Gedanke auch in Ovids Dichter-Autobiographie vorhanden ist, die sich explizit an die Nachwelt richtet. Petrarca selbst rechtfertigte kurz vor der Abfassung von Boccaccios Biographie das Streben nach irdischem Ruhm in seiner Dichterkrönungsrede, Collatio laureationis (1341), indem er es mit antiken Vorbildern und auctoritates (unter anderen Cicero, Caesar, Ovid) legitimierte: Das Ruhmstreben eignet von Natur nicht nur gewöhnlichen, sondern vor allem weisen und hervorragenden Männern. Nur so ist es zu erklären, dass, während zahlreiche Philosophen Werke über die Verachtung des Ruhmes verfassen, nur wenige oder so gut wie keiner den Ruhm wirklich verachten. Das lässt sich vor allem daraus ersehen, dass sie die Werke, die sie über die Verachtung des Ruhmes schreiben, mit ihren Namen versehen, wie uns Cicero im ersten Buch seiner Gespräche in Tusculum zeigt. Man sehe außerdem, was derselbe sagte, als er vor Caesar […] eine Rede hielt: „Du wirst, obwohl du ein Weiser bist, nicht abstreiten, dass du sehr ruhmbegierig bist“. Wozu noch viele Worte machen? Es ist in jeder Hinsicht wahr, was derselbe an einer bestimmten Stelle sagt: „Es gibt kaum einen, der, wenn er Gefahren und Strapazen auf sich genommen hat, nicht nach Ruhm verlangt, als verdienten Lohn für die Mühe“. Daher rührt auch das Wort des Ovid: „Das Publikum spornt uns an; die Tugend wächst, / Wenn sie gelobt wird, der Ruhm stellt einen ungeheuren Ansporn dar“.29
Wie wichtig die Dichterkrönung für Boccaccios Petrarca-Biographie ist, wurde bereits oben hervorgehoben. Die Dichterkrönung ist der Inbegriff und die Versinnbildlichung von Petrarcas Ruhm, zugleich der Höhepunkt und das telos seines Lebens. Der Biographie kommt somit eine Exempel-Funktion zu: Sie zeigt paradigmatisch den Lebensweg eines Menschen, der sich zu seinem Ziel – berühmt zu werden – in zähem Kampf durchringt. Damit hat Boccaccio für die aufkeimende Respublica litteraria eine Biographie mit Vorbildwirkung, gewissermaßen ein humanistisches Manifest, geschaffen. 29
Collatio laureationis (ed. Godi) 7. Petrarca führt als auctoritates die Stellen Cicero, Tusculanae disputationes I, 15, 34; Pro Archia poeta 11, 16; Pro Marco Marcello 8, 25; De officiis I, 19, 65 und Ovid, Ex Ponto IV, 2, 35–36 an.
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IV. Petrarca, Brief an die Nachwelt: Umgestaltung des biographischen in den autobiographischen Diskurs (1370/71) Der Brief an die Nachwelt wurde zumeist, auch noch in einer rezenten Petrarca-Biographie (1998)1, als originelle Erfindung Petrarcas betrachtet. Demgegenüber konnte ich an anderer Stelle zeigen, dass es sich über weite Strecken um eine Übertragung von Boccaccios Biographie in eine Autobiographie handelt.2 Damit ist das Werk, das vielfach als ‚Vater-Text‘ der humanistischen Autobiographie betrachtet wird, ursächlich mit der Biographie verknüpft. Es mag verwundern, dass der Autor mehrerer autobiographischer Großprojekte (Metrische Briefe; Privatangelegenheiten; Alterangelegenheiten; Secretum), sich erst ziemlich spät daranmachte, eine chronologisch aufgebaute, sein Leben überblicksmässig erfassende Vita zusammenzustellen; dass er dabei nicht aus dem Vollen schöpfte, sondern sich den Text seines Freundes zur Vorlage nahm sowie, dass er es letztlich nicht schaffte, diese Vita fertigzustellen. Jedoch gestaltete sich diese Aufgabe für Petrarca nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, gerade wegen des enormen Umfangs, den seine Autobiographik im Laufe der Zeit angenommen hatte, und wegen der Fülle der Gegenstände, die vorhanden waren. Für einen Autor, dem mehrere hundert autobiographische Briefe vorliegen, ist es alles andere als leicht, diese in einer chronologischen Lebenserzählung zu verarbeiten. Das Problem gestaltete sich umso schwieriger, als die Diskursregelung der Biographie Kürze vorschrieb. Auf welchem Wege sollte Petrarca vom hundertfachen Detail zur erforderlichen lapidaren Kürze vorstoßen? Außerdem schien sich sein Leben selbst einer klaren Ordnung zu widersetzen, und zwar in zunehmendem Ausmaß. Das lag nicht zuletzt an den vielen Übersiedlungen, die Petrarcas Lebensweg in ein verschlungenes Labyrinth verwandelten und die Gefahr heraufbe1 2
Neumann, Francesco Petrarca. „Modelling the Humanist“.
Dekorumsuche
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schworen, dass sich der Autobiograph darin verirrte oder immerzu in leidige Wiederholungen verfiel. Man kann sich vorstellen, dass sich Petrarca angesichts dieser Probleme eher zögerlich und ungern an diese Aufgabe heranmachte; dass er es als Erleichterung betrachtete, dass ihm eine fertige Biographie mit einem chronologischen Lebensabriss und einem Charakterporträt vorlag, eben Boccaccios Leben und Gewohnheiten des Herrn Franciscus Petracchi von Florenz. Sie hatte den Vorteil, dass sie sein Leben in der erforderlichen Textlänge und in dem Format, das er benötigte, behandelte. Eine vergleichende Analyse der beiden Texte zeigt, dass Petrarca im Brief an die Nachwelt wesentliche Punkte von der Lebensbeschreibung Boccaccios übernahm und vielfach darauf reagierte. Bis zu einem gewissen Grad ist der Brief an die Nachwelt als Kommentar zu seiner Vorlage zu verstehen. Dass Petrarca diese Biographie kannte und über sie verfügte, bedarf schon aufgrund der freundschaftlichen Beziehung, die zwischen ihm und Boccaccio seit dem Jahre 1350 entstanden war, keiner umständlichen Beweisführung. Die beiden Dichter lernten einander persönlich kennen, als Petrarca anlässlich des Jubeljahres 1350 von Padua nach Rom reiste und in Florenz, der „Vaterstadt“, die er noch nie betreten hatte, Halt machte. Nachdem ihn Boccaccio vor den Stadttoren mit einem selbstverfertigten lateinischen Gedicht geehrt hatte, war Petrarca einige Tage bei ihm zu Gast. Im Zuge der feurigen Beziehung, die aufblühte, logierte Petrarca auf dem Rückweg von Rom abermals einige Tage bei dem neuen Freund. Spätestens seit diesen beiden Aufenthalten im Hause Boccaccios muss Petrarca die Biographie Leben und Gewohnheiten des Herrn Franciscus Petracchi von Florenz gekannt haben. Die Tatsache, dass Petrarcas Brief an die Nachwelt auf eine Biographie zurückgeht, eröffnet die Möglichkeit, die Diskursunterschiede zwischen Biographie und Autobiographie dingfest zu machen.
1. Dekorumsuche: das passende Gewand des Autobiographen oder Autobiographie ex negativo Der Plan eines monumentalen Lebensabrisses – in dem der Religion des Ruhmes gehuldigt wurde – brachte Schwierigkeiten mit sich. Nicht die geringste war die richtige Präsentationsweise. Wie konnte Petrarca das Ego-Denkmal für die jährlich anwachsende und sich wohl in Zukunft
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
weiter ausdehnende Respublica litteraria akzeptabel gestalten? Welches war das passende Gewand des Autors, mit dem er sich seinem Lesepublikum zeigen konnte? War das glänzende Purpurgewand des literarischen Kaisers, sozusagen die Triumphrobe, tragbar? Die Aufgabe war umso heikler, als noch niemand vor Petrarca gewagt hatte, mit einer monumentalen Selbst-Biographie in Prosa vor sein Publikum zu treten. Der Anfang der eigentlichen Autobiographie wirkt merkwürdig unspezifisch und farblos: „Ich war einer von Euch, ein sterbliches Menschlein […]“. Es ist zunächst nicht ganz klar, welchen Sinn diese redundante Feststellung haben soll. Das Problem lässt sich jedoch besser verstehen, wenn man sich den Textzustand vor Augen hält, der zustande gekommen wäre, falls Petrarca den Text Boccaccios (mit einigen leichten Korrekturen) geradewegs in die Autobiographie übertragen haben würde: Ich, der Dichter Franciscus Petrarca, ein Prominenter, der ich aufgrund meiner Lebensführung, meiner sittlichen Lebenshaltung und aufgrund meines Wissens die anderen überragte, erfreute mich [die floruit-Bestimmung war zu streichen, da sich Petrarca bereits im hohen Alter befand, Anm.] während der Amtsperiode der Päpste Benedikt XII, Clemens VI und Urban IX [diese Liste war gemäß des aktuellen Abfassungsdatums natürlich zu erweitern, Anm.] eines gewaltigen Ruhmes, der sich über die ganze Erde ausdehnte. Geboren am 22. 7. 1304 [selbstverständliche Korrektur der falschen Angabe 1307, Anm.] in Arezzo, einer reichen Stadt der Toskana […], aus einem reichen Elternhaus, wurde ich sozusagen am Busen der Musen aufgezogen […]. Als ich volljährig war, begab ich mich nach Bologna, eine berühmte und vielbesuchte Universitätsstadt der Lombardei. Während ich dort mit unaufhörlichem Eifer unter diversen Professoren das Zivilrecht studierte, begann Apoll, der vorhersah, dass ich sein künftiger Sänger werden würde, mit dem subtilen Gesang der Musen und mit göttlichen Liedern mein Inneres zu erweichen […]. Aber als ich, der süßtönende Sänger, in der Folge mein Talent erproben und mich an literarischen Werken versuchen wollte, fing an, obwohl ich noch vom Feuer der Jugend entflammt war, die Gesellschaft der Menschen zu meiden, zog mich in die Einsamkeit zurück und begab mich in ein Tal im Hochgebirge […]. An diesem Ort also habe ich, der hervorragende Dichter, eine Vielzahl von Werken, Prosa und Poesie gleichermaßen, in elegantem und wunderschönem Stil verfasst, damit mir die Nachwelt nicht vorwerfen könne, ich hätte den Schatz meines Talentes nicht gehoben […].
Eine solche Selbstpräsentation würde Petrarcas zeitgenössische Leser, die dem Demutsgebot verpflichtet waren, zweifellos irritiert haben. Der Autor hätte das Bild eines vermessenen, eitlen und ruhmredigen Mannes aufgerufen, der sich unverhohlen des Reichtums seines Elternhauses, seiner Vaterstadt, des guten Rufes seines Studienorts, seiner gewaltigen geistigen Fähigkeiten sowie seiner moralischen Superiorität brüstet.
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Obwohl für den Leser des 21. Jahrhunderts das christliche Demutsgebot im allgemeinen keine relevante Diskursvorgabe ist, kann er die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Irritation insofern nachvollziehen, als nach dem modernen Autobiographieverständnis eine Distanzierung vom existentiellen Universalanspruch des Individuums erwünscht ist. Man kann es geradezu als Hauptaufgabe des modernen Autobiographen betrachten, den a priori unterstellten Existenzanspruch des Individuums zu zerschreiben. Es war Petrarca klar, dass Boccaccios Präsentationsweise für eine Autobiographie unbrauchbar sein würde. An dieser Stelle musste er also bei seiner Umgestaltung ansetzen, wollte er ein akzeptables Präsentationsbild (Ethos) erstellen, ein Gewand anlegen, welches dem Dekorumgebot entsprach: Das Gewand sollte plausibel machen, dass sich die literarische Tat der Selbstbiographie mit dem Demutsgebot vereinen ließ. Dadurch war der Purpurmantel des literarischen Triumphators untragbar geworden. Andere Kleider mussten her. Aber welche? Eine Kutte? Das Gewand des Klerikers, der Petrarca ja war? – Das würde automatisch in eine religiöse Autobiographie hinübergeführt haben. Dies vertrug sich jedoch nicht gut mit der Funktion des Textes – der Beigabe zu einer monumentalen Werkausgabe. Die (antikisierende) Schriftstellerimago musste erhalten bleiben. Angesichts dieser Problematik (er)fand Petrarca eine wirksame Methode, bei der er die Technik des Personenlobs, die er bei Boccaccio antraf, zum Ausgangspunkt nahm, das Lob jedoch systematisch abschwächte, neutralisierte oder in sein Gegenteil verkehrte. Seine bahnbrechende Entdeckung war, dass sich die Rhetorik des Personenlobes ex negativo autobiographisch wirksam machen lässt: autobiographische Selbstkonstituierung durch Ent-Loben. Damit setzte Petrarca den Lobdiskurs Boccaccios fort, vereinigte ihn jedoch, wie erforderlich, mit den Vorgaben des Demutsgebots. Diese autobiographische Methode möge anhand einiger Beispiele vorgeführt werden. Boccaccio hatte im ersten Satz seiner Biographie Petrarca Weltberühmtheit zugeschrieben. Petrarca stellte das – nicht zufällig ebenfalls im ersten Satz – in Frage: Es sei „gar nicht sicher, dass die geringe und unbedeutende Bekanntheit, die ich mir erworben habe, lange fortdauern und sich über weite Gebiete erstrecken wird“.3 Das ist genau der Punkt, aus dem sich der Sinn der redundant erscheinenden Feststellung „Ich war einer von Euch, ein sterbliches Menschlein […]“ erklärt. 3
Epistola posteritati 1.
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
Es handelt sich um eine gleich zu Anfang des Werkes angebrachte, programmatische Bestätigung, dass sich der Verfasser an das Demuts- und Weltverachtungsgebot halten werde, womit dieser ein wirksames Antidotum zu der neuen humanistischen Ruhmesreligion, die die autobiographische Tat motiviert, einbringt. Petrarca ermöglicht die Rede von der Ruhmesreligion, indem er sie in Abrede stellt. Während Boccaccio als Petrarcas Vaterstadt die reichste Stadt der Toskana, das strahlende Florenz, angegeben hat, nimmt Petrarca selbst das Lobargument durch die Nennung des Städtchens Arezzo (wie es den Tatsachen entsprach), zurück.4 Während Boccaccio Petrarcas Elternhaus als „reich“ bezeichnet hatte, leugnet Petrarca dies: Es habe sich nur um „mäßigen Besitz“ gehandelt, der überdies „auf geringe Reste zusammengeschmolzen“ sei.5 Weiter zieht Petrarca die adelige Abkunft, die ihm Boccaccio zugeschrieben hatte, ins Ungewisse.6 Petrarca ging mit Methode vor: Er machte alle Eingriffe Boccaccios, die Lob generieren, zunichte. Petrarcas Autobiographie wirkt wie ein subversiver Kommentar zu einer Lob-Biographie, wie eine Berichtigung derselben. Besonders auffällig ist die autobiographische Methode des Ent-Lobens dort, wo die Fähigkeiten des Autobiographen über jeden Zweifel erhaben waren, zum Beispiel in Bezug auf Petrarcas hohe Intelligenz, große Kreativität, hervorragendes Gedächtnis, rhetorisch-künstlerisches Können. Es ist durchaus bemerkenswert, dass Petrarca diesbezüglich lediglich den „gesunden Menschenverstand“ und ein Gespür für das moralisch Richtige anführt.7 Gedämpfter geht es kaum: Der Initiator des Humanismus und monarchische Anführer der Respublica litteraria reduziert sich auf einen Durchschnittsmenschen. Auch die Beschreibung des Äußeren8 ist als Dämpfung zu verstehen. Petrarca legte auf Boccaccios idealisierendes Basteln keinen Wert. Er machte es nachdrücklich rückgängig, nicht weil ihm Vergils Bauernschädel lieber war, sondern weil sich die Idealisierung nicht mit der erstrebten autobiographischen Akzeptanz vertrug. Diese verbot eine Präsentationsweise, wie sie bei Boccaccio zu finden war: „Ich war schön, besaß eine hochgewachsene Gestalt mit harmonischen Gliedern. Mein Gesicht
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Epistola posteritati 2. Epistola posteritati 2: „fortuna mediocri et – ut verum fatear – ad inopiam vergente“. Vgl. ebd. das vage „honestis parentibus“. Epistola posteritati 9. Epistola posteritati 4.
Dekorumsuche
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zeichnete sich durch eine wohltemperierte Mischfarbe und harmonischrunde Züge aus“. Petrarca entlobte, indem er explizit feststellt, dass er „keine außerordentliche Schönheit“ besessen habe („Forma non glorior excellenti“).9 Lediglich in seiner Jugendzeit hätte er Gefallen erregt. Letztes war passabel, weil es auf eine Klischeevorstellung von der Jugend rekurrierte und also keinen auffälligen Anspruch erhob. Petrarcas kuriose Aussage über seine Gesichtsfarbe („ich besaß eine lebhafte Gesichtsfarbe, irgendwo zwischen durchscheinender Blässe und leichter Dunkelheit“ – „colore vivido inter candidum et subnigrum“)10 vermag der Leser, der nicht über Boccaccios Ausführungen verfügt, schwerlich zu deuten. Petrarca führt hier Boccaccios Versuch ad absurdum, eine ideale Gesichtsfarbe zusammenzumischen. Wörtlich verwendet Petrarca die Farbbezeichnung „subnigrum“, die an Vergils als hässlich empfundene Gesichtsfarbe „niger“ erinnert. Selbstverhässlichung konnte wirksam sein, um den gewünschten Dämpfungseffekt zu erzielen: Wohl in diesem Zusammenhang gibt Petrarca an, dass er nunmehr Brillenträger sei.11 Eine Brille gab im 14. Jahrhundert einen ziemlich harten visuellen Effekt: dicke Gläser in einer wuchtigen, meist dunklen Metallfassung. Petrarca entfernte auch damit das Porträt seines Äußeren methodisch von Boccaccios Idealdarstellung. Aus den Rhetorikleitfäden ging hervor, dass die Darstellung von öffentlichen Anerkennungen und Ehrbezeigungen ein effektives Präsentationsmittel des Personenlobes sei. Boccaccio hat diesem Mittel in seiner inventio einen wichtigen Stellenwert zugeteilt, indem er die Dichterkrönung zum Hauptthema der Petrarca-Biographie erhob. Petrarca wendete auch diesbezüglich die Methode des In-Abrede-Stellens an, indem er sich von der Dichterkrönung im Brief an die Nachwelt nachdrücklich distanzierte: Die Ehrung sei übertrieben und unverdient gewesen; während er in seiner Jugend in seinem Ruhm geschwelgt („iuveniliter gloriabundus“) und sich selbst allzu günstig beurteilt habe,12 sehe er jetzt ein, dass dies unbegründet und verfehlt gewesen sei. Gerade indem er die Berechtigung zur Dichterkrönung in Abrede stellt, ermöglicht er die autobiographische Rede von ihr.
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Ebd. Ebd. Ebd. Epistola posteritati 22 und 23: „Ich beurteilte mich selbst, ganz nach der Art von Jünglingen, auf allzu günstige Weise“ („ego more iuvenum rerum mearum benignissimus iudex“).
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
2. Zwischen Voyeurismus und Monumentalästhetik: der Ort des Individuellen und Privaten im Brief an die Nachwelt Wer heute eine Biographie (oder Autobiographie) erwirbt, erwartet, dass er ein gerütteltes Maß privater Lebensdetails und individueller Eigenheiten miterwirbt. Darin scheint ein Gutteil des Reizes dieser Texte zu liegen. Sie befriedigen unseren Voyeurismus. Es gibt keine noch so privaten Details, die wir nicht wissen wollen. U.a. das macht den Erfolg von Fernsehprogrammen wie Big Brother aus. Auch wenn das Gezeigte meist schon wegen der Personen, die sich für diese Programme hergeben, enttäuschend ist, wächst der Voyeurismus, vielleicht gerade weil er mit Dürftigem gefüttert wird. Schamschwellen werden dabei schnell abgetragen. Wir wollen wissen, auf welche Weise die betreffenden Personen Sex haben und wie oft, wie sie duschen, was sie essen, wie sie auf die Toilette gehen, wie sie spielen, sich streiten, eifersüchtig sind, ja wie sie sich langweilen und wie sie schlafen. Das lässt sich mit Hilfe von Infrarotkameras beobachten. Das Beobachten ist zu einem Selbstzweck, der Voyeurismus zum Axiom geworden. Also wollen wir aus Biographien (und Autobiographien) erfahren, auf welche Weise die dargestellten Personen Sex haben, wie sie essen, duschen, streiten, lachen, weinen usw. Also befriedigt es den Leser, wenn er in Max Frischs Montauk erfährt, wie der Autor einem Mädchen durchs Gebüsch hinterhergeht, wie er beobachtet, wie sie über einen Ast hüpft, dass ihre Bluejeans bis zu den Waden hochgekrempelt sind, wie sich „ihr kleines Gesäß in der knappen Hose“ rundet, wie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz geknotet im Gehen pendelt (7–9), wie ihn Weinen einer Frau durchs Telephon hilflos macht (17), wie er „vorgestern geträumt“ hat, „dass er am nächsten Mittwoch hingerichtet werden soll“ (22), wie er mit Lynn Pingpong spielt usw. Eine dichte Besiedlung der (Auto)Biographie mit privaten und individuellen Lebensdetails war im 14. Jh. jedoch weder selbstverständlich noch allgemein akzeptiert. Zum Teil war es sogar undenkbar, die Biographisierten aus einer solchen Nähe zu präsentieren. Insbesondere dem Körperlichen war bis auf wenige Ausnahmen ein Riegel vorgeschoben. Das ganz Private und Individuelle war Niemandsland: unbekannt, tabuisiert, unbestimmt und vor allem bedrohlich. Umso bemerkenswerter war, dass Petrarca mit seinen autobiographischen Großprojekten der Privatangelegenheiten und Altersangelegenheiten
Zwischen Voyeurismus und Monumentalästhetik
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gewagte Vorstöße in das Niemandsland der privaten individuellen Lebensdetails unternahm; dass er in gewissermaßen täglichen Selbst-Festlegungen viele ‚private‘ Lebensdetails (Streit mit Dienern, Essen, Träume, Wandern durch die Natur usw.) veröffentlichte. Der Leser, der mit den Privatangelegenheiten vertraut ist, wird vom Vorhandensein privater und individueller Lebensdetails im Brief an die Nachwelt kaum überrascht sein; wenn er erfährt, dass den Verfasser Bankette anekeln, dass er die Natur von Vaucluse liebt, dass er gerne mit Freunden ein ungezwungenes Mahl einnimmt, dass ihm Avignon zuwider ist usw. Hinzu kommen persönliche Gedanken, Meinungen, Gefühle, (Vor)Urteile, Triebfedern usw. Zu seinen Reisen nach Frankreich und Deutschland, teilt er uns mit, motivierte ihn Neugierde, Schaulust und Wissbegierde. Private Sehnsüchte treten hervor. Mit seiner Romreise etwa habe sich Petrarca einen Kindheitstraum erfüllt.13 Das Individuelle und Private erhält im Brief an die Nachwelt den Stellenwert eines sowohl lebens- als auch autobiographiesteuernden Prinzips. Manchmal nimmt das Individuelle und Private krasse Formen an, z. B. die eines Gefühlsausbruchs. Es ist durchaus auffällig, dass gleich im ersten Abschnitt des chronologischen Lebensabrisses ein solcher hervorbricht, zumal dies zu dem geordnet-zusammenfassenden Darstellungsmodus, den man von einer Vita erwartet, schlecht passt. Es ist bemerkenswert, dass eine sachliche Mitteilung, die ziemlich ungefährlich wirkt („Ab meinem neunten Lebensjahr lebte ich in der Provence“), zu einem emotionalen Vulkanausbruch, einer Mischung von Hass, Empörung und Wut führt: – Avignon heißt jene Stadt, in der der Römische Papst die Kirche Christi in schändlicher Verbannung gefangen hielt und hält, mit Ausnahme Urbans V., der vor wenigen Jahren die Kirche an ihren eigentlichen Standort zurückgebracht zu haben schien. Doch das Ganze ist offensichtlich auf nichts hinausgelaufen, und zwar zu einem Zeitpunkt (ein unerträglicher Gedanke), an dem Urban selbst noch am Leben war, so dass es schien, als ob ihn sein gutes Werk reute. Wenn er nur eine kleine Weile länger am Leben gewesen wäre, hätte ich ihm schon merken lassen, was ich von seinem Auszug aus Rom halte! Den Griffel hatte ich schon in der Hand, als er selbst sein ruhmträchtiges Vorhaben, das Leben jedoch ihn im Stiche ließ. Der Unglückliche! Wie viel besser hätte er vor dem Altar des Petrus und in seinem eigenen Haus sterben können! Entweder hätte er, wenn seine Nachfolger die Kurie an der richtigen Stelle belassen hätten, als der Urheber dieser guten Tat gegolten, oder hätte seine Tugend, wenn diese aus Rom abgezogen wären, umso heller geglänzt, je klarer die Schuld jener hervorgetreten wäre. […].
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Epistola posteritati 17: „Romam adii, cuius vidende desiderio ab infantia ardebam“.
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
– Avinio urbi nomen, ubi Romanus Pontifex turpi in exilio Cristi tenet ecclesiam et tenuit diu, licet ante paucos annos Urbanus V eam reduxisse videretur in suam sedem. Sed res, ut patet, in nichilum rediit, ipso – quod gravius fero – tunc etiam superstite et quasi boni operis penitente. Qui, si modicum plus vixisset, haud dubie sensisset, quid michi de eius abitu videretur. Iam calamus erat in manibus, sed ipse confestim gloriosum principium, ipsum et vita destituit. Infelix! Quam feliciter ante Petri aram mori et in domo propria potuisset! Sive enim successores eius in sua sede mansissent, et ipse boni operis autor erat, sive abiissent, et tanto ipsius clarior virtus, quanto illorum culpa conspectior. […].14
Der Autobiograph ist, wie er selbst mitteilt, auf etwas gestoßen, „das er kaum ertragen kann“: Er muss anscheinend seinem Ärger Luft machen, sein persönliches Gefühl zum Ausdruck bringen. Es ist ihm wichtig zu vermitteln, ‚was er davon hält‘, und er droht sogar dem Papst, ihm tüchtig ‚die Meinung zu sagen‘. Die Registrierung dieser merkwürdigen Drohgebärde bringt uns auf Wesentliches. Aus einer Reihe von Stellen im Brief an die Nachwelt erhält man den Eindruck, dass Petrarca geradezu stolz auf seine individuellen Eigenartigkeiten, Befindlichkeiten, Meinungen, Gefühle etc. ist: Er markiert diese explizit mit den Formeln „placet“ („gefällt mir“), „iocundum“ („empfinde ich als angenehm“) und „displicet“ („missfällt mir“). Aus dieser expliziten Markierung geht ein größeres Selbstbewusstsein hervor, als die heikle literaturhistorische Situation der Autobiographik erwarten ließe. Petrarca geht offensichtlich davon aus, dass die Äußerung seiner privaten Befindlichkeiten nicht nur legitim sei und in eine Autobiographie passe, sondern a priori davon, dass sie den Leser interessieren werde. Er konstituiert seine individuellen Befindlichkeiten als Grundbausteine des autohistorischen Geschehens. Diese werden nicht mehr hinterfragt oder analysiert, sondern als feststehende ‚Fakten‘ seiner Persönlichkeit präsentiert, die eo ipso darstellungswürdig sind. Damit unterscheidet er sich weitgehend von der Autobiographik des Mittelalters, in der die Furcht vor Selbstüberschätzung und Hochmut (superbia) zumeist das Individuelle und ganz Private im Keim erstickte und vom Autobiographen verlangte, dass er seine Beschreibung auf Typusmerkmale gründe. Die individuelle Drohgebärde dem Papst gegenüber weist mit ihrem unbändigen Stolz auf den statusträchtigen Literaturdiskurs hin, den Boccaccio für die Biographik entdeckt hatte: den Suetonischen Kaiserdiskurs. Während sich Petrarca in seiner Autobiographie in Bezug auf
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Epistola posteritati 12.
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die Topik des rhetorischen Personenlobs durch Negation systematisch des Triumphatorenmantels entledigte, akzeptierte er für seine Autobiographie einen anderen kaiserlichen Mantel – jenen, aus privatem und individuellem Stoff geschneiderten. Es sind die Nuancen, denen in diesem literarischen Spiel größte Bedeutung zukommt. Sueton hatte in seinen Kaiserbiographien für die Festlegung des Individuellen und Privaten eine sehr breite Palette zusammengestellt, wie der oben zitierte Textabschnitt über die Eßgewohnheiten und Körperpflege des Kaisers Augustus zeigt. Die Details sind so zahlreich, dass zuweilen sogar Auflistungen dargeboten werden, zum Beispiel von den Speisen, die der Kaiser bevorzugte (Schwarzbrot, Sardinen, handgepresster Kuhkäse, Feigen etc.). Sueton schwelgt geradezu in individuellen und privaten Einzelheiten. Paradigmatischen Aussagewert haben Suetons Angaben über die Muttermale des Augustus: Muttermale sind unverwechselbare Merkmale, sie markieren ein Individuum. Wenn man Suetons breite Palette des Individuellen und Privaten zum Vergleich heranzieht, fällt auf, dass sie im Brief an die Nachwelt nur in eingeschränkter Form angewendet wird. Petrarca zählt nicht auf, welche Speisen er am liebsten mochte, sondern handelt das Thema in allgemeinem Sinn ab: „Aus exquisiten Speisen habe ich mir nie etwas gemacht – mit einfachen und gewöhnlichen Nahrungsmitteln habe ich stets angenehmer gelebt als alle Jünger des Apicius mit erlesener Feinkost“.15 Ebenso stellt er im Brief an die Nachwelt keine Liste seiner Krankheiten zusammen, nennt keine einzige mit Namen, sondern beschränkt sich auf die allgemein gehaltene Bemerkung: „Ich erfreute mich Zeit meines Lebens einer hervorragenden Gesundheit, bis mich das Greisenalter mit dem bekannten Heer seiner Krankheiten und Gebrechen heimsuchte“.16 Worauf sind diese Unterschiede zu Sueton zurückzuführen? Ich glaube, dass sie mit Petrarcas Definition der Kurzbiographie und mit einer Ästhetik zusammenhängen, bei der die Schamschwellen sowohl anders als bei Sueton gelagert als auch differenziert angebracht waren. Im Fall einer Monumentalautobiographie schien Petrarca das ganz spezifische individuelle oder private Detail häufig unpassend, besonders, wenn es um Körperliches ging. Die Statue, die er errichtete, duldete keine Sardinen, Feigen, Kuhkäse, Hautausschlag, Schwielen, Hautrötungen, Muttermale, Blähungen, Schnupfen oder schlechte Zähne.
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Epistola posteritati 5. Epistola posteritati 4.
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
In den Privatangelegenheiten hingegen verwendete Petrarca eine viel breitere Palette individueller und privater Lebensdetails als im Brief an die Nachwelt, eine Palette, bei der auch das Körperliche öfters zum Zuge kommt. Zum Beispiel teilt er uns in den Privatangelegenheiten zuweilen detailliert mit, welche Speisen er zu sich nahm: das Schwarzbrot der Hirten, Trauben, Feigen, Nüsse, Mandeln, Fisch.17 Was für die Monumentalästhetik des Briefs an die Nachwelt ungeeignet erschien, passte in die Miniatur des literarischen Privatbriefs. Dabei spielt unter anderem der Freundschaftsdiskurs, den Petrarca dem Privatbrief zugrundelegte, eine Rolle. Der Freund übernimmt die Aufgabe des Vermittlers des Privaten. Er besitzt die Funktion, die Schamschwellen zu senken. Im Brief an die Nachwelt hingegen konnte Petrarca nicht von der vertraut-freundschaftlichen Interaktion ausgehen. Für das anonyme Publikum der Nachwelt war ein anderes Dekorum, eine andere Ästhetik erforderlich – größere Distanz erwünscht. Wir werden in der Folge die Frage zu stellen haben, wie sich andere humanistische Autobiographen diesbezüglich verhielten. Verschoben sich die Schamschwellen im Laufe der Zeit? Muss man in Bezug auf diverse Textgattungen und Diskurse differenzieren? Zum Beispiel hat der italienische Universalgelehrte Gerolamo Cardano in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts seine Krankheiten, körperlichen Mängel und Eigenartigkeiten detailliert beschrieben. Lag das daran, dass er als Arzt die (Auto)Biographie in einen medizinischen Diskurs übertrug? Oder war ihm aus gewissen Gründen daran gelegen, die vorhandenen Schamgrenzen bewusst zu verletzen?
3. Sein Name sei Petrarca. Die Erfindung der humanistischen Identität In der Moderne wurde die Identität des Menschen in wachsendem Ausmaß sowohl in Frage gestellt als thematisiert als auch sehnsüchtig idealisiert. In der täglich zunehmenden Veränderlichkeit der globalisierten Metropolisgesellschaft ist die Grundstimmung des Bleibenden, das Vertrauen auf die Wirklichkeit und Festigkeit der Zugehörigkeitsverhält-
17
Privatangelegenheiten XIII, 8, 8–9; vgl. Enenkel, Francesco Petrarca, De vita solitaria, 198; 212; 214; 217; 219; 259–260; 266–271; 275–277; 280–282; 284; 301–310; 315–318; 481.
Die Erfindung der humanistischen Identität
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nisse zerbröckelt. Wir wissen nicht mehr sicher, wer wir sind und wer wir morgen sein werden. Petrarca scheint mit seiner unsicheren Identität („überall ein Fremder“) merkwürdig an dieses Daseinsgefühl der Moderne zu appellieren. Dies ist umso auffälliger, als sein Gefühl des Verfremdetseins für die meisten Menschen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit nicht maßgeblich war. Ihr Leben spielte sich grundsätzlich in festen Bahnen und Strukturen ab. Veränderlichkeit und Mobilität waren zwar nicht ausgeschlossen, bestimmten jedoch nicht die Tagesordnung. Diverse Zugehörigkeiten legten den Menschen nach innen und außen hin fest. Ein Mensch gehörte in engem Verbund zu seinen Eltern, seiner Familie, Sippe (Adels- oder Bürgergeschlecht), zu seinem Wohnhaus, Bezirk, Wohnort/Stadt, zu seinem Stand, zu seiner Berufsgruppe (Gilde) usw. Diese Bindungen waren nicht nur fest, sondern tendierten zur Starre. Wer in einem gewissen Stand geboren ist, wird in diesem Stand erwachsen werden, altern, sterben. Wer in einer gewissen Stadt geboren ist, wird dort bleiben. Der Sohn wird den Beruf des Vaters ergreifen. Hier fängt das Kapitel an, einen seltsamen Lauf zu nehmen. Petrarcas Identität entzieht sich diesem allgemeinen Muster in einem Ausmaß, das nicht leicht fasslich ist. Um die grandiose Entfremdung und Entfernung vorzuführen, die Petrarca hervorzauberte, wird höchste sprachliche Prägnanz erforderlich sein. Petrarca blieb nicht in der Stadt seines Vaters Florenz. Er blieb nicht im Territorium der Florentiner, nicht in der Toskana, nicht einmal in seinem Sprachgebiet. Er wuchs in Frankreich, im französischsprachigen und Provenzalischen Kontext auf. Er ergriff nicht den Beruf seines Vaters. Er ging nicht immer in dieselbe Kirche. Kirche? Die Kirche insgesamt betrachtete er als Ursache tiefgreifenden Identitätsverlustes. Sozialer Stand? Welcher Stand? Petrarca konnte sich weder Bürger nennen (welcher Stadt?) noch gehörte er (da er seine Jura-Studien nicht abschloss) demselben Stand zu wie sein Vater (Notare und Anwälte). Petrarca ließ alles hinter sich, auffälligerweise sogar seine eigene Epoche, indem er die Zugehörigkeit zu seinen Zeitgenossen leugnete. Mit ihnen war er nicht zeitgleich. Er wollte einer anderen Epoche zugehören. Um von seiner Mitwelt möglichst weit entfernt zu sein, vertiefte er sich in die ferne Vergangenheit, in die römische Antike. Im Brief an die Nachwelt stellte er selbst den Zusammenhang zwischen seinem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl zu den Zeitgenossen und seiner Vorliebe für die klassische Altertumswissenschaft her:
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
Neben vielen anderen Gegenständen widmete ich mich vor allem der Altertumswissenschaft, da mich unser Zeitalter stets mit Abneigung erfüllte – so sehr, dass, wenn mich die Zuneigung zu den mir Teuren nicht abhalten würde, ich fast wünschen möchte, in einer beliebigen anderen Zeit geboren zu sein, nur nicht in unserer, und unsere zu vergessen, indem ich versuche, mich im Geiste immerzu in andere Zeitalter zu versetzen.18
Dieses Losgelöst-Sein ist in seiner Radikalität beindruckend und verdient es, dass wir innehalten und uns seine Parameter und Folgen genau vergegenwärtigen. Unter den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Zugehörigkeiten bzw. Identitätsfeldern nimmt die Vaterstadt, patria, einen ganz wichtigen Stellenwert ein, der umso bezeichnender ist, als diese Rolle nicht, wie in der Neuzeit, von Nationalstaaten erfüllt werden konnte. Staaten sind irgendwo ungreifbar, spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Städte waren jedoch sowohl überschaubar als auch konkret fasslich. Deshalb war das Identitätsgefühl, das sich aus der Zugehörigkeit zur Stadt ergab, besonders stark. Petrarca jedoch hatte seine Vaterstadt schon in seiner Wiege verloren, da er als Sohn eines Verbannten in einer fremden Stadt (Arezzo) zur Welt gekommen war. Da die Zugehörigkeit zu einer Stadt und das Bürgerrecht ein großes Gut war, versuchten Verbannte normalerweise, entweder das Bürgerrecht zurückzubekommen oder in einer anderen Stadt ein Bürgerrecht zu erlangen. Bemerkenswert ist, dass sich Petrarca diesem Verhaltensmuster entzog. Zwar lebte er in anderen Städten – in Avignon, Mailand, Pavia, Venedig, Padua usw. – jedoch hat er sich mit keiner dieser Städte identifiziert oder dort ein neues Bürgerrecht erstrebt. Von Avignon, seinem späteren Wohnort, hat er sich in seinem gesamten Oeuvre entrüstet abgesetzt. Er verfaßte sogar eine eigens gegen diese Stadt gerichtete Invektive, die Anonymen Briefe (Epistole sine nomine), in der er sie als Hölle auf Erden brandmarkte. Wie wenig er bereit war, Avignon als neue Vaterstadt zu akzeptieren (obwohl dies auf der Hand gelegen hätte!), zeigt sich gerade im Brief an die Nachwelt. Da rutschte ihm gewissermaßen heraus, dass Avignon sein „Zuhause“ („domus“) sei. Empört korrigierte er sich selbst: „Zuhause nenne ich jenes Exil von Avignon, wo ich mich seit dem Ende meiner Kindheit aufgehalten habe!“19
18 19
Epistola posteritati 9; für den lat. Text siehe oben S. 83. Epistola posteritati 15.
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Zu einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stadt ist es auch später, als sich Petrarca hauptsächlich in Italien aufhielt, nicht gekommen. Mailand, Padua, Pavia, Verona, Venedig – jede dieser Städte bewohnte er in dem Bewusstsein, dass er sie wieder verlassen werde. In den genannten Städten besaß er Häuser, jedoch zuhause fühlte er sich in keiner von ihnen: Sein selbstgewähltes Motto „überall ein Fremder“, peregrinus ubique, traf diesbezüglich völlig zu. Aber nun zur Alternative, das Florentiner Bürgerrecht wiederzuerlangen. Dies hätte in der Tat auf der Hand gelegen, da ihm Florenz aus eigener Bewegung das Bürgerrecht anbot. Petrarca lehnte aber ab, und zwar sogar, als die Stadt über Boccaccios Vermittlung insistierte. Petrarca wollte sich mit Florenz nicht identifizieren. Petrarcas Identitätsvakuum wurde dadurch vergrößert, dass er sich auch von seinem Elternhaus und seinem Vater deutlich absetzte. Er wollte kein Anwalt, nicht Ser Francesco di Petraccho werden. Das hätte für sich genommen, trotz des vorhandenen Musters, dass der Sohn im Prinzip den Beruf des Vaters ergriff, keine große Komplikation ergeben, da es für Intellektuelle mehrere akzeptable Betätigungsfelder gab. Kleriker zum Beispiel. Wenn der Sohn eines Anwalts die Laufbahn eines Klerikers einschlug, ergab sich daraus keinesfalls automatisch ein gravierendes Identitätsproblem. Petrarca wurde in der Tat Kleriker. Seine weitere Existenz lief über diese Schiene: Im Haushalt der Familie Colonna bekleidete er die Stelle eines Hofkaplans. Es wäre von daher zu erwarten, dass er sich mit dieser neuen Rolle, die er ja immerhin selbst gewählt hatte, identifizierte. Merkwürdigerweise ist jedoch auch dies nicht der Fall. In seinen Schriften redet er über sein Klerikertum so gut wie nie. Wenn man von der Art, wie er selbst seine Stellung im Haushalt der Colonna definierte, ausgeht, würde man nicht einmal entfernt auf den Gedanken kommen, dass er dort die Stelle eines Hofkaplans innehatte. Die Mitglieder der Familie Colonna werden als Freunde präsentiert: Petrarcas Verhältnis zu ihnen zeichnet sich durch vollständige Unabhängigkeit und Freiheit aus. Petrarcas ständiges Betonen seiner Unabhängigkeit kommt einer Identitätsablehnung gleich. Bemerkenswert ist weiter, dass Petrarca die Zugehörigkeit zu seinem Vater mit fortschreitendem Alter stets heftiger und nachhaltiger ablehnte, besonders wenn es um die Berufswahl ging. In den Altersangelegenheiten berichtet er die unglaubliche Geschichte, dass der Vater wutentbrannt von Avignon nach Bologna gereist sei, nur um dem Sohn eine Standpredigt zu halten und dessen wertvolle Handschriften ins Feuer zu werfen. Der Brief an die Nachwelt fügt sich in dieses Bild: Petrarca distan-
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
ziert sich nicht nur expressis verbis vom Jura-Studium, sondern kennzeichnet die Aufgabe desselben als ‚Vatermord‘.20 Petrarcas Mutter (Eletta) war bis zu seinem achten Lebensjahr zweifellos die wichtigste Bezugsperson gewesen (während der Vater anderswo wohnte). Es ist anzunehmen, dass es Petrarca schmerzte, sie im jugendlichen Alter zu verlieren. Im Brief an die Nachwelt nennt er jedoch nicht einmal ihren Namen. Er erwähnt sie nur beiläufig, ohne jegliche Regung, ja nicht einmal mit der normalen Bezeichnung „Mutter“ („mater“), sondern mit dem distanzierten Ausdruck „Gebärerin“ („genetrice“ [12]). Nicht einmal den Vater nennt Petrarca im Brief an die Nachwelt mit Namen. Er will also nicht nur seine Mutter, sondern auch seinen Vater vergessen. Er will nicht, dass die Nachwelt den Namen seines Vaters erfährt. Er begnügt sich mit der Angabe: „Als Sohn ehrbarer Leute, von Geburt Florentinern, wurde ich […] geboren“. Eine größere Distanziertheit ist kaum denkbar. Seine Eltern gaben für seine Selbstdefinition nicht mehr her, als dass sie „ehrbare Leute“ waren! Auf welche Weise Liebesbeziehungen dazu beitragen können, Identität zu definieren, wird zum Beispiel in Max Frischs Autobiographie Montauk ersichtlich, die so angelegt ist, dass sich das Ich vornehmlich über seine Beziehungen zu Frauen konstituiert, als Zugehörigkeit, in der Beziehung zu Ingeborg Bachmann21 sogar als „Hörigkeit“.22 Petrarca lag es fern, seine Identität über fleischliche Liebesbeziehungen zu Frauen zu definieren. Dass Petrarca an eine Identitätsbestimmung in Bezug auf eine eigene Familie nicht denken konnte, war durch seinen Status als Kleriker vorgegeben. Jedoch hatte er z. B. zwei Kinder aus einer Beziehung aus Avignon, einen Sohn (Giovanni) und eine Tochter (Francesca). Dass er sie im Brief an die Nachwelt nicht erwähnt, zeigt nicht so sehr an, dass er dies nicht wagen hätte dürfen, sondern eher, dass sich dies mit der von ihm erstrebten literarischen Selbsterfindung nicht vertrug. Jedoch definierte Petrarca seine Identität in Bezug auf eine nicht-fleischliche Beziehung (zu ‚Madonna Laura‘), eine Beziehung, die keinen Sitz im wirklichen Leben hatte, sondern ausschließlich in der Phantasie des Dichters und in der Literatur.23 20 21 22 23
Epistola posteritati 14. Montauk, 141–154. Montauk, 153. Laura figuriert immer auch als Äquivalent für Petrarcas literarische Ambition, sein Streben nach literarischem Ruhm. Von daher lässt sich nachvollziehen, dass sie – im Gegensatz zu Petrarcas anderen Liebesbeziehungen – im Brief an die Nachwelt vorhanden ist.
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Dieser schaurige Überblick zeigt mit Deutlichkeit das Ausmaß an, in dem sich Petrarcas Identität von der der meisten seiner Zeitgenossen unterschied. Alles Herkömmliche war für ihn nicht relevant, er ließ es hinter sich, legte es ab, warf es von sich. Er suchte sich eine neue Identität, erfand das, was er sein wollte, selbst. Er erfand sich als Humanist und Dichter. Das fängt bei seinem Namen an. Während der Name Petrarca allgemein bekannt ist, bleibt zumeist unvermerkt, dass es sich um einen Künstlernamen handelt. In der Tat legte Petrarca den Namen seines Vaters ab. Er wollte nicht Francesco di Petraccho heißen. Das Patronymicum verschwand, und es entstand der anregende Phantasiename Petrarca. Sein Name sei Franciscus Petrarca . Auch die Folgen dieser Umbenennung sind nicht a priori klar. Sie brachte mit sich, dass Franciscus einen Nachnamen hatte, wie ihn die antiken Autoren tragen. Er war dadurch einer der ihren geworden, stand mit ihnen auf einer Stufe, konnte mit ihnen zu Buche stehen, in einem Atem genannt werden. Cicero sagt […] – Petrarca sagt […]. Mit einem solchen Namen konnte man das Sagen haben. Er hatte damit den Namen eines Autors angenommen. Er hatte sich damit das Sagen gegeben, sich in den literarischen Raum geschrieben. Petrarca hatte sich selbst autorisiert. Er hatte sich damit nicht nur einen Autorsnamen gegeben, sondern auch die Sprache. Denn Petrarca ist Latein, bzw. auf griechische Wörter zurückgehendes Latein, eine Zusammenstellung aus „petra“ („Fels“) und „arche“ („Ursprung“). Petrarca bedeutet „der Felsgeborene“, der „Felsentsprungene“. Ein Name mit Appeal. Die Namensform Petrarca hat eine Endung, die sich in die lateinische Grammatik fügt, ist deklinierbar, es ist eine brauchbare Namensform entstanden. Francesco hatte sich damit in die lateinische Sprache geschrieben. Latein, die Sprache der Literatur, die Sprache der Römer. Selbstkonstituierung in einer anderen Sprache. Dies ist der Ausgangspunkt einer neuen, selbstkonstruierten, komplexen Identität. Sie setzt sich wie folgt zusammen: 1. Ich spreche Lateinisch. Petrarca spricht und denkt und fühlt in der Sprache der Alten, in der Sprache der Literatur, die sich von der ‚Volkssprache‘, dem volgare, abhebt. Er identifiziert sich mit dem Lateinischen. Nicht die Muttersprache im herkömmlichen Sinn zählt, sondern die selbstgewählte, geistige Sprache.
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
2. Petrarca sei ein Römer. Petrarca spricht und fühlt und denkt wie ein Römer. Das bedeutet nichts weniger, als dass Francesco eine Art Reinkarnation darstellt. Es ist auferstanden ein antiker Römer. Ein antiker Römer, der durch einen unglücklichen Zufall in einem falschen Zeitalter gelandet ist. Mit dem Ausdruck des Befremdens in seinen Augen beobachtet er die Mitwelt in ihren unverständlichen Aberrationen. Was? Der Römische Kaiser residiert nicht mehr in Rom, sondern in Prag? Der Papst residiert nicht mehr in Rom, sondern in Avignon? In Colonia Agrippina (Köln) herrschen nicht mehr die Römer, sondern die Barbaren? Was ist vorgefallen? Wie konnte das geschehen? Wie passt diese skurrile Welt in die Sprache, um die es geht, wie in das Denken, um das es geht? Wie reagiert das sprechende und denkende Ich auf die neue Welt? Ein ungeheurer Kreativraum tut sich auf, in dem das Ich sich stets verwundern und alles stets neu besehen kann. 3. Petrarca sei ein antiker Autor. Petrarca spricht, fühlt und denkt nicht nur wie ein Römer, er schreibt auch römisches Latein. In Textgattungen und Diskursen, in denen die antiken Autoren schrieben, zum Beispiel: Petrarca schreibe ein Epos. Er schreibe ein Epos wie Vergil die Aeneis schrieb, ein lateinisches Heldengedicht, als Grundlegung der Größe Roms und des Römischen Reiches. Sein Held wird nicht Aeneas sein. Nicht einer, der den Ort gefunden hat, wird sein Held sein, sondern einer, der das Reich erfunden hat. Das Römische Reich kann nur erfinden, wer das Punische („Afrikanische“) zerschlägt. Sein Held sei Scipio Africanus. Sein Epos heiße Africa. 4. Der Felsentsprungene wandle in den Bergen. Der Felsentsprungene wandle in den Bergen am Karfreitag. Am Karfreitag denke er nach über die Menschwerdung. Die Menschwerdung des Helden, des Begründers des Römischen Reiches. Die Menschwerdung des Helden vollziehe sich: Als ich in jenen Bergen wandelte am sechsten Tag der Osterwoche, überkam mich die Eingebung, eine ganz starke und heftige, dass ich über Scipio Africanus, jenen berühmten Scipio Africanus den Älteren, dessen Namen ich – unerklärlich, weshalb – von frühester Kindheit an liebte, ein Gedicht schreibe, ein Heldenlied […]
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wie man im Brief an die Nachwelt lesen kann.24 Eine Eingebung, ein heiliger Vorgang, ein Wunder, unerklärlich. Die Inspiration der Antike, unerklärlich, genauso unerklärlich wie die Liebe zu Scipio Africanus von frühester Jugend an. 5. Petrarca sei Vergil. Er schreibe ein Epos, ein großes, ein einzigartiges Werk, lange Jahre. Er vollende es nicht. Er verzweifle mehrere Male an seinem Plan. Er habe vor, es dem Feuer zu überantworten. Er verbrenne das Werk jedoch nicht. Das Publikum nehme Teil an dem großen Entstehungsprozess. Manchmal lese er einen Teil vor. Er publiziere das Werk jedoch nicht. 6. Petrarca sei ein Poet. Der Poet lebe in der Einsamkeit. Der Felsentsprungene ziehe sich zurück in die Berge, in ein einsames Tal (Vallis clausa, Vaucluse), in ein einsames bewaldetes Tal, an die Stelle, wo aus dem Felsen die Quelle entspringt. Die Quelle des Dichters, die Quelle der Inspiration. Das ist der ihm eigene Ort, der Ort, an den der Felsentsprungene hingehört. Im Brief an die Nachwelt kann man lesen: Als […] die mir angeborene Abneigung gegen Städte, gegen jene ekelerregende Stadt im besonderen, unerträgliche Formen annahm, suchte ich mir einen Zufluchtsort, an den ich mich, wie in einen Hafen, zurückziehen konnte, und fand ein schmales, aber wunderschönes und einsames Tal, Vaucluse genannt, fünfzehn Meilen von Avignon entfernt, an der Stelle, wo die Sorgue, die Königin der Quellen, entspringt.25
Er heiße fortan der Bewohner der Klause (Vaucluse). Er lebe dort in der Natur, im Walde. 7. Sein Name sei Silvius (Waldmann). 8. Petrarca sei ein gekrönter Poet. Er empfange den Dichterlorbeer, wie ihn die antiken Dichter empfingen. Aus den Händen der wahren irdischen Macht, im Zentrum der wahren irdischen Macht. Er empfange den Dichterlorbeer in Rom, auf dem Kapitol. Sein Name sei fortan: Franciscus Petrarca poeta laureatus.
24 25
Epistola posteritati 21. Epistola posteritati 18.
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Petrarcas Brief an die Nachwelt
Hiermit wäre das Gerüst der petrarkischen Identität erstellt. Die Form, in der der Überblick über diese Identität verfasst ist, soll ihren Charakter und damit auch die Rolle der Autobiographik sichtbar machen. Die autobiographische Identitätskonstituierung ist eine Konstruktion, eine Erfindung. Die Aufgabe der frühneuzeitlichen Autobiographik ist nicht, die objektive Wirklichkeit möglichst genau und originalgetreu abzubilden (was oft impliziert wurde und etwa von Velten zu einem Definitionskriterium erhoben wurde),26 sondern eine (literarisch, sozial etc.) wirksame Identität zu erschaffen. Petrarca konstituiert sich selbst in und mittels der Literatur. Das konstituierende Wort ist beschwörend. Ein beschwörender Imperativ, dem man sich kaum entziehen kann. Er war so wirkungsmächtig, dass diese Selbsterfindung sich in den Petrarca-Biographien bis zum heutigen Tag nahezu kritiklos durchgesetzt hat und dass sie auch in der modernen Forschung ständig mit der außersubjektiven Wirklichkeit verwechselt wird.
26
Das selbst geschriebene Leben, passim. Vgl. oben Kap. I „Einleitung. Gegenstand und Methodik“.
Das Identitätskonstrukt auf der Schlachtbank
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V. Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie Von meinen geheimen innerlichen Konflikten (De secreto conflictu curarum mearum) 1. Wunden und Gewalt: das Identitätskonstrukt auf der Schlachtbank A.: Wenn dir das Gespräch mit mir bisher genützt hat, so bitte ich dich inständig: Weigere dich nicht, das Übrige aufzunehmen! Lege deine streitsüchtige und widerspenstige Haltung ab! F.: Das ist schon geschehen. Ich fühle ja, dass deine Ermahnungen mich von meiner Unruhe größtenteils befreien. Umso mehr bin ich bereit, das Übrige aufzunehmen. A.: Ich habe noch nicht deine ganz empfindlichen und tiefen Wunden berührt. Und ich fürchte sie zu berühren, wenn ich daran denke, welche Menge von Gegenargumenten und Wehklagen bei dir bereits eine weniger schmerzhafte Berührung hervorgerufen hat. A.: Siquid hactenus sermo tibi meus contulit, oro obtestorque, ut te facilem hauriendis, que supersunt, prebeas contentiosumque et reluctantem animum deponas. F.: Factum puta. Sentio enim me tuis monitis magna sollicitudinum mearum parte liberatum, eoque paratior ad reliqua audienda transgredior. A.: Nondum intractabilia et infixa visceribus vulnera tua contigi. Et contingere metuo, recolens quantum altercationis et querelarum levior contactus expresserit.1 A.: […] Es ist gehört sich, dass man sich länger damit beschäftigt und mit einer eindringlichen Meditation der Todesstunde die einzelnen Körperteile durchgeht; dass man sich vergegenwärtigt, wie einem die Hände und Füße kalt werden und der Rumpf erstarrt, wie widerlicher Schweiß ausbricht, wie einem die Eingeweide schmerzen, wie einem, wenn der Tod herankommt, der Atem schwächer wird; weiter, wie die Augenhöhlen tiefer werden und die Augen wässrig schwimmen, einem Tränen in die Augen steigen, wie sich die Stirne in Falten legt und eine bläuliche Farbe bekommt, wie die Knie schlottern, die Zähne verfallen, die Nase erstarrt und spitz wird, wie sich Schaum auf die Lippen legt, die Zunge erstarrt und schuppig wird, wie der Gaumen austrocknet, der Kopf ermüdet, die Brust
1
Secretum III; der lateinische Text wird hier zitiert nach der Ausgabe von Martellotti, Petrarca, Secretum, Turin 1977, 110.
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
keucht, wie die Stimme rau wird, wie man traurige Seufzer von sich gibt, wie der Körper anfängt zu stinken, und vor allem, wie das Gesicht auf schreckliche Weise entfremdet. A.: […] Immorari diutius oportet atque acerrima meditatione singula morientium membra percurrere; et extremis quidem iam algentibus media torreri et importuno sudore diffluere; ilia pulsari, vitalem spiritum mortis vicinitate lentescere. Ad hec defossos nantesque oculos, obitum lacrimosum, contractam frontem liventemque, labantes genas, luridos dentes, rigentes atque acutas nares, spumantia labia, torpentem squamosamque linguam, aridum palatum, fatigatum caput, hanelum pectus, raucum murmur et mesta suspiria, odorem totius corporis molestum, precipueque alienati vultus horrorem.2
Dieses Gespräch aus Petrarcas autobiographischem Dialog Von meinen geheimen innerlichen Konflikten (De secreto conflictu curarum mearum)3 wird nicht, wie andere humanistische Dialoge, als angenehme Unterredung unter gelehrten Freunden präsentiert. Es ist von Wunden, Gewaltanwendung, schmerzhaften Berührungen sowie vom Tode die Rede. F (Franciscus) ist derjenige, der die Wunden trägt und in dem Gespräch leiden muss. Die andere Dialogperson A (Augustinus) deckt die Wunden schonungslos auf, berührt sie und bringt das Gespräch auf das, was F unangenehm ist und F lieber nicht hören will. Das Gespräch mag einer 2 3
Secretum I (ed. Martellotti), 34. Das Secretum, das in der Forschungsliteratur reichlich Aufmerksamkeit erhalten hat, ist immer wieder als Spiegel der inneren Entwicklung Petrarcas verstanden worden. Davon unterscheidet sich vorliegender Abschnitt insofern, als in ihm das Werk vornehmlich als literarischer Angriff auf das selbsterrichtete Identitätskonstrukt interpretiert wird. Die wichtigsten Studien zum Secretum sind H. Baron, Petrarch’s „Secretum“. Its Making and its Meaning,, Cambridge, Massachusetts 1985; F. Rico, Vida y obra de Petrarca, Bd. I: Lectura del Secretum, Chapel Hill 1975 und F. Tateo, Dialogo interiore e polemica ideologica nel „Secretum“ del Petrarca, Florenz 1965. Zur Datierungsfrage, die bei Baron im Vordergrund steht, vgl. weiter F. Rico, „Sobre la cronología del „Secretum“: las viejas leyendas y el fantasma nuevo de un lapsus biblico“, in: Studi Petrarcheschi n.s. 1 (1984), 51–102 und G. Ponte, „Nella selva del Petrarca: La discussa data del ‚Secretum‘“, in: Giornale storico della letteratura italiana 167 (1990), 1–63. Gattungsbedingte Fragen werden von M. Föcking, „„Dyalogum quendam“. Petrarcas Secretum und die Arbeit am Dialog im Trecento“, in: K. Hempfer (Hrsg.), Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart 2002, 75–114, V. Kahn, „The Figure of the Reader in Petrarch’s Secretum“, in: Publications of the Modern Language Association of America 100 (1985), 154–166 und J. Lacroix, „Pétrarque, un humaniste à la découverte de la littérature du secret“, in: Razo. Cahiers du centre d’études médiévales de Nice 11 (1990), 35–47, diskutiert.
Das Identitätskonstrukt auf der Schlachtbank
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Sitzung bei einem Psychiater ähneln. Jedoch fällt in dieser Beziehung die apodiktische, niemals empathische, vielmehr oft aggressive Vorgehensweise des Gesprächsleiters A auf, der nicht auf die Ansichten des Patienten eingeht, sondern ihn sozusagen in Stücke hackt und keinen Einwand oder Widerspruch duldet. A und F sind keine gleichberechtigten Dialogpartner. A ist in jeder Hinsicht übergeordnet: A hat die Macht und das Sagen – A bestimmt den Dialogverlauf; Fs Rolle beschränkt sich darauf, auf die von A gewünschte Weise zu reagieren. Was A hervorbringt, ist für F meist peinlich und schmerzlich. A scheint eine exklusive Vorliebe für radikale und schmerzliche Therapien zu haben. Was hat es damit auf sich? Es bereitete der Forschung Schwierigkeiten, genau zu bestimmen, wovon Petrarcas Secretum handelt. Meist wurde das Werk als Beschreibung von Petrarcas geistig-seelischer Entwicklung gedeutet.4 Diese wurde zuweilen als religiöse Entwicklung aufgefasst. Mehrfach wurde behauptet, dass für sie das Vorbild von Augustins Confessiones ausschlaggebend gewesen sei. In der Tat gab es ein religiöses Gedankenangebot, das für Petrarca etwa ab dem Jahr 1344 aktuell geworden sein kann. Das „Greisenalter“ („senectus“) setzte man im Mittelalter und in der frühen Neuzeit relativ früh an, etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr. Von diesem Zeitpunkt an sollte sich der Mensch auf den Tod vorbereiten, das heißt, er sollte sein spirituelles Leben so gestalten, dass es verstärkt den Anforderungen des Christentums entspricht. Bekehrung, Einkehr, Umkehr – ein verstärktes Sich-Lossagen vom Sinnlichen, Materiellen, von den Sünden, war das Gebot. Ohne zu entscheiden, inwiefern dieses Gedankenangebot den Inhalt des Secretum bildet, darf man festhalten, dass es sich um ein sehr geläufiges Gedankenangebot handelte, das für Petrarcas Leserschaft abrufbereit war. Weiter ist festzuhalten, dass Augustins Bekenntnisse (Confessiones) ein Gedankenangebot machten, das Petrarca stets in Griffnähe hatte: Er besaß von dem Werk ein ‚Taschenbuch‘ (kleinformatige Handschrift), welches ihm sein Freund, der Augustinermönch Dionigi da Borgo San Sepolcro, geschenkt hatte. Dabei handelte es sich um ein Geschenk mit Symbolcharakter (Selbstbiographie des Ordensgründers). Die kleinformatige Handschrift eignete sich besonders gut als Meditationsbuch, da man sie in der Manteltasche mühelos überallhin mitnehmen und somit an beliebigen Orten über den Text nachdenken konnte. Petrarca hat das 4
Vgl. die oben zitierte Literatur.
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
anscheinend in der Tat getan. Zum Beispiel will er in Familiares IV, 1 das Taschenbuch mit den Confessiones auf den Mont Ventoux mitgenommen und auf dem Gipfel aufgeschlagen haben.5 Das Gedankenangebot betrifft eine der eindrucksvollsten Selbstgeschichten überhaupt: Augustin hat darin seinen langen und mühevollen Weg zu Gott (er war Atheist, Rationalist, Platoniker und Manichäer gewesen) aufzeichnet, der in seine Bekehrung zum Christentum mündete. Der Gedanke wäre an sich keineswegs abwegig, dass Petrarca Augustins Confessiones hätte nachahmen wollen. Bei einer Analyse des Secretum stellt sich freilich heraus, dass darin keine Entwicklung von Zustand X zu Zustand Y dargestellt wird. Die Dialogperson A fordert von der Dialogperson F gewisse Handlungen und Maßnahmen ein, die F noch nicht genommen hat. Weiter ist für die Konzeption der ‚Entwicklung‘ bezeichnend, dass sie stufen- oder etappenweise bzw. allmählich stattfindet. Davon ist im Secretum jedoch nicht die Rede. Es gibt nur Zustand X; Zustand Y ist noch nicht erreicht; zu ihm kann man nur durch eine radikale, gewaltsam auferlegte Kehrtwende gelangen. Wie ist das zu erklären? Was genau wird im Secretum verhandelt? Es stellt sich heraus, dass es im Secretum nicht um eine religiöse conversio im herkömmlichen Sinn geht. Die Wunden, die dort aufgedeckt und sozusagen chirurgisch behandelt werden, beziehen sich merkwürdigerweise sämtlich auf Petrarcas Identität, die schwierige, künstliche Identität, die er in seinem literarischen Werk konstruiert hat: Mein Name sei Franciscus Petrarca. Ich sei ein antiker Dichter. Ich sei Silvius. Ich lebe in der Einsamkeit, im Walde, an der Quelle. Ich lebe an der Quelle der Musen. Ich bin ein Römer. Ich trage den Lorbeer der Dichter: Ich liebe laurea (den Lorbeerkranz)/Laura. Ich lebe für den ewigen Ruhm. Mit dieser selbstkonstruierten Identität hatte sich ihr Erfinder mächtigem Druck ausgesetzt; einerseits einem literarischen Erwartungsdruck (Wo blieb das Epos? Wo die anderen Werke? Ist ihre Qualität tatsächlich 5
Familiares IV, 1, 26. Die Besteigung des Mont Ventoux bildet ein Sonderproblem, das in diesem Zusammenhang nicht diskutiert zu werden braucht. Vgl. dazu die Bibliographie IV.1.
Entautorisierung des Autors und des Publikums
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so gut wie der Autor verspricht? Ist der Verfasser wirklich ein neuer Vergil?), andererseits einem moralischen Druck (Gehen die Neuerungen nicht zu weit? Sind sie überhaupt moralisch vertretbar?). Die Diskontinuität zwischen Petrarcas Konstrukt und der Mitwelt war, wie oben gezeigt wurde, außerordentlich groß, der Bogen bis zum Zerreißen gespannt. Die Dichterkrönung, mit der Petrarca sein Identitätskonstrukt 1341 zementiert hatte, erhöhte den Druck nur noch weiter. Einige Jahre nach der Dichterkrönung fing Petrarca an, an dem Identitätskonstrukt zu leiden. Das ist der Kontext, der schließlich zur Abfassung des Secretum führte.6 Petrarca bezweifelte, dass er den selbsterhobenen himmelhohen Ansprüchen je gerecht werden könnte. Er suchte ein Mittel, um den Druck zu vermindern. Das Identitätskonstrukt musste auf irgendeine Weise unschädlich gemacht werden.
2. Die Respublica litteraria auf den zweiten Rang: Entautorisierung des Autors und des Publikums Das Identitätskonstrukt, das Petrarca schmerzlich bedrückte, hing eng mit dem Publikum der Respublica litteraria zusammen, von dem sowohl der literarische Erwartungsdruck als auch der moralische Druck ausging. Es war Petrarca klar: Wenn er von seinem Publikum ausging, würde er sein Identitätskonstrukt wohl nie verlassen können. Wenn er jedoch sein Identitätskonstrukt beherzt unter Beschuss nehmen würde, wäre es unvermeidlich gewesen, dass er zugleich sein Publikum beleidigte, jedenfalls insofern es sich aus Petrarca-Anhängern und Humanismusbegeisterten zusammensetzte. Die unauflösliche Verstrickung seines Problems mit seinem Lesepublikum brachte Petrarca auf den Gedanken, sich seines Publikums formal zu entledigen. Das Secretum sollte nicht denselben Status wie seine übrigen Werke erhalten: Es sollte nicht publiziert werden. Die Tatsache der Nichtfreigabe zur Publikation geht u. a. daraus hervor, dass das Werk weder den prächtigen Autorsnamen Petrarca noch den Namen eines Adressaten trägt. Der Titel gibt an, dass es sich um eine Geheimschrift handle. Diesbezüglich hält Petrarca explizit fest: 6
Die Datierung des Secretum ist problematisch; vgl. dazu v. a. Baron, Petrarch’s „Secretum“. Its Making and its Meaning und Rico, Vida y obra de Petrarca, Bd. I: Lectura del Secretum. Jedenfalls ist das Werk geraume Zeit nach der Dichterkrönung (1341) und vor dem Zeitpunkt, an dem Petrarca die Provence endgültig verließ (1353), geschrieben worden.
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
Damit also diese ganz persönliche Unterredung nicht ihre Kraft verliert, wenn ich mich daran mache, sie aufzuzeichnen, habe ich sie in das Gefäß dieses Büchleins gegossen. Wohlgemerkt nicht, um es meinen übrigen Werken zuzuzählen oder um damit Schriftstellerruhm zu erwerben […], sondern um das wunderbare Gefühl, das mir einmal aus dieser Unterredung zuteil wurde, sooft es mir gefällt, aus der Lektüre wieder aufzurufen. Du also, mein Büchlein, das du den Umgang mit den Menschen meidest, mögest dich damit abfinden, bei mir zu bleiben, indem du dir deinen Titel zu Herzen nimmst. Denn du seist und heißest mein Secretum (Geheimnis). Hoc igitur tam familiare colloquium ne forte dilaberetur, dum scriptis mandare instituo, mensuram libelli huius implevi. Non quem annumerari aliis operibus meis velim aut unde gloriam petam […], sed ut dulcedinem, quam semel ex collocutione percepi, quotiens libuerit, ex lectione percipiam. Tuque ideo, libelle, conventus hominum fugiens mecum mansisse contentus eris, nominis proprii non immemor. Secretum enim meum es et diceris.7
Lejeunes Autobiographiedefinition, der „autobiographische Pakt“, nach dem der Autor dem Leser bestätigen soll, dass er, der Autor, mit dem Gegenstand des Werkes identisch sei,8 reicht zu Erfassung eines Werkes wie des Secretum nicht aus, da der Autor nichts bestätigt, sondern im Gegenteil den Autorsnamen ablegt. Nur mehr der Vorname Franciscus bleibt übrig. Dieser ist jedoch, da es zehntausende Francisci gab, nicht distinktiv. Anstatt zu autorisieren, ent-autorisiert sich Petrarca. Diese Tatsache ist entscheidend. Zum Zweck seiner Argumentation will er das enge Verhältnis, das ihn mit seinem Publikum verband, stören. Die Entautorisierung des Autors kommt einer Entautorisierung des Publikums gleich. Es darf nur gewissermaßen versteckt zusehen. Es muss seinen direkten Einfluss auf die Performanz des Schriftstellers abgeben. Natürlich wollte Petrarca, dass sein Publikum unter diesen veränderten Prämissen mitschaue.9 Sonst wäre der geistigen Operation kein Erfolg beschert gewesen. Das Publikum sollte verstehen, dass es von dem lorbeerbekränzten Dichter die Vollendung seines dichterischen Hauptwerkes, des großen lateinischen Epos, nicht mehr erwarten durfte; dass der lorbeerbekränzte Dichter im Begriff war, eine andere Identität anzunehmen.
7 8
9
Secretum I (ed. Martellotti), 6. Ph. Lejeune, Der autobiographische Pakt (urspr. franz. u. d. T. Le pacte autobiographique, Paris 1975). Die beträchtliche Anzahl der überlieferten Handschrift lässt vermuten, dass es der Autor mit dem ‚Schubladengebot‘ des Werks nicht genau nahm.
Augustins Rolle: Personifizierung des Diskurses
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3. Augustins Rolle im Secretum: Personifizierung des Diskurses Das Secretum wurde häufig als Nachahmung von Augustins Confessiones gedeutet. Diesbezüglich sind jedoch einige Klarstellungen erforderlich. Man muss hervorheben, dass das Werk im Gegensatz zu den Confessiones keine religiöse Bekehrung beschreibt. Es geht höchstens um ein vorbereitendes Gespräch zu einer möglichen intellektuellen Neuorientierung, die zudem auf eine Weise dargestellt wird, dass sie nicht mit einer christlichen conversio identisch ist. Diese Diskontinuität tritt umso klarer hervor, wenn man der Frage nachgeht, inwiefern die Confessiones ein passendes Modell hergegeben hätten, falls Petrarca eine Bekehrung Marke Augustin hätte darstellen wollen. Die Confessiones hätten in diesem Fall nämlich wie angegossen gepasst! Augustins ‚Irrweg‘ der Rhetorik läuft zu Petrarcas ‚Irrweg‘ des Dichtertums parallel, ebenso beider Streben nach irdischem Ruhm, das in beiden Fällen mit öffentlicher Anerkennung belohnt wurde, in Augustins Fall mit der Rhetorikprofessur, in Petrarcas Fall mit der Dichterkrönung. Auch die Irrwege der irdischen Liebe hätten sich unschwer parallel schalten lassen: Augustins freizügiges Liebesleben in seiner Studentenzeit in Carthago sowie sein langjähriges uneheliches Verhältnis, aus dem sein Sohn Adeodatus hervorging, ähnelt Petrarcas unehelichem Verhältnis zu einer von ihm nicht namentlich genannten Frau in Avignon, von der er einen Sohn und eine Tochter hatte. Augustins Glaube an die Legitimität des Römischen Reiches hätte man mit Petrarcas Glauben an die Legitimität des Römischen Reiches der Antike gleichsetzen können. Augustins ‚Irrweg‘ des Platonismus stellt eine interessante Parallele zu Petrarcas ‚Irrglauben‘ an die antike Philosophie dar, wie sie in Ciceros Dialogen beschrieben wird usw. Es gab also verlockende Parallelen genug. Es ist daher umso bemerkenswerter, dass Petrarca den Weg der Confessiones-Nachahmung nicht eingeschlagen hat. Das, was Augustin in seinen Confessiones vorgeführt hat, ist offensichtlich nicht mit dem identisch, was Petrarca im Secretum zum Ausdruck bringen will. Petrarca will im Secretum nicht sagen ‚ich bin jetzt Christ geworden‘ bzw. ‚ich bin jetzt ein guter Christ geworden‘. Welchen Sinn hätte eine solche Behauptung im Übrigen ergeben? Wer hätte schon bezweifeln wollen, dass Petrarca ein Christ bzw. ein guter Christ sei? Weiter wäre es nicht sehr sinnvoll gewesen, die Botschaft zu vermitteln: ‚Ich bin ein neuer Augustin‘. Eine Gleichsetzung mit einem Kirchenvater wäre schon vom Ansatz her fragwürdig und unglaubwür-
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
dig gewesen. Das Lesepublikum hätte das wohl als Akt der Hybris bewertet. Es war also von vorneherein klar: Das Gewand von Augustins Confessiones passte nicht. Somit kam für Petrarca weder die Nachahmung von Augustins Lebenslauf, wie sie in den Confessiones hervortritt, noch die Geschichte von der Bekehrung zum Christentum, noch die spezifische Form der Confessiones, des an Gott gerichteten Monologs, in Betracht. Das Secretum ist also schon aus diesen Gründen nicht als Nachahmung der Confessiones zu verstehen. Augustin spielt im Secretum eine andere Rolle. Im Secretum richtet Augustin seine Gesprächsleitung nach der Topik des Sündenregisters (Beichtformel)10 ein, dem die Systematik der Sieben Hauptsünden zugrunde liegt. Damit teilt Petrarca der Dialogperson Augustin die Rolle eines Beichtvaters zu. Diese Gedankenfiguration bestimmt den Diskurs des gesamten Werkes. Das Beichtgespräch ist der Diskurs, in dem Petrarca sein Identitätskonstrukt unter Beschuss nimmt. Welcher Vorteil ergibt sich daraus? Dass es ihm auf diese Weise gelingt, seine ‚Wandlung‘ plausibel darzustellen: Die Beichte war im 14. Jahrhundert ein so eingefleischtes Kulturphänomen, dass sie keiner weiteren Rechtfertigung oder Autorisierung bedurfte. Vielmehr war sie es, die Selbstaussagen besser als alles andere zu autorisieren vermochte, nicht nur gegenüber der humanistischen Respublica litteraria, sondern gegenüber dem gesamten denkbaren Lesepublikum. Jedermann war von ihrem Nutzen bzw. ihrer Notwendigkeit überzeugt. Was im Rahmen der Beichte gesagt wurde, durfte den größtmöglichen Wahrheitsanspruch erheben. Das Diskursreglement der Beichte verbietet die Lüge schon im Vorfeld. Wenn Petrarca also sein Identitätskonstrukt in Frage stellen wollte, war keine Form geeigneter als diese. Die Leser, die versteckt mitschauen durften, würden der vertraulichen Aussage der Beichte unbedingt Glauben schenken. Die Tatsache, dass die christliche Beichte geheim ist, passt hervorragend zum Titel des Werkes, Secretum. Wie in Petrarcas Secretum ist auch der private Raum, in dem die Beichte stattfand, relativ. Beichtstühle waren im 14. Jahrhundert nicht geschlossen,11 d. h. der private Raum ging in den öffentlichen über, insofern das Publikum dem Beichtvorgang zusehen durfte. Für die Beichte ist der Beichtvater, der mit der Beichtjurisdiktion ausgestattete Priester und Sakramentverwalter als Autorisierungsinstanz 10 11
Siehe L. Hödl et alii, Art. „Beichtformeln“, in: LMA, Bd. I (1980), Sp. 1812–1819. Vgl. W. Schlombs, Die Entwicklung des Beichtstuhls in der katholischen Kirche, Köln 1965; H. Hundsbichler, Art. „Beichtstuhl“, in: LMA, Bd. I (1980), Sp. 1819.
Das Identitätskonstrukt im Beichtstuhl
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und condicio sine qua non wesentlich. Augustin spielt im Secretum diese Rolle, d. h. er personifiziert den für das Werk grundlegenden Diskurs. Es ergibt sich die Frage, weshalb Petrarca hierfür gerade Augustin auswählte. Weshalb nahm Petrarca nicht einen Zeitgenossen, zum Beispiel Dionigi da Borgo San Sepolcro, der, als der Dichter noch in Avignon weilte, tatsächlich sein Beichtvater war?12 Der Hauptgrund ist wohl darin zu suchen, dass Dionigi, wie nicht wenige von Petrarcas intellektuellen Zeitgenossen, von dem prächtigen Identitätskonstrukt des Dichters ‚infiziert‘ waren, d.h. sie gehörten dem Publikum der humanistischen Respublica litteraria zu, das im Secretum auf den zweiten Rang verwiesen werden sollte. Wenn Petrarca die Autorisierung der Vernichtung seines Identitätskonstrukts erstrebte, konnte diese nicht von Dionigi cum suis geleistet werden. Ein solcher Schritt wäre nicht glaubwürdig gewesen. Denn diese bewunderten Petrarca gerade für das, von dem jetzt Abstand genommen werden sollte. Von einer kirchlichen Person der Vergangenheit wie Augustin war die erforderliche Unabhängigkeit und spirituelle Überlegenheit zu erwarten. Es bedarf keiner eingehenden Erörterung, dass Augustin Dionigi in puncto Autorität bei weitem übertraf: Es ist klar, dass ein Ordensgründer mehr Gewicht auf die Waagschale legt als spätere Mitglieder des Ordens und dass ein Heiliger grössere Autorität besitzt als ein noch lebender Mensch. Hinzu kam, dass für Petrarca alle Autorisierung prinzipiell von der Antike ausging. Augustins Vorteil war, dass er in sie hinabreichte und somit in puncto Autorisierung ein wirksames Gegenmittel zur antiken Autorisierung des Dichterideals abgeben konnte.
4. Das Identitätskonstrukt im Beichtstuhl Dem Regulativ des Beichtgesprächs entspricht, dass man sich dem Beichtvater völlig öffnet; dass man die hierarchische Überordnung des Gesprächsleiters, der die Struktur bestimmt und die Maßregeln vorschlägt, uneingeschränkt anerkennt: Der Beichtende ist prinzipiell bereit, zu bekennen (auch wenn er sich nicht schuldig vorkommt) und alles zu tun, um sein Leben zu bessern. Die Aufgabe des Beichtvaters ist es, den Vorgang des Bekennens und der Selbsterforschung zu unterstützen und ein vollständiges Bekenntnis zustande zu bringen; in Punkten, wo ein solches fehlt, nachzufragen, zu korrigieren, die Sünden zu orten und 12
Zu Dionigi da Borgo San Sepolcro und Petrarca vgl. Di Stefano, „Dionigi da Borgo S. Sepolcro, amico del Petrarca e maestro del Boccaccio“.
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
ihnen auf den Grund zu gehen. Augustin geht möglichst gründlich vor, indem er stets auch die erforderliche Beichtattitüde thematisiert. Bei seiner Befragung geht er systematisch die Sieben Hauptsünden durch. Genauigkeit, Gründlichkeit sowie die Erörterung der Voraussetzungen zur Beichte war in Petrarcas Fall besonders erwünscht. Denn das prächtige Identitätskonstrukt erwies sich als äußerst widerspenstig. Es sonnte sich in seiner schillernden Schönheit und einnehmenden Komplexität. Es wollte gar nicht zur Beichte. Es war so wohlkonstruiert und sorgfältig gestrickt, dass sich seine Fäden von vorneherein dem Entwirren widersetzten. Daraus bezieht der Dialog seine Spannung, denn der Beichtvater war hier wirklich gefordert. Das Nachfragen, Nachhaken, Korrigieren spielt im Dialog eine wesentliche Rolle. Wie das erste oben aufgeführte Textzitat zeigt, kostete es Augustin viel Mühe, zum springenden Punkt vorzustoßen. Er muss stets bohrende Fragen stellen, immer wieder aggressiv vorgehen. Indem Augustin die Hauptsünden durchgeht, stellt sich heraus, dass das Konstrukt nicht mit den Sünden des Neids (invidia), der Habgier (avaritia)13, der Völlerei (gula),14 der Lust (luxuria)15 und des Zorns (ira)16 verbunden ist. Sie stellen für Franciscus keine ernstzunehmenden Bedrohungen dar. Augustin bohrt weiter, indem er Franciscus über sich selbst reden lässt. Es stellt sich heraus, dass er unter einem zunächst nicht genau definierten seelischen Krankheitszustand, der einer allgemeinen Deprimiertheit ähnelt, leidet. Wo ist der seelische Krankheitszustand zu verorten? Franciscus versucht, ihn näher zu beschreiben: Wenn der Krankheitszustand spürbar wird, verzweifelt er an sich und der Welt. Alles erscheint sinnlos. Wohin soll das Schreiben lateinischer Werke führen? Was ist von dieser Welt zu erhoffen? Sie ist geprägt von moralischer Unvollkommenheit, Schwäche, Elend, Krieg, Wahnsinn, Krankheit, Tod. Die Welt ist ein Narrenhaus, ein Lazarett, ein Gräberfeld, eine Vorhölle. Das Schreiben lateinischer Werke wird daran nichts ändern. Franciscus’ geistiges Feuer ist nahe daran, zu erlöschen. Die negativen Gedanken paralysieren ihn, er ist zu nichts mehr imstande. Er kann sich nicht von diesem Zustand befreien. Aufgrund dieser Beschreibung vermag Augustin die Sünde mit Namen zu benennen: accidia (geistige Trägheit). 13 14 15 16
Secretum II (ed. Martellotti), 62–72. Secretum II (ed. Martellotti), 76. Secretum II (ed. Martellotti), 78 ff. Secretum II (ed. Martellotti), 76.
Das Identitätskonstrukt im Beichtstuhl
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A.: Du leidest an jener tödlichen Seuche, die die Modernen „accidia“ nennen, die Alten als die „Krankheit“ (egritudo) bezeichneten. F.: Schon der Name der Krankheit lässt mich erzittern. A.: Kein Wunder, sie plagt dich ja schon lange Zeit, und zwar in einer heftigen Form. F.: Ich gebe das unumwunden zu. Und mir widerfährt dabei dasselbe wie bei fast allem, das mich bedrängt, nämlich dass dem Schmerz eine gewisse trügerische süße Lust beigemengt ist. Wenn die Krankheit mich befällt, dann erscheint mir alles traurig und elend und schrecklich; immer steht dann das Tor zur Verzweiflung weit offen und zu allem, was unglückliche Seelen in den Untergang treibt. Hinzu kommt, dass, während die übrigen Leiden der Seele mich zwar oft, jedoch nur kurzfristig heimsuchen, diese Seuche mich zuweilen so hartnäckig in ihren Fängen hält, dass sie mich tage- und nächtelang foltert. Während dieser Zeit will es mir vorkommen, dass ich nicht lebe, sondern dass ich mir in der nachtschwarzen Unterwelt und im Zustand des schrecklichsten Todes befinde. Und – was man man als Gipfel des Elends bezeichnen kann – ich weide mich so pervers an meinen Tränen und an meinem Schmerz, dass ich mich nur ungern von der Krankheit trenne. A.: Habet te funesta quedam pestis animi, quam accidiam moderni, veteres egritudinem dixerunt. F.: Ipsum morbi nomen horreo. A.: Nimirum, diu per hunc graviterque vexatus es. F.: Fateor, et illud accedit, quod omnibus ferme, quibus angor, aliquid licet falsi dulcoris inmixtum est; in hac autem tristitia et aspera et misera et horrenda omnia apertaque semper ad desperationem via et quicquid infelices animas urget ad interitum. Ad hec, et reliquarum passionum ut crebros, sic breves et momentaneos experior insultus; hec autem pestis tam tenaciter me arripit interdum, ut integros dies noctesque illigatum torqueat, quod michi tempus non lucis aut vite, sed tartaree noctis et acerbissime mortis instar est. Et (qui supremus miseriarum cumulus dici potest) sic lacrimis et doloribus pascor atra quadam cum voluptate, ut invitus avellar.17
Accidia hat irgendetwas mit dem Identitätskonstrukt zu tun. Was liegt dieser Sünde zugrunde? Franciscus schreibt die Schuld dem Stadtaufenthalt in Avignon zu, welcher sich schlecht mit der selbstgeschaffenen Dichteridentität vertrage: F.: Wer vermöchte meinen Lebensekel und meinen tagtäglich wiederkehrenden Überdruss in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen, – diese widerwärtigste, erstickendste und unruhigste Stadt der Welt, wo aller Auswurf und Schmutz der Erde angehäuft ist! Wer könnte in Worte gießen, was im Einzelnen meinen Abscheu erweckt? Diese stinkenden Straßen voll tollwütiger Hunde und schmutziger Schweine, das Gerassel der Räder, die an die Hausmauern stoßen, die Pferdegespanne, die sich gegenseitig behindern und den Durchgang versperren?
17
Secretum II (ed. Martellotti), 86.
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So viele unterschiedliche Menschen, einerseits der grässliche Anblick von Bettlern, andererseits der Wahnsinn der Reichen; jene vor Traurigkeit erstarrt, diese ganz übersprudelnd von Übermut und Frivolität. Überall Zank und Streit, Lug und Trug, ein Durcheinander von schreienden Stimmen, das Gewühl des drängelnden und stoßenden Pöbels. Solche Dinge reiben begabten Leuten, die an Besseres gewöhnt sind, den Geist auf, rauben ihnen alle Ruhe und stören sie beim Studium von Wissenschaft und Literatur. So wahr mich Gott aus diesem Schiffbruch errette, es kam mir, als ich umherblickte, häufig vor, als ob ich lebendigen Leibes in die Hölle gefahren wäre. Komm nur, und schaffe dann etwas Gutes! Komm, und beschäftige dich mit edlen Gedanken! Komm nur, und ersinne dann wohlklingende Verse! F.: Quis vite mee tedia et quotidianum fastidium sufficienter exprimat, mestissimam turbulentissimamque urbem terrarum omnium, angustissimam atque ultimam sentinam et totius orbis sordibus exundantem? Quis verbis equet, que passim nauseam concitant: graveolentes semitas, permixtas rabidis canibus obscenas sues et rotarum muros quatientium stridorem aut transversas obliquis itineribus quadrigas; tam diversas hominum species, tot horrenda mendicantium spectacula, tot divitum furores: illos mestitia defixos, hos gaudio lasciviaque fluitantes; tam denique discordantes animos artesque tam varias, tantum confusis vocibus clamorem et populi inter se arietantis incursum? Que omnia et sensus melioribus assuetos conficiunt et generosis animis eripiunt quietem et studia bonarum artium interpellant. Ita me Deus ex hoc naufragio puppe liberet illesa, ut ego sepe circumspiciens in infernum vivens descendisse michi videor. I nunc, et boni aliquid tecum age. I nunc, et honestis cogitationibus incumbe! I nunc et versus tecum compone canoros.18
Aus dieser polemischen Tirade lässt sich ersehen, dass sich das Identitätskonstrukt mit aller Kraft dem Abriss, welchen A vornimmt, entgegenstemmt. Der Gedankengang, den F hier wiedergibt und den wir bereits kennen, ist Teil des Konstrukts (Nr. 6 und 7): Petrarca sei ein Poet. Der Poet lebe in der Einsamkeit. Der Felsentsprungene ziehe sich zurück in die Berge, in ein einsames Tal (Vallis clausa, Vaucluse), in ein einsames bewaldetes Tal, an die Stelle, wo aus dem Felsen die Quelle entspringt. Die Quelle des Dichters, die Quelle der Inspiration. Er heiße fortan der Bewohner der Klause (Vaucluse). Er lebe dort in der Natur, im Walde. Sein Name sei Silvius (Waldmann). In der Stadt kann der Dichter der Einsamkeit nicht dichten und verliert damit seine Existenzgrundlage. Daher deprimiert ihn der Stadtaufenthalt. Da er sich meist in der Stadt aufhalten muss, ist er meist depri-
18
Secretum III (ed. Martellotti), 100. Das Zitat stammt aus Horaz, Epistulae II, 2, 76.
Das Identitätskonstrukt im Beichtstuhl
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miert. Man sehe die komplexe Verzahnung des Konstrukts. Dieses muss unbedingt entkräftet werden, sonst ist der therapeutische Erfolg schon zu diesem frühen Zeitpunkt abgeschnitten. Aber wie? Der Dialogpartner Augustin bedient sich der Gedankenführung der Stoa. Er argumentiert, dass es sich bei den Widerwärtigkeiten, die Petrarca anprangert, um Äußerlichkeiten handelt, die der Kategorie der Adiaphora (gleichgültige Dinge) zuzuzählen sind. Davon darf sich der Weise nicht beeinträchtigen lassen. Ein paar bellende Hunde oder das Rasseln der Räder! Augustin folgert: Die selbstkonstruierte Identität behindert Franciscus, macht ihn labil und verwundbar. Wenn er von dem Konstrukt ‚ich sei ein Dichter‘, ‚der Dichter lebe in der Einsamkeit‘, ‚er lebe in den Bergen‘ usw. absieht, wird er aufhören, den Stadtaufenthalt als bedrückend zu erfahren. Diese Argumentationsschritte dienen dazu, zum Kern des Problems vorzustoßen. Als dieses erkennt Augustin gerade das, was Franciscus bisher als das Beste seiner Identität betrachtet hat: seine Identität als gekrönter Dichter (poeta laureatus) und seine Hingabe an den Schriftstellerruhm, unauflöslich verbunden mit der Anbetung Lauras. Es handelt sich hierbei um Nr. 8 des Identitätskonstruktes: Petrarca sei ein gekrönter Poet. Er empfange den Dichterlorbeer, wie ihn die antiken Dichter empfingen. Aus den Händen der wahren irdischen Macht, im Zentrum der wahren irdischen Macht. Er empfange den Dichterlorbeer in Rom, auf dem Kapitol. Sein Name sei fortan: Franciscus Petrarca poeta laureatus. Ewiger Ruhm sei sein Teil. Das Identitätskonstrukt wehrt sich nunmehr mit allen Kräften. Franciscus will diesbezüglich nichts bekennen. Er beträgt sich wie ein Kind, dem man sein schönstes Spielzeug wegnehmen will: A.: Dich fesseln bis jetzt an der linken und an der rechten Hand zwei eherne Ketten, die dich abhalten, sowohl über den Tod als auch über das Leben nachzudenken. Ich habe immer befürchtet, diese zwei Ketten könnten dich in den Untergang reißen. Und auch jetzt bin ich hierüber nicht beruhigt und werde nicht beruhigt sein, bevor klar ist, dass du frei bist, dass die Ketten zerrissen sind und du sie abgeschüttelt hast. […] Da aber in dieser Sache dein Einverständnis notwendig ist, befürchte ich, dass du es nicht geben kannst, oder richtiger: nicht willst. Ich befürchte sehr, dass der Glanz, der von den Ketten ausgeht und der deine Augen verführt, dich davon abhält. Ich befürchte, dass vielleicht das eintritt, was der Fall ist, wenn ein Geizhals mit goldenen Ketten gefesselt gefangen gehalten wird: Er möchte zwar befreit werden, aber die goldenen Ketten möchte er nicht verlieren. Für dich gilt freilich jene eherne Gesetzmäßigkeit der Gefangenschaft, dass du nicht frei sein kannst, solange du noch Ketten trägst. F.: Wehe mir! Ich bin in tieferes Elend gesunken, als ich dachte! Zwei Ketten, die ich nicht kenne, halten meinen Geist auch jetzt noch gefangen?
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A.: Ja, zwei Ketten von schönstem Glanz. Du aber, der du dich an ihrer Schönheit erfreust, betrachtest sie nicht als Ketten, sondern als wertvollen Besitz […]. Zwar siehst du jetzt (wie der mit goldenen Ketten gefesselte Geizhals) mit offenen Augen die Ketten, die dich fesseln, aber – oh Blindheit! – du erfreust dich an ihnen, obwohl sie dich in den Untergang zerren, und, was das Allerelendste ist, du bist sogar stolz auf sie. F.: Welche sind die Ketten, von denen du redest? A.: Liebe (amor) und Ruhmsucht ( gloria ). F.: Bei den Göttern, was muss ich hören? Diese betrachtest du als Ketten und du willst sie mir, wenn ich damit einverstanden bin, abnehmen? […] Woher habe ich mir denn das verdient, dass du mir die schönsten Gegenstände rauben willst und den erhabensten Teil meines Geistes zu ewiger Dunkelhaft verdammst?19
Während sich Franciscus in die Enge getrieben fühlt, wendet Augustin unerbittlich die ihm anvertraute Machtposition an: Er greift den Kern von Franciscus’ Identitätskonstrukt, den Erwerb ewigen Ruhmes, an: A.: […] Wisse, dass der Ruhm nichts anderes ist als ein allgemein verbreitetes Gerede über jemanden, aus den Mündern vieler. […] Er ist also gewissermaßen ein Wind, ein veränderliches Lüftchen und, was ärger ist, ein Windeshauch der Vielzuvielen. Dabei bin ich mir bewusst, wem ich dies sage. Ich bin kaum einem begegnet, dem die Sitten und Verrichtungen des gemeinen Volkes mehr verhasst sind als dir. Berücksichtige aber jetzt das Ausmaß der Perversität dieser Urteile! Du erfreust dich an dem Tratsch jener, die du verurteilst. Ach, erfreutest du dich lediglich daran und würdest du nur nicht darin den Gipfel deines Glücks erblicken! Denn worauf zielt jene unausgesetzte literarische Arbeit ab, jene fortwährend durchwachten Nächte, jener starke Antrieb zu studieren? […] F.: Bitte, hör auf, ich kann das nicht mehr ruhig mitanhören. […] A.: […] Aber nicht einmal mit dem Ruhm bei deinen Zeitgenossen zufrieden, verlegtest du dein Begehren in ferne Zeiträume und begehrtest du den Ruhm bei der Nachwelt. Also strecktest du deine Hand nach Größerem aus und nahmst ein Geschichtswerk in Angriff, von König Romulus bis zu Kaiser Titus, ein Werk, das unglaublich viel Zeit kostet und unglaublich viel Arbeit bereitet. Und obwohl dieses noch gar nicht vollendet war (von solchen ungeheuren Sporen des Ruhmes wurdest du angetrieben!), setztest du gewissermaßen auf dem Nachen der Dichtung zur Africa über. Und jetzt beschäftigst du dich so eifrig mit der Africa, während du zugleich auch noch an dem anderen Werk arbeitest. Also widmest du dein ganzes Leben diesen beiden Aufgaben […] und verspielst dabei leichtfertig etwas so Wertvolles und Unwiederbringliches und vergisst, während du über andere schreibst, dich selbst […].20
Damit ist der Beichtvater zu des Pudels Kern vorgestoßen. Aufgrund der Wahrheitsfindung erlegt Augustin Franciscus folgende Handlungsdirektive als Buße auf: 19 20
Secretum III (ed. Martellotti), 110–112. Secretum III (ed. Martellotti), 170–172.
Das Identitätskonstrukt im Beichtstuhl
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A.: Wirf also jenen riesigen Ballast der Geschichte von dir ab! Die Taten des römischen Volkes besitzen genug Glanz sowohl durch ihren eigenen Ruhm als auch durch die Verherrlichung durch andere Schriftsteller. Gib (die) Africa auf, und überlass sie ihren Besitzern! Denn du wirst damit weder Scipios Ruhm noch deinen eigenen vergrößern. Jenen berühmten Mann kann man nicht noch berühmter machen; und du wirst dich hinter seinem Ruhm hoffnungslos verirren. A.: Abice ingentes historiarum sarcinas: satis Romane res geste et suapte fama et aliorum ingeniis illustrate sunt. Dimitte Africam eamque possessoribus suis linque; nec Scipioni tuo nec tibi gloriam cumulabis. Ille altius nequit extolli, tu post eum obliquo calle niteris.21
Petrarca soll also aufhören, ein lateinischer Dichter zu sein. Er soll sein Epos Africa aufgeben, das Werk, das er als Hauptquelle seines Ruhmes betrachtete. Er soll aufhören, sich mit der römischen Geschichte zu beschäftigen. Er soll mit seinem Identifikationshelden Scipio brechen. Am Ende der Geheimautobiographie steht, dass das Identitätskonstrukt, das Petrarca bedrückte, weitgehend vernichtet worden ist: Franciscus sei kein antiker Dichter. Er sei kein zweiter Vergil. Sein Name sei nicht Silvius. Er fokussiere sein Interesse nicht auf die römische Geschichte. Er gelte nicht als gekrönter, lorbeerbekränzter Dichter. Er verzichte auf laurea/Laura. Es ist eine merkwürdige Buße, die der Beichtvater Petrarca auferlegt hat: Er soll aufhören, an seinem Epos zu schreiben. Man darf die Frage stellen, ob hier nicht die Aufgabe einer Sache auferlegt wird, die Petrarca ohnehin aufgeben wollte. In diesem Fall würde der Beichte eine andere als die primäre Funktion zukommen: Sie dient zur Autorisierung der veränderten Identität. Aber noch ist nichts endgültig entschieden. Was der Fall ist, hängt von der Folgetherapie ab.
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Secretum III (ed. Martellotti), 186.
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
5. Augustin und die Neuorientierung des Humanismus: paratextuelle Meditation philosophischer Texte Worauf will der Augustin der Geheimautobiographie hinaus? Es sieht danach aus, dass er Petrarcas Humanismus in Bausch und Bogen verwerfen will. Er scheint eine ähnliche Kur vorzuschlagen, wie sie der historische Augustin erfahren hat: eine radikale innerliche Wandlung. Er zerstört Petrarcas Identitätskonstrukt des inspirierten humanistischen Dichters mit Epos, Lorbeerkranz, Dichtereinsamkeit und ewigem Ruhm. Soll, wie bei Augustin, aus dem Rhetor ein Anti-Rhetor werden? Aus dem Platoniker ein Christ? Aus dem Humanisten ein Anti-Humanist? Aus dem Antiken- und Heidenliebhaber ein Antiken- und Heidenhasser? Aus dem Vergil-Anhänger ein Augustin-Anhänger? Trichtert die Dialogperson Augustin Petrarca die Lehre des historischen Augustin mit ihrer Kritik an der heidnischen Philosophie ein? Letztes ist interessanter Weise nicht der Fall, im Gegenteil: Statt der Lehre des historischen Augustin erteilt der Augustin des Secretum dieselben Ratschläge, die der Stoiker Seneca in seinen Epistulae ad Lucilium bzw. in der Abhandlung De tranquillitate animi (Von der Seelenruhe) erteilt oder die in Ciceros Tusculanae disputationes (Gesprächen in Tusculum) vorgebracht werden, nämlich, sich der Methode der stoischen Affektbekämpfung zu befleißigen. Sie ist die hauptsächliche Therapie bzw. die vornehmliche Selbstzensur, die im Secretum vorgeschrieben wird. Diese Therapie ist in erster Linie nicht aus dem Grund merkwürdig, dass die Dialogperson Augustin andere Aussagen macht als der historische Augustin. Eine solche Vorgehensweise war im Rahmen des literarischen Dialogs ohne weiteres legitim. Jedoch verwundert die Therapie insofern, als die philosophischen Werke Senecas und Ciceros zur Abfassungszeit des Secretum für Petrarca beileibe kein Neuland darstellten. Wie er selbst sagt, hat er jedes dieser Werke genau gelesen.22 Wie ist also der Auftrag des Beichtvaters zu interpretieren? Worin soll das Neue liegen, das eine Umkehr bewirken könnte? Augustin macht Franciscus die Auflage einer paratextuellen Lektüre dieser philosophischen Texte. Franciscus soll beim Lesen Marginalnoten anbringen:
22
Secretum III (ed. Martellotti), 100–102.
Paratextuelle Meditation philosophischer Texte
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F.: Du weißt, dass ich jedes dieser Bücher genau gelesen habe. A.: Und? Haben sie dir nicht geholfen? F.: Ja, während der Lektüre sehr; nachdem ich das Buch weglegte, verschwand mein Einverständnis jedoch vollkommen. A.: So geht es den meisten Lesern. Daher rührt dieser monströse Zustand, dass sich die ganz und gar verwerflichen Herden der Schriftsteller in der Lebenskunst irren, dass, wenngleich sie in den Schulen viel disputieren, sie nur ganz wenig ins wirkliche Leben umsetzen. Dir aber wird die Lektüre Nutzen bringen, wenn du an den geeigneten Stellen Marginalnoten anbringst. F.: Singula hec haud negligenter legisse me noveris. A.: Quid vero? Nichilne profuerunt? F.: Imo vero inter legendo plurimum; libro autem e manibus elapso simul omnino intercidit. A.: Comunis legentium mos est, ex quo monstrum illud exsecrabile, literatorum passim flagitiosissimos errare greges et de arte vivendi, multa licet in scholis disputentur, in actum pauca converti. Tu vero, si suis locis notas certas impresseris, fructum ex lecitone percipies.23
Dieser Ratschlag erscheint freilich in Petrarcas Fall etwas seltsam. Denn Petrarca war ein eifriger Marginator, für den es eher eine Ausnahme bedeutete, einen Text zu lesen, ohne Notizen zu machen. Petrarcas Marginalnoten betrafen Unterschiedliches: Er notierte sich Namen von historischen und mythologischen Personen sowie der Werke, die im Text genannt wurden, zu Sammelzwecken oder, wenn es sich um Werke handelte, die er nicht besaß oder nicht kannte, als Suchauftrag oder, um beim Abfassen eigener Werke über Exempel zu verfügen. Oder er notierte rara und curiosa, seltene Phänomene und merkwürdige historische Tatsachen. Das waren jedoch nicht die Marginalien, die Augustin als Therapie vorschlägt. Diese sind nur auf einen Zweck ausgerichtet, nämlich sich prägnante Merksätze und Formulierungen zu notieren. Dieser Brauch geht auf die stoische Methode des Auswendiglernenes der ‚Merksätze‘ zurück. Die stoischen Merksätze wurden als Hilfssätze zur Lebensbemeisterung betrachtet. Diese Hilfssätze sollten stets abrufbereit sein. Denselben Auftrag, den Augustin Petrarca erteilte, hat Seneca im zweiten moralischen Brief seinem Lucilius erteilt. Lucilius soll die durch Noten markierten Stellen auswendig lernen. Damit können ethisch unrichtige Handlungen bereits im Vorfeld vermieden werden. Mit ihrer Hilfe kann der Philosoph den Angriffen Fortunas trotzen und sich in schwierigen Situationen sofort auf die sichere Feste der Ratio zurückziehen. 23
Secretum III (ed. Martellotti), 102.
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Selbstzensur: Petrarcas Geheimautobiographie
Es ist jedoch merkwürdig, dass auch diese Methode zur Abfassungszeit des Secretum für Petrarca nicht neu gewesen sein kann. Wie oben vorgeführt wurde, hat er sie bereits viel früher, in den Metrischen Briefen, angewendet, zum Beispiel in dem oben zitierten metrischen Brief an Guglielmo da Pastrengo, den er in Parma geschrieben haben will. Er konstituiert sich dort als stoischen Philosophen, der die Hilfsgedanken abruft, sich auf die Feste der Ratio zurückzieht, um dem Angriff Fortunas zu widerstehen. In dem bewussten metrischen Brief ist das Identitätskonstrukt des antiken Dichters mit dem des antiken Philosophen verschmolzen. Es kann also im Secretum letzten Endes nicht darum gehen, den Humanismus Petrarcas zu zerstören. Aus dem Humanisten soll kein AntiHumanist und aus dem Antikenliebhaber kein Antikenhasser gemacht werden. Der Beichtvater und Seelenchirurg Augustin hat Petrarcas Identitätskonstrukt in dem Sinn behandelt, dass er die Dichter-Identität mit den darauf bezogenen Ingredienzien herausschnitt. Das Identitätskonstrukt nimmt nunmehr folgende Gestalt an: Mein Name sei Franciscus Petrarca. Meine Sprache ist Latein. Ich rede mit den Alten. Ich sei ein antiker Philosoph. Der Dichter in mir trete zurück. Ich sei Stoiker. Ich bezwinge die Affekte. Die stoische Philosophie mache mich vom Aufenthaltsort unabhängig. Obwohl lorbeerbekränzter Dichter, sei ich vom Ruhm unabhängig. Meine Werke schreibe ich mir selbst und anderen zu Nutzen. Ihr höchster Nutzen liege in der Überwindung der Todesfurcht. Wie ist also die Selbstzensur, die Petrarca in seiner Geheimautobiographie vornahm, einzuschätzen? Es ist kein simpler Versuch, sich den Maßstäben, die für die meisten seiner Zeitgenossen galten, anzugleichen. Vielmehr modelte er seine Identität im Sinn des stoischen Philosophen um. Er befreite sich damit von dem literarischen Erwartungsdruck und dem moralischen Druck, dem er sich mit seinem schillernden Identitätskonstrukt des antiken Dichters ausgesetzt hatte. Er stellt sich selbst einen Freibrief aus, die Africa aufzugeben. Die Identität des stoischen Philosophen schälte er aus ihrer Umklammerung durch die Dichteridentität heraus. Das neue, klarer geschnittene Kleid schien ihm besser zu seinen neuen literarischen Vorhaben (z. B. De remediis utriusque fortune) und zu seiner Lebenssituation zu passen. Die Prosaschriftstellerei sollte
Paratextuelle Meditation philosophischer Texte
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fortan vorherrschen. Der alternde Petrarca entwarf für sich ein neues schriftstellerisches und moralisches Programm. Es ist Augustins Aufgabe, dieses neue Programm und dieses neue Identitätskonstrukt zu autorisieren.
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VI. Der Ursprung der modernen Autobiographie? Giovanni Conversinos Haushaltsbuch des Lebens (Rationarium vite; nach 1393/1401) 1. Beichte und Dokumentierungsrede: hermeneutische Wahrhaftigkeit an der Wiege der modernen Autobiographie Wende deine Aufmerksamkeit endlich dir selbst zu, prüfe die Jahre deines Lebens in der Bitterkeit deines Herzens, berichte von deinem unglücklichen Schicksal mit einer Feder, die weder verlogen noch falsch ist! Denn man kennt niemanden besser als sich selbst; für das eigene Leben gibt es keinen zuverlässigeren Zeugen als das eigene Ich, wenn nur nicht blinder Irrtum und hartnäckige Scham das Gewissen täuscht und abstumpft. Rede daher ein wenig über dich selbst! Ziehe dich zurück! Gib dich dir selbst zurück! Schreib, damit du es lesen kannst; damit du, was du gelesen hast, verbessern kannst; damit du, was du verbessert hast, lieben kannst; damit du, was du liebst, befolgen kannst. Ferne sei dir die Eigenliebe; übertreibe nicht durch Lügen dein Lob und vertusche nicht aus Scham deine Fehler, sonst könntest du, während du um irdische Gunst buhlst, der himmlischen ganz und gar unwürdig werden. Sprich daher zu dir selbst, auf dass du weinst, sprich zu der Welt, auf dass sie dich verstehe, sprich zu Gott, auf dass er dir vergebe. Denn so mahnt der Psalmist: „Ich sprach: Mein Unrecht will ich dem Herrn bekennen. Da vergabst du mir die Missetat der Sünde“. Impartire tandem operam tibi, excute annos tuos in amaritudine anime tue, adversa fata recense stilo non mendoso nec mendaci. Nemo enim quam se quemquam melius novit, vite nemo verior testis, dum conscientiam nec cecus error fallit nec tenax pudor obtundit. De te igitur paululum fare, sequestra, redde te tibi; scribe, que legas; ut que legeris, corrigas; que correxeris, ames; que amaveris, sequaris. Absistat amor proprius, laudes ne mendacio fuces nec mendas verecundia subtrahas, quatenus, terrestri dum favore grataris, prorsum indignus celesti fias. Dic ergo tecum, ut fleas; dic mundo, ut agnoscat; dic Deo, ut ignoscat. Monet psalmus: „Dixi: Confitebor iustitiam meam domino, et tu remisisti impietatem peccati mei“.1
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Der Text wird hier nach der kritischen Ausgabe von V. Nason zitiert, s. Conversino da Ravenna, Rationarium vite (introduzione, edizione, note a cura di V. Na-
Beichte und Dokumentierungsrede
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Mit diesen programmatischen Worten leitet der in Budapest geborene Humanist, Rhetorikprofessor und reisende Grammatiklehrer der Kommunen des Veneto, Giovanni Conversino da Ravenna (ca. 1343–1408), seine Autobiographie ein. Diesem Werk wurde in der Entwicklung der Autobiographie eine besondere Rolle zugeschrieben. Es soll paradigmatische Bedeutung für eine neue Epoche des autobiographischen Schreibens besitzen; eines autobiographischen Schreibens, das dem Mainstream der modernen Autobiographieerwartung entspricht und als solches von der Hermeneutik geprägt ist; von der Erwartung, dass wir eine Literaturgattung vor uns haben, in der der Autor „eine zusammenhängende“, „ganzheitliche“ „Selbstdeutung von einem bestimmten historischen Blickwinkel aus“ liefert; in der er dem Leser „eine Interpretation vergangener Erfahrung“ vorlegt, welche „darum bemüht ist, die Entwicklung des Ich zu erklären“.2 In diesem Sinn hat Price Zimmermann Conversinos Autobiographie aufgefasst (1971). Für ihn stellt sie eines der ersten Werke dar, in welchem dieses neue, „moderne“ Autobiographieverständnis der Renaissance hervortritt, das auf Rousseau und die weitere Autobiographie der Neuzeit vorausweisen soll. Sie liefert das wesentliche Element der „diachronen Beobachtung des Ich als einer sich entwickelnden Ganzheit“.3 „Die moderne Autobiographie entstand, als zu dem religiösen Impetus zur Selbstanalyse ein neues historisches Bewusstsein trat, verbunden mit einem Interesse an humanistischer Philosophie und Literatur“.4 Für Price Zimmermann stellt der „religiöse Impetus“ eine Art Garant für die hermeneutische Autobiographieinterpretation dar. Damit erklärt er den „Ursprung“ der modernen, humanistischen Autobiographie aus dem mittelalterlichen Phänomen der christlichen Beichte: „Die folgende Erörterung stellt einen Versuch dar, die sich in der Renaissance herausbildende Gattung der Autobiographie als eine Umgestaltung des im Mit-
2
3 4
son), Florenz 1986, I, 2–4 (S. 51–52); für die Autobiographie vgl. V. Nason, „Introduzione“, in: ebd., 7–39; N. Rubinstein, „A Grammar Teacher’s Autobiography: Giovanni Conversini’s Rationarium Vitae“, in: Renaissance Studies. Journal of the Society for Renaissance Studies 2 (1988), 154–162; M. Guglielminetti, Memoria e scrittura. L’autobiografia da Dante a Cellini, Turin 1977, 180–195; T. C. Price Zimmermann, „Bekenntnis und Autobiographie in der frühen Renaissance“, in: Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie, 361–366. Price Zimmermann, „Bekenntnis und Autobiographie in der frühen Renaissance“, 344. Ebd., 345, Anm. 3. Ebd.
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Giovanni Conversinos Haushaltsbuch des Lebens
telalter üblichen Sündenbekenntnisses zu rekonstruieren“.5 Price Zimmermann erkennt der Beichte diesen grundlegenden Wert zu, weil sie einen wesentlichen Ausgangspunkt des hermeneutischen Autobiographieverständnisses bestätigt: die ‚Wahrhaftigkeit‘ und damit die subjektive Wahrheit der autobiographischen Aussage. Er stellt fest, dass „eine gute (sic) Autobiographie“ „doch sicherlich zuverlässig, aufrichtig und vollständig“ ist.6 Es handelt sich hierbei genau um jene Eigenschaften, die man im Mittelalter gemeinhin der Beichte zuschrieb. Conversinos Autobiographie besitzt nach Price Zimmermann diese Eigenschaften in optima forma. Seiner Meinung nach wendet Conversino ganz natürlich und organisch, ja „instinktiv“ die Beichte an, um in der Autobiographie „sein wahres Ich zu entdecken“.7 Die „Aufrichtigkeit“ von Conversinos Selbstanalyse ist nach Price Zimmermann über jeden Zweifel erhaben. Damit schließt er sich Remigio Sabbadini an, der Conversino mit seiner materialreichen Biographie – die sich auf die Autobiographie stützt – für die Erforschung des Humanismus entdeckte (1924).8 Sabbadini hat, von historischem Interesse gesteuert, Conversinos Selbstaussagen ebenfalls im hermeneutischen Sinn gedeutet. Er bestätigte dabei nicht nur die Wahrhaftigkeit, sondern zudem die „Wahrheit“ und „Glaubwürdigkeit“ von Conversinos Autobiographie.9 Das Rationarium vite ist für ihn eine herausragende historische Quelle, deren Stimmigkeit und Richtigkeit er durch die Heranziehung weiterer historischer Quellen zu belegen versucht. In seiner Interpretation entspricht Sabbadini dem hermeneutischen Autobiographieverständnis Diltheys, für den Autobiographien historische Quellen der Extraklasse waren. Wenn das Individuum über sich selbst redet, vermag es den hermeneutischen Interpretationszirkel zu durchbrechen, die erkenntnistheoretische Kluft zwischen Objekt und Subjekt zu überbrücken. In der Tat scheint Conversino in seinem Vorwort geradezu ein Manifest des hermeneutischen Autobiographieverständnisses geliefert zu haben. Er sagt ja wortwörtlich: „Denn man kennt niemanden besser als sich selbst; für das eigene Leben gibt es keinen zuverlässigeren Zeugen als das eigene Ich“ („Nemo enim quam se quemquam melius novit, vite
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Ebd., 343. Ebd., 346. Ebd., 364. R. Sabbadini, Giovanni da Ravenna, insigne figura d’umanista (1343–1408) (Studi umanistici 1), Como 1924. Ebd., 4 (Anm. 44).
Conversinos Lebenslauf
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nemo verior testis“).10 Er will sich selbst mit ganzer Wahrhaftigkeit und Wahrheit überprüfen, sein Leben genau und gewissenhaft analysieren und dabei den reicheren Informationsvorrat, der dem Autobiographen zur Verfügung steht, optimal anwenden. Dazu will er Faktoren, die die Wahrheit trüben könnten, etwa „Eigenliebe“ und „Scham“, eliminieren. Die Selbstüberprüfung soll somit eine umfassende Dokumentierungsrede hervorbringen. Das Ich ist der beste Zeuge und Garant für die Richtigkeit der übermittelten Lebensfakten. Indem die Eigenliebe und Scham überwunden werden, gelingt es, die Vollständigkeit der Faktenvermittlung zu gewährleisten. Der autobiographische Autor wird keine Fakten verschweigen oder durch eine beschönigende Darstellung verzerren. Dieses Vorhaben ist Conversino auch nach Ansicht Vittore Nasons gelungen, der den „eigentümlichen Realismus“ hervorhebt, „che inspira tutto l’impianto della narrazione“.11 Conversino hat seine Autobiographie geschrieben, nachdem er von dem Fürstenhaus Carrara nach Padua gerufen wurde (1392). Er sollte, wie vor ihm Petrarca und später Vergerio, dem Hof der Carrara humanistischen Glanz verleihen. Mit ihm, der Petrarca persönlich gekannt und mit ihm verkehrt hat, wollte Francesco Novello da Carrara das prachtvolle Kulturmäzenat seines Vaters Francesco, dessen Aushängeschild Petrarca war, fortsetzen. Als Ende des Jahres 1393 der Hofkanzler Nicoletto d’Alessio starb, ernannte Francesco Novello Conversino zum neuen Kanzler.12 Mit dieser ehrvollen Stellung hatte Conversino den Zenit seiner Humanistenlaufbahn erreicht. Der glanzvolle Augenblick eignete sich wie kein anderer, eine Bilanz des eigenen Lebens vorzulegen.
2. Irrungen, Wirrungen: Conversinos Lebenslauf Conversinos Lebensweg zeichnet sich durch eine auffällige Unstetigkeit, verschiedene Berufe (Sekretär, Diener, Hauslehrer, Notar, Höfling, Glücksspieler, Prinzenerzieher, Grammatiklehrer, Apothekergehilfe, Spion [?], kurzzeitig sogar Koch) und so häufige Übersiedlungen aus, dass sie in einem kurzen Überblick nicht vollständig aufgeführt werden können.13 Er wurde um 1343 in Ungarn geboren, in Buda, wo sein 10 11 12 13
Rationarium vite, c. I, 2. „Introduzione“, 12. Vgl. Rationarium vite, c. LIV, 5. Für Conversinos Biographie vgl. Sabbadini, Giovanni da Ravenna; B. G. Kohl, Art. „Conversino, Giovanni da Ravenna“, in: DBI 28 (1983), 574–578; Ders. und
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Giovanni Conversinos Haushaltsbuch des Lebens
gleichnamiger, aus Ravenna stammender Vater, der eine Professur der Medizin an der Universität Siena bekleidet hatte, die Stelle des Leibarztes des ungarischen Königs Ludwig I. (Nagy Lajos) innehatte. Conversinos Kindheit stand im Zeichen einer fehlenden Elternbeziehung und -erziehung, jedoch einer gründlichen Schulausbildung sowie einer in mehrfacher Hinsicht frühen Reife. Bereits mit zwei Jahren verlor er seine Mutter. Da der Vater nicht im Stande oder nicht willens war, für das Kind zu sorgen, sandte er es nach Italien, damit sich der Onkel Tommaso da Frignano, ein Theologe und Franziskanermönch,14 seiner annehme. Natürlich war ein Mönch nicht die geeignetste Person, für ein Kind zu sorgen. Tommaso entledigte sich des Problems, indem er den Knaben in einer Reihe verschiedener Haushalte und bei verschiedenen Erziehern und Lehrern, zudem in verschiedenen Städten (Ferrara, Ravenna, Bologna, dann wieder Ravenna) unterbrachte. Zum Vater kehrte Conversino nie mehr zurück. Nachdem er den Vater noch im Knabenalter verlor, musste er sich als Vollwaise durchs Leben schlagen. Die Elementargrammatik erlernte Conversino bei Donato Albanzani, einem mit Petrarca befreundeten Grammatiker, in Ravenna (1349). Der Onkel Tommaso hielt sich zu dieser Zeit im Franziskanerkonvent von Ferrara auf. In der Folge besuchte Conversino die Schule des Alessandro del Casentino in Bologna, an der es große Schwierigkeiten gab. 1353 trifft man ihn wieder bei Donato da Albanzani in Ravenna an. Der Onkel (er hielt sich damals in Bologna auf) wurde zum Provinzialgeneral des Franziskanerordens ernannt und hatte nun überhaupt keine Zeit mehr, sich dem Knaben zu widmen. Er leitete eine Verlobung (1353) und Frühehe (1355; mit zwölf Jahren) in die Wege, um ihn loszuwerden. 1356 wurde der erst dreizehnjährige, jedoch bereits verehelichte Junge nach Ferrara geschickt, um bei dem Franziskaner Giacomo Cortesi Dialektik zu erlernen. 1357 verdingte sich Conversino als Hausdiener und Schreiber bei Lapo de’ Medici in Florenz. Noch im selben Jahr wurde der erst Vierzehnjährige Vater. Offensichtlich war er dem Eheleben nicht gewachsen. 1359 brach Conversino aus der jungen Ehe aus und flüchtete nach Bologna, wo er ein Artes-Studium anfing und in der Folge 1361–1362 Jura studierte. Jedoch brach er dieses Studium ab und begab sich 1363 zu dem Rhetorikprofessor Pietro da Moglio nach Padua. Das Paduaner Rhetorikstudium schloss er 1364 mit dem Magister artium ab. 1365 unterrichtete er kurzzeitig in Padua. 1366 bekleidete er die Stelle eines Dieners und Prinzenerziehers am Hof Niccolòs II. d’Este in Ferrara. 1367 unterrichtete er an der Grammatikschule der Stadt Treviso. 1368 verdingte er sich als Sekretär und Notar des Podestàs von Florenz, eine Stelle, die er schon nach wenigen Monaten wieder aufgab. 1368–1369 las er Rhetorik an der florentiner Universität. 1369 zog er er-
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H. L. Eaker, „Introduction“ zur Textausgabe von Conversinos Dragmalogia de eligibili vite genere, Lewisburg, 1–30; V. Nason, „Introduzione“, 9–12; G. Biasuz, „Giovanni Conversino da Ravenna, maestro di grammatica a Belluno“, in: Archivio storico di Belluno, Feltre e Cadore 25 (1954), 37–39; L. Gargan, „Giovanni Conversini e la cultura letteraria a Treviso nella seconda metà del trecento“, in: Italia medioevale e umanistica 8 (1965), 85–159; Ders., „Il preumanesino a Vicenza, Treviso e Venezia“, in: Storia di cultura veneta, Bd. 2, Vicenza 1976, 159–167. Für einen Überblick über Tommaso da Frignanos Lebenslauf vgl. B. G. Kohl, „Introduction“ zur Textausgabe Dialogue Between Giovanni and a Letter, Binghamton, New York 1989, 2–7.
Übertragung des Beichtdiskurses in die Autobiographie
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neut in das Veneto und unterrichtete Grammatik in Treviso. Zu dieser Zeit starb seine erste Frau Margherita Furlan. Nachdem Conversino die Lehrerstelle in Treviso verloren hatte, machte er in seiner Karriere einen Schritt zurück, indem er in der nichtigen Kleinstadt Conegliano (1371–1372) Grammatik unterrichtete. 1373 holte ihn der Onkel Tommaso zu sich nach Grado, wo er die Stelle eines Patriarchen bekleidete, offensichtlich für Sekretärsarbeiten. Jedoch auch dies war von kurzer Dauer. Conversinos Karriere glitt in einer anderen unbedeutenden Kleinstadt des Veneto, Belluno, weiter ab (1374–1379). 1375, erst 22 Jahre alt, heiratete Conversino zum zweiten Mal. In Belluno verfasste er seine ersten lateinischen Werke: De fato; De miseria humane vite; De Christi conceptu; Trostbrief auf den Tod Petrarcas; Dialogus inter Johannem et litteram. 1379 wurde er von der Commune von Belluno unehrenhaft entlassen. Rettung bot Francesco da Carrara d. Ä., der ihn in seine Hofhaltung in Padua aufnahm (1379–1382). Aus unklaren Gründen verließ Conversino 1383 den Paduaner Hof. Nach einem Aufenthalt in Venedig begab er sich aus ebenso unklaren Gründen in das provinzielle Ragusa auf dem Balkan (heute Dubrovnik, Kroatien), wo er sich ca. fünf Jahre als Stadtnotar – es gab dort keinen anderen Notar – verdingte (1383–1387). Ragusa gehörte damals zum Herrschaftsgebiet des Königreichs Ungarn. Conversino, von Schreibarbeiten überlastet und von der „barbarischen“ Umgebung angeekelt, war damals oft der Verzweiflung nahe. Es ist unklar, weshalb er sich so lange an dem verhassten Ort aufhielt. 1387 kehrte er nach Italien zurück, nach Venedig, wo ihm der Patrizier Marco Giustiniani eine Stelle als Grammatiklehrer der Schule von San Marco vermittelte. Jedoch auch diese Stelle war nur von kurzer Dauer. Es gab Streit, Unfrieden, Anfeindungen, Zerwürfnisse. Conversino nahm in der Folge eine Stelle als Grammatiklehrer in Udine, in Friaul, an (1389–1392). Als 1392 der aus dem Exil zurückgekehrte Francesco Novello da Carrara Conversino an den Hof von Padua rief, bedeutete dies für den fast Fünfzigjährigen einen unerwarteten Aufschwung. In dieser Zeit entstand seine Autobiographie. Da die mehrfachen Ortswechsel ab 1404 für die Autobiographie nicht relevant sind, brauchen sie hier nicht erwähnt zu werden.
3. Der Beichtdiskurs und seine Übertragung in die Autobiographie Im programmatischen Vorwort erklärt Conversino, dass er in seiner Autobiographie eine Generalbeichte ablegen wolle: Dir, mein Gott, du mein Leben, du mein Heil, dir also will ich von der Unwissenheit und den Sünden meiner Jugend berichten. Wahrlich, wer meint, er habe nichts zu beichten, der ist allzu überheblich: Denn in diesem Leben, diesem sündigen Leben, diesem lebendigem Tod, in diesem ungehorsamen Fleische hier haften allen Menschen zahlreiche Sünden an, welche sie anprangern sollten, ja viele Menschen leben überhaupt fast gänzlich in Sünde. Jener, der nur über ein paar Sünden Tränen vergießen muss, genießt göttliche Bevorzugung; jener, der über die wenigsten Sünden trauern muss, hat überhaupt das beste Los gezogen; wenn man aber das Leben genau analysiert – und ich bin einer der elendsten Sünder! –
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Giovanni Conversinos Haushaltsbuch des Lebens
wer müsste nicht über eine Vielzahl von Sünden weinen? […] Dank sei dir, du guter Retter, dass du dich herablässt, die kleinen Menschlein („klein“ verwende ich hier nicht in Bezug auf Alter oder Körpergröße, sondern in Bezug auf den Geist, die Seele, die Zielrichtung ihres Strebens) – und sei es erst am Ende ihres Lebens – mit dem großzügigen Geschenk deines Erbarmens auszustatten […]. Tibi ergo, Deus meus, vita mea, salus mea, tibi dicam ignorantias meas et delicta iuventutis mee. Nimium profecto superbit, qui dicenda habere non extimat: in vita namque ista, vita penali, morte vitali, carne rebelli, cunctis insunt, que culpare debeant multa, prope culpanda multis cuncta. Cum illo divinitus agitur, cui flenda sunt pauca, cum illo optime, cui pauciora, verum quisnam, si exacte vita discutitur – et ego miser in primis – cui non plurima? […] Gratias tibi, redemptor bone, quod vel ad occiduum vite parvulos non aspernaris (non dico parvulos etate nec membris, sed spitritu, corde, voto) et hoc liberali dono misericordie tue […].15
Indem sich Conversino als sündigen, bußfertigen Menschen konstituiert, bindet er seine Autobiographie an die jahrhundertealte, tiefverwurzelte christliche Diskurspraxis der Beichte an. Die Kunst des Beichtens lernte jeder Christ vom frühesten Seelsorgeunterricht an. Im Laufe seines Lebens vertiefte er diese Fertigkeit, wobei er zusätzlich von einer weit verbreiteten Sorte von Gebrauchstexten – den Beichtformeln (welche in lateinischer Sprache und in diversen Volkssprachen vorrätig waren),16 unterstützt wurde. Die Beichtformeln halfen dem Gläubigen bei der Vorbereitung der Beichte und steuerten seine inventio mit Hilfe von Sündeninventaren, die seine Gedächtnisleistung strukturierten und formatierten. Den Formeln gemäß war eine Beichte wie folgt einzurichten: Zunächst sollte Gott angerufen werden. In diesem ersten Abschnitt bringt der Beichtende zum Ausdruck, dass er bereit ist, zu bekennen und seine Sünden nach Wahrheit zuzugeben, ohne Rückhalt oder Trug, sowie dass er sich der Reue und Einkehr öffnet. Dann folgt im Hauptteil eine Aufzählung der Tat-, Wort-, Gedanken- und Unterlassungssünden. Der Sündenkatalog konnte nach verschiedenen Topiken konstruiert werden: nach den Sieben Hauptsünden, nach den Zehn Geboten, nach den Werken der Barmherzigkeit, nach den Kardinaltugenden oder nach den Fünf Sinnen. Im Schlussabschnitt zeigt der Beichtende Reue und Zerknirschung und bittet um Vergebung. Er hofft auf Gottes Barmherzigkeit und verspricht in aller Form, sein Leben zu bessern. 15 16
Rationarium vite, c. I, 5 und 8. Vgl. die Artikel von L. Hödl, D. Briesemeister, I. W. Frank, U. Schulze und H. Sauer s.v. „Beichtformeln“ in: LMA I, Sp. 1812–1818.
Übertragung des Beichtdiskurses in die Autobiographie
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Die Diskursformation der Beichtformel soll hier anhand eines Beichtstellers verdeutlicht werden, welche, von einem anonymen Autor zusammengestellt, unter den Werken des spanischen Bischofs Isidor von Sevilla, des Grundlegers der mittelalterlichen Enzyklopädik, mitlief. Den Anfang der Beichte soll die Anrufung Gottes bilden, wobei der Beichtende seine Bußfertigkeit erklärt und Gottes Beistand erbittet: Du [Gott] bist mir schon lange zuvor zur Hilfe gekommen und hast meine Rettung vorbereitet […]. Vom ewigen Tod hast du mich errettet, indem du mich züchtigtest […]. Meine Seele erstarrt in Furcht vor deinem Zorn. Mein Leben war ein Wermutstrunk bis zur Verzweiflung […]. Zwischen Hoffnung und Furcht kommt mein Herz nicht zur Ruhe […]. Mit innigem Gebet und Bußbekenntnis flehe ich dich an in der Zerknirschung […]. Gib mir den Willen zur Buße und die Demut, die dich anruft mit der Kraft der inneren Stimme.17
Den Hauptteil der Beichte stellt die Aufzählung der Sünden dar, wobei das Vollständigkeitsstreben von entscheidender Bedeutung ist. Das Bekenntnis soll möglichst umfassend sein, keine Sünde soll ausgelassen oder vergessen werden: Ich bin ganz und gar schlecht – was könnte ich mehr bekennen? Kein Verbrechen, kein Laster, keine Sünde, die ich nicht begangen hätte. Ich verfalle der Sinnenlust, überlasse mich der Leichtfertigkeit, neige zur Schwelgerei, treibe Unzucht ohne Scheu, füge täglich neue Verbrechen zu den alten hinzu, ich werde immer schlechter, mein Wille ist verhärtet, mein Denken verkehrt, meine Sitten niederträchtig, das Herz und die Lippen mit Lästereien besudelt; ich bin jähzornig und schmähsüchtig.
Im Schlussabschnitt soll der Beichtende um Vergebung und Reinigung bitten und seinen Willen zur Besserung zum Ausdruck bringen: Vernichte meine Sünden und sieh nicht die Schandtaten an, die meine Jugend und meine Unwissenheit verübt haben. Rufe mich zurück vom Tor des Todes, damit ich auf dem ewigen Wege wandle zu deiner Wahrheit […]. Reinige mich von den Verbrechen, zieh mir das abscheuliche Kleid der Laster aus und bekleide mich mit der Würde aller Tugenden […], der Liebe, des Wohlwollens, der Demut, der Enthaltsamkeit […]. Gewähre mir, dass ich über alle Sünden weine statt nach ihnen zu verlangen.
Eine erste, formale Analyse des Rationarium vite bestätigt zunächst, dass Conversino seine Autobiographie nach diesem Schema konstruierte. Am Anfang der Autobiographie ruft er Gott an und bestätigt seine Bußfertigkeit: „Dir, mein Gott, du mein Leben, du mein Heil, dir also will ich von der Unwissenheit und den Sünden meiner Jugend berichten. 17
Text nach der Übersetzung von Misch, Geschichte der Autobiographie Bd. II, 2, 488–489.
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Wahrlich, wer meint, er habe nichts zu beichten, der ist allzu überheblich: Denn in diesem Leben, diesem sündigen Leben, diesem lebendigem Tod, in diesem ungehorsamen Fleische hier haften allen Menschen zahlreiche Sünden an, welche sie anprangern sollten […] Wenn man das Leben genau analysiert – und ich bin einer der elendsten Sünder! – wer müsste nicht über eine Vielzahl von Sünden weinen?“. Im Hauptteil der Autobiographie zählt Conversino seine Sünden auf, indem er zur inventio den chronologischen Lebensbericht wählt, in welchem er seine Laster von der Kindheit angefangen bis zur Abfassungszeit beschreibt (c. IV-LVI). Mit dieser inventio leistet Conversino der Vorgabe der Beichtformeln Folge, ein möglichst umfassendes und vollständiges Geständnis zu liefern. Was Conversino hier vor Augen zu stehen scheint, ist sozusagen eine Generalbeichte seines gesamten Lebens. Im chronologischen Bericht transformiert Conversino die Aufzählung zur Erzählung, die als solche gestattet, mehr Details anzubringen als bei einer mündlichen Beichte der Fall sein könnte. Der Detailreichtum der Erzählung scheint eine Wirkung zu verbuchen, die ganz im Sinne des Vollständigkeitsgebots der Beichtformeln ist: Er bietet die Möglichkeit, die Introspektion genauer und präziser zu gestalten, die Sünden bzw. das sündige Verhalten auf den Punkt zu bringen. Den Abschluss der Autobiographie bilden, wie in den Beichtformeln vorgegeben, die Darlegung der Reumütigkeit und die Bitte um Vergebung der Sünden. Conversino fleht Gott um Vergebung an und verspricht, er werde sein Leben bessern: Gerne und aus freiem Willen ziehe ich mich zurück; mein Denken, mein Gott, gehört Dir, Dir singe ich Psalmen. Ich erfreue mich besonders an der Lektüre der Hl. Schrift, sie nährt mich, durch sie wachse ich, in ihr finde ich Ruhe. Vor Dir, mein Gott, knie ich nieder in der Frühe, mittags und am Abend, damit Du mir meine Sünden vergibst, mir beistehst in meiner gegenwärtigen Misere und zukünftigen Gefahren vorsorgst; ich klopfe mit meiner Stimme, mit meinen Seufzern und meinem Herzen an die Tür deiner Barmherzigkeit, damit Du mich beschützest vor „den Gefahren der Finsternis, vor dem Angriff des Dämons am helllichten Tag“ […] (Kursivierungen vom Verf.).18 18
Rationarium vite, c. LVI. Dabei muss man berücksichtigen, dass Conversino seine Autobiographie aller Wahrscheinlichkeit nach in zwei Schreibphasen verfasst hat. Die erste schließt mit dem 56. Kapitel. Dort, teilt er mit, sei sein Werk, das Rationarium vite, zu Ende (LVI,5: „in calce huius rationarii vite mee“). Einige Jahre nachher hat er einen längeren Teil von 27 Seiten (oder 12 Kapiteln) hinzugesetzt, in welchem er seine Romreise aus dem Jubeljahr 1400 schildert. Diese Reisebeschreibung hat einen separaten Status. Dieser geht sowohl aus ihrer disproportionalen Ausführlichkeit als auch aus der Tatsache hervor, dass sich zwischen dem
Übertragung des Beichtdiskurses in die Autobiographie
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Das autobiographische Schreiben soll nicht nur der Akt der Beichte, sondern zugleich Ausdruck von Conversinos neuer, besserer Lebensweise sein. Sie soll einen Beweis der Verinnerlichung liefern, welche für die Zuwendung zu Gott erforderlich ist. Denn Conversino hat bisher, wie er sagt, sein innerliches Leben zugunsten der Weltlichkeit vernachlässigt. Indem er seine Autobiographie schreibt, wendet er sich endlich sich selbst zu. Das autobiographische Schreiben erhebt Conversino damit zu einer spirituellen Verpflichtung. Der Mensch muss sich mit sich selbst auseinandersetzen, über sein Leben reflektieren, sein Leben aufschreiben und analysieren, um sich selbst zu bessern und zu reformieren. Somit stellt das autobiographische Schreiben einen Akt der Gottesliebe, das Unterbleiben dieser Tätigkeit eine Unterlassungssünde dar. Diese Zuordnung verblüfft durch ihre Radikalität und Ausschließlichkeit, besonders wenn man berücksichtigt, welche Hürden das christliche Demuts- und ContemptusMundi-Gebot für das autobiographische Schreiben damals aufwarf. Es scheint jedoch gerade die spezifische Einschreibung in den Beichtdiskurs zu sein, die Conversinos autobiographischen Appell rechtfertigt. Wenn man Conversinos Rechenschaftsbericht kursorisch durchläuft, lässt sich erkennen, dass ein ziemlich ansehnliches Material für eine Generalbeichte vorlag: Es stellt sich heraus, dass Conversino mindestens zweimal einen Mordanschlag verübte, indem er versuchte, seinen Lehrer Filippino da Lugo zu vergiften (c. IX, 1). Ebenfalls zweimal riss er in Bologna von der Schule aus. Während er bereits verlobt war, gab sich der Knabe außerehelichem Geschlechtsverkehr hin, zum Beispiel, indem er mit einer Prostituierten mehrfach aufreizend-wilden Sex hatte. Auch sonst war er alles andere als ein treuer Ehemann. Seine Ehefrau verließ er nach einigen Zwistigkeiten kurzerhand, obwohl er von ihr einen Sohn hatte und obwohl sie auf seine Hilfe angewiesen war (c. XXI). Er ließ sie regelrecht im Stich, indem er sie und seinen Sohn weder finanziell unterstützte noch auch sonst sich um sie kümmerte. Stattdessen war Conversino in zahlreiche sexuelle Abenteuer verwickelt, aus denen mehrere außereheliche Kinder hervorgingen. Auch diese unterstützte er nicht. Als seine Ehefrau schließlich in Armut und Krankheit starb, frohlockte er über ihren Tod (c. LI, 2). Aufgrund dessen entstand zwischen der Familie der Frau und ihm ein überaus heftiger Hass. Dieser hatte letzten beschriebenen Ereignis, der Ernennung zum Hofkanzler in Padua Ende des Jahres 1393, und der Romreise ein chronologisches Loch von ca. sechs Jahren befindet. Den ursprünglichen Schluss der Autobiographie bildet somit Kapitel 56.
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u. a. zur Folge, dass Conversino einen Verwandten wegen eines Giftanschlags, den dieser verübt haben sollte, gerichtlich verfolgte und dessen Hinrichtung bewirkte. Obwohl er geraume Zeit studierte, brachte Conversino seine Jura-Studien nicht zum Abschluss. Überhaupt riss er oftmals aus. Zuweilen glich sein Leben dem eines Vaganten, welcher mit den Leuten, die ihn beschäftigten, jeweils schon nach kurzer Zeit Streit anfing, der in der Regel so heftig war, dass an eine weitere Zusammenarbeit nicht zu denken war. Da Conversino nie im Stande war, sich mit den Leuten, bei denen er sich aufhielt, zu vertragen, musste er ständig das Weite suchen und aufs Neue anfangen. Unter anderen überwarf er sich mit seinem Vormund und Onkel Tommaso in einem wilden Streit. Aus der Autobiographie kann man das Bild eines streitsüchtigen, jähzornigen, gehässigen, kleinlichen und nachtragenden Mannes ableiten, mit dem sogar im Kontext des häuslichen Lebens nicht gut Kirschen essen war. Das Ausmaß der Verfehlungen scheint die Generalbeichte zu motivieren. Es scheint, dass dieser Erfinder der modernen Autobiographie unter einer solchen Sündenlast gebückt ging, dass es ihm ein Bedürfnis sein musste, sie in einer umfänglichen Beichte loszuwerden. In Bezug auf den Mordversuch an dem Lehrer Filippino da Lugo beschwört Conversino Gott: Wer könnte, Du mein heiliger Gott, völlig erklären, wie verschlungen, wie eitel, wie vorschnell, wie blind und deshalb wie elend die Wege der Jugend sind, die ja nach Salomons Zeugnis kaum zu verstehen sind? Du, Gott, kennst mein Herz und mein Gewissen, das nur Du reinigst und anleitest, sich zu beurteilen, zu korrigieren und zu bessern. Du weißt, wie ich mich für meine früheren Taten schäme, wie sie mich reuen, wie sehr es mich schmerzt und mir die Tränen in die Augen treibt, dass ich Dich beleidigt habe. Ich missfalle mir, weil ich Dir missfiel. Wie oft habe ich gemeinsam mit Deinem Propheten im Stillem ausgerufen: „Vergiss bitte die Sünden und die Ignoranz meiner Jugend“. Ich war noch ein Knabe und schon so schlecht, dass ich einen Menschen tödlich hassen konnte und über den Hass hinaus ihm nachzustellen wagte (c. IX, 2).
Der Tod seiner ersten Frau erfüllt Conversino mit Reue: „Danach starb meine Frau durch meine Schuld, weil sie aufgrund meiner Vernachlässigung schwächlich wurde – mein Gott, nimm in deinem Erbarmen mein Schuldbekenntnis an und meine Reue und meinen innersten Schmerz über meine Sünde!“ („Deinde uxor post infirmans neglectu culpaque mea – Deus, confitentem ac penitentem medullitusve dolentem peccatum meum misericorditer suscipe – mortem obiit“).19 Dieser Mann ist 19
Rationarium vite, c. XXXIX, 2 (Kursivierung K. E.).
Übertragung des Beichtdiskurses in die Autobiographie
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offensichtlich bereit, Tatbestände, die ihn mit Scham und Reue erfüllen, unumwunden zuzugeben. So erzählt er detailliert den Besuch des Jünglings bei der Prostituierten: Darüber (nml. über die ehelichen Pflichten) im Ungewissen begebe ich mich in freudiger Erwartung und zitternder Angst zugleich zu meinem Freund Giovanni Bonaventura degli Zenari, einen Patrizier aus Ravenna, der bereits in fortgeschrittenem Alter war, und frage ihn: „Partner, was soll ich tun? Mir wird eine Hochzeit bereitet. Der Kunst des Ehelebens unkundig bin ich mir unschlüssig, was ich zu tun habe“. Der schüttelte sich vor Lachen: „He, guter Freund, nichts lernt man leichter. Im Nu bist du erfahren, ja ein Meister der Kunst“. Daraufhin zerrte er mich zu einer Hure der Extraqualität: „Den Rekruten da, Placentina (denn so hieß die Hure), bring ich dir, damit du mit ihm einen kleinen Strauss ausfichtst und ihn das Kriegshandwerk lehrst“. Sie antwortete: „Wenn schon aufgrund seiner Schönheit (der ich mich damals bei Betrachtern zu meiner Schande und Sünde erfreute), dann besonders aufgrund seiner Jugend nehme ich diesen Kämpfer gerne und in aller Form bei mir auf und werde mit ihm eine Zeit lang nach den Regeln der Kunst kämpfen“. Ich schäme mich, mich daran zu erinnern, wie der Knabe, noch kaum mannbar, durch alle Verlockungen der obszönen Lust geschleppt wurde (c. XII, 1–3).
Wenn man diesen Bericht näher betrachtet, melden sich jedoch leichte Zweifel an der Art und Weise, in welcher Conversino den Beichtdiskurs in seine Autobiographie übertrug, an. Ist der Bericht in der Tat so angelegt, dass er die Funktion der Beichte erfüllt? Ein Priester könnte mit dieser Art des Sündenbekenntnisses wohl nicht zufrieden gewesen sein. Es scheint eher nach dem Schema organisiert zu sein: „Ich beichte, dass ich meinem Bruder ein blaues Auge geschlagen habe. Aber er hat mich dazu herausgefordert, indem er mich angelogen hat. Er hat selbst Schuld“. Die ganze Beschreibung ist so angelegt, dass sie Conversinos Verhalten rechtfertigt. Nicht er erscheint als der Urheber der Sünde, sondern sein Freund Giovanni Bonaventura und die Prostituierte. Sie verführen den unerfahrenen, naiven Jüngling, der sich aufgrund seiner Unerfahrenheit nicht zur Wehr setzen kann, wissentlich und willentlich zur Sünde. Die detaillierte Darstellung soll nicht Conversinos Sündhaftigkeit, sondern die Schuld anderer beglaubigen. Diesem Zweck dient auch, dass ihnen Conversino direkte Reden in den Mund legt. Conversino schaltet sozusagen den Ton ein. Der Ton beglaubigt – dem Leser erscheint plausibel, was er hört und zuhörend miterlebt. Es war der Freund, der den Kontakt zur Hure herstellt und dieser den Auftrag zur Unzucht gibt: „Den Rekruten da, Placentina (denn so hieß die Hure), bring ich dir, damit du mit ihm einen kleinen Strauss ausfichtst und ihn das Kriegshandwerk lehrst“. Es war die Hure, die der Aufforderung gerne Folge leistete, und zwar nicht
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nur des Geldes wegen, sondern auch, weil sie Freude daran hatte, ihren Kunden wegen seiner Unreife und Schönheit („tum forma […] tum etate“) zu verderben. Mit geradezu teuflischem Vergnügen verwickelte sie das Knäblein in alle Arten sexueller Handlungen, je obszöner, desto besser („perque omnes obscene voluptatis illecebras contractum, vix virum“). Da Conversino, wie er ausdrücklich feststellt, damals noch kein Erwachsener war, macht sich die Prostituierte also der Pädophilie schuldig. Nicht zuletzt dadurch, dass sich Conversino als Kind darstellt, entledigt er sich der Verantwortlichkeit für die Sünde. Bei näherer Betrachtung klafft also in Conversinos Beichtdiskurs ein bedenklicher Riss auf. Es wäre natürlich möglich, dass es sich um einen einmaligen Ausrutscher handelt, der von einer Ausnahmesituation bedingt ist. Dies ist jedoch, wie sich noch zeigen wird, nicht der Fall. Das Bild, das sich aus dem Bisherigen ergab, gerät daher ins Schwanken. Es ist fraglich, ob das hermeneutische Interpretationsbollwerk, das die bisherigen Erklärungen von Conversinos Autobiographie bestimmte, sich als hieb- und stichfest erweisen wird. Bevor wir uns der Frage zuwenden können, was es mit den Rissen auf sich hat, muss eine weitere Diskursformation, die für Conversinos Rationarium vite mindestens ebenso wichtig ist, erörtert werden.
4. Ein religiöses Erbauungsbuch? Conversino und Augustins Confessiones Augustin hat mit seiner Autobiographie, den Confessiones (Bekenntnisse), ein grundlegendes religionspädagogisches Erbauungsbuch und eine wirkungsmächtige Werbeschrift (Protreptikos) für das Christentum geschaffen.20 Augustin legt darin seinen verschlungenen Lebensweg, seine lange geistige Irrfahrt, die ihn – über die Rhetorik (Cicero), Manichäismus und Platonismus – zur Bekehrung zum Christentum führte,
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Für die umfängliche, neuere Literatur zu Augustins Confessiones s. die Bibliographie 3.1.2. Für die Interpretation der Confessiones als Protreptikos vgl. rezent A. Kotzé, Augustine’s Confessions: Communicative Purpose and Audience, Leiden– Boston 2004 und C. Mayer, „Die Confessiones des Aurelius Augustin. Eine philosophisch-theologische Werbeschrift für christliche Spiritualität (Buch 10)“, in: Theologie und Glaube 88 (1998), 285–303.
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fest.21 Das ‚Bekennen‘ der Confessiones ist in zweifachem Sinn zu verstehen. Erstens ist das Werk dem Beichtdiskurs verpflichtet und stellt insofern ein Sündenbekenntnis dar. Zweitens ist es ein Bekenntnis von Gottes Größe, Barmherzigkeit und Güte, der seinen Schützling Augustin aus den Wirrungen errettete und zum Heil hinführte. Diese beiden rhetorischen Ausrichtungen sind eng miteinander verbunden: Indem Augustin seine Sündhaftigkeit betont, vergrößert er Gottes Güte und Barmherzigkeit, der ihn trotzdem erlöste. Die Confessiones sind daher neben einer Lebensbeichte ein Glaubensbekenntnis und vor allem ein Lobpreis Gottes.22 Diese Zielsetzung, mit der Augustin für den christlichen Glauben werben wollte, tritt bereits in den ersten Zeilen des Werkes hervor: Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen, groß ist deine Kraft und unermesslich deine Weisheit. „Und preisen will dich ein Mensch, der doch nur ein Stückchen ist deiner Kreatur, ein Mensch, der einhergeht unter dem Druck seiner Sterblichkeit, dem Zeugnis seiner Sünde, dem Zeugnis, dass du den Hochmütigen widerstehst“. Und doch, preisen will dich ein Mensch, dies Stücklein deiner Kreatur. Du selbst aber gibst den Antrieb; so beglückt es ihn, dich zu preisen. Denn zu dir hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir. […] „Preisen werden den Herrn, die ihn suchen“. Denn die ihn suchen, finden ihn, und die ihn gefunden, werden ihn preisen. So will ich denn, o Herr, dich anrufend suchen und gläubig zu dir rufen, denn du bist uns verkündigt.23
Dem Hauptschema, der Verbindung von Sündenbekenntnis und Gotteslob, liegt Augustins Gnaden- und Erbsündelehre zu Grunde, welche er unmittelbar vor der Abfassungszeit der Confessiones entworfen hatte.24 Diese besagt, dass der Mensch von sich aus böse, die Erbsünde bindend ist, und dass die Gnade ausschließlich von Gottes Willen abhängt. Der Mensch vermag von sich aus nichts. Er kann nur durch die reine, unabhängige, unergründliche Barmherzigkeit Gottes errettet werden. In den Confessiones demonstriert Augustin diese Gnadenlehre am Beispiel seines eigenen Lebens.25 Den Höhepunkt von Augustins Autobiographie bildet die Schilderung der Bekehrung im achten Buch der Confessiones. Natürlich besitzt
21
22 23 24 25
Für Augustins Biographie vgl. (inter multa) P. Brown, Augustine of Hippo. A Biography, London 1967 (deutsche Übersetzung u. d. T.: Augustin von Hippo. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1973) und K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. Vgl. Flasch, Augustin, 259. Confessiones I, 1. Vgl. dazu Flasch, Augustin, 201–226. Ebd., 255 („Der theoretische Gehalt der Bekenntnisse“).
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die Rettungstat selbst einen besonderen Impact auf den literarischen Akt des Gotteslobs und die religionspädagogische Konversion der Leser, wie bereits aus den Anfangszeilen des Buches hervorgeht: Lass mich, mein Gott, in Dankbarkeit deiner gedenken und dich preisen, dass du dich meiner erbarmtest. „Meine Gebeine“, durchströmt von deiner Liebe, „sollen sprechen: Herr, wer ist dir gleich?“, „Du hast meine Bande zerrissen. Dir will ich Dank opfern“. Erzählen will ich nun, wie du sie zerrissen hast, und alle, die zu dir beten, sollen sagen, wenn sie es hören: Gelobet sei der Herr im Himmel und auf Erden, groß und wunderbar sei sein Name.
Gott führt bei dieser Bekehrung, die stoßweise verläuft, Regie. Er lässt in Augustin den Wunsch aufkommen, den Weisen Simplicianus aufzusuchen. Dieser wühlt – ohne dass Augustin derartiges vorhersah – sein Inneres auf, indem er ihm die Bekehrungsgeschichte des römischen Redners Victorinus erzählt. Der Zufall entpuppt sich hinterher als weise Vorsehung Gottes, als Vorbereitung auf das künftige Geschehen. Später, wiederum scheinbar zufällig, erhält Augustin Besuch von seinem afrikanischen Landsmann Ponticianus, der, als weitere Vorbereitung der Bekehrung, die Geschichte des ägyptischen Mönchs Antonius erzählt. Simplicianus’ und Ponticianus’ Geschichten initiieren einen innerlichen Umkehrprozess, der im Mailänder Garten kulminiert. Ein kleiner Garten gehörte zu unserer Herberge, den wir wie das ganze Haus zu benutzen pflegten, denn unser Wirt und Hausbesitzer wohnte da nicht. Dorthin trug mich der Sturm meiner Brust. Denn niemand konnte da in dem erbitterten Kampf mich stören, den ich mit mir selbst ausfocht, bis er den Ausgang fand, den du (Gott, Anm.) schon wusstest, aber ich noch nicht. Aber sinnvoll war’s, dass ich so von Sinnen kam, und mein Sterben war ein Erwachen zum Leben […] (VIII, 19).
In der Meditation über die Sündhaftigkeit des ‚Alten Menschen‘ wird Augustin von einem Strom von Emotionen übermannt. Tränenüberströmt wirft er sich vor dem Feigenbaum in der Ecke des Gartens hin und fleht Gott an: „Ach du, Herr, wie lange! Wie lange noch willst du mir zürnen?“. Da erbarmte sich Gott und sendete Augustin eine Antwort: „Und siehe, da hörte ich vom Nachbarhause her in singendem Tonfall, ich weiß nicht, ob eines Knaben oder eines Mädchens Stimme, die immer wieder sagt: ‚Tolle, lege! Tolle, lege!‘ (‚Nimm und lies! Nimm und lies!‘)“ (VIII, 29). Augustin interpretierte dies in dem Sinn, dass er die Briefe des Apostels Paulus, die er in den Garten mitgenommen hatte, aufschlagen solle. Die erste Stelle, die er aufschlägt, sei entscheidend. Also stieß Augustin auf Paulus’ Römerbrief 13, 13: „Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in
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Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herren Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten“. Dieser Satz bewirkt die Umkehr: „Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter war es auch nicht nötig. Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz, dass alle Nacht des Zweifels verschwand“ (VIII, 29). Die Schilderung der Bekehrung im achten Buch ist die Schlüsselstelle von Augustins Confessiones. Alle übrigen Teile der Autobiographie sind mit ihr verbunden und führen zu ihr hin. Die Bekehrung ist der exemplarische Beleg von Gottes Güte und Barmherzigkeit, seiner Vorsehung, seiner gütigen Zuwendung zu den Erwählten, seines segensreichen Eingreifens in diese Welt und seiner Gnade. Eine wesentliche Darstellungsmethode des Bekenntnisdiskurses ist, dass sich Augustin, das Objekt der Autobiographie, und Augustin, der bekehrte Autobiograph, auf zwei unterschiedlichen Bewusstseinsebenen befinden. Augustin, das Objekt der Autobiographie, versteht den Sinn der einzelnen Ereignisse nicht, während der Autobiograph Augustin die ‚verborgenen‘ Absichten der Geschehnisse erkannt hat. Dieser Unterschied wird durch das Konzept des Zufalls ausgedrückt. Das Darstellungsobjekt Augustin, das orientierungslos dahintreibt, wird jeweils vom Zufall überfallen. Für den Autobiographen Augustin jedoch ist der Zufall kein Zufall mehr, sondern ‚design‘. Er hat verstanden, dass die Ereignisse durch Gottes Steuerung zustandegekommen sind. Conversinos Rationarium vite ist nach den Diskursregeln von Augustins Confessiones eingerichtet. Conversino ‚bekennt‘ seine Sünden und Verfehlungen, beschreibt seine Irrungen und Wirrungen, und er lobt Gott für sein gnädiges Erbarmen, das ihn auf den rechten Weg zurückführte. Gott hat durch seine Vorsehung und sein gütiges Eingreifen bewirkt, dass sich Conversino ‚bekehrt‘, moralisch gebessert hat. In der Einleitung präsentiert Conversino das Rationarium vite als religionspädagogisches Werk im Sinn der Confessiones. Der Leser soll in Conversinos Sünden seine eigenen erkennen. Er soll diese, indem er sie in Conversinos Lebensbeschreibung „wie in einem Spiegel“ erblickt, verwünschen und ihrer abschwören („dum suas in me, quasi in speculo, abominiari tortitudines quibunt“, c. I, 6). Wie das Sündenbekenntnis, so soll auch die moralische Besserung ansteckend wirken. Das Vorbild von Gottes Barmherzigkeit, mit der er Conversino erlöste, soll dem Leser zu Erbauung und Hoffnung Anlass geben. Wenn der Leser erkennt, dass Gott dem Sünder Conversino Gnade schenkte, wird er auch in Bezug auf seine
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eigene Erlösung zum wenigsten zweifeln („Quippe meis dum in peccatis domini Dei misericordiam advertent, de suis minime desperabunt“, c. I, 7). Wie Augustin lobt Conversino Gott stets mit Zitaten aus den Psalmen. Zuweilen bindet Conversino sein Rationarium sogar durch wörtliche Zitate an Augustins Confessiones an.26 Weiter tritt im Rationarium vite eine Bekehrungsszene hervor, die den Confessiones nachempfunden ist.27 Nachdem Conversino 1359 seine Familie verlassen hat, um ein freizügiges, sitten- und verantwortungsloses Vagantenleben zu führen, bewirkt Gott, dass er davon absieht und sich ernsteren Studien zuwendet. In diesem Abschnitt wie auch sonst arbeitet Conversino mit den zwei unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, die den Bekenntnisdiskurs Augustins kennzeichnen. Das Darstellungsobjekt der Autobiographie wird stets mit zufälligen Ereignissen konfrontiert, welche jedoch, wie der bekehrte Autobiograph Conversino erkannt hat, von Gott absichtsvoll eingerichtet wurden, um seinen Schützling auf den rechten Weg zurückzuführen. Z. B. bewirkt Gott 1359, als Conversino nach Bologna geflüchtet war, einen an ein Wunder grenzenden Zufall: heftigen Schneefall und klirrende Kälte, wodurch der Schnee mehr als vier Wochen (!) liegen blieb. Dieser ‚Zufall‘ war notwendig, um den Befehl des Onkels, der ihm auftrug sich nach Hause (nach Ravenna) zu begeben, zu neutralisieren. Dadurch werden Ereignisse ermöglicht, die Conversinos Konversion in die Wege leiten: Er blättert ohne ein bestimmtes Ziel in den Büchern im Arbeitszimmer seines Onkels, des Franziskaners, und entdeckt seine Liebe zum Geistigen. Weil er Bologna ohnehin nicht verlassen kann, besucht er Vorlesungen. Dabei stellt sich seine Begabung heraus. Gott erleuchtet ihn und lässt ihn Textstellen, welche die anderen als schwierig empfinden, spielerisch leicht verstehen. In der Folge zieht sich Conversino, der damals erst 16 Jahre alt war, in die Einsamkeit zurück, um das Leben eines Eremiten zu führen. Er lebt in einer Grotte, die mit Blättern abgedeckt ist (c. XXIV). Dort meditierte, las und schrieb Conversino28 und ähnelte in dieser Beziehung Hieronymus im Eremus. Im Schlussteil der Autobiographie hat Conversino einen geistigen Zustand erreicht, der dem eines Spirituellen ähnelt: 26
27 28
Z.B. Rationarium vite, c. XXXIII, 8 – Confessiones IX, 1: „Verum tamen gratias Deo meo, ut Augustini verbo dicam, quia ‚suave mihi factum est carere suavitate nugarum‘ (= Conf. IX, 1) mearum et perficere discendo quam scribendo placere […]“. Rationarium vite, c. XXII–XXIV. Ebd., c. XXIV, 2.
Inversion des religiösen Bekenntnisdiskurses
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Gerne und aus freiem Willen ziehe ich mich zurück; mein Denken, mein Gott, gehört Dir, Dir singe ich Psalmen. Ich erfreue mich besonders an der Lektüre der Hl. Schrift, sie nährt mich, durch sie wachse ich, in ihr finde ich Ruhe. Vor Dir, mein Gott, knie ich nieder in der Frühe, mittags und am Abend, damit Du mir meine Sünden vergibst, mir beistehst in meiner gegenwärtigen Misere und zukünftigen Gefahren vorsorgst; ich klopfe mit meiner Stimme, mit meinen Seufzern und meinem Herzen an die Tür deiner Barmherzigkeit, damit Du mich beschützest vor „den Gefahren der Finsternis, vor dem Angriff des Dämons am helllichten Tag“ und vor schlechten Menschen, die böser sind als böse Dämonen. Ich verlange nichts feuriger, ich erbitte mir von Dir nichts lieber als dass ich die Ziellinie meines Alters erreiche, indem ich Dir wohlgefällig bin. Dafür statte ich Dir hier, am Ende meines Rationarium vite, ewigen Dank ab, weil du, obwohl mein vergangenes Leben im Fleische stattgefunden hat, mir wenigsten als Greis in deiner ewigen Barmherzigkeit gestattet hast, dass ich die Welt durchschaue und also nach nichts Weltlichem mehr verlange. Libens ultroque secedo, tibi, Deus, meditor, tibi psallo, lectione precipue sacra delector, pascor, cresco, quiesco; tibi mane, tibi meridie, tibi vesperi genua flecto, ut ignoscas peccata mea, ut succurras miserie presenti et periculis futuris occurras; ut a „negotio perambulante in tenebris, ab incursu et demonio merediano“ et homine malo, peiore utique demonibus malis, me protegas, voce suspiriis corde ad midericordie tue ianuam pulso. Et quam presentem senectutis metam, ut in tuo finiam placito, sicut nil ardentius glisco, ita nil prius exoro; de quo iuges, Deus, gratias in calce huius rationarii vite mee tibi persolvo, quod tametsi decurse iter etatis carnaliter actum est, seni saltem, ut mundum cognoscerem ac per hoc nil mundanum desiderarem, indulgere eterna misericordia dignatus es (c. LVI, 5).
In dieser Beziehung scheint Conversino ein religiöses Erbauungsbuch vorgelegt zu haben. Conversino tritt darin gleichsam als neuer Augustin vor den Leser, als Mann, der seinen mühseligen Weg zu Gott darlegt und dem Leser ein erbauliches Beispiel geben will, wie er sein inneres Leben im Sinne einer wahrhaft christlichen Lebensweise reformieren kann.
5. Inversion des religiösen Bekenntnisdiskurses Bei näherem Zusehen fallen jedoch einige Diskontinuitäten ins Auge. Wenn ein intertextueller Zusammenhang so nachdrücklich vorhanden ist wie im Fall des Rationarium vite mit den Confessiones, können Diskontinuitäten und Abweichungen besonders wertvolle Information für die Interpretation des neuen Textes enthalten. Betrachten wir ein Beispiel. Beide Autobiographen haben ihre Schulzeit relativ ausführlich beschrieben. Augustin hebt dabei stets sein sündiges Verhalten hervor. Ers-
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tens prangert er seinen mangelnden Lerneifer an, z. B. dass er keine Lust hatte, das Lesen zu erlernen („Non amabam litteras“, Confessiones I, 19) oder dass ihm Algebra und Griechisch verhasst waren. Er schrieb die Tatsache, dass er überhaupt lesen lernte, einzig und allein Gottes Vorsehung zu, der ihn durch strenge Lehrer dazu zwang. Die Schläge, die Augustin von den Lehren erhielt, waren wohlverdient, denn der noch kleine Knabe war damals bereits ein großer Sünder („plecti non eram indignus, tantillus puer et tantus peccator“, ebd.). Eigentlich war es Gott, der den Knaben zu Recht strafte („de peccante me ipso iuste retribuas mihi“, ebd.). Besonders brandmarkt Augustin seine Vorliebe für die lateinische mythologische Dichtung, vor allem Vergils Aeneis, als Sünde (I, 20–24): „Ich sündigte also, wenn ich als Knabe an jenen Nichtigkeiten so viel größeren Gefallen hatte als an den nützlichen Kenntnissen […]“ („Peccabam ergo puer, cum illa inania istis utilioribus amore proponebam“). „Wahrlich, eine verhasste Leier war mir dies ‚eins und eins sind zwei, zwei und zwei ist vier‘, aber köstliches Schauspiel der Einbildung das hölzerne Pferd, vollgestopft mit Kriegern, und Trojas Brand und ‚Creusas leibhafter Schatten‘“ (I, 22). Mit „Creusas leibhafter Schatten“ zitiert Augustin Vergils Aeneis (II, 772), sein Lieblingsbuch als Knabe und Jugendlicher. Augustin bekennt, dass diese Lektüre seine Sitten verdarb. Weiter beschuldigt sich Augustin, dass er schon als Knabe der Ruhmsucht und Eitelkeit verfallen sei (I, 27–28), wodurch er sich von Gott abgewendet habe (I, 28). Auch Conversino hat im Rationarium vitae seine Schulzeit eingehend dargestellt, und zwar vom frühesten Grammatikunterricht, den ihm Donato Albanzani erteilte, an (c. IV, 5 – IX; 6,5 Seiten). Wie Augustin hat er Latein und die griechisch-römische Mythologie gelernt, und zweifellos auch Vergils Aeneis gelesen. Es findet sich jedoch keine Spur davon, dass er die heidnische oder weltliche Ausrichtung dieser Texte anprangert. Wie Augustin hatte er strenge Lehrer, die dem Knaben den Unterrichtsstoff einbläuten. Conversino erblickt darin jedoch keineswegs Gottes Vorsehung, im Gegenteil einen Ausdruck des Zorns der Götter („diis nobis iratis“, c. V, 5). Der Unterricht von Filippino da Lugo war ihm besonders zuwider (c. V, 4ff.). In der Beschreibung ist von Reue interessanterweise nur sehr wenig zu finden. Nicht einmal seine Ausreißversuche betrachtet er als verfehltes Verhalten. Nur den Umstand, dass er zweimal versuchte, seinen Lehrer zu vergiften, entlockt ihm ein Reuebekenntnis von einigen Zeilen (c. IX, 3). Der geringe Raum, den Conversinos Reuebekenntnis einnimmt, und die mangelnde Intensität, mit der es vorgetragen wird, sind durchaus
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auffällig, besonders wenn man seine ungleich krassere Sündhaftigkeit einkalkuliert: es geht immerhin um zweifachen Mordversuch! Seine Reumütigkeit geht in andersgelagerten Ausführungen gänzlich unter, in welchen er die Missetaten und die Grausamkeit seines Lehrers Filippino da Lugo ausführlich schildert, u. a. Misshandlungen, die anderen Schülern widerfuhren (c. V). Einem Mitschüler, wohlgemerkt einem Bauernsohn, gelang es einmal nicht, einen Psalmvers richtig wiederzugeben: Als er (der Bauernsohn, Anm.) ein einziges Mal nicht imstande war, einen Vers des Psalters richtig wiederzugeben, peitschte er (Filippino, Anm.) ihn aus, bis er blutüberströmt war. Als der Knabe vor Schmerz laut schrie, fesselte er ihn an den Füssen, nackt, wie er war – denn wir mussten uns für jeden noch so kleinen Fehler, den wir machten, entkleiden, damit er uns auf dem ganzen Körper auspeitschen konnte – und hängte ihn bis zum Wasserspiegel in den Brunnen hinunter, den es in der Schule Porta Nuova gab und, meine ich, noch immer gibt […]. Cum semel nescisset Psalterii versum reddere, usque ad exundantiam cruoris flagellavit, pueroque summe vociferante, vinctum pedibus, nudum, uti erat (semper enim pro quavis mendula nudatos, quo undique pateremus ad flagra, verberabat), in puteum, qui erat et extat, ut arbitror, in domo scholastica Porte Nove […] aqua tenus suspendit (c. V, 7).
Den Lehrer Filippino bezeichnet Conversino als blutdürstig („sanguinolentus“, c. V, 6), als Tyrannen (ebd.), ja als sadistischen „Henker“ („carnifex erat“, c. V, 5). Diese Darstellung führt zu einer Inversion von Augustins Bekenntnisdiskurs. Der Autobiograph Conversino klagt nicht, wie Augustin, sich selbst, sondern andere an. Er kehrt seine Sündhaftigkeit nicht hervor, sondern minimiert sie: Er verteidigt sich, versucht sein Fehlverhalten (zweimaliger Mordversuch) verständlich erscheinen zu lassen, indem er die extreme Grausamkeit des Lehrers herausarbeitet. Dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Vielmehr ist die Beschuldigung anderer und die Selbstverteidigung im Rationarium vite autobiographische Methode. Dieselbe Prozedur wird in der Darstellung von Conversinos misslungener Ehe ersichtlich. In wenigen Zeilen bekennt Conversino seine Schuld (c. XX, 6), jedoch in mehr als 90 % des Textabschnitts versucht er sich von jeder Schuld zu reinigen und beschuldigt vielmehr seine Ehegattin, die wohlgemerkt zur Abfassungszeit bereits seit Jahren verstorben war, aufs schwerste (c. XIII–XIX). Sie soll nachlässig in der Haushaltsführung gewesen sein, wollte nicht kochen noch sonst etwas tun. Ihre ganze Zeit (wenn sie nicht gleich im Bett blieb) verwendete sie darauf, sich herauszuputzen, zu schminken und die Haare zu blondieren. Sie ge-
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horchte dem Gatten nicht, sondern lachte ihn aus. Mit ihren Gespielinnen tratschte sie auf bösartige Weise über ihren Ehemann (c. XV, 6). Dem Ehebruch war sie nicht abgeneigt (c. XIII, 8). Dazu war sie streitsüchtig und aufmüpfig (c. XV, 7). Ein solches Wesen gibt natürlich keine gute Ehegattin ab. Da die Frau ihre Pflichten so grob und unverhüllt verletzt, keine Besserung verspricht, sondern ihre Streitsüchtigkeit täglich steigert, bleibt Conversino nichts anderes übrig als sie zu verlassen (c. XXI). Daraus ergibt sich als Summe des Abschnitts, dass Conversino sowohl wohlüberlegt als rechtmäßig gehandelt hat, als er Frau und Kind im Stich ließ. Es ist insofern eine merkwürdige Art von Bekenntnissen, die Conversino vorgelegt hat. Über weite Strecken des Werkes bekennt Conversino nicht, sondern leugnet jede Schuld und Verfehlung. Diese Beobachtung hat weitreichende Folgen für die Interpretation des Werkes. Zunächst muss man feststellen, dass auf dem Niveau des religiösen Bekennens Conversinos Autobiographie nicht als Erbauungsbuch funktioniert haben kann. Dass spirituell eingestellte Leser, besonders Kleriker, bezüglich ihrer Gottzuwendung von Conversino etwas gelernt haben könnten, ist schwer vorstellbar. Die Haltung der Demut, die Voraussetzung des Einübens der christlichen Spiritualität, wird bei Conversino stets von einer mächtigen Tendenz übertüncht, andere anzuschwärzen und sich selbst zu rechtfertigen. Es lässt sich nicht leicht einsehen, wie ein derartiger Selbstrechtfertigungsdiskurs zu einem innigen Verhältnis zu Gott beitragen soll. Die Beschuldigungen anderer und die Selbstrechtfertigungsversuche erwecken den Eindruck, dass Conversino seine Leser (vielleicht eine bestimmten Gruppe von Lesern?) von seiner Unschuld überzeugen wollte. Weiter kommt der Bekehrung, die Conversino im Rationarium vite, c. XXII–XXIII nachbildet, ein anderer Status als bei Augustin zu. In den Confessiones bildet Buch VIII den narrativen und persuasiven Höhepunkt des Werkes, einen wahren Kehr- und Wendepunkt. Bei Conversino hingegen setzt sich das fehlerhafte Verhalten auch nach der ‚Bekehrung‘ (er war damals 16 Jahre alt) fort. Im Text gibt er mehrfach an, dass er als „alter Mann“ („senex“) zur Einsicht gekommen sei. Bei einer genauen Analyse des Textes lässt sich jedoch nicht erkennen, auf welches Jahr oder auf welche Periode sich diese vage Altersangabe (in lateinischen Texten kann sie auf jedes Lebensalter ab ca. 40 Jahren angewendet werden) beziehen soll, ja es lässt sich überhaupt kein weiterer Kehr- oder Wendepunkt dingfest machen. Interessantes Vergleichsmaterial bietet ein autobiographischer Entwurf, der sich in einem Privatbrief Conversinos an den Freund Jacopo da
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Udine findet.29 Der Brief trägt das Datum „XI kalendas Ianuarias Utini (1390)“. Darin beschreibt Conversino sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt. In diesem Brief ist von einer Bekehrung oder Kehrtwende in seinem Leben keine Rede. Sein Leben gestaltete sich vielmehr, wie Conversino mitteilt, aus einem zwanghaften Kausalnexus irdischer Tatbestände und Ursachen, der eine eherne Kette bildet, welche Conversino fesselt, und zwar dergestalt, dass ihm – wie er betont – keine sittliche Entscheidung freistand. Conversino konnte nur jeweils das tun, was ihm zu tun übrig blieb, hatte keine Wahl: „Der einzige rote Faden durch mein Leben ist, wenn du mir irgend Glauben schenkst, die Notwendigkeit („necessitas“)“.30 Da er vom Onkel gezwungen wurde, musste er heiraten, obwohl er dazu keine Lust hatte. Da seine Frau übel gesittet war und Ehen nicht geschieden werden konnten, blieb ihm nichts übrig als die Flucht von Haus und Herd. Da es in Bologna einen Wintereinbruch gab, musste er dort bleiben. Da der Onkel für ihn das Jura-Studium vorsah, studierte er Jura. In dem Brief ist keine Rede davon, dass Conversino der Meinung war, Gott habe sein Leben auf unergründliche Weise gesteuert. Er erklärt sein gesamtes Leben rational als kausale Verkettung irdischer Gegebenheiten. Man darf also bezweifeln, dass es ein authentisches religiöses Bekehrungserlebnis gab, das Conversinos Lebenslauf bestimmte. Ein solches würde übrigens schlecht auf seinen wirren, unsteten und divergenten Lebenslauf passen. Die Bekehrungsgeschichte aus c. XXII–XXIII ist erstens ein Konstrukt, das Conversino aus Augustins Bekenntnisdiskurs ableitete, und bezieht sich zweitens, wie noch gezeigt werden wird, auf ein Thema, das sich nicht ohne weiteres der christlichen Spiritualität zuordnen läßt.
6. Apologie: Augustins Confessiones als Beglaubigungsmaschine Die Inversion von Augustins Bekenntnisdiskurs gibt zu der Vermutung Anlass, dass das Rationarium vite jedenfalls teilweise als Apologie zu verstehen ist. Es empfiehlt sich daher, diese Verstehensfigur zu untersuchen. Lässt sich die apologetische Orientierung aus dem (ursprünglichen) Ab-
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Den Text publizierte Sabbadini in: Giovanni da Ravenna, 207–211. Ebd., 209.
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fassungsdatum der Schrift ableiten? Conversino schrieb das Werk, nachdem er zum Hofkanzler in Padua ernannt worden war (Ende 1393). Es ist keine weither geholte Vermutung, dass ihn das prestigeträchtige und begehrte Amt („ingens honor“, c. LIV, 6) dem Neid und der boshaften Kritik anderer Höflinge aussetzte. Wahrscheinlich ist jedenfalls, dass Conversino derartiges befürchtete. Klar ist auch, dass Conversino bereits während seines ersten Engagements am Hof der Carrara ähnliche Anfeindungen erdulden musste, Anfeindungen, die nach eigener Aussage dazu führten, dass er schließlich den Hof verließ (c. LI, 1 und 5). Einige Angriffsflächen für Kritik lagen auf der Hand: Z. B. war Conversino nicht von Adel; Mithöflinge hätten den verächtlichen Parvenü – wohlgemerkt ein fahrender Vagant – als Eindringling empfinden können. Worauf konnte sich Conversinos Anspruch als Hofkanzler stützen, wenn er schon nicht von Adel war? – War er etwa von der Sache her besonders qualifiziert? Diesbezüglich hätten Neider Zweifel an seiner Kompetenz anmelden können: Conversino konnte weder einen akademischen Juristentitel noch eine Juristenlaufbahn vorweisen. Möglicherweise hatten einige Paduaner Höflinge noch seinen Abgang im Jahr 1383 in Erinnerung, welcher unter verdächtigen Umständen stattfand. Conversino operierte damals in enger Verbindung mit einem Spion, der 1385 in Venedig hingerichtet wurde. Weshalb hatte sich Conversino geraume Zeit (vier bis fünf Jahre) in dem Piratennest Ragusa versteckt? Liegt der Tatsache, dass er freiwillig ins Exil auswich, etwa ein Verbrechen zugrunde? Es ist nachvollziehbar, dass die Befürchtung, man könne derartige Anschuldigungen erheben, einen umfänglichen Erklärungsbedarf erzeugte. Aufgrund der befürchteten Kritik an der nicht vorhandenen adeligen Abkunft wäre verständlich, dass Conversino einen ungewöhnlich langen Abschnitt (13 Seiten, c. III; fast 10 % der Gesamtlänge der ursprünglichen Version) dem Problem des Adels gewidmet hat.31 Wenn man den Abschnitt zu der Länge des Lebensberichtes bis zur Eheschließung (S. 55–74; c. II–IX) in Beziehung setzt, ergibt sich, dass sogar mehr als 60 % der Textmenge vom Adelsproblem in Anspruch genommen werden! Das diesbezügliche Kapitel erhält ein solches Gewicht, dass es sogar als separate, polemische Abhandlung De nobilitate bzw. De vera nobilitate gelesen werden kann. Der Versuch, ein Stammbaumkonstrukt zu erstellen, wäre in Conversinos Fall – zumal er bereits vorher am Paduaner Hof 31
In der Ausgabe Nasons S. 55–67. Die Gesamtlänge der ursprünglichen Version (abzüglich des Vorworts) beläuft auf etwa 116 Seiten (54–171).
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gewirkt hatte – chancenlos gewesen. Deshalb argumentiert er, dass der „wahre Adel“ nicht auf Geblüt, sondern auf Tugend beruhe. Zur Autorisierung seiner Ansicht zitiert er u. a. Senecas Briefe an Lucilius, worin in einer stoischen Meditation aufgezeigt wird, dass „der Geist den Menschen adle“ (c. III, 8; Seneca, Ep. 44, 5). In einer polemischen Weiterführung des Arguments bezeichnet Conversino jene als verwerflich, die sich auf das Alter ihrer Familie berufen (c. III, 1). Er leugnet also, dass der Adel des Geblütes eine Voraussetzung des Kanzleramtes sei. Im Gegenzug stellt er den ‚sogenannten Adeligen‘ eine Vielzahl berühmter Männer gegenüber, die aus „unbekannten“ Familien stammen, unter anderen Homer, Demosthenes, Hippokrates, Galen, Cicero, Kaiser Augustus, Vergil und Petrarca (c. III, 10–12). Mit rhetorischen Fragen wie „Wer ist bekannter als Augustus?“, „Wer ist berühmter als Petrarca?“ („Quid Augusto notius“, „Quid clarius Petrarcha?“) entautorisiert Conversino den herkömmlichen Adelsanspruch. Weiter musste Conversino befürchten, man könne ihm vorwerfen, er sei als Jurist unbefugt, da er weder einen akademischen Titel noch eine entsprechende Karriere vorweisen konnte. Sein Jura-Studium in Bologna (1361–1362) hatte er in der Tat ohne Abschluss abgebrochen. Dies konnte er in Padua nicht leugnen. Demgegenüber geht aus einem Dokument des Jahres 1384 hervor, dass er während seines Aufenthalts in Ragusa (1383–1387) offiziell den Titel eines Rechtsanwalts („Ser“) geführt hat.32 Er hat sich also fälschlich als Jurist ausgegeben.33 Da Conversino damals alle in Ragusa ausgestellten offiziellen Schriftstücke unterzeichnete, kann man nicht ausschließen, dass ein solches auch nach Padua gelangt ist. Es war also alles in allem ein heikle Sache, auch wenn es nicht sicher ist, dass seine etwaigen Feinde über einschlägige Dokumente verfügten. Jedenfalls war es angezeigt, in Bezug auf die mangelnde juristische Qualifikation Stellung zu beziehen. Interessanterweise flicht Conversino in Bezug auf den Juristenberuf in der Tat einen längeren, exkursartigen Abschnitt ein, der den Anschein erweckt, dass eine Selbstverteidigung vorliegt. Er setzt sich darin von dem Juristenberuf ab, indem er die moralische Verwerflichkeit der Sparte aufzeigt (c. XXV; 3 Seiten). Er liefert hier eine Rechtfertigung, weshalb er das JuraStudium abgebrochen hat: Da die Menschen die an sich richtigen und nützlichen Gesetze durch ihre Verdorbenheit missbrauchen, hätte er – wie er angibt – die Fortsetzung des Studiums aus moralischen Gründen 32 33
Vgl. Sabbadini, Giovanni da Ravenna, 61. Sabbadini, ebd., zieht erstaunlicherweise nicht diese Schlussfolgerung.
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nicht verantworten können. Jura stellt der Bösartigkeit Waffen zur Verfügung, unterstützt die Habgier und bringt die Hinterlist auf üble Gedanken (c. XXV, 2). Der heftige, emotional vorgetragene Angriff weist auf Selbstverteidigung hin. Conversino erbringt einen umfänglichen Nachweis, dass sein Ehrgeiz gar nicht auf dem Gebiet der Juristerei liege. Schon deshalb kann von einer unrechtmäßigen Anmaßung nicht die Rede sein. Möglicherweise musste Conversino auch den Vorwurf fürchten, er habe sich zeitweilig als Glücksspieler durchgeschlagen. Damit ließe sich das merkwürdige Kapitel XXVII besser verstehen, in dem Conversino der für seine Biographie völlig unbedeutenden Reise von Padua nach Bologna unverhältnismäßig viel Erzählzeit einräumt (4 Seiten!).34 In dem Kapitel wird mit viel Evidenz und mit Hilfe einer umfassenden szenischen Schilderung der Nachweis erbracht, dass Conversino kein Glücksspieler gewesen sei. Die Verantwortung, dass er Würfel gekauft habe, wälzt er interessanterweise auf Gott ab: Gott sei es gewesen, der ihm dies durch seine Vorsehung eingegeben habe. Der Beleg fängt mit einer Szene rechts vor dem Stadttor Paduas (Prativalle) an (weshalb rechts? – dies ist für die weitere Erzählung nicht relevant), wo ein durchtriebener Glücksspieler auftaucht („Ecce dextrorsum extra portam Prativallis taxillarius arti intentus agebat“) und Conversino, der sich diesbezüglich als Greenhorn und zufälliger Passant darstellt, überredet, Würfel zu erwerben, obwohl er das Glückspiel stets gemieden hat (XXVII, 1: „cum illius rei semper negotium abhorruissem“). Mit der folgenden Geschichte beweist Conversino sowohl, dass er das Glücksspiel nicht betrieben, als auch, dass er die fraglichen Würfel nie verwendet hat. In dem Hospiz, in dem er übernachtete, kehrten zwei zwielichtige, gefährliche Gestalten ein (c. XXVII, 3 ff.). Conversino schildert sie als Räuber und Mörder und suggeriert, dass sie ihm nach dem Leben trachteten. Ergreifend beschreibt er die Todesängste, die er ausstand. Als ihn die beiden zum Würfelspiel überreden wollen, weil sie ihm seinen schönen Mantel abknöpfen wollten, sagt er, dass er zum Würfelspiel aus religiösen Gründen nicht bereit sei. Die beiden lassen ihn. Conversino hat also an ihrem Spiel nicht teilgenommen. Im Eifer des Spiels geraten die beiden in Streit. Der eine wird so wütend, dass er die Würfel weit wegwirft. „Warum hast du Trottel die Würfel verlorn!?“ schreit ihm der andere zu. Die Würfel können in dem dunklen und unordentlichen Schweinestall der zwielichtigen Herberge nicht mehr gefunden werden. 34
In der Ausgabe Nasons S. 102–106.
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Der Wirt bricht in eine Fluchtirade aus, in der er den Verlust der schönen Würfel beklagt und den rabiaten Gast zum Teufel wünscht („Abi malam in rem!“, c. XXVII, 16). Conversino verhütet die Eskalation, indem er dem Wirt die Würfel schenkt, die er von dem Gaukler in Padua gekauft hatte (c. XXVII, 17–18). Diese Tatsache habe ihm damals das Leben gerettet, behauptet Conversino, denn sie erwirkte ihm das Wohlwollen der beiden Schurken. Der Kauf der Würfel beruhte auf Gottes Vorsehung, der seinen Schützling retten wollte. Conversino vergleicht sich diesbezüglich mit Augustin. Der Kauf der Würfel war ein kleiner, unbedeutender Irrtum wie der des Augustin, der sich einmal an einer Weggabelung irrte, wodurch Gott in seiner Vorsehung bewirkte, dass er den Donatisten, welche ihm schon auflauerten, nicht in die Hände fiel.35 Weiter waren die dunklen Umstände erklärungsbedürftig, unter denen Conversino Anfang 1383 den Hof von Padua verließ und die zu dem jahrelangen Versteck im Piratennest Ragusa führten (1383–1387). Conversino stellt dem Zweifelhaften eine Dokumentierungsrede gegenüber, in welcher er seinen Abgang motiviert und kurz darlegt, dass alles regelmäßig verlaufen sei (LI, 1–5). Da er nach dem Tod seiner zweiten Frau die Anwürfe des Höflings Niccolò Curtarolo nicht mehr ertragen konnte (LI, 5), sagt er, habe er vom Fürsten eine ehrhafte Entlassung erwirkt: „Ergo defuncta coniuge contumelias Nicolai ferre non valens nec volens, iam liberior mihi impetrata a principe abeundi venia, Venetias demigro“. Danach (1383) habe er sich „ein ganzes Halbjahr“ („integrum semestre“, sic) in Venedig aufgehalten (LI, 5).36 Den modernen Leser mag die psychologische Motivierung ansprechen; er ist geneigt, Autobiographien hermeneutisch als psychologische Selbstdarstellungen zu lesen. Man könnte sich vorstellen, dass Conversino durch den Tod seiner Frau in einen Zustand der Trauer, vielleicht sogar der Depression fiel, der seine psychische Elastizität verminderte, so dass er Anfeindungen nicht mehr gewachsen war. Jedoch ist sowohl die psychische Motivierung als auch die Dokumentierungsrede insgesamt fadenscheinig. Besonders verdächtig ist, dass Conversino nicht angibt, aus welchen Gründen er sich ausgerechnet nach Venedig begeben und welchen Beruf er dort ausgeübt hat, zumal es sich um eine Informationskategorie handelt, die an den vielen verschiedenen Stationen von Conversinos Lebensweg 35
36
Augustin, Enchiridion 5, 17 (Patrologia Latina 40, Sp. 239); vgl. Rationarium vite c. XXVII, 2: „Sic error itineris Augustino servo tuo salutaris“. Sabbadini übernimmt diese Formulierung in seiner Biographie Conversinis (Giovanni da Ravenna, 59): „a Venezia, dove rimase un intero semestre“.
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in der autobiographischen Darstellung stets vorhanden ist. Dabei war in dieser Zeit, wie Conversino angibt, sein Vermögen stark angewachsen. Woher kam das Geld? Wer zahlte? Für welche Dienste? Conversino hat hier Wichtiges verschwiegen: dass er in dieser Zeit mit dem Paduaner Höfling Antonio Meneghini zusammenarbeitete. Meneghini hatte sich auffälligerweise zur selben Zeit von Padua nach Venedig begeben. Meneghini infiltrierte damals in Venedig, um venezianische Staatsgeheimnisse auszukundschaften.37 Der Hintergrund der Spionagetätigkeit war, dass die Carrara einen Angriff Venedigs, dem die Macht des Paduaner Fürstentums ein Dorn im Auge war, bzw. diplomatische Intrigen der Serenissima mit den Visconti befürchteten. Die Furcht der Carrara war nicht unbegründet: Einige Jahre später wurden sie von den Venezianern gestürzt (Dezember 1388). Meneghini war zuvor enttarnt und für seine Spionagetätigkeit am 5. Mai 1385 in Venedig hingerichtet worden. Als Conversino in Ragusa die Nachricht von der Hinrichtung hinterbracht wurde, dankte er Gott dafür, heil entkommen zu sein (c. LI, 7). Der Verdacht drängt sich auf, dass Conversino gemeinsam mit Meneghini in Venedig Spionage betrieb und für diese Dienste von den Carrara fürstlich belohnt wurde. Verdächtig ist weiter, dass Conversino Venedig schon nach „einem ganzen Halbjahr“ (eine merkwürdige Formulierung) verließ, obwohl er gerade dort so viel Geld verdiente und ihn die Bürger hochschätzten; dass er Venedig für das nichtige Provinzstädtchen auf dem Balkan verließ. Es hat allen Anschein, dass ihm aufgrund seiner Spionagetätigkeit in Venedig der Boden zu heiß wurde. Wie die Hinrichtung Meneghinis zeigt, hatte Conversino die Lage richtig eingeschätzt. In dem Abschnitt, der dem Ragusa-Aufenthalt gewidmet ist, gibt Conversino zu, dass er sich in Ragusa „sicherer“ fühlte, dass er in Venedig aufgrund seiner Bekanntschaft mit Antonio Meneghini verfolgt worden wäre (c, LI, 7–8) und dass er fünf Jahre später, als Gras über die Sache gewachsen war, „nur unter höchster Lebensgefahr nach Venedig zurückkehrte“ (c. LI, 11: „Venetias summo cum vite discrimine integer reveni“). Er leugnet jedoch, damals absichtlich nach Ragusa geflohen zu sein: Es war Gottes Vorsehung, die ihn, der von alledem noch keine Ahnung hatte, nach Ragusa entsandte. Erst als er von der Hinrichtung Meneghinis erfuhr, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen (c. LI, 8).
37
Für Meneghinis Spionagedienste vgl. Rerum Italicarum Scriptores XXII, 755 und 768.
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Im apologetischen Dokumentierungsnarrativ gibt Conversino an, dass er aus Ragusa das verlockende Angebot erhielt, für einen „ehrvollen Sold“ das Amt des „Kanzlers“ zu bekleiden (c. LI, 5: „honorato conductus emolumento Ragusium cancellarius eo“). Auch hier wird einiges vertuscht. Zunächst lag Erklärungsbedarf vor, wie sich das Balkanstädtchen, das als Piratennest und Verbrecherversteck verrufen war, mit einem ehrvollen Amt deckt. Conversino verteidigt sich mit der Behauptung, dass das Felsennest Dubrovnik „nur in grauer Vorzeit einmal ein Piratennest war“ (c. LI, 6: „erat olim tantummodo cinctus mari scopulus, piraticam gens agebat“), jedoch jetzt eine wirkliche Stadt sei, die sich durch die Schönheit ihrer Häuser auszeichne („urbs nunc edibus speciosa“). Da Dubrovnik jetzt eine Stadt mit schönen Häusern ist, kann es kein Piratenversteck mehr sein. Nein, Dubrovnik herbergt ehrbare Leute und Händler. Es ist eine „Seemacht“ (c. LI, 6: „pelago dominatur“), kein gesetzloser Freiplatz von Piraten. Die Bürger Dubrovniks sind sparsam, jedoch in ihrer offiziellen Gebarung „glänzend“ und besonders sittsam. Wie jede ordentliche italienische Stadt teilt sich die Bürgerschaft in die Stadtväter/Patrizier und das gewöhnliche Volk: Die Patrizier sorgen für die Staatsangelegenheiten, die gewöhnlichen Bürger kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten (c. LI, 6). Alles in Ordnung, kein Problem. Nein, Dubrovnik ist kein gesetzloser Ort. Nichts Unrechtmäßiges geht dort vor. Wie sehr der apologetische Diskurs der Autobiographie die Darstellung Dubrovniks prägte, zeigt sich im Vergleich mit einem lateinischen Privatbrief, den Conversino an seinen Intimfreund Paolo Rugolo richtete und in dem er ebenfalls Dubrovnik beschrieb (31. 8. 1383 oder 1384).38 Von einer schönen und gepflegten Stadt mit Häusern ist dort keine Rede, sondern von einem verwilderten Nomadenvolk, das in Zelten hauste und auf der Erde schlief: „Sie schlafen auf der Erde, leben von Milch und vom Vieh, trinken aus dem Fluss, essen ungesäuertes Brot, tragen haarige Wollkleider […]; sie leben nicht in festen Häusern, sondern unter offenem Himmel oder in Laubhütten; sie schlafen unter Decken aus Lorbeer-, Myrthen- oder Eichenlaub […]“. Das barbarische, kulturlose Nomadennest, als welches Conversino Ragusa hier zeichnet, hat mit dem Bild der schönen, sittsamen und wohlgeordneten Stadt, das im Rationarium vite auftaucht, wenig gemein.
38
Der latinische Text dieses Briefes wurde in Auszügen von Sabbadini, Giovanni da Ravenna, 206–207, publiziert.
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Bekleidete Conversino in Ragusa das Amt des Kanzlers („cancellarius“), wie er selbst behauptet (c. LI, 5)? In den Archiven Ragusas taucht sein Name zuerst am 25. Juli 1384 (ca. ein Jahr nach seiner Ankunft) auf, jedoch nicht als „cancellarius“, sondern als Notar („notarius“).39 Hat Conversino hier auf unschuldige Weise ein Synonym verwendet?40 Man kann dies nicht mit Sicherheit ausschließen, aber wahrscheinlich ist es nicht. Wenn Conversino am 25. Juli 1384 offiziell als „notarius“ bezeichnet wird, dann war er offiziell nicht „cancellarius“ der Stadt Ragusa. Das bedeutet, dass man ihn 1383 wohl nicht mit dem ehrvollen Angebot nach Ragusa gelockt hat, dort die Stelle eines „Kanzlers“ zu bekleiden. Somit können wir nicht ausschließen, dass Conversino 1383 als Privatmann nach Dubrovnik reiste. Was geht aus dem Dokument noch hervor? In ihm wird Conversino als „Ser Johannes de Ravenna“ bezeichnet. „Ser“ ist der Titel eines offiziell anerkannten Advokaten bzw. Notars. Das bedeutet, dass sich Conversino in Dubrovnik als solcher ausgegeben hat. Er besaß aber, wie wir bereits feststellten, kein Recht, diesen Titel zu tragen. Er brauchte damals nicht zu befürchten, dass der Betrug auffliegen könnte. Im Hinblick auf Recht und Gesetz war Dubrovnik damals eine Art Entwicklungsland. Wie aus demselben Dokument hervorgeht, war Conversino damals der einzige Notar in Ragusa: „Mit der Abwicklung wird Ser Giovanni Conversino betraut, der einzige Notar, den wir haben“.41 Indem Conversino in der Autobiographie behauptet, dass er damals „als Kanzler“ nach Dubrovnik gerufen worden sei, belegt er einerseits, dass er nicht aus Venedig geflohen sei, andererseits, dass er zum Hofkanzler befähigt sei, da er in einem ähnlichen Amt bereits auf eine fünfjährige Erfahrung zurückblicken könne. Es zeigte sich, dass Conversino zu der hier als Motiv unterstellten Furcht vor etwaigen Anfeindungen der Paduaner Höflinge allen Anlass hatte. Im Mai 1399 muss er sich mit einer Schrift, die den unmissverständlichen Titel Apologia trägt,42 gegen ihre Angriffe verteidigen, insbesondere gegen den Vorwurf, er wäre für das Amt des Hofkanzlers nicht kompetent. Weiter argumentiert er, wie schon im Rationarium vite, auch in der Apologia, dass seine Ambition nicht dem Hofleben, sondern dem 39 40 41 42
Vgl. Sabbadini, Giovanni da Ravenna, 61. Wie Sabbadini, ebd., annimmt. Für den lateinischen Text vgl. Sabbadini, ebd. In Auszügen publiziert von Sabbadini, Giovanni da Ravenna, 177–179. Die Apologia trägt das Datum „1399 ydibus mai Patavi“.
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kontemplativen Leben gelte. Conversino schildert in dem Brief, wie sehr er die Gartenarbeit liebe: Er freut sich an den Knospen und grünenden Zweigen, pflanzt Kräuter, stutzt Pflanzen. Freudig lauscht er dem Gesang der Nachtigall, während er von den bösartigen Stimmen der Höflinge befreit ist.43 Aufgrund seiner Neigung zur vita contemplativa begibt er sich auf einsame Spaziergänge, bei denen er meditiert und literarische Werke konzipiert. Er habe von Anfang an vorhergesehen, dass er für das Hofleben nicht geeignet sei.44 In diesen Passagen ähnelt die Argumentation der Apologia sehr der des Rationarium vite. Die apologetische Orientierung des Rationarium vite scheint sich nicht recht mit dem Bekenntnisdiskurs Augustins zu vertragen. Dennoch macht die Einbindung der Apologie in den Bekenntnisdiskurs Sinn. Dieser stellt eine mächtige Beglaubigungsmaschine dar, die die Perzeption des Lesers steuert. Da der Leser davon ausgeht, dass die Grundvoraussetzung des Bekenntnisdiskurses die Bereitschaft zu einem wahrhaftigen Sündenbekenntnis ist, ist er eher bereit, den Ausführungen Conversinos Glauben zu schenken. Die Diskurseinschreibung dient insofern den apologetischen Zielsetzungen.
7. Ein humanistisches Erbauungsbuch: Conversinos Konversion und Petrarcas vita-solitaria-Ideal Augustins Erbauungsbuch hat im Rationarium vite noch eine andere Transformation erfahren, welche für die Interpretation des Werkes entscheidend ist. Kehren wir nochmals zu der Bekehrungsszenerie in c. XXII–XXIV zurück, die 1359 im schneebedeckten und durch den Schnee von der Außenwelt abgeschlossenen Bologna situiert ist. Was genau bewirkt Gott, der „reformator“ von Conversinos Seele? Es können hier vier Bekehrungsphasen dingfest gemacht werden. Erstens macht Gott, dass Conversino in den Büchern seines Onkels schmökert. Das Resultat ist, dass in Conversino die Liebe zu Literatur und Wissenschaft erwacht. Dies unterscheidet sich insofern von Augustins Bekehrung, als sie keine spezifisch religiöse Ausrichtung besitzt noch überhaupt von der Lektüre religiöser Texte abhängt. Zweitens bewegt Gott Conversino dazu, dass er in Bologna mit dem Studium anfängt (c.
43 44
Ebd., 177. Ebd., 178.
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XXIII, 1). Es geht hier abermals nicht um einen religiösen Inhalt, sondern um das Studium der Rhetorik. Die dritte Phase ist die der Erleuchtung. Augustin wurde durch den Römerbrief des Apostels Paulus erleuchtet. Bei Conversino kommt diese Rolle jedoch einem Rhetorikhandbuch zu, der Rhetorica ad Herennium, die damals Cicero zugeschrieben wurde! Als Conversino dieses Werk zur Osterzeit, in der heiligen Woche („Paschali tempore“, c. XXIII, 2) liest, wird ihm eine göttliche Erleuchtung zuteil, wodurch er selbst die schwierigsten Stellen dieses Werkes leicht versteht. Es liegt also keine religiöse, sondern eine humanistische Bekehrung und Erleuchtung vor. Dabei geht es um die Verinnerlichung der humanistischen Paradedisziplin, der Rhetorik. Das ‚heilige Buch‘ ist die sogenannte Ars maior, die Rhetorica ad Herennium. Die vierte Bekehrungsphase betrifft den Rückzug in die Einsamkeit („solitudo“, c. XXIII, 5 – XXIV). Als Folge der Erleuchtung durch die Herennius-Rhetorik erkennt Conversino, dass ihm die Liebe zur Einsamkeit angeboren ist. Er zieht sich in einen Weingarten zurück, wo er sich eine mit Laub bedeckte Bleibe schafft. Welche Tätigkeit übt Conversino in der Einsamkeit aus? Er nimmt seine bereits reiche Büchersammlung mit („corrogatos undique libellos mecum veho“). Er übt sein Gedächtnis, liest, schreibt und „überliefert“ („memorie commendando“, c. XXIV, 1). Es handelt sich dabei um die charakteristischen Haupttätigkeiten des Humanismus. Die Einsamkeit bildet das ideale Ambiente zur Ausübung der studia humanitiatis. Conversinos Rationarium vite stellt ein Erbauungsbuch für Humanisten dar. Das Verwirklichen einer humanistischen Existenz war, zumal im 14. und 15. Jahrhundert, keine einfache Angelegenheit, nicht zuletzt, weil es keine geeichten Stellen gab, die den humanistischen Studien selbst gewidmet waren. Die Humanisten waren, wenn sie ihre Studien ausüben wollten, in einen schwierigen und zähen Existenzkampf verwickelt. Auf dieser Ebene liegt die erbauliche Wirkungskraft von Conversinos Autobiographie. Aus ihr geht hervor, in welcher Weise sich Conversinos humanistischer Existenzkampf vollzog. Dieser ist die eigentliche miseria condicionis humanae, die hier abläuft. An ihm, nicht an der religiösen Bekehrung, erprobt sich Gottes Barmherzigkeit. Gott sorgt mit seiner Vorsehung und durch sein tätiges Eingreifen in die Welt dafür, dass Conversino zum Humanismus hinfindet und sein Leben den studia humanitatis widmet. Was bei Augustin der verschlungene Weg zu Gott, ist bei Conversino der schwierige Weg zum Humanismus. Es ist Gott, der dafür sorgt, dass Conversino jeweils Mäzene und Instanzen findet, die ihn
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finanziell unterstützen (c. III, 53–54). Der Humanist wird als Erwählter präsentiert, der von Gott geschützt und gefördert wird. Mit Hilfe dieses Schlüssels kann man das Rationarium vite trotz der vielfältigen Verschlungenheit der dargestellten Ereignisse entziffern. Conversinos Konversion bewegt sich vom Weltlichen, vom Sinnlichen, vom Mundus zur Lebensweise des Humanisten, welche der Bildung, der Sprache und der Wissenschaft gewidmet ist. Die Konversion zielt nicht, wie bei Augustin, auf ein einzelnes Bekehrungsereignis ab, sondern verläuft wellenförmig, in einem ständigen Auf und Ab. Dieser Prozess rührt daher, dass das Weltliche und Sinnliche nie aufhört, seine verführerischen Einflüsse geltend zu machen. Das Individuum muss daher einen ständigen Kampf führen, um sich der Angriffe des Mundus zu erwehren. Der Mundus wird dabei vom ‚Alten Menschen‘, der tief verwurzelten ‚Macht der Gewohnheit‘, gespeist, welche immer wieder auftaucht und zur Sünde verführt. So geschah es Conversino gleich nach seiner ersten Konversion, in der humanistischen, gelehrten Einsamkeit des Weingartens. Eine sündige Frau lauert ihm auf und verführt ihn („femina peccatrix pubertati mee insidiata ad volutabrum impietatis me pellexit“, c. XXIV, 3). Dadurch kühlt seine heiße Liebe zum Humanismus ab („Hinc ceperunt studia defervere“). Der junge Humanist verlässt den gelehrten Eremos und kehrt in die sündige Stadt, Bologna, mit ihren Verlockungen zurück. Conversino widmet sich in der Folge fast zwei Jahre lang dem Jura-Studium. Das Jura-Studium ordnet er nicht der humanistischen Existenz zu, sondern dem Mundus. Es lehrt den Menschen die Künste und Kniffe der Welt. Es leistet der Habsucht, der Ehrsucht, der Schlechtigkeit Vorschub. Es ist ein verwerflicher Lehrgang der Anti-Spiritualität (c. XXV, 4). Um Conversinos Konversion zum Humanismus voranzutreiben, ist ein erneuter Eingriff Gottes erforderlich. Da sandte ihm Gott Pietro da Moglio, einen Freund Petrarcas: „Ich bekenne, Herr mein Gott, dass man auch hier das Geschenk deiner Barmherzigkeit erkennt. Während ich dem Jura-Studium nachgehe, folge ich Pietro“ („Confiteor, domine Deus meus, hic quoque misericordie tue munus agnosci. Dumne studia iuris persequerer, Petrum sequor“; c. XXV, 1). Der Paduaner Rhetoriklehrer Pietro war das Instrument Gottes. Er fasziniert Conversino, indem er ihm das prächtige Rhetorikstudium in Padua schildert, und überredet ihn, zu ihm zu kommen. „Obwohl ich auf dem Weg der weltlichen Gelehrsamkeit dahingetrieben wurde, um Reichtum und Ehre zu erwerben, hast du bewirkt, dass ich der Bildung und Wissenschaft, die den Geist erfreut, nachgehe und dass ich nach Padua ziehe, wo Pietro einen
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Lehrstuhl innehatte“ (c. XXVI, 1). Pietro verlangt von seinen Schülern eine asketische Lebensweise, welche dem verwöhnten Conversino, dem es in Bologna an nichts fehlte, sehr schwer fällt. Seine früheren Kommilitonen verlocken ihn immer wieder, nach Bologna zurückzukehren. Nachdem er sich in Padua mit Fleiss dem Rhetorik-Studium gewidmet hat, wird Conversino wieder vom Mundus verführt und gleitet in Trinkgelage und diverse Liebesabenteuer ab: „Has inter donationes Dei, quibus meum instruere animum suo munere dignatus est, mea pravitas, mea luxuria, mea vanitas superavit […]“ (c. XXX, 1; Liebesabenteuer c. XXXI–XXXII). Derartige Wellenbewegungen kennzeichnen den weiteren Verlauf des Werkes. Nachdem Conversino 1369 in Treviso erneut in den Mundus abgeglitten war, bewirkte Gott eine weitere Konversion, wobei er sich des Instrumentes des Paulo Rugolo bediente, der Conversino eine Stelle als Grammatikprofessor in derselben Stadt besorgte (c. XXXIX). Conversinos Erbauungsbuch vermittelt den Lesern einen Glauben – allerdings den Glauben an die humanistische Sache. Conversino ist das Exempel, das den Lesern vorgezeigt wird. Trotz aller Verführungen, Verfehlungen, Sünden und trotz der Grillen Fortunas gelingt es immer wieder, die humanistischen Studien weiterzuführen. Ein wahrer Humanist geht nicht unter, das ist die Moral, die in dieser Selbstgeschichte vermittelt wird. Sie lehrt den humanistischen Leser, in schwierigen Lagen nicht den Kopf zu verlieren und trotz allem eine positive Grundeinstellung zu behalten. Gottes Wege sind unergründlich, aber irgendwie kümmert er sich besonders um seine humanistischen Schützlinge. Oft weiß man nicht, wozu etwas dient, wofür etwas gut ist: Das weiß nur Gott. Aber ebenso oft stellt sich im Nachhinein heraus, dass man genau das Richtige getan hat. Das Wichtigste ist, Vertrauen zu haben in den guten Ausgang des täglichen Ringens und in die Richtigkeit der humanistischen Sache. Conversinos Autobiographie ist insofern ein frühes Manifest der humanistischen Respublica litteraria. In der Konzeption der humanistischen Lebensweise als Rückzug aus dem Mundus hat sich Conversino von Petrarcas Bildungstraktat De vita solitaria anregen lassen. In diesem grundlegenden Werk des Humanismus hat Petrarca die humanistische Lebensweise als „vita solitaria“, d. h. als Transformation der herkömmlichen mönchischen vita contemplativa beschrieben.45 Die humanistische Lebensweise findet außerhalb der 45
Siehe dazu K. A. E. Enenkel, Francesco Petrarca, De vita solitaria, Buch 1. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar, Leiden-New York-Köln-Kopenhagen 1990.
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Städte, die als sündig und verwerflich bezeichnet werden, in der „Einsamkeit“ („solitudo“) statt: „Ob wir uns Gott zuwenden oder uns selbst oder den humanistischen Studien, mit denen wir beide erreichen, oder ob wir einen Menschen suchen, der uns ähnlich ist, in jedem Fall müssen wir uns von der Masse der Menschen und aus den Wirren der Städte so weit wie irgend möglich entfernen“.46 Die Städter sind haltlose Leute, die wie Blätter im Wind dahintreiben, indem sie nach der neuesten Mode leben und der Sinnenlust ergeben sind. Sie haben keine klaren Ziele, keine Beziehung zum Altertum und zur Überlieferung des Geistes. Da sie keine Ziele besitzen, werden sie vom Lebensekel ergriffen. Wie Viehherden oder Vogelschwärme bewegen sie sich bald in diese, bald in jene Richtung. Die moralische Krankheit, an der sie leiden, ist ansteckend, wie die vielen Infektionskrankheiten, die in den Städten auftreten.47 Der humanistische solitarius muss die Städte meiden wie die Pest. Der solitarius lebt in der Einsamkeit des Landes, am liebsten des Waldes und der Berge. Petrarca hat hier vor allem seinen Landsitz in der Vaucluse (Provence), in der Nähe des Felsens, aus dem die Sorgue entspringt, vor Augen. Auf den Hügeln und Bergen der Vaucluse wandert der solitarius, auf seinen Wanderungen dichtet und denkt er. In seinem Haus liest und schreibt er. Er nimmt seine Bücher, vor allem die antiken Autoren, an den Ort der Einsamkeit mit. Das ist der Hauptinhalt seiner Lebensweise. Die Beschränkungen der mönchischen Lebensweise, wie stabilitas loci und vita communis, hebt Petrarca zugunsten einer freieren Schriftstellerexistenz auf. Petrarcas solitarius lebt, wie es ihm beliebt; geht dorthin, wohin zu gehen ihm beliebt; er hält dort inne, wo es ihm beliebt („vivere, ut velis; ire, quo velis; stare, ubi velis“).48 Im Frühling lässt er sich auf der blumenübersäten Wiese nieder, im Winter an sonnigen, im Sommer an schattigen Orten.49 Von der erhabenen Warte der Kontemplation blickt er auf die Niederungen des Menschlichen hinab.50 In seinem Gedächtnis wandert er durch den riesigen Raum der Vergangenheit und der Geographie. Dort begegnet er den berühmten Männern aller Zeiten, mit denen 46
47 48 49 50
Petrarca, De vita solitaria I, 1, 1 (ed. Enenkel): „sive Deum, sive nos ipsos et honesta studia, quibus utrunque consequimur, sive conformem nobis querimus animum, a turbis hominum urbiumque turbinibus quam longissime recedendum est“. Ebd., I, 9. Ebd., I, 6, 2. Ebd. Ebd., I, 6, 5.
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er sich geistig austauscht, im anregenden ‚hohen Geistergespräch‘ („mittere retro memoriam perque omnia secula et per omnes terras animo vagari; versari passim et colloqui cum omnibus, qui fuerunt gloriosi viri“).51 Nichtsdestoweniger spielt die Religion eine wichtige Rolle im Leben des Petrarkischen solitarius, insofern als er die Stundengebete peinlich genau einhält und in seiner dem Geistigen gewidmeten Lebensweise einen ständigen Zugang zu Gott offen hält. Im zweiten Kapitel des ersten Buches von De vita solitaria beschreibt Petrarca exemplarisch den Tagesablaufs des solitarius: Diese ist nach den Stundengebeten strukturiert, die jeweils bei der Einleitung des betreffenden Tagesabschnittes zitiert werden.52 Auch in Bezug auf seine Religiosität unterscheidet er sich von seinen Zeitgenossen, die dem Mundus verhaftet sind. Conversino, der geistige Schüler Petrarcas, hat sich von dem Vitasolitaria-Ideal des Meisters anregen lassen. Er hat dieses Ideal seinem humanistischen Erbauungsbuch zugrundegelegt. Die humanistische vita solitaria erhält die Funktion der Religion, die den Referenzpunkt von Conversinos Konversion bildet. Alles, was von der vita solitaria wegführt – das Weltliche, das Jura-Studium, der wertlose Schulunterricht mit ständigen Misshandlungen, die schlechte Ehe mit einer leichtsinnigen Frau, Affären mit diversen Personen weiblichen Geschlechts, die „Kanzler“-Stelle in Ragusa usw., wird verurteilt und abgewertet; alles, was zu ihr hinführt, wird Gottes Vorsehung und tätigem Eingreifen zugeschrieben. Es sind nicht zufällig gerade Petrarcas Freunde, die hierbei eine wichtige Rolle spielen. Den ersten Unterricht in der lateinischen Grammatik hat Conversino von Petrarcas Freund Donato Albanzani empfangen.53 Die Erleuchtung zur humanistischen Lehre von Petrarcas antikem Lieblingsfreund Cicero.54 Die erneute Konversion zu den studia humanitatis von Petrarcas Freund Pietro da Moglio.55 Nun war Conversinos verschlungener Lebensweg eine widerspenstige Masse, die nur zum geringen Teil in das Ideal von Petrarcas vita solitaria 51 52 53
54
55
Ebd., I, 6, 6. Vgl. Enenkel, Kommentar ad loc. Ebd., I, 2. Vgl. Enenkel, Quellenapparat und Kommentar ad loc. Rationarium vite c. IV, 5; zu Albanzani vgl. G. Martellotti, Art. „Albanzani, Donato“, in: DBI 1 (1960), 611–613. Rationarium vite c. XXIII, 2. Die Rhetorica ad Herennium betrachtete Conversino ebenso wie seine Zeitgenossen als „volumen Ciceronis“. Ebd., c. XXV-XVI. Für Pietro da Moglio vgl. G. Billanovich, „Giovanni del Virgilio, Pietro da Moglio, Francesco da Fiano“, in: Italia medioevale e umanistica 6 (1963), 203ff.
Humanistisches Erbauungsbuch: Conversino und Petrarca
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passte. In seiner Zuwendung zu den studia humanitatis ist das periodenweise der Fall, in Bezug auf den Rückzug an den einsamen Ort jedoch kaum. Freilich stellt das zweite eine Radikalisierung dar, die sogar der Meister oft nicht verwirklichen konnte. Das Problem ließ sich dadurch mildern, dass man vor allem die Zuwendung, die Konversion ins Zentrum des Interesses stellt. Problematischer war jedoch, dass Conversino gerade zu dem Zeitpunkt, an dem er sein Leben anhand der Richtschnur der erhabenen humanistischen vita solitaria abrechnet, eine Stelle des aktiven Lebens, als Kanzler am Fürstenhof von Padua, angenommen hat (1393). Petrarca hatte in De vita solitaria jedoch das Hofleben als Lebensambiente des Humanismus radikal abgelehnt. In einem polemischen Kapitel brandmarkt er die vita aulica als die elendste Lebensform, die es gibt.56 Es lässt sich von daher verstehen, dass gerade dieser Umstand Conversino zu einer rückblickenden Abrechnung seines Lebens veranlasst. Conversino versuchte das Problem auf zweifache Weise zu lösen: Erstens betont er, dass er seinen Aufenthalt bei den Carrara nicht als Zuwendung zur vita activa, sondern im Gegenteil als „Rückzug“ („secessio“) und Zuwendung zu den studia humanitatis konzipiert habe. Als Vorbild für diesen Gedankenschritt diente ihm vielleicht Petrarca selbst, der seine letzten Lebensjahre bei den Carrara verbrachte. Allerdings hatte Petrarca damals in der Tat eine vita solitaria gelebt, indem er sich in dieser Zeit vor allem in sein Landhaus in Arquá zurückzog.57 Zweitens betont Conversino, dass er sich dem Angebot des Kanzleramtes gegenüber zurückhaltend und im Grunde ablehnend verhalten habe (c. LIV, 5–6; LV, 1 „tam me obvium obluctantemque exhortationibus, quo subirem cancellariatus officii molem […]“). Im Schlusskapitel der ursprünglichen Version bestätigt er sein Rückzugsvorhaben in die vita solitaria trotz des Kanzleramtes: „Ich liebe die Einsamkeit, ich liebe die Stille“ („Amica solitudo, amicum silentium“, c. LVI, 4). „Alle eitlen, geschwätzigen, falschen, schlechten Leute, aus denen sich die Mehrheit des Menschengeschlechts zusammensetzt, sind mir verhasst“. Wenn man sich unter die Menschen begibt, tauchen immer wieder Leute auf, die einem die Ruhe des Geistes rauben.58 „Deswegen ziehe ich mich gerne und freiwillig zurück („Libens ultroque secedo, tibi, Deus, meditor, tibi psallo […]“); deswegen singe ich Dir, Herr, Psalmen; deswegen erfreue 56 57 58
Petrarca, De vita solitaria I, 3 (ed. Enenkel). Übrigens hielt sich Conversino in Padua selbst auf. Rationarium vite, c. LVI, 4.
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ich mich vor allem an der Lektüre der Heiligen Schrift, nähre mich von ihr, wachse innerlich, komme zur Ruhe“.59
8. Haushaltsbuch des Lebens: Senecas philosophische und Conversinos humanistische Buchhaltung In den programmatischen Einleitungssätzen des Rationarium vite tritt ein Gedanke hervor, der den Rahmen von Augustins Bekehrungsdiskurs sprengt. Dort beklagt Conversino, dass er ständig für andere lebe, jedoch nicht für sich selbst; dass er damit seine Zeit vergeude; dass er mit seiner Zeit nachlässig und leichtfertig umgehe; dass es peinlich, jedoch notwendig sei, über den Haushalt seiner Zeit Rechenschaft abzulegen: Wozu dient diese tägliche Plackerei, armseliges Menschlein? Bis zu welchem Grad sorgst für andere und niemals für dich selbst? Du brennst darauf, von den Taten der Alten zu lesen und von den gegenwärtigen Ereignissen zu hören. Hast du die Absicht, deine Zeit in dem Masse zu vergeuden, dass du einzig und allein von der Sorge um andere okkupiert bist, dich jedoch nie der Sorge um dich selbst zuwendest? Quo diuturnus iste labor, homuncio? Quousque te aliis impendes et nunquam tibi? Veterum gesta legere, audire presentia ferves. Siccine temporis abuti consilium est, ut una externorum cura detineare, et nunquam tua? (c. I, 1).
In Augustins Bekehrungsdiskurs ist ein tägliches Time Management eigentlich irrelevant. Die Bekehrung kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Lebens stattfinden: Gemessen an der Größe und Bedeutung des Ereignisses ist der Zeitpunkt unwichtig. Außerdem liegt er grundsätzlich in Gottes Hand, der Mensch hat darauf keinen Einfluss. Wenn ihm die Bekehrung erst im hohen Alter zuteil wird, ist er Gott zu ebenso großem Dank verpflichtet wie wenn er sie bereits in der Jugend geschenkt bekommt. Das Dasein „für sich selbst“ ist nicht dem Dasein „für andere“ entgegengesetzt. Für den Christen Augustin decken sich diese Komponenten vielmehr: Indem er als Bischof für andere daist, sorgt er für sein Seelenheil und fördert seine spirituelle Entwicklung. Der Titel von Conversinos Autobiographie erklärt sich von der Konzeption der Zeithaushaltung her. „Rationarium“ bedeutet „Haushaltsbuch“, „Buchhaltung“, „Rechnungsbuch“. Das „Haushaltsbuch“ ist ein 59
Ebd.
Stoische und humanistische Buchhaltung
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Phänomen, das auf die römische Antike zurückgeht. Der römische pater familias führte ein Haushaltsbuch, in welchem alle Ausgaben und Einkünfte verzeichnet waren.60 Für „Haushaltbuch“ verwendete man die Begriffe „ratio“,61 „rationes“, „liber rationum“,62 „codex rationum“63 oder, wenn es sich um eine komplexe Buchhaltung handelte, die sich aus einer Reihe verschiedener Rechnungsbücher zusammensetzte (wie im Fall der Reichsverwaltung), „rationarium“.64 Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit wurden Haushaltsbücher („ricordi“, „ricordanze“) auch von italienischen, besonders florentiner Patriziern geführt.65 In Florenz waren die „ricordi“ vor allem der finanziellen Buchhaltung gewidmet, in anderen Städten, z. B. in Venedig, wurden in verstärktem Maß auch andere, für den Haushalt wichtige Fakten eingetragen, so dass sich die Reichweite der „ricordi“ bzw. „ricordanze“ zur Familienchronik hin ausdehnte.66 Bei Conversino liegt freilich trotz des Titels „Haushaltsbuch“ keine finanzielle Buchhaltung vor. „Haushaltsbuch“ ist metaphorisch zu verstehen. Nason erklärte den Titel als „Rechenschaftsbericht“ in religiösem Sinn. Er ist der Meinung, dass Conversino von zeitgenössischen Predigern zu einer Rechenschaftablegung, d. h. zu einem grundlegenden Sündenbekenntnis inspiriert worden sei.67 Dem kann ich mich nicht anschließen. Wie aus dem Obigen ersichtlich wurde, stellt das Rationarium vite nicht einfach ein religiöses Sündenbekenntnis noch auch ein religiöses Werk im herkömmlichen Sinn dar. Der Titel Rationarium vite bezieht sich vielmehr auf den Haushalt der Zeit.68 Für die Konzeption der Buch60 61 62 63 64
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Vgl. Art. „Ratio“, in: RE, zweite Reihe, Bd. I, Sp. 261, 63 – 262, 63. Vgl. Cicero, Pro Cluentio 37. Livius, Ab urbe condita XXXVIII, 55, 11. Digestae II, 13, 10, 2. Sueton, De vita Caesarum, Divus Augustus 28: „Taedio valetudinis magistratibus ac senatu accitis rationarium imperii tradit“. Vgl. F. Levy, „Florentine Ricordanze in the Renaissance“, in: Stanford Italian Review 3 (1983), 107–122; V. Branca (Hrsg.), Mercanti scrittori. Ricordi nella Firenze tra Medioevo e Rinascimento, Mailand 1986. Vgl. J. S. Grubb, „Memory and Identity: Why Venetians didn’t keep ricordanze“, in: Renaissance Studies 8 (1994), 375–387; B. von Krusenstjern, „Buchhalter ihres Lebens. Über Selbstzeugnisse aus dem 17. Jahrhundert“, in: Arnold, Schmolinsky, Zahnd (Hrsg.), Das dargestellte Ich, 139–146. „Introduzione“, 12–13: „I richiami alla tematica evangelica del ‚redde rationem‘ rinviano prediche che in quegli anni risuonavano dai pulpiti per indurre i fedeli alla penitenza“. Wie Guglielminetti, Memoria e scrittura, 191, richtig erkannt hat.
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haltung der Zeit reicht jedoch das religiöse Sündenbekenntnis nicht aus. Es genügt weiter auch nicht, auf Sueton zu verweisen, in dessen Kaiserbiographien das Wort „rationarium“ vorkommt.69 Sueton hat „rationarium“ keineswegs in metaphorischem Sinn verwendet. Bei ihm bezeichnet der Begriff die komplexe finanzielle Buchhaltung des Römischen Reiches. Für Conversinos metaphorische Verwendung des „Haushaltsbuch“/ „rationarium“ ist etwas anderes entscheidend. Es handelt sich dabei um Senecas Briefe an Lucilius (Epistulae ad Lucilium). In diesem Werk hat der römische Staatsmann und Philosoph einen Protreptikos zur Philosophie vorgelegt. Das Konzept des Zeithaushalts spielt darin eine zentrale Rolle. Seneca versucht den Leser (und nicht zuletzt sich selbst) zu überzeugen, dass es von größter Bedeutung sei, mit seiner Zeit sparsam umzugehen und sie richtig anzuwenden. Als einzig richtige Anwendung betrachtet er die Beschäftigung mit der Philosophie. Den Gegensatz zur Philosophie bilden für ihn die herkömmlichen Lebensmuster der römischen Oberschicht, zuvorderst die Politik, die Advokatur, der Dienst als Magistrat, sowie die sozialen Verpflichtungen, welche damit zusammenhängen. Senecas Time Management lebt von der Gegenüberstellung des „Für sich selbst leben“ mit dem „Für andere leben“. Letztes bezieht sich auf die hier beschriebenen Tätigkeiten. Seneca will bewusst nicht mehr „für andere leben“. Er fordert von sich selbst, von Lucilius und seinen Lesern den Rückzug aus dem öffentlichen Leben und die konzentrierte Zuwendung zur Philosophie. Die Fokussierung auf den Zeithaushalt nimmt in Senecas Briefen an Lucilius geradezu neurotische Züge an. Der Mensch ist ständig von Dieben und Räubern umgeben, die ihm die Zeit stehlen wollen. Von überallher und zu jeder Zeit droht Zeitverlust. Das Bedrohliche wird dadurch verstärkt, dass Zeitverlust unmerklich und unbewusst auftreten kann. Jede kleinste Nachlässigkeit kann schlimme Folgen haben. Die Präokkupation mit dem Time Management erklärt sich aus Senecas Biographie. Gegen Ende seiner Laufbahn als Staatsmann hatte sich Seneca mit seinem früheren Schüler, Kaiser Nero, überworfen. Aufgrund dieser Tatsache zog er sich aus der Politik zurück und fasste den Entschluss, fortan ausschließlich der Philosophie zu leben. Diese Kehrtwendung seines Lebens bewirkte, dass für ihn Zeit in zweifachem Sinn teuer wurde. Erstens haben wir einen alten Mann vor uns, der spät zu der Einsicht gekommen
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Ebd.
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ist, dass ihn die Politik nicht befriedige, d. h. es blieb ihm nur mehr ein Rest seines Lebens übrig, den neuen Lebensinhalt zu verwirklichen. Zweitens wirkte das Zerwürfnis mit Nero als Zeitbombe: Seneca war sich zur Abfassungszeit der Epistulae ad Lucilium stets der Gefahr bewusst, welche von Nero ausging; dass der Streit wahrscheinlich mit seinem Tod enden würde. So geschah es: 65 n. Chr. (kaum drei Jahre nach seinem Rückzug) überbrachte ihm ein Gesandter Neros den Befehl zum Selbstmord. Seit seinem Rückzug 62 n. Chr. hatte Seneca wie in einer Todeszelle gelebt. Es ist programmatisch gemeint, dass der Einleitungsbrief der Epistulae ad Lucilium dem Time Management gewidmet ist: Handle so, mein Lucilius: Nimm dich für dich selbst in Anspruch und bündle und bewahre die Zeit, die dir bisher geraubt oder gestohlen wurde oder dir einfach entglitt. Sei überzeugt, es ist so, wie ich hier schreibe: Manche Zeit wird uns entrissen, manche heimlich entwendet, manche Zeit verrinnt ungenutzt. Am schändlichsten ist dennoch jener Verlust, der durch Nachlässigkeit entsteht. Und, achte bitte darauf: Der größte Teil des Lebens entgleitet uns, wenn wir schlecht handeln, ein Großteil, wenn wir nichts tun, jedoch das ganze Leben, wenn wir uns mit belanglosen Sachen beschäftigen. Wen gibt es denn schon, der der Zeit irgendeinen Wert zumisst? Der den Tag zu schätzen weiß? Der versteht, dass er jeden Tag stirbt? Darin irren wir uns, dass wir meinen, der Tod liege vor uns. Jeder Tag, der hinter uns liegt, gehört dem Tod. Tu also, mein Lucilius, was du schreibst, dass du es tust: Umarme jede Stunde. Als Resultat wirst du verbuchen, dass du weniger vom Morgen abhängig bist, wenn du vom heutigen Tag Besitz ergreifst. Denn alles, mein Lucilius, ist fremdes Eigentum: Einzig und allein die Zeit gehört uns selbst […] (Ep. 1,1–3).
Im Protreptikos der Briefe an Lucilius ist das Time Management als moralischer Imperativ formuliert, nach welchem der Schüler in der Philosophie sein tägliches Leben gestalten muss: Er muss ein „Haushaltsbuch der Zeit“ führen. Er muss täglich eintragen, wieviel Zeit er für welche Zwecke verwendet hat. Er soll die Zeitverluste peinlich vermerken. Denn es ist anzunehmen, dass bereits viel Zeitverlust aufgetreten ist sowie dass es noch häufig zu Zeitverlust kommen wird. Der erste Schritt zur Besserung ist jedoch die Bewusstmachung: Der Philosoph in spe muss sich des Zeitverlustes in vollem Umfang bewusst werden: Du magst mich fragen, was ich denn tue, der ich dir solches vorschreibe. Ich bekenne freimütig: Ich mach es so, wie es einem luxuriösen, jedoch sorgfältigen Familienvater ergeht: Mein Haushaltsbuch stimmt. Ich kann nicht behaupten, dass ich nichts verliere, aber ich kann angeben, was ich verliere und für welchen Zweck und auf welche Weise. Ich kann die Gründe meiner Armut benennen (Ep. 1,4; Kursivierung vom Verf. ).
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Conversino konstruiert seine Autobiographie nach der Methode von Senecas Time Management der Briefe an Lucilius. Er zeichnet in seinem Haushaltsbuch des Lebens sorgfältig auf, für welche Zwecke und auf welche Weise er Zeitverlust („iactura temporis“) erlitten hat. Er ist zur Abfassungszeit des Rationarium vite bereits ein älterer Mann, muss also von daher ähnlich sorgfältig mit der Zeit umgehen wie Seneca. Außerdem tritt in seinem Fall erschwerend hinzu, dass er unlängst das zeitraubende Amt des Paduaner Hofkanzlers übernommen hat. Er musste also befürchten, dass er nunmehr dem Zeitverlust in besonderem Maß ausgesetzt sein werde. Jedoch verbietet die prekäre Lage, in der er sich befindet, nicht, dass er als didaktisches Beispiel fungieren könne. Im Gegenteil: Gerade aufgrund seiner misslichen Lage kann er die jüngeren Leser überzeugen, dass sie mit dem Zeitsparen unverzüglich anfangen müssen: „Senex igitur proponar exemplum minus integris, ne desperent; proponar bonis, ne annos iuvente labi perdite sinant“ (c. I, 11). „Denn das Leben ist kurz; wir jedoch machen es noch kürzer, indem wir einen Großteil desselben freiwillig wegwerfen. Wie unglücklich bin ich, der ich es schon fast zur Gänze verloren habe“.70 Am Schluss des Werkes formuliert Conversino einen moralistischen Imperativ. Er werde „Zeitverlust fortan mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften vermeiden“ („temporis iacturam summopere devito“, c. LVI, 4). Deshalb zieht er sich „gerne und aus freien Stücken zurück“ (c. LVI, 5). In Bezug auf den Inhalt der zurückgezogenen Lebensweise unterscheidet sich Conversinos Rationarium vite allerdings klar von Senecas Briefen. Senecas Haushaltsbuch ist auf die Philosophie, Conversinos auf Petrarcas vita solitaria hin ausgerichtet.
9. Epilog. Der Zusammenprall von Wunschrede und Wirklichkeit Conversino hat in seinem Rationarium vite sicherlich eine außerordentliche Menge an Lebensfakten festgelegt. Insofern ist es nicht falsch, dem Werk mit Nason einen „particolare realismo“ zuzuschreiben.71 Jedoch stellt das Rationarium vite ein äußerst komplexes Gebilde dar, das – wie gezeigt wurde – gleich mehreren Diskursformationen verpflichtet ist,
70 71
Rationarium vite I, 11. Nason, „Introduzione“, 12.
Zusammenprall von Wunschrede und Wirklichkeit
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und zwar mit tiefgreifenden Folgen. Diese anspruchsvolle, kunstvoll konstruierte mediale Verfasstheit verbietet, das Werk als naive Wirklichkeitsrede aufzufassen. Dass das Werk teilweise dem Medium der Beichte verbunden ist, bietet – anders als Price Zimmermann annimmt – keinen Garanten dafür, dass Conversino, indem er in aller Wahrheit „zuverlässig“ und völlig „aufrichtig“ seine Lebensfakten „vollständig“ vermittelt, „sein wahres Ich entdeckt“.72 Es handelt sich hier keineswegs um eine einfache Beichte im christlich-religiösen Sinn. Weder ihre Fokussierung noch ihre Thematik noch ihre weitere mediale Einbindung erlauben eine solche Interpretation. Ihre normative Richtschnur ist nicht die herkömmliche christliche Ethik, sondern Petrarcas humanistisches VitaSolitaria-Ideal. Medial ist sie Augustins Bekenntnisdiskurs und Senecas tagebuchähnlichem, philosophischem Buchhaltungsdiskurs untergeordnet. Beide Diskurszuordnungen zeichnen sich wiederum durch auffällige Diskursumbrüche aus: Augustins Bekenntnisdiskurs überträgt Conversino aus dem christlich-religiösen Bereich auf das Gebiet des von Petrarca inspirierten, historischen Humanismus, Senecas Buchhaltungsdiskurs der Aufzeichnung des Zeitverlustes von der Philosophie ebenfalls auf Petrarcas dem Vita-Solitaria-Ideal verpflichteten Humanismus. Diese Diskurseinschreibungen bringen mit sich, dass es zu einem ständigen, zum Teil sehr harten Zusammenprall mit Conversinos Lebenswirklichkeit kommt. Es ist Conversino nur höchst selten gelungen, Petrarcas Vita-Solitaria-Ideal in die Tat umzusetzen. Das merkwürdigste ist, dass das Vita-Solitaria-Ideal gerade zum Zeitpunkt der Abfassung der Autobiographie in weite Ferne gerückt ist. Conversino ‚bekennt‘ seinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben in die hehre, heilige, humanistische vita solitaria, während er doch vor kurzem das Kanzleramt in Padua angetreten hat. Dieses Amt lässt ihm nur wenig Zeit für die studia humanitatis und bedeutet als solches das gerade Gegenteil des Rückzugs. Insofern stellt das Rationarium vite eine krasse Verleugnung der Wirklichkeit dar. Der behauptete Rückzug („Libens ultroque secedo“, c. LVI, 5) ist keine Wirklichkeitsrede, sondern eine utopische Wunschrede. Er bildet auch keine folgerichtige, aus wahrhaftiger Selbstanalyse eruierte „Entwicklung“ von Conversinos „Ich“ oder Persönlichkeit, sondern ein idealistisches Konstrukt, das mit seiner Lebenswirklichkeit auf Kriegsfuss steht. Dieses idealistische Konstrukt wird mit der Vorhersehung des Au72
Price Zimmermann, „Bekenntnis und Autobiographie in der frühen Renaissance“, 364 und 346.
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gustinischen Gottesbegriffs beglaubigt, welcher allerdings seinerseits auf Petrarcas Humanismus übertragen wird. Im Rationarium vite operiert ein humanistischer Rettergott, der seinen Schützling durch die Wirren des Lebens zu den studia humanitatis hinführt. Wie Vieles im Rationarium vite ist auch der humanistische Rettergott der autobiographischen Wunschrede zuzuordnen. Conversino führt seinen autobiographischen Anspruch, dass „man niemanden besser kenne als sich selbst“, im Rationarium vite – wie die Analysen zeigen – geradezu ad absurdum. Der Weg des Ich, den er in dem Werk festlegt, hat in Wirklichkeit nie stattgefunden, sondern ist ein reines Konstrukt des Wunschdenkens. Conversino war nicht der Petrarkische solitarius, welcher er gerne sein möchte. Conversinos Rationarium vite ist ein komplexes, fesselndes Konstrukt und gerade durch den Zusammenprall mit der Wirklichkeit, der hier auftritt, eine wahre autobiographische Tour de force. Zugleich verbietet seine spezifische, komplizierte Verfasstheit, es als gattungskonstituierenden Text ‚der modernen Autobiographie‘ zu betrachten. Es ist weder der Gründertext einer einheitlichen Literaturgattung noch ist es – wie im Folgenden gezeigt werden wird – je zur Herausbildung dieser einheitlichen Gattung ‚humanistische Autobiographie‘ gekommen.
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VII. Der Ursprung des Renaissance-Übermenschen (uomo universale): die „Autobiographie“ des Leon Battista Alberti (1438) 1. Einleitung. Das Konzept des uomo universale Wenn nun dieser Antrieb zur höchsten Ausbildung der Persönlichkeit zusammentraf mit einer wirklich mächtigen und dabei vielseitigen Natur, welcher sich zugleich aller Elemente der damaligen Bildung bemeisterte, dann entstand der „allseitige Mensch“, uomo universale, welcher ausschließlich Italien angehört. Menschen von enzyklopädischem Wissen gab es durch das ganze Mittelalter in verschiedenen Ländern, weil dieses Wissen nahe beisammen war; ebenso kommen noch bis ins zwölfte Jahrhundert allseitige Künstler vor, weil die Probleme der Architektur relativ einfach und gleichartig waren und in Skulptur und Malerei die darzustellende Sache über die Form vorherrschte. In dem Italien der Renaissance dagegen treffen wir einzelne Künstler, welche in allen Gebieten zugleich lauter Neues und in seiner Art Vollendetes schaffen und dabei noch als Menschen den größten Eindruck machen. Andere sind allseitig, außerhalb der ausübenden Kunst, ebenfalls in einem ungeheuer weiten Kreis des Geistigen (Hervorhebungen K. E.).
Auf diese Weise bestimmt Jacob Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien den „neuen Menschentypus“ der italienischen Renaissance.1 Der „allseitige Mensch“, der uomo universale, ist für ihn überhaupt der Inbegriff des Menschen, „die Vollendung der Persönlichkeit“, wie der Titel des zweiten Kapitels der Kultur der Renaissance in Italien lautet. Das frühneuzeitliche Genie sei zu innovativen Leistungen auf allen Gebieten imstande, nicht nur des Geistes, sondern auch des Körpers, nicht nur der Literatur und der Wissenschaften, sondern auch der Bildenden Künste, Musik, Politik, Sport usw. Darüber hinaus eignet dem uomo universale ein alles überstrahlendes Charisma, das die Allmacht und den Sieg des Individuums versinnbildlicht.
1
Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 128–129.
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
Der Begriff des uomo universale hat ein ähnliches Nachleben erfahren wie mehrere andere Konzepte der Burckhardtschen Theorie der Renaissance: viel Faszination und Akzeptanz, Kritik nur nebenher und stets auffallend halbherzig,2 wobei die von Burckhardt geprägten Konzepte dennoch ständig mitgeschleppt wurden. So ist auch der Begriff des uomo universale ein (meist unreflektierter) Bestandteil des Redens über die Renaissance geworden, der sich in allgemeinen Renaissancebetrachtungen, Kunstmonographien, und besonders im kollektiven Gedächtnis hartnäckig festgesetzt hat, in welchem Renaissance und uomo universale, geistiger Erneuerungsdrang und Michelangelos mit Muskelpaketen bepackte Gestalten an der Decke der Sixtinischen Kapelle auf kuriose Weise, aber umso unauflöslicher miteinander verbunden werden. Die Verbindung von hoher Komplexität und hohem Einbürgerungsgrad macht, dass der Begriff des uomo universale analytischen Betrachtungen zu widerstreben scheint, wobei sich die Akzeptanz des Traditionssanktionierten und das Bewusstsein, dass sich hier Dichtung und Wahrheit auf angenehm überzeugende Weise vermischen, wechselseitig verstärken. Das vorliegende Kapitel soll übrigens nicht auf eine grundsätzliche Kritik der Burckhardtschen Kulturtheorie der Renaissance fokussieren, sondern einem Text gewidmet sein, der von Burckhardt als Hauptquelle seiner Konzeption des uomo universale verwendet wurde. Der „Quelle“ kommt gerade in diesem Fall ein seltsam überzogenes Gewicht zu, da Burckhardts diesbezügliches Kapitel – „Die Vollendung der Persönlichkeit“ – sowohl durch einen äußerst geringen Ausarbeitungsgrad und apodiktische Kürze als auch durch die Tatsache auffällt, dass es sich fast zur Hälfte aus einer paraphrasierenden Wiedergabe einer lateinischen (Auto)Biographie des Leon Battista Alberti zusammensetzt. Es ergibt sich hier der merkwürdige Tatbestand, dass ein komplexer Begriff der Forschungsinterpretation und eine Quelle gewissermaßen identisch zu sein scheinen, dass eine einzige ‚Quelle‘ eine diskursstiftende Bedeutung erhält: Über diese Vielseitigen aber ragen einige wahrhaft allseitige hoch empor. Ehe wir die damaligen Lebens- und Bildungsinteressen einzeln betrachten, mag hier, an der Schwelle des 15. Jahrhunderts, das Bild eines jener Gewaltmenschen seine Stelle einnehmen: Leon Battista Alberti. Seine Biographie – nur ein Fragment –
2
Vgl. H. Baron, „The Limits of the Notion of ‚Renaissance Individualism‘: Burckhardt after a Century (1960)“ (neue Version von 1973, publiziert 1988), in: Ders., In Search of Florentine Civic Humanism. Essays on the Tradition from Medieval to Modern Thought, Princeton U. P. 1988, Bd. II, 155–181; L. Gossman, Basel in the Age of Burckhardt. A Study in Unseasonable Ideas, Chicago U. P. 2000, 282ff.
Das Konzept des uomo universale
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spricht von ihm als Künstler nur wenig und erwähnt seine hohe Bedeutung auf dem Gebiet der Architektur gar nicht; es wird sich nun zeigen, was er auch ohne diesen speziellen Ruhm gewesen ist. In allem, was Lob bringt, war Leon Battista von Kindheit an der erste. Von seinen allseitigen Leibesübungen und Turnkünsten wird Unglaubliches berichtet, wie er mit geschlossenen Füssen den Leuten über die Schultern hinwegsprang, wie er im Dom ein Geldstück emporwarf, bis man es oben an den fernen Gewölben anklingen hörte, wie die wildesten Pferde unter ihm schauderten und zitterten – denn in drei Dingen wollte er den Menschen untadelhaft erscheinen: im Gehen, im Reiten und im Reden. Die Musik lernte er ohne Meister, und doch wurden seine Kompositionen von Leuten des Faches bewundert. Unter dem Drucke der Dürftigkeit studierte er beide Rechte, viele Jahre hindurch, bis zu schwerer Krankheit durch Erschöpfung; und als er im 24. Jahre sein Wortgedächtnis geschwächt, seinen Sachensinn aber unversehrt fand, legte er sich auf Physik und Mathematik und lernte daneben alle Fertigkeiten der Welt, indem er Künstler, Gelehrte und Handwerker jeder Art bis auf die Schuster um ihre Geheimnisse und Erfahrungen befragte. Das Malen und Modellieren – namentlich äußerst kenntlicher Bildnisse, auch aus dem bloßen Gedächtnis – ging nebenein. Besondere Bewunderung erregte der geheimnisvolle Guckkasten, in welchem er bald die Gestirne und den nächtlichen Mondaufgang über Felsengebirgen erscheinen ließ, bald weite Landschaften mit Bergen und Meeresbuchten bis in duftige Fernen hinein, mit heranfahrenden Flotten, im Sonnenglanz wie im Wolkenschatten. Aber auch, was andere schufen, erkannte er freudig an und hielt überhaupt jede menschliche Hervorbringung, die irgend dem Gesetze der Schönheit folgte, beinah für etwas Göttliches. Dazu kam die schriftstellerische Tätigkeit zunächst über die Kunst selber, Marksteine und Hauptzeugnisse für die Renaissance der Form, zumal der Architektur. Dann lateinische Prosadichtungen, Novellen und dergleichen, von welchen man einzelnes für antik gehalten hat, auch scherzhafte Tischreden, Elegien und Eklogen; ferner ein italienisches Werk „vom Hauswesen“ in vier Büchern, ja eine Leichenrede auf seinen Hund. Seine ernsten und seine witzigen Worte waren bedeutend genug, um gesammelt zu werden. Proben davon, viele Kolumnen lang, werden in der genannten Lebensschilderung mitgeteilt. Und alles, was er hatte und wußte, teilte er, wie wahrhaft reiche Naturen immer tun, ohne den geringsten Rückhalt mit und schenkte seine größten Erfindungen umsonst weg. Endlich aber wird auch die tiefste Quelle seines Wesens namhaft gemacht: ein fast nervös zu nennendes, höchst sympathisches Mitleben an und in allen Dingen. Beim Anblick prächtiger Bäume und Erntefelder mußte er weinen; schöne, würdevolle Greise verehrte er als eine „Wonne der Natur“ und konnte sie nicht genug betrachten; auch Tiere von vollkommener Bildung genossen sein Wohlwollen, weil sie von der Natur besonders begnadigt seien; mehr als einmal, wenn er krank war, hat ihn der Anblick einer schönen Gegend gesund gemacht. Kein Wunder, wenn die, welche ihm in so rätselhaft innigem Verkehr mit der Außenwelt kennen lernten, ihm auch die Gabe der Vorahnung zuschrieben. Eine blutige Krisis des Hauses Este, das Schicksal von Florenz und das der Päpste auf eine Reihe von Jahren hinaus soll er richtig geweissagt haben, wie ihm denn auch der Blick ins Innere des Menschen, die Physiognomik, jeden Moment zu Gebote stand. Es versteht sich von selbst, dass eine höchst intensive Willenskraft diese
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
ganze Persönlichkeit durchdrang und zusammenhielt; wie die Größten der Renaissance sagte auch er: „Die Menschen können von sich aus alles, sobald sie nur wollen“.3
Der komplexe Kulturmythos des uomo universale bildet eine reizvolle Herausforderung, seine ‚Quelle‘, die lateinische (Auto)Biographie des Leon Battista Alberti, einer diskursanalytischen Betrachtung zu unterziehen, zu orten, welchen Diskursen der Text zuzuordnen ist, nach welchen Diskursregeln er angelegt ist und dingfest zu machen, nach welchen literarischen Modellen er gestaltet wurde.4 Der Text erweckt umso mehr Aufmerksamkeit, als er besonders nach neueren Ansichten (Watkins; Fubini – Menci Gallorini; Garin; Grafton; Ross und McLaughlin) eine Autobiographie darstellen soll.5 Ross und McLaughlin verliehen der englischen Übersetzung der Alberti-Biographie den eindrucksvollen Titel „Self-Portrait of a Universal Man“; Fubini und Menci Gallorini nannten in ihrer Ausgabe des lateinischen Textes das Werk „L’autobiografia di Leon Battista Alberti“. Watkins betitelte ihre neue englische Übersetzung mit „The Life of Leon Battista Alberti by himself “. Nach Garin (1993) ist Albertis Autorschaft über jeden Zweifel erhaben.6 3 4
5
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Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 130–132. Für eine neue Betrachtungsweise der Alberti-Vita vgl. K. A. E. Enenkel, „Proiskhozhdenije renessansnogo ideala ‚uomo universale‘. Avtobiografija Leona Battista Alberti“ („The origin of the Renaissance Ideal of the Uomo Universale: the ‚Autobiography‘ of Leon Battista Alberti“), in: L. M. Bragina, W. M. Volodarsky (Hrsg.), Chelovek v kulture Vozrozhdenija (Renaissance Man), Moskau 2001, 79–86. In diesem in Russischer Sprache erschienen Aufsatz habe ich einige Grundlinien der in diesem Kapitel dargebotenen Thesen bereits vorformuliert, jedoch nicht im Rahmen einer diskursanalytischen Betrachtungsweise, wie sie im Untenstehenden angewendet wird. R. Fubini, A. Menci Gallorini, „L’autobiografia di Leon Battista Alberti. Studio e edizione“, in: Rinascimento s.s. 12 (1972), 21–78; E. Garin, „Leon Battista Alberti e l’autobiografia“, in: G. Piaia (Hrsg.), Concordia discors. Studi sul Niccolò Cusano e l’umanesimo europeo offerti a Giovanni Santinello (Medioevo e umanesimo 84), Padua 1993, 361–376; R. N. Watkins, „Leon Battista Alberti in the Mirror: An Interpretation of the Vita with a New Translation“, in: Italian Quarterly 30, Nr. 117 (1989), 5–30; Dies., „The Autorship of the Vita Anonyma of Leon Battista Alberti“, in: Studies in the Renaissance 4 (1957), 101–112; A. Grafton, Leon Battista Alberti. Master Builder of the Italian Renaissance, New York 2000, 17–29. Nur Grafton, der in seinem inhaltsreichen und schönen Alberti-Buch die Biographie ebenfalls als Autobiographie betrachtet, ist etwas zurückhaltender: „he almost certainly wrote the Anonymous Life“ (Grafton, Leon Battista Alberti, 18).
Das Konzept des uomo universale
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Mit der Zuschreibung an Alberti bzw. der Auffassung des Werkes als Autobiographie hängt zusammen, dass man dem Text einen erheblich höheren Authentizitätsgrad und damit einen größeren Wert als ‚Quelle‘ für Alberti zumisst – wobei es verständlich ist, dass die Alberti-Forschung über möglichst authentische Alberti-Quellen verfügen möchte. Die Auffassung, dass Autobiographien einen höheren Authentizitätsgrad als nicht-autobiographische Texte besitzen, geht auf die hermeneutische Autobiographie-Interpretation Wilhelm Diltheys zurück,7 die von dem Gedanken ausgeht, dass nur das autobiographische Schreiben das philosophische und historische Kernproblem der Kluft zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden vermag. Die theoretischen Grundlagen der hermeneutischen Hochschätzung der Autobiographie, die sich über Georg Misch8, Gusdorf 9, Wuthenow10 und andere bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzt,11 sind m. E. unhaltbar. Sie beruhen auf der angenehmen Täuschung, dass das, was ein Autor über sich selbst aussagt, einen größeren Wahrheitsgehalt besitze als die Aussagen anderer. Diese Annahme geht jedoch an allem, was sonst Textverständnis ausmacht, vorbei.12 M. E. besitzen autobiographische Texte prinzipiell keinen anderen Authentizitätsgrad als biographische. Zum Beispiel sind für ihre Konstruktion diskursive Verankerungen, publikumsorientierte rhetorische Vorgaben und historische Einbettungen und Anbindungen genauso entscheidend wie für die biographischer Texte. Vor der analytischen Betrachtung des Textes soll eine kurze Erläuterung seines historischen Gegenstandes, Leon Battista Albertis Lebenslauf, geboten werden. 7
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W. Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität (Sitzungsberichte der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 13), Berlin 1896; Ders. „Das Erleben und die Selbstbiographie“, in: Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1981, 235–251 (vgl. auch Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie, 21–32). Misch, Geschichte der Autobiographie. G. Gusdorf, „De l’autobiographie initiatique à l’autobiographie genre littéraire“, in: Revue d’Histoire Littéraire de la France 75 (1975), 957–994; Ders., „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“, in: Niggl, Die Autobiographie, 121–147 (zuerst 1956 u. d. T. „Conditions et limites de l’autobiographie“, in: G. Reichenkron, E. Haase [Hrsg.], Formen der Selbstdarstellung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstportraits. Festgabe für Fritz Neubert, 107–123). R. R. Wuthenow, Das Erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 19–26. Vgl. Kap. I, „Einleitung. Zu Gegenstand und Methode“.
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
2. Ein Bastard sucht Akzeptanz: Albertis Lebenslauf Das Urbild des Renaissance-Übermenschen, der „Gewaltmensch“, wurde im Jahre 1404 in Genua in äußerst bedrängter Lage geboren. Die Familie Alberti, florentiner Patrizier, wurde, seitdem sie einige Jahre vorher (1400) aus Florenz verbannt worden war, in ihrer nackten Existenz bedroht.13 Die Alberti wurden für vogelfrei erklärt und gewissermaßen steckbrieflich gesucht: Die Stadt Florenz setzte für die Auslieferung eines jeden Alberti, tot oder lebendig, das ungeheuer hohe Kopfgeld von 1500 bis 3000 Fiorini aus. Ein Alberti zu sein bedeutete fast dasselbe wie ein Todesurteil: Während der Verbannung (1400–1428) fanden nicht weniger als 46 Mitglieder der Familie in verschiedenen italienischen Städten den Tod. Entehrt, verachtet, gehasst – die Verbannung und die prekäre Situation der Familie hinterließen tiefe Wunden in Leon Battistas Psyche und erfüllten ihn noch im Alter mit heftiger Frustration. Er wurde im Exil geboren – verlor sein Vaterland in der Wiege. Seine Mutter, Bianchina Fieschi di Carlo, war nicht einmal eine Florentinerin, sondern einfach eine Frau, die der Vater am Ort der Verbannung kennengelernt hatte. Sie war nicht nur keine Florentinerin, sondern zudem Witwe.14 Der Vater heiratete sie nicht. Leon Battista wuchs nicht nur in der bedrängten Lage der Verbannung, sondern zudem als Bastard auf. Zu allem Überfluss wurde er bald Halbwaise, indem er seine Mutter bereits 1406 verlor,15 also wohl nicht einmal über authentische Erinnerungen an sie verfügte. Der Vater brachte den Kindern, die er aus der Verbindung mit Bianchina hatte, nach Leon Battistas Angaben nicht viel Liebe und Aufmerksamkeit entgegen. 1408 gründete er eine neue Familie durch Heirat mit einer Florentinerin. Leon Battista musste sich nunmehr in doppelter Hinsicht als Ausgestoßener fühlen, aus seiner Vaterstadt und aus seiner Familie. Der Vater, ein Kaufmann, übersiedelte mit seiner neuen Familie nach Venedig, wohl aus wirtschaftlichen Gründen. Leon Battista schickte er zur Ausbildung nach Padua, in die Grammatikschule des berühmten humanistischen Pädagogen Gasparino da Barzizza (ca. 1415–1418). Dort wurde die Grundlage seiner humanistischen Ausbildung gelegt: Er erwarb dort eine hervorragende Beherrschung der lateinischen Sprache, sehr gründliche Kenntnisse der antiken Literatur und eine ausgezeichnete rhetorische Bildung. Zu seinen Mitschülern zählten Intellektuelle, die sich in der Folge zu führenden Humanisten mauserten, unter anderen Francesco Barbaro, Francesco Filelfo und Antonio Becca-
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Grundlegend dazu S. F. Baxendale, „Exile in Practice: The Alberti Family in and out of Florence, 1401–1428“, in: Renaissance Quarterly 44 (1991), 720–756; L. Boschetto, „I libri della Famiglia e la crisi delle compagnie degli Alberti negli anni trenta del Quattrocento“, in: F. Furlan (Hrsg.), Leon Battista Alberti, Bd. 1, 87–131; Ders., Leon Battista Alberti e Firenze. Biografia, storia, letteratura (Ingenium 2), Florenz 2000; Th. Kuehn, „Reading between the Patrilines – Leon Battista Alberti’s Della Famiglia in the Light of his Illegitimacy“, in: I Tatti Studies I (Florenz 1985), 161–188. Vgl. C. Ceschi, „La madre di Leon Battista Alberti“, in: Bolletino d’arte 33 (1948), 191–192. Ebd.
Albertis Lebenslauf
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delli. Der Grammatikunterricht war eine notwendige Voraussetzung für die Karriere, die der Vater vorausgeplant hatte. Wie Petrarca sollte Leon Battista Jura studieren, ebenfalls an der für seine Juristenfakultät berühmten Universität von Bologna. Als der Vater 1421 verstarb, verschlimmerte sich Leon Battistas Lage weiter: Der Student wurde seines Erbes, 1000 Golddukaten, beraubt. Es war nunmehr notwendig, das Jura-Studium so schnell wie möglich abzuschließen, um eine Einkommensquelle zu erlangen. Dem allzu großen Erfolgsdruck war der „Gewaltmensch“ nicht gewachsen, vom intensiven Studieren abgespannt erkrankte er. Auch in der Folge wurde Leon Battistas Studium von Krankheiten und Schwächeanfällen unterbrochen. 1424 stellte sich zu allem Überfluss eine profunde Gedächtnisschwäche ein, Leon Battista konnte sich die Gesetzestexte nicht mehr merken.16 Anstatt sein Studium zu beschleunigen, musste er es unterbrechen. Erst nach erneuten, mühevollen Anläufen brachte er es, wohlgemerkt vier Jahre später, zum Abschluss (1428). Leon Battista Alberti war zu diesem Zeitpunkt ein frustrierter und verbitterter Mann. Er besaß kein Vermögen, keine Familie, kein soziales Ansehen. Umso größer war seine Frustration, als es ihm zunächst nicht gelang, mit seinem so mühevoll errungenen akademischen Titel eine Stellung zu erringen. Er betrachtete sich als verarmten Adeligen, der durch die Machenschaften übler Leute alles, was ihm eigentlich zukam, verloren hatte und der, obwohl er bereit war, gegen die Grundsätze des Adels einen Brotberuf auszuüben, auch hierin behindert wurde. Seine Frustration schrieb er sich in dem Traktat Von den Vor- und Nachteilen der geistigen Ausbildung, De commodis litterarum atque incommodis, von der Seele.17 Erst einige Jahre später, 1431 oder 1432, gelang es ihm, bei Biagio Molin, dem Patriarchen von Grado, eine Stelle zu finden. Molin vermittelt ihm in der Folge eine Stelle an der päpstlichen Kurie, als Abbreviator. Obwohl diese nicht das hohe gesellschaftliche Ansehen brachte, von dem Leon Battista meinte, dass es ihm zukomme (es gab insgesamt 102 Abbreviatoren [Redakteure]), brachte ihm seine Ausbildung nun endlich Vorteile. Noch im selben Jahr ernannte ihn Papst Eugen IV. zum Prior der Abtei S. Martino a Gangalandi in der Diözese Florenz.18 Während das gekränkte Selbstwertgefühl des Ausgestoßenen, Entehrten und Verbannten noch keineswegs kuriert war, boten ihm die beiden Ämter neben bescheidenem Wohlstand auch eine gewisse Freiheit, sich wissenschaftlich und schriftstellerisch zu betätigen. Alberti hatte die Abbreviatoren-Stelle fast sein ganzes weiteres Leben inne (1432–1464). Er diente unter den Päpsten Eugen IV. (1431–1447), Nikolaus V. (1447–1455), Calixtus III. (1455–1458) und Pius II. (1458–1464). Erst unter Paul II., der das Abbreviatoren-Amt aufhob, verlor er jene Einkommensquelle. Zu diesem Zeitpunkt hatte er allerdings bereits so großen Wohlstand erworben, dass er als Privatgelehrter aus eigenen Mitteln leben konnte. Den Großteil seiner Werke (in lateinischer und italienischer Sprache) verfaßte er in Rom, in der Freizeit, die ihm das Abbreviatoren-Amt übrig ließ.
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„Autobiographie“ (ed. Fubini, Menci Gallorini), 69–70. Es handelt sich, wie unten gezeigt werden wird, nicht um eine Autobiographie, sondern eine Biographie. Da der Text aber nach der Ausgabe Fubinis, Menci Gallorinis zitiert wird, die den Text auch im Titel als Autobiographie bezeichnen, wird er im Folgenden abgekürzt als „Autobiographie“ wiedergegeben. Ed. L. Goggi Carotti, Florenz 1976. Vgl. C. Grayson, Art. „Alberti, Leon Battista“, in: DBI 1 (1960), 702–709.
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
Die Tatsache, dass sich Alberti hauptsächlich in Rom aufhielt, trug wesentlich dazu bei, dass er sich einen gewissen Bekanntheitsgrad erringen konnte. Besonders wichtig war, dass er sich mit den antiken Monumenten intensiver als die meisten seiner Zeitgenossen auseinandersetzte, sie abzeichnete und Vermessungen durchführte. Er wollte dem Geheimnis der Architektur und Kunst der Antike auf mathematischem Weg auf die Spur kommen. Er legte seine Beobachtungen zunächst in der Beschreibung der Stadt Rom, Descriptio urbis Rome, fest.19 Bereits damals kam ihm der Gedanke, dass die Kunst der Gegenwart nur durch eine tiefgründige Nachahmung der antiken archäologischen Überreste erneuert werden könne. Als eines der vorrangigsten Probleme erschien ihm, dass die Maler, Bildhauer und Architekten der Gegenwart nicht oder nur mangelhaft über die Kunst der Antike unterrichtet waren. Diesem Mangel wollte er abhelfen, indem er die einschlägige Information in Kunsttraktaten darbot, in denen er die drei Hauptgebiete der bildenden Kunst erfasste: Zuerst entstand der Traktat über die Malerei, De pictura (1435), kurz darauf die Abhandlung über die Bildhauerei, De statua, und geraume Zeit später der Traktat über die Architektur, De re aedificatoria (vor 1450). Alberti entwickelte sich zu einem Experten in Sachen antiker Kunst. Gerne war er bereit, in Rom als Führer aufzutreten. U. a. hat er Papst Pius II. und dem florentiner Patrizier Bernardo Rucellai, der dadurch zu einem Traktat über die Stadt Rom, De urbe Roma, inspiriert wurde,20 die antiken Ruinen Roms gezeigt. Albertis Bedeutung für die Kunstgeschichte beruht hauptsächlich auf seiner Tätigkeit als Kunstschriftsteller. Burckhardt suggeriert, entsprechend seiner Konzeption des „allseitigen Menschen“, dass Alberti auch als Künstler, als Maler und Bildhauer, Bedeutendes geleistet hat. Dies war jedoch kaum der Fall. Nicht einmal Alberti selbst hat sich als Maler oder Bildhauer verstanden. Was er auf diesem Gebiet geleistet hat, beschränkt sich zum größten Teil auf Ideen, Skizzen, Zeichnungen, die zumeist von anderen Künstlern ausgeführt wurden.21 Diese Funktion als Ideenlieferant ist keines-
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Vgl. L. Vagnetti, G. Orlandi, „La Descriptio Urbis Romae di Leon Battista Alberti“, in: Quaderni dell’ Istituto di Elementi di Architettura e Rilievo dei Monumenti di Genoa 1 (1968), 25–60; P. W. Lehmann, „Alberti and Antiquity. Additional Observations“, in: Art Bulletin 70 (1988), 388–400; Ch. Burroughs, „Alberti e Roma“, in: J. Rykwert, A. Engel (Hrsg.), Leon Battista Alberti, Ivrea-Mailand 1994, 134–157. Vgl. Bernardo Rucellai, De urbe Roma, in: R. Valentini, G. Zucchetti (Hrsg.), Codice topografico della Città di Roma, Rom 1953, IV, 440ff. Es hat viele unwahrscheinliche, unbewiesene und unbeweisbare Zuschreibungen gegeben. Eine Diskussion derselben kann hier schon aus Platzgründen nicht erfolgen. Wohltuende Zurückhaltung in Zuschreibungsfragen üben Rykwert – Engel (Hrsg.), Leon Battista Alberti (1994), mit weiterführender Literatur; dort besonders Sysons Studie „Alberti e la ritrattistica“ (64–69). Im Katalogteil vgl. bsd. 437, Nr. 29 (zu dem sogenannten Selbstporträt, eine Zeichnung in der Handschrift Rom, Biblioteca Nazionale Centrale ‚Vittorio Emmanuele‘, cod. V. E. 738, f. II) und 474 (zu den Alberti zugeschriebenen Porträtmedaillons). K. Badt, „Drei plastische Arbeiten von Leone Battista Alberti“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 8 (1957–1959), 78–87, schrieb Alberti zwei Porträtmedaillons („Selbstporträts“) und eine Berliner Porträtbüste („Ludovico III. Gonzaga“) zu, indem er auf die „dilettantenhafte“ Ausführung hinwies und diese mit Alber-
Albertis Lebenslauf
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wegs als berufsmäßige Tätigkeit aufzufassen. Alberti selbst betrachtete dies als Freundschaftsdienst, den er unentgeltlich leistete. Dies gilt auch für das Gebiet, auf dem Alberti auch heute noch große Leistungen zugeschrieben werden: die Architektur. Alberti hat niemals den Beruf eines Architekten ausgeübt.22 Deshalb ist seine Tätigkeit auch bei Bauvorhaben, von denen man weiß, dass er seine Hand im Spiel gehabt hat, so schwer nachzuweisen. Was er erstrebte, war die (risikolose) Funktion des Ratgebers, nicht die (verantwortungsvolle) des Bauleiters. Diese Haltung kommt in einem autobiographischen Abschnitt seines Architekturhandbuches klar zum Ausdruck: Seine Würde zu wahren, ist daher ein Zeichen des klugen Mannes; auf Verlangen einen guten Rat zu geben und eine einfache Zeichnung zu liefern, genügt. Hast du es aber einmal unternommen, einen Bau selbst zu leiten und zu Ende zu führen, so wirst du es kaum vermeiden können, dass alle Fehler und Irrtümer, welche durch Unerfahrenheit oder Nachlässigkeit anderer begangen worden sind, auf dich selbst zurückfallen. Man soll daher geschickten, umsichtigen und strengen Hilfskräften alles übertragen, welche mit Fleiß, Eifer und Beharrlichkeit für das Vorsorge treffen, was für das Unternehmen notwendig ist.23 Zum Ratgeber von Fürsten und Kommunen entwickelte sich Alberti erst langsam. Zur Zeit seines ersten Romaufenthalts (1432–1434) konnte davon noch nicht die Rede sein. 1434 begab sich Papst Eugen IV. aufgrund von Spannungen mit dem römischen Adel und der prekären Lage, in die ihn das Konzil von Basel gebracht hatte, ins sichere Florenz. Alberti, der ihm folgte, hielt sich dort 1434–1436 auf, wobei er den Aufschwung der bildenden Künste miterlebte und eine Reihe maßgeblicher Künstler, wie Brunelleschi und Donatello, und tonangebender Humanisten, wie Leonardo Bruni, Carlo Marsuppini und Gianozzo Manetti, kennenlernte. In Florenz verfaßte er seinen ersten Kunsttraktat, Über die Malerei, De pictura (1435).
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tis unausgebildeten künstlerischen Fähigkeiten assoziierte. Seine Argumentation ist sowohl reizvoll als fragwürdig, da natürlich auch Kunstwerke, die von Berufskünstlern angefertigt wurden, Unvollkommenheiten aufweisen können. Badt berücksichtigt außerdem nicht, dass sich die Kunst der Bronzemedaillons in den nämlichen Jahren in einem Anfangsstadium befand. Das in Paris aufbewahrte Medaillon mit dem Porträt Albertis (Louvre, Département des Objets d’Art OA 9151), das Badt mit Sicherheit Alberti zuschrieb, wird neuerdings nicht mehr als authentisch betrachtet. Radcliffe entdeckte Farbspuren (Weiß), welche sonst auf Bronzemedaillons, die im 15. Jahrhundert angefertigt wurden, nicht vorhanden sind. Radcliffe ist der Ansicht, dass das Medaillon von dem Pariser Liard im 19. Jahrhundert angefertigt wurde, der sich als besonders fruchtbarer Fälscher von Renaissance-Medaillons herausgestellt hat. Vgl. Rykwert – Engel (Hrsg.), Leon Battista Alberti, Katalogteil, 474, Nr. 1. Es ist daher auch verfehlt, von einem „Berufsethos“ des Architekten Alberti zu reden; vgl. F. Borsi, Leon Battista Alberti . Das Gesamtwerk, Stuttgart-Zürich 1982, 10. Über die Baukunst (De re edificatoria) IX, S. 520 (zitiert nach Alberti, Das Gesamtwerk, 10).
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
1436 reiste Alberti mit der päpstlichen Kurie nach Bologna, nachher nach Ferrara, wo im Jahre 1438 das ökumenische Konzil stattfand, dessen Ziel die Aufhebung des west-östlichen Schismas war. In den Jahren 1439–1443 hielt er sich, wie der Papst, wieder in Florenz auf. 1443 kehrte der Papst nach Rom zurück; seit dieser Zeit verblieb Alberti, abgesehen von einigen Unterbrechungen, in Rom, wo er 1472 starb. Aufgrund der Reisen, die er im Gefolge der päpstlichen Kurie unternahm, der zentralen Rolle, die der Papst in der Politik des 15. Jahrhunderts spielte und aufgrund seiner einnehmenden Persönlichkeit war Alberti imstande, ein weitverzweigtes Beziehungsnetz, namentlich zu Adeligen und Intellektuellen, zu errichten. Edelleute und Fürsten betrachtete er als seine „Freunde“, denen er gerne Ratschläge in Sachen Kunst und Architektur oder in sonstigen Angelegenheiten erteilte. Er beriet unter anderen die Fürsten von Mantua, den Herzog von Urbino (Federico da Montefeltro), die Medici, die Rucellai in Florenz und Sigismondo Malatesta, den Stadtherrn von Rimini. Durch seine Rolle als Ratgeber und Freund erreichte Alberti schließlich sein Ziel, in der Adelsgesellschaft mitzuzählen.
3. Eine Autobiographie? Diskursfriktionen Die „Autobiographie“ des Leon Battista Alberti stellt ein fesselndes Werk dar, das viele Fragen aufruft. Schon sein Autor ist fraglich: Handelt es sich überhaupt um eine Autobiographie? Keine der drei Handschriften, in denen der Text überliefert ist, nennt Alberti als Autor.24 Weshalb, und seit wann, gilt er als Autobiographie? Der Text wurde von seinem ersten Herausgeber, dem eminenten Kenner des florentiner Humanismus Lorenzo Mehus (1751), gemäß der handschriftlichen Überlieferung als Biographie betrachtet, deren Autor unbekannt ist.25 Die Biographie wurde zum ersten Mal um die Mitte des 19. Jahrhunderts, von Anicio Bonucci (1844), als Autobiographie bezeichnet.26 Als Grund für diese Annahme gab Bonucci an, dass das Werk intime und persönliche Details enthalte. Er ging davon aus, dass derartige Beobachtungen nicht von einem Biographen hätten gemacht werden können. Als Beispiele führte er die Mitteilung, dass Alberti gerne sang, jedoch nur auf dem Lande und im Kreise der Familie, dass er zwar kein 24
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Genua, Biblioteca Universitaria, cod. G.IV.29, f. 58r–67v (zusammen mit Porcaria coniuratio); Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, cod. II.IV.48, f. 222v–228v; Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, cod. Magl. VIII.1490. Für die Ausgabe von Mehus siehe: Leonis Baptistae Alberti Vita anonyma, in: Rerum Italicarum scriptores XXV (Mailand 1751), 295–303. Leon Battista Alberti, Opere volgari, ed. A. Bonucci, Florenz 1844–1849, I, S. LXXXIX–CXIX. Bonucci gab den lateinischen Text, vermehrt um einige Varianten, neu heraus und versah ihn mit einer italienischen Übersetzung.
Eine Autobiographie? Diskursfriktionen
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Musikstudium absolviert hatte, jedoch Berufsmusikern gute Ratschläge gab, oder die Berichte über Albertis Krankheiten für die Zeit seines Jura-Studiums in Bologna an.27 Janitschek widersprach Bonuccis Auffassung (1883).28 Er meinte, dass die intimen und persönlichen Details genauso von einem Bewunderer Albertis stammen können. Dieser interessante Einwand wurde jedoch von unfundierten Behauptungen übertüncht. Janitschek vertrat die Ansicht, dass Alberti nicht der Autor sein könne, weil die Darstellung in der dritten Person und im Perfekt dargeboten wird. Aus Formen wie „vixit “, „er lebte“, schloss Janitschek sogar, dass Alberti zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes nicht mehr am Leben gewesen sei. Schon ein kurzer Rundgang durch die neulateinische Autobiographik lehrt, dass diese Argumente nicht stichhaltig sind. Pius II. z. B. verwendet in seinen Commentarii sowohl die dritte Person als auch das Perfekt, während er natürlich am Leben war. Gerade der schwache Teil von Janitscheks Argumentation rief Reaktionen hervor, von Fueter und Watkins.29 Watkins widerlegte insbesondere Janitscheks Annahme, dass der Text nach Albertis Tod (1472) geschrieben worden sei, indem sie darauf hinwies, dass der Text keine Werke Albertis vermeldet, die nach dem Jahr 1437 entstanden sind.30 Daraus zieht sie den plausiblen Schluss, dass das Werk in der unmittelbaren Folgezeit des Jahres 1437 verfasst worden sei, jedoch auch die nicht nachvollziehbare Schlussfolgerung, dass es sich um eine Autobiographie handeln müsse.31 Weiter greift sie Bonuccis Argument vom privaten Charakter des Werkes wieder auf und verstärkt es durch die Behauptung, dass darin vor allem Innenleben und Gefühle zum Ausdruck gebracht würden.32 Fubini und Menci Gallorini, die eine neue und vertrauenswürdige kritische Ausgabe besorgten, schlossen sich Watkins Urteil an und bemühten sich, die „letzten Zweifel an der Zuschreibung aus
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Vgl. Watkins, „The Authorship“, 101. H. Janitschek, „Alberti-Studien“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 6 (1883), 38 ff. E. Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München 1911, 50–51; 105–106; Watkins, „The Authorship“, 103. Watkins, „The Authorship“, 103 ff. Watkins, „The Authorship“, 106: „This alone suggests that the work is an autobiography, for it mentions many works written before 1437, none – even very important ones – from the period 1437–72, a long period of fruitful activity which would have elapsed before the Vita could have been written as the posthumous tribute of a friend which it implicitly claims to be“. Ebd.
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
dem Weg zu räumen“.33 Garin stimmte den Auffassungen Watkins, Fubinis und Menci Gallorinis zu (1993), mit dem apodiktischen Statement, dass der Text „zweifellos eine Autobiographie ist“.34 Die Diskussion scheint somit abgeschlossen zu sein: Die Vita stellt eine Autobiographie Albertis dar. In den Diskussionen über Zuschreibung und Authentizität ist bisher ungeklärt geblieben, welche Art von Biographie/Autobiographie vorliegt, welchem Diskurs sie zugehört, nach welchen Regeln und nach welchen Modellen sie gestaltet wurde. Der Text hebt wie folgt an: In allen Gegenständen, die sich für einen freien und wohlgebildeten Mann ziemen, war er von seiner Kindheit an in der Weise unterrichtet worden, dass man ihn unter den hervorragendsten Jünglingen, die sich im selben Alter befanden, für einen den ersten hielt. Denn während er nach den Regeln der Kunst focht, ritt und Musikinstrumente spielte, widmete er sich ganz besonders der Literatur, den Wissenschaften und der Erkenntnis der seltsamsten und schwierigsten Gegenstände. Schließlich strebte er nach allem, was für den Erwerb von Lob und Ruhm zweckdienlich ist. Unter anderem – auf dass ich das übrige übergehe – gab er sich große Mühe, auch als Bildhauer und Maler berühmt zu werden. Bis zu diesem Grade also wollte er nichts unversucht gelassen haben, um von den Wohlgesinnten („Guten“) gelobt zu werden. Er besaß ein vielseitiges Talent, so vielseitig, dass man meinen könnte, es gebe keine Kunst, die er nicht beherrsche. Omnibus in rebus, quae ingenuum et libere educatum deceant, ita fuit a pueritia instructus, ut inter primarios aetatis suae adolescentes minime ultimus haberetur. Nam cum arma et equos et musica instrumenta arte et modo tractare, tum litteris et bonarum artium studiis rarissimarumque et difficillimarum rerum cognitioni fuit deditissimus; denique omnia quae ad laudem pertinerent, studio et meditatione amplexus est. Ut reliqua obmittam, fingendo atque pingendo nomen quoque adipisci elaboravit; adeo nihil a se fore praetermissum voluit, quo fieret !ut" a bonis approbaretur. Ingenio fuit versatili, quoad nullam ferme censeas artium bonarum fuisse non suam.35
Diese Einleitung spricht nicht dafür, dass es sich um eine Autobiographie handelt. Das Ethos, das Präsentationsbild des Verfassers, passt nicht zu dem eines Autobiographen. Ein Autobiograph darf sich nicht – 33 34
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Fubini, Menci Gallorini, „L’autobiografia di Leon Battista Alberti“, 33. E. Garin, „Leon Battista Alberti e l’autobiografia“, in: G. Paia (Hrsg.), Concordia discors. Studi su Niccolò Cusano e l’Umanesimo europeo offerti a G. Santinello, Padua 1993, 363. Garin liefert in dem Artikel einen allgemeinen Forschungsüberblick über die Alberti-Studien und -Werkausgaben; eine eingehende Betrachtung der Autobiographie/Biographie ist nicht sein Anliegen. „Autobiographie“, 68, Z. 1–10.
Eine Autobiographie? Diskursfriktionen
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wie in dem Text erfolgt – unverblümtes und hohes Lob spenden, noch dazu ohne jegliche Vorsichtsmassnahmen. Wenn es sich in der Tat um eine Autobiographie handeln würde, hätte der Autor auf unverschämte Weise die Diskursregeln der Autobiographie verletzt, insbesondere die Codes der Zurückhaltung, Bescheidenheit und selbstkritischen Haltung. Dem Autor müsste in diesem Fall mit den Diskursregeln des autobiographischen Schreibens nicht vertraut gewesen sein; weiter müsste ihm jegliches Gefühl für sozial akzeptables Auftreten gefehlt haben. Dass Leon Battista, der zu der Zeit, in der Text verfasst wurde, in den höchsten Kreisen verkehrte und als Redakteur der Römischen Kurie mit den Umgangsformen der Diplomatie vertraut war, ein solches Defizit an sozialer Intelligenz an den Tag gelegt haben soll, ist schwer nachvollziehbar. Diese Beobachtungen gelten a fortiori, da der Text das Lob, das dem Gegenstand der Biographie gespendet wird, universalisiert: In allen Gegenständen war der Biographisierte bewandert, so vielseitig war er, dass es keine Kunst oder Wissenschaft gab, die ihm nicht geläufig gewesen wäre. Die laudative Universalisierung ist ein Diskursmerkmal der (Lob)Biographie ebenso wie die Tatsache, dass der Text von Superlativen wimmelt36. Oben konnte gezeigt werden, dass diese Diskursmerkmale für den Fall, dass eine Biographie zu einer Autobiographie umgebildet wurde (wie Boccaccios Biographie zum Brief an die Nachwelt), gestrichen wurden. Mit Methode eliminierte und neutralisierte Petrarca Boccaccios Superlative und Lob-Universalisierungen. Insgesamt erinnert der Text über Alberti viel mehr an die Lobbiographie Boccaccios als an eine Autobiographie. Das Universalisierungsargument der Lobbiographie lässt den Verdacht aufkommen, dass uomo universale ein rhetorischer Lobtopos der Biographie sein könnte. Boccaccio hatte Petrarca ebenfalls als eine Art Universalgenie beschrieben: Und was soll ich von seinem Geist sagen? Es gibt nichts, das er nicht versteht, nichts, worüber er im Zweifel wäre; alles war ihm sonnenklar und deutlich […]. Was sein Gedächtnis betrifft, war er meines Erachtens eher göttlich als menschlich, denn er beweist, dass er von der Erschaffung der Welt an bis zum heutigen Tag die Taten aller Könige, Fürsten und Völker kennt und parat hat. Außerdem zeigen seine Taten, Worte und Schriften, dass er die Lehren der Philosophen sich eigen gemacht hat, einerlei ob es sich um Moralphilosophie, Physik oder Theologie handelt. 36
Z. B. „minime ultimus“ (Z. 2–3); „rarissimarum“, „difficillimarum“ (Z. 4–5); „deditissimus“ (Z. 5). Letztes ist bezeichnenderweise eine sinnlose Superlativbildung des lateinischen Wortes für „zugewandt“ (etwa: „am zugewandesten“).
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
Quid de ipsius ingenio referam? Nil ei ambiguum, nil obscurum, sed omnia illi patent clara, lucida et aperta. […] Memoria vero illum divinum potius quam humanum autumo reputandum. Nam ab ipsa prothoplasti creatione primaeva usque ad hodiernum quidquid et per quoscunque reges principes populos seu gentes et ubicunque actum sit, tamquam sibi presenti cognovisse ac memorasse demonstrat. Philosophorum vero doctrinas morales naturales atque theologicas ut sumpserit teneatque, lipsius gesta verba scripta iam pandunt.37
Es ist schon aus dem Bisherigen klar, dass die Diskursausrichtung des Textes als Lobbiographie es nicht nahe legt, dass es sich um eine Autobiographie handelt. Watkins, die den Text als Autobiographie auffasst, hat die merkwürdige Behauptung aufgestellt, dass Alberti der Erfinder des „genre of self-encomium“ gewesen sei.38 Dabei bleibt unklar, was ein „genre of self-encomium“ darstellen soll. Eine solche Gattung lässt sich jedenfalls nicht nachweisen, auch nicht im späteren Humanismus. Ebenfalls gegen eine Einordnung des Textes als Autobiographie weist folgende Beobachtung: Zu den Diskursregeln der Autobiographik gehört, dass der Autobiograph vermeidet, sich Eigenschaften zuzuschreiben, die seine Glaubwürdigkeit von vorneherein in Zweifel ziehen. Dazu zählt natürliche jede Form vorsätzlicher Täuschung. Wenn sich der Autobiograph als unehrliche oder hinterlistige Person konstituiert, wird der autobiographische Diskurs hinfällig. Vielmehr treten in Autobiographien in gehäufter Form Beglaubigungsmechanismen auf, Variationen immer derselben Beteuerung: Was ich sage, ist wahr! Albertis „Autobiographie“ gehorcht auch hier nicht den Diskursregeln der Autobiographik. Der Text schreibt dem Biographisierten nachdrücklich die Gabe des Täuschens zu: Alberti soll, indem er sich freundlich gab, die Freundschaft von fremden Gelehrten erschlichen haben, wobei es sein einziges Ziel gewesen sei, ihnen ihr Wissen zu entlocken.39 Überhaupt, berichtet die sogenannte Autobiographie, pflegte Alberti seine Mitmenschen hinters Licht zu führen; zum Beispiel stellte er sich dumm, um ihre Ansichten und Auffassungen zu ergründen.40 Der Alberti der „Autobiographie“ besaß nicht nur die Gabe des Täuschens und Betrügens, er war auch selbst äußerst argwöhnisch. Deshalb trug er eine Art Lügendetektor ständig auf der Brust. Es handelt sich um 37
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Leben und Gewohnheiten des Franciscus Petracchi von Florenz, ed. Massara, 242–243; ed. Solerti, 261–262. Watkins, „Alberti in the Mirror“, 20. „Autobiographie“, 72, Z. 13–14; ein Ausspruch wie „sese in illius familiaritatem insinuabat“ gehört nicht in eine Autobiographie. Ebd., Z. 18–20.
Eine Autobiographie? Diskursfriktionen
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einen Talisman, mit dessen Hilfe er die wahren Absichten seines Gegenübers erraten konnte. Auch dieser krankhafte Argwohn schadet dem Vertrauen und verträgt sich schlecht mit dem Ethos des Autobiographen. Somit kann so gut wie ausgeschlossen werden, dass der Text eine von Alberti publizierte oder autorisierte Autobiographie darstellt. Das stimmt mit der Tatsache überein, dass keine der erhaltenen Handschriften Alberti als Autor angibt. Was sind die diskursiven Implikationen der Tatsache, dass der Text im Modus der dritten Person verfasst ist? Die Tatsache als solche besagt natürlich nicht, dass der Text keine Autobiographie darstellen könne. Humanisten verwenden für Autobiographien auch die dritte Person, in zwei Textsorten: in Commentarii in der Nachfolge von Caesars Feldherrnberichten, in denen politische, militärische oder gesellschaftlich relevante Leistungen im Vordergrund stehen, und in kurzen Lebensläufen (Vitae; Curricula vitae), in welchen durch die Präsentationsform Faktizität und Objektivität suggeriert werden sollte, bzw. die so distanziert formuliert wurden, dass sie mit dem Darstellungsmodus der (Kurz)Biographie verschmelzen. Gehört die „Autobiographie“ Albertis zu diesen Textsorten? Bei einer näheren Betrachtung des Textes zeigt sich, dass dies nicht der Fall ist. Es handelt sich weder um einen Tatenbericht, ein Werk in der Tradition der Commentarii, noch um ein Curriculum vitae, in dem die Stationen des Lebenslaufes systematisch aufgelistet werden. Das Werk weist weder einen chronologischen Aufbau noch einen Bericht von Taten und Leistungen auf. Vielmehr ist es dem Charakter sowie den Aussprüchen der dargestellten Person gewidmet. Aus einer Analyse der Struktur geht diese Fokussierung klar hervor: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Allgemeines Charakterbild (68,1–69,4; 69,4–22) Jugendbildung (68,23–70,6) Schriften (70,7–28) Haltung gegenüber Kritikern (70,29–37) Gewohnheiten und Charakter Albertis (70,38–73,34) Berühmte Aussprüche Albertis (73,35–76,15) Gewohnheiten/Charakter Albertis (76,16–77,6) und abermals Berühmte Aussprüche Albertis (77,7–78,37).
Ein eigentlicher Lebenslauf wird nicht beschrieben. Wenn es sich also um eine Autobiographie handeln soll, so gab es für die Verwendung der dritten Person kein diskursives Vorbild. Wenn Alberti
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der Autor gewesen wäre, hätte er gewissermaßen im luftleeren Raum operiert. Er hätte mit Codes hantiert, die niemand versteht. Aber in der „Autobiographie“ Albertis finden sich noch weitere Ungereimtheiten, wenn es sich um eine Autobiographie handeln soll. Bereits im ersten Abschnitt begegnet man Folgendem: „Solitus fuerat dicere sese in litteris quoque illud animadvertisse […]“ – „Er pflegte zu sagen, dass er jenes auch beim Studium von Literatur und Wissenschaft erfahren habe […]“,41 wonach ein Ausspruch des Leon Battista Alberti wörtlich aufgeführt wird. Aus welchem Grund würde ein Autobiograph seine eigenen Aussprüche wörtlich zitieren wollen? Noch auffälliger ist, dass es nicht bei der Wiedergabe dieses einen Ausspruchs bleibt – es stellt sich heraus, dass die „Autobiographie“ zum Großteil eine Sammlung von Aussprüchen des Leon Battista Alberti darstellt. Insgesamt werden mehr als 70 (!) Aussprüche42 wiedergegeben, die in der Ausgabe von Fubini und Menci Gallorini mehr als vier Seiten, also fast die Hälfte des Textes [!], umfassen. Einige Beispiele: Als er [Alberti, Anm.] von einem gewissen Mann, der bei seinem Vortrag lange Zeit, um seine Gedächtnisfähigkeit unter Beweis zu stellen, eine ungeheure Menge von Fakten ohne irgendeine Ordnung vorgetragen hatte, gefragt wurde, wie er ihn denn als Diskussionspartner beurteile, sagte er, er komme ihm vor wie ein Sack voller zerrissener und auseinandergefallener Bücher (73,38–41) […]. Er pflegte zu sagen, dass derjenige hinreichend weise sei, der wirklich verstehe, was er wisse, dass derjenige genug könne, der wirklich beherrsche, was er könne, und dass derjenige genug besitze, der das, was er hat, wirklich besitze (74,32–34) […]. Als er einen heimtückischen Anwalt sah, der auf hässliche Weise schief daherging, wobei die eine Schulter nach oben zeigte, die andere herunterhing, sagte er: „Es wundert mich nicht, dass für ihn gerade krumm ist, wenn schon die Waagschalen schief hängen43“ (74,35–37) […]. Als man ihn fragte, welche Leute die schlimmsten seien, antwortete er: „Diejenigen, die als die Besten gelten wollen, während sie schlecht sind“ (74,43–44). Als man ihn wiederum fragte, welcher der beste Bürger sei, antwortete er: „Der in keiner Sache lügen will“ (74,44–45) […]. Einer schritt mit nach oben vorgestreckten Gesicht und mit affektiert-gewichtiger Miene einher: „Ihm stinkt sein eigener Bart“, sagte er [Alberti, Anm.] (77,34–35).
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„Autobiographie“, 68, Z. 11 ff. Es wird hier eine ungefähre Anzahl angegeben, weil zuweilen nicht klar ist, ob gewisse Aussprüche zusammengehören (Antwort auf denselben Sachverhalt) oder nicht. Watkins Übersetzung („Alberti in the Mirror“, 13) „No wonder there are evil deeds where the scales hang so uneven“ gibt das Wortspiel „aequa – iniqua“ nicht richtig wieder.
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Zu einem anderen, der Leute unverschämt auslachte, sagte er: „He Du, wie zutreffend pflegen doch manche Leute zu weinen, die andere auf ungebührliche Weise auslachen!“ (77,36–37 .44 Zu einem, der auf seinen langen Bart stolz war, sagte er: „Seine schmutzige Brust (sein schmutziges Inneres; Anm.) verdeckt er so auf höchst entzückende Weise“ (77,38–39) […]. De quodam, qui diutius inter disserendum ostentandae memoriae gratia nimium multa nullo cum ordine esset prolocutus, cum rogaretur, qualis sibi disputator esset visus, respondit eum sibi peram libris laceris et disvolutis refertam videri (73,38–41) […] Sat eum dicebat hominem sapere, qui saperet quae saperet satisque posse, qui posset !quae posset" satisque habere ipsum hunc, qui quae haberet, eadem haberet (74,32–34) […].45 In iurisconsultum perfidum, qui altero humero depresso altero sublato deformis incederet: „Aequa“, inquit, „istic nimirum iniqua sunt, ubi lances in libra non aeque pendeant“ (74,35–37 ) […]. Rogatus quinam essent hominum pessimi, respondit: „Qui se optimos videri velint, cum mali sint“ (74,43–45). Iterum rogatus quisnam esset civium optimus, respondit: „Qui nulla in re mentiri instituerit“ (74,44–45) […]. Ore porrecto et subafflicto quidam incedebat: „Huic“, inquit, „sua olet barba“ (77,34–35). In insolentem et irridentem: „!H"eus tu“, inquit, „ut solent quidam46 apte flere, qui rideant inepte!“ (77,36–37). In eum qui sua prolixa gloriaretur barba: „Sordes“, inquit, „pectoris perquam belle subintegit“ (77,38–39) […].
Eine derartige Spruchsammlung passt nicht in das Regelwerk autobiographischer Diskurse. Kein Autobiograph dürfte ungestraft auf eine solche Weise seine Witze, Bonmots und weisen Sprüche auflisten. Alle diese Überlegungen zusammen besehen führen zu dem Schluss, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass der Text eine Autobiographie darstellt.47 44
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Vgl. Watkins, „Alberti in the Mirror“, 16, die mit ihrer freien Übersetzung den richtigen Sinn trifft: „To an insolent mocker, ‚Do you know that men often weep with reason who laughed without?‘“. M. E. müsste hier analog zur übrigen Satzkonstruktion !quae posset" hinzugesetzt werden. Fubini, Menci Gallorini drucken hier „quidem“. M. E. sollte „quidam“ gelesen werden. Als Restmöglichkeit, die Autorschaft Albertis zu ‚retten‘ bleibt die Annahme, dass der Text zwar als Biographie verfasst wurde, Alberti aber dennoch der Verfasser ist, wobei er vorschützen wollte, ein anderer habe das Werk geschrieben. Abgesehen davon, dass nicht evident ist, weshalb man die Autorschaft Albertis unbedingt
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4. Diogenes: die (Er)Findung der Philosophenbiographie Bei der bisherigen Ermittlung der Diskursmerkmale blieb ungeklärt, welche literarischen Modelle der Autor zur Konstituierung Albertis verwendete. Der Text fügt sich jedenfalls nicht in den Rahmen der bisher diskutierten biographischen Vorbilder. Er weist weder eine chronologische Strukturierung auf, wie sie einer nach den Regeln des rhetorischen Personenlobes angefertigten Biographie eignen würde, noch eine thematische Anordnung noch eine Kombinationen beider Präsentationsweisen (beide nach dem Vorbild Suetons). Die Darstellung fängt mit einer allgemeinen Charakterskizze an, jedoch ohne die von Sueton bekannte thematische Gliederung. Der Autor scheint sofort abzuschweifen, indem er einen längeren Ausspruch Albertis wiedergibt: Er pflegte zu sagen, dass er auch beim Studium von Literatur und Wissenschaft jenes erfahren habe, dass – wie das Sprichwort lautet – die Menschen von jeder Sache genug bekommen. Denn er sagte, dass ihm die Literatur und die Wissenschaft, die ihn so freuen, manchmal wie aufblühende und duftende Knospen erscheinen, in dem Maße, dass ihn kaum Hunger oder Schlafbedürfnis von den Büchern wegzerren könne, die Buchstaben ihm aber manchmal auch vor den Augen wie herumwimmelnde Skorpione vorkommen, so dass ihm nichts mehr zuwider sei als Bücher.48
Der Stellenwert und die Funktion dieses seltsamen Ausspruchs sind zunächst unklar. Wie eine vergleichende Analyse des Inhalts der Biographie lehrt, kann der Ausspruch jedenfalls nicht als eine Art Motto aufgefasst werden. Auch scheint er insofern nicht so recht zu den Diskursregeln der Lobbiographie zu passen, da aus ihm kein Lobargument ableitbar ist, sondern er eher eine gewisse Wankelmütigkeit, wenn nicht
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‚retten‘ sollte, sprechen einige Detailbeobachtungen gegen eine solche Annahme. Der Verfasser des Textes redet an mehreren Stellen in der ersten Person, während für Alberti durchgehend die dritte Person verwendet wird. Ein solches ‚Abgleiten‘ kommt in Autobiographien vor, beschränkt sich dann aber auf längere Texte, wie die hunderte Seiten langen Commentarii Pius’ II. Bei der Alberti-Biographie handelt es sich aber um einen ziemlich kurzen, nur 11 Seiten umfassenden Text. Im Hinblick darauf ist es nicht plausibel, die gehäuften Instanzen der ersten Person als ‚Abgleiten‘ eines Autobiographen aufzufassen. Der Schluss liegt nahe, dass der Verfasser der Biographie und ihr Gegenstand nicht identisch sind. Schon ganz zu Anfang des Textes, in Zeile 6–7 (S. 68), findet man „ut reliqua obmittam“ (vgl. weiter 71,19–20; 73,22; 73,37); für alles Weitere s. unten. „Autobiographie“, 68, Z. 11–17.
Diogenes: die (Er)Findung der Philosophenbiographie
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Schwäche der dargestellten Person festlegt. Überdies fällt auf, dass wesentliche Elemente der Einleitungs-Schemata der herkömmlichen Biographie fehlen: Weder der Geburtsort noch das Geburtsjahr noch die Abstammung werden vermeldet. Handelt es sich überhaupt um eine Biographie? Oder ist die Biographie, wie Burckhardt und andere meinten, ein Fragment geblieben? Dies ist nicht auszuschließen, kann aber nicht als A-Priori-Ausgangspunkt dienen. In jedem Fall muss zunächst einmal die Frage des literarischen Modells geklärt werden. Besonders auffällig ist, dass die Biographie zum Großteil eine Spruchsammlung darstellt. Die Sammlung der weisen und hintergründigen, ätzenden und bissigen Aussprüche Albertis bildete für den Autor somit ein Hauptziel der Darstellung. Im Text wird explizit angegeben, dass der entsprechende Abschnitt eine Spruchsammlung bildet, die übrigens auf andere Sammlungen der Sprüche Albertis zurückgeht: „Es gab Leute, die seine ernsten und witzig gemeinten Aussprüche in großer Zahl sammelten. […] Wir bringen hier von den vielen eine beispielhafte Auswahl“ – „Fuerunt qui eius dicta et seria et ridicula complurima colligerent. […] Ex multis pauca exempli gratia referemus“.49 Bei Sueton bildet eine Spruchsammlung niemals einen Bestandteil einer Vita. Wenn er Sprüche zitiert, haben sie die Aufgabe, bestimmte Charaktereigenschaften der dargestellten Person zu belegen. In der Biographie Albertis geht es jedoch um die Sprüche als solche. Sie dienen nicht dazu, den Biographisierten zu charakterisieren, sondern es sollen Lebensweisheiten (Sentenzen) festgelegt und vermittelt werden. Der Spruchdiskurs führt zu einem Werk, das in Italien damals gerade erst wieder zugänglich gemacht worden war, Diogenes Laërtius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Dort finden wir jene Art der Lebensbeschreibung, die weder chronologisch noch thematisch angelegt ist, und in der die Sammlung der Aussprüche der Philosophen, wie schon der Titel ankündigt, eine dominante Rolle spielt. Als Beispiel möge das Leben des Sokrates dienen: Er pflegte zu sagen, wenn ihm sein Essen und Trinken am besten schmecke, bedürfe er am wenigsten der Leckerbissen und rechne am wenigsten auf einen noch zu erwartenden Trank. Und: Wer am wenigsten bedarf, der ist den Göttern am nächsten […]. Für sonderbar erklärte er, dass ein jeder leicht angeben könne, wieviel er besitze, aber nicht sagen könne, wieviele Freunde er habe; so wenig kümmere man sich um sie.
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„Autobiographie“, 73, Z. 34–37.
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Als er gewahr wurde, dass Euklides sich mit allem Eifer auf die Künste der Eristik warf, sagte er: „Mein Euklides, mit den Sophisten wirst du fertig werden können, mit den Menschen aber gewiss nicht“ […]. Die Muße lobte er als den herrlichsten Besitz […]. Nur eines, pflegte er zu sagen, sei ein wirkliches Gut, das Wissen, nur eines ein wirkliches Übel, die Unwissenheit; Reichtum und hohe Geburt hätten keine Würde an sich, sondern im Gegenteil nur Unheil. Als einer zu ihm sagte, Antisthenes stamme von einer thrazischen Mutter ab, fertigte er ihn mit den Worten ab: „Warst du denn des Glaubens, ein so edler Mann stamme von zwei Athenern ab?“ […] Auf die Frage, ob man heiraten solle oder nicht, gab er die Antwort: „Was du auch tust, du wirst es bereuen“ […]. „Die anderen Menschen“, pflegte er zu sagen, „leben um zu essen“; er selbst aber esse, um zu leben. Von der großen Masse des gemeinen Volkes sagte er, es stehe damit ähnlich, wie wenn einer ein einzelnes Vierdrachmenstück geringschätzig bewerte, dagegen einen Haufen solcher Münzen als hochwertig gelten ließe […]. Als sie (Xanthippe; Anm.) einmal auf dem Markte ihm sogar seinen Mantel vom Leibe riss und seine Bekannten ihm rieten, sich doch handgreiflich zur Wehr zu setzen, erwiderte er: „Beim Zeus, wohl damit ihr in Parteien geteilt unseren Faustkampf mit Zurufen begleitet: hopp auf Sokrates, hopp auf Xanthippe!“ etc.50
Aus dieser Stelle gehen sogleich die Diskursmerkmale dieser Art der Biographie hervor. Diogenes fokussiert auf auffällige, merkwürdige, exzentrische Meinungsäußerungen der Biographisierten. Er konstituiert die Philosophen als Menschen, die von den „normalen“ Denk- und Verhaltensweisen abweichen, die ihre Mitmenschen oft mit hintergründigem Spott oder offenem Hohn überziehen, ähnlich, wie dies in den oben zitierten Aussprüchen Albertis der Fall ist. Die merkwürdigen Sprüche und anekdotischen Verbalattacken hat Diogenes Laërtius nicht aus philosophiefeindlichen Motiven gesammelt, und schon gar nicht, weil er zum „wahren“ Verständnis der Philosophie zu dumm war. Vielmehr wollte er Philosophie zugänglich machen, indem er auffällige Aussprüche und anekdotische Verhaltensweisen sammelte, von denen er meinte, sie würden sich dem Gedächtnis des Lesers einprägen. Der Eintritt des Diogenes in die literarische und intellektuelle Kultur des italienischen Humanismus ist mit den Vorbereitungen eines allgemeinen Kirchenkonzils zur Beseitigung des west-östlichen Schismas verbunden, das schließlich 1438 in Ferrara stattfinden sollte. Die Kurie entsandte im Jahre 1422 den Ordensgeneral der Franziskaner, Antonio da 50
Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übersetzt und erläutert von O. Apelt, Leipzig 1921, I, S. 74–79 (D. L. II, 27–37), auszugsweise.
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Massa, nach Konstantinopel, der ein Jahr später bei seiner Rückkehr einige interessante griechische Handschriften mitbrachte, unter anderen Diogenes Laërtius. Antonio da Massa, der dem Text eine hohe Bedeutung zuschrieb, wollte ihn unbedingt einem größeren Leserkreis zugänglich machen. Dazu war eine Übersetzung ins Lateinische unumgänglich. 1424 gelang es ihm, unter Mitwirkung von Niccolò Niccoli und Cosimo de’ Medici, den Camaldulenser-Mönch Ambrogio Traversari, der sich als Übersetzer griechischer Kirchenväter einen Namen gemacht hatte,51 zu überreden, die Übersetzung auf sich zu nehmen. Die Arbeit stellte sich aber als viel schwieriger als erwartet heraus und zog sich über fast zehn Jahre hin.52 Erst 1433 konnte Traversari Cosimo de’ Medici das Widmungsexemplar senden.53 Traversaris Diogenes-Übersetzung machte in Florenz viel Aufsehen; die florentiner Humanisten hatten jahrelang sehnsüchtig auf sie gewartet. Da sie vom Niccoli-Kreis in Auftrag gegeben wurde, war gesichert, dass sie entsprechend bekannt gemacht wurde. Für die Verbreitung des Textes wirkte sich günstig aus, dass in diesen Jahren (von 1434 an) die päpstliche Kurie mit ihren Humanisten (unter anderen Alberti) sich in Florenz aufhielt. 1438 begab sich der Zug der florentiner und päpstlichen Humanisten nach Ferrara, wo das west-östliche Kirchenkonzil abgehalten wurde. Auch der Übersetzer des Diogenes Laërtius, Traversari, reiste nach Ferrara ab, um dort als Dolmetscher zu fungieren.
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Zu Ambrogio Traversari, besonders als Übersetzer griechischer Kirchenväter, siehe Ch. L. Stinger, Humanism and the Church Fathers. Ambrogio Traversari (1386–1439 ), Albany, State University of New York Press 1977; C. Somigli, T. Bargellini (Hrsg.), Ambrogio Traversari. Monaco Camaldolese, Bologna 1986; E. Mioni, „Le Vitae Patrum nella traduzione di Ambrogio Traversari“, in: Aevum 24 (1950), 319–331; G. Pomaro, „L’attivita di Ambrogio Traversari in codici fiorentini“, in: Interpres 2 (1979), 105–115; G. Roverella, „Ambrogio Traversari e l’umanesimo cristiano“, in: La civiltà cattolica 1940,1, 48–59; 203–214; C. Somigli, Ambrogio Traversari, un amico dei Greci, Camaldoli 1964; A. Sottili, „Autografi e traduzioni di Ambrogio Traversari“, in: Rinascimento, Ser. II, 5 (1965), 3–15; Ders., „Ambrogio Traversari, Francesco Pizolpasso, Giovanni Aurispa: traduzione e letture“, in: Romanische Forschungen 78 (1966), 42–63; Ders., „Griechische Kirchenväter im System der humanistischen Ethik: Ambrogio Traversaris Beitrag zur Rezeption der griechischen Literatur“, in: W. Ruegg, D. Wuttke (Hrsg.), Ethik im Humanismus, Boppard 1979, 63–85. Stinger, Humanism and the Church Fathers, 71–77. Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 65,21.
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Watkins, Fubinis und Menci Gallorinis überzeugende Datierungsversuche haben ergeben, dass die Biographie Albertis 1438 entstanden ist. Diese Datierung lässt umso besser verstehen, dass sich der Autor der Biographie von Diogenes’ Philosophenviten, die gerade große Aufmerksamkeit auf sich zogen, anregen ließ. Er wollte Leon Battista Alberti als außergewöhnlichen Mann, als Weisen konstituieren, ähnlich wie Diogenes die griechischen Philosophen dargestellt hatte. So verzichtete er auf die herkömmlichen biographischen Schemata und maß den Aussprüchen Albertis breiten Raum zu. Dass die Sammlung der Aussprüche den Diskurs der Philosophenbiographie mitbestimmte, legte Traversari schon in seiner lateinischen Wiedergabe des Titels fest: Laertii Diogenis VITAE ATQUE SENTENTIAE eorum qui in philosophia claruerunt.54 Man vergleiche hiermit die Einleitung der Spruchsammlung in der AlbertiBiographie: „Fuerunt qui eius dicta […] complurima colligerent. […] Ex multis pauca exempli gratia referemus“.55 Der Autor der Alberti-Biographie stellte sich somit zur Aufgabe, Alberti im Gewand eines antiken Philosophen erscheinen zu lassen. Er zog damit Leon Battista den durchaus auffälligen Mantel des Philosophendiskurses über. Betrachten wir einige Merkmale dieser diskursiven Zuordnung. Das wohl augenfälligste Merkmal des Diogenes-Diskurses ist, dass die Philosophen sich nicht den normalen Denkmustern unterordnen, sondern ständig aufzeigen, wie absurd, lächerlich und verfehlt das ‚ganz Normale‘ eigentlich ist. Die Biographie Albertis ist nach diesen Diskursregeln eingerichtet. Zum Beispiel entspricht den ‚normalen‘ Verhaltensweisen des Menschen, dass er sich, wenn er angegriffen wird, zur Wehr setzt. Philosophen verzichten jedoch bewusst und grundsätzlich darauf. Man nehme die oben beschriebene Marktszene, in der Sokrates sich nicht gegen die Angriffe der Xanthippe wehrt. Weiter kann man bei Diogenes lesen, dass Sokrates seine Gefangennahme und sogar seine Tötung geduldig über sich ergehen ließ. Als man ihm anbot, ihn aus dem Kerker entkommen zu lassen, ging er nicht darauf ein.56 Auch wenn man ihn in aller Öffentlichkeit verächtlich behandelte, beschimpfte oder ihm sogar Fußtritte 54
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Siehe z. B. Widmungsexemplar, Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 65,21, f. 210r. „Autobiographie“, 73, Z. 34–36. Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen II, 24 (Übers. Apelt I, S. 73).
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verabreichte, habe er alles mit unerschütterlicher Duldsamkeit über sich ergehen lassen.57 Auch die Biographie konstituiert Alberti mit dieser außergewöhnlichen, exzentrischen Duldsamkeit (patientia): Obwohl er umgänglich war, einen milden Charakter besaß und niemandem etwas Böses zufügen wollte, war er dem Hass und den verborgenen Feindschaften der bösartigsten Leute ausgesetzt, die ganz arg waren und ihm sehr zu schaffen machten. Besonders von seinen Verwandten erduldete er mit standhaftem Geist das bitterste Unrecht und unerträgliche Schmähungen. Multorum tamen, etsi esset facilis, mitis ac nulli nocuus, sensit iniquissimorum odia occultasque inimicitias sibi incommodas atque nimium graves; ac praesertim a suis affinibus acerbissimas iniurias intollerabilesque contumelias pertulit animo constanti.58
Während Traversari von Sokrates sagt „quae tamen omnia ferebat aequo animo“, beansprucht der Verfasser der Alberti-Biographie ebendies für Leon Battista: „iniurias […] ferebat aequo animo“59 oder „iniurias […] pertulit animo constanti“.60 Nicht einmal ein Anschlag auf sein Leben konnte Alberti von seinem philosophischen Duldertum abbringen: „Denn er meinte, dass der Gute es für besser hält, Unrecht zu erdulden, als jemandem Unrecht zuzufügen“ („Nam satius quidem apud bonos putari sentiebat iniuriam perpeti quam facere“).61 Zu Diogenes’ Philosophen-Diskurs gehört weiter, dass der Philosoph Leuten, die ihn kritisieren, nicht zürnt. Der Philosoph ist seinen Kritikern geradezu dankbar: Als ihn (Sokrates; Anm.) jemand aufmerksam machte „Verleumdet der dort dich nicht?“, entgegnete er nur: „Nein, denn was er sagt, haftet mir nicht an.“ Er vertrat auch die Meinung, dass es nützlich sei, sich dem ätzenden Humor der Komödienschreiber auszuliefern; denn wenn sie uns auf wirkliche Fehler hinweisen, so werden sie dadurch zu unserer Besserung beitragen; wenn nicht, so geht uns die Sache nichts an. Dicenti cuidam „Nonne tibi ille maledicit?“, „Non“, inquit, „mihi enim ista non adsunt“. Dicebat expedire, ut sese ex industria comicis exponeret. „Nam si qui-
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Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 21. „Autobiographie“, 71, Z. 7–11. Fubini, Menci Gallorini drucken Z. 9 „incomodas“. „Autobiographie“, 71, Z. 23. „Autobiographie“, 71, Z. 10–11. „Autobiographie“, 71, Z. 28–29.
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dem ea dixerint, quae in nobis corrigenda sint, emendabunt; sin alias, nihil ad nos“ (Übers. von Traversari ).62
Der Autor der Biographie konstituiert Alberti mit derselben Haltung: Den Kritikern seiner Werke pflegte er zu danken, wenn sie ihm ihre Kritik ins Gesicht sagten, und er nahm die Kritik in dem Sinne hin, dass er sehr dankbar war, dass er durch die Ratschläge der ‚Verbesserer‘ ein besserer Mensch werden würde. Vituperatoribus rerum, quas conscriberet, modo coram sententiam suam depromerent, gratias agebat, in eamque id partem accipiebat, ut se fieri elimatiorem emendatorum admonitu vehementer congratularetur.63
Ein weiteres Merkmal des Philosophendiskurses ist die hintergründige, zuweilen ätzende Ironie, mit der der Philosoph seine Gesprächspartner behandelt. Dieselbe Ironie (wie Diogenes seinem Sokrates) verleiht der Alberti-Biograph Leon Battista. Die Ironie ist in beiden Biographien in so überreichem Maße vorhanden, dass es sich erübrigt, Beispiele anzuführen. Ein für Sokrates besonders bezeichnender Zug ist, dass er in Gesprächen stets vorgab, er verstehe nichts von der Sache, die jeweils behandelt wurde. Es ist durchaus bezeichnend, dass der Alberti der Biographie genau dieselbe Verbaltücke an den Tag legt: Er (Alberti) pflegte vorzuschützen, dass er in vielen Angelegenheiten völlig unwissend sei, um die Intelligenz, die Gewohnheiten und das Wissen der Leute, denen er gegenüberstand, zu ergründen. Ignarum se multis in rebus simulabat, quo alterius ingenium, mores peritiamque scrutaretur.64
Ebenso gehört zum Philosophendiskurs die Verachtung des materiellen Besitzes, des Reichtums und des Geldes. Sokrates, der wertvolle Geschenke prinzipiell ablehnte, liefert ein wirkungsvolles Vorbild.65 Für zahlreiche andere Philosophen gilt Ähnliches. Von Anaxagoras berichtet Diogenes, dass er seinen gesamten vom Vater ererbten Besitz freiwillig 62
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Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 36; lateinische Übersetzung von Traversari. Ich benutzte die Ausgabe s.l., Iac. Chouet 1595 (die Sokrates-Vita dort S. 86–103), S. 97. „Autobiographie“, 70, Z. 29–31. „Autobiographie“, 72, Z. 17–19. Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 24–25; in der Übersetzung Apelts I, 73–74; in der Übersetzung Traversaris: „Frugi erat et continens […] quum Alcibiades grandem illam aream ad construendum domum largiretur, dixisse […] ,Atqui ridiculus essem, si acciperem‘“ (Chouet 1595 loc. cit.).
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seinen Familienmitgliedern überließ. In Traversaris Übersetzung lautet dies: „Hic (sc. Anaxagoras) […] animi quoque magnitudine clarissimus fuit, quippe qui universum patrimonium suis sponte concessit“.66 Der Alberti-Biograph konstituiert seinen Helden des Geistes auf ganz ähnliche Weise: „Geld und Erwerb verachtete er gänzlich. Sein Geld und seine Besitzungen übergab er seinen Freunden zur Verwaltung und Nießbrauch“ – „Pecuniarum et quaestus idem fuit omnino spretor. Pecunias bonaque sua amicis custodienda et usu fruenda dabat“.67 Der Philosoph übt sich darin, von äußeren Einflüssen unabhängig zu werden. Er vermag Hitze und Kälte zu ertragen, und er übt sich im Aushalten dessen, was ihm grässlich und unerträglich vorkommt. Diogenes verzeichnet sowohl Sokrates’ Übungen als auch den Spott, den er für sie einheimste, z. B. von dem Komödiendichter Aristophanes (in den Wolken): „Noch stört des Frostes Gewalt deine Laune noch quält dich die Sehnsucht nach einem Frühstück. / Du verzichtest auf Wein und üppige Kost und auf andere nutzlose Dinge“.68 Der Autor der Biographie schreibt Leon Battista das nämliche Exerzitium zu: Er ertrug sogar Schmerz, Kälte und Hitze […]. Während sein Kopf sehr empfindlich war, Kälte und Wind nicht ertragen konnte, brachte er ihn durch Übung allmählich so weit […], dass er sogar im Winter und bei Sturm ohne Kopfbedeckung ausritt. Vor Knoblauch und vor allem vor Honig ekelte ihn so sehr, dass er beim bloßen Anblick dieser Nahrungsmittel […] erbrechen musste. Er überwand sich jedoch, indem er sich übte, diese Lebensmittel anzusehen und zu kosten. Dies gelang ihm so gut, dass sie ihm nichts mehr anhaben konnten […].69
Die Biographie schreibt Alberti durch all diese merkwürdigen Aussprüche und Verhaltensweisen in Diogenes’ Philosophendiskurs ein. Vertragen sich damit die weltlichen Aspekte, die in der Biographie Albertis ebenfalls zum Ausdruck kommen, wie Körperkultur und Musik? Die Frage lässt sich mit Hilfe von Diogenes’ Leben des Sokrates leicht beantworten, worin mitgeteilt wird, dass Sokrates großen Wert auf Körperkultur legte, sich einer hervorragenden Kondition erfreute, als Soldat seinen Mann stellte,70 sogar noch im fortgeschrittenen Alter das Leier66 67 68
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In der Ausgabe Chouets 1595, S. 79. „Autobiographie“, 72, Z. 21–22. Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 27, in der Übers. Apelts I, 74. „Autobiographie“, 76, Z. 34 – 77. Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 22–23; in Traversaris Übersetzung: „Cura illi vehemens fuit corporis exercitationis eratque praeclari habitus“.
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spiel erlernte und überdies gerne die Tanzkunst (zum Zwecke der Körperbewegung und Gesundheit) ausübte.71 Obwohl die Philosophen des Diogenes hin und wieder ‚normales‘ Verhalten an den Tag legen, bleiben sie vor allem gesellschaftliche Außenseiter, die dem Mainstream vehement entgegenschwimmen. Gerade dadurch, dass sie sich mit ihren Aussprüchen und mit ihrem Betragen außerhalb der Gesellschaft begeben, haftet ihnen etwas Übernatürliches an. Zum Beispiel haben sie die parapsychologische Gabe, die Zukunft vorherzusehen. Auf diese Weise hebt Diogenes das berühmte Daemonium (‚innere Stimme‘) des Sokrates hervor: „Auch pflegte er zu sagen, sein Daemonium sage ihm die Zukunft vorher“.72 Der Alberti-Biograph schreibt Leon Battista diese Gabe noch expliziter zu: „Bei der Vorhersage der Zukunft verband er seine gelehrte Klugheit mit der Gabe der Weissagung. Es gibt Briefe von seiner Hand, an den Mathematiker Paolo Toscanelli gerichtet, in denen er die Zukunft seines Vaterlandes [i.e. Florenz, Anm.] auf Jahre vorhersagte; außerdem hatte er das Schicksal der Päpste auf zwölf Jahre vorhergesagt […]“.73 Es lässt sich nunmehr besser verstehen, in welchem Diskursrahmen der Verfasser der Biographie operierte. Er war ein Bewunderer des Leon Battista Alberti, der seine Verehrung zum Ausdruck bringen wollte, indem er ihm noch zu Lebzeiten das literarische Denkmal einer Philosophenvita nach dem Vorbild des Diogenes setzte. Die Spruchsammlung dient ebenfalls dem Ziel der Denkmalsetzung: Die Sprüche des neuen antiken Philosophen Leon Battista sollten damit ‚verewigt‘ werden.
5. Phantombild des Verfassers der Alberti-Biographie Die Biographie Albertis wurde von einem anonymen Verehrer des Gelehrten verfasst. Aus einer Analyse des Textes lässt sich ein Phantombild erstellen, in dem die Merkmale, die der unbekannte Verfasser aufweist, festgelegt werden. Zunächst muss es sich um einen Italiener handelt. An jedenfalls zwei Stellen bezeichnet er die Nicht-Italiener als „Ausländer“
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Ebd., II, 32. Ebd., II, 32; in der Übers. Apelts I, 76–77. „Autobiographie“, 76, Z. 16 ff.
Phantombild des Alberti-Biographen
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(„exteri“; „exterae nationes“).74 Zweitens war er im Jahre 1438 noch am Leben. Drittens stammte der Verfasser aus einer italienischen Stadt (Stadtstaat), die eine republikanische Staatsform besaß. Zusätzlich handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Mann, dessen Teilnahme an der Regierung dieser Stadt zum Zeitpunkt der Abfassung des Werkes gefährdet, in Frage gestellt oder zunichte gemacht worden war. Denn der Verfasser der Alberti-Biographie verwendet, noch dazu mit einer für einen so kurzen Text auffälligen Frequenz, das Konzept der „Guten“, „Wohlgesinnten“ („boni“).75 Es handelt sich um ein Konzept, das auf Cicero zurückgeht, und das dieser verwendete, als die Römische Republik bedroht war. Dem Konzept liegt die Auffassung zugrunde, dass es in der Krisensituation absolut notwendig sei, alle „Wohlgesinnten“ zu sammeln und den autokratischen Zerstörern der Republik, zum Beispiel Catilina oder Caesar, entgegenzustellen. Die politische Diktion der „boni“ passt zu einem frustrierten Vertreter der republikanischen Staatsform.76 Der Verfasser stammt demnach wahrscheinlich aus Florenz oder aus Venedig. Aus einer Stelle in der Biographie geht hervor, dass das politische Spannungsverhältnis, in dem der Verfasser sich zu seiner Heimatrepublik befindet, auf Florenz gemünzt ist – aus einer Stelle, an der er den florentiner Senatoren einen Seitenhieb verpasst: „Die Mitbürger [Albertis, d. h. die Florentiner, Anm.]“, sagt er, „die sich sehnlich wünschen, dass man sie im Senat als eloquent bezeichnet“.77 Die florentiner Senatoren erscheinen hier als unaufrichtige, eitle Gecken. Damit setzt sich der Verfasser von den florentiner Patriziern ab. Es handelt sich also wohl um einen entmachteten florentiner Patrizier. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Negativurteil über die florentiner Patrizier aus der Zeit stammt, die unmittelbar auf die Rückkehr Cosimo de’ Medicis an die Macht, 1434, folgte. Cosimos Rückkehr brachte einschneidende und harte politische Konsequenzen mit sich. Die Familien, die mit den Medici verfeindet waren, wurden entmachtet und fortan von der Teilnahme an der Politik ausgeschlossen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Verfasser der Alberti-Biographie einer dieser Familien angehört. 74
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„Autobiographie“, 71, Z. 35–36: „Inter principes tamen Italos interque reges exteros“; 72, Z. 1: „cum libri ipsi (sc. Leonis Baptistae) ab exteris etiam nationibus peterentur“. „Autobiographie“, z. B. 68, Z. 8; 71, Z. 1; 71, Z. 3–4; 71, Z. 13; 71, Z. 32–34. Watkins liest aus der Alberti-Biographie (die sie als Autobiographie auffasst) eine „democratic attitude“ und „democratic tendencies“ heraus („Alberti in the Mirror“, 23–24). Dieser Auffassung kann ich mich nicht anschließen. „Autobiographie“, 70, Z. 22: „sui cives, qui in senatu se dici eloquentes cuperent“.
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Weiter muss es sich um einen Mann handeln, der nicht genau dieselben politischen Interessen wie Alberti vertritt. Alberti befand sich im Dienst des Papstes. Der Autor erwähnt jedoch an einer Stelle als Lob Albertis, dass er die Zukunft der Päpste vorausgesagt habe.78 Obwohl in der Frühen Neuzeit vielerorts und fleißig Astrologie betrieben wurde, ging es für ein Mitglied der Kurie nicht an, derartiges in einem literarischen Werk zu bereden und damit zu veröffentlichen. Es lässt sich also so gut wie ausschließen, dass der Verfasser der Kurie zugehörte. Außerdem geht aus der Stelle hervor, dass er bei seiner Persönlichkeitsverehrung die politischen Interessen Albertis nicht effizient vertreten hat. Dazu lässt sich noch ein zweites Beispiel beibringen. Alberti hatte 1438 ein sehr gutes Verhältnis zu den d’Este, den Stadtherren Ferraras. Der Alberti-Biograph stellt jedoch die d’Este in ein schauriges Zwielicht, indem er die politischen Morde erwähnt, die der Stadtherr Niccolò III. d’Este auf dem Gewissen hatte.79 Zwar wird ein Ausspruch Albertis zitiert; jedoch war dieser nicht zur literarischen Veröffentlichung, und ganz besonders nicht für die Ohren der Familie d’Este bestimmt. Abermals wäre der Mantel der Diskretion dringend erforderlich gewesen. Der Autor der Biographie hat sich, was Politisches betrifft, nicht sehr geschickt verhalten, jedenfalls hat er Alberti mit seiner Darstellung nicht überall Gutes erwiesen. Daraus darf man nicht ableiten, dass sich der Biograph von Alberti distanzieren wollte. Die politischen Rücksichten, die Alberti selbst hätte nehmen müssen, waren einfach nicht die seinen. Weiter lässt sich mit Sicherheit feststellen, dass der Verfasser 1438, als sich die päpstliche Kurie (mit Alberti) zum Zweck des west-östlichen Konzils in Ferrara aufhielt, sich ebenfalls in dieser Stadt befand. Das geht daraus hervor, dass der Autor zugegen war, als Alberti Mitgliedern der griechischen Delegation seinen Guckkasten zeigte. Er berichtet, wie die Griechen Ausrufe der Verwunderung ausstießen.80 Der Kreis der Personen engt sich also auf entmachtete florentiner Patrizier ein, die sich im Frühjahr 1438 in Ferrara aufhielten. Es können noch weitere Spezifizierungen angebracht werden. Der unbekannte Autor muss mit Alberti engen persönlichen Kontakt gehabt haben. Dies ist daraus zu schließen, dass ihm zahlreiche persönliche Lebensdetails bekannt sind. Er bezog sein Wissen über Alberti sicher nicht ausschließlich aus der Lektüre seiner Werke. Er hat mit Leon Battista 78 79 80
„Autobiographie“, 76, Z. 19–20. „Autobiographie“, 76, Z. 12 ff. „Autobiographie“, 73, Z. 20 ff.
Phantombild des Alberti-Biographen
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persönliche, intime Gespräche geführt. Dabei handelte es sich nicht um Interviews, wie sie ein moderner Biograph führt. Da derartiges im 15. Jahrhundert nicht üblich war, müssen dem Autor die intimen Lebensdetails von freundschaftlichen, zufälligen Gesprächen her bekannt sein. Seit wann kannte er Alberti? Aus der Biographie geht hervor, dass er ihn unmöglicherweise erst 1438 in Ferrara kennengelernt haben kann. Dazu ist das Vertrauensverhältnis zu eng. Illustrativ ist, dass der Verfasser intime Lebensdetails aus Albertis Studentenzeit in Bologna zu erzählen weiß, zum Beispiel, dass Leon Battista vom vielen Studieren überanstrengt wurde und erkrankte;81 dass er die Komödie Philodoxeos fabula während des Rekonvaleszenzprozesses schrieb; dass Leon Battista, nachdem er wieder erstarkt war, das Studium wiederaufnahm, jedoch erneut erkrankte; dass er bei dieser Krankheit völlig abmagerte, Ohrensausen bekam und sogar die Fähigkeit des Lesens verlor, gerade Linien nicht mehr von Schleifen unterscheiden konnte; dass er deswegen Ärzte konsultierte, die Ermüdungserscheinungen konstatierten und ihm von einer Fortsetzung des Studiums abrieten.82 All diese Details hat Alberti wohl kaum einem Mann erzählt, den er gerade erst kennengelernt hatte. Wir müssen also davon ausgehen, dass der unbekannte Verfasser Alberti bereits seit seiner Studentenzeit in Bologna, kannte. Der Verfasser muss sich also in den Zwanzigerjahren des 15. Jahrhunderts in Bologna aufgehalten haben. Weiter ist klar, dass der unbekannte Biograph mit den Philosophenviten des Diogenes Laërtius vertraut gewesen sein muss, in der Form eines griechischen Manuskriptes und/oder von Ambrogio Traversaris lateinischer Übersetzung. Beides bedingt, dass er in den fraglichen Jahren, mindestens zwischen dem Bekanntwerden des Diogenes in Traversaris Übersetzung (1433) und dem Abfassungsdatum der Biographie (1438), mit dem Kreis der florentiner Humanisten in Verbindung war. Weshalb hielt sich der unbekannte Biograph 1438 in Ferrara auf, wenn er kein Funktionär des Papstes war? Dies kann natürlich verschiedene Ursachen haben. Einen Hinweis scheint aber die Tatsache zu liefern, dass er zugegen war, als Alberti den griechischen Gesandten seine Landschaftsnachbildung im Guckkasten zeigte. War der Unbekannte etwa einer der Griechischkenner, die 1438 nach Ferrara zogen, um als Dolmetscher und Übersetzer zu arbeiten? 81 82
„Autobiographie“, 69, Z. 24 ff. Ebd.
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6. Lapo da Castiglionchio Das Phantombild des Verfassers hat somit ziemlich klare Züge bekommen. Obwohl eine Identifikation nicht mit letzter Sicherheit gewährleistet werden kann, lässt sich feststellen, dass alle genannten Merkmale wenigstens für eine Person zutreffen: Lapo di Castiglionchio den Jüngeren (um 1406–1438).83 Lapo entstammte einer florentiner Familie von Edelleuten, er selbst war wahrscheinlich in Florenz geboren. Die Familie gehörte zu den Feudalherren von Quona, im Valdisieve. Die Castiglionchios waren mit der florentiner Familie der Albizzi verbunden, ausgesprochenen Feinden der Medici. Der Umstand, dass Cosimo 1434 wieder an die Macht kam, bedeutete, dass die politische Rolle der Familie in Florenz ausgespielt war. In einem Widmungsbrief beklagt sich Lapo über die „überaus harten Schicksalsschläge, die sein Vaterland trafen“ („propter gravissimos nostrae civitatis casus“).84 Es wäre demnach verständlich, wenn er Ciceros Krisenkonzept der „Wohlgesinnten“ und „Guten“, verwendet hätte. Ein Blick in ein anderes Werk Lapos, Von den Vorteilen der Römischen Kurie, De curiae commodis, lehrt, dass er das Konzept in der Tat favorisierte.85 Lapo hatte Leon Battista in der Tat nicht erst 1438, sondern bereits 1427–1428 kennengelernt, als er sich in Bologna aufhielt. Alberti war nicht nur älter, sondern in seiner Ausbildung viel weiter. Wie aus einem Widmungsbrief Lapos hervorgeht, war es gerade Alberti, der ihn zum Studium stimulierte.86 Lapo bewunderte ihn schon damals für seine hohe Intelligenz und seine Bildung. Die Freundschaft zwischen den beiden erlosch nicht, als Alberti nach Rom zog. Lapo entwickelte sich zu einem Griechischkenner. Er ist heute vor allem für seine lateinischen Übersetzungen griechischer Werke bekannt, besonders des Lukian und 83
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Für Lapo da Castiglionchio d. J. siehe den hervorragenden Artikel von R. Fubini, in: DBI 22 (1979), 44–51; F. P. Luiso, „Studi su l’epistolario e le tradizioni di Lapo da Castiglionchio iuniore“, in: Studi italiani di filologia classica 8 (1899), 205–299; E. Rotondi, Lapo da Castiglionchio e il suo epistolario, unpublizierte Dissertation Florenz, 1970–1971. Widmungsbrief an Correr (zitiert in: Fubini, „Castiglionchio, Lapo da“, 45): „propter gravissimos nostrae civitatis casus“. De curiae commodis (ed. Garin), z. B. 174 und 178. Cod. Plut. 89, 14; vgl. Bandini, Bd. III, 363 „quem ego non modo ad has liberales disciplinas et ingenuas percipiendas socium et adiutorem, verum etiam et impulsorem et hortatorem habuissem […]“.
Lapo da Castiglionchio
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des Plutarch.87 Dabei hatte er für Biographien ein besonderes Interesse: Er übersetzte Plutarchs Biographien des Solon, des Themistokles, des Perikles, des Fabius Maximus, des Publicola, des Theseus und Romulus, des Aratos sowie des Artaxerxes.88 Zwei lateinische Lukian-Übersetzungen, De sacrificiis und De tyranno, widmete er gerade Leon Battista Alberti. Die Widmungsvorrede zu De sacrificiis ist in einer Handschrift der Biblioteca Laurenziana überliefert.89 Aus ihr geht hervor, wie sehr Lapo Alberti bewunderte: In diesen Studien hast du so große Fortschritte gemacht, dass du nicht nur deine Altersgenossen an Gelehrsamkeit übertriffst, sondern sogar mit den gelehrtesten Leuten verglichen werden kannst. Deswegen bin ich der Meinung, dass dir diese Kraft der Erfindungsgabe, dieser Geist zuteil wurde, der kein Geschenk der gemeinen Natur des Menschengeschlechts mehr ist, sondern gewissermaßen ein Gottesgeschenk […]. Hisque (sc. optimis studiis) tantum profecisti, ut non aequalibus modo tuis eruditione antecellas, sed iam cum eruditissimis viris conferendus sis. Quare ego tibi hanc vim ingenii, hunc animum, non communi hominum natura datum, sed praecipua quadam sorte divinitus contigisse arbitror […].90
Lapo hielt sich im Frühjahr 1438 in Ferrara auf, wo er als GriechischÜbersetzer arbeitete. Wenn Lapo der Autor der Alberti-Biographie ist, so wäre es erklärlich, dass die Biographie nur bis 1438 reicht. Lapo ist im selben Jahr, im Oktober in Venedig, gestorben. Dass Lapo Ambrogio Traversari kannte, geht unter anderen aus dem Werk Von den Vorteilen der Römischen Kurie (De curiae commodis) hervor. In der Argumentation führt er an, dass es ein Vorteil der Kurie wäre, dass man sich dort in der Gesellschaft vortrefflicher Leute befände; darunter versteht er ausnahmslos Humanisten. Lapo nennt in diesem Zusammenhang zehn Humanisten namentlich und der erste, den er anführt, ist Ambrogio Traversari! Lapo bezeichnet Traversari als Gottesgeschenk,
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Vgl. K. Müller, „Zur humanistischen Übersetzungsliteratur“, in: Wiener Studien 23 (1901), 276–278; V. R. Giustiniani, „Sulle traduzioni Latine delle ‚Vite‘ di Plutarco nel Quattrocento“, in: Rinascimento, Ser. II, 1 (1961), 14 ff.; G. Resta, Le epitomi di Plutarco nel Quattrocento, Padua 1962; A. Carlini, „Appunti sulle traduzioni Latine di Isocrate di Lapo da Castiglionchio“, in: Studi classici e orientali 19–20 (1970–1971), 302–309. Vgl. Fubini, „Castiglionchio, Lapo da“, 50. Cod. Plut. 89, 14; Bandini, Bd. III, 362–363. Ebd., 363.
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das vom Himmel herabgefallen sei, als „Phönix unseres Zeitalters“.91 Die Besondere Zuneigung zu und Vorliebe für Traversari impliziert, dass er dessen lateinische Übersetzung des Diogenes kannte, die ohnehin viel Aufsehen machte. Aber Lapo kannte nicht nur Traversaris lateinische Übersetzung, sondern auch den griechischen Text des Diogenes. Für das besondere Interesse, das er dem Werk entgegenbrachte, legt die Tatsache Zeugnis ab, dass er selbst eine lateinische Übersetzung der ersten Biographie, der Thales-Vita,92 anfertigte! Die Tatsache, dass sich Lapo so intensiv mit dem Diogenes-Text beschäftigte, prädestiniert ihn geradezu als Verfasser der Alberti-Biographie. Es war ein naheliegender Schritt, das, was er sich bei der Lektüre und Übersetzung des Diogenes erarbeitete, in ein eigenständiges literarisches Werk umzusetzen. Wie Grafton feststellte, gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen der Thales-Biographie des Diogenes und der Alberti-Biographie.93 M. E. ist das ein weiteres Indiz dafür, dass der Verfasser der Alberti-Biographie mit dem Übersetzer der Thales-Vita identisch ist.94 Weiter hatte Lapo auch ein besonderes Interesse an der Philosophie, wodurch sich noch besser verstehen ließe, dass er seinen Freund Alberti als Philosophen konstituierte. Im November 1436 bekleidete er einen Lehrstuhl für Rhetorik und Moralphilosophie am Studio in Bologna.95 Als Professor für Moralphilosophie hat er eine Rede Vom Lob der Philosophie (De laudibus philosophiae) gehalten.96 Lapos Bewunderung für Alberti dauerte 1438 unvermindert fort. Gerade Alberti erhält in der in De curiae commodis aufgestellten Liste der zehn reizvollsten, besten und nettesten Humanisten das höchste Lob:
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De curiae commodis (ed. Garin), 206. Vgl. Grafton, Leon Battista Alberti, 23. Ebd., 23–24: „Many parallels show that Alberti used Diogenes’ life of Thales as a central model for his life“. Obwohl die Annahme, dass die Thales-Vita das Hauptvorbild der Alberti-Biographie war, m. E. zu weit führt (vgl. die oben aufgezeigten auffälligen Parallelen zur Sokrates-Biographie), bleibt die Tatsache bestehen, dass es eine Reihe von Parallelen zwischen der Thales- und der Alberti-Biogaphie gibt. Grafton (ebd.) ist gleichwohl der Ansicht, dass es sich bei der Alberti-Biographie um eine Autobiographie handelt. Fubini, Art. „Castiglionchio, Lapo da“, 48. Herausgegeben von K. Müller, Reden und Briefe italienischer Humanisten, Wien 1899, 129–139.
Der Alberti-Biograph und Burckhardts uomo universale
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[…] meinen Altersgenossen Battista Alberti, dessen Geist ich auf solche Weise lobe, dass ich ihn in dieser meiner Lobpreisung mit keinem anderen vergleiche, den ich so sehr bewundere, dass er mir für die Zukunft jede erdenkliche Großtat zu versprechen scheint. Denn sein Geist ist so beschaffen, dass er, welcher Kunst er sich auch zuwendet, darin leicht und in kurzer Zeit alle übrigen übertrifft. […] aequalem meum Baptistam Albertum, cuius ingenium ita laudo, ut hac laude cum eo neminem comparem, ita admiror, ut magnum mihi nescio quid portendere in posterum videatur. Est enim eiusmodi, ut ad quamcumque se animo conferat facultatem, in ea facile ac brevi ceteris antecellat.97
Besonders fällt auf, dass Lapo hier die Vielseitigkeit Leon Battista Albertis hervorhebt. Es ist also einigermaßen wahrscheinlich, dass Lapo da Castiglionchio derjenige ist, der Burckhardt zu seinem Uomo-UniversaleKonzept inspiriert hat.
7. Diskursverschiebungen: die Topik des Alberti-Biographen und Burckhardts uomo-universale-Ideal Wie sich zeigen ließ, stellt der Biograph, gleich ob es Lapo oder ein anderer Verfasser war, Leon Battista Alberti nach dem Muster von Diogenes’ Biographien wie einen der großen Philosophen des Altertums dar. Wie reimt sich Burckhardts Interpretation der Biographie – Manifest des Uomo-Universale-Ideals der Renaissance – mit dieser diskursiven Zuordnung? Sind der Diogenes-Philosoph und der uomo universale deckungsgleich? Für Burckhardt war das Streben nach Allseitigkeit ein Wesensmerkmal des Menschen der Renaissance. Während Burckhardt sich an seinen „Archetypen“ Leonardo da Vinci, Michelangelo und Leon Battista Alberti orientierte, verlor er aus den Augen, dass es sich bei diesen Mehrfachbegabungen um Ausnahmeerscheinungen handelt, die eine völlig anders beschaffene Regel bestätigen. Zusätzlich verknüpfte Burckhardt die Idee der Allseitigkeit mit dem Genie-Begriff des 19. Jahrhunderts sowie mit romantischen Kunstauffassungen. Ein Kennzeichen des romantischen Genie- und Kunstbegriffes ist, dass sich das Genie, der Künstler, durch ein tiefes, unergründliches Naturgefühl auszeichnet. Das Genie fühlt eine mysteriöse Verbundenheit, 97
De curiae commodis (ed. Garin), 208.
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eine innige Einheit, eine Wesensverwandtschaft mit der Natur. Mit der Vorannahme des Naturgefühls hängt zusammen, dass die Landschaftsmalerei den höchsten Stellenwert unter den Künsten erhält. In ihr kam, wie man fälschlich meinte, das Naturgefühl „unmittelbar“ zum Ausdruck. Dieses Naturgefühl schrieb Burckhardt Alberti zu, ja er bezeichnete es als „tiefste Quelle seines Wesens“. Burckhardt erweckt den Eindruck, dass das Naturgefühl mit Albertis Künstlertum ursächlich zusammenhängt – gerade das Naturgefühl habe Alberti zum Künstler gemacht: Endlich aber wird auch die tiefste Quelle seines Wesens namhaft gemacht: ein fast nervös zu nennendes, höchst sympathisches Mitleben an und in allen Dingen. Beim Anblick prächtiger Bäume und Erntefelder musste er weinen […].98
Nach Burckhardt liegt hier ein „rätselhaft inniger Verkehr mit der Außenwelt“ vor. Es scheint, als ob Alberti auf Grund seines Naturgefühles beim Anblick der Natur so gerührt war, dass er weinen musste – Tränen, aus dem Anblick der Schönheit der Natur geboren. Der Diskurs der Alberti-Biographie bewegte sich jedoch in einer anderen topischen Verortung und er ging von anderen Prämissen aus. Der Ort der Natur war nicht der einer geheimnisvollen Wesensverbundenheit mit dem Genie, sondern der des moralischen Gleichnisses. Alberti weinte nicht aus Rührung ob der Schönheit der Natur, sondern weil ihn die Natur mit ihrer Produktivität peinlich daran erinnerte, dass er selbst – auf dem Gebiet der Literatur und der Wissenschaft – noch nicht genug geleistet hatte! Als er im Frühling sah, wie das Land und die Hügel mit Blüten übersät waren, und registrierte, wie alle Bäume und Pflanzen überreiche Frucht versprachen, dann wurde sein Gemüt sehr traurig und schalt er sich selbst mit den Worten: „Jetzt, lieber Battista, hast auch du die Pflicht, den Menschen aus deinen Studien einen Nutzen zu versprechen“. Als er aber Getreidefelder erblickte, die von Korn überladen waren, oder im Herbst Bäume, die sich unter dem Gewicht der Früchte bogen, dann bemächtigte sich seiner ein solcher Schmerz, dass es Zeugen gibt, die beobachteten, wie er wegen des Schmerzes hin und wieder in Tränen ausbrach und murmelte: „Siehe da, Leo, überall hier stehen Zeugen und Ankläger deiner Faulheit! Gibt es irgendetwas in der Natur, was den Menschen nicht in einem einzigen Jahr reichen Nutzen bringt? Hast du denn aber irgendetwas, das du, von dir vollendet, wie es sich gebührt hätte, vorweisen könntest?“ Vere novo cum rura et colles efflorescentes intueretur, arbustaque et plantas omnes maximam prae se fructuum spem ferre animadverteret, vehementer tristis animus reddebatur hisque sese castigabat dictis: „Nunc te quoque, o Baptista, tuis de
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Burckhardt, a.a.O., vgl. oben VII.1, „Einleitung“.
Der Alberti-Biograph und Burckhardts uomo universale
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studiis quidpiam fructuum generi hominum polliceri oportet“. Cum autem agros messibus graves et in arboribus vim pomorum per autumnum pendere conspicaretur, ita afficiebatur moerore, ut sint qui illum viderint prae animi dolore interdum collacrimasse eiusque immurmurantis99 verba exaudierint: „En Leo, ut undique testes atque accusatores nostrae inertiae circumstant! Et quidnam usquam est, quod integro in anno multam de se mortalibus utilitatem non attulerit? At tu et quidnam habes, quod in medium tuo pro officio abs te perfectum efferas?“.100
Im Text des Alberti-Biographen liegt ein völlig anderes Naturverständnis vor uns als das von Burckhardt beanspruchte: ein allegorisches und symbolisches Naturverständnis, wobei der Mensch die Erscheinungsformen der Natur als Symbole für moralisch richtiges Handeln interpretiert. Das vom Alberti-Biographen vermittelte Naturverständnis ist somit nicht geeignet, den „neuen“ Renaissance-Menschen, den Burckhardt postulierte, zu kennzeichnen: die Topik ist vielmehr fest in der mittelalterlichen Literatur verankert. Die Details der Landschaftsgestaltung unterliegen ebenfalls Burckhardts Diskursverschiebungen. Burckhardt zeichnet Alberti als eine Art romantischen Landschaftsmaler, der „den nächtlichen Mondaufgang über Feldgebirgen erscheinen ließ“, „bald weite Landschaften mit Bergen und Meeresbuchten bis in duftige Fernen hinein, mit heranfahrenden Flotten, im Sonnenglanz wie im Wolkenschatten“. Burckhardts Darstellung evoziert romantische Landschaftsgemälde: einen „nächtlichen Mondaufgang über Felsengebirgen“; „weite Landschaften mit Bergen und Meeresbuchten bis in duftige Fernen“. Derartiges lag in der italienischen Malerei um 1438 außerhalb des Möglichen. Eine Landschaftsmalerei im eigentlichen Sinn, wobei die Landschaft das Sujet bildet, gab es ebensowenig. Auch war Alberti keinesfalls ein Landschaftsmaler. Der Alberti-Biograph hingegen lokalisierte Leon Battistas Landschaft nicht in einem ästhetischen, sondern in einem technischen Diskurs! Ihm geht es um den Effekt der optischen Täuschung, die Alberti mit einem Guckkasten zu bewerkstelligen versuchte. Er war 1438 zugegen, als Alberti die griechische Gesandtschaft zu bewundernden Ausrufen hinriss, ob des optischen Effekts, der die Betrachter täuschte, so dass diese meinten, sie befänden sich in einer wirklichen Landschaft („veras ipsas res naturae“). Die Landschaft war nicht als Kunstwerk gemeint, sondern als Demonstrationsobjekt, mit dem sich die perspektivische 99 100
Fubini, Menci Gallorini drucken „imurmurantis“. „Autobiographie“, 77, Z. 10–21.
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Theorie, die Alberti in seinem Traktat De arte pingendi entworfen hatte,101 vorexerzieren ließ: Scripsit libellos De pictura. Tum et opera ex ipsa arte pingendi effecit inaudita et spectatoribus incredibilia, quae quidem parva in capsa conclusa pusillum per foramen ostenderet. Vidisses illic montes maximos vastasque provincias sinum immanem maris ambientes, tum e conspectu longe sepositas regiones, usque adeo remotissimas, ut visenti acies deficeret. Has res demonstrationes appellabat, et erant eiusmodi, ut periti imperitique non pictas sed veras ipsas res naturae intueri decertarent. Demonstrationum erant duo genera, unum quod diurnum, alterum quod nocturnum nuncuparet […].102
Eine äußerst wichtige Diskursverschiebung betrifft die Verortung von Albertis Künstlertum. Watkins hat festgestellt: „Burckhardt however, mainly by omission, transforms the Alberti of the Vita from a moralist into an aesthete“.103 Dem ist zuzustimmen. Dennoch ist die Diskursverlagerung, die Burckhardt angebracht hat, grundsätzlicher Art und geht weiter, als es einfache, geschickte Aussparungen zulassen würden. Nach Burckhardt betrifft das Künstlertum Albertis Wesen, aus dem alle seine übrigen intellektuellen und literarischen Leistungen abgeleitet werden können. Aus dieser kausalen Verortung konstruiert Burckhardt eine suggestiv präsentierte chronologische Abfolge von Albertis schriftstellerischer Tätigkeit: Nach der Skizzierung Albertis als eines romantisch angehauchten Landschaftsmalers fährt Burckhardt auf folgende Weise fort: Dazu kam die schriftstellerische Tätigkeit zunächst über die Kunst selber, Marksteine und Hauptzeugnisse für die Renaissance der Form, zumal der Architektur. Dann lateinische Prosadichtungen, Novellen und dergleichen, von welchen man einzelnes für antik gehalten hat, auch scherzhafte Tischreden, Elegien und Eklogen; ferner ein italienisches Werk „vom Hauswesen“ in vier Büchern, ja eine Leichenrede auf seinen Hund.104
Burckhardt konstituiert damit einen organischen Übergang vom Künstler zum Kunsttheoretiker und dann zum Schriftsteller. Diese Anordnung stimmt nicht mit der Chronologie von Albertis Schriften überein, die der Autor der Biographie richtig wiedergibt: zuerst die Komödie Philodoxeos fabula, dann die Abhandlung Von den Vor- und Nachteilen der geistigen Ausbildung, De commodis litterarum atque incommodis, weiter einige 101
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Watkins, „Alberti in the Mirror“, 20–21, zeigt richtig, dass es sich bei dem Guckkasten nicht um eine ‚camera obscura‘ handelt, sondern um ein perspektivisches Fluchtpunkt-Experiment. „Autobiographie“, 73, Z. 7–27. Watkins, „Alberti in the Mirror“, 17. Burckhardt, a.a.O.
Der Alberti-Biograph und Burckhardts uomo universale
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kleinere Werke (Ephebia, De religione, Deiphira), sodann Della Famiglia und die Tischgespräche, Intercoenales,105 und erst hinterher den Kunsttraktat über die Malerei, De pictura.106 Für Burckhardt ist die Zentralisierung (und Überbewertung) von Albertis Künstlertum ein wichtiges Diskurselement des Uomo-UniversaleKonzepts. Der Alberti-Biograph hat dem Künstlertum nicht diese zentrale Rolle zugeschrieben. Vielmehr stellt er die schriftstellerische und wissenschaftliche Tätigkeit in den Vordergrund. Er konstituiert Alberti als Literat und Wissenschaftler: „Als seine Reife anfing, stellte er alle übrigen Sachen hintan und widmete sich zur Gänze der Literatur und Wissenschaft“ („Cum per aetatem coepisset maturescere, ceteris omnibus rebus posthabitis sese totum dedicavit studiis litterarum“ [Kursivierung vom Verf. ]).107 Die Malerei und die übrigen bildenden Künste spielen dann vorläufig so gut wie keine Rolle. Später kommen sie auf, jedoch nur als Nebensache zur Literatur: Während Alberti seinen Vertrauten literarische Werke diktiert, malt er die Schreibenden zur Zerstreuung oder fertigt von ihnen ein Wachsmodell an. Entscheidend ist hier, dass die Malerei und die bildenden Künste nicht nur als Nebensache, sondern zudem als exzentrischer Zug dargestellt werden. Während es für Burckhardt um das Ideal des Renaissancemenschen schlechthin geht, präsentiert der Autor der Alberti-Biographie die bildende Kunst als Marotte, die in Diogenes’ Philosophendiskurs verortet ist. Es ist natürlich ziemlich ausgefallen, dass ein Schriftsteller, während er Werke diktiert, Wachsmodelle anfertigt. Ein wichtiger Bestandteil von Burckhardts Uomo-Universale-Diskurs ist endlich das Ideal des Willensmenschen: Der Mensch kann alles werden, wenn er nur will. Das Urbild des Willensmenschen hat Burckhardt ebenfalls im Alberti der Alberti-Biographie gefunden: Es versteht sich von selbst, dass eine höchst intensive Willenskraft diese ganze Persönlichkeit durchdrang und zusammenhielt; wie die Größten der Renaissance sagte auch er: „Die Menschen können von sich aus alles, sobald sie nur wollen“.108
Der Alberti-Biograph hat jedoch den Willen völlig anders verortet. Bei ihm bezieht sich der Willensakt nicht den Uomo-Universale-Diskurs, sondern auf ein philosophisches Exerzitium. Genauer geht es um die Selbstüberwindung des Philosophen, eine Übung, die sich in Diogenes’ Phi105 106 107 108
„Autobiographie“, 70, Z. 7–28. „Autobiographie“, 73, Z. 7. „Autobiographie“, 69, Z. 23–24. Burckhardt, a.a.O.
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losophenviten vielfach findet, unter anderen auch in der Sokrates-Vita: „Noch stört des Frostes Gewalt deine (Sokrates, Anm.) Laune noch quält dich die Sehnsucht nach einem Frühstück. Du verzichtest auf Wein und üppige Kost und auf andere nutzlose Dinge“.109 Das erklärte Ziel des Exerzitiums war die Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen. Alberti fürchtete, wie oben zu ersehen war, besonders die äußeren Einflüsse des Knoblauchs und des Honigs, da sie bei ihm einen furchtbaren Brechreiz hervorriefen. Alberti versuchte, seine Nahrungsmittelallergie durch Gewöhnung zu überwinden: Er überwand sich jedoch, indem er sich übte, diese unangenehmen Nahrungsmittel anzusehen und zu kosten. Auf diese Weise erreichte er, dass sie ihm nichts mehr anhaben konnten und er gab damit ein Vorbild, dass der Mensch in Bezug auf sich selbst alles kann, sofern er will. Vicit sese ipsum usu spectandi tractandique ingrata, quoad eo pervenit, ut minus offenderent, et exemplum praebuit posse homines de se omnia, ut velint.110
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich der Schluss, dass sich Burckhardts Uomo-Universale-Konzept nicht mit der Darstellung des Alberti-Biographen deckt. Die Vielseitigkeit verortet der Alberti-Biograph nicht in einem Uomo-Universale-Ideal, sondern im Philosophendiskurs des Diogenes. Die Vielseitigkeit wird in der Alberti-Biographie oftmals als Exzentrik gedeutet. Auch das berühmte Guckkastenexperiment ist in diesem Diskurs verankert. Durch die exzentrischen Züge konstituiert der Biograph Alberti als Philosophen.
8. Epilog. Die diskursive Verortung der Vielseitigkeit des Leon Battista Alberti in der Reihenbiographie des Bartolomeo Facio (1455/1456) Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts treten biographische Sammlungen auf, in welchen Humanisten die Leistungen der ‚Moderne‘ festschreiben. Leon Battista Alberti figuriert in diesen wichtigen Beiträgen zur Ruhmeskultur der frühen Neuzeit. Dies lässt die Frage zu, inwiefern die Vielseitigkeit, die schon der anonyme Alberti-Bewunderer Leon Battista 109
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Diogenes Laërtius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, II, 27, in der Übers. Apelts I, 74. „Autobiographie“, 77, Z. 4–6.
Die Vielseitigkeit in Facios Alberti-Biographie
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zugeschrieben hat, rezipiert worden ist und auf welche Weise sie verortet wurde. Schon in einer der ersten dieser Reihenbiographien, der des Neapolitaner Humanisten und Hofhistorikers König Alfons’ I. von Aragon, Bartolomeo Facios De viris illustribus (Berühmtheiten; 1455 und 1456 verfasst), tritt Alberti als eine der Geistesgrößen, die die moderne Kultur prägten, auf.111 Facio attestiert Albertis Vielseitigkeit, indem er bemerkt, dass dieser „nicht nur zur Rhetorik, sondern zu allen übrigen freien Künsten geboren schien“ („non eloquens modo, verum et ad omnes reliquas liberales artes natus videtur“) und dass er „der Rhetorik und Philosophie die Mathematik hinzugefügt“ habe („Eloquentiae ac Philosophiae Mathematicam addidit“).112 Bezeichnend ist zunächst, dass Facio – anders als Burckhardt – in dieses Vielseitigkeitsattest Albertis Leistung als bildender Künstler nicht einschloß. Das hat seinen Grund nicht darin, dass der Humanist Facio bildende Künstler von seiner Sammlung der Geistesgrößen hätte ausschließen wollen. Denn Facio räumt den Malern und Bildhauern der modernen Kultur eigene Sektionen ein („De pictoribus“, „De sculptoribus“), in denen er etwa Gentile da Fabriano, Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, Pisanello und Donatello behandelt.113 Vielmehr schreibt er der Verbindung von Literatur und Bildender Kunst keinen spezifischen Mehrwert zu. Er betrachtet derartiges offensichtlich als irrelevant. Die Vielseitigkeit verortet er im Bereich der Artes liberales, denen Malerei und Skulptur nicht zugehörten. Albertis Leistung in Bezug auf die Bildenden Künste beschränkt er auf den Bereich der Kunsttheorie (De pictura; De architectura). Die Kunsttheorie wiederum bildet kein eigenständiges Gebiet unter den Geisteswissenschaften. Facio verortet sie unter der „Mathematik“. Fällt Albertis Vielseitigkeit also unter die Mathematik? Interessanterweise ist die Mathematik nicht der Ort, den Facio Alberti in seiner Biographien-Sammlung zuteilt, sondern die Rhetorik: Die Alberti-Biographie ist die neunte Lebensbeschreibung im Abschnitt „Von den Rednern“ („De oratoribus“).114 Diese Verortung beruht 111
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Bartholomaeus Facius, De viris illustribus, ed. L. Mehus, Florenz, P. Giovanelli, 1745, S. 13. Für Bartolomeo Facio (um 1404–1457) s. P. Viti, Art. „Facio, Bartolomeo“, in: DBI 44 (1994), 113–121. Als Hofhistoriker verfasste Facio die Geschichte der Regierung Alfons’ I. von Aragon (De rebus gestis ab Alphonso primo Neapolitanorum rege, Lyon 1560). Facio, De viris illustribus, S. 13. Mehus druckt hier „Mathematicas“. Ebd., S. 43–51. Der Abschnitt „De oratoribus“ ebd., S. 7–28.
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uomo universale: Albertis „Autobiographie“
nicht auf einem mehr oder weniger zufälligen Irrtum Facios, sondern weist auf ein wirkungskräftiges Konzept hin, das auf Ciceros rhetorische Schriften zurückgeht. Cicero hat besonders in seinem Traktat De oratore die Redekunst als die vielseitigste Geisteswissenschaft festgeschrieben, welche im Grunde alle Künste und Wissenschaften, die ein „freier Mann“ betreiben darf, umfasst. In diesem Sinn darf ein Redner als uomo universale gelten.115 Interessanterweise war es Facio dennoch nicht wohl bei dieser Zuordnung, wenn es um Alberti ging, und das führt uns zur Ansiedlung der Vielseitigkeit im Bereich der Philosophie, die der unbekannte AlbertiBiograph vorgenommen hat, zurück. Offensichtlich bereitete es Facio Schwierigkeiten, die Eloquenz als Albertis hervorragendste Leistung zu bezeichnen. Deshalb schließt er mit dem Satz: „Dennoch muss man ihn eher den Philosophen als den Rednern zuzählen“ („Inter Philosophos tamen magis quam inter Oratores numerandus“).116 Damit ordnet er Albertis Vielseitigkeit letztlich der Philosophie zu, genau so wie dies in der Lebensbeschreibung von 1438 der Fall ist, die Leon Battista den Mantel eines antiken Philosophen nach dem Vorbild des Diogenes Laërtius übergeworfen hatte. Auch Facio (er)fand Alberti als Philosophen.
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Man vergleiche hierzu Paolo Giovio, der in seiner zuerst 1556 erschienen Reihenbiographie Elogia virorum literis illustrium, quotquot vel nostra vel avorum memoria vixere Albertis Vielseitigkeit gänzlich unter der Rhetorik verortet. Ich benutzte die illustrierte Ausgabe Basel, Petrus Perna, 1577, S. 63–64. Facio, De viris illustribus, S. 13.
Loblied auf die Mobilität des Sozialaufsteigers
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VIII. Seiltanz zwischen Ovid-Legitimierung und Ovid-Contrafakturierung: Giannantonio Campanos erste Autobiographie (1455/56) 1. Einleitung. Ein Loblied auf die Mobilität des sozialen Aufsteigers „Was kann meinen Werken, meinen Epigrammen noch zustoßen? / Den ganzen Campano hält der Herzog Federico in Händen“. Diese Mischung aus Jubelruf und Seufzer der Erleichterung stößt der Humanist und Dichter Giannantonio Campano in einem an Federico II. da Montefeltro, den Herzog von Urbino, gerichteten Dankepigramm aus.1 Federico machte mit dem Fürstenspiegelideal des Herrschers als Förderer der Wissenschaften, Künste und Literatur Ernst, besonders, als er im Jahre 1465 den Entschluss fasste, eine herrliche Bibliothek zu errichten, in der er die Ansprüche der humanistischen Gelehrsamkeit voll zur Geltung kommen liess. In dem Epigramm dankte Campano dem Herzog für ein Publikationsprojekt, das dieser in Auftrag gegeben hatte: eine Ausgabe seiner Gesammelten Werke zu erstellen. Das Projekt war für für den Dichter überaus prestigeträchtig: Campano sollte einen Platz unter den herrlichen Geistesgrößen erhalten, die der Herzog in seinem Palast in Urbino sammelte, seine Werke sollten neben jenen Ciceros, Augustins, Vergils, Petrarcas und anderer anerkannter Humanisten, wie seines Förderers Pius II., stehen. Federico da Montefeltro sparte an nichts. Campano sollte eine Prachtausgabe erhalten: Das teuerste Material (Pergament) wurde verwendet und das prunkvolle Folioformat gewählt; Federicos geübte Schreiber machten sich ans Werk, und die Werke wurden großzügig illuminiert. Auf diese Weise entstanden vier herrliche Handschriften, die sich heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana be-
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In der Handschrift Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. Lat. 338, f. 229v.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie
finden: Urb. Lat. 324, 325, 236 und 338. Die Handschrift Urb. Lat. 338, welche von einem eindrucksvollen Porträt des Autors eingeleitet wird (f. 2r), überliefert unter den Elegien und Epigrammen eine Autobiographie des Campano (f. 109v–110v):2
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Interessierst du dich für Campano, lernbegierige Jugend, Und willst wissen, wer ich war, wie mein Leben verlief, Lies meine Worte. Nicht hätt’ ich dir mit einem anderen Zeugen Mein Leben vertrauenswürdiger empfehlen können: Also will Zeuge und Täter ich zugleich sein. Interessierst du dich aber nicht für mich, ist dir das hier gleichgültig, So möge die Nachwelt den Lauf meines Lebens vernehmen. Also rede ich zu den noch nicht geborenen Kindern, zu künft’gem Geschlecht Und, noch zu Lebzeiten, zu meiner Nachwelt: Mich erzeugte das milde Kampanien unter lieblichem Himmel, Kaum drei Meilen entfernt vom Lirifluß. Galluccio ist das Gebiet meiner Väter, auf dem Land in Cavellae mein Zuhause. Mitnichten schäme ich mich, an einem unbedeutenden Ort geboren zu sein, Aus einem kleinen Reis wächst empor die Pinie, die in den Himmel Ragt hinein, aus einem kleinen Reis Jupiters Baum. Ebenso strömt, aus einer winzigen Quelle entsprungen, der Tiber breit durch Die Saturnischen Fluren mit ungeheuren Wassermassen. Meine Mutter hieß Giovanna3, aber sie wurde mir in frühester Kindheit, Als ich noch kaum imstande war sie zu erkennen, entrissen. Ach liebe Mutter, nur Mühe und Plage hattest du an mir! Keine Annehmlichkeit, die dir zuteil werden hätte sollen, hab ich dir gebracht. Puccio jedoch, mein Vater, fügte seinem Leben noch zwei mal zwei Lustren und ebenso viele Jahre hinzu. Dreimal übergab der Vater dem Knaben die Herden – Aber alles nimmt den Lauf, den das Schicksal bestimmt. Dreimal mahnte mich der Oheim väterlicherseits, dreimal der geliebte Oheim Mütterlicherseits, höher hinaus zu streben und Herden und Äcker zu lassen.
Vgl. K. A. E. Enenkel, „Rätsel eines unvollendeten Gedichtes: Giannantonio Campanos ‚autobiographisches Fragment‘ in Urb. Lat. 338“, in: F. Forner, C. M. Monti, P. G. Schmidt (Hrsg.), Margarita amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili, Mailand 2005 (Biblioteca erudita. Studi e documenti di storia e filologia 26), Bd. I, 233–254. Nicht Gioviniana, wie Di Bernardo angibt (F. Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia. Giannantonio Campano (1429–1477 ), Rom 1975, 25).
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Da sagten mir Phoebus und Pallas, die meinen Neigungen günstig gesinnt waren: „Auf des Pindos Hängen4 und Cyrras wirst Hirte du sein“. Die ersten Schritte der Kunst lehrte mich das obstreiche Suessa5, Suessa war für meinen Rennwagen die erste Bahn. Das quellenreiche und fürs Olivenöl berühmte Venafrum, Schenkte meinem Geist die Erstlingsgaben der Pallas. Daraufhin wurde die Nachkommenschaft der Pandoni anvertraut meiner Fürsorge, Und ich wurde bekannt durch dieser Familie Ruhm. Das erste Jahr verbrachten wir in Neapel, das zweite in Prata, Das dritte in Capua, das vierte zu Hause in Venafrum. Wie ein Vogel, der seine Flügel zum ersten Mal gebraucht, wenn er sie ein Wenig ausprobiert hat, eine größere Strecke sich zu fliegen getraut, Verließ Ausonien ich, zog links an Frosinone vorbei, erpicht, Die Hernischen6 Felsen zu überschreiten mit begierigem Fuß. Als ich in Gabii Rom erblickte mit seinen weithin sich erstreckenden Dächern, Grüßte die Götter ich, die beherbergt die Stadt. An den stolzen Tempeln weidete sich mein Auge, an den Tempeln, die ganz Latium überragen und es mit ihrem Jupiter aufnehmen können. Da kniete ich zehn Mal nieder vor den Manen und Schatten und heiligen Namen der Quiriten und betete sie an. Dennoch betrat ich die Stadt nicht; ich halte den Weg rechts entlang der Stadt Und gehe nach Tibur, überquere den Tiber und betrete der Tusker Gebiet. Ich überschreite den Cremera-Bach7 und überwinde, wie sich’s gehört, Sutris8 Mauern,
Bezeichnung für den mittleren Teil der Gebirgsmauer, die Nord- und Mittelgriechenland in mehreren Bergketten von meist über 2000 m Höhe durchzieht. Heute Sessa Aurunca, ein Städtchen ca. 50 km nördlich von Neapel. Die Hernier („Hernici“) stellen ein samnitisches Volk im mittleren Latium dar, dessen Name sich von dem sabinischen oder marsischen Wort „herna“ = Fels herleitet. Das Gebiet der Hernier erstreckte sich auf die Städte Alatrium, Feretinum, Verulae, Anagnia und Capitulum. Die Wortkombination von „Hernica“ und „saxa“ stellt ein gelehrt-antiquarisches, etymologisches Wortspiel dar („herna“ = „saxum“), das Campano von Vergil übernommen hat. Vgl. Vergil, Aeneis VII, 684 „viri qui […] roscida ruris/ Hernica saxa colunt“. Bach, der von Baccano her an Veii vorbeifließt und ca. 12 km nördlich von Rom in den Tiber mündet. In der Literatur der Antike bekannt im Zusammenhang mit dem Tod der dreihundertsechs Fabier (vgl. Livius, Ab urbe condita II, 49 f.; Ovid, Fasti II, 205 f.). Sutri, ca. 10 km nördlich des Lago Bracciano.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie Welche ja ehemals an ein und demselben Tag zweimal eingenommen worden sind.9 Dort wo die gläsern glitzernden und kalten Wasser die Nymphe Viterbos Mischt mit den warmen Schwefelwässern, überwinde Ich Bacchus’ heiligen Berg10, die Weingärten Faleriis11, Die Stadt Bolsena und den See von Bolsena und Acquapendentes runde Mauern und überschreite deine Grenzen, Kultivierte Toscana, die nie zuvor ich noch hatte gesehen. Dann ziehe ich entlang am Fuß eines hohen Berges, Wo der Mons Ammiata seinen rundlichen Rücken emporragen läßt. Ich besteige den Berg, von dessen Spitze ich in der Ferne erblicke In der Dämmerung das glückliche Siena. Si tibi Campani cura est, studiosa iuventus12, Scireque quis fuerim, quae mea vita cupis, Me lege. Non alio poteram tibi teste probari Certius, ipse simul testis et autor13 ero. Si non sum curae nec te presentia tangunt, Accipiat cursus postera turba meos. Haec ego cum non dum natis et gente futura14 Cumque mea vivens posteritate loquar: Me placido genuit mitis Campania celo,
Vgl. Livius, Ab Urbe condita VI, 3, 1–6. U hat in Zeile 50 „quendia“, das aufgrund der Livius-Stelle zu „quondam“ verbessert werden kann (Liv., a.a.O.: „Iterum igitur eodem die Sutrinum capitur“). Für diesen Hinweis gilt mein Dank Stephan Busch. Heute Montefiascone, am Lago di Bolsena. Stadt in Latium, heute Cività Castellana. Hier muss jedoch eine Verwechslung vorliegen, denn Campano kann sich an diesem Punkt der Reise unmöglich in Cività Castellana befunden haben. Er war nämlich bereits am Fuß des Monte Fiascone angekommen und reiste von dort nach Bolsena und Acquapendente weiter. Mit „vineta Falisci“ meinte Campano vermutlich die Weinhänge am Lago di Bolsena neben dem Monte Fiascone. Der Text dieser Autobiographie befindet sich in der Handschrift mit den Gesammelten Gedichten Campanos, die Frederico da Montefeltro in Auftrag gegeben hat, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. Lat. 338, f. 209v–210r. Im Druck veröffentlichte ihn zum ersten Mal Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 413–414. Da sich in dieser Textausgabe eine Reihe von Irrtümern befindet, musste der Text neu herausgegeben werden. Zum Beispiel hat Di Bernardo den Namen von Campanos Mutter falsch wiedergegeben (Ioviniana), während diese Form nicht ins Metrum passt und die Handschrift den richtigen Namen (Ioviana) überliefert. Vgl. die Arbeit des Verf. „Rätsel eines unvollendeten Gedichtes“, 234–236. Die Orthographie wird hier nicht, wie bei Di Bernardo, willkürlich in eine klassizistische transformiert, sondern folgt der Handschrift Urb. Lat. 338. Für die Handschrift wird die Sigle U verwendet. autor U: au!c"tor Di Bernardo U hat hier die falsche Lesart ‚futuram‘ (von Di Bernardo nicht registriert).
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Milibus a Lyri vix procul amne15 tribus: Gallutium patria est, domus est, mea rura, Cavelle. Nec parvo natum me pudet esse loco: Exiguos ortus !actaeque"16 ad sidera pinus, Exiguos ortus et Iovis arbor habet. Sic modico de fonte cadens Saturnia late Arva per effusas Tibris inundat aquas. Mater erat Ioviana17, sed hec puerilibus annis, Cum bene vix possem noscere, adempta mihi est. Cara parens, solos potui tibi ferre labores, Quae caperes de me, commoda nulla18 tuli. Putius at genitor spatiis maioribus annos Addiderat lustris bis totidemque duos. Ter pater ipse greges puero19 commisit agendos – sed fato currunt omnia stantque suo – Ter maior patruus, ter carus avunculus ire Altius atque greges linquere et arva iubent. Tum Phebus20 studiisque favens Tritonia nostris: Pindi, ait, et Cyrre21 per iuga pastor eris. Edocuit primas artis pomosa Suessa22, Curribus illa23 meis area prima fuit, Fontibus exundans24 oleoque25 insigne Venafrum
anne U, Di Bernardo. In U wurde hier Platz für ein Wort freigelassen, das in der Vorlage von U fehlte oder der Kopist nicht lesen konnte. Di Bernardo füllte die Stelle mit der Konjektur !elatas". Diese Konjektur überzeugt nicht. Zu lesen ist: !actaeque". In der Verszeile befindet sich ein Zitat aus Vergil: Z. 13: „ad sidera pinus“ = Aeneis XI, 136 „actas ad sidera pinus“. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das fehlende Wort im Text Campanos ebenfalls „actae“ war. Zur Vermeidung des Hiats ist „que“ hinzuzufügen. Ioviana U: Ioviniana Di Bernardo. nulla Enenkel: mille U. Die Lesart „mille“ ist unmöglich, weil sie dem Sinn des Satzes diametral zuwiderläuft. Campano bedauert, dass er der Mutter keinen Vorteil gebracht hat. Wenn er ihr „tausend Vorteile“ gebracht hätte, gäbe es nichts zu bedauern. pueros U, von Di Bernardo richtig zu „puero“ korrigiert. Phebus U: Phoebus Di Bernardo. Cyrre Enenkel: Cyere U: Cyrr!ha"e Di Bernardo Suesse U. Von Di Bernardo richtig zu „Suessa“ korrigiert. ille U. Von Di Bernardo richtig zu „illa“ korrigiert. exundas U. Von Di Bernardo richtig zu „exundans“ korrigiert. Oleumque U. Hier ist wohl besser „oleoque“ zu lesen (Ablativ abhängig von „insigne“). Venafrum war in der antiken lateinischen Literatur für sein Olivenöl berühmt, s. z. B. Martial, Epigrammata XII, 63, 1; XIII, 101 (Titel „Oleum Venafrum“); Horaz, Sermones II, 4, 69; 8, 45–46; Carmina II, 6, 15–16. Den Hinweis für die Textkorrektur verdanke ich Stephan Busch.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie Palladia ingenio munera prima dedit. Hinc commissa meae proles Pandonia26 cura!e"27 est28, Et cepi29 illustri cognitus esse domo. Altera Partenope transacta est, altera Prate30 Estas, tum Capuae31 tertia, quarta domi. Ut volucris primas ales ubi concutit alas, Cum breve tentavit, grandius audet iter, Ausonia egressus, leva Frusinone32 relicto, Hernica percupido transeo saxa pede. Ut Romam Gabiis lateque patentia vidi Tecta, salutavi quos habet illa deos. Implevere oculos Latio surgentia toto, Vix cessura suo templa superba Iovi; Tum manes umbrasque et nomina sancta Quiritum Sufflexo decies curvus adoro pede. Nec tamen ingredior, dextra peto Tibur, et amne33 Traiecto Tiberi, Tusca per arva feror. Pretereo34 Cremeram Sutrinaque menia reddo, Una bis quondam35 menia capta die. Hinc qua Nimpha manu gelidis Viturvia caldas Et vitreis tinctas sulfure miscet aquas Et sacrum Bacho montem, vineta Falisci36, Vulsiniumque urbem Vulsiniumque lacum Et Pendentis Aque penetro cava menia, nunquam Visa prius finis, Tuscia culta, tuos. Hinc procul excelsi radicem transeo montis Qua teres ostendit37 mons Amiata iugum.
Pandonia Enenkel: Pannonia U, Di Bernardo. Campano war im Dienst der Familie Pandoni, nicht „Pannoni“. cura U. Von Di Bernardo richtig zu „curae“ ergänzt. In U steht zweifelsfrei „est“, mit dem gebräuchlichen Kürzelzeichen über dem „e“. Deswegen kann man annehmen, dass Campanos Text wie folgt zu lesen ist: „cura!e" est“. Dem Kopisten wäre in diesem Fall eine Haplographie passiert. Man kann jedoch nicht ganz ausschliessen, dass der Abkürzungsstrich ein Fehler ist. In diesem Fall würde der Text lauten: „curae“. cepi U: coepi Di Bernardo. Prate U: Prat!a"e Di Bernardo. Capuae U: Capu!a"e Di Bernardo. U hat hier richtig „Frusinone“. Di Bernardo gibt zu Unrecht an, dass U „Frusoinone“ lese. Das überflüssige „o“ wurde expungiert. amne Enenkel: anne U, Di Bernardo. pretereo Enenkel: pretero U, Di Bernardo. quendia U. Kann aufgrund von Livius, Ab Urbe condita VI, 3, 1–6 zu „quondam“ korrigiert werden. Vgl. oben Anm. 9. „Falisci“ verdient wohl den Vorzug. U hat jedoch „Falisti“. obstendit U.
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Conscendo montem cuius de vertice letas Hinc38 procul ambiguo lumine cerno Senas.
Diese Autobiographie weist Elemente auf, die den modernen Leser auf den ersten Blick ansprechen: Zunächst die Tatsache, dass der Autor seiner Kindheit und frühen Jugend offensichtlich große Bedeutung zuschreibt. Das kommt der Lesehaltung, mit der zeitgenössische Leser vielfach an Biographien und Autobiographien herangehen, entgegen. Dieser Lesehaltung liegt die Annahme zugrunde, dass man aus der Kindheit Wesentliches über eine Person erfahren könne, eine Annahme, die von Einsichten der Entwicklungs- und Sozialpsychologie des 20 Jh. sowie der Psychoanalyse gespeist wird, welche aufzeigen, dass die Persönlichkeit eines Menschen in ihren Hauptzügen in der Kindheit gebildet wird.39 Nach psychoanalytischen Autobiographie-Interpretationen unterliegt das autobiographische Ich psychischen Zwängen, die beim autobiographischen Schreiben gewissermaßen unwillkürlich hervortreten.40 Es scheint, dass auch Campano einem solchen Zwang erliegt: Offenbar wurde seine Persönlichkeit von einem schwerwiegenden Ereignis, das in seiner frühen Kindheit stattfand, geprägt – dem Verlust der Mutter, noch vor dem Einsetzen des bewussten Gedächtnisses mit zweieinhalb bis drei Jahren. Traumatisierung durch Mutterverlust scheint die Folge zu sein. Der Tatbestand erfüllt den erwachsenen Campano mit tiefer Trauer und einer Art Schuldgefühl. Weiter wirkt ansprechend, dass der Autor seinen Weg nach oben aufzeichnet: Dieser Mann kam aus den niedrigsten Sozialregionen, er war der Sohn eines ganz armen süditalienischen Bauern. In seiner Kindheit machte er sich als Ziegenhirt nützlich. Vom Ziegenhirten brachte er es – in der Periode, welche die Autobiographie beschreibt – zum Intellektuellen, Prinzenerzieher, Dichter und Universitätsprofessor (später sollte er es noch zum Hofbiographen, Hofdichter, Priester und Bischof bringen). Campano erscheint damit als frühneuzeitliche Vorwegnahme des westlichen Mythos vom Self-Made-Man.
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hinc Di Bernardo: hic U. Vgl. J. Cremerius, W. Mauser, C. Pietzcker, F. Wyatt (Hrsg.), Über sich selber reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens, Würzburg 1992; S. Goldmann, „Leitgedanken zur psychoanalytischen Hermeutik autobiographischer Texte“, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 23 (1988), 242–260; C. Pietzcker, „Die Autobiographie aus psychoanalytischer Sicht“, in: Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien, 15–27. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 32–39, bsd. 32–33.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie
Ein weiteres Moment des Erkennens reicht die Betonung der Mobilität, das Reisen, dar. Campanos Lebenslauf erscheint damit als Manifestation einer stets wachsenden, im letzten Abschnitt sich geradezu explosionsartig steigernden Mobilität. Der Knabe verlässt das Dorf seines Vaters, ‚erobert‘ sich kampanische Kleinstädte; die ‚Eroberungen‘ werden stets größer: Capua und Neapel folgen (Z. 35–36). Dann hält es ihn nicht mehr in Kampanien. Campano muss ausschwärmen. Der Rest der Autobiographie ist gänzlich der Beschreibung dieser Reise gewidmet. Bei aller Lesefreude, die die Reiselust Campanos dem modernen Leser beschert, verwundert allerdings, dass das Reiseziel nicht genannt wird, sowie, dass Campano in der Autobiographie dort nicht ankommt. Der Text endet damit, dass der Autobiograph einen Berg besteigt und in der Dämmerung das in der Ferne liegende Siena erblickt. Obwohl das prächtige Bild vom Fernblick auf Siena, noch dazu in diffusem Licht, sich aufdrängt wie eine ‚poetische‘ Ansichtskarte mit einer toskanischen Landschaft, ergibt sich die Frage, wie sich das als Abschluss einer Autobiographie verstehen lässt. Der Text läuft damit auf ein Rätsel hinaus: Wo befindet sich Campano zum Zeitpunkt der Abfassung? Hat er die Stadt, die er aus der Ferne erblickte, erreicht? Schreibt er den Text dort, oder ist er weitergezogen? Wie soll man den Text interpretieren? Wenn man den Geheimnissen von Campanos Autobiographie auf die Spur kommen will, ist es zunächst erforderlich, von den verlockenden Erkenntnismomenten, die der Text zu suggerieren scheint, zu abstrahieren. In welchem Diskursrahmen würde ein frühneuzeitlicher, humanistischer Leser diesen Text rezipiert haben? Die Anfangszeilen lenken die Aufmerksamkeit des frühneuzeitlichen Lesers sogleich auf Ovids Autobiographie, Trauergedicht IV, 10 (Z. 1 „studiosa iuventus“ und Z. 2 „scire quis fuerim […] cupis“). Besonders die zweite Zeile ist so angelegt, dass sie den Text zwingend im Diskursrahmen von Ovids Autobiographie verortet. Diese Verortung wird bei einer fortgesetzten Lektüre bestätigt. In Z. 6 und 8 begegnet er der „Nachwelt“ („posteritas“), an die sich Ovid richtet usw.41
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Zum Beispiel läßt Campanos „Gallutium patria est“ („Galluccio heißt meine Vaterstadt“) Ovids „Sulmo mihi patria est“ („Sulmo heißt meine Vaterstadt“) anklingen. Eine weitere intertextuelle Anbindung ergibt sich bei der poetischen Rechensumme, mit der Campano das Alter des Vaters ausdrückt – „Puccio jedoch, mein Vater, fügte seinem Leben noch zweimal zwei Lustren und eben so viele Jahre hinzu“ (2 mal 2 mal 5 plus 2 mal 2 = 24 Jahre). Sie verweist auf Ovids Formulie-
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Die Verortung im Oviddiskurs, die durch mehrfache intertextuelle Anbindung abgesichert wird, steuert nunmehr die Interpretation des Lesers: Er versteht den Text als Dichterautobiographie, die der an die Nachwelt gerichteten Selbstverewigung dienen soll. Ein wichtiges Diskursmerkmal ist die, was den Dichterstatus angeht, durchaus selbstbewusste Haltung des Autors: Schon die Tatsache, dass sich der Autor an die Nachwelt richtet, impliziert, dass er sich als Schriftsteller künftigen Ruhm ausrechnet. Die Diskursverortung bedeutet in Bezug auf Campanos Autobiographie, dass sich ein lateinischer Dichter zu Wort meldet, der davon ausgeht, dass sein Werk die Zeiten überdauern wird. Die Ausrichtung auf den literarischen Ruhm bildet für den humanistischen Leser ein nachhaltiges Moment des Erkennens. Diese Hoffnung zählt zu den Kerngedanken, die die humanistische Identität mitbestimmten. Weiter bewirkt die Verortung im Diskurs von Ovids Autobiographie, dass der frühneuzeitliche humanistische Leser erwartet, dass der Autor sein Leben auf ‚elegische‘ Weise darstellen wird, ähnlich wie dies Ovid getan hat. Das impliziert unter anderem, dass der Diskurs von persönlichen Gefühlen und Erfahrungen geprägt wird, besonders von Gefühlen der Trauer, der Verzweiflung, des Versagens. Ovid hat sein Leben als eine Abfolge misslungener Vorhaben und herber Schicksalsschläge konstituiert.42 Der frühneuzeitliche Leser erwartet von Campano Ähnliches zu vernehmen. Der erste Abschnitt des Textes bis Z. 28 läuft dieser Leseerwartung nicht zuwider. Campano vermeldet die widrigen Umstände seiner Kindheit, trauert über den frühen Tod seiner Mutter und berichtet von einem Konflikt mit seinem Vater. Bei fortschreitender Lektüre bemerkt der Leser allerdings zu seiner Überraschung, dass sich der Trauerdiskurs der Ovidischen Autobiographie ins Gegenteil verkehrt. Campano beklagt nicht sein Leben, sondern konstituiert es vielmehr in einer positiven Aufbruchsstimmung. Diese Gegensätzlichkeit beschäftigt nunmehr den Interpretationsgeist des frühneuzeitlichen Lesers. Er versucht dahinterzukommen, was der Autobiograph mit dieser Diskursinversion bezweckt.
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rung des Alters des Vaters: „mein Vater […] hatte den neun Lustren neun weitere hinzugefügt“ (= der Vater starb im Alter von 9 mal 5 plus 9 mal 5 = 90 Jahren). Vgl. K. A. E. Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10: Rhetorische Strategien und Interpretation“, in: A. P. Orban – M. G. M. van der Poel (Hrsg.), Ad Litteras. Latin Studies in Honour of J. H. Brouwers, Nimwegen 2001, 113–130, mit weiterführender Literatur.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie
Die Offenherzigkeit, mit der Campano die ärmlichen Verhältnisse eingesteht, aus denen er stammt, rufen ebenfalls diskursive Friktionen auf. Diese sind nicht nur auf Ovids autobiographisch festgelegte Sozialverankerung zurückzuführen, sondern gehen auf die Topik der rhetorischen Personendarstellung zurück. Nach diesen Diskursvorgaben empfehlen sich explizite Angaben, wenn die dargestellte Person aus gutem Hause stammt, jedoch Verschweigen oder Verschleierungstechniken, wenn die Person in den niedrigsten Sozialregionen geboren wurde. Campanos explizite Klarheit befremdet demnach, wobei die Diskursfriktion noch dadurch verstärkt wird, dass der Autobiograph behauptet, auf seine bäurische Herkunft stolz zu sein. Humanisten halten es sich normalerweise nicht zugute, als Viehhirten gedient zu haben. Es musste dem frühneuzeitlichen Leser fragwürdig erscheinen, ob Campano hier den richtigen Ton getroffen hat. Das gilt, wenngleich in anderer Hinsicht, auch für die Selbstdarstellung als kleines Reis, aus dem eine Pinie emporwächst. Campano behauptet hier nichts weniger, als dass er eine Pinie sei, die seine Zeitgenossen überrage. Dieses Bild, das überheblich und naiv zugleich wirkt, scheint den Diskursvorgaben der frühneuzeitlichen Autobiographik nicht richtig zu entsprechen. Der Pinien-Anspruch wirkt umso unerträglicher, als er durch keine nachweisbare Leistung gerechtfertigt wird. Aus der Autobiographie selbst geht nicht hervor, dass Campano in seinem Leben irgendetwas Hervorragendes erreicht hat: Von großen Taten redet er nicht, und er führt keine literarischen Werke auf. Die sich daraus ergebende Diskursfriktion irritiert und beschäftigt die Phantasie des frühneuzeitlichen Lesers, der dahinterzukommen versucht, aufgrund welcher Tatsache sich der Autobiograph anmaßt, als überragende Pinie zu gelten. Der längste Textteil, die Reise in den Norden, lässt sich nicht leicht mit dem Pinienanspruch reimen, wobei der befremdliche Eindruck durch die Tatsache verstärkt wird, dass das Ziel und der Zweck der Reise unklar bleibt. Das Ende des Textes ist alles andere als schlüssig. Ein Ausblick auf eine Stadt in der Dämmerung kann in keinem Fall einen passenden Schluss für eine (Auto)biographie abgeben. Der frühneuzeitliche Leser kann daraus nur ableiten, dass der Text vermutlich unvollendet ist. Das merkwürdige Ergebnis dieser Sondierung ist, dass der Text dem frühneuzeitlichen, humanistischen Leser noch mehr Interpretationsrätsel aufgibt als dem modernen.
Vom Hirten zum Hofdichter: Campanos Lebenslauf
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2. Vom Hirten zum Hofdichter: Giannantonio Campanos Lebenslauf bis zum Jahr 1457 Die wichtigsten Daten zu Campanos Kindheit schienen bereits in dem oben abgedruckten autobiographischen Fragment auf. Campano ist in dem Bauerndörfchen Cavelle di Gallucio, in Kampanien, ca. 60 km nördlich von Neapel, geboren. Für seinen Vater, Puccio de’ Teolis (Putius), einen Bauern, war es nach dem Verlust seiner Frau äußerst schwierig, seine noch sehr jungen Kinder aufzuziehen und zu betreuen. Nach Campanos Biograph Di Bernardo gab es fünf Brüder (germani und fratres). Sobald es irgend möglich war, mussten die Kinder bei der Landarbeit mithelfen. Allerdings hatte Campano insofern Glück, als sein Onkel väterlicherseits, ein Kleriker, seine geistige Begabung erkannte und ihn in seinem Hause in Sessa Aurunca aufnahm, um ihm eine entsprechende Grundschulung zu vermitteln. Bei ihm verweilte Campano vom achten bis zum achtzehnten Lebensjahr (1437–1447). Auch sein Onkel mütterlicherseits, Antonio, ebenfalls ein Kleriker, half mit. Er vermittelte Campano den Kontakt zu den Stadtherren von Venafro, der Familie Pandoni. Die Pandoni nahmen Campano in ihren Haushalt auf und übertrugen ihm die Ausbildung ihres Stammhalters Carlo. In den folgenden Jahren begleitete Campano die Familie Pandoni, die sich in verschiedenen Städten des Königreichs Neapel aufhielt: 1447 und 1448 in Venafro, 1448 in Neapel, 1449 in Prata Sannita, 1450 in Capua, nachher wieder in Venafro. Für seine Ausbildung war wohl der Aufenthalt in Neapel besonders fruchtbar. Neben seiner Tätigkeit als Erzieher besuchte er Lehrveranstaltungen von Universitätsprofessoren, die Alfons I. von Aragon nach Neapel geholt hatte. U.a. hörte er die Vorträge des Nicola Rainaldi da Sulmona, des Leibarztes des Königs, der an der Universität Philosophie dozierte. Jedoch war der Aufenthalt in Neapel viel zu kurz, als dass er Campano eine gründliche höhere Bildung hätte vermitteln können. Der Dienst im Hause Pandoni war diesem Ziel wenig zuträglich, weil sich die Familie meist an Orten aufhielt, an denen es keine höhere Bildungsanstalt gab. Campano wollte aber höher hinaus, ein Universitätsstudium abschließen. Im Sommer 1452 verließ er die Pandoni und brach nach Siena auf, um sich an der dortigen Universität Jura zu studieren. Allerdings erwischte er für die Reise einen ungünstigen Zeitpunkt: Die schwelende Auseinandersetzung des Königreichs Neapel mit den Florentinern eskalierte im Frühsommer des Jahres 1452 in offene Kampfhandlungen. Neapolitaner Truppen besetzten Umbrien und die südliche Toskana, die Florentiner antworteten mit einem Guerilla-Krieg. Im Val d’Orcia wurde Campano von toskanischen Söldnern überfallen, seines Pferds, seiner Besitzungen und Kleider beraubt. Halbnackt schleppte er sich nach Perugia, in das Gebiet, das von den Truppen des Königreichs besetzt war. Eine Weiterreise nach Siena war unter diesen Umständen ausgeschlossen. Siena lag im Grundgebiet der Florentiner und Campano war als Untertan des Königreichs Neapel vogelfrei. Vieles sprach dafür, einfach in Perugia zu bleiben: Auch dort gab es eine Universität, noch dazu eine, die sich gerade in dieser Zeit gut entwickelte. Zum Beispiel lehrte dort seit kurzem Nicola Rainaldi, den Campano noch von der Universität Neapel her kannte. Campano studierte an der Universität von Perugia in den Jahren 1452 bis 1455 Literatur, Philosophie und Eloquenz. Der Professor der Philosophie war Francesco della Rovere, der spätere Papst Sixtus IV.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie
Campano machte Karriere an der Universität von Perugia: 1455 wurde er zum Professor für Eloquenz ernannt. Daneben stand er in enger Beziehung mit den Baglioni, einer führenden Adelsfamilie Perugias. Für Pandolfo Baglioni verfaßte er den Traktat De ingratitudine, Über die Undankbarkeit, drei Unterredungen zwischen ihm und seinem Lehrmeister Nicola Rainaldi da Sulmona. Ein sehr anspruchsvolles Werk stellt die Biographie des Condottiere Braccio da Montone dar, für die Campano eine Reise unternahm, um Quellen und Dokumente aufzuspüren. Anlässlich des Todes des Nello Baglioni hielt Campano eine Leichenrede auf Lateinisch, die großen Eindruck machte. Als im selben Jahr (1457) die Pest Perugia heimsuchte, hielt sich Campano längere Zeit am Lago Trasimeno auf, wo er den geographischen Traktat Beschreibung des Lago Trasimeno verfasste. Kurz nach seiner Rückkehr traf Papst Pius II. in Perugia ein. Campano schloss sich dem Zug des Papstes an.43 Seitdem hielt er sich im Dunstkreis der Römischen Kurie auf, an der er Förderer und Auftraggeber fand. Über weite Strecken seines Lebens, dessen gesellschaftlicher Aufstieg in der Ernennung zum Bischof gipfelte, hielt er sich in Rom oder an seinem Bischofssitz Teramo auf.
3. Abfassungsdatum und literarischer Kontext des autobiographischen Fragments Bei einer Analyse des Verhältnisses von Erzählzeit zu erzählter Zeit fällt auf, dass die Beschreibung der Reise aus Kampanien in die Toskana, die im ganzen höchstens zwei Wochen gedauert haben kann, mehr Erzählzeit erhält als Campanos gesamtes Leben bis zu diesem Zeitpunkt (1429–1452).44 Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass die Reise für die autobiographische Situation, in der sich Campano zum Zeitpunkt der Abfassung befand, sehr wichtig gewesen sein muss. Dies trifft nur auf Campanos Perugia-Aufenthalt (1452–1459) zu. Von daher ergibt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass Campano den Text in dieser Zeit geschrieben hat.
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Für den weiteren Lebenslauf Campanos siehe Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia. Die Jahre 1460–1477 bleiben hier ausgeklammert, weil sie für die beiden Autobiographien keine Relevanz besitzen. Schema: Thema Erzählte Zeit Erzählzeit in Zeilen 1. Herkunft – 8 Verszeilen 2. Eltern – 6 Vz. 3. Kindheit ca. 8 Jahre 6 Vz. 4. Jugend ca. 14 Jahre 8 Vz. 5. Reise vonVenafrum zum Monte Ammiata ca. 2 Wochen 24 Vz.
Abfassungsdatum und literarischer Kontext
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Auf den Perugia-Aufenthalt weist weiter die literarische Anbindung an Ovids Autobiographie hin, die wir bereits registrierten. Eine Dichterautobiographie nach dem Modell von Ovids Trauergedicht IV, 10 ist kein selbständiger Text, sondern wird als Beilage bzw. Bestandteil eines Gedichtbandes angeboten. Gerade in Perugia hat Campano seinen ersten Gedichtband verfasst, ein Buch mit Elegien. Dieses Elegienbuch scheint unter den Gesammelten Gedichten, die Ferno und Mencken später in Druck gegeben haben, als Buch I auf. Auch in der handschriftlichen Urbiner Ausgabe ist dieses Elegienbuch als zusammengehörige Einheit markiert.45 Der Gegenstand dieses ersten Elegienbuches bezieht sich nachdrücklich auf Campanos Aufenthalt in Perugia bei seinen Förderern, der Familie Baglioni. Braccio Baglioni hatte eine Geliebte, Margherita da Montesperello.46 Er bat seinen Hofdichter Campano, die Dame seines Herzens zu besingen. Diese Aufgabe erfüllte Campano mit seinem ersten Elegienbuch, in welchem er Margherita da Montesperello den Namen Diana gab. Dieses Elegienbuch verfasste und vollendete er zwischen Sommer 1455 und Frühjahr 1456. Da es sich um ein Auftragswerk handelte, das zugleich das Erstlingswerk war, mit dem sich Campano seinem Lesepublikum vorstellte, war er besonders erpicht, eine Dichterautobiographie einzuflechten. Die Richtigkeit dieser Situierung wird durch die Tatsache erhärtet, dass das überlieferte Elegienbuch in der Tat eine Dichterautobiographie aufweist, Elegie Nr. 9 mit dem Titel „Somnus“ („Schlaf “). Diese zweite Dichterautobiographie wird im nächstfolgenden Kapitel erörtert. Nach unserer Rekonstruktion ist das autobiographische Fragment der erste Ansatz Campanos, eine Autobiographie für sein Elegienbuch zu verfassen. Im Laufe der Arbeit an diesem Werk entschied er sich für eine andere Lösung, eben die Elegie „Somnus“. Aus diesem Grund blieb die erste Fassung ein Fragment. Die Urbiner handschriftliche Ausgabe der Gedichte wurde aller Wahrscheinlichkeit nach erst nach dem Tod Campanos hergestellt. Die Gedichte ab f. 209v erwecken den Eindruck, dass sie aus dem Nachlass stammen. Campano ist nicht mehr dazugekommen, sie zu fertigen Büchern für die Werkausgabe zu redigieren. Das erste Gedicht des ,Nachlassteils‘ ist das autobiographische Fragment. Es 45
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Anfang f. 135r „Iohannis Antonii Campani elegia incipit feliciter“ (rot); Ende f. 155r „Liber secundus, Ad lectores“. Für Margherita da Montesperello vgl. die Ausführungen unten in Kap. IX, „Autobiographische Beglaubigung in der Welt des Traums: Giannantonio Campanos Elegie Somnus (1455/56)“.
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Ovid-Legitimierung: Campanos erste Autobiographie
fehlt in allen übrigen Ausgaben. Campano selbst hätte es in dieser Form wohl nicht publiziert. Ein nebengeordneter Datierungshinweis findet sich in Zeile 1, wo der Dichter sein Publikum mit „studiosa iuventus“, „lernbegierige Jugend“, anredet. Da es sich hierbei um ein Ovid-Zitat handelt, könnte die Anrede die bloße Aufgabe haben, die Anbindung an Ovids Autobiographie herzustellen. Die Anrede würde jedoch an Aussagekraft gewinnen, wenn man sie mit der Tatsache verbindet, dass Campano 1455 am Studio in Perugia zum Professor der Eloquenz ernannt worden ist. Diese Datierung würde sich mit der bisher eruierten Datierung, zwischen Sommer 1455 und Frühjahr 1456, decken. In einer Dichterautobiographie, die beabsichtigt, Campano seinem Publikum in Perugia vorzustellen, musste es ein wesentliches Anliegen sein darzulegen, auf welche Weise der Dichter nach Perugia gekommen ist. Damit korrespondiert übrigens auch die zweite Autobiographie, „Somnus“, die diese Aufgabe mit größter Nachhaltigkeit leistet. Auf diese Weise lässt sich verstehen, weshalb Campano seiner Reise von Kampanien in den Norden soviel Gewicht beimisst. Aus der zweiten Autobiographie lässt sich erschließen, was im autobiographischen Fragment in etwa noch folgen sollte: Campano war nach Siena unterwegs; er wurde jedoch in der Umgebung der Stadt von toskanischen Söldnern überfallen und beraubt. In wilder Flucht gelang es ihm, sich nach Perugia, das außerhalb des florentinischen Herrschaftsgebiets lag, durchzuschlagen. Perugia bietet ihm einen Hort und freundliche Aufnahme, besonders die Familie Baglioni. Es lässt sich nunmehr verstehen, welche Aufgabe die Schilderung des Ausblicks auf Siena erfüllte. Es handelt sich nicht um die autobiographische Dokumentation einer Bergbesteigung, sondern um ein erzähltechnisches Mittel. Campano will damit darlegen, dass er in Siena bereits fast angekommen war, fast am Ziel war, fast „den Hafen erreicht“ hatte. Diese Einleitung dient zur Hervorhebung einer dramatischen Inversion: Das Grausame und Plötzliche des Überfalls soll dadurch umso greller hervortreten. In der zweiten Autobiographie, in der der Überfall und seine unmittelbaren Folgen einprägsam geschildert werden (Z. 99–178), hat Campano dieselbe erzähltechnische Strategie angewendet. Er leitet die Geschichte dort mit den Worten ein: „Damals meinte ich, da kein neuer Sturm heraufzog, / Dass fast schon im Hafen ich lag“ (Z. 99–100). Sodann schiebt er eine dreifache erzähltechnische Retardation ein, um die Spannung nochmals zu erhöhen: eine Schilderung der historischen Lage (Z. 101–110), der persönlichen Lage (Z. 111–114) und eine Topothe-
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sie (Z. 115–118): Nachdem die Spannung fast unerträglich geworden ist, folgt der Überfall.
4. Fakturierung und Contrafakturierung: neuer Ovid – Anti-Ovid Bereits mit den ersten beiden Zeilen positioniert Campano seine Autobiographie in den Diskurs von Ovids Trauergedicht (Tristia) IV, 10. Ovid schrieb seine Autobiographie in Tomi am Schwarzen Meer, wohin ihn Kaiser Augustus verbannt hatte. Diese Autobiographie ist ebenso wie die mehr als 6700 Verszeilen umfassenden Verbannungselegien der Tristia und der Briefe vom Schwarzen Meer (Epistulae ex Ponto) als eindringlicher Klagegesang angelegt. Der autobiographische Diskurs wird dadurch geprägt, dass Ovid sein Leben als Aneinanderreihung von Fehlschlägen, Verlusten und Schicksalsschlägen beschreibt.47 Ovid erzählt, dass er zu schwach gewesen sei, den von den Eltern geforderten Beruf des Advokaten, Redners und Politikers zu ergreifen; dass er gegen seine Absicht Dichter geworden sei; dass seine Ehen scheiterten; dass ihm seine Gedichte nur Nachteil gebracht haben; wie er seine Familienmitglieder, den Bruder, Vater, Mutter und schließlich auch noch sein Vaterland verloren habe;48 wie er auf dem Weg in die Verbannung schrecklichen Gefahren ausgesetzt war; wie er am Verbannungsort in ständiger Lebensgefahr schwebte: Es herrscht Krieg im Gebiet, von allen Seiten greifen Barbaren an. Der zarte und urbane Dichter erlernt – trotz seines hohen Alters – erzwungenermassen mit Waffen umzugehen. Zu allem Überfluss herrscht klirrende Kälte, ein nicht enden wollender Winter treibt im Barbarenland sein Unwesen. Alles wird durch einen eklatanten Kultur-, Publikums- und Sprachverlust verschlimmert. In Ovids Darstellung ist Tomi ein barbarischer Ort, an dem niemand Lateinisch versteht. Der Dichter kann sich mit niemandem unterhalten, niemandem seine Gedichte vorlesen. Er schreibt nur mehr zum Zeitvertreib und um sich selbst ein wenig über die furchtbare Lage zu trösten. Es ist klar, dass Ovids Autobiographie kein dokumentarischer Bericht ist. Unter anderem verfolgt er mit seinen Elegien spezifische rhetorische Absichten.49 Er versucht beim Kaiser, der ihn für einen gefährlichen Ver47 48 49
Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10: Rhetorische Strategien und Interpretation“. Ebd. Ebd.
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schwörer hielt, Mitleid zu erwecken und ihn von seiner Unschuld zu überzeugen. Damit hofft er eine Rückkehrbewilligung nach Rom zu erwirken. Ovids Lebensklage hat ihren rhetorischen Ort in der miseratio (Mitleidsrede). Indem sich Ovid als völlig harmloser, ungeschickter, aufs Privatleben zurückgezogener Mensch präsentiert, liefert er einen Beweis seiner Aufrichtigkeit und Harmlosigkeit und somit für die Tatsache, dass er zur Teilnahme an einer Verschwörung nicht imstande gewesen sei.50 Was beabsichtigte Campano mit seiner Dichterautobiographie? Sein erstes Ziel musste sein, sich in die Respublica litterarum einzuschreiben und sich seinem Leserpublikum vorzustellen. Er war ein junger, noch völlig unbekannter Dichter, der als solcher einer Legitimation bedurfte. Aufgrund welcher Tatsache war sein Erstlingswerk es wert, gelesen zu werden? Aufgrund welcher Tatsache durfte er als „Autor“ gelten? Neuankömmlinge sind suspekt. Die Respublica litterarum war zudem eine besonders selektive Gesellschaft, zu der man nicht so einfach zugelassen wurde. Mit seiner Ovidischen Dichterautobiographie stellte sich Campano eine Art Zugangsschein aus. Ovid, neben Vergil der größte Dichter Roms, eignete sich par excellence als Legitimationsinstanz. Ovid eignete sich zur Legitimation umso mehr, als er in seiner Autobiographie seinen Dichterruhm bestätigt und dessen Fortdauern, solange die lateinische Sprache gesprochen werden wird, in Aussicht stellt (Z. 121 ff.). „Wenn die Prophezeiungen der Seher irgend wahr sind“, sagt Ovid, „wird mein Tod nicht endgültig sein“ (Z. 129) – der Dichter wird durch seine Werke weiterleben, „auf der ganzen Welt“ („in toto orbe“, Z. 128). Indem der dichterische Neuankömmling Campano sein Leben und sein Dichtertum an Ovid anbindet, schließt er sich dessen glänzender Zukunftsvision an. Er suggeriert damit, dass auch seine Elegien von der ganzen Welt bis in eine ferne Zukunft gelesen werden würden. Ein weiteres Element, das die Brauchbarkeit Ovids als Legitimationsinstanz verstärkte, war die Suggestion, dass sein Dichtertum auf eine göttliche Macht zurückzuführen sei. „Schon als Knabe gefielen mir die heiligen Angelegenheiten des Himmels“, sagt Ovid, „und heimlich verlockte mich die Muse, für sie zu arbeiten“ (Z. 19–20). Ovids Vater hingegen war über die dichterischen Neigungen seines Sohnes nicht erfreut. Er wollte, dass er einen vernünftigen Lebensweg einschlagen, den Beruf des Anwalts, Redners und Politikers ergreifen würde. Er gibt ihm zu bedenken, dass man mit dem Dichten nichts verdient (Z. 21–22). Ovid gab 50
Ebd.
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sein Bestes, mit dem Dichten aufzuhören, jedoch war die Macht der Muse stärker: Alles was er niederschrieb, wurde, wie von Zauberhand gelenkt, automatisch ein Vers (Z. 25). Campano griff die in Ovids autobiographischem Diskurs verankerte Option der göttlichen Legitimation begierig auf. Sie war für ihn noch wichtiger als für den renommierten Dichter Ovid, nicht nur weil er ein Anfänger war, sondern besonders, weil er aus Verhältnissen stammte, die ihn nicht eben zum Intellektuellen prädestinierten. Dass es ihm gelang, sich dem bäuerlichen Milieu zu entziehen, präsentiert Campano als göttliches Wunder. Menschliche Kraft reichte hier nicht aus. Phoebus und Pallas bewirkten das Wunder mit einem Orakelspruch im Duett: Dreimal übergab der Vater dem Knaben die Herden – Aber alles nimmt den Lauf, den das Schicksal bestimmt. Dreimal mahnte mich der Oheim väterlicherseits, dreimal der geliebte Oheim Mütterlicherseits, höher hinaus zu streben und Herden und Äcker zu lassen. Da sagten mir Phoebus und Pallas, die meinen Neigungen günstig gesinnt waren: „Auf des Pindos Hängen und Cyrras wirst Hirte du sein“. Ter pater ipse greges puero commisit agendos – sed fato currunt omnia stantque suo – Ter maior patruus, ter carus avunculus ire Altius atque greges linquere et arva iubent. Tum Phebus studiisque favens Tritonia nostris: Pindi, ait, et Cyrre per iuga pastor eris (Z. 23–28).
Mit der Verortung in Ovids himmlischer Legitimation stellt Campano sein humanistisches Dichtertum als göttliche Mission dar. Er soll kein Hirte in Galluccio bleiben, sondern „Hirte auf des Pindos Hängen“, das heißt: auf dem Musenberg, werden. Apoll und Pallas erteilen Campano den Auftrag zur Reise: Er soll den Ort seiner Väter verlassen. Bei einem Vergleich lässt sich erkennen, dass die göttliche Legitimation bei Campano viel feierlicher und zwingender als bei Ovid dargestellt wird. Die Göttlichkeit des Geschehens wird durch die göttliche Dreizahl, die noch dazu drei Mal wiederholt wird, verstärkt, und kulminiert in dem Wahrspruch nicht einer Gottheit, sondern zweier Götter. Bei Ovid findet sich kein göttliches Orakel: Nicht Apoll hat das Sagen, sondern der nüchterne Vater, der Apoll schmäht. Ovid gehorcht nicht einem göttlichen Auftrag, sondern dem Vater. Die schaumgebremste Darstellungsart Ovids hängt mit seinen rhetorischen Absichten zusammen: Es ging ihm nicht um die göttliche Legitimation selbst, sondern lediglich um den Beleg, dass er vom Dichten übermannt worden sei.
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Es handelt sich hierbei um eine Rechtfertigung: Augustus hatte Ovid beschuldigt, er habe mit einer seiner elegischen Dichtungen, der Liebeskunst (Ars amatoria), zum Ehebruch angestiftet. Es wäre kontraproduktiv gewesen, wenn Ovid hinausposaunt hätte, dass er mit seiner Dichtkunst willentlich und gern einem göttlichen Auftrag gefolgt sei. Dies hätte nicht für seine Reumütigkeit gesprochen. Ovid war es aber gerade darum zu tun: In diesem Sinn behauptet er, dass er „auf seine Verse wütend“ sei und dass er „seine Gedichte verbrannt habe“, besonders, nachem er ins Exil ging (Z. 62–64). Es lässt sich nicht ausmachen, inwiefern Campano diese rhetorische Strategie Ovids durchschaute. Für seine Nachahmung war dies auch nicht entscheidend, da es ihm freistand, nur das zu übernehmen, was auf seine Situation passte. Jedenfalls brauchte Campano keine Gedichte zu verbrennen, wobei er übrigens kaum etwas vorzuweisen hatte, was er als Ballast ins Feuer hätte werfen können. Alles, was er bisher geschrieben hatte, war ja jenes Buch mit Elegien. Es ist anzunehmen, dass Campano die göttliche Legitimation als diskursives Element der Dichterautobiographie betrachtete. Andere neulateinische Dichter, zum Beispiel Sannazaro und Eobanus Hessus, haben Ovids Autobiographie in demselben Sinn verstanden.51 Wohl aus dieser Perspektive erweitert Campano den göttlichen Einfluss zu einem feierlichen Berufungsakt; wohl aus dieser Perspektive schnürt er Ovids nörgelndem Vater den Mund. Denn was seine Lage angeht, hätte Campano die Worte von Vater Ovid ohne Abstriche seinem Vater in den Mund legen können – auch der alte Bauer Puccio de’ Teolis hätte raunzen können: „Apoll hat noch niemandem sein täglich Brot beschert“. Campanos autobiographische Kindheitsdarstellung erscheint nunmehr in einem neuen Licht. Sie beruht nicht auf psychischen Zwängen, die sich etwa aus einer fehlenden Mutterbindung ergeben hätten, sondern auf der Verortung im Diskurs von Ovids Dichterautobiographie, in der die Kindheit und frühe Jugend ebenfalls großes Gewicht erhalten hatten. Bei Ovid wird dies einerseits von der Mitleidsrede bedingt, in der die Kindheitsbetonung Harmlosigkeit und Schutzlosigkeit suggeriert, andererseits durch die Apologie des Dichtertums – das Dichten als unwillkürliche, gottgegebene Zwangshandlung, an der der Dichter keinesfalls Schuld haben kann.52 Campano geht es dabei vor allem um die 51 52
S. unten. Für beide Aspekte s. Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10: Rhetorische Strategien und Interpretation“.
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Bedingtheit der Kindheit als Ort des göttlichen Wunders, das ihn zum Dichter machte. Je stärker er die widrigen Umstände seiner Kindheit hervorhebt, als desto größer muss das göttliche Wunder erscheinen. Je größer das Wunder, desto stärker wirkt die Legitimation zum Dichter. Insofern ist Campanos eingehende, realistisch anmutende Darstellung seiner Kindheit höchst funktionell: Er überzeugt damit sein Publikum in Perugia von seiner Legitimation als Dichter. Damit ist zugleich das Rätsel gelöst, das den frühneuzeitlichen Leser beschäftigte: weshalb Campano mit naiv scheinender Offenherzigkeit die erbärmlichen Umstände seiner Kindheit ohne herkömmliche Verschleierungstaktik offen legte. Damit konnte er seine Legitimation als Dichter bekräftigen. Es gab noch ein weiteres Element, dass sich auf Campanos Ovid-Konstituierung günstig auswirkte: Ovid hatte, obwohl er der produktivste römische Dichter war, in seine Autobiographie keine Liste seiner Werke aufgenommen. Der gegenteilige Fall hätte einem jungen Dichter möglicherweise Probleme bereitet: Ovid hatte, als er seine Autobiographie verfasste, ein grandioses dichterisches Oeuvre vorzuweisen, dem ein junger Dichter wie Campano nichts entgegenstellen konnte. Den historisch-rhetorischen Hintergrund von Ovids Selbstreduzierung musste Campano nicht unbedingt durchschauen: Gleichwohl war ihm der Textbefund, der ihm entgegentrat, sehr willkommen. Was musste Campano weiter darlegen? Wer er sei und woher er kam. Bei Campano ging dieses Anliegen über die obligatorische Leistung, die eine Autobiographie zu erbringen hatte, hinaus. Das hängt damit zusammen, dass er in der Umgebung, in der er operierte, ein Fremder war. Der Status des Fremden war in der frühen Neuzeit ein prekärer Ausnahmezustand, der einer besonderen Legitimation bedurfte. Konservative und statische Gesellschaften (wie es für die des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zutrifft) stehen Fremden allgemein distanziert und argwöhnisch gegenüber. Man wollte Gewissheit darüber haben, was den Fremden hergeführt habe, und ob man ihm trauen könne. Auf den ersten Blick erscheint Ovids Autobiographie für dieses Darstellungsziel geradezu prädestiniert. Er hat den Text in der Fremde geschrieben und konstituiert sich darin als Fremder. Bei Ovid findet sich sogar der Ansatz zu einer Reisebeschreibung, wo er seine Fahrt von Rom nach Tomi skizziert. Ihr hervorstechendstes Element ist ihre Gefährlichkeit:
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Ich musste die friedliche Ruhe vergessen, in der sich bisher mein Leben abspielte; Die Situation gebot mir, meine ungeübte Hand an den Gebrauch von Waffen zu gewöhnen. Zu Lande und zur See habe ich so viele Gefahren erduldet, Als sich zwischen dem Nord- und dem Südpol am Himmelszelt befinden. Oblitusque mei ductaeque per otia vitae Insolita cepi temporis arma manu. Totque tuli terra casus pelagoque quot inter Occultum stellae conspicuumque polum (Z. 107–110).
Dieses Gewand schien Campano geradezu auf den Leib geschneidert zu sein. Seine Reise stellte sich – wohl im Gegensatz zu der historischen Reise des Ovid53 – als sehr gefährlich heraus: Er war ja überfallen, mit dem Tod bedroht und seiner gesamten Habe beraubt worden. Wie oben gezeigt wurde, gehörte es mit Sicherheit zu seinem Plan, den Überfall in der Autobiographie darzustellen: Er brauchte ihn, um zu erklären, weshalb und unter welchen Umständen er nach Perugia gekommen sei. Jedoch stieß Campano hier auf ein Problem, das sich aus der Verortung von Ovids Autobiographie in der Verbannungsklage ergab. Campanos Absicht, in Perugia ein Lesepublikum zu gewinnen, läuft Ovids gesamter Darstellungsweise zuwider. Ovid kann der Reise und ihrem Ziel, dem Verbannungsort, nichts Positives abgewinnen. Den Ort in der Fremde beurteilt er äußerst ablehnend: Er ist eiskalt, unwirtlich und wird von Barbaren bevölkert, von Leuten, die des Lateinischen nicht mächtig sind, jedoch ständig Krieg führen. An diesem Ort zu verbleiben kommt der Höchststrafe gleich. Da der Verbannungsort die (rhetorische) Perspektive ist, aus der Ovid sein Leben betrachtet, konstituiert sich sein gesamtes Leben als Trauerbild. Diese diskursive Anlage wäre für Campanos Darstellungsziel kontraproduktiv gewesen: Wenn er gezeigt hätte, dass sein Leben bisher schiefgelaufen sei, er aus bitterer Not gezwungen worden sei, aus Kampanien nach Perugia auszuweichen, schließlich, dass er sich in Perugia elend und verlassen fühle, oder etwa gar, dass es dort kalt und scheußlich ist und die Menschen gefühlskalte Barbaren sind, die den impulsiven Süditaliener nicht verstehen, hätte er
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Ovid hat wohl in der Autobiographie die Gefährlichkeit der Reise stark übertrieben. Damit wollte er einerseits Mitleid erregen, andererseits sein großes Pflichtgefühl belegen. Wer nimt schon Gefahren auf sich, um sich zu seinem Verbannungsort durchzuschlagen? Wer ein so großes Pflichtgefühl besitzt, kann sich kaum an einer Verschwörung beteiligt haben. Vgl. Enenkel, Ovid, „Tristia IV,10: Rhetorische Strategien und Interpretation“, 125.
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sein lokales Publikum schwerlich überreden können, ihn als neuen Dichter zu akzeptieren. Campano begegnete hier einem virulenten Darstellungsproblem. Ovid war zwar für ihn ein Geschenk des Himmels, was die Legitimation als junger Dichter betrifft; aber er war ein schleichendes Gift, was die Selbstkonstituierung in der Fremde angeht. Campano löste das Problem mit einem radikalen Diskursbruch. Ab Zeile 23 wirft er den leidenden und melancholischen Ton Ovids über Bord, indem er sein Leben ins Zeichen einer positiven Aufbruchsstimmung stellt. Er ist in ärmlichen Verhältnissen geboren, was soll’s? Wo es ein Problem gibt, gibt es eine Lösung. Die Onkel helfen mit, und die Götter. Campano erhält einen Wink von oben: Gerne gehorcht er ihm – und auf geht’s: Er verlässt das Dorf des Vaters. Noch stärker ist das positive Aufbruchsmoment an der Stelle, wo er Kampanien den Rücken zukehrt, vorhanden (Z. 37 ff.). Er verlässt seine Heimat aus freiem Willen, weil er höher hinaus will: Wie ein Vogel, der seine Flügel zum ersten Mal gebraucht, wenn er sie ein Wenig ausprobiert hat, eine größere Strecke sich zu fliegen getraut, Verließ Ausonien ich, zog links an Frosinone vorbei, erpicht, Die Hernischen Felsen zu überschreiten mit begierigem Fuß. Ut volucris primas ales ubi concutit alas, Cum breve tentavit, grandius audet iter, Ausonia egressus, leva Frusinone relicto, Hernica percupido transeo saxa pede.
Davon ausgehend konstruiert Campano sein Verhältnis zur Fremde grundsätzlich anders als Ovid: Er steht der Fremde freudig, aufgeschlossen und positiv gegenüber. Während Ovid in der Fremde darbt und sein Publikum verloren hat, gewinnt der florierende Campano ebendort sein Publikum. In seiner Heimat Rom war Ovid ein gefeierter Dichter, in Tomi ist er ein anonymer Mensch: Ovid schrieb sich in der Fremde als Dichter ab, Campano schreibt sich in der Fremde als Dichter ein. In seiner Autobiographie konstituiert Campano sein Leben als optimistisches Vorwärtsmarschieren, bei dem er die einengenden Verhältnisse seiner Kindheit hinter sich lässt. Die Grundstimmung Ovids, ja der römischen Elegie überhaupt verkehrt er hiermit ins genaue Gegenteil: Statt Trauer und Unsicherheit Zuversichtlichkeit und Optimismus.
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Ist ein solcher radikaler Diskursbruch erlaubt? Oder anders gefragt: Kommt es dadurch zu einem Zerreißen der intertextuellen Verbindung mit Ovid, die der frühneuzeitliche, humanistische Leser Campano möglicherweise verübelt hätte? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, nicht zuletzt, weil der Text ein Fragment darstellt. Anzunehmen ist, dass der Leser die Diskursänderung registrierte; weiter, dass sie ihn aufrüttelte, ihn in gesteigertem Masse anspornte, nach einer Erklärung zu suchen. Natürlich war der humanistische Leser mit dem Phänomen der Kontrastimitation vertraut und er wusste besondere Effekte zu schätzen, die sich daraus ergaben, dass man bei der Nachahmung eines literarischen Vorbildes gewisse Elemente nachdrücklich anders gestaltete. In Campanos Fall ergibt sich allerdings das Problem, dass die Kehrtwendung so radikal ist, dass ein Bruch sowohl mit der Diskursivität Ovids als auch mit der römischen Elegie insgesamt drohte: Die Elastizität des Diskurses erscheint zum Zerreißen gespannt. Klar ist übrigens, dass ein völliges Abreißen des Diskurses nicht in Campanos Interesse lag. Die Tat des Einschreibens in die Respublica litterarum wäre dadurch zunichte gemacht worden. Zu berücksichtigen ist, dass wir einen Text vor uns haben, von dem noch ein wichtiger Teil fehlte. Campano hatte die Möglichkeit, in diesem Teil zum Diskurs der Elegie zurückzukehren. Obwohl dies natürlich spekulativ ist, handelt es sich dabei dennoch nicht um ein bloßes Gedankenspiel. Denn was noch dargestellt werden musste, war der grässliche Überfall, die Beraubung, die Flucht. Hier lag eine Misere vor, die schon von der Sache her ein elegisches Ereignis war. Wenn Campano in der Tat auf diese Weise vorgegangen wäre, hätte die (Über)Beanspruchung der Diskurselastizität sogleich abgenommen. Die – vollendete – zweite Autobiographie zeigt jedenfalls, dass Campano den Überfall und seine Folgen auf elegische Weise dargestellt hat (Z. 99–178): Er schildert die Schrecksekunde, das Entsetzen, die Flucht; die Angst, von der er erfüllt war, wie ein Hase vor ihm nachsetzenden Hunden; das Bedrohliche des schwarzen Waldes, in dem er sich verirrte usw. Der Befund der zweiten Autobiographie veranlasst zur Annahme, dass Campano Ähnliches als Fortsetzung seiner ersten Autobiographie plante. Als Folge ergibt sich, dass die Diskursabweichung – die positive Aufbruchsstimmung – sich auf den Mittelteil der Autobiographie konzentrierte. Somit wäre für die Akzeptanz der Kontrastimitation gesorgt gewesen. Wenn im fehlenden Teil der Überfall und die Ankunft in Perugia beschrieben worden wäre, hätte der Leser zugleich über die Information verfügt, die er benötigte, den Sinn der Kontrastimitation zu verste-
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hen: Der neue Aufenthaltsort in der Fremde soll gegen die dunkle Kontrastfolie Tomis in umso hellerem Licht erstrahlen. Dies ist für Campanos rhetorisches Ziel, die Publikumseroberung, höchst effektiv: Ein Leser aus Perugia musste sich gerade durch die Kontrastimitation geschmeichelt fühlen. Während er aufgrund des literarischen Vorbildes befürchten musste, dass der Dichter, der seine Heimat verlässt, in der Fremde darben und sich als Exilierter konstituieren werde, registriert er zu seiner frohen Erleichterung das genaue Gegenteil! Man darf annehmen, dass sich Campano damit die Sympathie der Leser in Perugia erworben hätte. Die Contrafakturierung Ovids dient dazu, in Perugia akzeptiert zu werden.
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IX. Autobiographische Beglaubigung in der Welt des Traums: Giannantonio Campanos Elegie Somnus (1455/1456) 1. Einleitung. Die autobiographische Narratio im Schlaf Unter der lateinischen Poesie Campanos findet sich ein Gedicht von außerordentlich hoher Qualität und Erfindungskraft, mit dem Titel Somnus („Schlaf “).1 Im Traum erscheint dem Dichter eine Frau mit aufgelöstem Haar. Sie setzt sich an sein Bett und nimmt eine traurige Haltung ein (Z. 1–4). Der Dichter vermag ihre Identität nicht zu erkennen: Die Frau verhüllt ihr Gesicht, wendet sich ab, den Blick zu Boden gesenkt. Der schlafende Dichter befindet sich in einer beklemmenden Lage. Die traurige und abweisende Haltung der Frau bedrückt ihn, während ihm die Kraft fehlt, sie zur Bekanntgabe ihrer Identität zu zwingen. Die Frau schluchzt, gibt unverständliche Laute von sich. Verzweifelt versucht Campano sie genauer zu betrachten, umsonst (Z. 5–20). In seiner Ratlosigkeit fasst er sie an der Taille – da erkennt er seine (frühere) Geliebte, Sylvia (Z. 21–22). Verzweiflung und Ratlosigkeit mischen sich mit Schuldgefühlen, die durch die Tränen und das Schluchzen der Gelieb-
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Gedichte (Carmina) I, 9, Z. 41–46, in: Campano, Opera, ed. Michele Ferno, Rom 1495; hier zitiert nach der Ausgabe in: Poeti latini del Quattrocento, a cura di F. Arnaldi, L. Gualdo Rosa, L. Monti Sabia, Mailand-Neapel 1964, 792–810. Das Gedicht findet sich nicht in Bettina Windaus Sammlung Somnus. Neulateinische Dichtung an und über den Schlaf. Studien zur Motivik. Texte, Übersetzung, Kommentar, Trier 1998. Die hohe Erfindungskraft von Campanos Elegie Somnus zeigt sich, wenn man sie mit den dort gesammelten Gedichten vergleicht, die nichts Ähnliches oder Gleichwertiges aufweisen. In Cristoforo Landinos Elegie „De insomnio“ taucht zwar eine zornige Geliebte im Traum auf, jedoch wird damit keine komplexe persönliche oder autobiographische Geschichte verbunden (Windau, Somnus, 158–159).
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ten verstärkt werden. Die Trauer der Geliebten scheint ihn anzuklagen. Aber weshalb? Was hat er verbrochen? Erkennt sie ihn überhaupt? Zur Sicherheit gibt Campano seine Identität bekannt: Ich bin es, der dir von zartester Jugend an in Liebe zugetan war, Ich bin es, deine erste Liebe. Ich bitte dich, hör doch auf, mich mit Tränen zu quälen! Ich flehe dich an beim Licht der Sterne: Das, worüber du trauerst, hat nichts mit Verbrechen zu tun. Sieh ihn an, sag ich, beachte deinen Dichter, deinen Augapfel! Lass bitte deine Trauer oder deinen Zorn fahren! Ille ego sum qui te teneris dilexit ab annis, Ille ego sum primus quem tibi iunxit amor. Parce, precor, lachrymis incendere. Lucida testor Sidera, quo doleas, criminis esse nihil. Specta, inquam, vatemque tuum, tua gaudia serva, Seu dolor hic animo, seu cadat ira, precor (Z. 41–46).
Die Worte „Sieh ihn an […] Und beachte deinen Dichter, deinen Augapfel!“ („Specta […] vatemque tuum, tua gaudia, serva“) führen zu einem Gefühlsausbruch der Freundin: „Ja, früher einmal warst du mein Dichter!“ („Certe olim vates tu meus“, Z. 50) ruft sie aus. Jetzt versteht Campano, was hier vorgeht: Anscheinend war Sylvia zu Ohren gekommen, dass er ein anderes Mädchen in seinen Liebesgedichten verherrlichte (Z. 51–52). Hätte er doch nie gedichtet! Bei den Göttern schwört er, dass er sich niemals gegen seine Liebe zu Sylvia versündigt hat. In der Tat, er hat Verse geschrieben, in denen er ein Mädchen namens Diana besang – jedoch nicht aus Liebe! Wie das kam, will er Sylvia berichten. Das ist jedoch eine lange Geschichte. Campano hat viel zu erzählen und zu erklären. Wieso hat er seine Geliebte und Kampanien verlassen? Wo hält er sich jetzt auf und wie ist es möglich, dass er eine Frau besingt, von der er behauptet, er liebe sie nicht? Die Geschichte erzählt von Abenteuern und Irrfahrten: Es ist eine lange Geschichte, liebe Sylvia, dir meine Irrfahrten zu erzählen, In denen ich auf tyrrhenischem Boden hin- und hergeworfen wurde. Als das Schicksal mir auftrug, eine neue Heimat zu suchen Und ich Unglücklicher die väterlichen Laren verließ, Nahm die Toskana mich auf, der ich hin- und hergeworfen wurde in tausend gefährlichen Lagen, Und zwang mich das Los, ins schöne Siena zu gehn. Da kein Sturm aufkam, glaubte ich, dass ich Den sicheren Hafen erreicht hätte.
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[…] Varios longum, mea Sylvia, casus dicere, Tyrrhena sum quibus actus humo. Sic ubi fata novas dederunt me quaerere sedes, Infelix patrios deseruique lares, Tuscia iactatum per mille pericula cepit Et placidas sors me compulit ire Senas. Tunc ego me, nulla rursus surgente procella, Credideram portus applicuisse meos (Z. 93–100).
Aber, wie bereits aus der ersten Autobiographie hervorging, Campano erreichte den sicheren Hafen nicht. Ein mächtiger Kriegsherr, „belliger Alphonsus“, hören wir im Traumgedicht, stand auf, rief zu den Waffen und fiel in die Toskana ein (Z. 103–106). Das Klirren der Schwerter erklingt, Städte und Dörfer werden eingenommen, die Wege nach Siena sind versperrt, Hungersnot bricht aus, Flucht scheint der einzige Ausweg: Aber ein neuer Sturm widersetzte sich dem glücklich Erreichten Und warf die Segel zurück auf das brausende Meer. Der Kriegsherr Alfonso, ausgezeichnet mit den höchsten Trophäen, Sieger Im Zweikampf, führte mächtigen Krieg, Krieg zu Wasser und Land. Sogleich überzog er harsch die Etrusker mit Krieg, Sizilier verwüsteten die tyrrhenische Macht. Die Waffen erklirren, Dörfer werden hie und da eingenommen und Städte, Erkennen das flammende Wappen des neuen Herrn an. Städte zwingt der grausige Hunger, erschöpft vom rasenden Kampf, Ihren Nacken zu legen unter ein bedrückendes Joch. Was sollte ich tun, der ich zum Frieden und zum friedlichen Otium geboren? Ich war gezwungen zu ertragen den ungewohnten Krieg. Als ich mich vor ihm begab auf die Flucht, harrten meiner viele Gefahren, Und die Flucht selbst wurde fast mein Untergang (Z. 101–114).
In einem entlegenen Tal geschah es: Aus einem Eschenwald brachen gezückte Schwerter hervor. Das Schreckliche, Unerhörte, der Überfall (Z. 121 ff.). Kaum konnte Campano entrinnen, durch den Wald und durchs Unterholz gehetzt. Mit zerkratzten und abgeschürften Beinen rettete er das nackte Leben. Sein Hab und Gut fiel den Räubern in die Hände. Seinen Bruder, der ihn, wie aus dem Text hervorgeht, offensichtlich begleitete, verlor er aus den Augen. Erst nach einer verzweifelten Suche findet er ihn wieder. Die Brüder nehmen sich zusammen: Wo das Schicksal sie hinführt, dort wollen sie hingehen.2 Ängstlich ziehen sie durch fremdes, unbekanntes Gebiet. Bald fällt die Nacht ein: 2
„Somnus“, Z. 115–158.
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Unterdessen aber eilte Phöbus zu des Ozeans Wellen, Und der irrende Mond rief die Rösser der Nacht. Wir ziehen durch Wälder und die schattigen Lager des Wilds, Das Schweigen der Nacht wird unterbrochen vom Aufheulen der Wölfe. Viele Trugbilder tauchen auf der nächtlichen Ängste, Bei deren Anblick wir erschaudern und uns die Haare emporstehen. Dann aber, als der glänzende Morgenstern den Tierkreis emporträgt Und langsam einige Sterne hervortreten über dem Pol, Lassen wir die nächtlich irrenden Schatten der Wälder hinter uns Und gelangen an sichere Orte, vertreiben die Furcht. Nachdem wir von so vielen Irrfahrten herumgetrieben wurden, Gebot Perugia, die Stadt, unseren Irrungen Halt. Interea Oceani Phoebus properabat ad undas, Et vaga nocturnos Luna ciebat equos. Per sylvas ferimur per opacaque lustra ferarum, Exululant rapidi nocte silente lupi. Plenaque nocturni veniunt simulacra timoris, Et gelidae aspectu diriguere comae. Mox ubi surgentem nitidus fert Lucifer axem, Et dubio apparent sidera rara polo, Errantes noctu nemorum dimittimus umbras, Et ferimur pulso per loca tuta metu. Cumque tot essemus varios erroribus acti, Errorum metas urbs Perusina dedit (Z. 160–172).
Dort fand Campano ein neues Zuhause. Die großzügige Familie Baglioni nahm ihn auf. Aber plötzlich fiel in die neue Heimat der Liebesgott, Amor, ein und schleuderte blindlings seine flammenden Pfeile. Einer traf den mächtigen Ritter Braccio Baglioni. Der brach vom Schmerz übermannt zusammen, ob der unsichtbaren Wunde am Herzen (Z. 189–192). Der stahlharte Ritter verwandelte sich gegen seinen Willen in einen weichlichen Liebhaber. Beim Anblick Dianas entbrannte er in Liebe (Z. 195–196). Er verehrte nur mehr Diana, sein ganzes Leben stand im Dienst dieser Dame. Er gab für sie zahllose Spiele und Feste, in Perugia, Rom und anderswo. Immer war die Dame zugegen und ließ sich den Hof machen. Eines fehlte aber, Liebespoesie; dazu war der reisige Ritter nicht imstande. Also bat er Campano um einen Freundschaftsdienst. Nur die Dichter vermögen ewigen Ruhm zu verschaffen; nur Literatur überdauert, alles andere ist der Vergänglichkeit anheim gegeben: Troja, Korinth, einst mächtige Städte, wo sind sie? Heute grast dort das Vieh.3 Trotz des überzeugenden Arguments von der 3
„Somnus“, Z. 207–240.
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Allmacht der Dichtung zögerte Campano. Wie sollte er Liebesgedichte auf eine Dame schreiben, in die ein anderer verliebt ist? Liebe ist ganz persönlich, lässt sich nicht erheucheln. Trotz seiner Zweifel willigt er schließlich in die Bitten des Ritters ein. Mit dieser Erzählung versucht der Dichter seine (frühere) Geliebte zu überzeugen, dass Diana nicht seine Freundin sei. Dennoch ist ihm nicht wohl bei der Sache, und er macht sich schwere Vorwürfe: Die reifen Früchte, die dir gehören, erntet eine andere, Und, was nicht ihr Eigentum, pflückt sie mit frevelnder Hand. Ach ich möchte sterben! Möge eine schwere Strafe mein Teil sein! Ich geb es zu: Für meine Untreue muss ich büßen […] Mögen doch die Gedichte und der Name Dianas untergehen, Verbrennen im Feuer oder vom Wasser hinweggespült werden. Quae tibi debentur plenas metet altera fruges, Et leget audaci non sua poma manu. Ah peream crimenque meum fera poena sequatur. Perfidiae, fateor, poena luenda mihi est. […] Sed pereant versusque mei nomenque Dianae Et flamma aut molli proiiciantur aqua (Z. 309–318).
Die Verse verbrennen, ins Wasser werfen? Die Geliebte lässt es nicht so weit kommen. Sie nimmt den Dichter bei der Hand, tröstet ihn und sagt: Vollende dein Werk, wenn du nur nicht in sie verliebt bist. „So“, sagt Campano, „schien ich im Traum meine Geliebte beschwichtigt zu haben“ („Sic dominam visus conciliasse meam“, Z. 324).
2. Ein Fall für Psychologen – Autobiographie als erotisches Bekenntnis? Campanos Gedicht „Somnus“ ist ein evozierender und vielschichtiger Text. Die Idee, eine Autobiographie als Traum zu konstruieren, hat etwas Faszinierendes an sich. Der Traum scheint einen unmittelbaren Zugang zur Psyche des Autobiographen zu eröffnen. Wie schon bei Campanos erster Autobiographie scheint eine psychologische Autobiographie-Interpretation4 nahe zu liegen. Der Interpret mag sich einen Psychoanalytiker wähnen, der die Lebensbeschreibung wie ein tiefen-
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Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 32–39 („Psychologische Verstehenskonzepte“).
Autobiographie als erotisches Bekenntnis?
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psychologisches Analysegespräch liest, bei dem er die seelischen Traumata des Patienten ortet.5 Für den an psychologischen Interpretationen Interessierten bildet Campanos „Somnus“ ein besonders willkommenes Material, insofern es sich von den meisten frühneuzeitlichen, humanistischen Autobiographien abhebt, die das Gefühls- und Innenleben meist mehr verbergen als zu Tage fördern. Die Traumsituation scheint von dem ausgeprägten sozialen und sozialliterarischen Repräsentationsdruck, dem die meisten frühneuzeitlichen Texte ausgesetzt sind, zu befreien. Im Traum ist erlaubt, was in der täglichen Wirklichkeit verboten ist. Im Traum kann der Mensch seinem Unterbewussten freien Lauf lassen. Der Inhalt des Traums, den Campano erzählt, scheint, da er Liebesleben und Sexualität betrifft, für eine psychologische Erörterung geradezu ausgelesen. Ein Individuum, das zwischen zwei Beziehungen hin- und hergerissen wird, bietet einen desto interessanteren Gegenstand psychologischer Betrachtung, der die hoffnungsvolle Erwartung schürt, dass er etwas von den psychischen Komplikationen, die Mehrfachbeziehungen mit sich bringen, zu Tage fördern möchte. Campanos Text scheint sich dadurch auszuzeichnen, dass er die Erotik in die Autobiographie einbringt. Demgegenüber teilen die meisten frühmodernen Autobiographien über erotische Gefühle kaum etwas mit. Während z. B. Enea Silvio zahlreiche Liebesverhältnisse hatte, finden sich dazu in seinen Commentarii so gut wie keine brauchbaren Angaben. In der autobiographischen Erzählung baut Campano eine knisternde erotische Spannung auf: Die Geliebte ist ganz nah und fern zugleich; obwohl sie vor ihm auf dem Bett sitzt, vermag er sie zunächst nicht zu erreichen. Die Schwierigkeiten der körperlichen Annäherung verstärken die erotische Anziehungskraft, die durch das ausweichende Verhalten der Frau, das Wegblicken und Verhüllen weiter gesteigert wird, bis sie plötzlich in körperliche Berührung umgeleitet wird: Campano schildert das das Festhalten der Taille, das Durchbrechen der Mauer der Distanziertheit, die darauf folgenden emotionalen Ausbrüche (Tränen des Liebhabers, Ohnmächtigwerden der Frau) bis zu heftigen Umarmungen und Küssen, die offensichtlich noch Weiteres nach sich ziehen. Ist diese Autobiographie als Sexualdokument zu lesen? Gewährt Campano Einblick in eine Bewusstseinsregion, die die meisten anderen frühneuzeitlichen Autobiographen zuschütten? Weitet Campano den 5
Ebd., 33–36.
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selbstentblößenden Bekenntnisdiskurs,6 der bei Augustin eingesetzt hat, auf das Sexualleben aus?
3. Die diskursive Verortung der Traumautobiographie oder das Problem der Liebeselegie als Auftragswerk Bei der Beantwortung dieser Fragen muss der literarische und historische Kontext mitberücksichtigt werden. Da sich die Autobiographie in einem Gedichtband mit Liebeselegien befindet, scheint die Lesart als Sexualdokument zunächst plausibel. Dies wird durch den Umstand verstärkt, dass sich Campano, wie Ovid, als Liebesdichter konstituiert. Eine solche Selbstkonstituierung scheint ein Selbstporträt als Erotiker nahe zu legen. Ein merkwürdiger Zug von Campanos Habitus als Liebesdichter ist allerdings, dass er seine Gedichte (wie er selbst sagt) nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Auftragswerk verfasste, für seinen ‚Freund‘, den Ritter Braccio Baglioni. Wie bereits oben angegeben, ist das erste Buch der gesammelten Gedichte in der Tat der Verherrlichung von Braccios Geliebter ‚Diana‘ gewidmet. Wie gestaltet sich das Verhältnis des Dichters zu dem Auftraggeber des Gedichtbandes, Braccio Baglioni? In der ersten Elegie, an die Liebesgöttin Venus gerichtet, skizziert Campano das Problem: Weshalb konnte ich es auf mich nehmen, ein Mädchen, das ich kaum kannte, zu besingen Und gestohlenes Holz zu legen auf meinen Herd?7
Diese Konstellation würde nahe legen, dass Campano als Ghostwriter für den verliebten Ritter einspringt. Jedoch war das dem ambitiösen jungen Dichter und Humanisten zu wenig. Er wollte mit seinen lateinischen Elegien seinen eigenen Namen verewigen. Deshalb hat er sich ausbedungen, dass er seinen eigenen Namen als Autor des Werkes angeben durfte. Um überhaupt keinen Zweifel aufkommen zu lassen, nennt Campano seinen Namen nicht nur in Titel und Überschrift, sondern bringt ihn auch in die Gedichte selbst nachdrücklich ein. Mit diesem literarischen Anspruch kommt allerdings die Authentizität und Glaub6
7
Vgl. E. Zeller, Die Autobiographie. Selbsterkenntnis – Selbstentblößung (Abhandlungen der Klasse der Literatur [Mainz], Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Jg. 1995, Nr. 2), Mainz-Stuttgart 1995. Epigrammata I, 1, Z. 15–16.
Liebesdichtung als Auftragswerk
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würdigkeit der Liebesgedichte ins Gedränge. Zur Lösung des Problems kam Campano der reizvolle Einfall, sich als Nebenbuhler des Ritters darzustellen: Uns beide kettet ein und dieselbe Hand, Beide fielen wir der schönen Rechten zum Opfer. Während du mit Waffen gefällst, gefalle ich mit meinem Gedicht, Während dein Rücken von Gold glänzt, strotzt mein Schwarzes Gewand vom billigen dunklen Stoff. Nichtsdestoweniger erfüllt mich der Anblick von Dianas Antlitz mit Liebe: O wie viel Selbstvertrauen hat dein Dichter! Du trägst auf deinem Wappen berühmte Vorfahren, Wir jedoch erblickten das Licht der Welt im unbedeutenden Cavelle, In einem kleinen Haus, in einer unbekannten Familie. An allen Orten errichtest du Siegesdenkmäler Auf der ganzen Welt gibst du Spiele. Ich, der vom Rauch des Herdes geschwärzte Dichter sitze im gähnend leeren Haus Und fürchte, zitternd vor Kälte, das Herannahen des Dezembers. Wenn es Winter wird, sieht man Campano nicht Auf dem brausenden Marktplatz oder in den Tempeln der Götter.8
Die Liebesgeschichte des Ritters ist historisch belegbar. Diana bezeichnet Margherita da Montesperello, die mit dem Patrizier Francesco di Pietro della Bottarda verheiratet war.9 Braccio Baglioni verliebte sich in Margherita im Sommer 1455, nachdem seine Ehefrau Toderina Fieschi im vorhergehenden Jahr gestorben war. Als das Verhältnis mit Margherita auf nichts hinausgelaufen war, verheiratete sich Braccio im Frühling 1456 mit der Edelfrau Anastasia Sforza. Campanos Elegienbuch muss demnach zwischen Sommer 1455 und Frühjahr 1456, vor der Heirat mit Anastasia Sforza geschrieben worden sein. Campano reiht den Text in den Diskurs der römischen Elegiker Tibull, Properz und Ovid ein.10 Ein Hauptmerkmal des Diskurses der römischen Elegie ist, dass sich das elegische Ich im Rahmen persönlicher Befindlichkeiten konstituiert. Somit ist klar, mit welchem Problem Campano kämpfte: Es mag zwar ehrhaft sein, von einem Edelmann ersucht zu werden, dessen Herzensdame zu besingen – im Fall der Gattung Liebeselegie gerät dadurch allerdings die Glaubwürdigkeit der dichterischen Selbstkonstituierung in Gefahr. Die römischen Elegiker besangen ihre eigenen Geliebten. Wenn Campano davon abwiche, würde er sich dem 8 9 10
Epigrammata I, 4, 3–18. Vgl. Poeti Latini del Quattrocento, 791–792, Anm. Seinen Wettbewerb mit den antiken römischen Elegikern spricht Campano in der 14. Elegie explizit an.
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Vorwurf des geistigen Sklaventums aussetzen, jenes geistigen Sklaventums des Höflings, das Francesco Petrarca als die schlimmste und elendste Form der Abhängigkeit gebrandmarkt hatte.11 Die Elegie würde damit von einer subjektiven zu einer subjektentfremdeten Literaturgattung geraten. Campano hat dieses Problem der literarischen Selbstpräsentation auf zweifache Weise gelöst: Erstens, indem er vorgab, dass er sich selbst in Diana verliebte; zweitens, indem er den Elegienband mit einem besonders eindrucksvollen, explizit-autobiographischen Text versah, der Elegie Somnus. Es lässt sich verstehen, dass ein Gedichtband, der einem Literaturtypus angehört, der so nachhaltig mit dem Persönlichen verbunden ist wie die Liebeselegie, in dem aber das Persönliche – durch die Adoption einer fremden Liebe – gefährdet ist, ganz besonders eines autobiographischen Gedichtes bedarf, in dem der Autor nachhaltig in eigener Sache redet. Aufgrund dieser Tatsache ist erklärlich, dass die Elegie einen auffällig großen Umfang aufweist. Der Elegienband enthält fünfundzwanzig Gedichte, insgesamt 1195 Zeilen. Die Elegie Somnus allein nimmt aber mit ihren 324 Zeilen mehr als ein Viertel des Elegienbands in Anspruch! Während Campanos Elegien eine durchschnittliche Länge von 36 Zeilen aufweisen, ist das Gedicht Somnus neunmal so lang! Schon sein Umfang zeigt, dass es in Campanos Elegienband eine wichtige Stellung einnimmt. Die Problematik der literarischen Selbstkonstituierung, die sich aus der Ausgangslage ergab, ermöglicht uns zu verstehen, weshalb Campano die neue Konstruktion der Traumautobiographie der ersten Autobiographie vorzog. Die Traumautobiographie löst nämlich gerade dieses Problem besser. Sie legitimiert Campano als elegischen Dichter, indem sie einen überzeugenden Zusammenhang zwischen seinem Lebenslauf und dem Liebesgeschehen des Elegienbuches herstellt: Campanos frühere Geliebte hat von den Liebeselegien an Diana erfahren und erscheint ihm als eifersüchtige Frau im Traum. Um sie zu beschwichtigen, muss ihr Campano sein Leben erzählen und ihr auseinandersetzen, wie er nach Perugia kam usw. Nebenher vermag Campano durch die autobiographische Konstruktion der Elegie Somnus die Aufrichtigkeit seiner Liebe zu Diana überzeugend zu beglaubigen. Kern der Authentifizierung ist die Selbstdarstellung im Status der Affektion: In der autobiographischen Erzählung wird 11
De vita solitaria (ed. Enenkel) I, 3, 2–7, mit Kommentar.
Mein Name sei Campano
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das elegische Ich in ein Wechselbad von Gefühlen getaucht. Dem liegt einerseits der Gedanke zugrunde, dass Gefühle nicht lügen, andererseits geht es um eine Bescheinigung zur Diskursbefähigung. Diese wiederum kann nur durch Beglaubigung des Status der Verliebtheit geleistet werden. Die ultimative Beglaubigung der Verliebtheit ist die Ernte, die Campano in den Schlusszeilen der autobiographischen Erzählung einfährt: Die Liebe zu ihr (Diana, Anm.) ist wirklich: Damit sie (Sylvia, Anm.) glaube, dies sei nicht der Fall, stritt ich es ab; So schien ich meine Geliebte beschwichtigt zu haben. Est amor: esse tamen ne crederet illa, negavi. Sic dominam visus conciliasse meam (Z. 323–324).
4. Mein Name sei Campano. Der Dichter, seine neue Heimat und die epische Selbstkonstituierung In der Humanismusforschung hat sich der Name des Autors Campano so stark eingebürgert, dass er als Selbstverständlichkeit erscheint. Der Umstand, dass hier die italienische Form verwendet wird, verschleiert jedoch hier die Tatsache, dass es sich um einen humanistischen Künstlernamen handelt. Eigentlich hieß der Dichter mit seinem italienischen Namen Giovanni Antonio de Teoli. Dies war sein Name, als er sich in Venafro und Suessa aufhielt, als er sich im Dienst der Familie Pandoni befand, und auch, als er in die Toskana und nach Umbrien einreiste. Der Name Campano bzw. lateinisch Campanus („der Kampanier“) hätte bis 1452, bevor der Dichter in Perugia eintraf, überhaupt keinen Sinn ergeben – in Kampanien war natürlich so gut wie jedermann ein Kampanier. Die Annahme des neuen Namens fällt mit dem Hervortreten als humanistischer Autor zusammen. Hier haben wir einen weiteren Fall vor uns, in dem ein Humanist einen neuen Namen und somit eine neue Identität annimmt. Welchen Vorteil hatte der Dichter davon, dass er sich im Gewand des Kampaniers seinem Publikum zeigt? Warum verwendete er als lateinischen Namen nicht die ebenfalls wohlklingende Form „Johannes Antonius de Teolis“? Da Campano seine niedrige Abstammung auch sonst unumwunden zugab, stellt eine Verschleierung derselben keinen schlüssigen Grund für den Identitätswandel dar. Auch die Tatsache an sich, dass er sich in
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Perugia aufhielt, erklärt die Annahme eines neuen Namens nicht. Campano absolvierte in Perugia zunächst ein Studium. Zur Immatrikulation war sein ursprünglicher Name relevant; eine Erweiterung desselben mit einer Herkunftsbezeichnung stellte eine Option dar, ersetzte den Familiennamen jedoch nicht. Für die Neudefinition des Namens waren einige weitere Aspekte entscheidend: Erstens wollte der junge Dichter einen Namen besitzen, mit dem er sich als lateinischer Schriftsteller unter die antiken Autoren einreihen konnte. Der Familienname de Teolis eignete sich dazu nicht sehr gut, erstens weil der Namensteil „Teolis“ in der antiken lateinischen Literatur nicht bezeugt ist, zweitens weil dieser Familienname keine sozial gehobene Stellung vermittelt. Es war angezeigt – man vergleiche Petrarcas Namensfindung – einen überzeugenden lateinischen Namen zu finden, der die Rolle eines antik-römischen Nachnamens (nomen oder cognomen) übernehmen konnte. Dazu bot sich Campania an, der Name der italischen Region, der schon in der Antike vorhanden war. Der Name gab nicht nur Campanos Herkunft an, wie sie den Tatsachen entsprach, sondern besaß vor allem einen Appeal von dem Zuschnitt, den ein junger Dichter sich wünschen konnte. Denn in Kampanien lebte und arbeitete der berühmteste römische Dichter, Vergil. Kampanien fungiert somit als Dichterheimat. Weiter schrieb Vergil dort die größte Dichtung der römischen Literatur überhaupt, die Aeneis. Die Aeneis erzählt die Ankunft des Gründers des römischen Volkes in Italien, und Aeneas landete bekanntlich in Kampanien. Mein Name sei Campanus besagt somit auch: Ich stamme aus dem Land des Dichters, aus dem Land, das Aeneas betrat. Diese Doppelidentifikation war für ‚Campanos‘ Identitätskonstrukt viel sinnvoller als die Verwendung des obskuren Familiennamens de Teolis. Wir werden gleich darauf zu sprechen kommen, inwieweit die Aeneas-Identifikation in Campanos Traumautobiographie eine Rolle spielt. Die Annahme des neuen Namens Campanus setzt voraus, dass sich im Leben des Dichters etwas entscheidend verändert hat. Wenn er noch einfach ein Student gewesen wäre mit der Aussicht, nach dem Studienabschluss ins Vaterland heimzukehren, so wäre ein neuer Name nicht unbedingt erforderlich und gerade der spezifische Name Campanus wenig glücklich gewesen. Jedoch war der Dichter gerade zu der Zeit, in der er seinen ersten Elegienband verfasste, in Perugia zum Professor ernannt worden. Damit war klar, dass er in Perugia sesshaft werden würde. Erst aufgrund dieser Voraussetzung wird die neue Namensidentität plausibel.
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Dass der Dichter seine neue Campanus-Identität mit einer Identifizierung mit Aeneas besetzte, geht sogleich aus der Traumautobiographie hervor. Der Dichter konstituiert seinen Lebenslauf im Gewand des trojanischen Helden. Auf diese Weise ist zu erklären, dass der Dichter kurz vor dem Erreichen seines Reiseziels in einen schweren Sturm („tempestas“, Z. 101) gerät, der „die Segeln des Schiffs auf die hoch angeschwollene See zurückwirft“ („repulit in tumidum nautica vela fretum“, Z. 102), wonach er Schiffbruch erleidet (Z. 135). Natürlich reiste Campano nicht zu Schiff von Kampanien nach Perugia. Seine Reiseroute, die über Land ging, liegt in der ersten Autobiographie in einer detaillierten Beschreibung vor. Entscheidend ist, dass der trojanische Held Aeneas zu Schiff reiste und vor der Küste Libyens Schiffbruch erlitt. An der nämlichen Stelle erfahren wir, dass Campano, genau wie Aeneas, vom Schicksal den Auftrag erhalten hat, ein neues Vaterland („novas sedes“) zu suchen (Z.95). Genau wie bei Aeneas ist diese Vaterlandssuche mit „unzähligen Gefahren“ („mille pericula“, Z. 97) und „Irrfahrten“ verbunden: […] Es ist eine lange Geschichte, liebe Sylvia, dir meine Irrfahrten zu erzählen, In denen ich auf tyrrhenischem Boden hin- und hergeworfen wurde. Als das Schicksal mir auftrug, eine neue Heimat zu suchen Und ich Unglücklicher die väterlichen Laren verließ, Nahm die Toskana mich auf, der ich hin- und hergeworfen wurde in tausend gefährlichen Lagen, Und zwang mich das Los ins schöne Siena zu gehn. Da kein Sturm aufkam, glaubte ich, dass ich Den sicheren Hafen erreicht hätte. Aber da zog plötzlich ein Unwetter auf, das sich dem glücklichen Ausgang entgegenstemmte, Und die Segeln des Schiffes auf die hoch angeschwollene See zurückwarf (Z. 93–100).12
Wie Aeneas wird Campano, nachdem er Schiffbruch erlitten, gastfrei empfangen (von Braccio Baglioni). Wie in der Aeneis wird die Person, die Gastfreundschaft gewährt (Dido, Braccio), von Amors Pfeilen verwundet usw. Die inhaltlichen Gleichläufigkeiten werden mit einer Vielzahl wörtlicher Übernahmen und Reminiszenzen affirmiert (Z. 93–188). Indem sich Campanus das Gewand der Aeneas-Identität überzieht, legitimiert er sich als guter Fremder, der in Zukunft für die neue Heimat Bedeutendes vollbringen wird. Damit leistet der neue Name einschließlich seiner Aeneas-Anbindung Ähnliches wie die Traum-Autobiographie insgesamt. 12
Für den lateinischen Text s. oben, 254.
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Für die Traumautobiographie hat die Campanus-Identität aber noch eine weitere Relevanz: Nach Analyse der literarischen und diskursiven Verortung der Autobiographie erscheint fraglich, ob Campano ein erotisches Bekenntnis ablegen bzw. ein Dokument seines Liebesleben übermitteln wollte. Es geht ihm zuvorderst um eine überzeugende Selbstkonstituierung als lateinischer Dichter, bei der er sich als raffinierter Künstler erweist. Übrigens erscheint bei einer eingehenden Lektüre die Motivierung der autobiographischen Erzählung durch die Beziehung zu der kampanischen Geliebten wenig glaubwürdig. Wer soll diese Sylvia überhaupt sein? Es ist durchaus auffällig, dass sie – trotz der eingehenden Darstellung – merkwürdig unspezifisch bleibt, gar keine individuellen Züge aufweist, die sie als Mensch von Fleisch und Blut bezeichnen würden. Daraus ergibt sich, dass Sylvia ein literarisches Konstrukt ist, eine Gestalt, die eine literarisch-rhetorische Rolle spielt. Was ist die literarisch-rhetorische Aussage, in der das Konstrukt Sylvia figuriert? Dafür ist entscheidend, dass Campano die beiden rivalisierenden Frauen Sylvia und Diana mit seinen Aufenthaltsorten – der alten und der neuen Heimat – identifiziert: Dich (Sylvia, Anm.) erzeugte das milde Kampanien unter lieblichem Himmel, Wo sogar der harte Winter purpurne Rosen sprießen lässt. Sie aber (Diana, Anm.) beherbergt unter eisigem Gestirn die Erde Perugias, Wo der Tiber wälzt seine schlammigen Wasser Te placido genuit mitis Campania coelo, Fert ubi purpureas horrida bruma rosas. Hanc Perusina tenet gelido sub sidere tellus, Volvit arenosas hic ubi Tiber aquas (Z. 81–84).
Eine intertextuelle Parallele zur ersten Autobiographie, die durch wörtliche Gleichläufigkeit einer ganzen Verszeile besonders auffällig wird, zeigt an, dass in der Traumautobiographie Somnus nicht hauptsächlich eine erotische Beziehung verhandelt wird, sondern Campanos Identität selbst. Denn dort steht nicht, wie in Z. 81, „Dich erzeugte das milde Kampanien unter lieblichem Himmel“, sondern: „Mich erzeugte das milde Kampanien unter lieblichem Himmel“ (Z. 9). Campanos Kampanien-Identität ist also mit Sylvia identisch. In Z. 81–84 stellt Campano seine Kampanien-Identität der neuen Heimat („novas
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sedes“) auf eine Weise gegenüber, die für die neue Heimat nicht günstig ist. Denn Kampanien wird als idealer, angenehmer Ort dargestellt, an dem sogar im Winter die Rosen blühen, Perugia jedoch als unangenehmkalt, geradezu feindlich. Darf man daraus schließen, dass der heißblütige Süditaliener den Umzug in den Norden bereute und von Heimweh gequält wurde? Muss man befürchten, dass Campano sein neues Publikum damit vor den Kopf stieß? Beide Fragen sind negativ zu beantworten. Denn Campanos geschultes Lesepublikum hat verstanden, dass die für Perugia ungünstige Gegenüberstellung in dem rhetorischen Kontext der elegischen Überzeugungsrede funktioniert: Sie dient als Argument, mit dem Campano seine frühere Geliebte Sylvia überzeugen will, dass er sie noch stets liebt. Die letzte Zeile des Gedichts klärt den Leser jedoch auf, dass es sich um ein Scheinargument handelt. Campano hat gegenüber Sylvia nicht die Wahrheit gesprochen. Die Wahrheit ist, dass er Diana liebt. Die Geliebte Diana steht in der autobiographischen Erzählung aber für Perugia. Campanos erotisches Bekenntnis erweist sich also als Liebeserklärung an seine neue Heimat Perugia und an sein dortiges Publikum. Sein Name sei Campano, aber er liebe Perugia. Mit geradezu genialer literarischer Technik versichert sich Campano der Zuneigung seines neuen Publikums.
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Autobiographik als Welteroberung: Enea Silvio
X. Autobiographik als Welteroberung: Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II.; 1432–1464) 1. Einleitung. Das politische Machtmittel der autohistoriographischen Rede Am ersten Juni, der als Termin zur Eröffnung des Konzils festgesetzt worden war, stieg der Papst mit den Kardinälen, Bischöfen und dem gesamten Klerus zur Kirche herab, wo er die Kirchenfunktionäre und die Stände der Stadt zusammengerufen hatte. Dort wurde die Hl. Messe feierlich und unter großer Andacht der Anwesenden zelebriert […]. Als man bereits gehen wollte, gebot Pius von seinem Thron Stille und sprach folgende Worte: „Als wir in diese Stadt reisten, haben wir gehofft, Brüder und Söhne, dass wir dort die Gesandten der Könige, die vorausgeeilt waren, in großer Zahl antreffen würden. Wie wir sehen, sind aber nur wenige anwesend. Wir sind zutiefst enttäuscht und fühlen uns betrogen: Die Christen kümmern sich nicht in dem Maße um ihre Religion, wie wir geglaubt haben. Den Termin des Konzils haben wir lange vorher angekündigt: Keiner soll sagen, dass die Zeit nicht ausgereicht habe zu kommen, keiner soll sich ausreden, dass die Reise zu beschwerlich sei! Wir selbst haben uns weder um die Höhe des Apennins noch um den Winter gekümmert, obwohl wir an einer Krankheit laborieren und an Altersschwäche leiden. Nicht einmal Mutter Rom konnte uns zurückhalten, obwohl sie unsere Anwesenheit bitter benötigt, vor allem, da sie von Räubern umzingelt ist. Wir haben den Kirchenstaat nicht ohne Risiko verlassen, um dem katholischen Glauben zur Hilfe zu kommen, den die Türken vernichten wollen. Wir sahen, dass ihre militärische Stärke von Tag zu Tag wuchs, und dass ihre Waffen, die bereits Griechenland und Illyrien erobert hatten, nunmehr in Pannonien wüteten und dem treuen Volk der Ungarn zahlreiche Niederlagen zufügten. Wenn wir nicht bald einen weisen Entschluss fassen, wird, wie ich befürchtete, die Zukunft sein: Dass nach der Niederwerfung der Ungarn die Deutschen und die Italiener an die Reihe kommen und dass schließlich ganz Europa erobert werden wird […]“. „Speravimus, fratres ac filii, hanc urbem adeuntes frequentes qui precessissent regum legatos invenire. Pauci assunt, ut videmus. Decepti sumus: non est religionis cura apud Christianos quantam credidimus. Conventionis diem longissimam statuimus. Nemo temporis brevitatem accuset, nemo viarum incom-
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moda causetur. Nos egritudine laborantes et affecti senio Apeninum et hyemem contempsimus, nec nos alma Roma remorari potuit, quamvis medios inter latrones constituta nostram presentiam magnopere desideraret. Reliquimus Ecclesie patrimonium non sine periculo ut fidei catholice subveniremus, quam Turci pessundare nituntur. Videbamus illorum opes in dies augeri et arma que iam Greciam et Illyricum obtinuissent in Pannonia crassari et Hungarorum fidelem gentem multis afflictare cladibus. Verebamur quod futurum est, nisi sapimus: devictis Hungaris et Germanos et Italos et omnem prorsus Europam subactum iri […].“1
An dieser Stelle seiner Autobiographie, der Aufzeichnungen (Commentarii), zitiert Papst Pius II. (Enea Silvio Piccolomini),2 der Förderer des genialinnovativen Dichters Giannantonio Campano, sich selbst in extenso, indem er eine seiner Reden bis in den Wortlaut hinein ausgearbeitet wiedergibt. Die Rede ist nach den Regeln der lateinischen Rhetorik gebildet und zeugt von Eneas prächtigem, geschliffenem Stil. Die kurzen, prägnanten Sätze folgen den Stilvorschriften der klassischen indignatio-Rede. Zudem sind die Sätze rhythmisch gegliedert. Jedes Wort ‚sitzt‘ in Bezug auf seinen Sinn und in Bezug auf den Satzrhythmus. Kein Wort ist zuviel, kein Wort zuwenig.
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Aufzeichnungen (Commentarii) III, 1. Der lateinische Text hier nach der Ausgabe A. van Hecks: Pii II commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt (Studi e testi 312–313), 2 Bde., Vatikan 1984, Bd. I, 173. Für den lat. Text vgl. auch I. Bellus, I. Boronkai [Hrsg.], Pii Secundi pontificis maximi Commentarii, 2 Bde., Budapest 1993–1994), 137. Zu Pius II. siehe G. Bernetti, Saggi e studi sugli scritti di Enea Silvio Piccolomini, Florenz 1971; R. J. Mitchell, The Laurels and the Tiara. Pope Pius II, 1458–1464, London 1962; Ch.-E. Naville, Enea Silvio Piccolomini. L’uomo, l’umanista, il pontifice (1405–1464 ), Locarno 1984; L. Rotondi Secchi Tarugi (Hrsg.), Pio II e la cultura del suo tempo. Atti del I convegno internazionale 1989, Mailand 1991; G. Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst im Zeitalter der Renaissance, 3 Bde., Berlin 1856–1863. Zu Pius’ II. Commentarii vgl. G. Bürck, „Die Selbstdarstellung Pius’ II. in seinen Commentarii rerum memorabilium“, in: Ders. (Hrsg.), Selbstdarstellung und Personenbildnis bei Enea Silvio Piccolomini (Pius II.) (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 56), 1–68; R. Damiani, „Fortuna e scienza nei ‚Commentarii‘ del Piccolomini“, in: M. Pecoraro (Hrsg.), Studi in onore di Vittorio Zaccaria in occasione del settantesimo compleanno, Mailand 1987, 189–198; A. Esch, „Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II.: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, in: H. Boockmann, B. Moeller, K. Stackmann (Hrsg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge 179), Göttingen 1989, 112–140; H. Kramer, „Untersuchungen über die Commentarii des Papstes Pius II“, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 48 (1934), 58–92.
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Ein so langes in direkter Rede aufgeführtes und zudem stilistisch so fleissig geschliffenes Selbstzitat wirkt nach modernen Gesichtspunkten eitel3 und vermittelt damit ein für eine Autobiographie unpassendes Präsentationsbild des Verfassers. Moderne Leser werden sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass dieser Autobiograph narzisstisch veranlagt ist und in seiner Selbstverliebtheit seinem Reden solches Gewicht beimisst, dass er ohne eine detaillierte, wörtliche Wiedergabe der von ihm hervorgebrachten impressionanten Klangkaskaden nicht auskommt. Ein Autobiograph des 20. oder des noch jungen 21. Jahrhunderts würde im Fall, dass ihm eine Rede wichtig erscheint, wohl lediglich die Tatsache selbst, dass er bei einer bestimmten Gelegenheit eine Rede gehalten hat, vermelden oder höchstens ihren Inhalt grob umreißen, jedoch mit Sicherheit nicht eine bis in den Wortlaut ausgearbeitete und stilistisch geschliffene Rede reproduzieren. Die Irritation, die bei modernen Lesern entstehen mag, wird wohl kaum durch die Tatsache herabgemindert, dass sich dieser Papst als moralisches Vorbild brüstet: Während das übrige Kirchenvolk träge und nachlässig ist, hat er im Winter eine beschwerliche Reise auf sich genommen, obwohl er von Krankheit und Alter geschwächt war. Selbstlob war diesem Papst anscheinend nicht fremd. Dazu passt, dass er seine hohe Stellung im einleitenden Text unterstreicht: Er führt das Kirchenvolk an und gebietet von seinem Thron aus Stille. Diese auf Äußerlichkeiten orientierte Selbstfestlegung scheint den klischeehaften Topos von der Weltzugewandtheit der Renaissancepäpste aufs Beste zu bekräftigen. Im schrillen Kontrast zur Ruhmredigkeit und Eitelkeit der päpstlichen Selbstdarstellung scheint der langweilige, offenbar unprätentiöse Titel der Autobiographie zu stehen, welcher der Redetext entnommen wurde: Aufzeichnungen (Commentarii). Welche Implikationen hat der Begriff Aufzeichnungen? Will der Verfasser damit suggerieren, dass es sich um lose hingeworfene Notizen handelt, die vornehmlich der eigenen Erinnerung dienen und vielleicht ursprünglich nicht zur Publikation bestimmt waren? Handelt es sich um eine historische Materialsammlung? Ist damit eine tagebuchartige Selbstfestlegung gemeint? Enea Silvios zeitgenössische Leser, die von einem Autobiographen eine klug zurückhaltende Präsentationsweise erwarteten, würde zwar offenes Selbstlob befremdet haben, jedoch hätten sie eine wörtlich wiedergegebene und stilistisch geschliffene Rede nicht ohne weiteres als Eitelkeit gedeutet. Aufgrund des Titels Commentarii, der ihnen Caesars gleichnami3
Auch Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 119, bewertet Pius’ II. Selbstdarstellung als Redner in den Commentarii als „Eitelkeit“.
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ges Geschichtswerk in Erinnerung rief, verorteten sie den Text als historiographisches Werk. Es war ihnen bewusst, dass die Wiedergabe direkter Reden in den Diskursregeln der antiken Historiographie fest verankert war. Der mit diesen Diskursregeln vertraute Leser deutete Eneas Selbstzitat nicht in dem Sinn, dass sich der Papst gerne selbst reden hörte, sondern dass es den Text als Historiographie kennzeichnete und einrichtete. Die direkten Reden haben in historiographischen Werken einen bestimmten Sinn. Sie treten nicht an willkürlichen Stellen auf und haben prinzipiell nicht die Absicht, eine wirklich gehaltene Rede möglichst wortgetreu und vollständig zu übermitteln; sie sind keinesfalls Konserven oder ‚Tonbandaufzeichnungen‘ historischer Reden. Wenn der Leser eine direkte Rede antraf, sollte er die Ohren spitzen. Sie war ein Zeichen, dass er an einer Stelle von besonderer Wichtigkeit angekommen war, und zwar in zweifacher Hinsicht: an ihr findet sowohl eine dramatische Verdichtung als auch eine Deutung des historischen Geschehens statt. Der Historiograph vermittelte in den Reden nicht den Wortlaut, sondern förderte die Motivation und den Sinn des historischen Geschehens zu Tage. Die Stelle ist in der Tat von besonderer Wichtigkeit für Enea Silvios Geschichtswerk. In ihr tritt das Leitmotiv sowohl von Pius’ II. Selbstgeschichte als auch die seines Pontifikats hervor: Die Bekämpfung der türkischen Expansion durch die Organisation eines Kreuzzugs. Der Schock, der Europa durch die Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 traf, spiegelt sowohl eine kollektive Befindlichkeit als eine reale Bedrohung wider. Enea setzte sich mit allen seinen Kräften dafür ein, diese Gefahr zu bekämpfen, und wenn er dies in seiner Rede vermeldet, so ist das unter anderem die konkrete (und emotionale) Wiedergabe der persönlichen Motivation seines historischen Handelns.4 Es gehört zu Pius’ II. persönlicher Tragik, dass er sein hochgestecktes politisches Ziel schließlich nicht erreichte: Jahrelang versuchte er, die abendländischen Fürsten mit allen Mitteln und Argumenten zu überreden, ein Kreuzzugsheer aufzustellen, jedoch folgten diese seinem Aufruf nicht oder nur widerwillig. Als Pius II. 1464 schließlich ein Heer beisammen hatte, mit dem er in den Osten aufzubrechen gedachte, ereilte ihn im Hafen von Ancona der Tod.
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Vgl. E. Hocks, Pius II. und der Halbmond, Freiburg i. Br. 1941; L. von Pastor, Die Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance (1923), Bd. II, passim, bsd. 39–81 („Die orientalische Frage und der Kongreß zu Mantua 1459–1460“) und 222–289 („Die orientalische Frage 1460 ff.“ und „Kreuzzug und Tod Pius’ II“); F. Gaeta, „Sulla Lettera a Moametto di Pio II“, in: Bulletino dell’Istituto storico italiano per il medioevo e Archivio Muratoriano 77 (1967), 127–227.
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Die oben zitierte Rede stellt den Auftakt von Pius’ Türkenpolitik dar.5 Er berief in Mantua ein Konzil ein, um die christlichen Herrscher auf einen Türkenfeldzug einzuschwören. Bei der Eröffnungsmesse musste er jedoch feststellen, dass viele Gesandte gar nicht gekommen waren. Zahlreiche weltliche Herrscher hatten ihm also die kalte Schulter gezeigt. Das Beste, was er tun konnte, war eine Brandrede zu halten, von der er hoffte, dass sie den säumigen Herrschern zu Ohren kommen werde. Der Sinn der Selbstdarstellung als alter und kranker Mann, der im Winter den Apennin überwindet, ist nicht, sich als Moralritter zu brüsten, sondern ein wirkungsvolles rhetorisches Argument ex minore ad maius in Stellung zu bringen: Wenn es sogar ihm gelungen war, trotz Alter und Krankheit den winterlichen Apennin zu überqueren, so musste auch jeder Gesandte dazu imstande sein. Keine Ausreden also! Pius wollte mit seiner Rede die Christenheit wachrütteln und kampfbereit machen. Als Enea Silvio seine Commentarii aufzeichnete, besass das politische Ziel unverminderte Gültigkeit. Noch stets arbeitete Pius II. mit aller seiner Energie daran, einen Kreuzzug zustandezubringen; noch stets hielt er keine ausreichenden Garantien in Händen, noch stets hoffte er, sein Plan werde schlussendlich gelingen. Vom geschriebenen Wort rechnete sich Enea Silvio eine verstärkte Machtwirkung aus. Während er mit der in Mantua gehaltenen Ansprache nur einige wenige Gesandte beeindrucken konnte, wollte er mit der schriftlich vermittelten Rede die Machthaber und Intellektuellen ganz Europas erreichen und sie zum Kreuzzug zu überreden. Auf heutige Verhältnisse hochgerechnet besaß die in der Autobiographie transportierte Rede die gesteigerte Wirksamkeit der Fernsehübertragung einer Papstrede.
2. Ein Humanist auf den Stuhl des Petrus: die spektakuläre Karriere des Enea Silvio Als Enea am 18. Oktober des Jahres 1405 geboren wurde, sprach nichts dafür, dass er einmal die Politik Europas wesentlich mitgestalten werde.6 Seine Eltern, Silvio Piccolomini und Vittoria Forteguerri,7 fristeten als verarmte Patrizier in einem Dörfchen in
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Als solche leitet sie das dritte Buch der Commentarii ein. Für den autobiographischen Abriss vgl. Mitchell, The Laurels and the Tiara; Naville, Enea Silvio Piccolomini; Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini. Zur Adelsfamilie der Piccolomini siehe A. Lisini, A. Liberati, Genealogia dei Piccolomini di Siena, Siena 1900.
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Mittelitalien (Corsignano)8 ihr kärgliches Leben. Sie konnten sich nicht einmal leisten, sich wenigstens zeitweise in ihrer Vaterstadt Siena aufzuhalten. Ihr Dasein wurde weiter durch Vittorias außerordentliche Fruchtbarkeit mit einer Tendenz zu Zwillingsgeburten erschwert. Insgesamt schenkte sie achtzehn Kindern das Leben. Da die Eltern die Kinderschar kaum durchfüttern konnten, war an eine gute Ausbildung der Sprösslinge nicht zu denken. Es gab kein Geld für einen Privatlehrer oder für die Grammatikschule in Siena. Außerdem wurden die Kinder in der Landwirtschaft gebraucht. In der Praxis unterschied sich die Familie des Silvio Piccolomini kaum von einer armen Bauernfamilie. Der erste Lebensabschnitt des Enea Silvio war somit, ebenso wie der seines Schützlings Giannantonio Campano, von schwerer bäuerlicher Arbeit gekennzeichnet, die seine geistige Entwicklung hemmte. Für die schwierige Lage der Familie ist bezeichnend, dass abgesehen von Enea es niemand zu etwas brachte. Der Nahrungsmangel führte dazu, dass die meisten von Eneas Geschwistern frühzeitig starben. Die katastrophale Familiensituation erfüllte Enea später mit Schuld- und Schamgefühlen. Er hatte das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen. Als er zum Papst gewählt wurde, fasste er den Plan, das Dörfchen, in dem die Familie wohnte, in eine künstliche Stadt zu verwandeln, der er den Namen Pienza (Piusstadt) verlieh – ein bizzarres Unternehmen, das die Historiker der Architektur der frühen Neuzeit, freilich aus anderer Perspektive, auffällig intensiv beschäftigt hat.9 Enea, der bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr Bauer war, erlernte – eigentlich viel zu spät – die Grundbegriffe des Lateinischen vom Dorfpriester, wobei endlich seine hohe Begabung hervortrat. Sein Glück war, dass reiche Verwandte in Siena, Bartolomea und Niccolò Lolli, ihn in ihr Haus aufnahmen. Viel Zeit war aber bereits verloren gegangen. In dem Alter, in dem Enea in Siena mit der Schule anfing (mit zwanzig!), beendeten andere normalerweise das Universitätsstudium. Jedoch kompensierte er den langen Stillstand seines Geistes mit einer explosionsartigen Aufholjagd. Tag und Nacht paukte er lateinische Grammatik und lernte die lateinischen Klassiker auswendig, verzichtete sogar auf Mahlzeiten, um Zeit und Geld zu sparen. Für das Geld, das für Verzehr bestimmt war, kaufte er lateinische Texte. Darüber hinaus schrieb er Bücher eigenhändig ab, um über mehr Lesestoff zu verfügen. Er er-
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Der Name Corsignano ist heute von der Landkarte verschwunden. Das heutige Kleinstädtchen trägt den Namen Pienza. Siehe unten. Hervorragende Studien haben A. Tönnesmann, Pienza. Städtebau und Humanismus, München 1990, 2. Auflage 1996 (Römische Forschungen der Biblioteca Hertziana, Bd. 26) und M. Bonifazi-Geramb, Pienza. Studien zur Architektur und Stadtplanung unter Pius II., Ammersbek bei Hamburg 1994, geliefert; vgl. weiter N. Adams, The Construction of Pienza (1459–1464 ) and the Consequences of ‚Renovatio‘, Typoskript 1983; K. Bering, Baupropaganda und Bildprogrammatik der Frührenaissance in Florenz – Rom – Pienza, Frankfurt a. M.-Bern 1984; E. Carli, Pienza: Die Umgestaltung Corsignanos durch den Bauherrn Pius II., Basel 1965; Ders., Pienza. La città di Pio II, Rom 1966; L. Finelli, Pienza tra ideologia e realtà, Bari 1979; L. H. Heydenreich, „Pius II. als Bauherr von Pienza“, in: Ders., Studien zur Architektur der Renaissance, München 1981, 56–82; J. Pieper, „Pienza. Das Bühnenhaus einer humanistischen Zusammenschau der Gegensätze“, in: Bauwelt 77 (1986), 1711–1732.
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regte mit seiner Aufnahmefähigkeit, Intelligenz und seinem photographisch präzisen Gedächtnis Aufsehen und erwirkte, dass man ihm ein Studium an der Universität Siena ermöglichte. Am Studio in Siena durchlief er im Eilzugstempo die propädeutischen Kurse in Rhetorik und Poetik. Nachdem er sich die lateinischen Klassiker zu eigen gemacht hatte, verfasste er selbst lateinische Reden und Gedichte. Nach den propädeutischen Kursen nahm er – ein auf der Hand liegender Karriereschritt – das Jura-Studium in Angriff, um sich künftig als Anwalt in Siena zu verdingen. Trotz glänzender Studienresultate konnte Enea seinen Karriereplan nicht umsetzen. Es kam zu einem politischen Erdrutsch – diverse Mitglieder seiner Familie wurden geächtet und verbannt. Enea musste froh sein, wenn er überhaupt noch geduldet wurde – an eine Anwaltskarriere in Siena war nicht mehr zu denken. Als sich Enea Silvio in dieser trostlosen Lage befand, machte im Herbst des Jahres 1431 ein Kardinal, der gerade seinen Rang verloren hatte, unterwegs nach Basel, in Siena Halt. Domenico Capranica, von Martin V. (1417–1431) zum Kardinal ernannt, war von Eugen IV. (1431–1447) zum Bischof degradiert worden.10 Verbissen nahm Capranica den Kampf mit dem Papst auf. In Basel war im selben Jahr, am 23. Juli, ein allgemeines Kirchenkonzil eröffnet worden, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die längst fällige Kirchenreform nötigenfalls gegen den Willen des Papstes durchzusetzen.11 Die Zustimmung zu dem Konzil war noch dem todkranken Martin V. abgerungen worden. Es lässt sich nachvollziehen, dass der neue Papst weder mit diesen Ausgangspunkten noch mit dem Austragungsort des Konzils, der sich weit außerhalb des päpstlichen Einflussbereiches befand, einverstanden war. Eugen löste das Konzil kurzerhand auf und schrieb ein neues, in einer italienischen Stadt im päpstlichen Einflussbereich (Bologna), aus. Die Basler gaben jedoch nicht auf und widersetzten sich dem päpstlichen Beschluss. Um an Eugen IV. Rache zu nehmen, schloss sich Capranica den Baslern an. Für seine Basler Intervention brauchte er einen tüchtigen Sekretär, geschult in Rhetorik und Zivilrecht und natürlich auch mit sehr guten Lateinkenntnissen. Enea Silvio war der Mann, den er suchte. Auf diese Weise geriet Enea Silvio plötzlich in den Strudel der europäischen Politik. Die Reise nach Basel gestaltete sich zu einem riskanten Unternehmen, da das ausgedehnte Grundgebiet des papsttreuen Florenz nicht betreten werden durfte – also der Landweg abgeschnitten war. Mit viel Glück entkam Capranica aus dem mittelitalienischen Seestädtchen Piombino und schlug sich über Porto Venere, Genua und Mailand nach Basel durch. Dort wurde ihm der Kardinalsrang rückerstattet. Dennoch verlor er den Machtkampf mit Eugen IV. in kurzer Zeit, da, fern von seinen Pfründen, seine finanziellen Mittel versiegten. Somit konnte sich Capranica keinen Sekretär mehr leisten. Der degradierte Kardinal kehrte nach Italien zurück, um sich dem Papst zu unterwerfen. Enea musste sich nach einer anderen Einkommensquelle umsehen. Trotz des päpstlichen Widerstandes behauptete sich das Basler Konzil. Aufgrund dieser Tatsache blieb Enea Silvio in Basel. Er fand eine neue Sekretärsstelle bei
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Zu Kardinal Capranica vgl. Von Pastor, Die Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. I, 276–278. Für das Basler Konzil vgl. Von Pastor, Die Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. I, bsd. 303ff.
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Nicodemo della Scala, Bischof von Freising. Der Bischof verlor jedoch bald sein Interesse an dem Konzil und er reichte seinen Sekretär an Bartolomeo Visconti, Bischof von Novara (ein Städtchen unweit von Mailand), weiter. Aber auch diesem Dienstverhältnis war kein langes Leben beschieden, da Bartolomeo Visconti gleichfalls aufgeben musste. Der nächste Brotherr war für Enea jedoch ein Glücksfall, der sehr einflussreiche Kardinal Niccolò Albergati. In seinem Haushalt diente übrigens auch Tommaso Parentucelli, der künftige Papst Nikolaus V. (1447–1455). Mit Albergati reiste Enea Silvio zum Kongress von Arras (1435), in dem versucht wurde, den Hundertjährigen Krieg zu beenden. Enea wurde mit einer heiklen diplomatischen Mission betraut: Er sollte inkognito nach Schottland reisen, um König Jakob I. zu Scheingefechten an der schottisch-englischen Grenze zu überreden. Dadurch sollten die englischen Truppen gebunden und der englische König zum Einlenken gezwungen werden. Obwohl die Konferenz von Arras nur Teilerfolge verbuchte, erregte die abenteuerliche Geheimmission Enea Silvios viel Ansehen: Er erwarb sich damit den Status eines begehrten und respektierten Diplomaten. Enea Silvio hatte nunmehr Sitz im einflussreichen Zwölferrat des Basler Konzils, der die Konzilsagenda vorbereitete. Außerdem wurde er zu einer Reihe von Gesandtschaften herangezogen, in denen er das Konzil an verschiedenen Fürstenhöfen vertrat. 1437 führten die Spannungen zwischen dem Konzil und dem Papst zur Eskalation. Eugen IV. verweigerte nunmehr die Anerkennung. Das Konzil setzte den Papst ab und wählte einen Gegenpapst, Felix V. (1437–1447; vormals Amadeus VIII., Graf von Savoyen). Enea wurde die Ehre zuteil, zum Sekretär Felix’ V. ernannt zu werden. In der Folgezeit wurde er mit hochinteressanten und heiklen diplomatischen Missionen betraut. Als sich herausstellte, dass sich Felix V. nicht durchsetzen konnte, sah sich Enea nach einer anderen Stelle um. 1442 reiste er als Gesandter des Papstes zum Reichstag nach Frankfurt, den der gerade erst in Aachen zum Römisch-Deutschen König gekrönte Friedrich (Friedrich IV., später Kaiser Friedrich III.) abhielt. Freunde befahlen Enea dem König an, der dem ehrgeizigen Diplomaten eine Sekretärsstelle verlieh. Enea Silvio begleitete ihn in seine Residenzstadt Wiener Neustadt. (Abb. 2) Die Ambitionen Enea Silvios beschränkten sich nicht nur auf die Diplomatie und die Politik. Schon seit seiner Studentenzeit in Siena hatte er sich als Dichter und Schriftsteller betätigt. Diesen Aspekt seiner Persönlichkeit wollte er nunmehr verstärkt zum Ausdruck bringen. Seine Stelle am Königshof erschien ihm eine günstige Gelegenheit zu bieten, als Dichter anerkannt zu werden. Denn der Römisch-Deutsche König besaß die Gewalt, Schriftsteller zu gekrönten Dichtern, poetae laureati, zu ernennen. Eine Dichterkrönung würde Enea als Schriftsteller berühmt machen und ihm großes Prestige verleihen. Der Titel des poeta laureatus erinnerte Enea an Petrarca, den Gründervater der humanistischen Bewegung, sein großes Vorbild: Wie er wollte Enea sich als lateinischer Schriftsteller hervortun und mit den Alten wetteifern. Sein Name Silvio verstärkte das Gefühl der geistigen Verwandtschaft mit Petrarca: Hatte sich der Einsame von Vaucluse nicht Silvius genannt? Von Petrarcas Dichterideal ging eine starke inspirierende Wirkung aus. Außerdem hatte gerade Petrarca die Dichterkrönung der Antike zu neuem Leben erweckt. Enea wollte in die Fußstapfen Petrarcas treten. Der König erfüllte ihm nahezu unverzüglich, schon am 7. August 1442, während des Frankfurter Reichstages, den Herzenswunsch der Dichterkrönung. In seiner Kor-
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Abb. 2: Barbarini-Meister, Porträt Friedrichs III. als Römischer König (vor 1452). Ursprünglich Papier auf Pergament, später auf Nadelholz geleimt, 22,5 mal 16 cm. Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv. Nr. 841. (Katalog: Ausstellung Friedrich III. Kaiserresidenz Wiener Neustadt, 28. 5–30. 10. 1966, Kat.Nr. 126)
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respondenz und in seinen lateinischen Werken setzte Enea nunmehr den Titel vor seinen Namen (zum Beispiel: Eneas Silvius, DICHTER und kaiserlicher Sekretär, grüßt den durchlauchtigen Herrn Caspar Schlick, den kaiserlichen Kanzler).12 In der Tat wollte er die literarische Berechtigung seiner Dichterkrönung unter Beweis stellen: Er intensivierte seine literarische Tätigkeit, versuchte sich in verschiedenen Gattungen: Er verfaßte eine lateinische Komödie in der Nachfolge des Plautus, Chrysis,13 eine amouröse Novelle, die Geschichte zweier Liebender (Historia de duobus amantibus),14 die großen Erfolg hatte (mehr als dreißig Ausgaben; italienische, französische und deutsche Übersetzungen).15 Reichskanzler Schlick war die Hauptperson der Novelle, die seinen Liebeshandel mit einer verheirateten Frau in Siena erzählt, wo Schlick im Jahre 1433 mit Papst Eugen IV. über die Krönung Kaiser Sigismunds verhandelt hatte. Daneben versuchte sich Enea Silvio in den Gattungen des Dialogs und des lateinischen Traktats, indem er Ein Gespräch zu Fünft (Pentalogus)16 sowie die Verhandlungen Das Elend der Hofmänner (De curialium miseriis)17 und Die Pferdehaltung (De natura et cura equorum)18 verfasste. Weiter betätigte sich der poeta laureatus als Biograph: Er schrieb einige Biographien berühmter Zeitgenossen, die er später in der Sammlung Berühmte Männer (De viris illustribus) herausbrachte.19 Nebenher entstanden lateinische Gedichte.20 Von besonderer Bedeutung war für ihn das Medium des lateinischen Privatbriefs, zu dem ihn Petrarca anregte. Die lateinischen Briefe zeigen, in welchem Ausmaß die literarische Produktion des poeta laureatus anwuchs: In den zehn Jahren von 1431 bis zu seiner Dichterernennung hatte er ca. 100 Seiten (überlieferte) lateinische Briefe verfasst, in den drei Jahren von Ende 1442 bis Dezember 1445 fast 400 Seiten!21 Dennoch befriedigte ihn eine Stellung am Wiener Neustädter Hof nicht ganz. Die glänzende Rolle, die er sich selbst als kaiserlicher Sekretär und gekrönter Dichter zu-
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Wolkan, Der Briefwechsel, I, 1, Nr. 43 (S. 124): „Eneas Silvius poeta imperialisque secretarius salutem plurimam dicit magnifico domino Gaspari Schlick, imperialis aule cancellario“. Chrysis, ed. E. Cecchini, Florenz 1941. De duobus amantibus historia (ed. E. Dévay, Budapest 1904; ed. Wolkan in: Ders., Der Briefwechsel Bd. I, 1, Nr. 152, S. 353–393. Für die literarischen Werke Enea Silvios vgl. Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini, Bd. II, 265–341. Pentalogus, in: B. Pez (Hrsg.), Thesaurus anecdotorum novissimus, Wien 1721–1729, IV, 3, 736–744. Wolkan, Der Briefwechsel Bd. I, 1, Nr. 166, S. 453–487. Für den Text siehe ebd., Bd. I, 1, Nr. 154, S. 395–424. Siehe Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP II De viris illustribus, ed. A. van Heck, Vatikan 1991. Für die gesammelten Gedichte des Enea Silvio siehe Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP II Carmina, ed. commentarioque instruxit A. van Heck, Vatikan 1994. In der Seitenzählung von Wolkan, Der Briefwechsel, I. Abteilung: Briefe aus der Laienzeit (1431–1445). 1. Band: Privatbriefe, Wien 1909. In Brief Nr. 37 an Antonio Tedeschi (S. 112), verfaßt Mitte November 1442, betitelt sich Enea Silvio (in der Anordnung der Ausgabe Wolkans) zum ersten Mal als poeta, was darauf hinweist, dass der Brief nach seiner Ernennung zum poeta laureatus verfasst worden ist.
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bedacht hatte, korrespondierte oft nicht mit der täglichen Realität des Hoflebens. Seine Stellung am Hofe war in den ersten Jahren nicht sehr ehrhaft. Die Sekretäre und Kanzleischreiber durften nur am unteren Ende der kaiserlichen Tafel sitzen und erhielten dementsprechendes Essen und Trinken. In dem Traktat De curialium miseriis (Das Elend der Hofmänner) beschreibt Enea mit Grausen den billigen und schmutzigen Holznapf, in dem ihm an der Tafel des Kaisers die Getränke serviert wurden.22 Enea Silvio wollte höher hinaus. Aber wie? Der König riet zu einer Karriere in der Kirche. Dies schien auf den ersten Blick ein aussichtsloses Unterfangen, da man Enea Silvio mit dem Basler Konzil, das sich bis zum Äußersten dem Papst widersetzt hatte, und mit dem Gegenpapst Felix V. assoziierte. Mit Hilfe der habsburgischen Diplomatie gelang es ihm jedoch, von Eugen IV. Verzeihung zu erlangen. Der Römische König agierte nicht ganz uneigennützig: Er hoffte mit Enea in der Kirche einen vorgeschobenen Posten zu erlangen, eine Rechnung, die schließlich aufging. 1452 wurde Friedrich III. vom Papst Nikolaus V., Eneas Freund, zum Kaiser gekrönt. Im März 1446 wurde Enea Silvio in Wien zum Dechanten und – noch im selben Jahr – zum Priester geweiht. Er erhielt als Pfründe die Pfarre Sarntal in Südtirol und die Kirche zur Hl. Maria in Aspach, in Bayern. Von diesem Zeitpunkt an ging seine kirchliche Karriere, während er noch immer für König Friedrich diplomatische Aufgaben erfüllte (z. B. handelte er 1447 das Wiener Konkordat aus), steil bergauf: Im nächsten Jahr, unter dem neuen Papst Nikolaus V., seinem früheren Kollegen im Dienst Albergatis, wurde er zum Bischof von Triest geweiht, zwei Jahre später zum Bischof von Siena (1450). Diese Stelle bedeutete ihm, wie sich verstehen lässt, überaus viel: Der Sohn einer verarmten Sienesischen Familie, die sich nicht einmal den Aufenthalt in Siena leisten konnte, war nunmehr zum mächtigsten Mann seiner Vaterstadt emporgeklommen. Damit hatte seine Karriere noch keineswegs ihren Höhepunkt erreicht: 1456 wurde er zum Kardinalbischof der römischen Kirche Santa Sabina ernannt, zwei Jahre später – für viele unerwartet – zum Papst Pius II. (1458–1464).
3. Briefautobiographik 1 (ab 1432): ‚Die Entdeckung der Welt und des Menschen‘ oder Weltkontrolle durch die Rhetorik Enea Silvios Weg zur Autobiographik führte, wie der Petrarcas, zunächst zum lateinischen Brief.23 Dies fügt sich in einen umfassenden Imitationsdiskurs: Petrarca war für Enea Silvio insgesamt das Vorbild des Dichters 22
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Wolkan, Der Briefwechsel Bd. I, 1, Nr. 166, 453–487. Der Brieftraktat ist an den Advokaten Johann von Eich adressiert: „Eneas Silvius poeta salutem plurimam dicit domino Johanni de Aich, perspicaci et claro iurisconsulto“; er trägt das Datum „Bruck an der Mur, 30. Nov. 1444“ („Ex Pruck, pridie calendas decembris anno salutis 1444“). Siehe oben Kap. II. 4 „Neuer Vorstoß in den autobiographischen Raum: Die (Er)Findung des humanistischen Privatbriefes (Familarium rerum libri, 1345–1366)“.
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und Schriftstellers, an dem er sich orientierte, was unter anderen in der Dichterkrönung und in der Silvius-Identität zum Ausdruck kommt. In seinen diskursstiftenden Privatangelegenheiten (Rerum familiarium libri) hatte Petrarca vorgeführt, auf welche Weise der lateinische Brief als Medium für autobiographische Gegenstände verwendet werden konnte. Enea Silvio ließ sich von Petrarcas Diskurs der Briefautobiographik so stark inspirieren, dass man den lateinischen autobiographischen Privatbrief vielleicht überhaupt als seine Lieblingsgattung bezeichnen könnte. Insgesamt publizierte er fast ebenso viele lateinische Privatbriefe wie sein Vorbild. Dass Enea Silvio Petrarcas Korrespondenz aufmerksam gelesen hat, unterliegt keinem Zweifel, obwohl sich dies nicht durch Zitatoder Verweisreihen belegen lässt. Wie andere Humanisten zitierte Enea Silvio zur Autorisierung seiner Texte vor allem antike Autoren, kaum rezente oder zeitgenössische lateinische Schriftsteller. Trotz dieser klaren Sachlage finden sich vereinzelte Stellen in Eneas Briefen, aus denen hervorgeht, dass Petrarca für ihn in Bezug auf die Briefautobiographik die oberste Autorität war. Ein ganz wesentlicher Punkt der Selbstkonstituierung im Brief war, nach welchen Diskursregeln man seine Briefadressaten behandeln sollte: Sollte man sich an die Diskursvorschriften der zeitgenössischen Sozialhierarchie halten und seine oft sozial höhergestellten Briefpartner jeweils mit entsprechender Titulatur und in der vos-Form anreden, oder die aus der antiken lateinischen Briefliteratur überlieferte sozialhierarchie-indifferente Du-Form wählen? Enea Silvio verortete seine Briefe, indem er die zweite Variante wählte, im Diskurs der Briefkommunikation der humanistischen Sondergesellschaft, der Respublica litteraria. Als Autorisierungsinstanz, die ihn dazu ermächtigte, führt Enea Silvio Petrarca an, wie sich in einem Brief an Sigismund, den Herzog von Österreich, geschrieben im Jahr 1443, zeigt.24 Enea Silvio war nicht der einzige, der sich dem von Petrarca gestifteten autobiographischen Briefdiskurs anschloss. Zu der Zeit, in der Enea Silvio seine bisherigen Epistole zuerst als Briefsammlung arrangierte (1442–44), kann man bereits von einer etablierten humanistischen Literaturgattung sprechen.25 Zahlreiche Humanisten betätigten sich als Ver24 25
Wolkan, Der Briefwechsel Bd. I, 1, Nr. 99, S. 223. Brief vom 5. 12. 1443. Vgl. CNLS, 218–228; C. H. Clough, „The Cult of Antiquity: Letters and Letter Collections“, in: Dies. (Hrsg.), Cultural Aspects of the Italian Renaissance […] for P. O. Kristeller, Manchester 1976, 33–67; U. Hess, „Typen des Humanistenbriefes“, in: K. Grubmüller (Hrsg.), Befund und Deutung, Tübingen 1979, 470–497.
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fasser autobiographischer Privatbriefe, unter anderen Poggio Bracciolini,26 Leonardo Bruni27 oder Guarino Veronese28. Die Publikation der Briefautobiographik ist somit auch eine literarsoziologische Tat: Mit der Briefsammlung schrieb sich Enea Silvio, der unlängst gekrönte Dichter, in die humanistsche Sondergesellschaft der Respublica litteraria ein. In Enea Silvios Brief-Autobiographik kommt, wie in der Petrarcas, dem Reisen ein hoher Stellenwert zu.29 Wie aus Enea Silvios Lebensüberblick ersichtlich wurde, bildet die Reise nach Basel, die im Jahre 1432 stattfand, eine Art Wendepunkt in seiner Karriere und persönlichen Entwicklung. Insofern kann man nachvollziehen, dass er diese Reise in einer autobiographischen Darstellung festlegen wollte. Von ihr berichtet unter anderen ein Brief an den Podestà von Piombino, Tommaso della Gazzaia, vom 28. Februar 1432, in dem Enea den Reiseabschnitt von Piombino nach Genua beschreibt. Gleich zu Anfang verortet Enea Silvio den Brief im Diskurs der petrarkischen Briefautobiographie. Er vermeldet, dass er dem Podestà versprochen habe, für ihn von der Reise einen brieflichen Bericht zu verfassen: Ich hatte versprochen, Dir brieflich möglichst alles zu erzählen, was meinem Herren und mir auf der Reise widerfuhr und außerdem, wenn ich etwas sehen oder hören sollte, was des Erwähnens wert wäre. In vorliegendem Schreiben will ich dir prinzipiell nur das übermitteln, was ich mit eigenen Augen geschaut und mit meinen eigenen Händen berührt habe.30 Promiseram me tibi relaturum litteris, quoad possem omnia, que tam domino meo quam mihi contingerent itinerantibus nobis atque si qua viderem relatu digna audiremque. Sed meum consilium est nihil in presentia ad te scribere nisi que oculis ipse vidissem tetigissemque manibus.
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Poggio Bracciolini, Lettere, ed. H. Harth, Bd. I–III, Florenz 1984–1987; H. Harth, „Poggio Bracciolini und die Briefliteratur des 15. Jahrhunderts. Zur Gattungsform des humanistischen Briefs“, in: Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung DFG 9 (1983), 81–99. L. Gualdo Rosa, P. Viti, Per il censimento dei codici dell’epistolario di Leonardo Bruni, Rom 1991. Guarino da Verona, Epistolario, ed. R. Sabbadini, 3 Bde., Venedig 1915–1919. K. A. E. Enenkel, „Autobiographie en etnografie: humanistische reisberichten in de Renaissance“, in: Ders., P. van Heck, B. Westerweel (Hrsg.), Reizen en reizigers in de Renaissance. Eigen en vreemd in Oude en Nieuwe werelden, Amsterdam 1998, 19–56, bsd. 43–54; K. Voigt, Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de’ Franceschi, Stuttgart 1973, 77–126. Für den lateinischen Text siehe Wolkan, Der Briefwechsel, I, 1, Nr. 4, S. 4. Wolkans Text wurde mit Hilfe des Originals (Siena, Staatsarchiv) kontrolliert.
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Diesen Pakt der brieflichen Reiseberichterstattung hat Enea von Petrarca bezogen, der in den Privatangelegenheiten zum Beispiel in Bezug auf seine Reise nach Paris, Belgien, Aachen und Köln behauptet, er habe seinem Mäzen, Kardinal Giovanni Colonna, versprochen, ihm brieflich auf ungezwungene Weise kurze, sachliche Berichte seiner empirischen Reisewahrnehmungen zukommen zu lassen.31 In diesem Sinn berichtete Enea Silvio dem Podestà von Piombino: Nachdem wir das Schiff bestiegen hatten, wurden wir von ungünstigen Winden verschlagen und umrundeten Korsika und einen Teil Sardiniens in nicht mehr als einer Nacht, und am nächsten Morgen legten wir in Portovenere an. Dort trafen wir eine bewaffnete Galeere an, mit einer großen Schar von Bürgern zur Begleitung und mit einem Kommissär des Herzogs [von Mailand, Anm.], die der durchlauchtigste Fürst Filippo Maria entsendet hatte, um meinen ehrwürdigsten Herrn abzuholen. Als sich nun der Kapitän der Galeere, der Kommissär und die übrigen Bürger unserem Schiff näherten und sie der Kapitän unseres Schiffes benachrichtigte, dass er den bewußten Kardinal mitbrachte, erhoben diese ein Freudengeschrei. Man befahl die Trompeten zu blasen und alle übrigen Instrumente ertönen zu lassen, welche der Kommissär Opizinus zu Ehren meines ehrwürdigsten Herrn bestellt hatte. Die Jubelrufe der Seeleute hoben sich zum Himmel empor. Dann bestiegen wir die Galeere. Aber weil das Meer nicht befahrbar war, blieben wir in Portovenere und in La Spezia und hielten uns dort drei Tage lang auf. Am vierten Tag beruhigte sich die See. Drei Stunden vor Sonnenaufgang machten wir uns auf den Weg und fuhren mit so günstigen Winden, dass wir noch vor der vierten Stunde in Genua eintrafen. Zwei Galeeren kamen uns entgegen und boten uns Begleitschutz an. Im Hafen Genuas empfingen der Stadtregent Oldradus und der Herr Opizinus sowie eine ungeheure Menge von Patriziern meinen Herrn und sie begleiteten ihn unter gewaltigem Glockengeläut und lieblichem Klang von Musikinstrumenten zur Kirche des Hl. Johannes, wo sie für ihn ein wunderschönes Haus vorbereitet hatten, das mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet war, ja geradezu königlichen Luxus darbot […]. Wenn Du wissen willst, wie es mir persönlich geht, so höre, dass ich unversehrt in Genua angekommen bin und dass ich, obwohl von der ungestümen See etwas verängstigt, dennoch freudig und gut gestimmt bin, da meinem ehrwürdigsten Herrn alles glücklich vonstatten geht.32 Navem igitur ingressi ventorum importunitate Corsicam partemque Sardinie circuivimus nocte non amplius una et summo mane applicuimus ad Portum Veneris. Ibi galeam invenimus armatam cum magna civium comitiva et commissario ducali, quam princeps illustrissimus Philippus Maria pro reverendissimo domino33
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Vgl. Petrarca, Familiares I, 5, 17. Für den lateinischen Text vgl. ebd., Bd. I, 1, Nr. 4, S. 4–5. Der von Wolkan gedruckte Text weist einige Fehler auf, die sich mit Hilfe des Originals verbessern lassen. Im Original abgekürzt („R. d.“).
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meo armaverat iusseratque illam Plumbinum iter petere pro eodem reverendissimo domino34. Cum ergo patronus galee, commissarius ceterique cives obviam navi venerunt, a patrono nostre navis certiores facti, uti cardinalem illuc traduceret35, summo gaudio atque ingenti affecti letitia clamitarunt iusseruntque tubas canere ac omnia instrumentorum genera, que pro honorando36 reverendissimo domino37 dominus Opizinus miserat. Tendebat quoque ad celum usque clamor nauticus. Conscendimus tunc galeam, sed quia intractabile erat mare in ipso Veneris Portu atque in Spetie, tribus diebus moram fecimus. Denique quarto die placato mari horis ante diem tribus viam fecimus ita felicibus ventis, ut infra diei quartam horam Ianuam profecti essemus invenimusque duas alias galeas armatas pro tuenda illa, que nos conduxerat38. In portu vero ipso Ianuensium subito occurrit reverendissimo domino meo Ianue gubernator locumque tenens Oldradus et dominus Opizinus atque ingens civium multitudo nobilium et ipsum sotiaverunt usque ad Sanctum Iohannem cum magno et campanarum sonitu et instrumentorum dulcedine, ubi domum egregiam omni apparatu ornatam sibi providerant regio quidem luxu atque magnificentia […] De me autem si qua velis audire, scias me incolumem Ianuam petisse et inmanis39 maris insolentia turbatum, ilarem tamen atque iocundum, quoniam domino reverendissimo meo cedere omnia aspicio secunda.
An den folgenden Tagen hielt sich Enea Silvio mit seinem Herrn Kardinal Capranica in Genua auf. In einem weiteren Reisebericht in der Form eines lateinischen Privatbriefes, diesmal an den Freund Andreozio Petrucci gerichtet, beschrieb er die Stadt: Ich wollte, Du wärest bei mir. Denn vor Deinen Augen würde sich eine Stadt ausbreiten, die in der ganzen Welt ihresgleichen nicht hat. Sie liegt auf einem Hügel, oben von rauen Bergen umrahmt, unten vom Meer umspült. Dort breitet sich der Hafen bogenförmig aus, umsäumt von einer Mauer, damit die anschwellende See den Schiffen keinen Schaden zufügen kann […]. Dort befindet sich ein sicherer Hafen. Ständig trifft man dort eine überaus große Anzahl (von Schiffen) an, gewaltige, hoch wie Berge, Triremen, sowie eine Unzahl kleinerer Wasserfahrzeuge. Ohne Unterlass fahren sie aus und kehren wieder in den Hafen ein, von Osten und von Westen her. Dadurch kannst Du täglich die verschiedenartigsten Leute beobachten, mit unbekannten und barbarischen Gebräuchen, weiter Kaufleute, die mit ihren Warenstapeln herbeiströmen. Schon im Hafen, wo er an die Stadt grenzt, stehen großartige Paläste. In der Stadt selbst sind sie sämtlich aus Marmor und so hoch, dass sie in den Himmel hineinragen, reichlich mit Ornamenten und Säulen verziert […]. Die übrige Stadt erstreckt sich über den Berg. Dort sind die Palazzi so prächtig und schön,
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Im Original abgekürzt („R. d.“). Wolkan druckt „traducebat“. Wolkan druckt „onorando“. Im Original abgekürzt („R. d.“). Im Original steht „conduxerat“. Wolkan las den Text als „traduxerat“. Wolkan druckt „quamvis“.
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dass jedes einem Fürsten oder König angemessen wäre. Alle Häuser sind auf königliche Weise mit Ornamenten versehen, alle weisen eine unglaubliche Höhe auf und stehen dicht nebeneinander. Die Gassen freilich sind schmal und bieten nur zwei, höchstens drei Personen nebeneinander Raum. Auch Kirchen gibt es genug, wenngleich sie nicht so geschmückt sind, wie es sich für eine solche Stadt ziemen würde. Dennoch sind sie äußerst reich und mit den Grablegen der Adeligen prächtig geschmückt. Die Reliquienverehrung ist bemerkenswert. Ich habe die berühmte Smaragdschale selbst gesehen, aus der der Erlöser mit seinen Schülern gegessen haben soll. Die Schale leuchtete wunderbar. Übrigens ist die Stadt reich an Quellwasser, das von den Bergen herabströmt und in die Privathäuser geleitet wird und das außerordentlich süß und schmackhaft ist. Das schien mir über die Lage der Stadt und ihre Gebäude des Vermeldens wert. […]. Optarem in presentia mecum esses. Urbem enim cerneres, cuius similem non habet orbis universus. Est igitur in colle posita, cui supereminent montes asperrimi ad latus superum, pars vero inferior mari abluitur. Hic portus curvatur in arcum murusque tuetur illum, ne queat tumor pelagi navibus officere […]. Statio ibidem navibus satis fida, ubi plurime degunt semper ad instar montium ingentes triremesque et alia navigandi vascula preter numerum. Sedulo et vadunt et veniunt, he quidem ab orienti, ille ab occidenti sole, ut aspicias quotidie diversa hominum genera incognitosque et incultos mores, mercatores etiam cum universa merce adventantes. Extant quoque magnifica in ipso portu palatia, qua urbem tangit, marmorea undique celoque minantia, ornamentis columnarum decora nimis, pleraque sculpta figurisve insignita […]. Urbis autem reliquum in montem tendit. Ibi edes egregie sublimesque, ne qua sit, cuius excellentia atque decus non regi sive principibus conveniret. Cunctarum quippe regalis pompa, omnium altitudo ingens parumque inter se distant. Semite quidem anguste, duobus tribusve patentes hominibus. Sane templa deo immortali dedicata, quamvis decora non tamen digna tanta urbe, vero enimvero ditissima sepulturisque nobilium mire decorata. Habent reliquias in magna veneratione. Catinum, ut aiunt, smaragdinum, quo cenatum salvatorem cum discipulis narrant, ipsum vidi ac mire collucebat. Est preterea civitas aquarum copiosissima, que summis dilapse montibus singulis deserviunt edibus, dulces valdeque suaves. Hec de situ urbis atque edificiis notanda existimavi. […].40
Der epistemologische und literarische Ort dieser Reisebeschreibungen ist, wenn wir Enea Silvio glauben dürfen, der der schriftlichen Festlegung von empirischen Reisewahrnehmungen. Gerade dies hat Leser des 19. und 20. Jahrhunderts besonders angesprochen. Eneas Reiseberichten hat man eine scharfe Beobachtungsgabe, eine objektive Unmittelbarkeit und eine naive Offenheit des Blicks zugeschrieben. Enea Silvio erscheint 40
Ebd., Bd. I, 1, Nr. 6, S. 7–8. Datiert „Mailand, 24. März !1432"“ („ex Mediolano, 9. kalendas aprilis“).
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als sensibler und höchst aufnahmefähiger Beobachter, der in weltzugewandter Weise die Lebenswirklichkeit des 15. Jahrhunderts empirisch festhält. Jacob Burckhardt hat in seiner Kultur der Renaissance in Italien die empirische Beobachtung der Welt zu einem Hauptkonzept des „Renaissancemenschen“ erhoben, das er in dem Abschnitt „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“ verhandelt.41 Es waren gerade Enea Silvios Reiseberichte, die Burckhardt zu dem Konzept der Weltentdeckung inspirierten. Das Konzept enthält auch eine nationale Komponente: Burckhardt betrachtete Enea Silvio als Exponent der „RenaissanceItaliener“, des „modernen Entdeckervolkes im vorzugsweisen Sinn“.42 Diesen Italienern eigne ein „eigentümlicher Genius“, „die Dinge dieser Welt objektiv“ wahrzunehmen.43 Enea Silvio ist ein Mustervorbild der „Methode des objektiven Beobachtens und Vergleichens, wie sie nur ein durch die Alten gebildeter Landsmann des Columbus besitzen konnte. Tausende (Zeitgenossen, Anm.) sahen […], aber sie hatten keinen Drang, ein Bild davon zu entwerfen, und kein Bewusstsein, dass die Welt solche Bilder verlange“ (wie sie Enea zeichnete, Anm.).44 „Sein (Eneas, Anm.) Auge erscheint so vielseitig gebildet als dasjenige irgendeines modernen Menschen. Er geniesst mit Entzücken die große, panoramische Pracht der Aussicht vom höchsten Gipfel des Albanergebirges, dem Monte Cavo […] mit dem Blick auf die in der Tiefe ringsum grünenden Wälder und die nahe scheinenden Seen des Gebirges. Er empfindet die Schönheit der Lage von Todi, wie es thront über seinen Weinbergen und Ölhalden, mit dem Blick auf ferne Wälder und auf das Tibertal“.45 Burckhardts Konzipierung des „Renaissancemenschen“ als Weltentdecker und -beschreiber hat großen Einfluss gehabt, der bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht. Noch Klaus Voigt hat in seiner Monographie Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland (1973) die Reisebeschreibungen Eneas und anderer als Festlegungen empirischer Wahrnehmung bzw. durch Autopsie authentifizierter Beobachtungen, die als „Dokumente“ und „Zeugnisse“ zu lesen seien, betrachtet. „Wichtig“ sei „in jedem Fall, dass der Verfasser die von 41 42 43 44 45
Die Kultur der Renaissance, 10. Aufl., Stuttgart 1976, 263–331. Ebd., 264. Ebd., 266. Ebd., 265. Ebd., 280–281.
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ihm dargestellten Dinge aus eigener Anschauung und Erfahrung kannte, dass er Augenzeuge war“.46 Und die Hochschätzung von Eneas Reise- und Landschaftsbeschreibungen beschäftigt die Forschung weiter.47 Inwiefern trifft das Konzept der Weltentdeckung auf Enea Silvios Reisebericht an den Podestà von Piombino zu? Es scheint insofern stimmig zu sein, als Enea selbst als Zweck seines Reisebriefs die Vermittlung empirischer Reisewahrnehmungen angegeben hat. Es gab einen literarischen autobiographischen Diskurs, der seit Petrarca Reisebeschreibungen auf diese Weise sanktionierte. Enea Silvio legitimiert sich durch die Anbindung an diesen Diskurs. Dennoch sind Zweifel angebracht, sowohl was die Methodik als auch die Motivik der „empirischen Wahrnehmungen“ betrifft. Das wurde schon in Petrarcas Fall ersichtlich. Ähnliches gilt mutatis mutandis für Enea Silvios Reisedarstellungen. Zunächst muss man berücksichtigen, dass die Reise nach Basel von ihrer Motivation und Anlage her keinesfalls das ist, was man unter einer Entdeckungsreise versteht – eine Fahrt in unbekanntes Land, das dem Horizont der gebildeten Leser durch eine grundlegende Berichterstattung erschlossen werden sollte –, sondern eine Dienstreise. Enea Silvio reiste als Sekretär Kardinal Capranicas nach Basel, um an dem Konzil teilzunehmen. Von dieser Situation her erklärt sich die spezifische Reiseroute. Kein Mensch wäre unter normalen Umständen auf den Gedanken gekommen, von Mittelitalien her auf dem Seeweg nach Basel zu reisen. Der Einfluss des Papstes, vor allem auf dem sich weithin erstreckenden Florentiner Grundgebiet, verhinderte eine Reise zu Lande. Überall musste Capranica vor dem verlängerten Arm Eugens IV. auf der Hut sein. War der Adressat, der Podestà von Piombino, tatsächlich an einer empirischen Reisedarstellung interessiert? Das lässt sich aufgrund der Berichtgebung in den Commentarii widerlegen. Der Podestà war im Gegenteil daran interessiert, dass Enea nicht reiste. In der brieflichen Beschreibung fällt auf, dass Capranicas Schiff unter ungünstigen Winden ausfuhr. Warum wartete man nicht auf einen günstigen Wind, wie man dies unter normalen Umständen getan haben würde? Der Grund ist, dass Capranica bei Nacht und Nebel fliehen mußte, weil der Podestà
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Italienische Berichte, 9. Vgl. z. B. J. Heidlmeyer, Reise- und Landschaftsbeschreibungen in den Commentarii des Enea Silvio Piccolomini (Pius II.), unpublizierte Dipl. Arbeit Salzburg 1992.
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von Piombino ihn festhielt und ihm die Ausfahrt verweigerte.48 (Abb. 3 und 4)49/50 Dadurch ergibt sich, dass man die briefliche Beschreibung in einem anderen Licht lesen muss: Es ist ausgeschlossen, dass Enea Silvio dem Podestà mit einem objektiven Reisebericht einen Dienst erweisen wollte. 48
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Enea Silvio berichtet dies in seinen Commentarii I, 3 (ed. van Heck), S. 42: „Iacobus Appianus tyrannus loci, quamvis amicum se fingeret, Dominicum ne quod veheret navigium inhibuit. At ille, ubi dolos sensit, egressus oppidum uno tantum comite ad litus profugit atque ibi lembum nactus ad navim, que in alto pelago vagabatur, excurrit“. Pinturicchio, der in dem von Papst Pius III. (Francesco Toschini Piccolomini) 1503 in Auftrag gegebenen Freskenzyklus Enea Silvios Biographie in zehn Wandgemälden dargestellt hat (1505–1507), und Raffael, der die Vorzeichnung zu Bild 1 entwarf (1503; vgl. Abb. 4), haben die Abfahrt aus Piombino in der Hauptsache nicht gemäss der Darstellung der Commentarii eingerichtet, sondern mit freier Hand in einen erweiterten Lobdiskurs übertragen. Enea Silvio wird als strahlender Held dargestellt, was der Betrachter schon der Tatsache entnehmen kann, dass Enea als Hauptgestalt ins Zentrum des Bildes gerückt wird und seinen Herren, Kardinal Capranica, der damals die eigentliche Hauptgestalt war, überdeckt (dies geht auf Raffaels inventio zurück), und dass er auf einem wunderschönen Schimmel reitet, der zugleich das edelste Pferd des ganzen Bildes darstellt. Zu einer solchen Heldenverehrung passt natürlich nicht, dass man bei Nacht und Nebel flüchten musste. Vielmehr verwandeln Raffael und Pinturicchio, obwohl in den Commentarii das Gegenteil festgeschrieben wurde, die Flucht in eine prestigeträchtige, offizielle und ehrvolle Abreise am hellichten Tag. Enea Silvio, der Kardinal und sein Gefolge begeben sich zu Pferd und in vollem Ornat zum Gestade, an dem bereits die Schiffe bereitstehen. Der Podestà versucht keinesfalls die Abreise zu verhindern, sondern begleitet seine Gäste freundlich zum Hafen. Er ist links im Bild zu sehen. Pinturicchio hat ihn in vollem Ornat auf einem braunen Hengst reitend abgebildet, wobei er zur Erhöhung der Festfreude und seines Status ein herrliches Windspiel an der Leine hält. Bei Raffael ist der Mann links noch nicht so hervorragend ausgeschmückt; auch der Windhund fehlt. Bei Pinturicchio wütet im Hintergrund links bereits der Sturm, der die Reisenden auf die hohe See hinaustreiben wird. Bei Raffael ist von dem Sturm nicht viel zu sehen. Kardinal Francesco Piccolomini Todeschini fing mit dem Bau der Libreria Piccolomini 1492 an. Die Vorbereitungen für die Ausschmückung der Libreria mit Fresken gehen auf das Jahr 1502 zurück, als der Kardinal Pinturicchio von Rom nach Siena rief. Pinturicchio machte sich zunächst an die Bemalung der Kuppel. Raffael fertigte 1503 vier Vorzeichnungen an. Im Herbst 1503 wurde der Kardinal zum Papst ernannt (Pius III.), starb jedoch schon wenige Tage später. 1504 wurde ein neuer Kontrakt unterzeichnet, wonach Pinturicchio die zehn Wandgemälde mit den Hauptstationen aus Enea Silvios Leben ausführte. Für die Vorzeichnungen Raffaels siehe E. Panofsky, „Raffael und die Fresken der Dombibliothek zu Siena“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 27 (1915). Vgl. E. Ullmann, Raffael, Leipzig 1983, 18–19. Abb. S. 17.
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Das wäre geradezu ein Verrat an seinem Herrn, den der Podestà so schändlich behandelt hatte. Vielmehr handelt es sich um das Triumphgeschrei der Geflüchteten, die ihrem Kerkermeister, der ihnen übel mitgespielt hatte, ‚die lange Nase‘ zeigen. Der Podestà sollte vor Wut erbleichen, wenn er den brieflichen Bericht empfing, dass die Flucht gelungen ist, die Flüchtigen ihr Ziel erreicht haben und wohlauf sind. Deswegen betont Enea Silvio auch die Ehrbezeigungen, mit denen sein Herr von anderen Machthabern empfangen wurde: die ehrhafte Empfangsgaleere des Herzogs von Mailand mit dem Kommissär Opizinus an Bord, die Jubelrufe der Seeleute, das Trompetengeschmetter und sonstige Begleitmusik, den großen Empfang durch den Stadtherren von Genua, die „ungeheure Menge von Patriziern, den königlichen Luxus“, den man dem Kardinal angeboten haben soll. Zugleich wird dem Podestà ein Spiegel vorgehalten, wie er sich betragen hätte sollen. Wir haben somit keineswegs die objektiven, mit naiver Offenheit gezeichneten Reiseeindrücke eines enthusiastischen jungen Mannes vor uns, sondern einen literarischen Racheakt, den Enea hier als Sekretär im Auftrag seines Herrn ausführt, einen triumphalistisch ausgeführten Akt der Weltkontrolle. Analysiert man die „Methode des Beschreibens“, mit der der Brief gestaltet wurde, so ergibt sich, dass diese nicht von einem „offenem“ Beobachten, sondern von der Rhetorik des Lobes (laudatio) gekennzeichnet ist. Von den Ereignissen, die Capranica und Enea auf der Reise widerfuhren, hat der Humanist nur positive Aspekte ausgewählt, und diese hat er mit Methode in das günstigste Licht gesetzt. Der krönende Schlusspunkt ist die Ankunft in dem „wunderschönen Haus“ in Genua, „das mit allen Bequemlichkeiten, ja mit einem geradezu königlichen Luxus ausgestattet ist“. Dass hier nichts Unbekanntes ,entdeckt‘ werden sollte, geht schon aus der Tatsache hervor, dass die Reise als solche nicht beschrieben wird. Von höchstem Belang ist gerade das Bekannte, d.h. die bekannten sozialen Strukturen, die affirmierend eingesetzt werden. Ein wesentlicher Aspekt von Eneas Darstellungsmethode ist hier, dass gerade nicht beobachtet wird, sondern authentische empirische Wahrnehmungen ausgeblendet werden. Das lässt sich besonders gut aus der Tatsache ablesen, dass die Seereise in Wirklichkeit höchst abenteuerlich war, ja eine beängstigende Geisterfahrt, sozusagen ein ‚unvergessliches Reiseerlebnis‘ darstellte. Von Piombino, das Elba gegenüberliegt, nach Portovenere (vor La Spezia) segelt man normalerweise nicht, indem man „Korsica und einen Teil Sardiniens umrundet“, sondern indem man einfach die Küste entlang schifft (ca. 150 km). Enea wurde mit seinem Kardinal jedoch ca. 150 km aufs offene
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Abb. 3: Pinturicchio, Die Abreise des Enea Silvio aus Piombino (1503–1506). Für die Beschreibung des Bildes siehe Anm. 49. Fresco im Auftrag Papst Pius’ III. Siena, Dom, Libreria Piccolomini.
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Abb. 4: Raffael, Vorzeichnung für Die Abreise des Enea Silvio aus Piombino (1503). Federzeichnung, laviert und weiss gehöht, 70 × 41,5 cm. Florenz, Uffizien.
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Meer bis in die Meerenge zwischen Korsica und Sardinien hinausgetrieben, wonach man, ebenfalls überflüssigerweise, Korsica umsegelte, um nach ungefähr dreimal so langer Wegstrecke (450 km!) erschöpft, durcheinandergeschüttelt und verängstigt in Portovenere zu landen. Enea Silvio, der übrigens noch nie vorher zur See gefahren war, hat auf dieser Seereise Todesängste ausgestanden, von denen sich Reminiszenzen in den Commentarii finden.51 Nicht nur die Reiseeindrücke werden ausblendet – auch die faktischen Angaben sind nicht stimmig: zum Beispiel ist rätselhaft, wie das Schiff es geschafft haben soll, in einer einzigen Nacht eine Seestrecke von 450 km zurückzulegen. Es hat den Anschein, dass Enea die gesamte Darstellung nach rhetorischen Gesichtspunkten eingerichtet hat. Von offenem, sensiblem Beobachten kann hier also nicht die Rede sein. Vielmehr geht es um Weltkontrolle durch das Machtmittel der Rhetorik. Diese war allerdings angesichts der bedrohlichen Lage, in der sich Enea und sein Kardinal befanden, in hohem Maße sinnvoll. Ist die Beschreibungsmethode der rhetorischen Weltkontrolle nur darauf zurückzuführen, dass es sich hier möglicherweise um einen blossen Gebrauchstext52 für einen ‚practical joke‘ handelt? Das ist nicht der Fall. Die Methode der rhetorischen Weltkontrolle eignet allen Reise-, Stadt- und Landschaftsbeschreibungen Enea Silvios, jedoch findet sie auf unterschiedliche Weise und unter unterschiedlichen Prämissen statt. Die Reisebeschreibungen waren in der Regel zur Publikation vorgesehen und richteten sich an die Respublica litteraria. Die Berufung auf die empirische Wahrnehmung beschreibt nicht die Darstellungsmethode, sondern dient als topisches Legitimationsargument der descriptio. Von der Genua-Reise liegen weiterere beschreibende, autobiographische Berichte vor, in den Commentarii,53 in einem Brief an Kardinal Juan Carvajal aus dem Jahre 145054 und in dem oben zitierten Brief an Andreozio 51 52
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Ebd., 43. Der Brief ist im an den Adressaten verschickten Original überliefert (Staatsarchiv in Siena, busta n. 6. diplomatico a quaderno). Vgl. Wolkan, Der Briefwechsel, Bd. I, S. 4. In der von Pius II. autorisierten Sammlung in der Handschrift Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi I VI 208, fehlt der Brief. Dennoch hat er Aufnahme in Sammlungen mit Enea Silvios Briefen gefunden, siehe z. B. Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 12504, f. 17r. Den Hinweis auf diese Handschrift verdanke ich A. van Heck, der eine neue kritische Ausgabe der Briefe der Laienzeit vorbereitet. ed. van Heck, S. 42–43. Siehe dazu unten Kap. XI. 4, „Enea und Aeneas: hermeneutische ‚Erlebnisse‘ oder Einschreiben in den epischen Diskurs“. Wolkan, Der Briefwechsel, Bd. II, Nr. 44, S. 172.
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Petrucci. Alle drei Berichte richten sich an das größere Publikum der humanistischen Respublica litteraria. Inwiefern besitzt die Methode des genauen Beobachtens, der naiven Objektivität, der Offenheit des Blickes und der empirischen Wahrnehmung in Bezug auf diese drei Reisebeschreibungen Gültigkeit? Da die Darstellung in den Commentarii noch unten besprochen werden wird, beschränke ich mich hier auf den Brief an Petrucci. Zunächst fällt auf, dass die Beschreibung nicht sehr genau, sondern eher allgemein gehalten ist. Es ist nicht leicht, sich aufgrund von Eneas Angaben ein konkretes Bild zu machen. Zum Beispiel ist wenig spezifisch, dass der Hafen für die Schiffe einen sicheren Landeplatz darbiete („statio ibidem navibus satis fida“) und von einer Mauer gesichert sei („murusque tuetur illum“), dass dort immer zahlreiche Schiffe liegen („plurime degunt semper“), ja überhaupt „zahllose“ Boote vor Anker liegen, und – natürlich – ständig Schiffe aus- und einlaufen („sedulo vadunt et veniunt“), und zwar – wie überraschend! – zum einen Teil von Osten, zum anderen von Westen; oder dass man im Hafen verschiedenartige, unbekannte Leute sehen kann oder gar Kaufleute, die „ihre ganze Ware mitbringen“. Was sonst? Derartiges lässt sich von jedem Hafen sagen. Um solche Angaben zu machen, braucht man keine Reise zu unternehmen und eine Augenzeugenschaft ist schon gar nicht erforderlich. Das ist a priori wahr, und man kann es an einem beliebigen Ort auf dem Schreibpult konstruieren, sogar ohne dass man je irgendeinen Hafen mit eigenen Augen gesehen hat. Ähnliches gilt für die Beschreibung der Gebäude. Mit Hilfe von Enea Silvios Angaben kann man sich keinen einzigen Palast, kein Haus, keine Kirche konkret vorstellen. Die Häuser sind „riesig“ und „ungeheuer hoch“, „prächtig“ und „schön“. Nur die Gässchen sind ein bisschen schmal. Letztes mag zwar von modernen Betrachtern als interessante Beobachtung gedeutet werden, ist aber überhaupt nicht signifikant, da sich dasselbe von fast jeder spätmittelalterlichen Stadt aussagen lässt. Fazit ist, dass eine möglichst genaue, konkrete, offene und objektive Registrierung empirischer Wahrnehmungen nicht Eneas Hauptziel gewesen sein kann. Es geht ihm vielmehr um eine bestimmte diskursive Verortung des Beschriebenen. Dafür ist die rhetorische Methode der laudatio grundlegend. Im Regelwerk der laudatio sind prädikative Festlegungen wie zum Beispiel, dass der Hafen „sicher“, die Schiffe „zahllos“, „gewaltig“ und „hoch wie Berge“, die Paläste „riesig“, „ungeheuer hoch“, „schön“ und „prächtig“, ja „einem Fürsten oder König angemessen“ seien usw., sinnvoll. Genauer hat Enea Silvio die Beschreibung Genuas
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Autobiographik als Welteroberung: Enea Silvio
nach den Diskursregeln des Städtelobes verfasst.55 Es darf vorausgesetzt werden, dass Enea davon ausging, dass seine Leser – die Mitglieder der humanistischen Respublica litteraria – mit den Diskursregeln des Städtelobes vertraut waren. Sie konnten Schritt für Schritt nachvollziehen, auf welche Weise der Autor in der „Beschreibung Genuas“ die Vorschriften umsetzte. Die Rhetoriktraktate schrieben eine Zweiteilung vor: zuerst die Stadt selbst, dann die Sitten und Gebräuche ihrer Bewohner. In dem Sinn sollte man entweder mit dem ehrwürdigen Alter der Stadt oder mit ihrer günstigen Lage anfangen.56 Genauso ist Enea vorgegangen. Im Falle Genuas lag das Zweite auf der Hand. Die Zuordnung der Einzigartigkeit bezieht sich auf die Lage der Stadt: „auf einem Hügel, oben von rauen Bergen umrahmt, unten vom Meer umspült. Dort breitet sich der Hafen bogenförmig aus […]“. Nach der Behandlung der Lage einer Stadt sollen ihre Gebäude gepriesen werden.57 Aus der Lektüre des Textes geht hervor, wie genau Enea hier die Diskursregeln befolgt hat. Und dies gilt für alle folgenden Punkte, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt zu werden brauchen. Auf welche Weise ist das Städtelob in der Autobiographik verortet? Diesbezüglich sind mehrere Sinnzusammenhänge entscheidend. Erstens konstituiert sich der Verfasser durch das Städtelob als Mitglied der briefvernetzten humanistischen Respublica litteraria. Nur Mitglieder derselben sind zu derartigen Darstellungen imstande. Das Städtelob wird damit zu einem wichtigen Akt der Selbstdefinition. Der junge Humanist Enea Silvio benutzt es als willkommenes Mittel, sich einen Zugangsschein zu der ersehnten intellektuellen Gemeinde auszustellen. Zweitens dient es dazu, die jeweilige Stadt in der Biographie zu verorten: Die Intensität und die Beschaffenheit des Lobes werden der Rolle angepasst, welche die jeweilige Stadt im Leben des Autobiographen spielt. Genua kam im Leben des Enea Silvio eine durchaus positive Rolle zu: Der Aufenthalt in Genua ist gleichbedeutend mit der Rettung aus einer gefährlichen und misslichen Situation und zugleich ein wichtiger Schritt Richtung Basel, von wo aus die Karriere des Humanisten steil nach oben führte. Ausserdem hatte die Stadt den Brotherren des Huma55
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Für diese Deutung von Enea Silvios Reisebeschreibungen siehe Enenkel, „Autobiografie en etnografie“, 47–54. Zur Literaturgattung des Städtlobes s. H. Goldbrunner, „Laudatio urbis. Zu neueren Untersuchungen über das humanistische Städtelob“, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 63 (1983), 313–328. Vgl. Quintilian, Institutio oratoria III, 7, 26. Ebd., III, 7, 27.
Eroberung des Dichterraumes als neuer Horaz
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nisten, Kardinal Capranica, ehrhaft aufgenommen, ihm Unterkunft gewährt und einen „wunderschönen“ Palast zur Verfügung gestellt. Drittens strahlt das Lob des Aufenthaltsorts auf den Autobiographen ab. Es ermöglicht ihm, seinen Status und seine Bedeutung auf indirekte Weise zu erhöhen. Dieser Effekt war für Enea Silvio, den Abkömmling einer verarmten Familie, von besonderer autohistorischer Bedeutung: Er brauchte ihn zur Selbstbestätigung auf seinem ambitiösen Weg nach oben. Damit hängt die vierte Sinnverankerung zusammen. Der Autobiograph Enea Silvio stellt seine Karriere als Welteroberungszug dar, bei dem er durch die Methode der Stadtbeschreibung eine Stadt nach der anderen ‚nimmt‘. Er eroberte sich die Welt nicht nur durch die Ämter, die ihm zuteil wurden, sondern auch durch die literarische Darstellung in der Autobiographik. Die Diskurszuordnungen, die er vornimmt, üben einen imperialistischen Zwang aus. Mit seiner rhetorischen Autobiographik vereinnahmte Enea Silvio die Welt.
4. Briefautobiographik 2 (1444): Versuch der (Rück)Eroberung des Dichterraumes durch Selbstkonstituierung als neuen Horaz Im Spätherbst des Jahres 1444 reiste Enea Silvio im Gefolge des kaiserlichen Kanzlers Kaspar Schlick von Innerösterreich in die Steiermark, von Wiener Neustadt nach Bruck an der Mur. Von dort schickt er dem Freund Johann Lauterbach einen autobiographischen Brief.58 Am Anfang des Briefes trifft er mit dem Adressaten eine autobiographische Diskursabmachung. Der Adressat ist an einem biographischen Bericht über den Absender interessiert, der seinerseits bereit ist, diesem Wunsch zu entsprechen: „Ich glaube, da du weißt, dass ich nicht am Hofe des Königs (Friedrich IV., Römisch-Deutscher König, der spätere Kaiser Friedrich III., Anm.) bin, wirst du fragen, was ich treibe und wo ich bin; aber niemand kann dir hierüber besser Auskunft erteilen als meine Feder, die dir bereitwillig deinen Wunsch erfüllt […]. Hör also, was uns zunächst in Wiener Neustadt geschehen ist, und dann sollst du erfahren, was ich treibe und wo ich bin“.59 Nachdem Enea kurz auseinandergesetzt hat, was vorgefallen war (eine Seuche war ausgebrochen), wendet er sich der Schilderung seines Zustandes zu: 58 59
Wolkan, Der Briefwechsel, Bd. I, 1, Nr. 161, S. 446–448. Ebd., S. 446–447.
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Ich lass alle Sorgen des Amtes fahren […], bald geh’ ich in die Felder hinaus und weide mich mit einem ausserordentlichen Glücksgefühl an den sonnigen Bergen, an den Schlupfwinkeln des Waldes und an den schimmernden Wellen des Flusses. […] Und ich möchte dir jetzt erklären, wie selig mir der erscheint, der von Stadtgeschäften fern lebt wie einst das frühere Geschlecht der Menschen! Denn wer wird den nicht glücklich nennen, der, befreit von Zinsen und Schulden, das Land des Vaters mit seinen Ochsen pflügt. Höre nur, wie glücklich er ist! Nicht trotziger Hörner Schall ruft ihn aufs Schlachtfeld und zwingt ihn, in den Kampf zu ziehn. Er braucht nicht das wilde Meer zu fürchten; er vermeidet das Gezänk auf dem Marktplatz und die Schmährufe der Streithänse; nicht belagert er die stolzen Häuser der Reichen als Bittsteller, nicht die hochmütigen Höflinge, sondern lieber vermählt er schlanke Pappeln in Reihen mit Rebenranken, oder er sieht behaglich zu, wie im Schoß des versteckten Tales das Vieh grast. Bisweilen schneidet er mit dem Messer das tote Holz ab und propft auf den Stamm ein spriessendes Reis. Er bewahrt den selbst geschleuderten Honig in einem Krug auf, oder er schert die Schafe. Aber wenn der Herbst, mit reifen Früchten prächtig geschmückt, sein Haupt übers Land erhoben hat, welche Freude stellt es dar, die selbstgezogenen Birnen zu pflücken oder die purpurn glühenden Trauben. […]. Schön ist es, bald unter einer alten Eiche, bald im saftigen Grase zu liegen. Die Wasser rinnen von den hohen Felsen, die Vögel flöten im Walde, die Quellen plätschern den Felsenwassern entgegen und laden zu einem Nickerchen ein.60 Ego remissis omnibus curis […] nunc in agros egredior montesque apricos et silvarum latibula ac lucidas fluminis limphas non absque singulari mentis oblectatione intueor. […] Nunc illud te volo scire beatum mihi videri, qui vitam ab negociis procul publicis sibi delegit sicut prisca gens61 mortalium consuevit. Quis enim non felicem illum dicat, qui nullo fenore aut ere alieno obligatus rura suis bobus exercet. Audi quam beatus sit. Nempe non truci excitatur classico quo bellum petere ac pugnam iubeatur inire, non horret iratum mare, forum vitat et litigantium iurgia, non visitat superba divitum atria, non fastidiosis curialibus est supplex, sed aut altas populos adultis vitium propaginibus maritat aut in secreta reductaque valle errantes boves et armenta pascentia prospectat, interdum ramos inutiles falce resecat ac feliciores inserit, interdum mella, que pressit, puris recondit amphoris aut oves tondet62 lanasque recipit, aut,63 cum autumpnus decorum caput mitibus pomis per agros extulit magno afficitur gaudio, pira ex arboribus decerpens quas sua manu inseruit. Interdum et purpureas uvas colligit […]. Libet illi iacere modo sub antiqua ilice modo in tenaci gramine. Labuntur aque ex altis rupibus, queruntur aves in silvis, obstrepunt fontes manantibus limphis somnosque leves invitant. 60
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Für den lateinischen Text s. ebd. Wolkans Text weist eine Reihe von Fehlern auf, die hier u. a. durch eine Kollation mit der Handschrift Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi I VI 208, S. 397–398 beseitigt wurden. Wolkan druckt hier irrtümlich „mens“, während die Handschrift richtig „gens“ aufweist, wie es im Übrigen auch der zugrundeliegende Horaztext (Z. 2) erfordert. Wolkan druckt hier irrtümlich „tendet“, während die Handschrift das richtige „tondet“ aufweist, wie der zugrundeliegende Horaztext (Z. 16 „tondet“). Die Handschrift und Wolkan haben „at“. Sollte aufgrund der Satzstruktur zu „aut“ korrigiert werden.
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Die autobiographische Abmachung scheint zu suggerieren, dass eine empirische, authentische Landschaftsbeschreibung vorliege. Enea Silvio lagert sich anscheinend frohgemut in der Landschaft um Bruck an der Mur, geniesst den rot-goldenen Herbst in der Steiermark mit Birnen- und Traubenernte, sieht dem grasenden Vieh zu und geht dabei in Gedanken ganz im bäuerlichen Betrieb auf. Freilich ist das Datum des Briefes, der 13. November, viel zu spät für die steirische Birnenernte und ist Bruck an der Mur kein Weinbaugebiet, wie überhaupt in Eneas Textgewebe alle Jahreszeiten durcheinanderzulaufen scheinen. Aus einer Quellenanalyse geht hervor, dass es sich – obwohl Enea tatsächlich in Bruck an der Mur war, dort Spaziergänge in der Umgebung gemacht hat – um keine empirische Beschreibung handelt, sondern um ein Montagekunstwerk, das aus Versatzstücken aus der antiken Literatur zusammengesetzt ist. Der Hauptteil des Briefes ist eine Übertragung von Horaz’ 2. Epode, des Makarismos des Landlebens, in einen Prosa- und Brieftext. Auf den modernen Leser, der derartiges aufgrund des einleitenden expliziten autobiographischen Paktes nicht erwartet, mag dies enttäuschend wirkend. Statt authentischer Beobachtungen begegnet er einem lyrischen Gedicht des 1. Jh. v. Chr., dessen metrische Struktur (zweite jambische Strophe) sorgfältig zerlegt wurde. Der Sinn dieser literarischen Vorgehensweise ist nicht ohne weiteres verständlich. Was ist hier geschehen? Enea Silvio hatte gar nicht die Absicht, die steiermärkische Landschaft zu beschreiben. Sein eigentliches Ziel ist die Eroberung des Dichterraumes. Er war im August 1442 von König Friedrich IV. zum Dichter gekrönt worden. Er wollte seine Existenz und seinen Anspruch als poeta laureatus am Hofe Friedrichs nunmehr durch eine legitimierende Anbindung an die antike römische Dichtung festschreiben und absichern (Abb. 5 und 6). Dem Diskurs des poeta laureatus liegt ein Missverständnis zugrunde, genauer: Die Krönungsinstanz König Friedrich IV. und der Dichter Enea verstanden nicht dasselbe darunter. Enea war geneigt, die Dichterkrönung mit der Einladung, an den Königshof nach Wiener Neustadt zu kommen, zu identifizieren, das heisst, sie als Mäzenatsangebot zu interpretieren: Er hoffte, er werde sich dort vornehmlich der Abfassung literarischer Werke hingeben können, die er dann dem König widmen werde. Wenn Enea den Text der Krönungsurkunde wörtlich nahm, konnte er in der Tat darauf hoffen.64 Der König war aber letztenendes an 64
Für den Text der Krönungsurkunde „Bulla qua Fredericus Aeneam Silvium poetam laureatum creavit die 7. VIII. 1442“ siehe Carmina (ed. van Heck), S. 215–216.
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Abb. 5: Die Dichterkrönung Enea Silvios durch König Friedrich IV. Fresco von Pinturicchio (1505–1507), Siena, Dom, Libreria Piccolomini.
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Abb. 6: Die Dichterkrönung Enea Silvios durch König Friedrich IV. Fresco von Pinturicchio (1505–1507), Siena, Dom, Libreria Piccolomini. Detail.
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Eneas lateinischer Dichtung gar nicht interessiert, genauso wie er humanistische Werke, besonders Poesie, ignorierte und die Dichterkrönung auch sonst zumeist als inhaltslose (und zudem billige) Dekoration seiner Hofbeamten, die in der Regel noch keine einzige lateinische Verszeile verfasst hatten, verwendete. Aus Unterkirchners Analyse von Friedrichs Bibliothek geht hervor, dass sich darin keine Spuren humanistischer Interessen finden.65 Auch Lhotzky bemerkt zu Recht, dass Friedrich nicht viel für lateinische Poesie übrig hatte.66 Friedrich IV. war es ausschliesslich um Eneas Leistung als Sekretär zu tun. In dem vorliegenden Brief versucht Enea, den ihm seiner Meinung zukommenden Dichterraum (zurück)zueroben. Zu diesem Zweck schrieb er sich in das bekannteste Mäzenatsverhältnis der römischen Literatur, des Horaz und des Maecenas, ein. Maecenas hatte Horaz ein Landgut geschenkt, das es ihm ermöglichte, sich in der ruhigen Abgeschiedenheit ganz der Dichtkunst zu widmen. Indem Enea Silvio das Landleben mit Hilfe des Horaztextes lobt, erhebt er Anspruch auf die horazische Dichterexistenz.67 Weiter ergibt sich, dass die Selbstkonstituierung als Horaz stattfand, als sich Enea Silvio im Gefolge des Kanzlers Kaspar Schlick befand. Es ist nun in der Tat gerade Kaspar Schlick,68 dem Enea die Maecenas-Rolle zuteilt. Dies geht aus zwei weiteren lateinischen Privatbriefen hervor, die Enea zu Anfang der Beziehung mit Schlick, Ende des Jahres 1442 geschrieben hat (Nr. 42 und 43).69 In Brief Nr. 43 hat Enea Silvio bezeichnenderweise ein lyrisches Gedicht des Horaz (Carmina I, 1) als Prosatext montiert: Verschiedenartig sind die Bestrebungen der Menschen, mit denen sie sich den Fürsten empfehlen und nach denen sie ihr Leben einrichten. Manche reizt es, sich an einem Wettrennen im Stadion zu beteiligen und den Staub Olympias aufzuwirbeln, und mit glühenden Rädern den ehrenden Palmzweig zu ergattern. Einen, 65
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F. Unterkirchner, „Die Bibliothek Friedrichs III.“, in: Ausstellung Friedrich III. Kaiserresidenz Wiener Neustadt, 218–255. A. Lhotzky, „Kaiser Friedrich III. Sein Leben und seine Persönlichkeit“, in: Ausstellung Friedrich III., 38. Die Schlussverse von Epode 2, mit denen Horaz den Makarismos des Landlebens ironisiert, klammert Enea Silvio in seiner Prosabearbeitung wohlweislich aus. Zu Schlick siehe Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini, Bd. I, 275–278; O. Hufnagel „Caspar Schlick als Kanzler Friedrichs III.“, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 8 (1911), 283ff. Wolkan, Der Briefwechsel, Bd. I, 1, Nr. 42, S. 121–124 und Nr. 43, S. 124–125. Nr. 42 datiert auf den 23. 12. 1442; die Datierung von Nr. 43 ist unsicher. Aufgrund der inhaltlichen Nähe könnte man sich die Briefe auch in zeitlicher Nähe denken (so ist Wolkan vorgegangen).
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der einmal im Theater von den Zurufen des Publikum gefeiert wurde, einen, der einmal seinen Gegner im Ringkampf oder im Speerwurf besiegt hat, kann man unter keinen Umständen mehr überreden, eine andere Lebensweise zu wählen. […] Mir für meine Person gefällt nichts besser als der Efeu, der Preis der gelehrten Stirnen. Mir gefallen der kühle Wald und der Umgang mit den Musen, nicht mit dem Volk. Euterpe reiche mir die Doppelflöte […], und Polyhymnia ihr Instrument, das Barbytos genannt wird, die Muse, die zum Lob und Andenken des Menschen einen großen Beitrag leistet. Mein Name wird bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit geraten, vor allem, wenn du, Kaspar, mir günstig gesonnen bist, du mein Hort und meine beglückende Zier.70
Die von Enea montierte Ode nimmt unter den Gedichten des Horaz eine besondere Stellung ein: Es handelt sich um das Widmungsgedicht zu dem ersten Buch der Oden, das an den Patron Maecenas adressiert ist. Horaz bietet damit den vorliegenden Gedichtband seinem Patron zum Geschenk dar, wobei er diesen im Gedicht als notwendige Voraussetzung der Dichterexistenz präsentiert: Maecenas, Spross königlicher Ahnen, Mein Hort und meine beglückende Zier, Manche reizt es, in Olympia mit dem Rennwagen Den Staub aufzuwirbeln und mit glühenden Rädern Die Zielsäule ganz knapp zu umfahren. Der ehrende Palmzweig trägt sie zu den Göttern, den Herren der Welt, Empor. […] Mich aber macht der Efeu, der Lohn der gelehrten Stirnen, Den Göttern gleich, mich unterscheiden der kühle Wald Und die beschwingten Reigentänze der Nymphen und Satyrn Vom gewöhnlichen Volk, wenn mir Euterpe ihre Doppelflöte Nicht vorenthält und Polyhymnia sich nicht weigert, Ihr Barbitos aus Lesbos zu stimmen. Wenn du mich also unter die lyrischen Dichter einreihst, Rühre ich stolz mit dem Scheitel an die Sterne. Maecenas atavis edite regibus, / O et praesidium et dulce decus meum: / Sunt quos curriculo pulverem Olympicum / Collegisse iuvat metaque fervidis / Evitata rotis, palmaque nobilis / Terrarum dominos evehit ad deos/ […] Me doctarum hederae praemia frontium / Dis miscent superis, me gelidum nemus / Nympharumque leves cum Satyris chori / Secernunt populo, si neque tibias / Euterpe cohibet nec Polyhymnia / Lesboum refugit tendere barbiton. / Quodsi me lyricis vatibus inseres, / Sublimi feriam sidera vertice.71 70 71
Wolkan, Der Briefwechsel, Bd. I, 1, S. 125. Horaz, Carmina I, 1. Übers. nach M. Vosseler, mit Änderungen. Im hier zitierten Abschnitt von Enea Silvios Brief finden sich folgende wörtliche Übereinstimmungen mit der Horazode: „Quosdam iuvat in stadio currere et Olympicum colligere pulverem ac fervidis“ [in Wolkans Text steht das zweifellos falsche „favidis“, hier
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Indem sich Enea in diesen Diskurs einschreibt, konstituiert er Schlick als seinen Maecenas, der ihn mit (Geld)Geschenken unterstützen soll, so dass er sich, wie Horaz aufgrund der Wohltaten des Maecenas, ganz der Dichtkunst widmen kann. Diese Selbstkonstituierung im Verhältnis des Horaz mit Maecenas wird durch die Tatsache vertieft, dass Enea einen weiteren Prosabrief verfasste (Nr. 42), in dem er Schlick das Angebot eines Mäzenatsverhältnisses machte und sein Angebot sogleich in die Tat umsetzte, indem er ein lateinisches Gedicht als Geschenk beilegte (Epigrammata 14, inc. „Omnibus est animis […]“).72 In einer in München bewahrten Handschrift sind der Prosabrief und das Gedicht noch als Ensemble erhalten.73 Der Prosabrief erhält damit die Funktion eines Widmungsbriefes, mit dem das Gedicht Schlick zum Geschenk dargeboten wird und in dem Enea Silvio weitere literarische Geschenke in Aussicht stellt. Mit dem poetischen Geschenk schafft Enea ein fait accompli, das Schlick mehr oder weniger zwingt, auf das erwünschte Verhältnis einzugehen, umso mehr, als dieses ein reizendes Loblied auf den Kanzler darstellt74 und der Brief das Datum des 23. Dezember trägt. Enea erbittet sich also die Aufnahme in das erwünschte Mäzenatsverhältnis als Weihnachtsgeschenk. In dem Gedicht reiht Enea den Kanzler Schlick unter die Tugendhelden der römischen Geschichte ein.75 Bezeichnend ist, dass er in der ursprünglichen Version, die aus der münchner Handschrift Clm 12725 hervorgeht, Maecenas und Höhepunkt der römischen Geschichte darstellt.76
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verbessert; Anm. K. E.] „rotis curruum palmam nancisci nobilem […]“ „Me nichil magis delectat quam hedera, quod est premium doctarum frontium. Me gelidum nemus oblectat, cum Musis esse, non cum populo placet mihi. Exhibeat mihi tibias Euterpe […] et Barbyton […] Polymnia mihi tradat, que vel multe laudis vel multe memorie dicitur Musa […] Et potissime, si tu mihi, Gaspar, favebis, vite presidium et dulce decus meum“ (Wolkan, Der Briefwechsel, Bd. I, 1, S. 125). Carmina (ed. van Heck), Nr. 38, S. 65–69. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 12725, f. 192. Van Heck druckt den Text des Gedichtes an Schlick nicht nach dieser Handschrift, sondern nach den Epigrammata-Sammlungen in drei Vatikanischen Handschriften (Reg. Lat. 1461; Vat. Lat. 1786; Chigi I VIII 287). Bsd. Z. 55–84. Z. 55–56: „hosce et tu proceres inter numerabere, Gaspar, / His cum nullo sis nec probitate minor“. Ich drucke hier den Text der ursprünglichen Version, die sich in HS. München, Clm. 12725 befindet. Text im Quellenapparat bei van Heck, S. 69: 1. Scipiades, Fabii, Horatius Cocles, Camillus; 2. Caesar; 3. Augustus; 4. Maecenas („tum qui successit patrie pater [i.e. Augustus]; adde, benignus / Mecenas quantum nominis ipse ferat“).
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Dann folgt Schlick als organische Fortsetzung der römischen Geschichte in seiner Rolle als neuer Maecenas, der seinem antiken Vorbild in nichts nachsteht. Schlick übertrifft Maecenas sogar insofern, als er nicht einem, sondern drei Königen dient und über größere Sprachkenntnisse als Maecenas verfügt.77 Besonders fällt auf, dass Enea Schlick dafür lobt, dass er die Freundschaft plegt und sich niemals vom Geiz unterjochen lässt: „Pectore amiciciam servas, quasi fidus Achates / Collaque nec rapide flectis avaricie“.78 Das heisst im Klartext, dass Schlick sich in seiner Freundschaft so verhalten soll, wie der treue Kamerad von Vergils Aeneas,79 und vor allem mit (Geld)Geschenken nicht geizen soll. Aus den letzten Zeilen des Gedichtes geht dann Enea Silvios liebster Wunsch hervor, König Friedrich IV. über seinen Kanzler Schlick letztenendes zu dem Mäzenatsverhältnis zu verpflichten, auf das die Dichterkrönung hoffen liess: Es möge dir (Kaspar Schlick, Anm.) ein langes Leben beschieden sein, gemeinsam mit unserem Kaiser (sic; Friedrich war noch nicht zum Kaiser gekrönt worden), da du seiner würdig bist, und er deiner. Lebt beide glücklich und vollends glückselig und Erweist mir bitte als einem in der Schar eurer treuen Diener eure Liebe. Vive diu felix nostro cum Cesare, postquam Dignus es illius, dignus et ille tui est. Vivite felices ambo penitusque beati Et me vel famulos inter amate probos.80
Durch seine Selbstkonstituierung als neuer Horaz im Zuge seiner Horazmontagen versuchte Enea Silvio auf den, wie er meinte, ihm zukommenden Dichterraum Anspruch zu erheben. Jedoch ist der Schluss von Brief 43 „Mein Name wird bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit geraten, vor allem, wenn du, Kaspar, mir günstig gesonnen bist, du mein Hort und meine beglückende Zier“ über weite Strecken eine Beschwörung der widerspenstigen Wirklichkeit der Wiener Neustädter Reichskanzlei geblieben. Schlicks klassische Bildung war löchrig wie ein Sieb und dem König war lateinische Dichtung völlig gleichgültig. 77 78
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Z. 71–72; 61–62. Z. 63–64. Die Rollenzuschreibung in „quasi fidus Achates“ hat Enea in der späteren Version des Gedichtes mit dem farblos-neutralen „scelus omne perhorres“ ersetzt. Für Achates vgl. Vergil, Aeneis I, 120, 174, 188, 312, 459, 513, 579, 581, 644, 656, 696; III, 523; VI, 34, 158; VIII, 466, 521, 586; X, 332, 344; XII, 384, 459. Z. 81–84.
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XI. Päpstliche Autobiographik: die Aufzeichnungen (Commentarii; bis 1464) 1. Das Verschwinden der Autobiographie im Religionsstreit: ein Deutscher als Verfasser der Commentarii Als die Commentarii, eine der bedeutendsten Humanistenautobiographien, zum ersten Mal im Druck erschienen, im März des Jahres 1584 in Rom, musste der Leser davon ausgehen, dass er keine Autobiographie vor sich hatte. Als Verfasser schien auf der Titelseite ein gewisser Ioannes Gobellinus, Vikar in Bonn, auf.1 Die Titelseite verstärkt zusätzlich die Glaubwürdigkeit des Verfassers Gobellinus, indem sie dokumentiert, dass der vorliegende Druck von der alten Originalhandschrift („ex vetusto originali“), also von dem Autograph des Gobellinus, besorgt worden sei. Im Widmungsvorwort wird diese Autorisierung nochmals bestätigt: Gobellinus habe „die Taten Pius’ II. in ziemlich gutem und klarem Stil, nach dem Standard jenes Zeitalters gemessen, beschrieben und in einem ‚commentarius‘ gesammelt“ („res gestas Pii II […] a quodam Gobellino […] satis luculenter et, ut ea erant tempora, in commentarium relatae atque descriptae“).2 Da der Text der Commentarii ohnehin in der dritten Person aufgesetzt war, musste der Leser annehmen, dass er ein historiographisches Werk über den Pontifikat Pius’ II. in Händen hielt, das von dem Geschichtsschreiber Johann Göbel stammt. Was hier vorliegt, ist – anders als Voigt, Cugnoni und andere meinten – keine unschuldige Fehlzuschreibung, sondern eine absichtliche
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Pii Secundi Pontificis Maximi Commentarii Rerum memorabilium, quae temporibus suis contigerunt, a R. D. Ioanne Gobellino vicario Bonnen!si " iamdiu compositi, et a R. P. D. Francisco Band. Piccolomineo Archiepiscopo Senensi ex vetusto originali recogniti et Sanctissimo D. N. Gregorio XIII. Pontifici Maximo dicati […], Romae, ex typ. D. Basae 1584. Ich benutzte das Exemplar der Biblioteca Apostolica Vaticana, R. I. III. 329. Ebd., f. !a4"r.
Ein Deutscher als Verfasser der Commentarii
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Fälschung.3 Der Herausgeber, Erzbischof Francesco Bandini-Piccolomini, ein Spross der Familie Pius’ II., wusste sehr wohl, wer der Autor war.4 Er besaß aus dem Familienbesitz eine Handschrift mit Pius’ Commentarii. Diese Handschrift ist erhalten.5 Aus ihr geht keinesfalls hervor, dass Johann Göbel der Autor des Textes sei. Jedoch wird am Ende der Handschrift der Kopist angegeben: „Unter dem Pontifikat Pius’ II., mit seiner Zustimmung, habe ich, Johannes Gobellinus aus Linz am Rhein, Vikar in Bonn in der Diözese Köln, die Abschrift dieses Werkes vollendet, im Jahre unseres Herrn 1464, am zwölften Juni“. Diese Kopisteneintragung lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Ohnehin hätte aus einer Kopisteneintragung kein frühneuzeitlicher Leser abgeleitet, dass der Kopist also der Autor des Textes sei. Aus Göbels Kopisteneintragung geht überdies klar hervor, wer der wirkliche Autor ist: Pius II. Der Autor Pius II. gab seine Zustimmung, dass sein Werk abgeschrieben werden durfte. Weshalb gab Francesco Bandini-Piccolomini das Werk heraus und was veranlasste ihn zu der Fälschung des Autors? Es ist klar, dass er auf sein Familienmitglied, das es zum Papst gebracht hatte, sehr stolz war: Weshalb erkannte er ihm die Autorschaft ab? Piccolominis Widmungsschreiben an Papst Gregor XIII. gibt darüber Aufschluß. Die Autobiographie eines Papstes war natürlich ein äusserst interessanter Text. Es war also kein Wunder, dass Abschriften zirkulierten. Darüber machte sich Francesco Piccolomini Sorgen, umso mehr, als der Religionskampf in vollem Gange war. Francesco Piccolomini fürchtete, dass die „Häretiker“, die Protestanten, „die alles auf schlechte Weise auffassen, das Rechte krumm machen und aufrichtige Geständnisse verderben“, über den Text seines Familienmitgliedes herfallen würden. Als Contrareformator wollte Piccolomini den Protestanten mögliche Angriffsstellen von vorneherein benehmen, als Familienoberhaupt seinen Ahnen schützen. Aus seiner aufmerksamen Lektüre wusste Francesco Piccolomini, dass Pius II. in seinen Commentarii offen und direkt war und die Dinge beim Namen nannte. Dass er mit Feuereifer seine Politik verteidigte, mit martialischer Angriffslust und mit bissigem Sarkasmus über seine zahl-
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Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini, Bd. II, 341; J. Cugnoni (Hrsg.), Aeneae Silvii Piccolomini Senensis, qui postea fuit Pius II pontifex maximus, Opera inedita, Rom 1883. Dies hat H. Kramer, „Untersuchungen über die Commentarii des Papstes Pius II.“, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 38 (1934), (58–92), 90ff., überzeugend dargelegt. Rom, Biblioteca Accademia dei Lincei, MS. Corsiniano 147.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
reichen Feinde herzog. Francesco Piccolomini fürchtete, dass die Protestanten die Angriffslust des Papstes zur Zielscheibe ihrer Kritik machen könnten. Konkret befürchtete er sogar, die Protestanten könnten die Commentarii ihrerseits herausgeben (!), um das Papsttum in ein schlechtes Licht zu stellen.6 Also entschloss er sich, Pius II. gegen diese Angriffe zu schützen. Die Drucklegung war für diese publizistische Maßnahme ganz entscheidend: Denn nur die Autorität, die von ihr ausging (sanktioniert vom Papst), zusammen mit ihrer im Vergleich zu Handschriften unverhältnismäßig größeren Breitenwirkung, konnte den zirkulierenden Manuskripten den Garaus machen. Bandini-Piccolomini entautorisierte im Druck alle übrigen Textträger, die in Umlauf waren: Sie sind falsch, enthalten Unechtes und wimmeln von Fehlern. Niemand sollte fortan mit Recht sagen können, Pius II. sei der Autor der Commentarii. Seine Maßnahme autorisierte Bandini-Piccolomini mit der höchsten Instanz: Er widmete das Werk Papst Gregor XIII. Der Name des Papstes prangte in Kapitalen auf der Titelseits der Commentarii Johann Göbels: SANCTISS. D. N. GREGORIO XIII. PONT. MAX. DICATI. Außerdem erwirkte Francesco Bandini-Piccolomini vom Papst ein Privileg. Niemand sollte den Zext irgendwo in Druck geben dürfen, auf Strafe der Exkommunikation. Weiter versuchte er Pius II. zu schützen, indem er den Text änderte, vor allem: indem er zahlreiche Passagen, die ihm allzu angriffslustig erschienen, strich. Er unterwarf den Text der Zensur der Gegenreformation. Francesco Bandini-Piccolomini kam einer protestantischen Ausgabe der Commentarii erfolgreich zuvor. Als die Commentarii 1614 in Deutschen Landen gedruckt wurden, folgte der Text genau der von Bandini-Piccolomini besorgten römischen Ausgabe, wobei – ganz nach seinem Wunsch – ebenfalls der Deutsche Johann Göbel als Verfasser auf der Titelseite angegeben wurde.7
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7
F. !a4"v: „quod vererer, ne ab haereticis in deteriorem partem omnia accipientibus, recta depravantibus, sincera corrumpentibus tam turpiter mutatus et a se ipso diversus divulgaretur (sc. liber)“. Pii Secundi Pontificis Maximi Commentarii Rerum memorabilium, quae temporibus suis contigerunt, a R. D. Ioanne Gobellino vicario Bonnen!si " iamdiu compositi […], Frankfurt a. M., in officina Aubriana 1614.
Ein Deutscher als Verfasser der Commentarii
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Auf die umfassende Schutzmassnahme, einen anderen als Autor vorzuschieben, war Bandini-Piccolomini erst im Laufe der Zeit gekommen. Bereits 1565–1566 hatte er die Commentarii für den Druck vorbereitet, offensichtlich aus den bereits genannten Gründen. Bereits damals hatte er den Text gründlich zensuriert. Der druckfertige, zensurierte Text hatte überdies die kirchliche Druckbewilligung bekommen.8 Eine Handschrift der Universitätsbibliothek Bologna (cod. 1199) hat Kramer als Abschrift dieses Manuskripts identifiziert.9 Als Autor beliess BandiniPiccolomini damals noch Pius II. Allerdings zeigt die Tatsache, dass er das Werk damals trotzdem nicht drucken liess, dass er seiner Sache nicht sicher war. Allen Streichungen und Glättungen zum Trotz erschienen ihm die Commmentarii als ein gefährlicher und widerspenstiger Text. Pius’ II. verbale Aggression liess sich kaum zügeln. Erst die kreative Lösung, einen anderen als Autor vorzuschieben, machte den Weg zur Drucklegung frei. Die Verschleierungs- und Zensurtat Francesco Piccolominis war äußerst erfolgreich. Obwohl in Rom in den Haushalten einiger wichtiger Familien, die immer wieder hohe kirchliche Amtsträger lieferten, nach wie vor Handschriften der Commentarii zirkulierten, wurden sie von dem Druck überlagert und übertüncht. Der Druck bestimmte nunmehr das Bild der Commentarii, besonders ausserhalb Roms und durch seine Übernahme durch die Frankfurter Ausgabe, auch nördlich der Alpen. Folgerichtig verschwanden die Commentarii in der Basler Opera-OmniaAusgabe aus den Werken Pius’ II. Erst Gregor Voigt verhalf in seiner bahnbrechenden Pius-Biographie (1856–1863) der Tatsache, dass die Commentarii eine Autobiographie darstellen, zu allgemeiner Akzeptanz. Dennoch blieb der zensurierte und verstümmelte Druck des BandiniPiccolomini bis vor kurzem (!) die Form, in der man den Text im Allgemeinen konsultieren musste. 1883 entdeckte der herausragende Papsthistoriker Ludwig von Pastor in den päpstlichen Geheimarchiven das Handexemplar Pius’ II., den Cod. Reg. 1995.10 Im selben Jahr hatte Gui8 9 10
Kramer, „Untersuchungen über die Commentarii des Papstes Pius II.“, 88–89. Ebd. Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Reginensis Latinus 1995. Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II (5.–7. Aufl. 1923), 35–38; 754 (–756): „Bei einer genauen Durchsicht der letzteren (der vatikanischen Codices der Commentarii, Anm. K. E.) im März 1883 glaube ich das teilweise von Pius II. eigenhändig geschriebene Original seiner Denkwürdigkeiten in Cod. Regin. 1995 Ms. chart. fol. Sec. XV. fol. 595 gefunden zu haben, und zwar scheint dies jenes Manuskript zu sein, welches dem Campanus zur Verbesserung übergeben wurde.“
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seppe Cugnoni aus der Chigi-Handschrift J VII 253 Textteile der Commentarii publiziert, die in den gedruckten Ausgaben fehlten.11 Für andere Teile war man jedoch weiterhin darauf angewiesen, den Text in der zensurierten Druckfassung, die Francesco Piccolomini besorgt hatte, zu konsultieren (1584, 1589, 1614). Erst seit den letzten zwei Jahrzehnten verfügen wir über gleich drei Ausgaben, die den Text auf kompetente Weise in seiner Gesamtheit zugänglich machen.12 Van Heck druckt den Text nach Pius’ Handexemplar Cod. Reg. 1995, Totaro nach der von Pius in Auftrag gegebenen Abschrift Corsinianus 147.
2. Enzyklopädik? Diaristik? Memoiren? Automatischer Erlebnisflux? Unzusammenhängendes Erzählen? Zur Komposition der Commentarii Nicht nur von der Editionsgeschichte her war der Weg der Autobiographie Pius’ II. zum Lesepublikum nicht einfach. Nachdem sich – aufgrund von Voigts Nachweis – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wieder die Auffassung durchgesetzt hatte, dass die Commentarii eine Autobiographie darstellen, ergab sich die Frage, wie eine so umfangreiche und komplexe Selbstbeschreibung zu verstehen sei. Während man den Wert der Commentarii als historische Quelle zunehmend schätzte, rief die Form der Autobiographie in der Forschung weitgehend Ratlosigkeit hervor. Dies betraf besonders die Komposition, die thematische Selektion, den Zusammenhang der Themen sowie die narrative Anlage insgesamt. Selbst Von Pastor, der sonst immer den Durchblick behält, konnte den Commentarii diesbezüglich nicht viel abgewinnen. Er vermisste eine sinnvolle Strukturierung des Narrativs, das auf ihn einen chaotischen und unzusammenhängenden Eindruck machte und das er als „tagebuchartig“ bezeichnete. Es schreite „ohne streng sachliche Ordnung voran“, wobei der Papst alles Mögliche aufgezeichnet habe, je nach dem, was 11
12
Siehe Opera inedita (descripsit ex codicibus Chisianis vulgavit notisque illustravit J. Cugnoni, Rom 1883), 179–233. Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Chisianus Latinus VII 253: „Commentariorum Pii Secundi P. M. ex codice manuscripto excerpta, quae desunt in codice impresso erundem Commentariorum consulto ommissa“. Ed. van Heck (1984); ed. und ital. übers. A. Totaro (1984); ed. BellusBoronkai (1993–1994).
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ihn an bestimmten Tagen beschäftigte. Das ganze sei „ein liebenswürdiges Durcheinander“, das „durch die vielfachen historischen, genealogischen und geographischen Exkurse noch vermehrt“ werde.13 Gaspary erklärte in seiner Geschichte der italienischen Literatur die Exkurse gar durch die „Redeseligkeit des Alters“, eine Auffassung, der Von Pastor überraschenderweise zustimmte.14 Gregor Voigt betrachtete Pius II. als „echten Memoiristen“. Die Commentarii deutet er als „Bericht über die reichen Erlebnisse“ des Papstes.15 Das Narrativ wird von diesen massiven Erlebnissen gesteuert, die über den Papst gewissermaßen unwillkürlich hereinbrechen und die er in dem „Tagebuch“, das die Commentarii darstellen,16 loswerden muss. Bei alledem schreibt Voigt Pius II. ein perzeptives und erzählerisches Talent zu, „wenn er auch nicht selten mehr ausplauderte, als er sollte“.17 Auch hier schimmert die Disqualifikation der Redseligkeit und Plauderkrankheit hindurch. Die Deutung der Commentarii als zwanglose erlebnishafte Memoiren dauert bis zum heutigen Tag fort. McCuaig definierte 1999 das Werk wie folgt: „His (Pius’ II, Anm.) Commentarii are a memoir of his career and pontificate combined with a survey of Italian and European affairs. The ardent personal involvement of the writer in great and small events […] and his enjoyment of the beauty and variety of cities, monuments, and landscapes, make this a classic of Renaissance literature“.18 De Schrijver (1990) verortet die Commentarii als „subjectieve en impressionistische memoires“,19 wobei die Hereinnahme des Begriffs des Impressionismus die Sachlage weiter trübt. Misch deutete in seiner Geschichte der Autobiographie (IV.2 = 1969) das Werk als unzusammenhängende Erzählung und als tagebuchmäßig aufgezeichnete Memoiren: „diktierte er (Pius II. die Commentarii ) tagebuchmässig fort in kurzen, abgerissenen Stunden, eine Menge größerer oder kleinerer Abschnitte, ohne rechte Verbindung […]“ (Kursivierung K. E.).20 Zudem interpretierte Misch das schriftliche Festhalten der ‚Erlebnisse‘ als zwanghaften Automatismus: „Seitdem er (Enea Sil13 14 15
16
17 18 19 20
Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 36. Ebd., 37. Enea Silvio de’ Piccolomini, Bd. II, 320–341; Die Wiederbelebung des Classischen Alterthums, Bd. II, 500. Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini, Bd. II, 337: „Daß wir ein Tagebuch vor uns haben, zeigt schon die Ordnung der Dinge“. Voigt, Die Wiederbelebung des Classischen Alterthums, Bd. II, 500. ER, Bd. 5, Art. „Pius II“ (W. McCuaig). R. De Schrijver, Historiografie, Leuven 1990 (Ancorae 8), 187. Misch, Geschichte der Autobiographie IV, 2 (1969), 598–599.
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vio) als 30jähriger Literat […] in die große Welt blickte, musste er alles, was er in seinem bewegten Leben sah und hörte, als trefflicher Beobachter und Erzähler zu Papier bringen“ (Kursivierung K. E.).21 Dieser Zwang führte zu Tagebucheintragungen und eben zu „dieser bescheideneren lässigeren Form memoirenhafter Geschichtsschreibung“.22 Die Bedeutung von Enea Silvios Commentarii beruhe auf ihrer „Unbefangenheit“, mit welcher sich ein Mensch „in den verschiedenen Lebenszuständen“ darstelle, „in welchen er einen neuen, modernen Glücksgenuß findet, sich darstellt […] in dem fühlsamen Interesse an der gegenständlichen Welt, deren schöne und charakteristische Erscheinungen er mit Künstleraugen bildmäßig aufzufassen und lebendig zu schildern weiß.“23 Erich Bürck, der eine Monographie zu Enea Silvios Selbstdarstellung verfasste (1956),24 bereitete die Form der Commentarii ähnliche Schwierigkeiten, wie sie im obigen bereits sichtbar wurden. Die Commentarii erschienen ihm als überlanger Text ohne klar erkennbare Struktur, die Vielzahl der Gegenstände betrachtete er als verwirrend. Bürck schrieb das zum einen auf das Konto des „oberflächlichen Erzählens“ des „weltzugewandten Humanisten“ und setzte damit eine noch viel unsinnigere Qualifikation in die Welt. Zum anderen brachte er die zwar weniger absurde, jedoch fragwürdige Erklärung ein, dass Pius II. mit den Commentarii eine enzyklopädische Beschreibung der Welt vor Augen gestanden habe, also eine Art der Weltchronik. Das Agglomerat all dieser letztenendes auf hermeneutische Gedanken zurückgehenden Erklärungsversuche ist m. E. irreführend und deckt sich in keiner Weise mit dem, was Pius II. vor Augen stand. Wenn wir die Commentarii auf die obengenannten Weisen interpretieren, tun wir dem Werk Unrecht und sind von einem adäquaten Verständnis desselben meilenweit entfernt. Pius II. war es mitnichten darum zu tun, seine „Erlebnisse“ – ein Schlüsselwort der hermeneutischen AutobiographieInterpretation25 – aufzuzeichnen oder die alltäglichen Begebenheiten seines Privatlebens „tagebuchartig“ festzuhalten oder zu publizieren, welche Vorkommnisse ihn auf welche Weise seelisch bewegten, etwa weil 21 22 23 24
25
Ebd., 598. Ebd., 599. Ebd. G. Bürck, Selbstdarstellung und Personenbildnis bei Enea Silvio Piccolomini (Pius II.), Basel und Stuttgart 1956, 1–68. W. Dilthey, „Das Erleben und die Selbstbiographie“, in: Ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1981, 235–251 (auch in: Niggl, Die Autobiographie, 21–32).
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das Interesse des Individuums an sich selbst in der Renaissance stark angewachsen wäre, weil der Verfasser seine Erinnerung unterstützen wollte oder weil sich der Papst in seine schönen Erlebnisse selbst verliebt hätte. Die Form der Commentarii ist nicht die eines Tagebuchs, und sie ist auch nicht tagebuchartig im Sinn lose hingeworfener privater Notizen, die in keinen übergeordneten Bedeutungszusammenhang eingegliedert sind. Denn der Gattung des Tagebuchs „fehlt der durch die Erzählung gestiftete Zusammenhang“, wie Ralph-Rainer Wuthenow vermerkte.26 In den Commentarii ist gerade dieser aber vorhanden. Auch geht von den ‚Erlebnissen‘ kein wie immer gearteter Zwang aus, sie festzulegen. Es gibt keinen antomatischen Erlebnisflux in die Autobiographie. Pius II. war nicht von Redseligkeit und Plauderkrankheit befallen, sondern er ging als Autobiograph bedachtsam vor und verhandelte nur die Gegenstände, die seinem Darstellungsziel entsprachen. Weiter ist es zwar nicht falsch, aber andererseits auch nicht wirklich erhellend, Pius’ II. Commentarii als Memoiren zu bezeichnen, weil es sich um eine unklar definierte Gattung handelt, unter deren unspezifischer Flagge ganz unterschiedliche Schiffe fahren. Ein weiterer Nachteil ist, dass in Definitionsversuchen der ‚Gattung‘ gerade Eigenschaften wie die oben aufgeführten irrigen Interpretationen der Commentarii, zugeordnet werden: „sorgloser, detailfreudig plaudernd und unverbindlicher, […] besonders durch die subjektive Färbung“.27 Übrigens sind Pius’ II. Commentarii keinesfalls „sorglos“, „ungezwungen“ oder naiv, sondern von einem alles umklammernden, durchaus rational nachvollziehbaren politschen Kalkül beherrscht. Sinnvoller ist der Ansatz des Historikers Arnold Esch, der in einem gedankenreichen Aufsatz die Commentarii als historische Quelle für Pius’ II. „Herrscherpraxis“ und „Selbstdarstellung“ in der Bedeutung von „Repräsentationsstil“ ausgewertet hat.28 Indem Esch die politischen und religionspolitischen Probleme, mit denen sich Pius II. auseinandersetzte, sichtbar machte, interpretierte er die Commentarii plausibel als politische und herrschaftsrepräsentatorische Stellungnahmen des Paps-
26 27 28
FLL, Bd. I, 169, s.v. „Autobiographie und autobiographische Gattungen“. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 477, s.v. „Memoiren“. A. Esch, „Enea Silvio Piccolomini als Papst Pius II.: Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, in: H. Boockmann, B. Moeller, K. Stackmann (Hrsg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Politik – Bildung – Naturkunde – Theologie (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge 179), Göttingen 1989, 112–140.
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tes zu denselben. Als Historiker setzte sich Esch mit der Literarizität bzw. der literarischen Form der Commentarii nicht auseinander. Es ist ihm einerlei, „seien es nun Memoiren oder eine Autobiographie“.29 Damit gelangt er zu der Ansicht, dass die Darstellungsweise „ungeniert subjektiv“ und also letztenendes naiv sei: „dieses ungeniert Subjektive […], dieses Stimmungshafte, dieser Sog der Suggestion“.30 M. E. kann man aber gerade durch eine eingehendere Analyse der Diskursivität der Commentarii zeigen, dass ihre Gestaltung in zielstrebiger, wohlkalkulierter und höchst effektiver Weise genau auf die Übermittlung der – von Esch aufgezeigten – politischen Inhalte ausgerichtet war. Einen wertvollen Hinweis auf seine Beweggründe zur Abfassung der Commentarii hat Pius II. selbst in der Einleitung zu dem Werk geliefert. Er fühlte sich in seiner Politik angefeindet und missverstanden: „Die heimtückischen Zungen, die so vielen Statthaltern Christi auf Erden und sogar Christus selbst zusetzten, werden auch Pius II. nicht verschonen. Während Pius II. auf Erden weilt, beschuldigt man ihn und feindet ihn an“ – „Non parcet Pio Secundo pontifici maximo lingua dolosa, que tot Christi vicariis et ipsi Christo non pepercit. Accusatur, reprobatur, dum vivit inter nos Pius Secundus“.31 Das gilt besonders für sein politisches Hauptziel, das nicht gelingen wollte – die Organisation eines Kreuzzuges gegen die Türken.32 Hier tritt das Hauptmotiv dieses autobiographischen Vulkanausbruchs hervor – politische Apologetik: Pius II. wollte seine Politik, besonders die Türkenpolitik, bei der Mitwelt rechtfertigen und an die Nachwelt in der Form überliefern, die ihm genehm war. Diesem Ziel sind alle Bestandteile der Commentarii untergeordnet. Wenn man das Werk in diesem Sinn interpretiert, ergibt sich, dass es äußerst zweckdienlich strukturiert ist. Die Commentarii gliedern sich zunächst in das erste und in elf weitere Bücher.33 Das erste Buch hat die Funktion eines Vorspanns: Es erzählt 29 30 31
32
33
Ebd., 138. Ebd., 116–117. Commentarii (ed. van Heck), S. 38. Bezeichnenderweise strich Kardinal Francesco Bandini-Piccolomini den letzten Satz bei seiner Zensur. Von zahlreichen Autoren als solches attestiert, u. a. auch von Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 120: „Die Frage nach den Prioritäten, die er für seinen Pontifikat setzte, ist aus seinem Handeln wie aus seiner Selbstaussage eindeutig zu beantworten: es ist der Kreuzzug gegen die vordringenden Türken – ein Anliegen, das er gegen allen Widerstand unbeirrbar verfolgen wird, bis ins Utopische“. Nach der Fertigstellung der zwölf Bücher hat Enea noch an einem dreizehnten gearbeitet, das jedoch unvollendet geblieben ist und nicht weiter redigiert wurde.
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das Leben Enea Silvios bis zur Papsternennung (1405–1458) in geraffter Form. Die elf übrigen behandeln Pius’ II. Pontifikat bis gegen Ende des Jahres 1463. Die Darstellungsdichte ist weitaus größer als dies im ersten Buch der Fall ist: Während Pius II. die 53 Jahre von der Geburt bis zur Ernennung zum Papst auf ca. 56 Normalseiten zusammenfasste, maß er den sechs Jahren seines Papsttums (1458–63) einen fast elfmal so großen Erzählraum zu (ca. 600 Seiten). Der Pontifikat bildet also klar ersichtlich den Hauptgegenstand der Commentarii. Das erste Buch macht den Auftakt. Pius II. stellt darin seine bisherige Laufbahn so dar, dass er etwaige Zweifel an der Berechtigung der Papstwahl und eventuelle Gegensätze seiner damaligen politischen Auffassungen zu jenen seines Pontifikats aus dem Weg räumt. Einige politische Positionen, die im weiteren Werk eine Rolle spielen werden, klingen schon hier an. Gleich zu Eingang der Erzählung des Pontifikats, am Anfang des zweiten Buches, befindet sich eine Stelle, die Bürcks Interpretation der Commentarii als Enzyklopädik zu bestätigen scheint: Dieses Volk [die Türken, Anm.] war einst aus dem östlichen Skythien aufgebrochen und hatte Kappadozien, Pontus, Bithynien und nahezu ganz Kleinasien mit Waffengewalt unterworfen. Nicht lange danach überquerte es mit einer Flotte den Hellespont, besetzte den größten Teil Griechenlands und stieß bis zu Save und Donau, den berühmten Flüssen, vor. Mitten in Thrazien hielt sich noch die Königsstadt Byzanz, die Konstantin der Große gegründet und auf wunderbare Weise erweitert hatte. Er wollte sie Neu-Rom nennen. Jedoch setzte sich der Wille des Volkes durch und die Stadt wurde nach ihrem Erneuerer Konstantinopel genannt. Diese Stadt belagerte unter dem Pontifikat Nikolaus’ V. der türkische Herrscher Mahumet (= Mehmed II. der Eroberer, Anm.). Er schloss die Stadt ein und ließ einen Teil der Mauern einreißen – wie bereits berichtet wurde. Konstantin, ihr letzter Kaiser (Konstantin XI. Palaiologos, Anm.), wurde niedergemacht oder, wie das Gerücht lautet, im Reitergefecht zertrampelt. Mahumet, aufgrund seines Sieges hochmütig geworden, schickte sich an, die Herrschaft über Europa zu erstreben. Er sammelte ein ungeheuer großes Heer, mit dem er über Ober-Mysien nach Ungarn übersetzen wollte. In Alba [Belgrad, Anm.], das in der Antike Thaurinum hieß, wo Donau und Save ineinander fließen, machte er Halt. Da wurde er, unter dem Pontifikat Calixtus’ III., von einem Christenheer, das Giovanni Capistrano, ein Franziskanerprofessor, der für heilig gehalten wurde, und Johannes Hunyadi, der Verwalter des Königreichs Ungarn, anführten, vernichtend geschlagen und zu einer schändlichen und hastigen Flucht gezwungen. Dennoch zügelte er seinen Hass gegen die Christen nicht, und fing einen Guerillakrieg an, wobei er einmal den Belgradern, einmal den Rasciern, dann wieder anderen benachbarten Völkern, die den christlichen Glauben vertreten, großen Schaden zufügte. Das passte zu seinem Plan, das heilige Evangelium und die göttlichen Gesetze des christlichen Glaubens mit Füssen zu treten und auszulöschen. Dieses Volk, der Feind der Dreifaltigkeit, folgt der Lehre eines gewissen Muhamet, eines Pseudopropheten, eines Arabers, der, durchtränkt von der Irrlehre sei-
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nes Volkes, […] von Christen beeinflusst wurde, die von der schändlichen Irrlehre der Nestorianer und Arianer infiziert waren. Durch ein außereheliches Verhältnis mit einer mächtigen Witwe erlangte er Einfluss und, geadelt durch sein außereheliches Verhältnis, sammelte er eine Schar von Strauchdieben um sich, mit deren Hilfe er die Herrschaft über die Araber erlangte. Obwohl er das Alte und das Neue Testament kannte, verdarb er beide, und er wagte sich Prophet zu nennen und behauptete, er könne mit den Engeln reden. Das völlig ungebildete Volk verführte er in dem Maße, dass er ihm ein neues Gesetz vorschrieb und es überredete, sich von Christus, dem Heiland, zu entfernen […].34
Pius scheint hier enzyklopädisches ethnographisches Wissen zu vermitteln, indem er Ursprung, Religion und die Wanderung der Türken beschreibt. Dennoch ist die Textpassage keinesfalls eine enzyklopädische Abschweifung, die umso weniger angebracht wäre, als die Stelle im Anfangsteil des zweiten Buches auftritt. Es handelt sich vielmehr um eine Einleitung, die Pius bewusst an exponierter Stelle anbietet, um das Hauptthema seines Werkes und seines Pontifikats, die Bekämpfung der Türkengefahr, vorzustellen. Die vorausgeschickten Zeilen lassen anklingen, dass Pius’ politisches Programm sogleich entfaltet werden wird: […] und in derselben Nacht [nach der Papsterhebung, Anm.] begab er [Pius II., Anm.] sich in seine Gemächer im Vatikan. Und von allen Sorgen, die seinen Geist beschäftigten, war keine größer und vordringlicher als die, die Christenheit zu einem Kreuzzug gegen die Türken zu bewegen und die Türken zu bekämpfen. […] eademque nocte in suas edes ad Vaticanum rediit. Atque inter omnis curas, que animum eius invasere, nulla maior fuit quam ut in Turcos excitare christianos posset atque his bellum inferre.35
Damit präsentiert sich die Autobiographie Pius’ II. zugleich als die Geschichte eines Kampfes, gegen die Türken. Der Bericht über die Organisation des Kreuzzuges stellt das Leitmotiv der Commentarii dar, Enea Silvio konstituiert sich als Bekämpfer der Türken. Deshalb ist Bürcks Urteil, dass die Commentarii ein Beispiel des „oberflächlichen“, weil unzusammenhängenden und unstrukturierten, Erzählens des „weltzugewandten Humanisten“ bieten würden, wie auch die anderen oben genannten Einschätzungen, wonach die Commentarii als unzusammenhängend, tagebuchartig, lose dahinplaudernd usw. eingestuft wurden, nicht überzeugend. Die Erzählung ist nicht zusammenhanglos, sondern lässt sich als komplexer politischer Überzeugungsakt interpretieren, der letztenendes auf das Erreichen des Hauptziels, des Kreuzzugs, hinauslaufen 34 35
Für den lateinischen Text siehe Commentarii (ed. van Heck), II, 1, S. 113–114. Commentarii II, 1 (ed. van Heck), S. 113.
Zur Komposition der Commentarii
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soll. Pius’ II. Politik ist klar, seine Taktik ist klar, sein Plan ist klar. Der Papst entfaltet in der Folge Punkt für Punkt die Probleme und Lösungsversuche seines Pontifikats. Die Exkurse und ‚Digressionen‘ sind nicht als Redseligkeit des alten Mannes oder als „liebenswürdiges Durcheinander“ aufzufassen, sondern ordnen sich sämtlich dem politischen Überredungsakt unter. Auf die Art dieser Exkurse werden wir unten noch zu sprechen kommen. Zunächst stellt Pius II. im zweiten Buch der Commentarii die Probleme schwerpunktmäßig dar: nach der bereits genannten Türkengefahr die Einberufung eines Kongresses in Mantua, der der Organisation des Kreuzzuges gewidmet sein sollte; sodann den Streit um Sizilien; den Überfall des Condottiere Niccolò Piccinino auf den Kirchenstaat. Der übrige Teil des zweiten Buches ist der Reise des Papstes von Rom nach Mantua gewidmet. Die Darstellung dieser Reise durch Italien verwendet Pius, um seine Bundesgenossen und Feinde in Italien vorzustellen, die seine Politik unterstützten oder sabotierten. Darstellungsmäßig hat er damit das Fundament seiner Pontifikatsgeschichte gelegt. Das dritte Buch greift sogleich das Hauptthema der Türkenbekämpfung wieder auf, indem Pius II. die Ereignisse des Kongresses von Mantua beschreibt. Dann taucht ein weiteres wichtiges politisches Thema auf, die Streitigkeiten mit der französischen Krone. In dieser Weise geht es weiter: Pius II. behandelt die Spannungsfelder der europäischen Politik in dem Zusammenhang und in der Reihenfolge, in der sich der Papst mit ihnen auseinanderzusetzen hatte. Es würde zu weit führen, den gesamten Inhalt der elf Bücher hier aufzuführen: Schon das Inhaltsverzeichnis, das Pius selbst anlegen liess, umfasst (in der Ausgabe Van Hecks) nicht weniger als 19 Druckseiten. Jedoch lässt sich klar erkennen, dass der Zusammenhang sowohl der politischen Ereignisse als auch der Darstellung nie verloren geht. Die zusammenhangstiftende Substanz der Commentarii ist der geplante Kreuzzug gegen die Türken. Alle übrigen Ereignisse verhalten sich, wie Esch treffend bemerkt hat, wie kommunizierende Gefässe.36 Als Gegenleistung für eine – mögliche – Teilnahme an dem Kreuzzug versucht jede Partei den Papst vor den eigenen politischen Karren zu spannen, ihm Versprechen abzuringen, die zur Lösung der eigenen politischen Probleme führen sollen.
36
Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 114.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
3. Papst und Caesar: Pontifikatsgeschichte als Feldherrndiskurs oder die Maximierung der Evidenzrede Eine Analyse der Komposition hat das merkwürdige Ergebnis zu Tage gefördert, dass Pius seine Papstgeschichte weitgehend als Geschichte eines Feldzuges, oder genauer: der Organisation und Vorbereitung eines Feldzuges angelegt hat. Es ist nunmehr erforderlich, das literarische Regelsystem der Commentarii näher abzuklären. In den meisten Interpretationen, die das Narrativ der Commentarii als unzusammenhängend, plaudernd, enzyklopädisch oder sonst als „liebenswürdiges Durcheinander“ etc. betrachten, fehlt eine Bezugnahme zum spezifischen Diskursvorbild. Für eine adäquate Interpretation ist es unabdingbar, Pius’ II. literarisches Hauptvorbild, Julius Caesars Aufzeichnungen über den Gallischen Krieg (Commentarii de bello Gallico), miteinzubeziehen. Caesar beabsichtigte mit mit seinem Werk, das politisch relevante Publikum vom Sinn seiner gallischen Eroberungen und von seiner Aufrichtigkeit als Diener des Staates zu überzeugen.37 Gallien war kein Gebiet, das von vorneherein großen wirtschaftlichen Nutzen garantierte. Das Land, das nicht auf derselben hohen Entwicklungsstufe wie die Mittelmeerkulturen stand, war riesig und unerforscht, für römische Begriffe eher unwirtlich, und die Bevölkerung war als aufsässig und unbotmäßig bekannt. Hinzu kam, dass Caesars gesamtes Unternehmen mit seinen persönlichen Belangen verstrickt war. Die Tatsache, dass er selbst der Hauptgegenstand seines Berichts war, bildete natürlich für seine Leser
37
Zu Caesars Commentarii vgl. R. Th. McFarlane, The Narrative of Politics. Julius Caesar and the Bellum Civile, Diss. Ann Arbor, Michigan 1991; F. H. Mutschler, Erzählstil und Propaganda in Caesars Kommentarien, Heidelberg 1975; K. Welch, A. Powell. (Hrsg.), Julius Caesar as Artful Reporter: the War Commentaries as Political Instruments, London-Swansea 1998; W. Richter, Caesar als Darsteller seiner Taten. Eine Einführung (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Neue Folge, Reihe 2, 61), Heidelberg 1977; M. Cytowska, „Jules César dans la tradition littéraire. Quelques réflexions“, in: Eos 72 (1984), 343–350; W. Görler, „Caesar als Erzähler (am Beispiel von BG II 15–27)“, in: Der altsprachliche Unterricht 23 (1980), 18–31; E. Mensching, Caesars Bellum Gallicum. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1988; E. J. Reijgwart, „Zur Erzählung in Caesars Commentarii: der ‚unbekannte‘ Erzähler des Bellum Gallicum“, in: Philologus 137 (1993), 18–37; J. Rüpke, „Wer las Caesars bella als commentarii?“, in: Gymnasium 99 (1992), 201–226; P. Wülfing, „Caesars Bellum Gallicum: ein Grundtext europäischen Selbstverständnisses“, in: Der altsprachliche Unterricht 34 (1991), 4, 68–84.
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stets einen Anlass, an der Wahrheit und Aufrichtigkeit seiner Darstellung zu zweifeln. Caesar, der sich deren Skepsis ausrechnen konnte, kämpfte vor allem um Glaubwürdigkeit: Dazu aktivierte er alle ihm zu Gebote stehenden Darstellungsmittel, mit denen Sachlichkeit und Objektivität vermittelt werden konnten. Schon die Wahl des Titels diente dazu, das Publikum einem Objektivitäts- und Wahrheitsdiskurs zu verpflichten. Entscheidend war, dass der Titel Aufzeichnungen/commentarii damals eine nicht-literarische Textsorte bezeichnete: Die Aufzeichnungen römischer Beamter, Provinzstatthalter und Feldherrn, die diese vor allem für den Fall amtlicher Forderungen verfassten. Häufig wurden römische Beamte nach Beendigung ihrer Amtsperiode von ihren politischen Gegnern vor Gericht geschleppt, die in Repetundenprozessen im Namen von Provinzen die Rückerstattung von Geldern einklagten. Zumeist boten derartige Aufzeichnungen nicht viel mehr als Materialsammlungen. Caesar verortete seine Commentarii zum Zwecke der Beglaubigung bewusst in diesen Materialsammlungen. Demselben Zweck dient, dass er für sich selbst die dritte Person verwendete. Es handelt sich keineswegs um den Manierismus eines vom Größenwahn befallenen Feldherrn, der sich selbst so wichtig nimmt, dass er sich in der dritten Person anredet. Die Verwendung der ersten Person hätte sein Publikum immer darauf hingewiesen, dass er, Caesar, sich selbst darstelle. Dieser Eindruck war ihm alles andere als angenehm. Indem seine Persönlichkeit bei einer solchen Darstellung in den Vordergrund getreten wäre, hätte dies den Eindruck vermittelt, dass der gallische Krieg Caesars Privatangelegenheit sei. Die dritte Person suggeriert hingegen Distanz und Objektivität. Ein weiteres Merkmal von Caesars Commentarii ist, dass darin ethnographische und geographische Exkurse als bedeutendes Darstellungsmittel fungieren.38 Da es sich um ein unbekanntes Land handelte, lag ein beträchtlicher Informationsbedarf vor. Wenn Caesar vom Sinn sei-
38
Für die ethnographischen und geographischen Exkurse vgl. B. M. Bell, „The Value of Julius Caesar as Ethnographer“, in: Akroterion 38 (1993), 104–112; Ders., „The Contribution of Julius Caesar to the Vocabulary of Ethnography“, in: Latomus 54 (1995), 753–767; Th. Berres, „Die geographischen Interpolationen in Caesars Bellum Gallicum“, in: Hermes 98 (1970), 154–177; G. Dobesch, „Caesar als Ethnograph“, in: Wiener humanistische Blätter 31 (1989), 18–51; A. A. Lund, „Caesar als Ethnograph“, in: Der altsprachliche Unterricht 39 (1996), 2, 12–23 und N. Holzberg, „Die ethnographischen Exkurse in Caesars Bellum Gallicum“, in: Anregung 33 (1987), 85–98.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
ner Eroberung überzeugen wollte, musste er dieses Land auf irgendeine Weise beschreiben. Caesar kommt diesem Informationsbedürfnis entgegen, fährt aber dabei eine durchtriebene Strategie: Einerseits vermittelt er den Eindruck, dass Gallien ein ganz besonderes Land sei, von dem man viel erwarten dürfe. Andererseits setzt er auseinander, weshalb – wegen spezifischer seltsamer Sitten und Gebräuche der Gallier – sowohl Kriegsführung unvermeidlich als auch erfolgversprechend sei. Zum Beispiel informiert er die Leser darüber, dass die Gallier eine soziale Struktur aufweisen, welche die Kontrolle über das Land begünstigt: Das Land wird von einer dünnen Oberschicht beherrscht, die gesamte (!) übrige Bevölkerung setzt sich aus Sklaven zusammen (eine höchst ungewöhnliche Sozialstratigraphie!). Wem es gelingt, die dünne Oberschicht zu unterwerfen, dem gehört das ganze Land. Die gewöhnliche Bevölkerung wird sich freuen, vom Joch befreit zu sein. Die Gallier sind ausserordentlich religiös, weswegen die Oberschicht von einer Priesterkaste (Druiden) beherrscht wird. Die Druiden jedoch stürzen die gewöhnlichen Leute ins Verderben, zum Beispiel da sie – welcher Höhepunkt der Barbarei! – Menschenopfer organisieren. Es ist bezeichnend, dass Caesars Commentarii die einzige Quelle für diese Menschenopfer darstellen. Aus der ‚Information‘ folgt: Die Gallier bedürfen, schon zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung, dringend der Verwaltung und der gesetzlichen Ordnung der Römer.39 Der Diskurs von Caesars Feldherrnbericht war ein literarisches Kleid, das zu Pius’ Absichten hervorragend passte. Auch Pius II. wollte seine politischen und militärischen Maßnahmen rechtfertigen. Schon aufgrund dieser Ausgangslage mussten ihm Caesars Beglaubingungsmechanismen – die Suggestion von Vertrauenswürdigkeit und Objektivität – willkommen sein. Auch Pius II. versuchte, einen kostenspieligen Feldzug, von dessen Sinn die meisten nicht überzeugt waren, zu rechtfertigen. Ausserdem passte der Caesarische Anspruch zu Pius’ monarchischer Auffassung des Papsttums – des Papstes als des absoluten Herrschers über einen irdischen Territorialstaat.40 Esch deutet zu Recht an, dass gerade der Pontifikat Pius’ II. die „Grenzlinie“, „den Umbruch“ zu 39
40
Bellum Gallicum VI, 13 und 16. Vgl. Gaius Iulius Caesar, De bello Gallico. Der gallische Krieg. Lateinisch-deutsch, ed. und übers. M. Deissmann (Reclam Universalbibliothek 9960), Stuttgart 1981; Ders., dasselbe Werk, ed. und übers. G. Dorminger, München 1981 (7. Aufl.). Vgl. Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 113–114.
Papst und Caesar
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dieser neuen Definition des Papsttums darstelle.41 Weiter erstreckt sich die Selbst-Caesarisierung des Papstes auf seine Auffassung des Verhältnisses von Kaiser und Papst. Indem sich der Papst als Caesar, d. h. als Grundleger des römischen Kaisertums, darstellt, annektiert er sozusagen die Machtfülle und Machtlegitimation desselben: Der wahre Nachfahre der Römischen Kaiser ist der Papst, und als solcher steht er über dem zeitgenössischen Kaiser. Pius II. betonte in der Tat auch anderwärtig den Vorrang des Papsttums vor dem zeitgenössischen Kaisertum.42 Indem Pius II. seine Herrschaft als Feldherrengeschichte darstellte, gebärdete er sich wie Caesar. Interessanterweise war seine Herrschaft – wie dies mutatis mutandis für Caesar gilt – von auffällig langen Absenzen aus Rom gekennzeichnet. Pius II. verbrachte mehr als die Hälfte seiner Amtszeit außerhalb Roms!43 Pius’ Reiseverzeichnis (Itinerar) war für einen Papst ungekannt umfangreich.44 Auch diesbezüglich gestaltete Pius II. seinen Pontifikat als Kampagne: Er war mit seinem Hofstaat ständig unterwegs, um seine hochgesteckten politischen Ziele durchzusetzen. Ein militärischer Aktivismus kennzeichnet sein Auftreten. Wie Caesar „marschierte“ dieser Papst, wie Caesar durchstreifte er das Land, wie Caesar hielt er sich in einfachen Herbergen und manchmal sogar mitten in der Natur auf. Wie Caesar verrichtete er seine Amtsgeschäfte an allen möglichen (eigentlich unmöglichen) Orten. Er unterzeichnete Beschlüsse und Bescheide auch unter Bäumen und sitzend im Grase.45 M. E. trägt Pius’ Selbstdarstellung als reisender Papst wesentlich dazu bei, seinen Anspruch als neuer Caesar geltend zu machen. Nach dem Vorbild von Caesars Commentarii machte sich Pius II. die persuasive Kraft der anthropologischen und geographischen Exkurse zu-
41 42 43 44
45
Ebd., 114. Ebd., 117. 38 von insgesamt 71 Monaten; vgl. ebd., 129. D. Brosius, „Das Itinerar Papst Pius’ II.“, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55–56 (1976), 421 ff. Obwohl man Pius II. zubilligen darf, dass er ein ‚Naturfreund‘ war, sollte man dennoch den hier skizzierten Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren. Bei den Selbstdarstellungen in der freien Natur handelt es sich nicht einfach um „unverdächtige Bestätigungen“ seiner „Naturerlebnisse“, wie Arnold Esch meinte („Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 133), sondern um eine ideologisch aufgeladene Diskursanbindung an die Feldherrnberichte des Julius Caesar. Sie hängen ausserdem, wie unten gezeigt werden wird, mit der epischen Selbstkonstituierung Pius’ II. zusammen, die einmal mehr seinen weltlichen Herrschaftsanspruch legitimiert.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
nutze. Die Glaubwürdigkeit eines Werkes, das massiv Information vermittelte, musste hoch veranschlagt werden. Dabei eignete sich die Informationsfunktion hervorragend zur Indoktrinierung. Pius’ Türken-Exkurs (s. oben) ähnelt von seiner Funktion her Caesars Gallier-Exkurs. Die im Exkurs dargebotene Information ist so beschaffen, dass sie zum Krieg motiviert. Zur Motivierung des Kampfes stellt Pius in dem oben zitierten Exkurs die Türken (wie Caesar die Gallier) als barbarisches Volk dar, das einer verderblichen religiösen Irrlehre (Islam – Druiden) anhängt. Darüberhinaus ging von den Exkursen schon deshalb eine starke legitimierende Wirkung aus, da sie die Selbstanzeige des Feldherrn als ein nach den Regeln der Kunst ausgestattetes Geschichtswerk sanktionierten. Exkurse zählten zu den unabdingbaren Diskursregulativen der antiken Historiographie. Sie dienten nicht nur der Informationsbeschaffung, sondern auch als erzähltechnisches Mittel, das zur Erhöhung der Spannung (erzähltechnische Retardation), zur Variatio, zur Entspannung sowie zur Erhöhung der Evidenz (Anschaulichkeit) eingesetzt wurde. Die Evidenz war nicht nur literarisch attraktiv, sondern funktionierte in der Rhetorik als geradezu universales Beglaubigungsmittel. Wenn es gelingt, dem (Lese)Publikum eine bestimmte Situation bildlich vor Augen zu führen, so hat der Verfasser im Grunde schon gewonnenes Spiel. Pius II. war besonders erpicht, das universale Beglaubigungsmittel der Evidenz einzusetzen. Er wollte dem Leser die geschichtlichen Ereignisse ‚vor Augen‘ stellen, ihn mit aller Macht in den Strudel seines autohistorischen Diskurses hineinziehen. Der Leser soll von den Beschreibungen betört werden, sich den Thesen und Forderungen des Autors nicht widersetzen können. Pius II. hat die maximierte Evidenzstiftung zur historiographischen Methode erhoben. Pius II. pflegte diese Zielsetzungen auf äußerste geschickte und effiziente Weise mit seiner argumentativen Rhetorik zu verbinden. Die eingesetzten Mittel wirken jeweils auf zwei oder drei Ebenen. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen. Im Zuge der Darstellung des Kongresses von Mantua schiebt Pius II. einen Exkurs mit einer Beschreibung Venedigs ein: Venedig besetzte von Anfang an […] fast alle Inseln, die sich zwischen Aquae Gradatae und Lauretum befinden, und gründete, indem es mehrere kleine Ortschaften zusammenfügte, einen homogenen Staat. […] In dieser Stadt treffen Waren aus der ganzen Welt ein, und in ganz Europa gibt es keinen bekannteren Handelsplatz. Die Kaufleute des gesamten Abendlandes bringen dort ihre Ware hin, und nehmen die Waren aus dem Morgenland in Empfang.
Papst und Caesar
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Die Venezianer besitzen ein unglaublich reiches Seewaffenlager, das sie „Arzanal“ nennen und das mit allen Arten von Kriegsmaschinen ausgerüstet ist. Dort bauen sie ohne Unterlass Triremen und andere Schiffe. Man meint, dass sie, wenn sie wollen, auf einen Schlag hundert kriegstüchtige Triremen ausrüsten könnten. Das haben sie in der Tat schon einmal vollbracht. Die gesamte Stadt ist aus Ziegeln gebaut. Wenn sich das venezianische Reich jedoch in Zukunft hält, wird sich die Stadt in kurzer Zeit in eine Marmorstadt verwandeln; schon jetzt gibt es Adelspaläste aus Marmor mit reicher Goldverzierung. Dem Hl. Marcus, dem Evangelisten, wurde ein wunderbarer Dom aus orientalischem Marmor errichtet. Die Gewölbe wurden mit sogenannten Mosaiken überall vergoldet. Wie man bestätigt hat, befindet sich dort ein Schatz, der den Reichtum von Königen übertrifft, mit Edelsteinen, Diamanten und allen Arten von Juwelen. […] Man sagt, dass das Dach des Campanile eine Vergoldung trägt, die aus sechzigtausend Goldstücken hergestellt wurde. Der Dogenpalast ist riesig […] und auf Marmorsäulen erbaut und ragt durch jede Art architektonischen Schmuckes hervor. Auch sonst gibt es in dieser Stadt sowohl Kirchen als Klöster, die durch ihren Aufwand und ihre Bauweise Bewunderung erwecken. Venetia […] ab initio insulas que sunt inter Aquas Gradatas et Lauretum fere omnes occupavit uno civitatis corpore ex pluribus oppidulis constituto […] Merces huc ex orbe fere toto convehuntur neque aliud est Europa tota nobilius emporium. Negotiatores totius occidentis huc res deferunt et orientales accipiunt merces. Armamentarium et navale, quod Arzanal vocitant, ditissimum habent omni machinarum genere munitum, in quo triremes et alia navigia absque intermissione edificant. Opinio est eos cum velint brevissimo tempore centum triremes armare posse. Quod aliquando fecerunt. Urbs tota lateritia. Verum, si stabit imperium, brevi marmorea fiet et iam nobilium edes marmore incrostate plurimo fulgent auro. Beato Marco Evangeliste nobilissima edes constructa est ex orientali marmore; testudines artificio quod musaicum vocant, undique deaurate. His thesaurum esse asserunt regales opes excedentem, carbunculis, adamantibus et omni gemmarum genere adornatum […]. Turris campanarie pinnaculum sexaginta milibus aureis inauratum ferunt. Ducale palatium amplissimum est […] super columnas marmoreas edificatum, omnibus ornamentis illustre. Sunt et alia templa per urbem sumptu et opere admiranda, et religiosorum cenobia.46
Zunächst einmal wird der Leser von dieser prächtigen Schilderung, die seine sinnliche Wahrnehmung und damit die Aufmerksamkeit aktiviert, nolens volens in den Strom des Narrativs gezogen. Dem Leser steht nunmehr Venedig vor Augen: seine Lage in der Lagune, das Arsenal, der Campanile, der Dom San Marco, der Dogenpalast. Der legitimierende Glanz des historiographischen Diskurses vergoldet Pius’ Argumentation. Die Evidenz objektiviert: Es scheint nicht mehr darum zu gehen, was Pius will – sein Wille ist jetzt in unauflöslicher Weise mit der Wirk46
Commentarii (ed. van Heck), III, 30, S. 216–217.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
lichkeit verwoben. Der Exkurs bewirkt, dass der Leser dies nicht mehr so richtig zu unterscheiden vermag. Zugleich leistet der Exkurs verschiedene rhetorisch-argumentative Aufgaben. Es war keineswegs Pius’ II. Ziel, eine objektive, beiläufige Beschreibung Venedigs zu liefern, etwa weil ihm „als trefflichem Beobachter und Erzähler“47 dies die Gewalt der auf ihn einströmenden Erlebnisse eingegeben hätte. Auch ist nicht der Fall, dass Pius, der an seinen Commentarii nur mit vielen Unterbrechungen arbeiten konnte, den Faden verloren hatte und sich deshalb wieder einmal in einen Exkurs verstieg. Pius II. dachte nach vorne und er hatte sein Darstellungsziel klar vor Augen. Die Beschreibung ist auf das unmittelbar folgende historische Geschehen ausgerichtet – den Auftritt der venezianischen Gesandten beim Kongress in Mantua. Was leistet der beschreibende Exkurs diesbezüglich? Pius II. hatte den Kongress von Mantua einberufen, um die christlichen Mächte auf einen Kreuzzug gegen die Ottomanen einzuschwören. Die Venezianer waren daran nicht interessiert und nicht erpicht, an dem Kreuzug teilzunehmen. Deswegen waren ihre Gesandten zur Eröffnung des Konzils nicht erschienen. Sie machten erst viel später ihre Aufwartung, eben an jener Stelle der Commentarii. Indem Pius II. ihrem Auftritt ein Lob Venedigs vorausschickt, erweist er ihnen auf besondere Weise diplomatische Ehre. Aus der Zusammenfassung, die er von seiner Rede an die Gesandten gibt, geht hervor, dass er in seiner tatsächlich gehaltenen Rede mit derselben Strategie vorging.48 Jedoch ist das Lob des Papstes äusserst gefährlich, da es die Gesandten festlegt, verpflichtet, moralisch unter Druck setzt und mit Erwartungen verlockt. In seiner ganzen Beschreibung betont Pius sehr den Reichtum Venedigs: Damit schneidet er der Stadt schon im Vorfeld die Ausrede ab, ihre augenblicklichen Mittel würden nicht ausreichen, um den Kreuzzug mitzufinanzieren. Ebenfalls höchst sinnvoll ist die Darstellung des Arsenals: Indem der Papst Venedigs enormes militärisches Potential hervorhebt, verpflichtet er die Stadt sozusagen zur Teilnahme. Wer in so kurzer Zeit so viele Kriegsschiffe ausrüsten kann, würde sich einen moralischen Totalversager leisten, wenn er sich im Kriegsfall zurückzöge. Es handelt sich hier keineswegs um beiläufige Beschreibungselemente. Pius wendet noch weitere an, um die Venzianer unter Druck zu setzen. Mehrfach hebt er 47 48
Misch, Geschichte der Autobiographie IV, 2, 598. Commentarii (ed. van Heck) III, 31, S. 218: „Pius de origine deque gloriosis eorum (sc. Venetorum) gestis nonnulla prefatus oblata eorum pro tuenda religione collaudavit […]“.
Enea und Aeneas
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Venedigs Beziehungen zum Orient hervor: Damit zieht er, sollte sich Venedig weigern, seine Motive schon von vorneherein in Zweifel – Pius suggeriert (übrigens vollkommen zu Recht), dass die Stadt wegen ihrer Handelsbeziehungen zur Pforte nicht an einem Kreuzzug teilnehmen will. Schliesslich stellt er Venedig – wenn es am Kreuzzug teilnimmt – eine glänzende Zukunft in Aussicht. Dieselbe Strategie hat Pius in seiner tatsächlichen Rede angewendet: Er erinnerte an die Wohltaten, die Papst Alexander III. den Venezianern erwies, und er verspricht ihnen, dass er ihnen keine geringeren Wohltaten erweisen werde.49 Mit seiner Maximierung der Evidenzrede hat Pius II. als Historiograph eine innovative Leistung erbracht. Giannantonio Campano, dem Pius die Commentarii zur Redaktion übergab (der sich jedoch weigerte, den Text zu ändern), hat dies erkannt. In einem Brief an den Kardinal von Pavia bezeichnet er die Darstellungsweise der Commentarii als „neue Rhetorik“.50 Aus dem Brief geht hervor, dass Campano eben die Komposition und den Stil als Pluspunkte des Werkes bewertete. Dabei betrachtete er gerade die geographischen Exkurse und Landschaftsschilderungen als literarische Höhepunkte. Damit gibt er uns einen Einblick in die betörende Wirkung, die Pius’ II. Beschreibungen auf zeitgenössische Leser ausübten: Hin und wieder beschreibt er Flüsse und Städte, manchmal setzt er sich mit Architektur auseinander. Dann scheint es, als ob wir einen anderen Autor vor uns hätten: Der Kämpfer scheint plötzlich ein Architekt geworden zu sein, ein Bauer oder ein Landvermesser: So gut führt er uns alles vor Augen und so genau verteilt er die Materie. Dort hört die alte Rhetorik auf – er hat eine neue erfunden. Bei Gott! Welchen Hauch des Windes, welches Rauschen, welches Murmeln der Quellen hört man da! Es scheint, als ob die dichterischen Worte selbst, geboren in den Wäldern, mit den Wässerchen um die Wette laufen, unter den Bäumen liegen, den Schatten aufsuchen […].51
4. Enea und Aeneas: hermeneutische ‚Erlebnisse‘ oder Einschreiben in den epischen Diskurs Im ersten Buch der Commentarii, in dem Pius II. sein Leben vor der Papsternennung behandelte, durfte ein Ereignis, das seine weitere Laufbahn steuerte, nicht fehlen: die Reise von Siena nach Basel im Gefolge 49 50 51
Ebd. Abgedruckt in der Ausgabe der Commentarii von Bellus-Boronkai, 619–624. Ebd., 619.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
Capranicas. Die autobiographische Festlegung der Reise im Privatbrief diskutierten wir bereits. In den Commentarii erfährt die Reiseroute jedoch eine merkwürdige Metamorphose: Pius II. berichtet, dass das Schiff des degradierten Kardinals nach Afrika abgetrieben worden sei (mehr als 500 km); die Küste Libyens sei in Sicht gewesen; die Matrosen hätten vor Angst gezittert, weil sie fürchteten, den Ungläubigen in die Hände zu fallen. Jedoch hätte man Glück im Unglück gehabt: Noch in derselben Nacht drehte sich der Wind und trieb das Schiff zurück nach Italien.52 In der Reisedarstellung des Privatbriefes ist davon nicht die Rede: Es gab zwar ungünstigen Wind, aber er trieb das Schiff nur bis nach Korsika (ca. 150 km) hinaus.53 Der moderne Leser mag auf diese Diskrepanz mit Erstaunen und Unmut reagieren. Er erwartet nicht, dass sich der Autor einer Autobiographie eine so grobe Unwahrheit zuschulden kommen lässt, die überdies leicht widerlegbar scheint, da parallele Reiseberichte vorliegen. Wie ist diese falsche Angabe zu erklären? Handelt es sich um gesteigerte Renommiersucht im Geschichtswerk? Oder ist sie auf eine Gedächtnislücke des Autors zurückzuführen? Für Letztes könnte sprechen, dass zwischen dem Ereignis und seiner Darstellung in den Commentarii mehr als ein Vierteljahrhundert liegt. Allerdings lässt sich der Erinnerungsdiskurs der frühneuzeitlichen Autobiographik nicht als einfaches, möglichst ‚wahrheitsgetreues‘ Rückerinnern an die Fakten des eigenen Lebens beschreiben. Man war nicht der Ansicht, dass es die vorrangige Aufgabe des Autobiographen wäre, nichts als die objektive, überprüfbare Wahrheit, etwa im Sinn Veltens,54 zu vermitteln. Demgegenüber war es viel wichtiger, die Ereignisse in einen passenden und überzeugenden Diskurs einzuordnen, mittels dessen der Leser die zerstreuten Einzelereignisse verstehen konnte; ein diskursives Gebilde zu errichten, welches das individuelle Geschehen ins kollektive Gedächtnis überbrachte. Ein Bericht, der zwar in Bezug auf die Fakten überprüfbar richtig war, jedoch die Voraussetzung der diskursiven Anbindung an das kollektive Gedächtnis nicht erfüllte, hätte den frühneuzeitlichen Leser mit Ablehnung und Irritation erfüllt. Denn das Leseverhalten des frühneuzeitlichen Lesers in Bezug auf autobiographische Texte war nicht von der Suche nach Diskrepanzen bestimmt. 52 53
54
Commentarii I, 3 (ed. Bellus-Boronkai), S. 32; (ed. van Heck), S. 43. Wolkan, Der Briefwechsel, I, 1, Nr. 4, S. 4–5; ebenso die Version ebd. II, Nr. 44, S. 172. Das selbst geschriebene Leben, passim.
Enea und Aeneas
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Hat die Kursänderung vielleicht etwas mit einer Diskursänderung zu tun? Im Text der Commentarii findet sich ein Hinweis: Aber als wir nach Genua fuhren, wurden wir von ungeheuren Stürmen ergriffen und so weit abgetrieben, dass Libyen in Sicht kam. Unsere Matrosen hatten große Angst, dass sie in einem Hafen den Barbaren in die Hände fallen würden. Obwohl es wunderbar und fast unglaublich klingt, ist es dennoch wahr: dass sie innerhalb eines Tages und einer Nacht von Italien aus zwischen Elba und Korsika nach Afrika abgetrieben wurden, und von dort, nachdem sich der Wind drehte, zwischen Korsika und Sardinien mehr treibend als navigierend wieder nach Italien zurücksegelten, um in Portovenere zu landen […] At cum Genuam tenderent, ingentibus iactati procellis in conspectum Libie delati sunt timentibus admodum nautis, ne barbaris in portubus redderentur. Quamvis mirabile dictu et auditu pene incredibile, verum tamen est eos una die atque nocte ab Italia solventes inter Ilvam et Corsicam in Africam propulsos, rursus mutatis ventis retrovectos inter Corsicam et Sardiniam, fluctuantes magis quam navigantes, ad Italiam reversos Portum Veneris appulisse […].55
Die hier zitierte Stelle aktivierte bei Pius’ zeitgenössischen Lesern eine Erinnerung, sowohl durch den Inhalt als auch durch die Wortwahl. Sie sollten die Commentarii im Diskurs von Vergils Aeneis verstehen. Die Erzählung der Irrfahrten des Aeneas fängt mit dem afrikanisch-karthagischen Abenteuer an, dem die ersten vier Bücher gewidmet sind. Aeneas wird nach Afrika verschlagen, wo sich die Königin Karthagos, Dido, in ihn verliebt. Wenn Pius’ Publikum die Worte „soweit abgetrieben, dass Libyen in Sicht kam“ las, erinnerte es sich an den Anfang von Vergils Epos. Libyen kam damit auch in literarischem Sinn in Sicht. Gleich mehrere Erkennungspunkte treffen hier zusammen: Auf inhaltlicher Ebene der Umstand, dass sowohl Aeneas’ als auch Pius’ Schiff in einen Sturm geriet, wonach die Küste Afrikas in Sichtnähe kam. Auf der Wortebene stellt das Wort Libya das Bindeglied dar: Es ist die Standardbezeichnung, die Vergil für das karthagische Reich verwendet; es kommt mit seinen Derivaten in der Aeneis siebenundzwanzig Mal vor.56 Eigentlich hätte schon das Wort allein als Erkennungsmerkmal genügt. Es tritt an der nämlichen Stelle auf, wo Vergil beschreibt, wie die Schiffe des Aeneas nach dem Sturm in Afrika landen:
55 56
Commentarii I, 3 (ed. van Heck), S. 42–43. Aeneis I, 22; 158; 226; 301; 339; 377; 384; 527; 556; 577; 596; IV, 36; 106; 173; 257; 271; 320; 348; V, 37; 595; 789; VI, 338; 694; 843; VII, 718; 368; XI, 265.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
Die erschöpften Kameraden des Aeneas versuchen mit aller Kraft zur nächstliegenden Küste zu gelangen, und sie nähern sich Libyens Gestaden. Defessi Aeneadeae quae proxima litora cursu Contendunt petere, et Libyae vertuntur ad oras.57
Hinzu tritt das lateinische Wort, das Pius II. zur Bezeichnung des Seesturms verwendete: procella. Vergil führte dieses Wort an der Stelle, an der er die Seenot der Kameraden des Aeneas beschrieb, gleich zweimal an.58 Auch die Formulierung wunderbar zu sagen (mirabile dictu) weist auf die Aeneis hin.59 Wenn man nun noch hinzunimmt, dass die Hauptperson der Commentarii selbst Eneas heißt, so erkennt man, dass es dem frühneuzeitlichen, humanistischen Leser geradezu unmöglich war, sich dieser Lesesteuerung zu entziehen. Die Kursänderung hat in der Tat mit einer Diskursänderung zu tun. Indem er in den Commentarii die Diskursmerkmale von Epos und Geschichtsschreibung kombinierte, schrieb Pius sein Leben in den Diskurs des römischen Nationalepos ein. Nicht zufällig ist die Aeneis in den Commentarii neben der Bibel der meistzitierte Text.60 Eine rezente Dissertation, die sich von Van Hecks Quellenapparat inspirieren ließ, ist zur Gänze der Vergil-Imitation der Commentarii gewidmet.61 Die Aeneis hat auf die inhaltliche Ausgestaltung, die Strukturierung und die Wortwahl der Papstautobiographie nachhaltig eingewirkt. Was die Makrostruktur betrifft, dürfte es nicht auf Zufall beruhen, dass Pius II. seine Commentarii ursprünglich in zwölf Bücher gliederte, dieselbe Anzahl wie Vergils Aeneis. Die vielen wörtlichen und inhaltlichen Reminiszenzen können in diesem Rahmen natürlich nicht exhaustiv behandelt werden, jedoch soll exemplarisch gezeigt werden, auf welche Weise sich die epische Diskursregelung auf Pius’ Autobiographie auswirkt. Vielleicht gelingt es auf diese Weise, eine Begriffszuschreibung der hermeneutischen Autobiographie-Interpretation, die auch auf Enea Silvio angewendet wurde, näher zu klären: die des ‚Erlebnisses‘. M. E. erweisen sich Ereignisse in den Commentarii, die Pius’ ‚Erlebnisse‘ wiederzugeben scheinen, bei näherem Zusehen als etwas anderes: als literarische Verortungen, die das be57 58 59 60 61
Aeneis I, 157–158. Aeneis I, 85; 102. Aeneis I, 439; II, 174; IV, 182; VII, 64; VIII, 252. Man sehe hierfür den Quellenapparat der Ausgabe van Hecks. Siehe N. Seeber, Enea Vergilianus. Vergilisches in den „Kommentaren“ des Enea Silvio Piccolomini (Pius II.), Diss. Innsbruck 1997.
Enea und Aeneas
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schriebene Geschehen einem bestimmten Diskurs zuordnen, der die Perzeption des Lesers steuert. Ein hermeneutisches ‚Erlebnis‘ scheint die ausführliche Schilderung der Ruderregatta im achten Buch der Commentarii wiederzugeben, der Pius II. als Zuschauer beiwohnte.62 Der Sinn der Darstellung ist zunächst nicht ganz klar, insbesondere, welche Bewandtnis die Ruderregatta für die politische Selbstdarstellung haben soll. Haben wir hier ein Beispiel des „liebenswürdigen Durcheinanders“ vor uns, das Von Pastor ansprach?63 Der Leser mag sich zu Recht darüber wundern, wieso der Papst eine so nebensächliche Episode überhaupt darstellte. Bei einer Erörterung der Intertextualität stellt sich jedoch heraus, dass das Ereignis gar nicht so nebensächlich ist, wie es scheint, sondern dass es vielmehr eine politisch-ideologische Relevanz besitzt. Durch die Schilderung des Ruderwettkampfs konstituiert sich Pius II. als legitimer Nachfahre der römischen Herrscher, als militärischer Anführer und als epischer Held. Ruderwettkämpfe stellen spezifisch „epische Szenen“ dar. Zahlreiche Entlehnungen auf der Wortebene zeigen, dass Pius II. den Ruderwettkampf im fünften Buch der Aeneis (V, 136 ff.) für seine Zwecke adaptiert hat.64 Seeber meinte, dass Pius II. auf die Darstellung des Vergil rekurrierte, weil ihm auf der Insel im Bolsenasee die Möglichkeit fehlte, das Geschehen selbst genau zu beobachten.65 Das scheint mir nicht das Richtige zu treffen. Der springende Punkt ist die Identifikation mit dem Helden Aeneas: Der Ruderwettkampf im fünften Buch der Aeneis wurde zu Ehren von Aeneas’ Vater veranstaltet – ähnlich wie Pius II. angibt, die Ruderregatta am Bolsenasee wäre ihm zu Ehren gegeben worden. Indem sich Pius II. als Hauptbetrachter und „Vorsitzenden“ des Spektakels konstituiert, nimmt er die für ihn ideologisch wichtige Stelle des Stammvaters der Römer ein. Die Selbstkonstituierung als legitimer Nachfahre der römischen Herrscher korrespondiert mit Pius’ II. Auffassung des Papsttums als Territorialmonarchie, Prinzipat und als dem zeitgenössischen Kaisertum übergeordnetes Herrschaftsinstitut.66 Andere Stellen in den Commentarii, die immer wieder als ‚Erlebnisse‘ gedeutet wurden, betreffen die zahlreichen Reisebeschreibungen. Sie
62 63 64 65
66
Seeber, Enea Vergilianus, 20–31; Commentarii, VIII, 10 (ed. van Heck), S. 509. Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 36. Siehe hierfür Seeber, Enea Vergilianus, 24 ff. Ebd., 25: „Er hatte also weder die Muße noch die Möglichkeit, als geruhsamer Zuschauer alles in den Blick zu fassen“. Vgl. Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 113–117.
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Päpstliche Autobiographik: die Commentarii
sind gleichwohl ein Diskursmerkmal und Hauptstrukturierungsmittel von Vergils Epos (wie für Homers Odyssee): Das Epos schildert grundsätzlich die Reise des Helden. Pius II. schreibt sich in diesen Diskurs durch umfängliche und literarisch ausgefeilte Reiseschilderungen ein, wie z. B. durch die viel Erzählzeit in Anspruch nehmende Beschreibung der Reise von Rom nach Mantua.67 Auf dieser ‚Odyssee‘ vermag Pius die gesamte politische Landschaft Italiens zu ergründen, mit seinen Kampfgefährten und gefährlichen Feinden. Pius schlüpft auf diese Weise in den Mantel des reisenden Helden Aeneas. Wie Vergil die Orte schildert, an denen Aeneas’ Schiff vorbeifährt, so schildert Pius II. die Lokalitäten, an welche ihn seine Reise führt – Regionen, Städte, Gebirge und Flüsse usw. –, und die Menschen, die dort wohnen. Die Anfangszeile der Odyssee – „pollon anthropon iden astea kai noon egno“ – „Viele Städte sah er und den Geist vieler Leute lernte er kennen“ – besitzt nicht nur für die Aeneis, sondern auch für die Commentarii diskursstiftende Bedeutung. Für die Selbstdarstellung als reisenden Held ist der auffällige, oben festgestellte Tatbestand relevant, dass Pius II. die meiste Zeit seines Pontifikats ausserhalb Roms verbracht hat, 38 von insgesamt 71 Monaten.68 Der Papst manövriert sich damit in die Rolle eines epischen Helden, der auf heroische Weise eine gefährliche, aber geschichtlich unverzichtbare Mission durchführt. Dazu gehört ein dramatischer Aufbruch. Dem Volk von Rom kommt die Rolle zu, dem Helden von der Reise abzuraten: Wenn dich schon keine Sorge um deine Gesundheit von der Reise abhalten kann, berücksichtige doch wenigstens deine Verantwortung für die römische Kirche und sieh, wie viele Anschläge man gegen sie anberahmt! Wer wird in deiner Abwesenheit das Patrimonium des Heiligen Petrus beschützen? Sobald du den Po überschreitest, werden die blutdürstigen Wölfe über dein Reich herfallen. Denn welches Land ist reicher an Tyrannen, um nicht zu sagen an Räubern, als das deine? Die einen werden Piceno, die anderen Umbrien, und andere wieder andere Provinzen in Stücke reißen, und sie werden deiner Braut kein Kleid am Leib lassen. Wenn du zurückkehrst, wirst du keinen Ruheplatz mehr antreffen, den du den deinen nennen kannst.69
In Hinsicht auf seinen hohen, heiligen Auftrag ähnelt der Papst dem epischen Helden Aeneas, den nichts von seiner Mission, Rom zu gründen, abbringen kann. Indem der Papst auf seinen Auftrag hinweist, schlägt er die Warnungen des Volkes in den Wind. Bezeichnend ist, dass er die Un67 68 69
Commentarii II, 2–44. Esch, „Herrscherpraxis und Selbstdarstellung“, 129. Commentarii II, 10 (ed. Bellus-Boronkai), S. 99; (ed. van Heck), S. 125–126.
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abänderlichkeit seines Beschlusses auch auf der Wortebene mit einem Aeneis-Zitat besiegelt: „nec plura locutus“ – „er sagte nichts weiter“ (VII, 599)70 und brach auf. Mit dem Zitat weist Pius II. auf die Zielsetzung seiner Reise hin: dem Feind, dem großmächtigen Türken, den Garaus zu machen. Es handelt sich um die Aeneis-Stelle, an der König Latinus dem Bösewicht Turnus den Untergang vorhersagt: „Te, Turne, nefas, te triste manebit supplicium“ – „Auf dich Turnus, du Scheusal, wartet eine furchtbare Strafe“ (VII, 596–597). Aeneas’ Gegenspieler Turnus versinnbildlicht Pius’ Feind, den Türken, was im Übrigen die Namensgleichheit der lateinischen Worte – „Turcus“ „Turnus“ – nahe legt. Eine weitere Kategorie von Ereignissen, welche als ‚Erlebnisse‘ gedeutet wurden, zählen gefährliche Begebenheiten, z. B. Überfälle, die Pius auf seinen Reisen widerfuhren. Jedoch liegt auch hier kein automatischer Erlebnisflux vor. Reiseabenteuer – Begegnungen mit Räubern und Ungeheuern, die dem reisenden Helden auflauern – sind vielmehr Standardelemente des epischen Diskurses. Ein solches Element ist in den Commentarii der räuberische Tyrann Eversus von Anguillara. Nur durch seine Klugheit vermag der Papst dem Tyrannen, den er wörtlich ein monstrum nennt,71 zu entrinnen. Weiter gehört es zum Regelsystem der epischen Erzähltechnik, dass nach einem Abenteuer kurzfristig die Hochspannung gelockert wird, künstlich eine Art Ruhepunkt hergestellt wird: Etwas Fröhliches, Günstiges, Angenehmes, Ablenkendes, kognitiv Interessantes wird behandelt. Damit wird der epische Spannungsbogen für den nächsten Schuss vorbereitet. Enea Silvio ging dieses Regelsystem, wie es unter anderem in der Aeneis vorhanden ist, in Fleisch und Blut über. Nach dem Abenteuer mit dem Tyrannen Eversus schiebt er eine Pause ein, indem er die Stadt Siena und ihre Staatsinstitutionen, sowie die Kleinstädte Cività Castellana, Narni und Spoleto beschreibt.72 Die Schilderung der Städtchen mit ihrer Architektur etc. wirkt ästhetisch ansprechend, kognitiv interessant und vermittelt dem Leser ein angenehm-beruhigendes Gefühl. In Bezug auf Spoleto bewirkt Pius II. zusätzliche Entspannung, indem er ein feucht-fröhliches Gastmahl schildert, dem er mit seinen Kardinälen beiwohnte. Gastmähler gehören ebenfalls – und in ebendieser 70 71
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Commentarii II, 10 (ed. van Heck), S. 126. Pius II. zitiert Aeneis VII, 599. II, 12. Giannantonio Campano hat bei seiner Redaktion das Wort „monstrum“ gestrichen. Es schien ihm, dass einem Papst eine souveränere Haltung angemessen sei. II, 13–14.
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Funktion – zu den ‚epischen Szenen‘. Nach unbeschwerten Gastmählern geschieht im Epos zumeist etwas sehr Unangenehmes oder Bedrohliches. Pius schreibt die Ereignisse seines Pontifikats in diesen Diskurs ein: Unmittelbar nach dem Gastmahl überbringen Gesandte den Horrorbericht – die Türken sind im Begriff, Ungarn zu überschwemmen. Die Venezianer haben ihre abendländischen Bundesgenossen verraten. Pius’ II. Beschreibungen visueller oder anderer sinnlicher Eindrücke sind häufig als Wiedergabe seiner ‚Erlebnisse‘ gedeutet worden. Z. B. fängt eine seiner Beschreibungen wie folgt an: „Es war ein überaus kalter Winter. Der Monat Januar neigte sich schon dem Ende zu und alles war mit Schnee und Eis bedeckt“.73 Der visuelle Eindruck suggeriert Gefühlsauthentizität, scheinbar bricht ein Erlebnisflux los. Jedoch gehört die sorgfältig angelegte Beschreibung der Szenerie mit visuellen (und anderen sinnlichen) Details zur Diskursivität und Erzähltechnik des Epos. Es wird sozusagen ein Schauspiel inszeniert. Im hier angesprochenen Fall inszeniert Pius das Schauspiel wie folgt weiter: (Da) […] kam ihm (Pius II., Anm.) am nächsten Tag Borso (d’Este, Anm.) auf dem Po mit einem Musikschiff entgegen, wobei ihn eine große Anzahl kleinerer Schiffe begleitete, so dass die gesamte Wasseroberfläche vom Eintauchen der Ruder aufgewühlt wurde. Die Fähnchen in verschiedenen Farben, die im Winde flatterten, ergaben ein wunderbares Schauspiel […]. sequenti die Borsium occurrentem in Pado habuit navi buccinatoria vectum et magna minorum navigiorum multitudine circumdatum, adeo ut nullam fluminis partem non agitarint pulsarintque remi. Vexilla multi coloris impulsa ventulo aspectum mirabilem reddere […].74
Trotz seiner leuchtenden Bildkraft ist auch diese Stelle keine Konserve eines authentischen Erlebnisses, sondern eine Einschreibung in den epischen Diskurs. Der die Phantasie anregende visuelle Eindruck des Eintauchens der Ruder ist ein fester Bestandteil des Epos. Die Erinnerung an die Aeneis hat jedoch keinesfalls die Züge eines sinnleeren Automatismus. Vielmehr liegt ein Diskurskombinat von Historiographie, Feldherrendiskurs und Epos vor, das in ständigem Wechselspiel neue, reizvolle Sprachgebilde zu Tage fördert, mit anregenden Mischungen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die „neue Rhetorik“, die Campano in seiner Bewertung von Pius’ Commentarii ansprach.75 Die ideolo73 74 75
Commentarii IV, 4 (ed. Bellus-Boronkai), S. 193; (ed. van Heck), S. 246. Ebd. Vgl. oben Kap. XI. „Papst und Caesar: Pontifikatsgeschichte als Feldherrndiskurs oder die Maximierung der Evidenzrede“.
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gische Bedeutung der Einschreibung in den epischen Diskurs ist mit der in den Feldherrndiskurs gleichläufig: Durch beide Darstellungsprozesse erhebt Pius II. den Anspruch, der legitime Nachfolger der römischen Kaiser zu sein, was sein Selbstverständnis als monarchischer Territorialherr widerspiegelt.76 Als letztes Beispiel möge das Musterbeispiel des piccolomineischen ‚Erlebnisses‘ dienen – die Naturszenen. Das betrifft das merkwürdige, sich mehrfach wiederholende Schauspiel, dass wir den Papst in vollem Ornat im Grase sitzen sehen, unter anderem auf den Wiesen bei Ponte Macereto, einem Örtchen unweit von Siena:77 Die süße Zeit des Frühlings war angebrochen, und um Siena lächelten alle Hügel im neuen Kleid der Blätter und Blüten, und üppig schoss auf den Feldern die Saat in die Höhe. Die unmittelbare Umgebung Sienas bietet einen wunderbaren Anblick, ganz über alle Beschreibung: Hügel, die sich sanft nach oben ziehen und entweder mit Obstbäumen und Reben bedeckt sind, oder mit Fluren, die sich über wunderhübschen Tälern erheben, begrünt von der aufkeimenden Saat oder vom Grase. Von den Hügeln plätschern unaufhörlich die Bäche. Dazwischen liegen zahlreiche Wäldchen, entweder von Natur gewachsen oder von Menschenhand angelegt, in welchen Vögel den süßesten Gesang erheben […] Durch diese Landschaft reiste frohen Sinnes der Papst […] Um die zweiundzwanzigste Stunde (am Nachmittag) pflegte er sich auf eine Wiese hinauszubegeben, und ließ sich an dem Flussufer, wo es reichlich Gras gab, nieder, und dort hörte er die Gesandtschaften und Bittsteller an.
Dem ‚Erlebnis‘ des Sitzens im Grase scheint eine seltsame Marotte dieses Papstes zugrunde zu liegen.78 Das mag sein. Aber der Punkt, um den es geht, betrifft die Darstellbarkeit der grünen Sitzungen. Es wäre für Pius natürlich nicht sinnvoll, sich gegenüber seinem Publikum als exzentrischen Spinner zu präsentieren, der, weil er nun einmal nicht richtig tickt, seine Amtshandlungen im Grase verrichtet. Diesbezüglich muss man berücksichtigen, dass – abgesehen von der Verankerung im Caesarischen Feldherrndiskurs – diese ‚Nature-Sittings‘ im epischen Diskurs verortet sind. Aeneas und seine heroischen Kameraden halten regelmäßig Gelage im Gras ab, bei denen sie sich von den Strapazen des Heldentums erholen. Der Papst verwendet diesen Anknüpfungspunkt, um sowohl sein Verhalten zu legitimieren als auch sich dem römischen
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Für Letztes vgl. Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 13–17. Commentarii IV, 15 (ed. Bellus-Boronkai), S. 205–206; (ed. van Heck), S. 260. Z. B. hat Esch in seinem Aufsatz „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 132 ff., die Originalität dieses Verhaltens betont.
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Erzhelden anzugleichen: Sitzend im Grase konstituiert er sich spielerisch als epischen Heros Aeneas. Unter Anwendung dieses Verfahrens beschrieb Pius II. in den Commentarii weitere Privatreisen, die er meist während der Sommerferien unternahm, besonders in Latium.79 In Latium konstituierte sich der urlaubende Papst mehrfach im Gewand des Aeneas. Eine dieser Szenen bezieht sich auf das Jahr 1460, als Latium ein Aufruhr ergriffen hatte. Federico da Montefeltro, der Oberbefehlshaber des päpstlichen Heeres, riet, da er Pius’ Sicherheit nicht mehr garantieren konnte, vehement von einer Sommerfrische ab. Als er nichts ausrichtete, bot er ihm nachträglich Begleitschutz an. Bei Anio holte er den Papst ein: Der Papst freute sich am Glanz der Waffen und an der schmucken Ausstattung der Pferde und Reiter. Denn was gibt es Schöneres als eine solche perfekte Anordnung der Reiter in Reih und Glied? Die Sonne spiegelte sich auf den Schilden, und die Helme und Helmbüsche erstrahlten in wunderbarem Glanz. So viele Schwadronen es gab, so viele Lanzenwälder ragten empor! Die jungen Männer schwärmten aus, liessen ihre Pferde im Kreis laufen, schwangen ihre Schwerter und Lanzen, lieferten einen Schaukampf. Oblectatus est pontifex splendore armorum et equorum ac militum ornatu. Nam quid pulchrius castrorum acie ordinata? Fulgebat sol in clipeis, et galearum cristarumque facies mirabilem reddebat splendorem; quot fuerunt armatorum turme, tot quasi silve lancearum apparuerunt. Iuventus huc atque illuc currere, equos in gyrum flectere, enses vibrare, hastas circumferre, dimicationis speciem ostentare.80
Wir haben hier abermals eine epische Szene vor uns, eine sogenannte ,Waffenschau‘. Mit diesem Schauspiel appellierte Pius II. an die literarische Erinnerung seiner Leser, sich die Waffenschauen aus Vergils Aeneis zu vergegenwärtigen. Auch ähnelt der Schaukampf der „iuventus“ einem besonderen, ritualisierten und ideologisch hochwertigem Reiterspiel, dem Troja-Spiel, das Vergil im fünften Buch der Aeneis beschreibt (V, 553ff. „Troiae iuventus“).81 Diese Stelle der Commentarii besitzt insofern besonderes Interesse, als wir gewissermaßen eine Meta-Erinnerung vor uns haben, in der die Erinnerung an die Antike als solche erinnert 79
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Eine der schönsten Reiseschilderungen behandelt den Abstecher, den Pius II. nach Tibur und zur Villa Hadriani unternahm; siehe Commentarii V, 26–28 (ed. van Heck), S. 343–348. Commentarii V, 26 (ed. van Heck), S. 343. Vgl. dazu K. A. E. Enenkel, „Epic Prophecy as Imperial Propaganda? Jupiter’s First Speech in Virgil’s Aeneid“, in: Ders., I. L. Pfeijffer (Hrsg.), The Manipulative Mode. Political Propaganda in Antiquity, Leiden-Boston 2005 (Mnemosyne Supplementa 261), (167–218), 187–189.
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wird. Pius II. vermeldet nämlich explizit, dass das Schauspiel der Waffenschau ihn und seinen Beschützer Federico da Montefeltro damals an die Ereignisse der mythischen Vorzeit, an die Epen Vergils und Homers erinnert hätte. Die beiden Anführer, der Papst und der Feldherr, vergaßen die Gegenwart und vertieften sich in eine gelehrte Unterredung. Federico soll den Papst gefragt haben, ob die Helden der Vorzeit dieselben Waffen wie die nunmehr gebräuchlichen trugen. Der Papst beantwortete diese Frage bejahend; er vertrat die Meinung, dass die Waffenbeschreibungen in Homers und Vergils Epen prinzipiell wirklichkeitsgetreu seien. Während der Papst und der Feldherr nebeneinanderher ritten, versanken sie in Gedanken an den trojanischen Krieg.
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Papstbiographie: Giannantonio Campano
XII. Papstbiographie: Giannantonio Campano 1. Missglückter und posthumer Hofbiograph des Papstes: Giannantonio Campano von Paul zu Pius Braucht das Oberhaupt der Kirche einen Hofbiographen? Campano vertrat nachdrücklich diese Auffassung,1 vielleicht, weil er von der Regierungsperiode Pius’ II. her mit der Konzeption des Papsttums als territoriales Fürstentum,2 das sich unter seinen weltlichen Konkurrenten mit einem entsprechenden Repräsentationsanspruch behaupten musste, vertraut war. Campano ging davon aus, dass das geschriebene Wort gegenüber den anderen damals vorhandenen Propagandamedien klare Vorteile besass: Es konnte leichter, schneller, in größeren Mengen und billiger reproduziert sowie innerhalb der internationalen Respublica litteraria weiträumiger und effizienter distribuiert werden. Die im Grunde unbegrenzte Reproduzierbarkeit macht literarische Werke außerdem ‚haltbarer‘, ermöglicht ihnen, weit in die Zukunft hineinzureichen. Insofern war das geschriebene Wort dauerhafter und ‚härter‘ als alle Materialien der frühneuzeitlichen bildenden Kunst, aus denen Monumente gefertigt wurden: die Farbe von Wandgemälden verblasst irgendwann, ihr Stuck bröckelt ab; Temperaporträts verbleichen, ihr Holzgrund wirft sich, ihre Farbe blättert ab; sogar Stein und Erz verwittern im Laufe der Zeit. Was macht den biographischen Diskurs als Propagandamedium besonders geeignet? Ein Hauptgrund liegt im Ansehen der Biographie oder genauer in dem Ansehen, das die Literaturgattung, der sie zugerechnet wurde – die Historiographie, im kollektiven Gedächtnis der frühneuzeitlichen Respublica litteraria besaß. Ihr Ansehen ist mit einem gesteigerten 1
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Campano, Brief V, 1 (ed. Mencken), S. 251–252. Zu dem Brief vgl. F. R. Hausmann, Giovanni Antonio Campano (1429–1477 ). Erläuterungen und Ergänzungen zu seinen Briefen, Diss. Freiburg i. Br. 1968, 120–122. Vgl. Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 113–117.
Giannantonio Campano von Paul zu Pius
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Wahrheits- und Autorisierungsanspruch verbunden, den Campano wie folgt festschreibt: Einzig und allein der Geschichtsschreibung schenkt man Glauben, einzig und allein sie findet Zustimmung; einzig und allein sie fingiert nichts, erlügt nichts, schmückt jedoch alles und verleiht ihm Glanz; ist ein glaubwürdiger Bote, ein Zeuge, der die Wahrheit spricht, zugleich ein wohlwollender Interpret, ein Denkmal für die Ewigkeit, ein verlässliches Gedächtnis, das nicht irrt. Sola est Historia, cui credatur, quae habeat assensum et fingat nihil, mentiatur nihil, poliat exornetque omnia, fidelis nuntius, testis verus, benignus interpres, diuturnum monumentum, firma indubitataque memoria.3
Campano brachte diese Gedanken nicht aus uneigennützigen Gründen zum Ausdruck. Er trug sie in einem Brief vor, in dem er sich bei Papst Paul II. (Pietro Barbo, 1464–1471), dem Nachfolger Pius’ II., Ende 1466 oder Anfang 1467 als Hofhistoriker anmeldete und ihm anbot, eine Biographie zu schreiben.4 Campanos Angebot kann man als realistisch und vielversprechend bezeichnen: Er war damals ein bekannter lateinischer Schriftsteller, der bereits ein ansehnliches Oeuvre hervorgebracht hatte, einer der besten Literaten Roms, und ausserdem war er auch als Biograph hervorragend qualifiziert, wie man aus seinem eindrucksvollen Werk Leben und Taten des Brachius ersehen konnte.5 In seinem Bewerbungsschreiben schreibt Campano Paul II. zielstrebig in den von ihm erwünschten Diskurs. Sowohl um sein Können vorzuführen als auch um die Neugierde des Papstes zu erwecken, gibt er gleich einmal als Kostprobe eine Entwurfskizze der künftigen Biographie: Von frühester Jugend an hast du dich mit den allerhöchsten Angelegenheiten beschäftigt, die höchsten Ämter bekleidet, und du hast cum summa laude in einem Alter die Papstkrone erlangt, in dem andere noch nicht einmal auf den Gedanken kommen, nach ihr zu streben. Du hast den Besitz der Kirche gemehrt, und zwar auf eine solche Weise, dass der Sieg und der Frieden unser war, noch bevor wir bemerkten, dass es Krieg gab. Du hast Städte von Belagerungen, Bürger von Tyranneien befreit, das Verhalten von Politikern gemäßigt, verboten, dass die Bewoh-
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Campano, Brief V, 1 (ed. Mencken), S. 251. Campano, Brief V, 1; in: Opera (ed. Ferno), f. 163v–164v; (ed. Mencken), S. 243–254; vgl. Hausmann, Giovanni Antonio Campano, 120–122. Campano bietet an, die Taten (res gestae; ed. Mencken, S. 243–244) und die Tugenden (ed. Mencken, S. 247–248) Pauls II. zu verherrlichen. Campano, De vita et gestis Brachii (1458), ed. R. Valentini, in: Rerum Italicarum scriptores, n. ed. XIX, 4, Bologna 1929.
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Papstbiographie: Giannantonio Campano
ner der Provinzen ausgeplündert würden, ein Gesetz gegen zu hohe Geldspenden der Volkspolitiker erhoben, du hast nicht geduldet, dass jemand Unrecht erleide, dass jemandem sein Besitz geraubt werde. Du hast in höherem Maße als alle anderen Päpste, von denen die Überlieferung kündet, für Gerechtigkeit und für maßvolle Anwendung der Gesetze gesorgt, jedoch so, dass du die Strenge der Gesetze nicht aus den Augen verloren hast. Du hast Blutvergießen und Folter in dem Maße verabscheut, dass du die höchste Gerechtigkeit mit der höchsten Gnade verbunden hast. Du kultiviertest die Nächstenliebe: Selbst als Privatmann hast du den Unterdrückten Hilfe, den Bedürftigen Schutz geboten […]. Siehe, welche gewaltigen Möglichkeiten des Lobes sich hier auftun, welchen Stoff sie darbieten werden! Ab ineunte aetate amplissimis versatus in rebus, muneribus defunctus maximis, cum summa laude adeptus ea aetate Pontificatum, in qua vix alius concepisset. Auxisti rem Ecclesiae, atque ita auxisti, ut prius victoriam et pacem habuerimus, quam intellexerimus bellum, compressisti seditiones urbium, civiles tyrannides sustulisti, magistratibus adhibuisti modum, expilationes provincialium fieri vetuisti, de coercendis largitionibus popularium tulisti legem, neminem affici iniuria a quoquam, nulli eripi fortunas passus es. Iustitiam legumque moderationem supra Pontifices omnes, quorum extet memoria, custodisti, ut tamen severitatem legum non laxaveris. Sanguine et cruciatibus sic abstinuisti semper, ut in summa iustitia clementiam summam adhibueris. Coluisti pietatem, etiam privatus oppressis opem, egenis praesidium contulisti. […] Vide, quae laudum ingentium argumenta, quam nobis materiam sunt praebitura.6
Hier ist ein Autor am Werk, der seine Bemeisterung der Diskursregeln des rhetorischen Personenlobes selbstbewusst demonstriert. Der kurze Abschnitt ist deswegen so gelungen, weil er bewusst als Skizze gestaltet ist: Die Details fehlen noch, aber schon nach wenigen Zeilen tut sich vor den Augen des Lesers ein weiter Horizont des Lobes auf. Das künftige Werk verspricht großartig zu werden: Der Autor beherrscht die Topik mit genialer Leichtigkeit und Fülle. Die Kardinaltugenden des Papstes werden mit wenigen Pinselstrichen hingeworfen: Tapferkeit, Gerechtigkeit, Milde und Nächstenliebe. Mit konkreten Taten stattet Campano diesen Tugendkatalog bewusst nicht aus: Der Papst soll ja neugierig werden. Er hält dem Papst jedoch vor, wie wichtig eine fachkundige Einzelbehandlung der jeweiligen Tugenden – Gerechtigkeit (iustitia), Standhaftigkeit (constantia), Milde (clementia) usw.7 – sei: Das bloße Benennen einer Tugend genüge nicht, da ständig falsche Interpretationen auf der Lauer lägen. Zum Beispiel könnten die Freigebigkeit und Groß-
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Campano, Brief V, 1 (ed. Mencken), S. 245–246. Campano, Brief V, 1 (ed. Mencken), S. 246–247.
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zügigkeit Pauls II. von manchen als Verschwendungssucht ausgelegt werden.8 Obwohl Campano diese Überlegungen mit großer Überzeugungskraft vortrug, ging Paul II. nicht auf das verlockende Angebot ein. Weshalb? Hatte sich hier ein Renaissancepapst zu einer harschen spirituellen Verachtung des irdischen Ruhmes durchgerungen? Ein Blick auf Pauls II. Regierungsstil lehrt, dass dies wenig wahrscheinlich ist. Paul II., Sohn eines der reichsten venezianischen Kaufleute, entfaltete als Papst eine bis dahin ungekannte Pracht. Nicht zufällig redete Campano von seiner Freigebigkeit und Großzügigkeit, die als Verschwendungssucht interpretiert werden könnten. Es ist nicht anzunehmen, dass Paul II. Einwände gegen die Verewigung seines prachtliebenden Pontifikats gehabt haben könnte. Was aber war der Fall? Paul II. misstraute dem Hofhistoriker und Papstbiographen in spe. Das hing vor allem mit Pauls schlechtem Verhältnis zu seinem Vorgänger Pius II. zusammen.9 Was Campano von vorneherein suspekt erscheinen ließ, war die Tatsache, dass er der Hofdichter und Vertraute Pius’ II. gewesen war.10 Pius II. warf nach seinem Tod seinen Schatten auf die politischen Verhältnisse in Rom. Er hatte während seines Pontifikats eine grosse Zahl von Kardinälen ernannt, darunter einige Familienmitglieder, die das Kolleg unter Paul II. dominierten.11 Mit diesem vom Pius-Nepotismus12 gekennzeichneten Kardinalskolleg hatte Paul II. große Schwierigkeiten. Es hatte schon während des Konklaves versucht, ihn zu erpressen und sein künftiges Handeln zu be8
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Ebd.: „Es compositus et splendidus; quae res etsi Pontifice Summo dignissima, non desunt hic quoque, qui aliorsum quam res est, interpretentur, nec ad splendorem domesticum id referant et Maiestatem tantae sedis, sed ad supervacuum quendam cultum et delitias accipiant.“ Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 301. Für das Verhältnis Campanos zu Paul II. vgl. Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 184–193. R. B. Hilary, „The Nepotism of Pope Pius II, 1458–1464“, in: Catholic Historical Review 64 (1978), 33 ff.; Ders., The Appointments of Pius II., Diss. Ann Arbor 1970; F. R. Hausmann, „Die Benefizien des Kardinals Jacopo Ammannati-Piccolomini. Ein Beitrag zur ökonomischen Situation des Kardinalats im Quattrocento“, in: Römische Historische Mitteilungen 13 (1971), 27 ff.; Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 202–210. Vgl. dazu Esch, „Herrschaftspraxis und Selbstdarstellung“, 127: „Im Pontifikat Pius’ erreichte der Nepotismus ein Ausmaß, das man bei diesem Papst und seinen Grundsätzen schwerlich erwartet hatte“.
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stimmen. Die Kardinäle wollten ihn zu einer Pius-ähnlichen Politik verpflichten: Der Kreuzzug gegen die Türken sollte weiterhin Priorität erhalten usw. Auch sonst sollte der Handlungsspielraum Pauls II. eingeengt werden: Er durfte die Kurie nicht ohne Zustimmung der Kardinäle in eine andere Stadt verlegen und wurde überdies verpflichtet, nach drei Jahren ein allgemeines Kirchenkonzil auszuschreiben.13 In den Pius-Anhängern unter den Kardinälen erblickte Paul II. seine Feinde. Campano betrachtete er als Teil der ‚Pius-Clique‘. Hinzu kam, dass ausgerechnet ein erklärter Hauptgegner des Papstes, Kardinal Ammannati-Piccolomini, der später in seinen Commentarii ein gehässiges Bild Pauls II. zeichnen sollte,14 Campanos Hauptgönner war. Es schien Paul II. nicht plausibel, dass Campano sich von der PiusClique gelöst hatte. Dass er Pius II. in seiner letzten Stunde nicht beigestanden hatte, besagte wenig, weil er damals monatelang das Bett hüten musste, während er in Viterbo seine schwere Gliederkrankheit mit Heilbädern bekämpfte.15 Wieder gesundet, hielt Campano anlässlich des ersten Todestages Pius’ II. die Gedenkrede.16 Er verdankte Pius II. viel: die Aufnahme in den Klerus, den Ruhm als Hofdichter, die Verleihung der Bischofswürde. Es schien Paul II. nicht ratsam, einen Hofbiographen aus den Reihen der Pius-Clique zu wählen. Die Spannungen zwischen dem Papst und der Clique blieben in der Folgezeit bestehen. Im Jahre 1468 kam es zum Eklat.
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Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 298. G. degli Ammannati Piccolomini, Epistolae et commentarii Jacobi Piccolominei, Cardinalis Papiensis, Mailand 1506; Ders., Jacobi Piccolominei, Cardinalis Papiensis, qui Pio Pontifici coaevus et familiaris fuit rerum gestarum sui temporis, et ad Pii continuationem, Commentarii eiusdemque Epistolae, Francofurti in officina Aubriana 1614. In einem Brief vom 13. Mai 1464 teilt er mit, dass ihn die Krankheit neun Monate ans Bett gefesselt hielt. S. Brief IV, 26 (ed. Mencken), S. 242; vgl. Hausmann, Giovanni Antonio Campano, 14–15. Für die Kur in Viterbo vgl. Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 163. In exequiis divi Pii II. (1465), gedruckt in Campano, Opera (ed. Ferno), f. 99r–104r. Es handelt sich dabei nicht um die Grabrede, sondern um eine Gedenkrede; s. Hausmann, Giovanni Antonio Campano, 15, Anm. 4. Campano gab die Gedenkrede auch selbst heraus und schickte unter anderem dem Kardinal Ammannati-Piccolomini ein Exemplar. Wie besitzen die briefliche Reaktion des Kardinals in seiner gesammelten Korrespondenz Epistolae et commentarii (1614), Brief 150, S. 574: „Visus sum iterum ea legens intueri Pium nostrum, iterum extremam eius horam in ulnis excipere, exultare iterum gloria dictorum et factorum suorum, atque iterum in lacrymas ire, quas non modo tunc fudi plurimas, sed nunc quoque per dies singulos tenere vix possum“.
Eine Verschwörung der Respublica litteraria?
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2. Eine Verschwörung der Respublica litteraria? Der Kontext der Pius-Biographik Campano war zu Lebzeiten Pius’ II. Mitglied der Römischen Akademie geworden.17 Die Römische Akademie bildete die absolute Avantgarde in der damaligen humanistischen Respublica litteraria. Während sie an sich nur einer der bereits öfter auftretenden privaten Zirkel war, die aus dem gemeinsamen Interesse an der Antike geboren wurden, ragte sie durch die Radikalität und Intensität, mit der sie ihrem Vereinsziel nachging, hervor. Die Römische Akademie nahm den Vorsatz, die Antike zum Leben zu erwecken, ganz wörtlich. Sie betrug sich als Sekte, deren Religion die Anbetung der Antike war und die sogar einen neuen Hauptfeiertag einführte: statt des 24. und 25. Dezembers (Geburt Christi) die Palilia, das Gründungsfest des antiken Rom am 20. und 21. April, welches sie mit einer feierlichen Prozession zelebrierten. Den Sektengründer Pomponio Leto18 nannten sie pathetisch „Pontifex Maximus“. Auch datierten die Sektenmitglieder unter der Anleitung des Pomponio Leto und des Bartolomeo Sacchi (Platina), zweier Humanisten, mit welchen Campano befreundet war,19 ihre Briefe konsequent nicht, wie damals obligat, mit „anno Domini“, sondern mit „von der Gründung der Stadt an“ („AB URBE CONDITA“). Bemerkenswert ist weiter, dass sich die Römische Akademie ausgerechnet Martial zu ihrem antiken Lieblingsdichter erkor. Dessen Epigrammata stechen sowohl durch die außerordentliche Dichte, mit der sie Information über die antike Lebenswirklichkeit transportieren, als auch durch die unverblümte Art, in der über Homosexualität gesprochen wird, hervor.
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Vgl. Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 209–233 („Il circolo Pomponiano“). Für die „Römische Akademie“ und ihren Leiter Pomponio Leto siehe vgl. V. Zabughin, Giulio Pomponio Leto, Rom-Grottaferrata 1909–1912 (3 Bde.); A. Lesen, „Pomponio Leto Sabino“, in: Convivium 3/6 (1931), 855–866; E. Lee, „Pomponius Laetus, Julius“, in: CE, Bd. III, 110–111; Ders., „Platina, Bartolomeo“, in: CE, Bd. III, 100–101; D’Amico, Renaissance Humanism in Papal Rome. 91–97; A. Della Torre, Paolo Marsi: un contributo alla storia dell’ Accademia Pomponiana, Rocca S. Casciano 1903; Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 318–342; A. Campana und P. Medioli Masotti (Hrsg.), Bartolomeo Sacchi il Platina (Piadena 1421 – Roma 1481 ). Atti del Convegno internazionale di studi per il V Centenario, Cremona, 14.–15. Nov. 1981, Padova 1986. Für das Freundschaftsverhältnis zwischen Campano und Platina vgl. Hausmann, Giovanni Antonio Campano, 421.
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Papstbiographie: Giannantonio Campano
Im Februar 1468 kam es zu einem aufsehenerregenden Zusammenprall zwischen Paul II. und der Römischen Akademie: Er bezichtigte ihre Mitglieder der Sodomie, des Neuheidentums und der Verschwörung gegen sein Leben. Er löste den Klub gewaltsam auf und warf die Mehrzahl der Mitglieder, die er in seine Gewalt bekam, ins Gefängnis von Castel S. Angelo:20 Platina, Lucido Fosforo Fazino, Antonio Settimuleio Campano, Agostino Maffei. Pomponio Leto wurde in Venedig arrestiert und in die Engelsburg überbracht. Anderen Mitgliedern gelang die Flucht: Filippo Buonaccorsi, Petreio, Glauco Condulmer. Giannantonio Campano wurde nicht eingekerkert, vielleicht weil die Bischofswürde ihn beschützte. Jedoch teilte er später mit, dass Paul II. ihn damals auf Schritt und Tritt beschatten ließ.21 Es ist nicht ganz klar, was genau Paul II. zu der erbitterten Strafaktion veranlasste. Wollte das Kirchenoberhaupt in der Tat die humanistische Respublica litteraria der Römischen Akademie mit ihrer Antikenzuwendung bekämpfen? Obwohl es möglich ist, dass sich Paul II. über die merkwürdige Formensprache des Zirkels ärgerte, erscheint nicht plausibel, dass dies den Ausschlag gegeben haben soll. Paul II. selbst hatte eine humanistische Erziehung genossen und verfolgte humanistische Interessen, was sich zum Beispiel daran ablesen lässt, dass er sich in lateinische Historiographie vertiefte und antike Inschriften, Münzen und Gemmen sammelte.22 Paul II. war kaum der Humanisten- und Bildungsfeind, als welchen ihn Platina später in die Geschichte hineinschrieb.23 Dass Leto
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Für die ‚Verschwörung‘ des Jahres 1468 siehe R. J. Palermino, „The Roman Academy, the Catacombs, and the Conspiracy of 1468“, in: Archivum Historiae Pontificiae 18 (1980), 117–155; Von Pastor, Geschichte der Päpste Bd. II, 326 ff.; P. Medioli Masotti, „L’Accademia Romana e la congiura del 1468“, in: Italia medioevale e umanistica 25 (1982), 189–202; E. Garin, „L’Accademia romana, Pomponio Leto e la congiura“, in: E. Cecchi, N. Sapegno (Hrsg.), Storia della letteratura italiana, Mailand 1965–1969, Bd. III: Il Quattrocento e l’Ariosto, 142–158; A. J. Dunston, „Pope Paul II and the Humanists“, in: Journal of Religious History 7/4 (1973), 287–306. In einem Brief vom Januar 1472 an Narcisso de Verduno; Campano, Briefe VI, 53 (ed. Mencken), S. 401: „Vivo Paulo vestigia mea quoque sic observabantur, ut ne Romae quidem carere suspicione viderentur“; vgl. Hausmann, Giovanni Antonio Campano, 207. Für die humanistischen Interessen Pauls II. vgl. R. Weiss, Un umanista veneziano: Papa Paolo II., 1958 und d’Amico, Renaissance Humanism in Papal Rome, 93. Die entscheidende Berichtigung stammt von Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. II, 318 ff.; vgl. d’Amico, Renaissance Humanism in Papal Rome, 91–97.
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und andere Mitglieder der Akademie, übrigens auch Campano, homosexuelle Neigungen hatten, darf als sicher gelten.24 Jedoch erscheint nicht evident, dass Paul II. vor allem deswegen gegen sie vorging. Der Vorwurf der Homosexualität scheint, wie der des Neuheidentums, eher ein Vorwand gewesen zu sein. Bleibt die Verschwörung gegen Pauls Leben. Diesbezüglich ist merkwürdig, dass ausgerechnet Gelehrte eine Verschwörung angezettelt haben sollen: Leute wie Leto und Platina waren eher weltfremde Spinner denn gefährliche politische Umstürzler. Auffällig ist, dass die Humanisten, die Paul II. verfolgte, sämtlich zum Haushalt oder zur Umgebung von Kardinälen gehörten, die Pius II. installiert hatte:25 Platina, einer der Hauptverdächtigen, war der Sekretär Kardinal Francesco Gonzagas; der flüchtige Petreius gehörte zum Haushalt Kardinal Jacopo Ammanati-Piccolominis; Glauco Condulmer war der Sekretär des Kardinals von Ravenna, Bartolomeo Roverella; Buonaccorsi, von allen als der Rädelsführer gebrandmarkt, gehörte ebenfalls zum Haushalt Roverellas.26 Wie man die ‚Verschwörung‘ der Römischen Akademie auch interpretieren will, klar ist, dass es sich um ein Netz politischer Intrigen gegen Paul II. handelte, und dass in dieses Intrigennetz weitaus bedeutendere Personen als die Humanisten, die Paul in den Kerker warf, verstrickt waren.27 Dass mehr auf dem Spiel stand, zeigt sich unter anderen daran, dass auch ein Truppenkommandant unter Pius II., Jacopo Tolomei, und ein weiterer Bundesgenosse Pius’ II., Graf Anguillara, inhaftiert wurden.28 Es hat allen Anschein, dass sich die Aktion Pauls II. eher gegen die Mäzene der Humanisten, die Pius-Clique, richtete, als gegen die Humanisten selbst. Die Kardinäle der Pius-Clique wollten ihre Machtposition
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Siehe d’Amico, Renaissance Humanism in Papal Rome, 93–94. Vgl. di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 216: „quasi tutti i sospetti e gli criminati vivevano in casa di cardinali pieschi, come l’Ammannati, il Todeschini-Piccolomini, il Gonzaga, il Roverella e il Forteguerri“. Vgl. Medioli Masotti, „L’Accademia Romana“, 201. In diese Richtung weisen auch die neueren Studien zur Verschwörung des Jahres 1468. Medioli Masotti hat die Ereignisse in dem Sinn erklärt, dass sich die Römische Akademie mit den Türken verschworen hätte („L’Accademia Romana“). Diese interessante Interpretation leidet jedoch an mangelndem Belegmaterial. Die „neuen Dokumente“, die Medioli Masotti publiziert, zwei Gedichte des Pomponio Leto (S. 202), zeigen zwar, dass die Gefangenen miteinander in Verbindung standen und dass sie sämtlich Buonaccorsi die Schuld gaben, bilden jedoch keinen Beleg für die Ansicht, dass eine Verschwörung mit den Türken vorlag. Vgl. Medioli Masotti, „L’Accademia Romana“, 199 mit Anm. 55.
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behalten und das politische Handeln des Papstes beeinflussen. Der Papst fühlte sich bedrängt und versuchte seine Widersacher abzuschütteln. Eine der Maßnahmen, die die Kardinäle dem Papst androhten, war die Einberufung eines allgemeinen Kirchenkonzils. Die Drohgebärden der Pius-Kardinäle wurden dem Papst in der Regel über Zwischenpersonen, zum Beispiel Sekretäre, überbracht. So hatte Platina, der Sekretär Kardinal Francesco Gonzagas, Paul II. schon 1464 mit einem Kirchenkonzil gedroht: „In entehrender und schmachvoller Weise von Dir zurückgewiesen, werden wir die Könige und Fürsten besuchen und sie antreiben, ein Konzil einzuberufen, auf welchem du gezwungen werden wirst, dich zu verantworten“.29 Auch in der Engelsburg finden sich deutliche Spuren dieser Drohungen. Der Inquisitor, Vianesio Albergati, konfrontierte die Gefangenen mit einem Brief, den einer der ihren geschrieben hatte, mit der Adresse: „An den Kaiser oder an einen anderen christlichen Herrscher, um ein Schisma herbeizuführen oder ein Konzil einzuberufen“.30 Die Gefangenen wurden gezwungen, diesen Brief feierlich zu widerrufen. Bezeichnend ist die Rolle, die der Kerkermeister, Rodrigo Sánchez de Arévalo, Bischof von Calahorra, spielte: Um die Gefangenen einer Art Gehirnwäsche zu unterziehen, verfasste er einen lateinischen Traktat, in dem er den Konzilsgedanken widerlegte und die Legitimität der Wahl Pauls II. bewies, den Traktat gegen die Basler und ihre Papstwahl (Tractatus contra Basilienses et contra electionem per eos factus).31 Die Gefangenen mussten dieses Werk lesen und Rodrigo Sánchez ,unterhielt‘ sich mit ihnen darüber. Wenn sie zeigen konnten, dass sie das Werk richtig verstanden hatten, verlieh er ihnen größere Freiheiten. Z. B. durften sie sich dann wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Schriftstellerei und der Lektüre der antiken Autoren, widmen. 29
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Dies berichtet Platina selbst in seiner Paul-Biographie in De vita Christi et omnium pontificum (ed. Gaida), 369: „Reiecti a te ac tam insigni contumelia affecti dilabemur passim ad reges et principes eosque adhortabimur, ut tibi concilium indicant, in quo potissimum rationem reddere cogaris […]“. Platina haßte Paul II. bereits seit 1464, wofür folgendes hauptverantwortlich war: Paul II. annullierte bei seinem Amtsantritt sofort eine Reihe von Pius’ Maßnahmen. Eine Maßregel betraf das Kolleg der päpstlichen Sekretäre, der Abbreviatoren. Pius hatte dieses Amt käuflich gemacht und eine Reihe neuer Abbreviatoren ernannt. Unter ihnen war der Humanist Platina, der sich auf diese Weise eine sichere Zukunft schaffen wollte. Paul II. schaffte das Kolleg der Abbreviatoren kurzerhand ab, woraufhin Platina auf erbitterte Weise protestierte. Ad imperatorem, aut ad aliquem Christianum principem suscitandi scismatis aut concilii causa; siehe Medioli Masotti, „L’Accademia Romana“, 196. Vgl. Medioli Masotti, „L’Accademia Romana“, 199.
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Bezeichnend ist weiter, dass der Graf von Anguillara, der den Konzilsgedanken auf die hartnäckigste Weise vertreten hatte, besonders strenge Haftbedingungen erhielt: Er wurde in ein unterirdisches Verlies gesperrt, in das kein Licht drang.32 Nicht unwesentlich könnte Folgendes sein: Das Kardinalskolleg hatte Paul II. noch während des Konklaves das Versprechen abgerungen, nach drei Jahren ein allgemeines Konzil einzuberufen: Im Februar 1468 war diese Frist gerade verstrichen. Wahrscheinlich hatte die Pius-Clique kurz vor der Eskalation Paul II. auf sein Versprechen hingewiesen. Es lässt sich unschwer erraten, auf welcher Seite Campano stand. Die Bemühungen um die Gunst des Papstes hatten nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Zu einer Biographie Pauls II. verspürte er nicht den geringsten Anreiz mehr. Die Pius-Clique hielt zusammen, erkannte den Ernst der Lage, wollte sich nicht unterkriegen lassen. Die Kardinäle und die übrigen Mitglieder der Clique, die auf freiem Fuß waren, berieten sich. Man entschloss sich zu einer Doppelstrategie. Einerseits bestürmten jene Mitglieder, die zu Paul II. noch ein einigermaßen erträgliches Verhältnis hatten, wie Kardinal Francesco Gonzaga, den Papst mit Fürbitten für die Inhaftierten, indem sie sie als ungeschickte Sonderlinge – ,wie es Gelehrte nun einmal sind‘ – bezeichnete: Sie hätten nichts Böses im Sinn gehabt. Andererseits beschloss man, Paul II. auf indirekte Weise zu bekämpfen. Man wollte Paul einen Fürstenspiegel vorhalten. Es lässt sich nicht eruieren, wer genau die Idee hatte, Paul II. einen Fürstenspiegel in Form der Biographie eines guten Papstes vorzusetzen: vielleicht Kardinal Ammannati, vielleicht Campano. Mit einer Pius-Biographie konnte die Pius-Clique nicht nur ihre politische Schlagkraft bestätigen, indem sie das Andenken des verstorbenen Papstes hochhielt, sondern auch seine Maßnahmen und seine Politik nochmals propagandistisch verbreiten. Der Leser mag hier die Frage stellen, weshalb man zu diesem Zweck eines neuen Textes bedurfte. Besaß man nicht die Commentarii des Papstes selbst, in denen er seine Politik erläutert hatte? Man hätte sie relativ schnell publizieren können. Aus mehreren Gründen entschied man jedoch anders: Erstens hatte eine Autobiographie schon von der Schreibsituation her einen schwereren Stand als eine Biographie. Die Tatsache, dass Pius II. seine eigenen Maßnahmen lobt, würde jedem Leser eingeleuchtet haben, jedoch gewannen seine Maßnahmen dadurch nicht an Überzeugungskraft. Zweitens befanden sich in den Commentarii nicht wenige politische Stolpersteine, die übrigens in dem Maße zunahmen, 32
Ebd., 199, Anm. 55.
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wie nach Pius’ Tod mehr Zeit verstrich. Drittens waren die Commentarii als Propagandamedium wegen ihres großen Umfangs (600–700 Normalseiten!) weniger zweckdienlich, als sich Pius II. selbst vielleicht erhofft hatte. Die meisten Leser hatten einfach nicht genug Zeit für die Lektüre eines so ausführlichen Textes. Die Pius-Clique verlangte ein kompakteres Werk, ein Werk, das man in einem Zuge lesen konnte. Und viertens stellte, wie sogleich gezeigt werden wird, die Diskursivität der Aufzeichnungen ein nicht zu unterschätzendes Problem dar. Campano wurde zum Autor der Vita Pii33 bestimmt. Er war inhaltlich hervorragend beschlagen, nicht nur, weil er die Commentarii als von Pius ausersehener Redaktor hervorragend kannte – er hatte den Pontifikat Pius’ II. aus nächster Nähe miterlebt. Aufgrund seines Vorwissens durfte man erwarten, dass er das Werk schnell vollenden werde. Vielleicht ließen sich einige Teile der Commentarii in dem literarischen Umbildungsprozess von der Autobiographie zur Biographie, den wir oben für den Fall Petrarcas analysierten, relativ einfach in eine Biographie ‚übersetzen‘. Dass die Pius-Biographie möglichst bald erschien, war ganz wesentlich, da akuter Handlungsbedarf vorlag.34 Nebenbei hatte Campano ein ganz persönliches Rachemotiv: Wenn Paul II. die wohltemperierte, ästhetisch ansprechende und lobende Pius-Biographie las, dann sollte es ihn reuen, dass er ihn als Hofbiographen hatte abblitzen lassen!
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Pii II pontificis maximi vita (c. 1470). Zum ersten Mal gedruckt in den Opera Campanos, Rom 1495, f. 206r–212v; weiter in der Ausgabe J. Fichards (Frankfurt 1536), in den Werkausgaben Pius II., Basel 1551 und 1571; in der Campano-Ausgabe Menckens: I. A. Campani opera selectiora, a F. O. Menckenio edita, Lipsiae 1734, 435–488; rezent von G. Zimolo in: Rerum Italicarum Scriptores, n. ed., III, 3, Bologna 1964, 7–87. Für die Datierung siehe Zimolo, ebd., und di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 189, Anm. 58. Wie wir unten näher darlegen werden, ist Campanos Pius-Biographie mit Sicherheit im Jahre 1468 verfaßt und zur Abschrift freigegeben worden. Bisher wurde die Pii Vita auf „vor 1470“ datiert. Eine nähere Präzision ist aufgrund ihres Verhältnisses zur ersten Version der Pius-Biographie Platinas möglich. Zimolo ist in seiner Ausgabe der Pius-Biographien Campanos und Platinas (1964) davon ausgegangen, dass Platinas erste Version der Pius-Biographie zur Zeit seiner ersten Inhaftierung, 1464, geschrieben wurde. Paola Medioli Masotti hat aufgrund eines neuen Dokumentes, eines Briefes Platinas an zwei Florentiner Humanistenfreunde, jedoch unumstößlich aufgezeigt, dass die erste Version seiner Pius-Biographie 1468 oder 1469, also zur Zeit seiner zweiten Inhaftierung, geschrieben wurde (s. P. Medioli Masotti, „Per datazione di due opere del Platina“, in: Italia medioevale e umanistica 20 [1977], 407–410). Damit hat Medioli Masotti den Weg für eine Neuinterpretation freigemacht (s. unten).
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3. Campanos Vita Pii und die Commentarii: Faktenkonstituierungen des autobiographischen und des biographischen Diskurses Für die Suche nach den Diskursunterschieden zwischen biographischem und autobiographischem Schreiben stellt Campanos Vita Pii einen besonders aufschlussreichen Fall dar: Der Biograph ist zugleich der von Pius bestimmte Redaktor der Autobiographie. Der Wissenstand des Biographen inkludiert hier also die ganze Fülle der in einer außerordentlich umfangreichen Autobiographie festgelegten Fakten. Es ist hilfreich, wenn man ausschließen kann, dass bestimmte Darstellungsschritte auf Unwissen des Biographen beruhen. Desto klarer lassen sich die Diskursunterschiede herausschälen, die der andersartigen Auswahl, Auswertung und Präsentation des Materials zugrundeliegen. Was ihren Repräsentationswert anbelangt, wiesen Pius’ Lebensfakten gleich am Anfang einige holprige Stellen auf: zum Beispiel die Armut der Familie, der Verlust ihres adeligen Lebensstils, ihre Entfernung aus Siena, die bäuerliche Lebensweise der Kinder- und Jugendzeit, der Mangel an Ausbildung. Pius II. gab alle diese Fakten in seinen Commentarii ohne weiteres zu. Freimütig teilt er mit, dass Vater Piccolomini seine achtzehn Kinder unter dem Druck der Armut („urgente inopia“) im Dorf aufzog, dass er als Knabe Bauernarbeit verrichten musste und dass seine Ausbildung erst reichlich spät erfolgte.35 Campano erachtete es nicht für opportun, diese in der Autobiographie vermittelten Fakten in seine biographische Darstellung zu übernehmen. Dieselben Fakten, die in der Autobiographie vertretbar sind bzw. sogar günstig wirken (als Aufrichtigkeit bzw. Bescheidenheit), vermitteln in der Diskursivität der Biographie ein böses Zerrbild: „Er stammte aus einer verarmten Familie, die im Dorf lebte. In seiner Jugend betätigte er sich als Kuhhirt. Latein lernte er erst ab seinem achtzehnten Jahr“ – dies hätte wie der Auftakt zu einer gehässigen Invektive gewirkt, in der der Autor suggeriert, dass sich der von ihm Beschriebene nicht für die höchsten kirchlichen Ämter eigne, nicht zu den erlesenen Kreisen der Kurialen passe, dem wichtigsten Zielpublikum der Pius-Biographie. Für diese Kreise war Armut so etwas wie eine Anti-Tugend. Wenn die Kurialen, die nicht zur Pius-Clique gehörten, ein biographisches ‚Armutsbekenntnis‘ gelesen hätten, hätten sie Pius II. verspottet, 35
Commentarii, I, 1 (ed. van Heck), S. 41.
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allen voran Paul II., der aus einer der reichsten Familien seiner Zeit stammte, es liebte, seinen Reichtum zur Schau zu stellen und Leute aus armen Verhältnissen hochmütig verachtete. Campano konnte dieses Spannungsverhältnis umso besser nachvollziehen, als er selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammte und in seiner Kindheit bäuerliche Arbeit verrichtet hatte. Hier setzt Campano mit seinem biographischen Umschreibeprozess an. Die Armut als bestimmenden Faktor von Pius’ II. Kindheit und Jugend schaltet er aus, er erwähnt sie nicht einmal en passant. Den Rhetoriktraktaten zufolge sollte das Personenlob so eingerichtet werden, dass man die Abstammung, das Elternhaus und/oder die Vaterstadt des Dargestellten lobte. Daraus bezog Campano den ersten Ansatz seiner biographischen Argumentation. Sein Darstellungsziel war: Pius’ Herkunft soll mit dem Verlauf seiner späteren Karriere übereinstimmen. Dazu musste der Adel der Piccolomini bestätigt, der Verlust der adeligen Lebensweise übertüncht werden. Die Bestätigung geschieht mit Hilfe einer hyperbolischen Formulierung: Enea entstamme nicht nur einer „adeligen“, sondern sogar einer „uralten Familie“: „familia pervetusta“.36 Also feinster Adel, Hochadel – eine Prädisposition, die dem Erreichen des höchsten Amtes der Christenheit angemessen ist. Der nächste Punkt betrifft die geographische Verortung der Familie. Es ist für die biographische Darstellung günstig, wenn der Biographisierte einer berühmten Stadt entstammt, die ihm etwas von ihrem Glanz abgibt. Nun war Enea Silvio tatsächlich in dem elenden Bauerndörfchen Corsignano geboren. Die frühneuzeitliche Lobtechnik jedoch bietet reiche Möglichkeiten des ‚Faktenersatzes‘. In diesem Sinn bringt Campano als wahre Vaterstadt Siena ein: „Pius II. stammte aus Siena, einer berühmten Stadt der Toskana“ – „Pius Secundus originem duxit ex Sena, celebri Tuscorum urbe“.37 Diese ‚kreative‘ Verformung der Biographie ähnelt exakt Boccaccios Lobtechnik, der – wie gezeigt wurde – Petrarcas Geburtsort von Arezzo nach Florenz verlegte. Auch bei Boccaccio ging es um die ‚Erfindung‘ der von den Rhetoriktraktaten eingeforderten berühmten Vaterstadt, wenn er mitteilt, dass Petrarca in „Florenz, der reichsten Stadt der Toskana“ geboren sei. Nun ergibt sich in Campanos Biographie die Frage, wie die adelige Familie aus dem berühmten Siena in das unbedeutende Nest Corsignano kam. Auch hierfür sieht die früh36
37
Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 7: „familia Piccolominea nobili ac pervetusta“. Ebd.
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neuzeitliche Lobtechnik Standardargumente vor: Verschwörungen, Aufstände, Verbannungen. Campano rekurrierte dankbar auf dieses biographische Instrumentarium: In seiner Darstellung fiel die Familie Piccolomini einem Volksaufstand zum Opfer, der sie aus Siena vertrieb. Damit konstituiert Campano Corsignano – Pius’ wahren Geburtsort – in kreativer Weise als Exil. Die federhafte Leichtigkeit, mit der Campano Fakten ‚ersetzt‘, zeigt einmal mehr, dass Dokumentation und Faktentreue nicht das Herz der frühneuzeitlichen Biographik bilden. Vor eventuellen Widersprüchlichkeiten scheute man nicht zurück. Das geht daraus hervor, dass Campanos Lesepublikum mit dem tatsächlichen Geburtsort Pius’ II. mit Sicherheit vertraut war: Der verstorbene Papst hatte ihn ja durch seine bizarre Stadtgründung (Pienza) unmissverständlich kenntlich gemacht. Übrigens verschweigt Pius II. in seiner Autobiographie den Geburtsort Corsignano nicht,38 genausowenig wie er den wahren Grund des Wohnortes (Armut) verschweigt.39 Die federhafte Leichtigkeit der biographischen Personenkonstituierung setzt sich in Bezug auf Enea Silvios holprigen Bildungsweg fort. Die ernüchternde Tatsache, dass Pius II. – wie er in seinen Commentarii zugibt40 – erst in seinem achtzehnten Lebensjahr mit dem Lateinunterricht anfing, übertüncht Campano in der Papstbiographie mit kundiger Hand ganz einfach durch eine standardmäßige Anwendung der Topik des rhetorischen Personenlobs: „Er hat seine erste Ausbildung noch als Knäblein [sic] in Corsignano erhalten, und daraufhin in Siena in kurzer Zeit große Fortschritte sowohl in der Poetik als auch in der Rhetorik gemacht“ („Prima erudimenta Corsiniani peregit admodum puer. Senae […] celeriter et in poetica et in oratoria profecit“).41 Das Klischee, das Normalität vermittelt, erzeugt selbstverständliche Glaubwürdigkeit. Gebildete erhalten ihre erste Ausbildung normalerweise nun einmal als Knaben – das lässt keinen Verdacht aufkommen. Sogar die Tatsache selbst, dass Campano keine näheren Angaben macht, suggeriert, dass die Ausbildung Pius’ II. normal verlaufen sei. Das rhetorische Diskursgewebe überlagert die Fakten vollständig. Geschickte Eingriffe erforderten weiter die Anfänge von Pius’ Karriere. Hier gab es einige sperrige Tatsachen: dass Pius einem degradierten 38 39 40 41
Pius II, Commentarii I, 1–2 (ed. van Heck), S. 41. Ebd. Ebd., S. 42. Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 8.
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Kardinal gedient; dass er sich am Rachefeldzug dieses Ex-Kardinals gegen den Papst (Eugen IV.) beteiligt; dass er dem Basler Konzil, das den Papst absetzte, als Sekretär gedient hatte usw. Pius II., der von Eugen IV. Verzeihung erlangt hatte, erachtete es nicht für notwendig, diese Tatbestände in seinen Commentarii zu verschweigen. Die Glaubwürdigkeit und Authentizität, die sich der Autobiograph in Bezug auf die Ereignisse seiner Jugend einfuhr, konnte er im Hinblick auf den Hauptteil seiner Darstellung, seinen Pontifikat, außerordentlich gut gebrauchen (Beglaubigungseffekt). In einer propagandistischen Biographie hätten dieselben Fakten jedoch Stolpersteine dargestellt, die überhaupt keinen Nutzen einbrachten. Die betreffenden Karriereschritte als solche waren nicht virtus-trächtig genug. Campano musste das Bild des Opportunisten und Glücksritters, der sich nicht scheut, seinen Vorteil sogar bei Leuten zu suchen, die den Papst bekämpfen, vermeiden. Die Topik des Personenlobs sah vor, dass für die Darstellung des Erwachsenenalters der Begriff der Tugend maßgeblich sein sollte. Am besten war es, wenn man dem Biographisierten am Anfang des Erwachsenenalters eine grundlegende sittliche Entscheidung zuschreiben konnte. Als Modell hierfür diente der Mythos von Herkules am Scheidewege, den Petrarca in die frühe Neuzeit hinübergerettet hatte:42 Herkules musste zwischen Tugend und Lust wählen, und entschied sich für die Tugend, die ihm auf Erden zwar Entbehrungen und Strapazen, jedoch ewigen Ruhm einbringen sollte. Wieder verblüfft die unbekümmerte Unabhängigkeit, die Campano gegenüber den dokumentierten Fakten an den Tag legte. Die frühneuzeitlichen Lebensfakten stellen sich als Kreativmasse heraus, die sich nach Belieben formen und kneten lässt. Missliebiges wird entfernt und durch anderes ersetzt. So strich Campano den degradierten Kardinal Capranica kurzerhand aus Pius’ Leben: Bei ihm reiste Enea Silvio alleine nach Basel! Als Reisemotiv konstituiert er die selbständige sittliche Entscheidung, den Scheideweg der Jugend: Pius fasste den Entschluss, Siena zu verlassen, weil er den Weg der Tugend wählte und sich vornahm, große Taten zu ver-
42
Vgl. dazu K. A. E. Enenkel, „Hercules in bivio und andere Scheidewege: Die Geschichte einer Idee bei Petrarca“, in: A. Dalzell, Ch. Fantazzi, R. J. Schoeck (Hrsg.), Acta Conventus Neo-Latini Torontonensis. Proceedings of the 7th International Congress of Neo-Latin Studies, Binghamton, New York 1991, 307–317; K. A. E. Enenkel, „Hercules in bivio en andere tweesprongen“, in: Lampas 22 (1989), 111–135; Ders., Francesco Petrarca, De vita solitaria, Buch 1. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar, 396–407.
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richten, die Enge der Vaterstadt zu verlassen und berühmt zu werden.43 Die Tugendentscheidung soll unabhängig stattfinden: Deshalb erachtete es Campano für notwendig, auch alle anderen damaligen Brotherren Eneas zu streichen, z.B. Bartolomeo Visconti und Kardinal Niccolò Albergati. Enea Silvio wird bei Campano als unabhängiger Mann gezeichnet, der aufgrund seines Talents und seiner Tugend Ruhm erwirbt. Seine Rolle beim Basler Konzil erachtete Pius II. in seinen Commentarii zu Recht als erklärungsbedürftig. Er widmete der Aussöhnung mit Papst Eugen IV., den er zu seiner Basler Zeit so heftig bekämpft hatte, ein ganzes Kapitel.44 Eine so ausführliche Rechtfertigung passte jedoch nicht in den biographischen Diskurs, in dem sie wie eine heftige Anklage gewirkt hätte. Weiter ist Campanos Neukonstituierung von Pius’ Leben vom rezenten politischen Anliegen eingegeben: Campano erweckt den Eindruck, dass ein allgemeines Kirchenkonzil die normalste Sache der Welt sei. Diese Darstellung richtet sich direkt gegen Paul II., dem die Kardinäle im Zuge des Konklave die Abhaltung eines solchen Konzils auferlegt hatten, an welche Auflage sie ihn zur Zeit des Eklats erbittert erinnerten.
4. Der Papst ins Gewand des römischen Kaisers: Anwendung, Transformation und Nuancierung des Suetonischen Diskurses Er ( Pius II., Anm.) ließ sich weder von unglücklichen Schicksalsschlägen noch von Drohungen unterkriegen. Das geht aus der Tatsache hervor, dass er, wenn er einmal einen Krieg angefangen hatte, niemals Frieden schloss, außer wenn er den Sieg errungen hatte. […] Er erweiterte die Grenzen des Reiches (Imperii ) […]. Er besetzte das Sabinerland, Sorano und Arpino mit Waffengewalt.45 Sowohl der Tag als auch die Nacht waren bei Pius vollgeplant, bis in die einzelnen Stunden eingeteilt. Im Sommer stand er bei Sonnenaufgang auf, im Winter beim zweiten Hahnenschrei. Seine morgendliche Studienzeit teilte er so ein, dass er las und daneben abwechselnd schrieb oder diktierte, außer wenn er historiographische Werke verfasste, welche er mit der größten Wahrhaftigkeit und in größter 43
44 45
Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 8: „Pertaesus rerum domesticarum simul et quaerendae gloriae cupidus, Basileam, Helvetiorum urbem contendit […]“. Commentarii I, 13 (ed. Bellus-Boronkai), S. 44–46; (ed. van Heck), S. 57–59. Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 46: „Expugnari neque casibus fortunae adversis neque minis potuisse ex eo constat, quod post susceptum bellum nemini pacem dedit nisi Victor […]. Auxit fines imperii […] Sabinos […] et Soranos atque Arpinatis […] armis optinuit“.
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Eile niederschrieb. Sein morgendliches Studium dauerte in der Regel zwei Stunden, manchmal auch weniger als eine Stunde. Als amtlichen Schreiber hatte er Agostino Patrizi engagiert, den er manchmal bis zu vier Stunden täglich beschäftigte, aber lediglich in Perioden, in denen seine Gesundheit zu wünschen übrig ließ und seine Hände von Gicht befallen waren. Danach wohnte er einer Messe bei oder las selbst eine. Sodann beriet er sich entweder mit den Kardinälen oder hörte Bittgesuche an. Diese Tätigkeiten, die an alternierenden Tagen stattfanden, ließ er niemals entfallen, außer an Fest- und Feiertagen. Außerordentliche Bittgesuche hörte er sofort an, je nachdem, wann der Bittsteller kam, entweder bei Tisch oder im Schlafzimmer. Wenn er auf Reisen war, befahl er, die Bittsteller vorzulassen, wo er gerade Halt machte, so dass er sich niemals ohne Schriftstücke an eine Quelle oder in den Schatten setzte. Nach der Beratung mit den Kardinälen oder den Bittgesuchen kamen die Gesandten, dann die privaten Bittsteller an die Reihe. Als einmal einer der Kämmerer einen allzu wortreichen Greis heimlich mahnte, zum Ende zu kommen, befahl Pius, der dies bemerkte, alles noch einmal zu wiederholen. „Weißt du denn nicht“, herrschte er den Kämmerer an, wie einer, der in Wut entbrannt ist, „mit welcher Devise ich das Pontifikat auf mich genommen habe? – Dass ich zum Wohl anderer da bin, nicht für mein eigenes“.46
Diese beiden Stellen gehören zu dem ein Gutteil der Pius-Biographie umfassenden Charakterporträt, das Campano entwarf, während ein solches in der Autobiographie nicht vorhanden ist. Mit dem Charakterporträt schreibt Campano Pius II. in den Suetonischen Kaiserdiskurs ein. Dieser Diskurs eröffnete, wie oben im Hinblick auf Boccaccio und Petrarca ersichtlich geworden ist, ein breites Spektrum von Möglichkeiten im Hinblick auf die inhaltliche Selektionierung (individuelle Lebensdetails) und auf die Präsentationsweise (zwischen beschreibend und wertend). Die beiden zitierten Stellen gehören unterschiedlichen Bereichen des Spektrums zu. Die erste ist in lapidar-feierlichem Ton vorgetragen, mit moralischen Werturteilen besetzt und hält sich in Bezug auf die Selektionierung individueller Lebensdetails zurück. Die zweite Stelle zeigt zwar einen zurückhaltenden, beschreibend-informativen Stil, quillt jedoch förmlich über von individuellen Lebensdetails – Campano führt den konkreten Stundenplan des Papstes vor: Der Leser erfährt, auf welche Weise der Papst als Schriftsteller arbeitete, an welchen Krankheiten er litt und wie er Bittsteller empfing. Wir werden sogar Zeugen eines Wutanfalls des Papstes, der einen Kämmerer anbrüllt. Die eine Seite des Spektrums, in feierlichem Ton vorgetragen, wertaufgeladen und zurückhaltend bezüglich der Lebensdetails, fügt sich problemlos in den Diskursrahmen einer propagandistischen Biographie. Selektion und Präsentation stellen eine effektvolle monumentalästhetische 46
Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 62–63.
Der Papst ins Gewand des römischen Kaisers
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Distanz her, die Ehrfurcht und Hochachtung erzeugt. Campano errichtet hier sozusagen ein Standbild des Papstes, welches den Zeitgenossen, besonders Paul II., als glänzendes und zugleich anklagendes Vorbild vorgehalten werden konnte. Wenn Paul II. diese Zeilen las, sollte er von Scham und schlechtem Gewissen gebeutelt werden. Vor ihm stand das Denkmal des unbeugsamen und heroischen Kriegsherrn, der die Kirche mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigte, während er selbst, der Feigling, den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufgegeben hatte. Die andere Seite des Spektrums wagt sich in einen Bereich der Personenbeschreibung vor, der in Bezug auf seine propagandistische Wirksamkeit problematisch ist. Die monumentalästhetische Distanz scheint aufgegeben worden zu sein. Wir erblicken den Papst aus nächster Nähe, der Respektabstand ist verschwunden. Ist hier nicht zu befürchten, dass die Spielregeln des Dekorums verletzt werden? Welche Implikationen haben Mitteilungen wie, dass der Papst manchmal von Wut-, manchmal von Gichtanfällen heimgesucht wurde? Inwiefern verträgt sich ein weit durchgeführter Detailrealismus mit propagandistischen Zielsetzungen? Welche Schlussfolgerungen muss man aus dem diesbezüglichen Vergleich mit der Autobiographie ziehen? Was besagt die Tatsache, dass Pius selbst in seinen viel ausführlicheren Commentarii weniger individuelle Charakterzüge und Lebensdetails aufnahm als Campano in seiner viel kürzeren Biographie? Sueton hatte seit seiner Wiederbelebung durch Boccaccio und Petrarca in der Kultur des italienischen Humanismus einen wahren Siegeszug angetreten. Mehr als die Hälfte der erhaltenen Handschriften wurden zwischen 1350 und 1500 angefertigt.47 Suetons Kaiserbiographien erreichten in den Bibliotheken der Intellektuellen dieses Zeitraums eine hohe Präsenzdichte. Gerade zwischen 1460 und 1475 trat die Suetonrezeption in eine neue Phase. Diese war mit der Herangehensweise der Römischen Akademie und besonders mit Campano verbunden, der die erste Drucklegung der Kaiserbiographien besorgte, welche im Juli 1470 in Rom erschien.48 Campano setzte sich also gerade in dem Lebensabschnitt, in den die Vita Pii fällt, eingehend mit Suetons Werk auseinan-
47
48
Vgl. S. J. Tibbets, „Suetonius, De vita Caesarum“, in: Reynolds (Hrsg.), Texts and Transmissions, 404. Vgl. Hain, Repertorium bibliographicum, II, 2, Nr. 15115: Sueton, Vitae Caesarum, ex recognitione Io. Anton. Campano. […] absolutus Rome in pinea regione via pape anno a Christi natali MCCCCLXX. Sextili mense Pauli autem Veneti II. Pont. Max. anno sexto.
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der: Es ist auch kein Zufall, dass er die Erstausgabe Suetons dem Anführer der Pius-Clique, Kardinal Ammannati-Piccolomini, widmete. Der literarische Kreis der Römischen Akademie stufte Sueton überdurchschnittlich hoch ein. Was man an Sueton so hoch schätzte und wie man ihn verstehen wollte, geht unter anderem aus Campanos Widmungsbrief an Ammannati-Piccolomini hervor.49 Dabei zeigt sich, dass die Römische Akademie gerade von der Wiedergabe der realistischen Lebensdetails fasziniert war. Das passt zu der radikalen Wiederbelebung des Klassischen Altertums, welche sich die Akademie zum Ziel gesetzt hatte. Diese Abteilung der Respublica litteraria schätzte somit Aspekte, die für andere Zeitgenossen zum Teil schwer verdaulich waren. Während die freizügige Weise, in der Sueton das kaiserliche Privatleben beschrieb, für manche eine tief aufklaffende Diskontinuität bildete, integrierten sie die römischen Akademiker in ihre Antikenverehrung. Campano pries Sueton für den Reichtum an Information, den er auf diese Weise für spätere Zeiten aufbewahrt hatte. Die Vorgehensweise der Römischen Akademie war avantgardistisch, insofern sie nicht nur die „große“ Geschichte der Antike, die militärische und politische Geschichte, sondern auch die Alltagskultur rekonstruieren wollte. Die Alltagskultur war hier im Gegensatz zur Mainstream-Geschichtsauffassung des 15. Jahrhunderts kein vernachlässigbarer Bereich mehr. Martial war genauso wertvoll wie Vergil. Gebrauchsgegenstände wurden in den Bereich der hohen Kultur übergeführt, das Alltägliche erhielt den Purpurglanz der Antike. Bei alledem erwiesen sich die römischen Akademiker als zukunftsbestimmend: Sie gaben die Richtung vor, in welche sich der Humanismus des 16. Jahrhunderts entwickeln sollte. Sueton befriedigte dieses spezifische Interesse der Akademiker durch detaillierte und konkrete Angaben. Indem er zum Beispiel von Augustus’ Tagesablauf eine realistische Beschreibung liefert, erweckt er den Kaiser gewissermaßen zum Leben, wie es dem radikalen Ideal der Römischen Akademie entsprach: Nach dem Mittagimbiss pflegte Augustus in Kleidern und Schuhen, die Füße unbedeckt, ein wenig zu ruhen, wobei er die Hand vor seine Augen hielt. Nach der Hauptmahlzeit zog er sich in sein Studierzimmer auf sein Arbeitssofa zurück. Hier blieb er bis tief in die Nacht, bis er den Rest der Tagesgeschäfte entweder ganz oder doch zum großen Teil aufgearbeitet hatte. Dann ging er zu Bett, schlief aber meist kaum länger als sieben Stunden, und selbst diese nicht ohne Unterbrechung; vielmehr wachte er während dieser Zeit drei bis viermal auf. Konnte er den
49
Campano, Appendix epistolarum (ed. Mencken), Bd. II, 545–546.
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durch Unterbrechung gestörten Schlaf, wie es öfters vorkam, nicht wiedergewinnen, so ließ er einen Vorleser oder Geschichtenerzähler ans Bett kommen und sich so wieder zum Einschlafen bringen; er schlief dann oft bis nach Sonnenaufgang. Er wachte in der Nacht nie, ohne dass jemand an seinem Bette saß. Vom Frühaufstehen war er kein Freund; wenn er sich wegen einer Verpflichtung oder eines Opfers früher wecken lassen musste, so übernachtete er gewöhnlich aus Bequemlichkeit in der Wohnung des ersten besten Bekannten in der Nähe des betreffenden Ortes, an den er sich zu begeben hatte. Aber auch dann schlief er oft aus Bedürfnis an Schlaf, während man ihn in seiner Sänfte durch die Straßen trug oder wenn sie niedergesetzt wurde, wieder ein.50
Hier hielt Campano ein wirkungsmächtiges Diskursmodell in der Hand, mit dem sich eine neue, ungekannte Authentizität mit prächtiger antikisierender Patina erzeugen ließ. In diesen von Sueton vermittelten Authentizitätsdiskurs passte eine Fülle von Lebensdetails, in die sogar Schwächen inkludiert werden konnten, ohne der Würde der dargestellten Person Abbruch zu tun. Aus dem hier zitierten Bericht des Sueton geht zum Beispiel hervor, dass Augustus an gestörtem Schlafverhalten und morgendlicher Schläfrigkeit litt, beides an sich keine Lobargumente. Dennoch befindet sich gerade in einem solchen Bericht die Knickstelle, die für Campano entscheidend war. In seiner Optik war die Wiedergabe solcher spezifischer Eigenartigkeiten für den Kaiserdiskurs konstituierend: Wenn man von einer Person derartige Details vermeldet, so konstituiert man sie als Monarchen, reiht sie unter die höchsten Würdenträger ein. Somit ist klar, dass Campano in seiner avantgardistischen Sueton-Verehrung es grundsätzlich für angemessen hielt, den Papst im schillerndeinprägsamen Gewand des Detailrealismus zu präsentieren. In diesem Sinn konstituierte Campano Pius II. als individuellen Menschen mit charakteristischen Eigenschaften, zum Beispiel Reiselust, Hang zu Witz, Spott, Sarkasmus, einer etwas abgehackt-monotonen Sprechweise, und – was im Kontext der Papstbiographie besonders auffällig ist – mit einem bestimmten Körperbau und spezifischen Krankheiten, zum Teil sogar wenig appetitlichen wie Blasensteinen und Husten: Seine Gestalt war ziemlich klein; in jungen Jahren war er relativ schlank, mit zunehmendem Alter jedoch etwas fülliger. Seine Augen hatten eine frohe Ausstrahlung; wenn man ihn reizte, drehte er sie aber nach oben, so dass sie weiß aufleuchteten und auf diese Weise vor Zorn blitzten. Sein Haupt war gedrungen und
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Sueton, De vita Caesarum, Augustus 78; Übersetzung nach R. Till (Sueton, Cäsarenleben, neu herausgegeben und erläutert, mit einer Einleitung von R. Till, Leipzig 1936).
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frühzeitig ergraut; sein Gesicht war weißlich durchscheinend, erschien älter, als es seinen tatsächlichen Jahren entsprach, und machte bei der kleinsten Krankheit einen eingefallenen Eindruck. Körperliche Anstrengung und Hunger konnte er besser vertragen als Hitze oder Kälte. Fast monatlich litt er an Blasensteinen, ständig an Husten; seine Füße ließen ihn bereits seit seiner Jugend im Stich, zum einen, da er sie – wie wir schon sagten – einmal der Kälte des Winters ausgesetzt hatte, zum anderen, zumal er in den Füßen die Gicht bekam. Als er später die Gicht auch in den Händen bekam, pflegte er im Scherz zu behaupten, dass seine Hände seine Astrologen seien, weil sie die Tag- und Nachtgleiche durch ihr Anschwellen vorhersagten […]. Statura fuit infra mediocrem, corpore per adolescentiam modico, flexu aetatis aliquanto pleniore; oculis laetis quidem, sed qui torve in iram excandescerent; capite compacto et ante diem cano, facie subcandida annis seniore et ad minimam quanque valetudinem statim concidente. Fuit laboris et inediae quam frigoris atque aestus patientior. Calculo vexabatur prope menstruo et assidua tussi. Pedum usum iampridem amiserat cum rigore nivali, quam diximus, tum etiam superveniente podagra. Chiragra sero offensus et raro. Astrologas se manus habere iocabatur, quod equinoctia tumore praedicerent […].51
Der Abschnitt zeigt besonders eindringlich, wie stark der Suetonische Diskurs, in den Campano den Papst eingliederte, den Biographisierten konstituiert. Es gibt keinen Sachzwang, festzustellen, dass jemand im Alter fülliger geworden ist oder an Blasensteinen leidet. Man könnte dies mit gleichem Recht als irrelevant betrachten. Campano wurde diesbezüglich jedoch vom Modell Sueton gesteuert, der von jedem Kaiser ein derartiges Porträt des Äußeren und Körperlichen anbot. Campano hat sich, wie aus der Stelle hervorgeht, eine besonders kunstvolle Technik Suetons zu eigen gemacht. Sie betrifft die Verknüpfung von Körpermerkmalen mit charakteristischen Verhaltensweisen. Dieser Nexus bewirkt eine starke Anregung der Vorstellungskraft des Lesers und erzeugt höchste Evidenz: Der Biographisierte tritt dem Leser förmlich vor Augen. Zum Beispiel vermeldet Sueton nicht bloß, dass Caesar eine Glatze hatte, sondern verknüpft den Tatbestand mit einer charakteristischen Handbewegung, mit der der Diktator seine schütteren Resthaare quer über die Glatze strich, um sie zu camouflieren.52 Von Tiberius berichtet Sueton nicht bloß, dass er kräftige Hände und Finger hatte, sondern er zeigt den Kaiser, wie er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand einen Apfel durchbohrt.53 Damit verbildlicht er exemplarisch
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Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 78. Sueton, De vita Caesarum, Divus Iulius 45, 2. Ebd., Tiberius 68, 1.
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eine Charaktereigenschaft des Kaisers: Grausamkeit. Campano vermeldet nicht bloß, dass Pius II. expressive Augen hatte, sondern verbindet sie mit einer charakteristischen Verhaltensweise: Wenn man ihn ärgerte, dreht er seine Augen so nach oben, dass man nur noch das Weiße sah. Damit zeigt Campano zugleich, dass Pius II. ungeduldig war und zum Jähzorn neigte. Den Nachteilen der Suetonischen Präsentationsweise brachte Campano vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit entgegen. Er befürchtete anscheinend nicht, dass die Beschreibung von Krankheiten und körperlichen Mängeln einen abstoßenden Eindruck machen könnte, oder dass dadurch die Regel der ehrfurchtgebietenden Distanz, die man einem Papst gegenüber einzuhalten hatte, gebrochen würde. Hat sich Campano unter der Inspiration seiner avantgardistischen Suetonnachfolge so weit vorgewagt, dass er der propagandistischen Zielsetzung seines Textes schadete? Verträgt es sich mit der erstrebten Repräsentationsfunktion des Textes, dass Details des Körperlichen mitgeteilt werden? Hat Campano vielleicht, indem er Sueton nachfolgte, moralische Fehler des Papstes mitüberliefert? Das Weiße in den Augen Pius’ II. glänzt verräterisch: Wird hier nicht zugleich mitgeteilt, dass der Papst regelmäßig Wutanfälle hatte? Überschreitet Campano hiermit nicht die Schamgrenzen? Untersucht man diese Fragen, so zeigt sich, dass Campano eine Gratwanderung unternommen hat, die ihn mehrfach in schwindelerregende Höhen führte. Bei der Hantierung des schwierigen Diskurses zeigt er zumeist großes Geschick. Er transformiert den Diskurs Suetons dort, wo dieser die moralischen Entgleisungen der Kaiser behandelte. Einen Bericht wie in der Domitian-Biographie, dass der Kaiser in seinen Privatgemächern Fliegen auf seinen Griffel spießte, findet man in der Vita Pii nicht. Campano hat das Dekorum des Papstes stets im Auge behalten: Deshalb behandelt er das Sexualleben überhaupt nicht, obwohl die Rubrik von Sueton „vorgegeben“ war und Pius II. ein sexuell erfülltes Leben vor seinem Leben als Kirchenfürst hatte, von dem es viel Interessantes (uneheliche Kinder; explizite Liebesdichtung) zu berichten gab. Es zeigt sich, dass Campano den Diskurs der Detaildarstellung in enger umrissenen Schamgrenzen situierte als Sueton. Auch in auf den ersten Blick harmlos wirkenden Bereichen tritt diese Tendenz zu Tage, z.B. wenn es um die Beschreibung der Rede- und Ausdrucksweise geht. Um die Redeweise des Augustus zu charakterisieren, stellte Sueton eine Liste schnoddriger und geflippter Ausdrücke zusammen, die er sich aus der Lektüre seiner Privatkorrespondenz erarbeitet hatte: „statt ‚blöd‘ oder ‚dumm‘ (stultus) sagte er [Augustus] ‚kastriert‘
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(baceolus) […], statt ‚verrückt‘ (cerritus) ‚hölzern‘ oder ‚durchwachsen‘ (vacerrosus), statt ‚unwohl sein‘ (male se habere) ‚geronnen sein‘ (vapide se habere), statt ‚müde sein‘ (languere) ‚sich wie eine Rübe fühlen‘ (betizare)“. Für die Wortarchäologen der Römischen Akademie war dieses einzigartige linguistische Dokument natürlich ein Eldorado. So etwas kann potentiell diskurssteuernd wirken. An Faktenkenntnis hatte Campano, der Pius II. aus langjährigem persönlichem Kontakt kannte, keinen Mangel. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, eine ähnliche Liste für Pius zu erstellen, besonders da der Papst einen ausgesprochenen Hang zu schlagfertigen, humorvollen, ‚gesalzenen‘ und ausgesprochen bissigen Formulierungen hatte. Diesbezüglich ist interessant, dass Campano diesen Schritt nicht im vollen Sinn mitmachte. Das Dekorum-Problem wog für ihn offensichtlich schwerer als der davon ausgehende Authentizitätsschub. Deshalb beschränkte er sich auf eine allgemeinere Darstellung von Pius’ Sprechweise, die er zwar treffend charakterisiert, jedoch so, dass die Markierungen im öffentlichen Bereich vorzeigbar waren: Er trug mit wohlklingender und ehrfurchtgebietender Sprechweise vor, jedoch immer im selben Tonfall und mit häufigen Unterbrechungen, so dass es schien, als würde er ohne sorgfältige Vorbereitung reden. Er war jedoch ein Meister der Überredung: Alle nahm er mit seiner Rede für sich ein […]. Pronuntiabat voce sonora et gravi, verum eodem spiritu semper et crebris intervallis, ut dicere ex tempore et sine cura videretur. Persuadendi longe peritissimus neminem ad se dicendo non traxit […].54
Aus der Stelle geht zugleich eine andere, folgenreichere Transformation des Suetonischen Diskurses hervor – die Transformation durch die Einbringung des Regelsystems des rhetorischen Personenlobs.55 Spezifische Folgen dieser Transformation konnten oben im Hinblick auf Boccaccios Sueton-Imitation dingfest gemacht werden. Indem Campano Pius II. hier als „Meister der Überredung“ konstituiert, begibt er sich in die Nähe von Boccaccios Lob-Biographie, in der Petrarca als Meister der Beredsamkeit präsentiert wurde. Eine vergleichende Betrachtung der Schilderung der Tagesabläufe von Augustus und Pius lässt diese Diskurstransformation besonders augenfällig erkennen. Sueton ging es darum, dem Leser auf deskriptive Weise ein wirklichkeitsgetreues und zugleich auffällig-einprägsames Bild 54 55
Sueton, De vita Caesarum, Augustus 87, 2; Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 77. Vgl. oben Kap. XII. 3, „Campanos Vita Pii und die Commentarii: Faktenkonstituierungen des autobiographischen und des biographischen Diskurses“.
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des Tagesablaufs des Kaisers zu vermitteln. Er fokussierte nicht auf die Abbildung glänzenden Idealverhaltens. Wir sehen, dass Augustus seinen Tag langsam anging und morgendliche Verpflichtungen als unangenehm empfand. Das Bild des Kaisers, der in seiner Sänfte einschläft, ist sowohl einprägsam als auch für negative Interpretationen anfällig. Bei Campano hingegen dienen die Detailangaben jeweils dazu, eine positive Darstellung Pius’ II. zu erzielen. In den empathisch in direkter Rede wiedergegebenen Worten „dass ich zum Wohl anderer da bin, nicht für mein eigenes“ tritt geradezu das Idealbild eines selbstlosen und sich aufopfernden Papstes hervor. Zu jeder Tageszeit scheint Pius II. beschäftigt zu sein, es gibt keinen ruhigen Augenblick. Bei jeder Gelegenheit, auch bei Tisch und im Schlafzimmer, empfängt er Bittsteller. Diese Darstellungsweise entsprach den Interessen der Pius-Clique nicht nur, weil sie „ihren“ Papst in ein glänzendes Licht stellen wollte. Der feindliche Papst Paul II. war dafür berüchtigt, dass er Bittsteller, obwohl sie sich lange vorher anmelden mussten, höchstens ausnahmsweise und dann nur mitten in der Nacht empfing. Die Leser, für die die Biographie bestimmt war, verstanden, dass die Hervorhebung der Umgänglichkeit Pius’ II. zugleich eine Kritik an die Adresse Pauls II. war. Der wertende Diskurs Campanos hängt, wie unten anhand weiterer Beispiele belegt werden wird, mit dem Regelsystem des Fürstenspiegels zusammen. Es lässt sich ersehen, wie Campano mit kunstfertiger Hand die deskriptiven und wertungsarmen Kaiserbiographien Suetons in den Diskurs der Lobbiographie transferierte. Campano entwickelte ein scharfes Auge dafür, wie sich individuelle Einzelheiten mit einem moralischen Urteil verbinden ließen. Im Übrigen las er diese Methode auch in Sueton hinein: Er bewunderte ihn dafür, dass er durch die Darlegung der Tugenden und Laster der Kaiser moralische Vorbilder geliefert und exemplarisch gezeigt habe, dass Tugend Erfolg bringe, Laster jedoch bestraft werde. „Wenn Du ihn [Sueton, Anm.] liest“, teilt er dem Anführer der Pius-Clique, Kardinal Ammannati-Piccolomini, im letzten Satz der Widmungsvorrede seiner Sueton-Ausgabe mit, „dann hältst Du eine Quelle in Händen, aus der Du moralische Vorbilder in Glück und Unglück beziehst und erkennst, wie sehr die Tugend in den menschlichen Angelegenheiten Erfolg bringt und das Laster Schwierigkeiten heraufbeschwört“.56 Campanos Pius-Biographie ist in diesem Sinn zu interpretie56
Campano, Appendix epistolarum II (ed. Mencken), 545–546: „Habebis, cum hunc leges, unde sumere exempla in omni fortuna possis, et intellegere, quantum virtute humanae res constent, vitiis labantur. Vale“.
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ren: Sie zeigt, dass tugendhaftes Verhalten Pius II. Erfolg gebracht hat, und droht indirekt Paul II. an, dass ihn sein moralisches Fehlverhalten in den Untergang führen werde.
5. Biographie als Fürstenspiegel – Fürstenspiegel als Papstkritik Mit der Transformation des deskriptiven in einen wertenden Diskurs ist ein bestimmtes Leseangebot verbunden, das Campanos Pius-Biographie eine weitere Dimension verleiht – die des Fürstenspiegels. Die Fürstenspiegelliteratur zählt zum Standardrepertoire der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Respublica litteraria. Es handelt sich um ein Kommunikationsmedium, das dem Intellektuellen ermöglichte, erwünschte und unerwünschte Eigenschaften des Fürsten, Lob und Kritik, nach gewissen Regeln festzulegen.57 Eine Biographie bildet einen möglichen Rahmen zur Entfaltung der Fürstenspiegel-Topik. Campanos Pius-Biographie stellt ein Politikum dar, das in dem oben skizzierten Kontext des Eklats zwischen Paul II. und der ‚Pius-Clique‘ verankert ist. Anhand einiger Beispiele soll demonstriert werden, auf welche Weise dieses Leseangebot in Campanos Pius-Biographie funktioniert, genauer: auf welche Weise das Lob Pius’ II. als Kritik an die Adresse Pauls II. verstanden werden sollte. Im ersten Zitat des Kapitels fiel die Art auf, in der Campano Pius II. als martialischen Papst konstituierte: „Er ließ sich weder von unglücklichen Schicksalsschlägen noch von Drohungen unterkriegen. Das geht aus der Tatsache hervor, dass er, wenn er einmal einen Krieg angefangen hatte, niemals Frieden schloss, außer wenn er den Sieg errungen hatte […]“.58 Damit zeigt der Papst das Verhalten, das die Pius-Partei wünschte. Ganz oben in der Agenda der Politik Pius’ II. stand ja die Organisation des Kreuzzugs gegen die Türken. Mit dem Lob Pius’ II. als Kriegsherren bemängelte die Pius-Partei zugleich, dass Paul II. diese
57
58
Vgl. H. H. Anton, „Fürstenspiegel. Lateinisches Mittelalter“, in: LMA, Bd. IV, Sp. 1040–1049; B. Singer, Die Fürstenspiegeln in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation, 1981; J. Röder, Das Fürstenbild in den mittelalterlichen Fürstenspiegeln auf französischem Boden, Diss. Münster 1932; W. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Münster 1938. Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 46.
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Politik nicht weiterführte, wohlgemerkt obwohl er sich während der Verhandlungen des Konklave dazu verpflichtet hatte. Weiter gehört zu den Fürstenspiegeltugenden, dass der Herrscher Literatur und Wissenschaften fördert, eine Tugend, die in humanistischen Fürstenspiegeln besonders hervorgehoben wird.59 Paul II. jedoch förderte eine Reihe von Intellektuellen nicht, zum Beispiel die Abbreviatoren und die Mitglieder der Römischen Akademie. Es soll daher als Kritik an Pauls Adresse gelesen werden, dass Campano Pius II. als idealen Literatur- und Wissenschaftsmäzen konstituiert: „Die Geister seiner Zeit hat er auf wunderbare Weise gefördert, wenigstens die besten“.60 Dass dies mit der Realität höchstens am Rande übereinstimmt (Pius II. galt diesbezüglich im Gegenteil als kleinlich!)61, fördert den biographischen Transformationsprozess nur desto deutlicher zu Tage: Damit wird manifest, dass es in Campanos Pius-Biographie nicht einfach um Pius, sondern jeweils auch um Paul II. geht. Ein weiterer Punkt betrifft die Ämterpolitik. Von einem Papst oder Fürsten erwartete man, dass er die Fürstentugend der Großzügigkeit an den Tag lege. Etwa in Suetons Augustus-Biographie traf man ein Vorbild für dieses Verhalten an – es wird berichtet, dass der Prinzeps aus Großzügigkeit neue Ämter eingeführt habe: „Um möglichst viele Personen an der Staatsverwaltung teilnehmen zu lassen, schuf Augustus neue Ämter“.62 Campanos inventio der Pius-Biographie wurde von dieser Topik gesteuert: In seiner Darstellung hebt er hervor, dass Pius elf neue Kardinäle ernannte und das neue Collegium der abbreviatores einführte.63 Das Lob soll zugleich als indirekte Kritik an Pauls Adresse gelesen werden: Paul II. hatte, als gegenteilige Maßnahme, das Collegium der abbreviatores abgeschafft und damit unter anderen Mitglieder der Römischen Akademie, zum Beispiel Platina, düpiert. Die Belange der Römischen Akademie führen zum letzten Beispiel: Eine der vorrangigsten Fürstentugenden ist die Milde (clementia), die ein 59 60
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Vgl. Anton, „Fürstenspiegel“, 1047. Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo) 70: „Ingenia sui temporis mirifice fovit, sed dumtaxat probatissima“; vgl. Sueton, Kaiserbiographien, Divus Augustus 89, 3 „ingenia saeculi sui omnibus modis fovit“. Vgl. die Anmerkung von Zimolo, Le vite di Pio II., 70, Anm. 3. Sueton, Divus Augustus 37, 1. Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo) 55: „Novum etiam collegium abbreviatorum ad viros septuaginta, litteratura et moribus ex omni natione promiscue delectos […] Cardinalium numerum duobus comitiis auxit, undecim adiectis, laudavitque singulos oratione diversa […].“
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Papst, verglichen mit anderen Herrschern, a fortiori aufweisen sollte: Campano schrieb Pius II. diese Tugend ausdrücklich zu: „Dass er mild war, kann man daraus ablesen, dass er jedem, der um Verzeihung bat, leicht verzieh“ (Kursivierung K. E.).64 Dies soll als Tadel und indirekte Aufforderung an Pauls Adresse verstanden werden: Paul II. möge doch endlich diejenigen, die um Verzeihung bitten (= die reumütigen Mitglieder der Römischen Akademie), aus dem Gefängnis entlassen!
64
Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo) 53: „Clementem eum fuisse inditio est, quod nemini petenti veniam non facile ignovit“.
Platina gegen Campano
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XIII. Ein Biographien-Wettstreit im Gefängnis: Platina gegen Campano Durch die Entlassung Platinas schädigte Paul II. unwillentlich seinen Ruf. Der Sekretär, den er wie einen lästigen Laufburschen weggejagt hatte, verfasste eines der bedeutendsten biographischen Werke der Frühen Neuzeit, die umfassende Papstgeschichte Buch vom Leben Christi und aller Päpste (Liber de vita Christi ac omnium pontificum).1 In diesem von der Darstellungsmethode und Quellenauswertung her bahnbrechenden Werk setzte Platina seinem früheren Herrn ein einprägsames Negativdenkmal, mit dem er ihn in die Geschichte als den schlechtesten Papst, den es je gegeben, und als Antihumanisten einschrieb:2 Er [Paul II., Anm.] war launisch und schwierig, sowohl Mitgliedern seines Haushalts als auch Fremden gegenüber, und oft machte er, was er versprochen hatte, einfach wieder rückgängig. In allen Angelegenheiten wollte er als klug gelten: Deshalb pflegte er sich allzu kompliziert auszudrücken. Es gelang ihm nicht, Freundschaften zu Fürsten oder zu Völkern lange aufrecht zu erhalten, weil man ihn als einen Wendehals betrachtete. Er wollte immerzu, dass man ihm verschiedene Arten von Gerichten vorsetzte, und stets gelang es ihm, ein Häppchen von den weniger guten auszuwählen. Manchmal rief er, man habe ihm die Speisen, um welche er nicht ausdrücklich gebeten hatte, in übler Absicht vorgesetzt. Er trank unglaubliche Mengen Wein, aber immer nur den billigsten und noch dazu stark verwässert. Seine Lieblingsgerichte waren Pfauen, Krebse, Klößchen, Fische und Würstchen. Diese Eßgewohnheiten riefen meiner Meinung nach den Herzinfarkt hervor, an dem er starb. Denn an dem Tag vor seinem Tod hatte er zwei Pfauen, und zwar sehr große, verzehrt. Dennoch hielt man ihn für gerecht und mild. Denn er verhängte über viele Schwerverbrecher – Diebe, Mörder, Eidbrüchige, Verräter – nur Kerkerstrafen, um sie zur Vernunft zu bringen. Die humanistischen Studien (studia humanitatis) hasste und verachtete er so sehr, dass er ihre Anhänger kurzweg als Häretiker bezeichnete. Deshalb forderte er die Römer auf, nicht länger zu dulden, dass ihre Söhne sich mit diesen Studien beschäftigten; es wäre genug, wenn sie lesen und schreiben lernten. Zuweilen gab er 1
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Platina, Liber de vita Christi ac omnium pontificum, a cura di G. Gaida, Città di Castello 1913, in: Rerum italicarum scriptores, nov. ed., III, 1. Platina, Liber de vita Christi et omnium pontificum (ed. Gaida), 363–398.
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sich als unzugänglich und unerweichlich gegenüber Bittgesuchen; damit noch nicht zufrieden, rief er den Bittstellern Schmähungen und Schimpfworte entgegen […].3
Platinas literarischer Racheakt findet in Suetons Kaiserdiskurs statt. Paul II. wird, wie Campanos Pius, der Kaiserpurpur übergestreift, der jedoch diesmal mit teuflischen Glanzlichtern ausgestattet ist. In Campanos Vita Pii II fanden sich zahlreiche Erkennungsmomente, die Pius’ II. Leben in Beziehung zu Kaiser Augustus setzten. Platina jedoch bindet Paul II. an Augustus’ Gegenbild, Tiberius, den tyrannischen, bösen Kaiser, an. Zwei Stellen mögen zur Indikation dienen: Platina sagt, dass Paul II. die Neigung besaß, sich allzu kompliziert auszudrücken, weil er unergründlich sein wollte. Sueton hatte dieselbe Eigenschaft Tiberius zugeschrieben, der „seine Ausdrucksweise durch Geziertheit und Gestelztheit unergründlich machte“ („affectatione et morositate nimia obscurabat stilum“).4 Weiter schrieb Platina Paul II. übermäßigen Alkoholgenuss zu („bibacissimus fuit“). Sueton hatte der Trunksucht des Tiberius eine eigene thematische Rubrik gewidmet, in der er u. a. den einprägsamen Spottnamen „Biberius Caldius Mero“ (statt Tiberius Claudius Nero) – soviel wie „Säufer Glühweintrinker Purtrinker“ – festhielt.5 Die Liste der (bei Sueton) Tiberius zugeschriebenen, von Platina für Paul II. aufgegriffenen Eigenschaften lässt sich mühelos erweitern – Grausamkeit, Misstrauen, Neigung zu Schmähungen, Geiz und – als umfassendste Charakterkonzipierung – Tyrannentum. Allerdings soll dieser Abschnitt nicht Platinas Buch vom Leben Christi und aller Päpste gewidmet sein, sondern einer Biographie, die vor der Abfassung der großen Papstgeschichte entstand: der Vita Pii II. Pontificis Maximi. Dieses Werk ist in der vatikanischen Handschrift Vaticanus Ottobonianus Latinus 2056 gemeinsam mit Campanos Pius-Biographie überliefert. Der Herausgeber Zimolo datierte es auf das Jahr 1464, kurz nach dem Tod Pius’ II.6 Zimolo ging davon aus, dass Campanos PiusBiographie nach der Platinas verfasst wurde. Nach Zimolos Auffassung verwendete Campano Platinas Pius-Biographie als Vorbild und Modell.
3 4 5 6
Ebd., 397–398. Sueton, Kaiserbiographien, Tiberius 70, 1. Ebd. 42, 1. G. C. Zimolo, „Le vite di Pio II di G. A. Campano e B. Platina […]“, in: Rerum Italicarum Scriptores III, 3; Ders., „La ‚Vita Pii II P. M.‘ del Platina nel cod. Vat. Ottoboniano latino 2056“, in: Studi in onore di Carlo Castiglioni Prefetto dell’ Ambrosiana, Mailand 1957, 875–904.
Platina gegen Campano
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Diese Ansicht schien sich mit der Abfassungszeit, die man Campanos Vita Pii zuschrieb (vor 1470), gut zu reimen. Eine eingehende, vergleichende Analyse der beiden Werke lässt diese Ansicht jedoch fragwürdig erscheinen. Platinas Werk weist einen viel höheren Ausarbeitungsgrad auf. An zahlreichen Stellen wird ersichtlich, dass Platina Campanos Darstellung übernahm, jedoch den Wortlaut variierte, erweiterte und literarisch weiterschliff. Verglichen mit Platina erscheint Campanos Darstellung zuweilen ungelenk, wie ein erster Versuch. Außerdem entdeckte Paola Medioli Masotti einen Brief Platinas an zwei florentiner Freunde vom 31. Mai 1469, aus dem hervorgeht, dass dieser seine Pius-Biographie nicht, wie Zimolo annahm, 1464, sondern während der Zeit seiner Inhaftierung in der Engelsburg, 1468 oder Anfang 1469, geschrieben hat: Bartolomeo Platina grüßt Pietro und Tommaso Capponi. Seit ich aus der babylonischen Gefangenschaft entlassen wurde, habe ich Euch nicht geschrieben, nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil mir Freunde davon abrieten. Jetzt aber, da mir meine frühere Freiheit zur Gänze rückerstattet worden ist, wollte ich Euch bitten, ja beschwören, dass Ihr Eure frühere Gewohnheit, mit mir zu korrespondieren, wieder aufnehmt. […] Im Kerker habe ich den Dialog „Über falsche und wahre Werte“ in drei Büchern geschrieben, der Euch mit Sicherheit gefallen wird, da er nicht wenig literarischen Scherz und würdenvollen Ernst besitzt: Ihr werdet an diesem Werk sehen, dass ich in der Philosophie kein Dummkopf bin. Ebenso habe ich in der Gefangenschaft eine Biographie Pius’ II. verfasst, die mir bei zahlreichen Leuten Anerkennung und Gunst eingetragen hat […].7
Der Fund dieses Briefes macht den Weg für eine Neuinterpretation von Platinas Pius-Biographie frei. Platinas Vita Pii II. Pontificis Maximi, die nicht 1464, sondern 1468 oder Anfang 1469 entstand, war nicht die Vorlage für Campanos Vita Pii, sondern verwendete diese im Gegenteil als imitatio- und aemulatio-Vorbild. Zum Verständnis der Verortung des Textes ist es nützlich, sich den Zeitpunkt (1468 oder Anfang 1469), den Ort (Engelsburg) und den Kontext der Abfassung zu vergegenwärtigen. In der Engelsburg hatte sich bei Pauls II. Gefangenen nach dem ersten Schock ein gewisser Modus vivendi herausgebildet. Der Kerkermeister, Bischof Rodrigo Sánchez, war zwar darauf bedacht, die Inhaftierten von dem aufrührerischen Gedanken, ein Konzil oder Schisma einzuleiten, abzubringen, beließ ihnen sonst aber einige Freiheit. So durften sie sich mit Bildungsgegenständen befassen, antike Autoren lesen oder lateinische Werke schreiben, ja sogar 7
Der lateinische Text abgedruckt in: Medioli Masotti, „Per la datazione di due opere del Platina“, 410.
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Ein Biographien-Wettstreit im Gefängnis
miteinander brieflich verkehren. Übrigens lässt sich auch daraus ablesen, dass es Paul II. nicht um die Unterdrückung humanistischer Studien ging. Einige der Briefchen und Zettel der inhaftierten Akademiker sind überliefert. Zum Beispiel schickte Pomponio Leto Platina auf einem Briefchen ein lateinisches Gedicht: Der unglückliche Pomponius an den unglücklichen Platina. Ach, wie oft hab ich gesagt, lieber Freund, erinnere dich bitte: „Uns, ja uns alle wird noch des Callimachus Raserei und Zügellosigkeit zugrunde Richten.“ – Ach! Ich vermag die Zukunft Sicherer vorherzusagen als Sibylle, Sicherer als Autonoe: Und die Ketten des Kerkers halten uns gefangen, Wir Unglücklichen und Unschuldigen! Ständig warten auf uns Schläge und Foltern, Und der Strick des Henkers […]! Pomponius Infortunatus ad Platynam Infelicem. Eia dixi quotiens, amice care, Si meminisse voles: „Nos, nos, Callimachi furor, libido, Praecipites dabit!“ – Heu Vates sum tibi certior Sibylla, Verior Autonoe: Et nos vincula carceris tenemus Innocui et miseri! Passim verbera nos manent crucesque, Fune trahi lanii […].8
Das Austauschen von Zetteln, Briefchen, Gedichten wurde zu einem täglichen Ritual, mit dem die Gefangenen sich gegenseitig aufrichteten; unter anderem spornten sie sich zur Schriftstellerei an, z. B. Settumuleio Antonio Campano den Bartolomeo Platina: 8
Text in Medioli Masotti, „L’Accademia Romana“, 202. Das Metrum dieses Gedichtes ist sehr ausgefallen, eine stichische Kombination von Phalaeceus und Hemiepes. Für diese Kombination gibt es keine Vorbilder in der griechischen Literatur. Der Phalaeceus wurde im berühmten Harmodios-Skolion verwendet, das Lied, das die Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton feiert. Möglicherweise wollte Leto durch das Metrum auf codierte Weise seinen Hass gegen den Tyrannen Paul II. zum Ausdruck bringen. Für die Analyse des Metrums gilt mein Dank Ilja Pfeijffer.
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Du wirst mich auslachen, hochgelehrter Platina, dass ich versuche Deine Wunde zu heilen und Dir eine Medizin zu bringen, während ich mich in derselben unglücklichen Lage befinde und meine eigene Verwundung vergesse. Aber ich dulde es gerne, dass man mich auslacht, wenn ich nur etwas für Dich tue und ich mir die Ansicht Quintilians zueigne, der der Meinung war, dass die Literatur ein einzigartiges Trostmittel in ungünstigen Zeiten darstelle […].9
Platina nahm sich diesen Rat zu Herzen. Zunächst wandte er sich der Philosophie zu, mit dem Dialogtraktat Über falsche und wahre Werte (De vero falsoque bono), in welchem er einen christlichen Neuplatonismus vertrat und sich mit Boethius identifizierte, der seinen philosophischen Traktat Der Trost der Philosophie oder über das höchste Gut ebenfalls im Gefängnis geschrieben hatte. Es blieb nicht bei diesem einen Werk; seine Freunde von der Pius-Clique ließen ihn nicht im Stich. Sie sandten ihm Lesestoff und Schreibmaterial ins Gefängnis. Während Platina seinen philosophischen Traktat De vero falsoque bono verfasste, hatte Campano seine Vita Pii vollendet. Man brachte das Werk, zusammen mit anderen Büchern, ins Gefängnis. Platina las es mit größtem Interesse; er verstand natürlich sofort die Bedeutung des Textes – Manifestation der Pius-Clique, Pius-Verherrlichung, indirekter, kritischer Fürstenspiegel für Paul II. Bei der Lektüre muß er wohl zugleich ein wenig enttäuscht gewesen sein: Campano hatte in seiner experimentellen Sueton-Imitation die Nachteile dieser Präsentationsweise zu wenig ins Auge gefasst. Er hatte sich an mehreren Stellen weit in den Privatbereich hineingewagt, ohne diesen – nach Platinas Urteil – stets durch überzeugende laudatio-Elemente vor der zu erwartenden Kritik der weniger günstig gesinnten Leser genügend abzusichern. Zwar hatte Campano die wertungsarmen Rubriken Suetons implizit und explizit in die Richtung eines wertenden Textes verschoben. Jedoch war Platina der Meinung, dass er bei der Umbildung der sachlich-informativen Biographie zur Lobbiographie nicht das Beste herausgeholt hatte. Der Text wirkte an vielen Stellen trocken und schal,
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Campano, Brief X, 12, abgedruckt in: Hausmann, Giovanni Antonio Campano, 316–318; Di Bernardo, Un vescovo umanista alla Corte Pontificia, 211 und 215 schreibt den Brief Giannantonio Campano zu. Hausmann diskutiert die Frage S. 421–422. Das entscheidende Argument für die Zuschreibung an Antonio Settumuleio Campano ist, dass der Autor vermeldet, dass er sich in derselben unglücklichen Lage wie Platina befindet („in eadem calamitate constitutus“), d. h. in der Engelsburg gefangen war. Das trifft auf Antonio Settumuleio, nicht aber auf Giovanni Antonio zu.
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Ein Biographien-Wettstreit im Gefängnis
war eher eine Aufzählung denn eine Erzählung. Die inventio kam Platina karg und phantasielos vor. Das ließ sich besser machen! Platina entschloss sich, in einen literarischen Wettkampf mit Campano zu treten. Eine Pius-Biographie war das geeignetste Thema, dem er sich jetzt zuwenden konnte. Denn nicht nur die literarische Tätigkeit an sich verlieh dabei Trost. Tröstend war auch die Rache. Dass Platina mit seinem Vorhaben, eine weitere Pius-Biographie zu verfassen, den Absichten der Pius-Clique nicht zuwiderhandelte, versteht sich von selbst. Je mehr Pius-Verherrlichung, desto besser! Dass sich Platina darüber mit der Pius-Clique verständigte, ist unter anderem aus der Tatsache abzuleiten, dass er seine Pius-Biographie dem Pius-Nepoten Kardinal Francesco Todeschini-Piccolomini widmete. Im Widmungsbrief berichtet er: B. Platina an Franciscus Piccolomini, den Kardinal von Siena Den Schmerz, mit dem mich der Tod des allerbesten Papstes, Pius’ II., erfüllte, konnte ich auf keine andere Weise lindern, als dass ich die Aufmerksamkeit meines Geistes, insofern ich dazu imstande war, von den Tränen und der Trauer ab-, und zu seinem Lob hinlenkte. […] Deswegen überlegte ich mir lange, woher ich am besten eine Medizin zur Genesung meiner Wunde nehmen könnte. Keine Medizin schien mir dabei wirksamer und angenehmer, als dass ich das Leben und die Gewohnheiten des Mannes beschrieb, der sich mit seinen Taten und seinen Schriften um die lateinische Sprache, um die Freiheit Italiens, um den katholischen Glauben und um das Heil aller Christen sehr verdient gemacht hat. Ich untersuchte daher eifrig alle Taten, die er in der Jugend, im Erwachsenenalter, im Greisenalter verrichtet hatte, und nahm mir vor, die Schrift Dir zu widmen, damit Du, von der Tugend und der Vorzüglichkeit Deines Onkels bewegt, durch Wetteifer zum Streben nach Ruhm, zu dem Du offensichtlich geboren bist, immer mehr entflammen würdest. Francisco Picolomineo Cardinali Senensi B(artholomeus) Platinensis S. P. D. Dolorem, quem morte Pii pontificis optimi ac maximi conceperam, leniri nullo modo posse videbam, ni animum a luctu et lacrimis, quantum mihi liceret, ad cogitationem laudum suarum traduxissem […] Hanc igitur ob rem diu mecum ipse considerans, unde medelam vulneri meo potissimum susciperem, nulla mihi potior atque suavior in presentiarum visa est, quam eius mores et vitam litteris mandare, qui rebus a se gestis et scriptis de lingua Latina, de libertate Italie, de fide catolica, de salute Cristianorum omnium optime meritus est. Conquisivi itaque diligenter omnia, que in adolescentia, que in media aetate queque in senctute ab eo sunt gesta, et conscripta ad te mittere institui, ut, avunculi tui virtute et excellentia motus, emulatione glorie ad laudem, ad quam te natum esse video, magis atque magis incenderere.10
10
Siehe Zimolo, Le vite di Pio II., 91; Ders., „La Vita Pii II P. M. del Platina“, 878.
Platina gegen Campano
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Der letzte Satz zeigt, dass Platina Campano sogar in Bezug auf den Faktenreichtum übertreffen wollte. Obwohl ihm in der reichen Pius-Biographie Campanos genug Material zur Verfügung stand, ging er in seiner Arbeit von einem selbständigen, gründlichen Quellenstudium aus. Dies ist umso bemerkenswerter, als er – im Vergleich zu Campano – viel mehr investieren musste. Campano hatte, als er die Biographie in Angriff nahm, die Autobiographie Pius’ II. bereits eingehend gelesen, Platina natürlich nicht. Dass Platina nicht auf eigene Lektüre verzichten wollte, war sogar gefährlich, denn das Werk musste erst ins Gefängnis geschmuggelt werden. Außerdem kostete es nicht wenig Zeit und Mühe, sich die sechs- bis siebenhundert Normalseiten langen Commentarii eigen zu machen. Eine Analyse von Platinas Pius-Biographie zeigt, dass er die Autobiographie des Papstes in der Tat gründlich rezipiert hat. Sie half ihm, eines seiner darstellerischen Hauptziele zu verwirklichen, von der Aufzählung Campanos in thematischen Rubriken zur literarisch ansprechenden Erzählung zu gelangen. Überraschend ist freilich, dass sich Platina noch weitere Pius-Dokumente ins Gefängnis bringen ließ. Offensichtlich scheute er zur Durchsetzung seines Projektes vor keinen Mühen und Gefahren zurück. Avesani hat aufgezeigt, dass sich unter den ins Gefängnis geschmuggelten Dokumenten ein Brief von Pius’ Cousin, Gregorio Lolli, befand, in dem dieser den Tagesablauf des Papstes beschrieb.11 Es ist klar, wer Platina das Material sendete – die Mitglieder der PiusClique, unter anderen Kardinal Ammannati, der Besitzer des nämlichen Briefes.12 Auf welche Weise gestaltete sich Platinas biographischer Wetteifer mit Campano? Den ersten Topos einer Biographie bildete den Rhetorikhandbüchern gemäß die Abstammung, der der Autor einer Lobbiographie überzeugend Glanz verleihen sollte. Campano war schulbuchmäßig vorgegangen: „Pius II. stammte aus Siena, einer berühmten Stadt der Toscana, aus der adeligen und uralten Familie der Piccolomini“.13 Brav, langweilig, abgedroschen und deswegen auch nicht überzeugend, mag sich Platina gedacht haben, der auch sonst von Campanos literarischen Qualitäten nicht sehr eingenommen war. Schon früher einmal 11
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R. Avesani, „Una fonte della ‚Vita‘ di Pio II. del Platina“, in: A. Campana e P. Medioli Masotti (Hrsg.), Bartolomeo Sacchi il Platina (1421–1481 ), Atti del Convegno internazionale di studi per il V centenario, Padua 1986, 1–7. Ebd., 4–5. Campano, Vita Pii II (ed. Zimolo), 7.
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Ein Biographien-Wettstreit im Gefängnis
hatte er im Hause Kardinal Ammannatis Campanos Gedichte mit beißendem Spott überzogen. Schon der erste Satz von Campanos Pius-Biographie erregte seinen Widerspruchsgeist. Was heißt das schon: „uralt“? Unspezifisch, lau, lächerlich. Wie soll der Leser, der kein ausgesprochener Pius-Anhänger ist, davon überzeugt werden? Vor dem erfinderischen Geist Platinas tat sich ein weiter Horizont prächtiger Lobmöglichkeiten auf. Etwas bewundernswertes, eine einprägsame Stammbaumkonstruktion war hier erforderlich! Der Name des Vaters Pius’ II., Sylvius Posthumus, liess sich mit dem sechsten Buch der Aeneis verbinden, in dem Vater Anchises die Zukunft vorhersagt: Aeneas wird einen Sohn haben mit einer einheimischen Frau (Lavinia) – sein Name wird Silvius sein und er wird posthum geboren werden: Wohlan, ich will dir jetzt zeigen das künftige Dardanidengeschlecht Und seinen künftigen Ruhm, welche Nachfahren überdauern werden vom Geschlecht Der Italer, ruhmreiche Seelen, die unseren Namen annehmen werden, Und ich werde Dein Schicksal Dich lehren: Jener Jüngling, den du dort siehst, der sich auf den nackten Speer aufstützt, Wird als erster erreichen das Land des Lichts, als erster, gemischt Mit Italischem Blut, wird er sich emporschwingen in die Lüfte des Himmels. Silvius heißt er, ein Name aus Alba, dein Posthumer Sohn, Den dir als Greis erst spät deine Gattin Lavinia wird schenken […].14
Durch die Anbindung an die ideologische Bibel des Humanismus, die Aeneis, führte Platina die Abstammung Enea Silvios auf den Stammvater der Römer, Aeneas, zurück. Interessanter als die banale Frage „Wo liegt Corsigniano?“ war nach Platina das historische Rätsel: „Wie gelangte die römische Familie der Silvii Posthumi von Rom nach Siena?“. Dabei machte er von seinem historischen Wissensschatz Gebrauch, um durch die Eingliederung historisch beglaubigter Ereignisse das Stammbaumkonstrukt plausibel zu machen: In der Spätantike sei Rom mehrfach von Barbaren eingenommen worden; viele Adelsfamilien seien damals in verschiedene Städte Italiens, die nicht von Barbaren bedroht waren, geflohen, vor allem nach Florenz, Venedig und Siena: Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die Familie Piccolomini auf die alten Römer zurückgeht. Denn die Namen „Aeneas“ und „Silvius“, die in der Familie häufig vorkommen, sind die ältesten Namen der Könige von Alba, auf die Rom selbst seinen Ursprung zurückführt. Enea Silvios Vorfahren haben dies für sich in Anspruch genommen und gleichsam in Erbfolge den Nachkommen übertragen, dass ihr Geschlecht, das in Siena immer zu den hervorragendsten Familien gehörte, 14
Vergil, Aeneis VI, 756–765.
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auf die Stadt Rom zurückgeht. Dies wird dadurch glaubwürdig gemacht, dass, als die Stadt Rom oftmals von Barbaren eingenommen wurde, viele adelige Familien, deren hervorragende Stellung ins Wanken geriet, die Stadt Rom verließen und sich in verschiedene Städte Italiens begaben, vor allem nach Siena, Florenz und Venedig, wo die Barbaren anscheinend nicht im selben Maße wüteten, da diese Städte noch jung waren und deshalb nicht so heftigen Widerstand boten. Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb sie meiner Meinung nach lieber in junge als in alte Städte übersiedelten: Männer, die von Geistesgröße beseelt werden, haben sich immer in Städte begeben, die im Aufbau begriffen waren und in denen sie ganz leicht in die Führungsschicht vordringen konnten, wie wir es von den Tarquiniern, Claudiern, Porziern und unzähligen anderen Familien lesen. Picholomineam gentem a Romanis originem traxisse multa sunt indicia. Crebro enim Sylvii et Aeneae vetustissima Albanorum regum nomina, unde Roma ipsa originem et augmentum habuit, huius familie hominibus sunt indita. Et usurpatum a maioribus est ac quasi per successionem posteris traditum hanc gentem, que semper apud Senenses inter optimates est habita, ab urbe Roma originem duxisse. Fidem vero hac in re facit, quod capta persaepe a barbaris Urbe multe ac nobilissime familie in dignitate remote, relicta patria, ad diversas Ytalie urbes sese contulerunt, maxime vero ad Senenses, Florentinos et Venetos, in quos fortasse barbari minus seviebant, quod nove civitates essent quodque ob eam rem eorum viribus parum resisterent. Est et alia ratio, quare existimem eos potius ad novas quam ad veteres urbes commigrasse. Magnitudine siquidem animi ducti ad eas civitates se contulerunt, in quibus coalescentibus adhuc rebus inter principes facillime haberentur, ut de Tarquiniis, de Claudiis, de Porciis deque aliis ferme innumerabilibus lectum est.15
Nach dieser großartigen Abstammungsgeschichte behandelte Platina die Geburt Pius’ II. Hierfür verwendete er die Sätze Campanos, die er erweiterte und verschönerte. Die Geburt eines großen Mannes wurde – so überliefern es die Kaiserbiographien Suetons – durch Vorzeichen angekündigt. Ein Vorzeichen fand Platina in der Pius-Biographie Campanos, am Ende des Charakterporträts. Campanos Situierung geht auf Suetons Kaiserbiographien zurück, wo die Vorzeichen erst am Ende des Textes gebracht werden. Platina stellte bewusst um: Die Vermeldung von Vorzeichen, die die künftige Größe ankündigen, schien ihm nach der Mitteilung des Todes der betreffenden Person wirkungslos. Das Vorzeichen gehört an den Anfang der Biographie: Die Mutter hatte in der Nacht vor der Geburt einen Traum, dass sie ein Kind mit einer Mitra zur Welt bringe. Sie befürchtete, wie die Menschen nun einmal geneigt sind, das Schlechteste zu denken, dass dieser Traum dem Knäblein und der Familie Schande vorhersage, und nichts konnte sie von dieser bangen Vermutung 15
Platina, Vita Pii II P. M. (ed. Zimolo), 93; Zimolo, „La Vita Pii II. P. M.“, 878–879.
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Ein Biographien-Wettstreit im Gefängnis
befreien außer der Nachricht, dass ihr Sohn zum Bischof von Triest ernannt worden sei: Als ihr dieser Bericht überbracht wurde, sagte sie, von aller Furcht befreit, Gott Dank […]. Puerpera per quietem visa est sibi infantem cum mitra parere. Que, ut prone semper in peius mentes hominum sunt, verita est, ne somnium illud puero et familie ignominiam portenderet, neque antea hiuscemodi suspitionem levari potuit, quam audiverit eum Tergestinum episcopum designatum: quo nuncio omni prorsus metu liberata immortali Deo gratias egit […].16
Der Vergleich dieser Stellen zeigt einmal mehr, dass Platina Campano als Vorlage verwendet hat und nicht umgekehrt. Bei Campano traf Platina nur den trockenen Bericht in einem Satz an: „Die Mutter sah in der Nacht vor der Geburt im Traum, dass sie einen Knaben mit einer Mitra zur Welt gebracht habe, und war lange Zeit über das Vorzeichen beunruhigt, bis dass sie hörte, dass Enea zum Bischof von Triest auserkoren worden war“ („Mater nocte posteriore quam pareret visa est in somnis puerum mitratum peperisse, diu graviter sollicita de omine, donec designatum Tergestinis antistitem audivit“).17 Platina hat Campanos Bericht ausgearbeitet: Er legte dar, welcher Art die Befürchtungen der Mutter gewesen seien; er fügte eine Begründung der Furcht („wie die Menschen nun einmal geneigt sind, das Schlechteste zu denken“) hinzu. Weiter lässt sich ersehen, dass er dramatisiert, indem er genau den Augenblick beschreibt, in dem der Mutter der Bericht von der Bischofsernennung des Sohnes überbracht wird – sie bricht spontan in ein Dankgebet aus. In diesen Beobachtungen wird Platinas Darstellungsmethode ersichtlich, die Aufzählung Campanos zur Erzählung umzubilden. Den Vorschriften der Lobbiographie gemäß sollte nicht nur die Familie als solche, sondern besonders der Vater gepriesen werden. Bei Campano findet sich der Zusatz: (der Vater), „der einmal im Krieg Truppen befehligte“. Platina erachtete dies als völlig unbefriedigend: ein schwaches Lobargument, keine Evidenz, keine Erzählung, kein Kausalnexus! Platinas Erfindungskraft erfand die passende Geschichte: Früher hatte er jedoch, indem er sich – um sich nicht der Faulheit und Trägheit auszusetzen – ins diesseitige Gallien begab, eine zeitlang unter Filippo Maria (Visconti, Anm. ), dem Herzog von Mailand, der der Familie günstig gesonnen und mit ihr befreundet war, Kriegsdienst geleistet und dabei Truppen angeführt, obwohl er noch ein Jüngling war. Als er nach ehrhaftem Abschied nach Corsigniano
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Platina, Vita Pii II P. M. (ed. Zimolo) 94; Zimolo, „La Vita Pii II. P. M.“, 879. Campano, Vita Pii II. (ed. Zimolo), 79.
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zurückkehrte, traf er seine Brüder wieder, die unterdessen das väterliche Erbe fast zur Gänze beim Glücksspiel verschwendet hatten.18
Mit wenigen gezielten und wirkungsvollen Pinselstrichen gelingt es Platina, eine plausible Geschichte zu erstellen, was umso bemerkenswerter ist, als sie die Wirklichkeit nur am Rande berührt. Die Freundschaft mit Filippo Maria Visconti ist zum Beispiel reine Erfindung. Weiter hat Enea Silvio selbst in seinen Commentarii zugegeben, dass das Familienvermögen bereits verpulvert war, als sein Vater noch ein Knabe war. Das Problem war gerade, dass der Vater posthum geboren wurde und dass sich die Sachwalter bereits bereichert hatten, bevor er seine Ansprüche hätte geltend machen können. Der Passus zeigt auch gut, auf welche Weise Platina die Autobiographie Pius’ II. verwendete: Als Quelle für Lobargumente, jedoch nicht als Beleginstanz für die veritas historiae. In diesem Stile geht es weiter. Platina überbietet Punkt für Punkt Campanos Darstellung. Campano hatte das biographische Problem, dass Pius II. mit seiner Ausbildung viel zu spät anfing (weil er am Bauernhof des Vaters mitarbeiten musste), auf einfache Weise beseitigt. Platina zeigt eine viel eindrucksvollere Erfindungskraft, indem er den kleinen Enea zu einem frühreifen Kind umgestaltet: „Noch bevor er das Alter erreicht hatte, in dem Kinder etwas lernen können, erlernte er in Corsigniano mit seinem einzigartigen Gedächtnis und seiner unübertroffenen Auffassungsgabe die lateinische Grammatik, während er auf so kärgliche und sparsame Weise leben musste, dass er gezwungen war, alle Arten bäuerlicher Arbeit zu verrichten“(!). Platinas superiore Erfindungsgabe schmiedete jede Schwachstelle aus Pius Leben in der Literaturfabrik der Engelsburg zu einem doppelten Lobargument um. Den literarischen Wettkampf gegen Campano, den er vom Gefängnis aus führte, gewann Platina haushoch. Der eigentliche Verlierer war aber Paul II., der von der biographischen Propagandistik der Römischen Akademie doppelt vernichtet wurde.
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Zimolo, „La Vita Pii II. P. M.“, 879.
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Marullos lyrische Autobiographik
XIV. Todessehnsucht am Schwarzen Meer: Michael Marules’ lyrische Autobiographik im „Exilgedicht“ („De exilio suo“; 1489/90; 1497) und anderen Gedichten 1. Einleitung. Psychologisches Selbstporträt eines suizidalen Erlebnislyrikers? Der Grieche Michael Marules (Michele Marullo, Michael Tarchaniota Marullus, ca. 145?–1500; Abb. 7), einer der faszinierendsten neulateinischen Lyriker, hat ein erschütterndes Gedicht hinterlassen, in dem er seine Existenz als Verbannter darstellt:
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Was hilft es schon, dass so oft ich entglitt den Ketten der Feinde, Dass so oft ich entriss mich dem sicheren Tod? Wahrlich nicht, um am Leben zu bleiben als einziger meines Geschlechtes, Um, ein gefühlloser Stein, zu überleben mein Vaterland! Wahrlich nicht, weil ich nicht genug bereit wär’ mein Leben zu verachten, Nicht bereit wär’, den Tod vorzuziehn dem Exil! Sondern auf dass nicht der Abkömmling des alten Geschlecht des Marules – noch ein Knab’ – Würd’ zum Sklaven gemacht, würd’ vom Feinde verschleppt. Wenn aber jetzt vom Vaterland fern, entlegen im Skythischen Erdkreis, – Schande! – die hochmütigen Befehle des Bessen ich duld, Duld’ seine wilde Gewalt und seine herrische Macht, wenn meine „Freiheit“ hier nichts weiter ist als ein inhaltslos’ Wort, Dann wär’ es besser gewesen, dem grausamen Tyrannen als Sklave zu dienen, Tragen mit dem Vaterland allen Schmerz, alle Qual! Groß ist es, wenn man die alten Grabmale, die Ehrenmale der Väter Anschaun kann, wie sie ein Amt ans andere gereiht, Groß ist es, wenn man des Vaterlands Luft bis zum letzten Zug atmet, Groß, wenn in der Ferne man nicht wird zu der Fremden Spielball. Denn sobald als Verbannter man fremden Boden betreten, Verliert man seine Ehr’ und das väterlich’ Haus,
Selbstporträt eines suizidalen Erlebnislyrikers?
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Abb. 7: Alessandro Botticelli, Michele Marullo. Holz auf Leinwand übertragen, 49 mal 53 cm; Barcelona, Colección Guardans-Cambó
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Marullos lyrische Autobiographik Weder der Adel zählt noch, noch die Abkunft von uralten Ahnen, Noch sein Geschlecht, das auf uralte Ämter ist stolz. Damals, als das Vaterland noch ein mächtiges Reich war – ich erinnere mich genau – Damals nahm auf uns als Gast gar zu gern alle Welt!
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Ach, damals hätten wir, ob Knaben oder Greise, unsre Seele Aushauchen müssen und nicht festhalten das Leben für solches Elend! Damals hätten wir uns auf die Tugend unserer Vorfahren müssen besinnen, Willig in Verwundungen uns, stürzen in den schönen Tod. Damals hätten wir unsere Freiheit verteidigen solln mit nichts als der Kriegskunst der Väter! Das wär’ der einzige Weg für uns gewesen zum Heil! Hol’ doch der Teufel den, der als erster in die Kriegskunst die Masse eingeführt hat! Wie klein die Schar, ist gleichgültig, wenn sie nur standhaft und treu. Wie klein die Schar, ist gleichgültig, wenn der Ritter fürs Vaterland ficht und Keine Angst kennt und sich wirft mutig ins Getümmel der Schlacht, Wenn seine Gattin ihn, seine lieben Kinder, sein eigen Haus anspornen Und fromme Sorge um den Vater, der schwach ist und krank. Welcher Wahnsinn, wenn sich das Vaterland, umzingelt von Feinden, Fremden Männern zum Schutz gutgläubig blind anvertraut, Seiner Bürger Reihen vermischt mit Ligurischen Söldnern, Und nicht darauf vertraut, dass ihm griechische Waffen genug! Jener Söldner, der war in Wahrheit der Feind, der den reichen Bosporus erobert hat, Der hat geraubt den Besitz der eroberten Stadt, Der hat die Kirchen, Ikonen gebrandschatzt, der hat das Feuer gelegt, Der hat das Römische Reich ausgeliefert dem Türk’! Nicht das Schicksal hat Schuld – für die eigne Schuld müssen büßen Wir, weil selber wir blöd, blöd unser Anführer war. Für diese Schuld büßen wir Elende und werden lange noch büßen, Solang uns das Schwarze Meer und unsre Tränen verzehrn/erniedrigen. Quid iuvat hostiles totiens fugisse catenas Atque animam fatis eripuisse suis? Non ut cognati restarem sanguinis unus, Crudelis patriae qui superesse velim, Nec quia non animus lucis contemptor abunde est Et velit exilium vertere posse nece, Sed ne progenies servire antiqua Marulli Cogerer indigno tractus ab hoste puer. Si tamen a patria Scythico procul orbe remotus, Heu facinus, Bessi iussa superba fero Imperiumque ferox patior dominumque potentem Nec nisi libertas nomen inane mea est, Utilius fuerat duro servire tyranno Cumque mea patria cuncta dolenda pati.
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Est aliquid cineres et tot monumenta vetusta Cernere et imperiis imperia aucta patrum Natalique frui, superest dum spiritus, aura, Et non ignotis ludibrium esse locis: Scilicet exuitur generis decus omne domusque, Cum semel ignotam presseris exul humum, Nec iam nobilitas nec avum generosa propago Aut iuvat antiquis fulcta domus titulis. At certe memini, patriae quondam dum regna manebant, Hospitio totus, qua patet, orbis erat. Tunc, ah, tunc animam pueri exhalare senesque Debuimus, tantis nec superesse malis; Tunc patrii meminisse animi et virtutis avitae Inque necem pulchris vulneribus ruere, Nec libertatem patrio nisi Marte tueri: Haec via quaerendae certa salutis erat. O pereat numerum primus qui fecit in armis! Quantulacunque sat est, dum modo certa manus, Quantulacunque sat est, patriis ubi miles in armis Saevit et adversum non timet ire globos, Et modo coniugium, modo pignora cara domusque Excitat, effoeti nunc pia cura patris. Quis furor est patriam vallatam hostilibus armis Tutantem externis credere velle viris Civilesque manus Ligurum confundere signis Et sua non Graecis tela putare satis? Ille, ille hostis erat, ille expugnabat opimum Bosphorum et captas diripiebat opes, Ille deos et fana miles igni dabat, ille Romanum in Turcas transtulit imperium: Nec nobis tam fata deum, quam culpa luenda est Mensque parum prudens consiliumque ducis. Hanc igitur miseri luimus longumque luemus, Dum nos Euxinus et lacrimae minuant.1
Alessandro Perosa druckt den Text in seiner kritischen Gesamtausgabe der Gedichte des Marullo (Michaelis Marulli Carmina, Zürich 1951, 71–73) nach dem letzten Druck, der noch zu Lebzeiten des Dichters vorgenommen wurde (Florenz, Societas Colubris, 1497). Die Anthologien, in denen man denselben lateinischen Text ohne kritischen Apparat findet, sind ihm hierin nachgefolgt: Poeti Latini del Quattrocento, 974 und 976; A. Perosa – J. Sparrow (Hrsg.), Renaissance Latin Verse. An Anthology, London 1979, 110–111 („A poet in exile“) und F. J. Nichols (Hrsg.), An Anthology of Neo-Latin Poetry, Yale U. P. 1979, 304 und 306. Natürlich ist es legitim, den Text des Autors von letzter Hand zu drucken. Da jedoch für die Erklärung dieses Gedichts der engere historische Kontext wichtig ist, verdient es den Vorzug, hier zunächst den Text zu verwenden, wie er in zwei Handschriften vorliegt, die der gedruckten Ausgabe vorausgehen: Florenz, Codex Riccardianus 915
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Marullos lyrische Autobiographik
Dieses Gedicht übt auf den modernen Leser eine starke Wirkung aus: Ein ergreifender Gefühlsausbruch scheint sich darzubieten, eine spontane, treffende psychologische Selbstskizze vorzuliegen, am Schwarzen Meer im Exil hingeworfen, in der der Dichter seiner Verzweiflung über den Verlust des Vaterlandes freien Lauf lässt; ein Verlust, der anscheinend auf eine traumatische Erinnerung zurückzuführen ist: wie das Vaterland des Dichters erobert wurde und in Flammen aufging, während er, statt zu kämpfen, mit den Seinen floh. Das Gedicht scheint ein äußeres und inneres ‚Erleben‘ abzubilden und einen authentischen Bericht vom Seelenzustand des Verfassers zu liefern. So wurde das Gedicht von den meisten Interpreten des 20. Jahrhunderts aufgefasst, u.a. von Benedetto Croce, John Sparrow, Ivo Bruns, Alessandro Perosa, Georg Luck und Carol Kidwell. Nach diesen Interpreten stellt es ein Jugendgedicht des heimatlosen Konstantinopolitaners dar, der sich zum Zeitpunkt der Abfassung in „Bessarabia“ (Moldawien) und „in the districts bordering upon the Black Sea“ aufgehalten haben soll.2 Nach Georg Luck hat Marullos „ganze Erscheinung, sein ganzes Leben etwas Romantisches an sich. […] Mit den Eltern musste er als Kind vor dem Ansturm der Türken fliehen und allen Besitz zurücklassen“, wobei ihn „sein rastloses Wander- und Söldnerleben […] bis ans Schwarze Meer führte. Er hat unter den Skythen gelebt und sogar wie Ovid in ihrer Sprache gedichtet“.3 Bei Perosa-Sparrow wird das Gedicht mit dem empathischen Titel „A Poet in Exile“ präsentiert. Der Aufenthalt Marullos4 am Schwarzen
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und Codex Riccardianus 971. In der deutschen Übersetzung wurde versucht, den lateinischen Text, so weit es ging, in dasselbe Metrum zu übertragen, um einen Eindruck von der Satzmelodie zu vermitteln. An einigen Stellen, wo die genaue Beachtung des Metrums der Wiedergabe des Sinns im Wege stand, wurde jedoch bewusst darauf verzichtet. Für eine Interpretation des Gedichts s. J. Haskell, „The Tristia of a Greek Refugee: Michael Marullus and the Politics of Latin Subjectivity after the Fall of Constantinople (1453)“, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 44 (1998), 110–136. Für Marullos Dichtung vgl. auch F. Nichols, „Greek Poets of Exile in Naples: Marullus and Rhallus“, in: Ut granum sinapis: Essays on Neo-Latin Literature in Honour of Jozef Ijsewijn, Leuven 1997, 152–170. Haskells Interpretation stimme ich in einigen Punkten zu. Die Problematik, mit der man sich bei der Interpretation dieses Gedichts auseinandersetzen muss, ist, wie sich zeigen wird, jedoch noch komplexer. Perosa und Sparrow in ihrem Renaissance Latin Verse, 110, Anm. Zu Z. 9–10; Kidwell, Marullus, Kapitel 3 „Scythia“ und 4 „Crimea“, 31–53. G. Luck, „Marullus und sein dichterisches Werk. Versuch einer Würdigung“, in: Arcadia 1 (1966), (31–49) 31–32. Im Folgenden wird die italienische Namensform „Marullo“ verwendet.
Selbstporträt eines suizidalen Erlebnislyrikers?
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Meer wird von den meisten Biographen als historisches Faktum attestiert: „Around 1470 he served against the Turks in Bessarabia and other regions near the Black Sea. He returned to Italy around 1480“.5 Die Wirkung des Gedichts auf den modernen Leser sowie die Neigung, dasselbe als authentische psychologische Selbstskizze zu interpretieren, wird dadurch verstärkt, dass vom Thema Exil ein starker Appell ausgeht. Exilliteratur ist im 20. Jahrhundert als Literatursorte begrifflich festgelegt geworden, besonders in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, als die hervorragendsten deutschen Schriftsteller, jüdische und nichtjüdische Autoren gleichermaßen, Stephan Zweig, Franz Werfel, Thomas Mann, Robert Musil und viele andere Hitlerdeutschland verließen. Momente des Erkennens bieten sich dort an, wo das Gefühlsleben der Exilierten angesprochen wird. Ins Exil hat man sich in der Hoffnung begeben, dass sich in absehbarer Zeit etwas ändern würde und man zurückkehren können würde. Dass sich nichts ändert, ruft Ungeduld und Verzweiflung hervor. Wie lange soll man noch untätig warten? Ungeduld und Verzweiflung können in Aggression umschlagen, die sich gegen das Unterdrückerregime oder auch gegen das Fehlverhalten der eigenen Leute richtet. Der Exilliterat fühlt sich von der Heimat abgeschnitten, in der Fremde verloren. Seine Identiät und sein Selbstbewusstsein sind angegriffen. Das Leben scheint seinen Sinn verloren zu haben. Der seiner Heimat Beraubte hat die Lust am Leben eingebüßt. Hinzu treten Schuldgefühle: Was hat er getan, um seine Heimat zu verteidigen? War es nicht Feigheit, die zur Flucht riet? Was ist mit den Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten, die er in der Heimat zurückgelassen hat? Er befindet sich in Sicherheit, während sie vielleicht eingekerkert sind und gefoltert werden oder vielleicht gar nicht mehr am Leben sind. Da tritt ein Selbstrechtfertigungsbedarf auf, wenn Depressionen seine Einlösung überhaupt zulassen. Die Fremde schmerzt, Schuldgefühle bedrängen. Wäre es nicht besser, man wäre in der Heimat geblieben und hätte alles Leid mit ihr geteilt? Was zählt das Leben unterm Strich? Selbstmordgedanken kommen auf und quälen den im Exil Lebenden. Die ganze Gefühlsskala des im Exil Lebenden hat Marullo offensichtlich mit erstaunlicher Treffsicherheit und subtiler Selbstbeobachtungsgabe aufgezeichnet. Er fühlt sich in der Fremde seiner Identität beraubt: Die Ehre seiner Familie, ihre Titel und Ämter, sowie die Werte, die sie repräsentierte, alles ist verloren gegangen (Z. 15–24). In der Fremde ist 5
Th. B. Deutscher, „M. Marullus Tarcaniota“, in: CE, Bd. II, 398.
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Marullos lyrische Autobiographik
man im Grunde ein Nichts, man zählt nicht mit (Z. 19–22). Das Exil hat keinen Wert, weil es auch dort keine Freiheit gibt: „Freiheit“ ist nur ein sinnentleertes Wort (Z. 12). Marullo darbt unter einem üblen Potentaten, mitten in der Barbarei, in der als kulturlos erfahrenen Fremde (Z. 9–11). Auch die Aggression des Exilierten ist erkennbar: gegen die Feinde, deren Herrscher Marullo als „grausamen Tyrannen“ bezeichnet (Z. 13), gegen die eigenen Leute, die nicht tapfer und klug genug gekämpft haben, gegen den eigenen Herrscher, dem eine fatale taktische Fehleinschätzung unterlaufen ist, sowie gegen ausländische Söldner, die die Vaterstadt, statt sie zu verteidigen, an den Feind verraten haben. Nicht zuletzt richtet sich die Aggression des Marullo gegen sich selbst. Er wird von Schuldgefühlen gequält. Er betrachtet es als seine Schuld, dass er sich nunmehr im Exil befindet (passim, bsd. Z. 45–48): Er hat damals, als sein Vaterland erobert wurde, nicht tapfer genug gekämpft. Wenn er damals den Heldentod gestorben wäre, hätte er sich das jetzige Elend erspart (Z. 25 ff.). Überhaupt behauptet er, dass ihn sein eigenes Leben nicht mehr viel kümmert: Er ist offensichtlich gerne bereit, sein Exil gegen den Tod einzutauschen (Z. 5–6). Dieser Satz weist auf Marullos Todessehnsucht hin; anscheinend trägt er sich mit Selbstmordgedanken.6 Der innere Schmerz zehrt ihn auf. Es hat den Anschein, dass der Dichter Depressionen zum Opfer gefallen ist (Z. 47–48). Das Gedicht scheint den Sinn zu haben, die Gefühle, die Marullo zum Zeitpunkt der Abfassung quälten, festzuhalten, zunächst für den Dichter selbst und in zweiter Instanz für ein vages Publikum, das jedoch desto mehr in den Hintergrund rückt, als der Autor sowohl von der Heimat weit entfernt ist als auch in dem Gedicht offensichtlich jede Hoffnung auf Rückkehr aufgegeben hat. Die autobiographische Selbstexpression erscheint als Selbstzweck. In diesem Sinn wurde der Dichter Marullo von einer Reihe von Interpreten, zum Beispiel von Sparrow, Croce, Bruns, Luck, Kidwell, verstanden: Ein Dichter, der seine „innersten Gefühle“ („inmost feelings“) mit völliger Natürlichkeit („absolute naturalness“) und Aufrichtigkeit zum Ausdruck bringt.7 Marullo teilt 6
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Die Selbstmordgedanken registriert auch Haskell, „The Tristia of a Greek Refugee“, 119 („the elaborate ‚death wish‘ of the opening lines“), obwohl sie zu Recht feststellt „the poem is a labour of self-construction“ (ebd.). J. Sparrow, „Latin Verse of the High Renaissance“, in: E. F. Jacob (Hrsg.), Italian Renaissance Studies. A Tribute to the Late Cecilia M. Ady, London 1960 (354–409), 388: „If we are looking for a writer to whom that language came with absolute naturalness, and who used it in poetry with the greatest effect when […]
Selbstporträt eines suizidalen Erlebnislyrikers?
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uns mit größtem Ernst und größtmöglicher Wahrhaftigkeit die Geheimnisse seiner Seele mit, bezaubert lauschen wir „der Stimme seines Herzens“ („voci dell’anima“), wie es Benedetto Croce einprägsam benannt hat.8 Nach Bruns hat Marullo das „Skizzenbuch eines Poeten“ hinterlassen, „in dem jeder Eindruck, der flüchtig-heitere wie der nachhaltigleidenschaftliche, Aufnahme findet“.9 Croce meinte, dass Marullo aufgrund der alles überragenden Aufrichtigkeit seiner „voci dell’anima“ auf die gebräuchlichen Kunstmittel der (neu)lateinischen Dichtkunst verzichtet hat. Wir haben hier anscheinend einen Dichter vor uns, der in seiner Wahrhaftigkeit und seiner Selbstentblößung weit über seine Zeitgenossen hinausragt, für den der moderne Geniebegriff Gültigkeit besitzt. „De exilio suo“ ist das Musterbeispiel dieser romantischen Poetik. In dem Gedicht scheinen den Dichter seine Gefühle so mitzureißen, dass er sein Publikum vergisst. Der Dichter scheint keine rhetorisch-persuasiven Absichten zu verfolgen, weder in Bezug auf andere Personen noch auf sich selbst. Wie besonders die letzten Zeilen prägnant vorführen, hat er das Vertrauen auf eine bessere Zukunft verloren. Er wird in der Fremde langsam vom Schmerz verzehrt – die einzige Weise, darauf zu reagieren, ist für ihn, dem Gefühlsdiktat zu gehorchen: die Gefühle, die in ihm aufwallen, in aller Wahrhaftigkeit zu registrieren. Nach Georg Luck bringt die Elegie „eine tiefe Melancholie, eine nie erfüllte Sehnsucht nach dem Land seiner Väter zum Ausdruck“.10 Das Gedicht agiert nicht, es registriert lediglich den augenblicklichen Seelenzustand. Das passt zu der ausweglosen Lage, in der sich der Dichter befindet. Lethargisch wird er leiden und büßen, „solang uns das Schwarze Meer und unsre Tränen verzehrn“ (Z. 48). Selbstmordgedanken erscheinen in diesem Zusammenhang besonders treffend. Realität und Dichtung scheinen auf magische Weise miteinander zu verschmelzen, wobei der Suizid, die grausige Option des Exils (man denke etwa an Stefan Zweigs Selbstmord in Brasilien im Jahre 1942), drohend am Horizont auftaucht.
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he was uttering his inmost feelings, we may turn to Michele Marullo“. B. Croce, Michele Marullo Tarcaniota, Bari 1938, passim. Croce, Michele Marullo Tarcaniota, zustimmend zitiert von J. Sparrow, „Latin Verse of the High Renaissance“, 391. I. Bruns, „Michael Marullus – Ein Dichterleben in der Renaissance“, in: Preussische Jahrbücher 74 (1893), 105 ff. und in: Th. Birt (Hrsg.), Ivo Bruns. Vorträge und Aufsätze, München 1905, 380–412. Luck, „Marullus und sein dichterisches Werk“, 35.
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Marullos lyrische Autobiographik
2. Literarische Ehrenrettung eines Kampfverweigerers? Marullos Exilgedicht in die Aeneis Wie las ein gebildeter, humanistischer Leser aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts dieses Gedicht? Zunächst war er nicht geneigt, Texte – auch wenn es sich um Lyrik handelte – im Sinne von Selbstexpression als Selbstzweck bzw. als ‚Erlebnisdichtung‘ zu interpretieren. Einerseits war er von einer rhetorisch orientierten literarischen Kultur geprägt, die von der antiken Literatur – einer Literatur, in der Rhetorik alle Textgattungen durchwirkte – gespeist wurde. Schon von da her glaubte er nicht an Autobiographik als Selbstzweck oder reine Selbstexpression. Andererseits war sein Gespür für Intertextualität stark ausgeprägt, wobei er durch die frühneuzeitliche Art des Lernens stets einen großen Textvorrat auf Abruf bereit hatte. In seiner Perzeption von Texten ließ er sich – was in der literarischen Kultur, in der er operierte, höchst sinnvoll war – von intertextuellen Anbindungen steuern. Der erste Satz des Textes vermittelt einen solchen steuernden Hinweis: Der Leser erkannte, dass dieser Satz eine Variation von Vergil, Aeneis X, 55–56, bildet. Dieser Satz stammt aus einer Rede. Es kostete den Leser, der ein gutes Wortgedächtnis hatte, kaum Mühe, die Stelle zu orten und ihren Kontext aufzurufen: Zu Anfang des zehnten Buches beruft Jupiter eiligst den Götterrat ein; Latium steht vor dem Ausbruch des Krieges zwischen den Trojanern und den Rutulern. Venus hält eine Rede, in der sie die Sache der Trojaner verteidigt. Sie bearbeitet Jupiter mit Zuckerbrot und Peitsche, das heißt sie erweckt Mitleid (miseratio) für die Trojaner und bringt ihre Empörung über deren augenblickliche Lage zum Ausdruck (indignatio). Beide rhetorischen Strategien haben die Aufgabe, Jupiter zu überreden, das Überleben der Trojaner zu gewährleisten. In dem Satz „Was half ’s dem Verderben des Kriegs zu entrinnen, / Dass es gelang, mitten durch die Feuer der Griechen zu fliehen / Und so viele Gefahren zu Wasser und zu Lande bestanden zu haben?“ treffen beide Strategien zusammen. Diese Stelle steuert die Perzeption des frühneuzeitlichen Lesers: Er wird das Gedicht nunmehr als rhetorischen Text lesen, der – wie Venus’ Rede – die Sache von Leuten vertritt, die im Exil leben müssen; als rhetorischen Text, in dem die Situation der Exilierten moralisch gerechtfertigt wird; wohl auch, dass bei diesem Plädoyer die Strategien der Mitleidsrede (miseratio) und der Empörungsrede (indignatio) eine Rolle spielen
Marullos Exilgedicht in die Aeneis
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werden. Weiter wird der frühneuzeitliche, humanistische Leser aufgrund der intertextuellen Anbindung Marullo und die Seinen von der ersten Zeile an mit Aeneas und seinen Kameraden identifizieren. Von einer Identifikation mit Aeneas geht ein gewaltiger Legitimierungsschub aus: Aeneas ist für den frühneuzeitlich-humanistischen Leser das Tugendexempel schlechthin. Mehr spezifisch ist Aeneas das Tugendvorbild aller aus dem Vaterland Vertriebenen. Auch Aeneas ist aus einer eroberten und brennenden Vaterstadt geflohen. Er stellt gewissermaßen den moralischen Präzedenzfall dar: Mit seiner Hilfe kann gezeigt werden, dass es moralisch vertretbar ist, aus einer Vaterstadt, die erobert wird, zu fliehen. In einem anderen, „De exilio suo“ vorhergehenden Exilgedicht hat sich Marullo nicht nur mit Aeneas identifiziert, sondern ihn ausdrücklich als Exempel zur Rechtfertigung seiner „Flucht“ angeführt (Epigrammata II, 16): Weder als erster noch als einziger erleide ich dieses Schicksal [nml. der Verbannung, Anm.]: Oft hat diese Katastrophe große Männer bedrückt. Wenn ich schon als einer gelte, der wenig Glück gehabt hat, so doch sicherlich auch als einer, der schuldlos ist: Schuld, für die man sich schämen muss, bringt mehr Schande ein als der Verlust. So hatte einst der fromme Aeneas, so hatte einst Teucer ergriffen die Flucht, Und dennoch vergaßen beide nicht, auf der Flucht zu leben Und sie schämten sich nicht, mit reichlichem Wein ihre Zunge zu lösen Und sich auf die parfümierten Haare einen Kranz zu setzen. Non ego vel primus patior vel talia solus: Saepe premit magnos ista ruina viros. Utque parum felix, certe sine crimine dicor: Turpior est damno culpa pudenda suo. Sic pius Aeneas, sic Teucer fugerat olim Et tamen in media vixit uterque fuga Nec puduit nimio linguam movisse Lyaeo Et madidam sertis implicuisse comam (7–14).
Es geht hier um Flucht, Scham, Schande und Schuld. Aeneas legitimiert in diesem Gedicht Marullos Existenz als Verbannter: Wie Aeneas ist Marullo schuldlos. Aeneas gibt das Exempel ab, dass es legitim ist, die Flucht ergriffen zu haben und im Exil weiterzuleben. Es liegt keine Schande vor, die so groß ist, dass man nicht weiter leben könne. Es wird dem Verbannten sogar erlaubt, ab und zu Spaß zu haben und sich zu entspannen.
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Marullos lyrische Autobiographik
In diesem Sinn verortet der frühneuzeitliche, humanistische Leser, der von der steuernden Intertextualität ausgeht – ohne genaue Kenntnisse von den Einzelheiten des historischen und biographischen Kontextes zu besitzen, das autobiographische Problem des Marullo, in Bezug auf das sich dieser offensichtlich rechtfertigen möchte: Wie Aeneas ist Marullo in „De exilio“ aus der brennenden Vaterstadt geflohen, hat verzichtet, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Marullo sagt seinen Lesern: Seht her, meine Situation war wie die des Aeneas, ich bin unschuldig. Zur seiner Entlastung trägt weiter bei, dass andere Schuld haben: seine Mitbürger, sein Herrscher, der die Vaterstadt Söldnern überantwortet hat (Z. 37–40; 45–46) und schließlich die Söldner, die die Stadt verraten und angezündet haben (Z. 41–44). Das Exempel des Aeneas speist die Rechtfertigungsstrategie, die der frühneuzeitliche Leser konstatiert: Auch Troja fiel durch Verrat – Troja durch das Trojanische Pferd, Marullos Vaterstadt durch die treuelosen Söldner. Da Troja einem Verrat zum Opfer fiel, war jeder Versuch, die Stadt zu verteidigen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aeneas war zum Kampf bereit, musste aber einsehen, dass dies keinen Sinn hatte. Aeneas floh also zu Recht und dementsprechend floh auch Marullo zu Recht. Für die Argumentation ist die Kampfbereitschaft des Aeneas ein entscheidender Punkt. Im Vergil-Text wird sie hervorgehoben: „Wie Wölfe“, mit dem Mute der Verzweiflung, stürzen sich Aeneas und einige trojanische Jünglinge auf die Eroberer (Aeneis II, 347 ff.). Erst als nichts mehr hilft, muss sich der Held darauf beschränken, durch Flucht den Vater und den Sohn zu retten. Das Bild des Aeneas, der den geschwächten Vater auf den Schultern aus der Stadt trägt, ist in der lateinischen Literatur zum Sinnbild des Tugendheldentums schlechthin geworden. Der Leser, der das Gedichtbündel, dem das Exilgedicht des Marullo zugehört (das dritte Buch der Epigrammata), linear gelesen hat, ist interessanterweise bereits darauf vorbereitet. Das Gedicht Epigrammata III, 22 ist Aeneas gewidmet: Da der Venusspross die müden Glieder seines Vaters Auf seinen Nacken nahm, mitten durch die Feinde ihn trug, Sagte er zu den Griechen: „Seid’s zufrieden, es bringt wenig Ruhm, einen alten Mann zu erschlagen, Den Vater zu retten jedoch bringt einem großen Ruhm ein“. Cum ferret medios proles Cytherea per hostes Impositi collo languida membra patris, „Parcite“, ait, „Danai! Levis est sene gloria rapto, At non erepto gloria patre levis“.
Marullos Exilgedicht in die Aeneis
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Marullos Aeneas gibt hier den griechischen Eroberern explizit zu verstehen, dass er nach Ruhm strebe. Im Vergleich zum Vergil-Text ergibt sich hier ein merkwürdiger Kontrast. Marullos Aeneas ist so sehr auf Ruhm aus, dass er mit den Griechen redet, gewissermassen über den Ruhm verhandelt, während Vergils Aeneas, als er die Griechen herannahen sah, Hals über Kopf floh und dabei sogar seine Ehefrau Creusa zurückliess (II, 725 ff.). Der frühneuzeitliche Leser wird also auch durch die intertextuelle Vorbereitung in der Epigrammsammlung eingeladen, das Gedicht „De exilio suo“ als Rechtfertigung der Flucht zu lesen. In dieser Interpretation wird er von einem weiteren intertextuellen Hinweis im Gedicht selbst bestärkt: In Z. 5 steht, dass Marullo nicht geflohen sei, weil „sein Geist“ zu wenig „ein Verächter des Lebens“ („animus lucis contemptor“) gewesen sei. Der frühneuzeitliche Leser erkennt, dass Marullo hier Aeneis IX, 205 zitiert (wo sich dieselben Worte an derselben Stelle im Vers befinden) und er verbindet Z. 5 nunmehr mit dem dortigen Kontext: „animus lucis contemptor“ ist ebenfalls einer Rede entnommen, diesmal des jungen trojanischen Recken Euryalus. Dabei geht es – wie schon in den ersten beiden Zeilen – um den Krieg zwischen den Trojanern und den Rutulern. Nisus möchte angreifen, sich auf die Rutuler stürzen; da dies äußerst gefährlich ist, möchte er seinen jungen Freund Euryalus lieber im Lager lassen. Euryalus will jedoch unbedingt mitgehen. Um seine Entschlossenheit jedem Zweifel zu entheben, sagt er: „Dieser hier, dieser Geist ist ein Verächter des Lebens […]“. Indem Marullo Euryalus’ Worte zu den seinen macht, bestätigt und beweist er seinen absoluten Kampfeswillen. Wen dasselbe beseelt wie Euryalus, der kann kein Feigling sein. Jeder frühneuzeitliche humanistische Leser weiß, wie die Geschichte ausgeht: Euryalus zieht mit und fällt im Kampf. Diese Intertextualität verbietet dem frühneuzeitlichen Leser von vorneherein, die Worte „der Geist ein Verächter des Lebens“ und „bereit wär’ den Tod vorzuziehn dem Exil“ als selbstexpressiven Ausdruck suizidaler Gefühle während des Aufenthalts im Exil zu bewerten. Sie bestätigen vielmehr die Interpretation des Gedichts als Rechtfertigungsrede in Bezug auf Marullos Tapferkeit.11
11
In Haskells Interpretation („The Tristia of a Greek Refugee“) spielt die Anbindung an die Aeneis keine Rolle.
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Marullos lyrische Autobiographik
Das Thema des Gedichts „De exilio suo“ sowie sein Metrum drängen den frühneuzeitlichen Leser zu einer weiteren wichtig erscheinenden intertextuellen Anbindung. Er erinnert sich gewissermaßen automatisch an den antiken lateinischen Dichter, der besonders einprägsam von seiner Verbannung berichtet hat (in nicht weniger als neun Gedichtbüchern und insgesamt 6726 Versen): Ovid. In den Gedichtbüchern über seine Verbannung (5 Bücher der Trauergedichte/Tristia, 4 Bücher Briefe vom Schwarzen Meer/Epistulae ex Ponto) verwendet Ovid das Elegische Distichon, dasselbe Metrum, das Marullo in seinem Exilgedicht verwendet. Ovids Verbannungsort (Tomi, heute Constanza in Rumänien) befindet sich am Schwarzen Meer. Die Anbindung an Ovid ruft beim Leser eine mehrfache Wirkung hervor. Zunächst sanktioniert sie das Thema der autobiographischen Beschreibung: ,Exil‘ ist ein erprobtes, und damit legitimes Thema der Autobiographie. Zweitens legitimiert sie die dichterische Form: Das Elegische Distichon ist das richtige Metrum für ein Exilgedicht. Drittens suggeriert sie einen bestimmten Ort des Exils: am Schwarzen Meer. Ohne Genaues zu wissen, denkt der Leser beim Thema des lateinischen Exilgedichts an das Schwarze Meer. Im Text tut Marullo das Seine, diese Anbindung zu bekräftigen. Z. 10 gibt Marullo an, dass er sich bei einem „Bessen“ befindet. Das Ethnikon „Bessen“ („Bessus“, „Bessi“) verweist den Leser direkt auf Ovids Exil: „Wie elend ist es unter den Bessen und Geten zu leben für den, / Der mit seinen Liedern bisher lebte im Munde des Volks!“, ruft Ovid aus (Trauergedichte IV, 1, 67–68).12 Ab Z. 10 geht der frühneuzeitliche Leser deshalb davon aus, dass sich Marullos Exil ebenfalls am Schwarzen Meer befindet. Die letzten Zeilen des Gedichts liefern ihm so etwas wie eine letzte Bestätigung für die Richtigkeit seiner Vermutung: „Solang uns das Schwarze Meer und die Tränen verzehrn/erniedrigen“. Auch Marullos Exil liegt am Schwarzen Meer. Den historischen Kontext teilt Marullo zunächst nicht mit. Über eine weite Strecke des Gedichts kann der frühneuzeitliche Leser höchstens erahnen, von welcher Vaterstadt bzw. welchem Vaterland Marullo redet. Jedoch wird ab Z. 40, mit der Nennung der „Griechen“, und unmittelbar darauf Z. 42, wo von der Eroberung des „reichen Bosporus“ die Rede ist, alles klargemacht: Es geht um den Untergang des Byzantinischen Reiches, um die Eroberung Konstantinopels. Dies wird in Z. 44 nochmals bestätigt, wo die Übergabe des „Römischen Reiches“ (die Byzantiner nannten sich „Romaioi“ – „Römer“) an die Türken („Turcae“) benannt 12
Vgl. weiter die ähnliche Stelle Tristia III, 10, 5.
Dekonstruktion von Marullos Biographie
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wird. Das Gedicht spricht das Ereignis an, das die ganze Christenheit im 15. Jahrhundert in einen Schockzustand versetzt hatte13 und von daher jedem Leser von Neapel bis London ins Gedächtnis eingeprägt war:14 Am 29. Mai 1453 hatte Sultan Mehmed II. durch die Eroberung Konstantinopels das tausendjährige Byzantinische Reich ausgelöscht. Der frühneuzeitliche Leser zieht daraus die Schlussfolgerung, dass der Dichter zu den Griechen gehört, denen es damals gelungen war, aus der Stadt zu fliehen; dass er versucht, sich von dem Feigheitsverdacht freizusprechen; dass in dem Gedicht eine literarische Ehrenrettung vorliegt.
3. Marullos verschiedene Exile von Russland bis Neapel: Dekonstruktion von Marullos Biographie oder die (auto)biographische Relevanz poetischer Geographica Beide Interpretationen des Gedichts, sowohl des modernen als des frühneuzeitlichen Lesers, erliegen einer Täuschung. Um diese zu eruieren, müssen wir uns mit Marullos Biographie und ihrem historischen Kontext auseinandersetzen. In Marullos Fall ist es ausnahmsweise nicht möglich, den Informationsbedarf mit einem kurzen Lebenslauf zu decken. Das von der rezenten biographischen Forschung erstellte Bild (Kidwell und andere) ist dazu zu unsicher. Eine eingehendere kritische Analyse dieses Bildes ist daher unbedingt erforderlich, umso mehr, als die biographischen ‚Tatbestände‘ auf einseitige und irrige Weise aus den Gedichten abgeleitet worden sind. Aus dem autobiographischen Exilgedicht erhält der Leser das Bild, dass Marullo, ein Konstantinopolitaner, die Belagerung der Stadt (April und Mai 1453) auf schmerzliche Weise miterlebte. Wie Luck angibt, musste Marullo „mit den Eltern als Kind vor dem Ansturm der Türken fliehen und allen Besitz zurücklassen“.15 Wie der Dichter behauptet, war er zum Zeitpunkt der Belagerung ein „Knabe“ („puer“, Z. 8), der befürchten musste, dass er von den Feinden als Sklave verschleppt werden würde (Z. 7–8). Der lateinische Begriff des Knaben erstreckt sich über die Zeitspanne von ca. 4 bis ca. 15 Jahren. Da der Knabe Marullo, wie er sagt,
13 14 15
Vgl. S. Runciman, The Fall of Constantinople, Cambridge 1965. J. Harris, Greek Emigres in the West, Camberley 1995, 80–81. Luck, „Marullus und sein dichterisches Werk“, 31.
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vor der Wahl stand, zu fliehen oder bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, kann er damals kein Kleinkind mehr gewesen sein. Diesen Angaben zur Folge muss er mindestens 8 bis 10 Jahre alt gewesen sein. Marullo suggeriert zudem, dass er damals bereits im Stande war, die politischen Verhältnisse zu verstehen: In Z. 23 sagt er, dass er sich „klar daran erinnert“ („certe memini“), wie damals, als das Byzantinische Reich noch existierte („dum regna manebant“), die Byzantiner überall auf der Welt gern gesehene Gäste waren. Er präsentiert also den politischen Zustand vor 1453 als authentische Erinnerung.16 Damit wird nahegelegt, dass er damals mindestens 12 Jahre alt gewesen ist. Diese Angaben zusammengenommen suggerieren somit, dass Marullo jedenfalls vor 1445 und wahrscheinlich vor 1441 geboren wurde. Seine Fluchtwege müssen sehr gefährlich gewesen sein, weil er, wie er sagt, viele Male der Gefangennahme durch die Türken um Haaresbreite entging (Z. 1–2). Seine Flucht führte ihn ins Reich „des Bessen“. Das Ethnikon „Bessen“ („Bessi“, „Bessoi“) bezeichnet in der antiken Literatur eine weitverzweigte Völkerschaft in Thrakien zwischen dem Oberlauf des Hebros17, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer, mit einem gewissen Kerngebiet zwischen Svilengrad (Bulgarien), dem Rodopi-Gebirge (heutiges Griechenland) und Plovdiv (Bulgarien) am Oberlauf des Hebros.18 Das dergestalt vage umrissene Stammesgebiet wurde von Ovid nochmals um ein- bis zweihundert Kilometer nach Nordwesten verlegt: Er verwendet „Bessi“ in seinen Exilgedichten in Bezug auf Tomi (Constanza) am Schwarzen Meer in der Dobrudscha, im heutigen Rumänien. Trotz der vagen geographischen Lokalisierung von „Bessi“ in der antiken Literatur bereitet die Anwendung auf Marullos Exilgedicht einige zusätzliche Schwierigkeiten: Denn alle Gebiete, die man üblicherweise mit dem Ethnikon „Bessen“ assoziierte, zwischen dem Oberlauf des Hebros, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer, gehörten damals längst zum Osmanischen Reich; an der Marica befand sich sogar seine Hauptstadt Adrianopel: Eine Flucht dorthin wäre einem Selbstmordversuch gleichgekommen.
16
17 18
Später, in der letzten Ausgabe seiner Epigrammata (1497), hat er diesen authentischen Erinnerungsanspruch jedoch gestrichen, indem er „certe memini“ durch „at certe“ ersetzte. Heute Marica (Bulgarien), Meric Nehri (Türkei) oder Evros (Griechenland). Der Hauptort des Stammes war Bessapara, ca. 22 km von Plovdiv (Philippoi) entfernt. Für die Bessen siehe Oberhummers Artikel in: RE III, Sp. 329,46–331,10, s.v. „Bessoi“; KP I, Sp. 872,52–873,5, s.v. „Bessoi“.
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Mit „Bessen“ muss Marullo also ein Gebiet gemeint haben, das noch weiter vom Stammesgebiet entfernt ist als Ovids Tomi. Das wäre insofern zu billigen, als frühneuzeitliche Schriftsteller wahrscheinlich ein noch weniger klares Bild vom Stammesgebiet der Bessen hatten als schon die antiken Autoren. Da es sich um einen Zufluchtsort handelt, muss es ein Gebiet betreffen, das sich außerhalb des Osmanischen Reiches befand. Das könnte auf das Fürstentum von Moldawien zutreffen, das weite Gebiete des heutigen Rumänien nördlich der Donau, des heutigen Moldawien und der Ukraine umfasste. Moldawien ergäbe eine mögliche Fluchtrute: Man konnte von Konstantinopel übers Schwarze Meer dorthin gelangen (der Landweg war natürlich ausgeschlossen). Somit wäre der acht- bis fünfzehnjährige Marullo 1453 aus der belagerten Stadt übers Schwarze Meer nach Moldawien bzw. „Bessarabia“ geflohen. Im Fürstentum von Moldawien darbte der Jüngling dahin, unter einem harschen Herrn. Man kann sich vorstellen, dass Marullo unter der deprimierenden Situation litt und, hinterher betrachtet, lieber in Konstantinopel gestorben wäre. Es erscheint plausibel, dass er seine verzweifelte Lage in diesen Zeilen festlegt. Dieses an sich konsistente und nachvollziehbare Bild birgt für den modernen Leser, wenn er frühneuzeitliche Autobiographik als Texte definiert, die historisch wahre und überprüfbare Fakten übermitteln, die beunruhigende Überraschung, dass es nicht einmal in den Grundzügen mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wenn der Text auf diese Weise im Exil entstanden sein soll, wäre schon die Tatsache unverständlich, weshalb er in lateinischer Sprache abgefasst ist. Wo hätte der griechischsprachige Jüngling so schönes Latein gelernt? Im ziemlich unzivilisierten Moldawien? Dort gab es damals keinen Lateinunterricht. Wie IJzewijn in seinem Companion feststellt, kam eine Art lateinischer Bildung in Moldawien erst im 18. Jahrhundert auf.19 Und für welches Publikum hätte Marullo überhaupt lateinisch schreiben wollen? Seine Familienmitglieder und eventuell mitgeflüchteten Bekannten sprachen allesamt Griechisch, die Moldawier Slawisch. Noch überraschender ist die Tatsache, dass Marullo, als Konstantinopel erobert wurde, noch nicht einmal geboren war! Er kam erst nachher,
19
CNLS, 223.
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frühestens 1454, wahrscheinlich jedoch später (1457–1458) zur Welt.20 In einem anderen Gedichtbuch teilt er mit, dass er, als sein Vaterland versklavt wurde, „kaum noch ein Samen im Leib der Mutter war“ (Epigrammata II, 65–66). In romantisch-historisierenden Interpretationen hat man dies als chronologisch konkrete Angabe aufgefasst: Demzufolge wäre Marullo ungefähr zu der Zeit, als Konstantinopel erobert wurde, gezeugt worden. Vom 29. Mai ausgehend würde sich damit ein Geburtsdatum im Februar oder Anfang März 1454 ergeben.21 Ich meine aber, dass Marullo mit der poetischen Umschreibung keine genaue Konkretisierung beabsichtigte. „Kaum noch ein Samen im Leib der Mutter“ bedeutet nichts weiter, als dass er damals noch nicht gezeugt war. Demnach kann Marullo genausogut später zur Welt gekommen sein. Ein bestimmtes Geburtsjahr können wir nicht mit Sicherheit eruieren. Klar ist aber soviel, dass Marullo geraume Zeit nach dem Fall von Konstantinopel geboren wurde. Daraus ergibt sich weiter, dass er – entgegen den Standardangaben, die zu Marullos Lebenslauf gemacht werden22 – nicht in Konstantinopel zur Welt kam. Sein Freund, der neapolitaner Dichter Jacopo Sannazaro, bestätigt dies: Er nennt Marullo (ohne rhetorisch-mythologische Ausschmückung) einen „Spartaner“ („Spartanus“). Damit deutet er an, dass der Freund im Spartanischen Paläologenstaat, unter Demetrios Palaiologos 20
21
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Allgemein wird angenommen, dass Marullo Ende 1453 oder im Laufe des Jahres 1454 geboren ist. McGann hat in seinem Aufsatz „1453 and all that: The End of the Byzantine Empire in the Poetry of Michael Marullus“, in: I. D. McFarlane (Hrsg.), Acta Conventus Neo-Latini Sanctandreani. Proceedings of the Fifth International Congress of Neo-Latin Studies, Binhamton N. Y. 1986, 145–151 argumentiert, dass Marullus erst 1461 geboren sei. Obwohl diese Datierung nicht überzeugend ist, finden sich in McGanns Aufsatz wertvolle Hinweise. Ein wichtiger Fortschritt ist, dass der Aufsatz Zweifel an Marullos Geburtsjahr angemeldet hat. Carol Kidwell (Marullus. Soldier Poet of the Renaissance, London 1989), die in ihrer Marullo-Biographie die Gedichte des Griechen einseitig als historische Datenbank auswertete, hat bei ihrer konkretiserenden Interpretation der Stelle der armen Mutter des Marullo merkwürdigerweise eine Frühgeburt unterstellt: „Michael, born in Constantinople probably towards the end of 1453, since he refers to himself as barely conceived at the time of the fall of the city on May 29“ (S. 3). Vgl. z. B. in A. Perosa, J. Sparrow (Hrsg.), Renaissance Latin Verse. An Anthology, London 1979, 107 „M. M. […] was born in Constantinople“; F. J. Nichols (Hrsg.), An Anthology of Neo-Latin Poetry, Yale U. P. 1979, 672: „M. M. […] was born in Constantinople shortly after the city was taken by the Turks in 1453“; Poeti Latini del Quattrocento, 939: „M. M. nacque a Constantinopoli […] intorno al 1453“; Kidwell, Marullus, 3: „Michael, born in Constantinople probably towards the end of 1453“ (Hervorhebungen vom Hrsg.).
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(Despotat Morea), das auch nach dem Fall Konstantinopels weiterexistierte (1453–1460), geboren worden war.23 In welcher Stadt oder Ortschaft Marullo zur Welt kam, ist damit noch offen: Es könnte ein Ort in der Argolis oder vielleicht Mistra gewesen sein, die Residenz des Demetrios24 (s. unten). In Fabricius’ Bibliotheca Latina (V, S. 45) findet sich die Angabe, dass Marullo auf Kreta das Licht der Welt erblickt haben soll. Kreta, damals ein venezianischer Stützpunkt, war einer der Orte, wohin sich griechische Flüchtlinge aus Konstantinopel retteten, zum Beispiel der Gelehrte Argyropulos oder Isidoros der Patriarch von Konstantinopel.25 Allerdings finden sich dazu in Bezug auf Marullo keine weiteren Anhaltspunkte. Deutscher gibt an, dass Marullo in Ancona geboren wurde.26 Dabei muss es sich allerdings um einen Irrtum handeln (s. unten). An welchem Ort genau Marullo auch das Licht der Welt erblickt hat, klar ist jedenfalls, dass es sich nicht um Konstantinopel gehandelt haben kann. Es ist damit von vorneherein ausgeschlossen, dass sich Marullo mit einigem Recht dafür entschuldigen konnte, dass er bei der Eroberung von Konstantinopel nicht tapfer genug gekämpft hatte. Zwischen dem Geburtsdatum, das Marullo im Gedicht „De exilio suo“ suggeriert, und seinem historischen Geburtsdatum klaffen mindestens 8–12 Jahre (!) auf. Konstantinopel hat er nie in seinem Leben betreten, auch später nicht. Weiter floh die Familie des Marullo (der Vater Manilios, die Mutter Euphrosyne und ihre Kinder) keineswegs nach Moldawien oder sonst in eine Gegend des „Schwarzen Meeres“, der „Bessen“ oder des „Skythischen Erdkreises“, sondern in den Westen, mit ziemlicher Sicherheit zunächst auf den Peloponnes. Diese Fluchtroute war sinnvoll und lag aus mehreren Gründen auf der Hand. Der Peloponnes war noch in griechischer Hand und wurde von den beiden Brüdern des letzten Kaisers Konstantin XI., Thomas und Demetrios Palaiologos, regiert.27 Das eine Zentrum, Demetrios’ Re23
24 25
26 27
Jacopo Sannazaro, Elegiarum liber II, 2, Z. 25. Darauf wies richtig McGann, „1453 and all that“, 147, hin. Allerdings meint McGann zu Unrecht, dass dies erst 1461 der Fall war. Damals war Mistra bereits in Osmanischen Händen. Für den Spartanischen Paläologenstaat s. S. Runciman, Mistra. Byzantine Capital of the Peloponnese, London 1980, 82–93, Kap. 8 „The Last Despots“. Vgl. Runciman, Mistra, 82–108. Für Argyropulos’ Flucht nach Kreta s. D. J. Geanakoplos, Constantinople and the West. Essays on the Late Byzantine (Palaeologan) and Italian Renaissances and the Byzantine and Roman Churches, The University of Wisconsin Press 1989, 101. Deutscher, „M. Marullus Tarcaniota“, 398. Runciman, Mistra, 82–93.
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sidenz, lag in Mistra (in der Nähe des alten Sparta), das andere, Thomas’ Residenz, in Karitena, ca. 50 km nördlich von Messini.28 Die Familie von Marullos Mutter, die Tarchaneiotai, war mit den Palaiologen eng verbunden. Der Vater der Mutter, Michael Tarchaneiotes, diente unter den Paläologendespoten auf dem Peloponnes als General und lebte dort mit seiner Familie (unter anderen seinen drei Kindern/Söhnen, Epigrammata I, 27, Z. 10), wahrscheinlich schon vor der Eroberung Konstantinopels. Wo er (jeweils) stationiert war, lässt sich zwar nicht mehr genau bestimmen, jedoch bringt ihn Marullo stets mit der Argolis in Zusammenhang, mit Inachos, dem legendären Gründer von Argos. Zum Beispiel nennt er Michaels Soldaten die „einzige Hoffnung von Argolis“ (Epigrammata II, 17, 1). Weiter stammten die Tarchaneiotai aus der Argolis: Ihr ursprünglicher Herrschaftssitz, Tarchaneion (heute Arachneo) lag ca. 20 km östlich von Argos. In seinem Epitaph auf die Mutter Euphrosyne spielt Marullo darauf an („Was war ihr Geschlecht?“ – „Inachiden“, Epigrammata I, 52, Z. 3). Ob die Tarchaneiotai um 1453 dort noch Grundbesitz hatten, ist zwar nicht belegt, jedoch ebenso wenig auszuschließen. Wenn das der Fall war, könnte dies bedeuten, dass Marullo in Arachneo geboren worden ist. Wenn nicht, dann kommen als Geburtsorte am ehesten Korinth und Argos in Frage. Falls Marullo in der Argolis geboren ist, bildet dies keinen Widerspruch zu Sannazaros Angabe, er sei ein „Spartaner“ gewesen: Die Argolis gehörte zum Spartanischen Despotat des Demetrios.29 Freilich bezeichnet die Argolis nicht den einzig möglichen Geburtsort des Marullo im Spartaner Despotat von Morea. Wir wissen ja nicht, ob sich Michael Tarchaneiotes dort (ständig) aufgehalten hat. Da das Zentrum des Spartaner Despotats in Mistra lag, könnte man annehmen, dass der General dort stationiert war. Wenn das der Fall ist, könnte Marullo in Mistra geboren worden sein. Klar ist weiter, dass ab dem Frühjahr 1458 die Argolis nicht mehr als Aufenthaltsort der Tarchaneiotai oder der Marules in Frage kommt. Denn damals erstürmte Sultan Mehmed II. Korinth (15. Mai) und nahm den Paläologen als Strafe für ihre Unbotmäßigkeit die Argolis ab.30 Als neuen Herren setzte er Omar Pascha ein. Aus unten angegebenen Gründen ist wahrscheinlich, dass Marullo im Frühling 1475 17 Jahre alt war. Daraus ergibt sich, dass er 1457 oder 1458 28 29 30
Vgl. Runciman, The Fall of Constantinople, 172. Vgl. Runciman, Mistra, 86. Runciman, Mistra, 88–89; Ders., The Fall of Constantinople, 171–172.
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(vor dem April) geboren ist. Dieser Befund lässt alle hier angegebenen Optionen in Morea, sowohl in der Argolis als auch in Mistra, zu. Was der genaue Geburtsort Marullos auch gewesen sein mag, klar dürfte sein, dass er im Spartaner Despotat des Demetrios lag. Denn nur dann macht die Angabe des Sannazaro Sinn. Sie reimt sich auch hervorragend zu den übrigen historischen Fakten, der Anwesenheit seines Großvaters Michael Tarchaneiotes und der ‚Argolis Connection‘ der Familie. Auf einen Geburtsort im Spartaner Despotat weisen zusätzlich bestimmte Identifikationsmomente in Marullos Gedichten hin, zum Beispiel die Verehrung der Spartanerin, die aufgrund ihrer hohen Tugendhaftigkeit ihren Sohn opfert (Epigrammata II, 6, s. unten). Marullo ist somit aller Wahrscheinlichkeit nach im Despotat von Morea zur Welt gekommen. Jedoch blieb der Vater Manilios nicht in Morea. Er floh mit seiner Familie weiter, auf die westliche Seite des Balkans, in die sichere Hafenstadt Ragusa (heute Dubrovnik, Kroatien), damals ein Stützpunkt der Venezianer. Ragusa kommt übrigens als Geburtsort des Marullo nicht in Frage. Denn in Bezug auf seine Kindheit sagt Marullo, dass er in Ragusa nur zu Gast gewesen sei.31 Wann genau Marullos Vater den Peloponnes verlassen und sich nach Ragusa begeben hat, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Klar ist jedoch, dass dies einige Zeit vor dem Sommer des Jahres 1460 der Fall war gewesen sein muss. Denn zu diesem Zeitpunkt eroberte Sultan Mehmet II. definitiv den Peloponnes und nahm den Despoten Demetrios gefangen.32 Demetrios wurde in die Türkei gebracht. Thomas Palaiologos flüchtete aufs venezianische Korfu. Einige Familienmitglieder des Michele Marullo, zum Beispiel sein Großvater mütterlicherseits, Michael Tarchaneiotes, und drei seiner Kinder kamen damals ums Leben. Unter diesen befand sich Demetrios, dessen Sohn Paulos zu Manilios Marules nach Ragusa geschickt wurde (woraus übrigens hervorgeht, dass Marullos Vater dort bereits vorher seine Zelte aufgeschlagen hatte).33 Eines der Exile des jungen Marullo lag somit in Ragusa. Dort hielt er sich eine unbestimmte Zeit um 1459/1460 auf. Damals muss Ma-
31 32
33
Epigrammata IV, 17, Z. 12. Vgl. McGann, „1453 and all that“, 146. Für diese Ereignisse vgl. z. B. Runciman, The Fall of Constaniople, 171–173; Gregorovius, Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter, München 1980, 535–543, bsd. 542–543. Vgl. McGann, „1453 and all that“, 146; Giovanni Tarcagnota, Delle historie del mondo, Venedig 1562, f. 484v.
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rullo noch ein Kleinkind gewesen sein. Denn schon 1460 hatte er Ragusa verlassen. 1460 hatte Vater Manilios seine Frau und die Kinder bereits in das sichere Kalabrien (Unteritalien) geschickt.34 Manilios blieb vorläufig in Ragusa. Er reiste der Familie erst 1464 hinterher.35 Es lässt sich nicht ausschließen, dass Euphrosyne mit den Kindern zwischenzeitlich nach Ragusa zurückkehrte. Es kam damals vor, dass griechische Flüchtlinge zwischen der italienischen und der dalmatischen Adriaküste hin- und herpendelten. 1463, als sich die Türken Bosnien, das Hinterland Ragusas, einverleibten, befand sich Euphrosyne mit Sicherheit nicht mehr dort. Bereits 1460 lebte Michele Marullo somit in Italien (Kalabrien), im Königreich von Neapel. Sein weiteres Leben sollte sich in Italien gestalten. Um diese Zeit muss sich der Vater Manilios Marules dafür entschieden haben, den Standort der Familie nach Ancona zu verlegen. Ancona, eine Hafenstadt, die gerade damals an Bedeutung gewann, beherbergte eine griechische Kolonie. 1464 bereitete Pius II. dort seinen lang ersehnten Kreuzzug gegen die Türken vor (der schließlich doch nicht stattfinden sollte). In der Kirche S. Domenico in Ancona war auch die Gruft der Familien Marules und Tarchaneiotai mit den Epitaphien und Ehreninschriften situiert:36 Der Vater, die Mutter, der Bruder Iannos und nicht zuletzt Marullo selbst wurden in Ancona begraben. Die historischen Exile des Michele Marullo befanden sich somit bis zu diesem Zeitpunkt: – im „Spartaner“ Despotat von Morea auf dem Peloponnes: Arachneo? Argos? Korinth? Mistra? – in Ragusa (Venezianisches Reich; vor 1460) – Kalabrien (Königreich Neapel; 1460, möglicherweise bereits vorher), eventuell zwischenzeitlich wieder Ragusa – Ancona.
34 35 36
Ebd. Giovanni Tarcagnota, Delle historie del mondo, Venedig 1562, f. 484v. S. M. J. McGann, „The Ancona Epitaph of Manilius Marullus“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 42 (1980), 401–404 und Ders., „Medieval or Renaissance? Some Distinctive Features in the Ancona Epitaph of Manilius Marullus“, in: ebd. 43 (1981), 341–343. Die Inschriften sind bei L. Schraderus, Monumentorum Italiae libri IV, Helmstedt 1592, f. 276v abgedruckt. Bei der Mehrzahl der Inschriften handelt es sich um Epitaph-Gedichte, die Michele Marullo verfasst hat.
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Aus seinem weiteren Lebensweg treten noch folgende Exile hinzu: – Die Stadt Neapel (wahrscheinlich ab ca. 1474/1475 und sicher ab ca. 1476) – Rom (Kirchenstaat, 1488–1489) – Florenz (ab 3. August 1489, belegbar einige Monate) – Neapel (Königreich Frankreich, 1495) – weitere Orte in Italien.37 Die Kluft, die sich zwischen dem Exil, das Marullo in „De exilio“ schildert, und seinen historischen Exilen, zwischen der suggerierten und der tatsächlichen Fluchtroute sowie zwischen dem suggerierten und seinem tatsächlichen Geburtsdatum und -ort auftut, ist spektakulär. Zwischen seinem usurpierten und seinem tatsächlichen Geburtsort liegen ca. 700 km Luftlinie; zwischen seinem suggerierten und seinem historischen Geburtsdatum mindestens 8–12 Jahre; zwischen dem Exil aus „De exilio suo“ und seinen tatsächlichen Exilen durchschnittlich 900 km Luftlinie. Warum hat Marullo seine Geburt um mindestens 8–12 Jahre und 700 km verlegt? Warum und aus welcher Perspektive hat er sein Exil bei den „Bessen“ konstituiert? Auf die zweite Frage kann man zunächst eine Teilantwort geben, oder besser lediglich: den historischen Rahmen abstecken anhand von Ereignissen, die im und um das Jahr 1475 stattfanden, und die Hinweise, die sich in Marullos Poesie finden, in ihrer Diskursivität verorten. Mit 16 Jahren wurde Marullo, wie er in einem zweiten autobiographischen Aufriss angibt, in den Osten verfrachtet („fortgeführt“), „nach Skythien“ bzw. „zu den in der Kälte lebenden (an Kälte gewöhnten) Geten“ (Epigrammata II, 32, 71–74: „Iamque nigrescebant prima lanugine mala / Iunctaque erat lustris altera bruma tribus, / Cum fato rapiente vagus Scythiamque per altam / Auferor et gelidi per loca vasta Getae“). „Verfrachtet“ bzw. „fortgeführt“ ist semantisch vage. Man könnte dies – nach der communis opinio – in dem Sinn verstehen, dass er als Söldner anheuerte. Croce, Perosa – Sparrow, Deutscher und Kidwell, die die poetisch formulierten Reiseziele „nach Skythien“ und „zu den in der Kälte lebenden Geten“ im Sinn konkret und historisch definierter Geographica interpretieren, lokalisieren Marullos Söldnerexistenz am Schwarzen Meer, in 37
Zwei Aufenthalte ausserhalb Italiens (1594, Königreich Frankreich; ca. 1475, Balkan) können nur im übertragenen Sinn als Exil gelten, weil Marullo von vorneherein nicht beabsichtigte, dort sein Domizil aufzuschlagen.
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„Bessarabien“ bzw. Moldawien, Gebiete, die ans Schwarze Meer grenzen.38 Nach Deutscher war Marullo sogar 10 Jahre dort, nach Kidwell 5 – 6 Jahre.39 Kidwell hat den Aufenthalt am Schwarzen Meer besonders eindringlich als zwei Kapitel von Marullos Leben vorgestellt: Kap. 3 „Scythia“ und 4 „The Crimea“. Dass Marullo Söldner wurde, erscheint im Lichte seines weiteren Lebensweges durchaus plausibel. Für gewisse Abschnitte seines späteren Lebens war dies in der Tat sein Beruf.40 Ob man die poetischen Reiseziele „nach Skythien“ und „zu den in der Kälte lebenden (an Kälte gewöhnten) Geten“ im Sinn konkret und historisch definierter Geographica interpretieren sollte, ist jedoch fraglich. Was hat Marullo erlebt, wenn man, wie Kidwell, seine Reiseziele „nach Skythien“ und „zu den in der Kälte lebenden Geten“ im Sinn konkret und historisch definierter Geographica auffasst? Dann steht das Tor in die unbegrenzte Weite Alexanderartiger Abenteuer offen: „Marullus’ life was now totally changed. Up to the age of 17 he had lived on the sunny coasts of southern Jugoslavia and southern Italy. There life was relatively comfortable and easy. People were civilised and sophisticated. […] Now he spent month at a time on horseback, slogging over mountains, through forests, across endless bleak plains, wallowing in marshes, crossing broad rivers, sometimes with his horse swimming, sometimes on improvised rafts […]. He dressed and fought like the nomads of the plains and lived like them off the land, a land so unlike the bountiful Mediterrenean coasts“, so lautet Kidwells eindrucksvolle Beschreibung.41 Wundersame Fremde, armer Marullo. Zurück von der Impression zur virtuellen Geschichte bei „den in der Kälte lebenden Geten“: Dann hat Marullo vielleicht im Heer Stephans cel Mare mutig mitgekämpft, als dieser 1475 bei Vaslui den Türken eine schmerzliche Niederlage zufügte. Vielleicht ist er sodann mit dem Moldawierheer weitergezogen, mehr als 230 km gegen Osten ans Schwarze Meer, an den Hafen von Cetatea Alba.42 Marullo wäre dann tatsächlich am Schwarzen Meer angekommen. Auf geht’s also ins als konkretes Geographicum aufgefasste „Skythien“, ein Alexander macht nicht Halt: Auf der Krim gab es ein altes Fürstentum namens Gothia, in dem die christliche Religion erhalten ge38 39 40 41 42
Croce, Michele Marullo Tarcaniota, 271–272; Kidwell, Marullus, 31–53. Deutscher, „M. Marullus Tarcaniota“, 398. Kidwell, Marullus, passim. Ebd., 42. Ebd., 46–49.
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blieben war. Sein Hauptort war Theodoro-Mangop, ein wundersamer tartarisch-gotisch-griechischer Schmelztiegel und eine Felsenstadt in märchenhafter Lage, „a beautiful, deserted mountain city in the midst of a fertile plain. It was ‚like a six-cornered table and its walls seemed made by heaven, but not by the hands of men‘. There were monumental gates, porticoes, colonnades, palaces and churches with mosaic floors, cupolas, long and spherical, sculptured sepulchres, wells of sweet water, fountains playing“.43 Der Herrscher des Ortes war Isaac von Gothia. Stephan cel Mare hatte seine Schwester Maria mit Alexander, dem Bruder des Isaac, verheiratet. Stephan schickte Alexander mit 300 Mann im Frühling des Jahres 1475 nach Mangop, um Isaac zu töten die Macht zu ergreifen. Marullo soll nach Kidwell zu den glorreichen 300 gehört haben. Nachdem die glorreichen 300 glücklich gelandet waren, vollbrachten sie ihre Aufgabe in drei Tagen: Mangop wurde eingenommen, Isaac getötet, Alexander installiert, und die siegreichen 300 blieben als Garnison im Felsenhort. Was widerfuhr Marullo weiter, wenn er sich unter den glorreichen 300 befunden hat? Der Abenteuer war kein Ende. Zur gleichen Zeit kamen die Krimtartaren gegen den Khan Mengli Ghirai in Aufstand, der mit den Genuesen von Kaffa gemeinsame Sache machte. Die Krimtartaren riefen die Türken zu Hilfe. Schon im Mai 1475 erschien eine riesige Flotte unter Ahmed Pascha vor Kaffa, 300 Galeeren stark. Die Genuesen hatten keine Chance. Caffa fiel gleich am 1. 6. Mengli Ghirai floh nach Theodoro-Mangop, das von Marullo und den Seinen bewacht wurde. Ahmed Pascha rollte in der Folge Gothia auf. Im September belagerte er Mangop. Alexander hielt zunächst Stand. Fünf Sturmversuche Ahmed Paschas prallten erfolglos ab. Alexander ließ sich aber einen fatalen Leichtsinn zu Schulden kommen: Er ging außerhalb der Stadtmauern auf die Jagd und wurde von den Türken gefangen genommen. Der Rest war Formsache: Die Söldner Stephans versuchten ihr nacktes Leben zu retten. Marullo soll nach Kidwell unter den Glücklichen gewesen sein, die mit dem Leben davonkamen. Er soll sich zum Azov’schen Meer durchgeschlagen haben, er soll ein Schiff ergattert haben. Er soll – wie Kidwell behauptet – nach Tana an der Mündung des Don gelangt sein. Weiter hat sich der Abenteurer Marullo nach Kidwell zu einer weitausholenden, abenteuerlichen Rückreise entschlossen. Er soll den Don hinaufgefahren sein, soll ganz Russland, Weißrussland und Polen durchquert haben: „It would seem that Marullus must have followed a 43
Ebd., 49.
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route […] up the Don, as against the Volga, to the Riphean mountains, the home of the winds, and the Moscva; then westwards through the Pripet marshes to Poland, Hungary and Venice“.44 Für die Annahme der abenteuerlichen Weltreise des Marullo reicht die historische Evidenz jedoch nicht aus. Beispielsweise ist es nicht evident, weshalb sich Marullo ausgerechnet unter den unglücklichen Dreihundert befunden haben soll, die Alexander nach Theodoro-Mangop begleiteten. Stephan cel Mares Heer war ein riesiges Heer mit vielen tausenden Soldaten. Der arme Marullo müsste dann schon außerordentliches Pech gehabt haben, wenn er zu den unglücklichen 300 gehört hätte. Zu dieser unwahrscheinlichen Schlussfolgerung gelangt Kidwell, indem sie die Formulierungen „an den Don“, „über die Riphäischen Berge“ im Sinn konkreter geographischer Lokalisierungen auffasst; indem sie Marullos Ausruf in einer Liebeselegie (Epigrammata II, 32, 59–60), in der der Dichter in unglücklicher Liebe zu seiner Neaera lichterloh in Flammen steht – „Jetzt wollte ich im Riphäischen Schnee stapfen, / Jetzt den eisigen Don tragen in meinem Herzen“ („Nunc ego Riphaeas vellem calcare pruinas / Nunc gelidum Tanaim pectore habere meo“) – sowohl als konkrete geographische Lokalisierung als auch als Bezugnahme auf eine konkrete biographische Realität interpretiert. Indem sie auf dieselbe Weise die Einleitungsverse aus Marullos Trauergedicht auf seinen Bruder Iannos versteht: „Durch Skythien zieh’ ich hierher, und durch die wilden Bessen, durch Geschosshagel, mitten durch die Feinde / Traurig komm’ ich von der Riphäischen Kälte, / – um vergeblich dir die letzte Ehre abzustatten […]“ („Per Scythiam Bessosque feros, per tela, per hostes / Riphaeo venio tristis ab usque gelu / Scilicet exequias tibi producturus inanes […]“, Epigrammata I, 22, 1–3). M. E. entspricht diese Interpretationsweise nicht dem lyrischen Diskurs, in dem sich diese Verse befinden. Die faszinationsträchtigen Geographica sollen in beiden Gedichten einen poetisch-rhetorischen und intertextuellen Sinnbezug herstellen. In der Elegie an Neaera geht es darum, die kälteste Kälte als Heilmittel für die auflodernden Flammen der Liebe herbeizubeschwören; in dem Trauergedicht auf den Bruder um ein intertextuelles Argument, welches das Ausmaß von Marullos Trauer artikulieren soll. Die Kombination „Riphäisch“ – „Don“ („Tanais“) – „Kälte“ – „Trauer“ verweist den Leser auf das vierte Buch von Vergils Georgica. Dort erzählt Vergil die herzzerreißende Geschichte des Sängers Orpheus, des Archetypus der Dichter, der seine tote Gattin Eu44
Ebd., 53.
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rydike verzweifelt in der entlegensten Weite der wilden, schneebedeckten Wälder sucht: „Einsam durchstreifte er das Eis der Hyperboräer, den von Schnee bedeckten Don, / Die Fluren, auf denen niemals schmilzt der Riphäische Schnee, / Voll der Klage um die ihm entrissene Eurydike“ („Solus Hyperboreas glacies Tanaimque nivalem / Arvaque Riphaeis numquam viduata pruinis / Lustrabat, raptam Eurydicen […] querens“, Georgica IV, 517–520). Wenn man die Verse Vergils so interpretiert wie Kidwell das Gedicht des Marullo, kommt man zu der verblüffenden Schlussfolgerung, dass auch Orpheus von seiner Heimat Thrakien nordwärts gezogen ist, durch ganz Bulgarien, in die Dobrudscha, und dass er auf diese Weise ebenfalls ans Schwarze Meer gelangt ist, dort ein Schiff bestiegen hat, zur Krim gefahren ist, sodann über die Krim das Azov’sche Meer erreicht hat, und quer über das Azov’sche Meer an die Mündung des Don gefahren ist, um sich im Schnee der Riphäischen Berge zu tummeln, kurz: auf seiner Suche nach Eurydike mehr als 1200 km zurückgelegt hat. Es ist klar, dass dies nicht Vergils Anliegen gewesen sein kann. Das wird einige Zeilen unterhalb besonders manifest, wo Orpheus, nachdem er „den Don erreicht hat“, sich plötzlich am Hebros befindet, um in der eisigen Kälte verzweifelt den Namen seiner Geliebten über den Fluss hinauszuschreien: Der Hebros fließt bekanntlich durch Orpheus’ Heimat Thrakien und ist ca. 1200 km vom Don entfernt – also back to zero, geographisch hat der Sänger natürlich keine Reise gemacht. Marullo, der dieselbe Kombination „Riphäisch“ – „Kälte“ („gelu“) – „Trauer“ („tristis“) verwendet, ruft damit eben die nämliche Vergil-Stelle herauf: Er will sagen: Verzweifelt und in tiefster Trauer suche ich meinen toten Bruder Iannos, so wie Orpheus seine tote Gattin Eurydike gesucht hat. Mein Versuch, Iannos die letzte Ehre abzustatten, ist genauso vergeblich wie Orpheus’ Suche nach Eurydike. Iannos war nämlich in Marullos Abwesenheit begraben worden. In der antiken Dichtung sind die Riphäischen Berge und der Don überall und nirgends. Die Geographica funktionieren nicht als konkrete Lokalisierungen, sondern als Symbole für „eisige Kälte“, „äußerster Norden“, „Grenzen der Erde“. Die Riphäischen Berge bezeichnen überhaupt nichts Konkretes, sondern gehören zum Mythos von den Grenzen der Erde,45 welche man sich als Scheibe dachte, um die der Oceanus fließt. Die „Riphäischen Berge“ („Riphaia ore“) bilden die äußerste nördliche Grenze der Scheibe, die noch niemand je gesehen oder betre45
Vgl. z. B. KP IV,1417–1419, Art. „Rhipaia ore“.
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ten hat. Also der unvorstellbare Norden. Dort ist die Heimat der Kälte und des Nordwinds. Dort entspringen die Flüsse des Nordens: die Donau, der Rhein, die Rhone, die Weichsel, die Wolga. Der Symbolcharakter des poetischen Geographicums wird dadurch verstärkt, dass man in der Poesie am liebsten nicht die Berge selbst, sondern das schmuckvolle Adjektiv „Riphäisch“ verwendete. „Steigt immerzu fort auf die Hügel“, so lautet das Jagdlied in Senecas Tragödie Phaedra, „im Riphäischen Schnee“ (Z. 8). Die Jäger in Senecas Phaedra befinden sich jedoch in der Umgebung von Athen! Genauso redet Vergil in der hier zitierten Orpheus-Geschichte vom „Riphäischen Schnee“. Genauso ging Marullo vor, indem er im Trauergedicht auf seinen Bruder die „Riphäische Kälte“ und in der Liebeselegie an Neaera den „Riphäischen Schnee“ zitierte. Marullo will damit keinesfalls sagen, dass er tatsächlich über die Riphäischen Berge geklettert sei. So verhält es sich auch mit dem Don. Auch er steht nicht für eine konkrete Lokalisierung, sondern fließt in Kombination mit „Riphäisch“ durch die dichterische Landschaft, die die äußerste Kälte und die Grenzen der Erde symbolisiert. Die Stelle aus Vergils Georgica führt vor, wie dies funktioniert. „Tanais“ und „Riphäische Berge“ drücken prinzipiell dasselbe aus. Wenn man die poetische Diskursivität dieser Geographica verstanden hat, gibt es keinen zwingenden Grund mehr, den armen Marullo an den Don, über das Azov’sche Meer und auf die Krim zu schicken. Weiter muss man Stephan cel Mare als möglichen „Bessen“ des Exilgedichts, Z. 10, abschreiben, weil sich nicht erklären lässt, wie Marullo von Italien aus ins Moldawische Reich gelangt sein soll. Der Seeweg war abgeschnitten, da die Osmanen den Bosporus und die umliegenden Gewässer kontrollierten. Der Landweg aus Italien war durch das Ungarnreich des Mathias Corvinus versperrt. Mathias befand sich in den relevanten Jahren 1470–1475 mit seinem ursprünglichen Vasallen Stephan im Kriegszustand, eine Situation, die erst im Frühling des Jahres 1475 bereinigt wurde. Zwischen 1470 und diesem Zeitpunkt führte kein Weg potentieller Söldner von Italien durchs Ungarnreich nach Moldawien. Andere Wege, von Italien nach Moldawien zu gelangen, gab es nicht. Folgende Stationen können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Marullos Exilliste streichen: – Moldawisches Fürstentum – Gebiete am Schwarzen Meer
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– – – – –
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Krim Gebiet am Azov’schen Meer Gebiet am Don „Riphäische Berge“ Russland.
Nachdem man die irreführenden Interpretationen der poetischen Geographica beseitigt hat, bleibt die Mitteilung bestehen, dass Marullo mit sechzehn Jahren als Söldner anheuerte. Es lässt sich hier kein triftiger Grund beibringen, weshalb diese Mitteilung nicht als historischer Sachverhalt aufgefasst werden sollte. Man darf jedoch davon ausgehen, dass Marullo an einem plausibleren Ort als Söldner gedient hat. Der historische Kontext lässt im Prinzip zwei Möglichkeiten zu: bei den Venezianern oder bei dem Ungarnkönig Mathias Corvinus. Die Venezianer führten in den Jahren 1463 bis 1479 auf dem Balkan einen zähen Kleinkrieg gegen die Osmanen.46 Gegen diese Identifikation spricht allerdings, dass man die Venezianer schwerlich als „Bessen“ bezeichnen konnte. Allerdings kann man die Identifikation nicht gänzlich ausschliessen, weil der Anführer einer Reiterschwadron, dem Marullo möglicherweise gehorchen musste, osteuropäischer Herkunft gewesen sein könnte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Marullo mit dem „Bessen“ Mathias Corvinus meinte. Auf Mathias passt der Name insofern, als sein Reich weit in den Balkan (Slawonien, Slowenien, Kroatien, Teile Serbiens) und nach Südosten ins heutige Rumänien (Marmures, Crisana, Banat, Transsylvanien, Walachei) hinabreichte. König Mathias führte gerade in den nämlichen Jahren, 1475–1476, Krieg gegen die Osmanen.47 Nachdem die Türken im Januar und Februar 1475 auf vernichtende Weise in sein Reich eingebrochen waren, hatte Mathias sich zu einem groß angelegten Feldzug entschlossen. Im Laufe des Jahres 1475 stellte er in Ungarn ein riesiges Heer von ca. 60 000 Mann auf.48 Zu diesem Zweck rekrutierte er von überallher Söldner, wofür ihm von den Ständen Ungarns reiche Mittel zur Verfügung gestellt wurden, schätzungsweise eine halbe Million Gulden. Damit war Mathias 1475 der zahlungskräftigste 46
47
48
F. Majoros, B. Rill, Das Osmanische Reich 1300–1922. Die Geschichte einer Grossmacht, Augsburg 2002, 168–170. V. Fraknoi, Mathias Corvinus, König von Ungarn 1458–1490, Freiburg i. Br. 1891, 175–179. Ebd. 176.
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Arbeitgeber von Söldnern in ganz Europa. Seine Heere rekrutierten sich immer zum Grossteil aus Söldnern.49 Später war seine „Schwarze Armee“, deren Organisation und Training besser waren als die aller anderen, überall respektiert und gefürchtet. Im Juli des Jahres 1475 stand sein gewaltiges Heer, das vom päpstlichen Legaten mit großer Bewunderung begutachtet wurde.50 Wenn Marullo 1475 als Söldner anheuerte, dann war Mathias Corvinus’ Armee ‚the place to be‘. Außerdem ging es gegen Marullos Erzfeind, die Türken. Auch spräche die Tatsache dafür, dass Corvinus vielfache Bande mit Italien hatte. Besonders plausibel wäre der Eintritt in Corvinus’ Armee, falls sich Marullo 1475 in Neapel aufgehalten hat. Dies ist wiederum ziemlich wahrscheinlich, da sich Marullo unmittelbar nach dem Feldzug (1476) in diese Stadt begab. Nach einem Feldzug kehrt man gewöhnlich dorthin zurück, wo man vorher seinen Standort hatte. Weiter hielten sich 1474 und 1475 stets Gesandte des Corvinus in Neapel auf, weil der König seine Vermählung mit der Neapolitaner Prinzessin Beatrice von Aragon vorbereitete. Im Sommer 1474 hielt er um ihre Hand an, im Herbst traf die definitive Zusage aus Neapel ein. Am 2. Februar 1475 überreichte der Erzbischof von Bari dem König den wertvollen Brautschatz. Die Heirat wurde gerade deswegen 1475 nicht vollzogen, weil Mathias der Türkenkrieg dazwischenkam. Es liegt vor der Hand, dass Mathias auch in Neapel um Söldner warb, wenn nicht der König von Neapel schon von sich aus seinem zukünftigen Schwiegersohn Hilfskontingente zur Verfügung gestellt hat. Wenn Mathias Corvinus der östliche Herrscher war, unter dem Marullo diente, so liesse sich aus den Ereignissen besser verstehen, weshalb Marullo die Partizipation in Mathias’ Heer mit äußerster Kälte assoziierte: Denn Mathias führte (ausnahmsweise) einen Winterfeldzug. Er brach mit seinem Heer Mitte Oktober auf. Das erste Ziel war Serbien, wo Mathias die Türken zurückdrängen wollte. Besonders ging es ihm zunächst um die Einnahme der türkischen Feste Schabatz am jenseitigen Ufer der Save unweit Belgrads. Schabatz war die Ausfallsbasis für überfallartige Angriffe in Mathias’ Reich und zugleich eine Trutzburg gegen Belgrad, das Mehmed II. in Zukunft zu erobern beabsichtigte.51 Die Belagerung der Feste Schabatz fand im tiefen Winter statt. Am 15. Februar 1476 kapitulierten die Eingeschlossenen in der klirrenden Winterkälte. Im März wurde Ma49 50 51
Ebd., 276. Für Mathias’ militärische Bemühungen i.a. vgl. 275–279. Ebd., 177. Ebd., 177; Majoros-Rill, Das Osmanische Reich, 171–172.
Lyrische Gegenwart und Authentizität
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thias, als er zwischenzeitlich nach Ofen zurückkehrte, jedoch von einem innenpolitischen Aufstand überrascht. Der Reichsprimas Johann Beckenloer hatte sich auf die Seite von Mathias’ Erzfeind, des Habsburgischen Kaisers, geschlagen. Aus diesem Grund musste Mathias von der Weiterführung des großangelegten Türkenfeldzugs absehen. Das Heer wurde zurückbeordert, die Söldner abgedankt. Warum schließlich Marullos Klage um den Verlust der „Freiheit“ („libertas“)? Auch dies ließe sich durch eine Besonderheit von Mathias’ Heeresführung erklären: Er führte eine ungleich höhere Disziplin, Drill und Organisation ein, als Söldnern gemeinhin lieb war. Das Söldnerleben im 15. Jh. war in nicht geringem Masse von Freizügigkeit, Freibeuterei, Abenteurertum, ja Eskapismus gekennzeichnet. Der Söldner entzog sich gerne den existierenden Ordnungssystemen.52 Der Übertritt zum Banditentum lag oft in Griffnähe. Mathias jedoch disziplinierte seine Söldner mit harter Hand. Man könnte sich vorstellen, dass sich der junge Söldner Marullo in seinem Freiheitsstreben beengt oder jedenfalls in seinen Erwartungen betrogen fühlte. Man begegnet somit gehäuft Indizien dafür, dass Marullo 1475–76 im Heer Mathias Corvinus’ gedient hat. Dies würde hervorragend zu seinem weiteren belegten Lebensweg passen. Die phantastische, abenteuerliche Weltreise reduziert sich auf einen sachlicheren, europäischen Feldzug. Somit erhält die Biographie eine neue, bescheidenere Dimension. Diesem Bild zur Folge hat Marullo im Frühling 1475 als Söldner in Neapel angeheuert und ist er nach der plötzlichen Beendigung des Winterfeldzuges, im April oder Mai 1476, nach Neapel zurückgekehrt. Demnach hielt er sich nicht 5–6 oder gar 10 Jahre im Exil am Schwarzen Meer auf, sondern etwa ein Jahr in Ungarn und Serbien. Marullo war im Jahre 1475 17 Jahre alt. Dementsprechend ist er nicht 1453, im Jahr der Belagerung Konstantinopels, in der Stadt geboren, sondern 1458 auf dem Peloponnes.
4. Lyrische Gegenwart und Authentizität. Zur Abfassungszeit des Exilgedichts Es soll hier kein Versuch gemacht werden, ein so offenes Gattungsfeld wie das der Lyrik mit einer schlüssigen Definition in feste, allgemeingültige Grenzen einzuweisen. Jedoch bildet es ein gewisses Charakteristi-
52
Vgl. M. Mallet, Mercenaries and their Masters. Warfare in Renaissance Italy, Totowa, New Jersey 1974; A. Santosuosso, Art. „Mercenaries“, in: ER 4 (115–119), 117.
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Marullos lyrische Autobiographik
kum des lyrischen Diskurses, dass lyrisches Sprechen auf irgendeine Weise den Eindruck von Authentizität und Unmittelbarkeit zu vermitteln versucht.53 Der römische Lyriker, der Marullo vielleicht am nachhaltigsten inspiriert hat, Catull, war in dieser Hinsicht ein Meister: Ich hasse und liebe zugleich. Wozu nur, fragst du mich vielleicht. Ich weiß es nicht, aber ich fühl’ es und es quält mich zu Tod. Odi et amo. Quare id faciam, fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior (Carmen 85).
Hier scheint ein authentischer Augenblick aus Catulls Leben vorzuliegen: ein obsessiver Gedanke, ein zwiespältiges Gefühl, das das Ich des Dichters zerreißt, in zwei Zeilen flüchtig festgehalten. Ein aufwallendes Gefühl, Ratlosigkeit, Schmerz. Der Zweizeiler ist umso eindrucksvoller, als der Dichter das Gefühl in einer harten Konfrontation mit der Ratio zum Ausdruck bringt. Das gedachte Gegenüber spricht die Ratio des Dichter-Ichs an, jedoch vergeblich. Angesichts des Gefühlsüberschwangs ist die Ratio hilflos und ratlos. Sie vermag keine Antwort zu geben. Nur das Gefühl herrscht. Der Dichter kann es lediglich registrieren („ich fühl’ es“, „sentio“). Der Leser kann sich der geballten Gewalt dieses emphatischen Dichter-Ichs und der Augenblicksimpression schwerlich entziehen. Diese Verse suggerieren absolute Gegenwart. Marullo bewunderte Catulls Authentizitätsdiskursivik. In einigen Gedichten der Epigrammata ahmte er sie nach: Ich werde hin- und her geworfen, ich werde zu Tode gequält, ich Armer werde hin- und her gerissen, Ich weiß nicht einmal mehr selbst, wer ich bin und wo ich mich befinde. Iactor, dispereo, crucior, trahor huc miser atque huc, Ipse ego iam quis sim nescio aut ubi sim (Epigrammata I, 37, 1–2).
Diese lyrische Authentizitätsdiskursivik wendet Marullo auch in seinem Exilgedicht an. Es endet mit den Versen: Für diese Schuld büßen wir Elende und werden lange noch büßen, Solange uns das Schwarze Meer und unsre Tränen verzehrn/schwächen. Hanc igitur miseri luimus longumque luemus, Dum nos Euxinus et lacrimae minuant.
53
Vgl. FLL, Bd. II, Art. „Lyrik“ (1186–1243), 1204–1205.
Lyrische Gegenwart und Authentizität
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Anscheinend liegt ein prägnanter, authentischer Ausdruck des Gefühls, das ihn übermannt, vor. Buße, Sühne, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Schmerz. Der Dichter ist dem Gefühl ausgeliefert, es quält ihn, wie Catulls Haß-Liebe, zu Tode. Er vermag nichts weiter, als das Gefühl zu registrieren. Man kann sich vorstellen, dass diese Stelle Interpreten wie Sparrow und Croce, die Marullo als Dichter betrachten, der seine „innersten Gefühle“ mit völliger „Natürlichkeit“ und Aufrichtigkeit zum Ausdruck bringt, der uns „die Stimme seines Herzens“ mitteilt, sehr angesprochen hat. In der inneren Logik von Sparrows und Croces Poetik kann es nicht anders sein, als dass der Dichter die Verse schrieb, als er von dem dazugehörigen Gefühl überwältigt wurde. Somit hat er, so lautet die Schlussfolgerung, das Exilgedicht geschrieben, als er sich tatsächlich im Exil am Schwarzen Meer aufgehalten hat. Da sein Söldnerdasein im Osten mit siebzehn Jahren stattgefunden hat, so folgerte man, muss es sich um ein Jugendgedicht handeln. Croce und Perosa haben das Gedicht „De exilio suo“ in der Tat als Jugendgedicht bezeichnet,54 und die Mehrzahl der Interpreten, einschliesslich Georg Luck, ist ihnen hierin gefolgt.55 Jedoch befindet sich in diesen Schlussfolgerungen ein Gedankenschritt, der hinkt. In lyrischer Rede wird der Eindruck der Authentizität vermittelt, die Authentizität kann genauso fingiert oder aus der Retrospektive rekonstruiert oder überhaupt erst konstruiert werden.56 Es gibt von daher also keinen zwingenden Grund zur Annahme, dass das Exilgedicht tatsächlich ein Jugendgedicht ist, das in den Jahren um 1475 entstanden ist. Jedoch gibt es m. E. triftige Gründe, die dagegen sprechen. Ein solcher betrifft die Publikationsgeschichte von Marullos Poesie und von „De exilio suo“ im Besonderen. Zunächst gibt es überhaupt kein Gedicht des Marullo, das man mit Sicherheit auf die Jahre vor seiner Rückkehr nach Italien (ca. 1476) datieren könnte. Erst nach der Rückkehr kam er in Neapel mit Giovanni Pontano in Kontakt, der ihn zur lateinischen Lyrik hinführte. Wahrscheinlich hat Marullo vor 1476/77 gar keine lateinischen Gedichte verfasst. Vor 1489 hat er jedenfalls nichts
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Michaelis Marulli Carmina, S. X und Anm. 12. Luck, „Marullus und sein dichterisches Werk“, 35: „So beginnt die Elegie ‚De exilio suo‘ (3,37), wohl zwischen 1470 und 1480 anzusetzen und somit zu den frühen Gedichten gehörend“. FLL, „Lyrik“, 1205: „fingierte oder tatsächliche Authentizität und Unmittelbarkeit“.
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publiziert.57 Aber nicht einmal in der Erstpublikation seiner Gedichte (Epigrammaton libri duo), die Marullo 1489 in Rom drucken ließ, scheint das Exilgedicht auf. Perosa, der „De exilio suo“ als Jugendgedicht betrachtet, meint, dass die Tatsache, dass das Gedicht in der Ausgabe nicht vorhanden ist, auf Platzmangel zurückzuführen sei.58 Das ist jedoch nichts weiter als eine Spekulation, die von falschen Ausgangspunkten her angestellt wird. Sie ist gänzlich unwahrscheinlich: „De exilio suo“ ist eines der schönsten und eindringlichsten Gedichte Marullos, das nicht zufällig seinen Weg in die wichtigsten Blütenlesen der neulateinischen Dichtung (Nichols, Perosa-Sparrow, Poeti Latini) gefunden hat. Wenn Marullo das Gedicht 1489 bereits vorrätig gehabt hätte, hätte er es mit Sicherheit in seine Sammlung aufgenommen. Weiter müssen die Zeilen „Für diese Schuld büßen wir Elende und werden lange noch büßen, / Solang uns das Schwarze Meer und unsere Tränen verzehrn/erniedrigen“ einer genauen sprachlichen Analyse unterzogen werden. Kidwell hat aus den Zeilen herausgelesen, erstens dass Marullo tatsächlich am Schwarzen Meer war und zweitens, dass die Tränen aus den letzten Zeilen mit dem Bericht vom herrischen „Bessen“ (Z. 10–12) zu verbinden seien. M. E. ist keine der beiden Schlussfolgerungen plausibel. Zunächst die zweite: Marullo weint in seinen Gedichten viel, jedoch stets über ein und dieselbe Sache: den Fall von Konstantinopel, den Verlust des Vaterlandes. Im Exilgedicht schließen die Tränen unmittelbar an den Bericht vom Fall Konstantinopels an. M. E. ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass sich die Tränen in Z. 48 auf den Fall Konstantinopels bzw. den Verlust des Vaterlandes beziehen. Weshalb nun verzehrn/erniedrigen die Tränen? Weil sie sich auf eine deprimierende und erniedrigende Sache, nämlich den Verlust Konstantinopels, beziehen. Weiter bilden „das Schwarze Meer und die Tränen“ in der Verszeile eine Einheit. Es liegt die Stilfigur des ‚Hendiadyoin‘ vor, in der mit zwei (nebengestellten) Begriffen ein und dieselbe Sache bezeichnet wird. Inwiefern können das „Schwarze Meer“ und die „Tränen“ ein und dieselbe Angelegenheit meinen? Es gibt hier im Prinzip zwei Möglichkeiten: 1. „Tränen, die am Schwarzen Meer vergossen werden“, 2. „Tränen, die über das Schwarze Meer vergossen werden“. Nun spricht Marullo in der vorhergehenden Verszeile die Sühne/Buße an, die fortdauern wird, so57
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Epigrammata, [Eucharius Silber] [Rom 1489]. Vgl. Perosa (Hrsg.), Michaelis Marulli Carmina, S. VIII–IX. Michaelis Marulli Carmina, S. X.
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lange ihn das Schwarze Meer und die Tränen verzehrn/erniedrigen. Mit der Sühne/Busse ist hier mit Sicherheit – wie auch in anderen Gedichten – die Sühne für den Fall Konstantinopels gemeint. Damit kann die erste Möglichkeit ausgeschlossen werden: Die Sühnepflicht erlischt natürlich nicht, wenn Marullo aufhört am Schwarzen Meer zu weinen. Das Schuldgefühl ist auch nachher da, immer und überall, gleichgültig ob auf dem Balkan, in Italien oder sonst wo. Es gibt nur eine Möglichkeit, dass die Sühnepflicht aufgehoben wird: Wenn Konstantinopel von den Christen zurückerobert wird. Marullo vergießt die Tränen also über das Schwarze Meer. Konstantinopel liegt am Schwarzen Meer. Somit bedeutet das Hendiadyoin: Tränen vergießen über Konstantinopel. Damit ergibt sich: Die Schlusszeilen des Exilgedichtes besagen nicht, dass sich Marullo je am Schwarzen Meer aufgehalten hat. Tränen vergießen über Konstantinopel: Das gilt für das gesamte Leben Marullos. Durch nichts lässt sich belegen, dass es sich bei dem Exilgedicht um ein Jugendgedicht handelt, das „am Schwarzen Meer“ geschrieben worden ist. Schon von der Publikationsgeschichte her lässt sich mit ziemlicher Gewissheit ausschließen, dass Marullo sein Exilgedicht 1475–1476, während der Kampagne und an Ort und Stelle verfasst hat. Wir haben eine autobiographische Retrospektive vor uns. Da das Gedicht nicht im ersten Gedichtband (1489) steht, liegt es nahe, dass Marullo es erst nach diesem Datum verfasste.
5. Michael sei ein Konstantinopolitaner. Faktenvergewaltigung Was hat Marullo veranlasst, sein Geburtsdatum ansehnlich vorzuverlegen und seinen Geburtsort hunderte Kilometer zu verlegen? Die meisten Interpreten sind ihm auf den Leim gegangen, indem sie seine Geburt in Konstantinopel als historische Tatsache attestierten (vgl. oben). Die Usurpation dieses Geburtsorts wird noch rätselhafter, wenn man berücksichtigt, dass Marullo damit eine Schuld auf sich nahm, die ihn in Wirklichkeit nicht betraf. Das Gedicht erscheint damit in sich widersprüchlich: Einerseits führt Marullo einprägsam vor, dass er es als Schande empfindet, dass die Griechen damals nicht bis zum letzten Blutstropfen gekämpft haben und distanziert sich von diesem Fehlverhalten, anderseits schreibt er sich selbst künstlich in dieses Heer der Schuldigen ein.
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Aus diesem Gedicht (wie übrigens aus Marullos Lyrik insgesamt) geht hervor, dass für ihn Ehre ein ganz wesentlicher Begriff ist. Dabei geht es nicht nur um die innerliche Disposition, sondern in noch stärkerem Maß um die äußerliche Komponente, Ansehen. Dass einer sich selbst als ehrhaften Menschen betrachtet, ist nicht genug: Seine Umgebung muss ihm die Ehre auch erweisen. Damit gelangt man zu einem Hauptproblem seiner Existenz, das er übrigens im Exilgedicht selbst anspricht: dass ihm als im Exil Lebenden nicht genug Ehre erwiesen wurde. „Denn sobald als Verbannter man fremden Boden betreten, / Verliert man all seine Ehr’ […]“ (Z. 19–20). Die mangelnde Ehrbezeigung ist nicht ein bloßes Hirngespinst Marullos. In Italien wurden die fortflüchtigen Griechen nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Man behandelte sie oft als Windbeutel, Parvenüs, Heimatlose, Habenichtse, Aufschneider und Phantasten, kurz: als ehrlose Leute. Auch wenn sie aus einer adeligen Familie stammten, war es für die Griechen nur in Ausnahmefällen möglich, von den italienischen Gastherren eine ihrem Status entsprechende Behandlung zu erfahren. Man kann sich vorstellen, dass dies ihre Sensibilität für Ansehen und Ehrbezeigungen weiter gereizt hat. Es ergab sich hier eine nie versiegende Quelle von Frustration und Minderwertigkeitsgefühlen. Den Kern der bitteren Pille, die sie schlucken mussten, war der Status der Recht- und Ehrlosigkeit, der sich aus dem Verlust der Heimatstadt ergab. Ihre ‚Heimatstadt‘ existierte buchstäblich nicht mehr. ‚Konstantinopel‘ gab es nicht mehr, sondern nur mehr ‚Istanbul‘ (was eine Zementierung der Erniedrigung bedeutete, ins Deutsche übersetzt bedeutet der Name wohl: „[Einmarsch] in die Stadt“/„is tin polin“). Nachdem Mehmed II. „in die Stadt“ marschiert war, hatten die Griechen ihr Bürgerrecht verloren. Mehmed machte diejenigen, die geblieben waren, zu Sklaven. Schöne Frauen, Mädchen und Jünglinge reihte er seinem Harem ein.59 Die Griechen, die geflüchtet waren, hatten ihr Bürgerrecht ebenfalls verloren. Man kann verstehen, dass manche diese Tatsache nicht wahrhaben wollten; dass sie im Exil in Italien ihre Konstantinopolitaner Herkunft betonten. Für Marullo, der zur zweiten Flüchtlingsgeneration gehörte, hatte sich diese prekäre Situation nicht entschärft. Er hatte seine Heimat doppelt verloren: Er war nicht einmal ein Verbannter, sondern nur der Sohn eines Flüchtlings, irgendwo auf der Flucht geboren. Nicht nur, dass sein Vater das Bürgerrecht verloren hatte; Marullo selbst hatte dieses Bürger59
Runciman, The Fall of Constantinople, 145 ff. (Kap. „The Fate of the Vanquished“).
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recht nie besessen. Jedoch brauchte er eine Vaterstadt und eine ansehnliche Geburtsstadt, wenn er irgend ‚Ansehen‘ erlangen wollte. So ist es zu verstehen, dass Marullo, wenn er seinen Namen offiziell angab, sich explizit als Bürger Konstantinopels präsentierte. 1489, als er mit der Publikation seines ersten Gedichtbandes öffentlich hervortrat, machte er sogar noch konkretere Angaben, indem er sich als „MICHAEL TARCHANIOTA MARULLUS, KONSTANTINOPOLITANER, PATRIZIER“ („M. T. M. Constantinopolitanus vir patricius“) vorstellt.60 Dies korrespondiert mit der Überschrift des zweiten Buches der Gedichte: „Michaelis Tarchaniotae Marulli Constantinopolitani viri patricii Epigrammaton ad Laurentium Medicen Petri Francisci filium liber secundus“. Derselbe Befund ergibt sich aus der auf drei Bücher erweiterten Gedichtsammlung, von der geraume Zeit nach Marullos Eintreffen in Florenz (im August 1489) eine Abschrift hergestellt wurde.61 In Wirklichkeit war Marullo damals weder Patrizier (auch nicht in Rom, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt) noch auch Konstantinopolitaner Bürger. 1497, als er seine Gedichtsammlung erneut in Druck gab, verzichtete Marullo auf die Prätention, ein Patrizier zu sein. Das gilt jedoch nicht für das Konstantinopolitaner Bürgerrecht. In der Titelei nennt er sich nunmehr: „MICHAEL TARCHANIOTA MARULLUS, KONSTANTINOPOLITANER“.62 Es geht ihm dabei nicht um die faktischen Bürgerrechte, sondern um das soziale Ansehen, das die Geburts- und Vaterstadt generiert. Die Zugehörigkeit zu der berühmten Stadt, die einst eine Weltmacht war, bedeutete ihm viel: Sie bot dem Flüchtling aus der zweiten Generation ein prächtiges Repräsentationskleid, in dem er sich bei Empfängen seinen italienischen Gastherren gegenüber sehen lassen konnte. Das Exilgedicht ist für die Prätention des Konstantinopolitaner Bürgerrechts bedeutend, weil es den Beleg liefert, sozusagen die Funktion eines Passes oder Iden60 61
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Epigrammata, s.l. s. a. (Rom 1489); Hain, Nr. 10888. Handschrift Florenz, Riccardianus 971; vgl. Perosa in Michaelis Marulli Carmina, S. VIII. Vgl. weiter die Buchüberschriften der Hymni naturales, Florenz (Societas Colubris) 1497.
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titätsdokumentes erfüllt. Jemand, der zugibt, an der Schande, die der Fall Konstantinopels mit sich brachte, beteiligt zu sein, muss die Wahrheit sprechen: Er ist ein Konstantinopolitaner.63
6. Mein Name sei Tarchaniota Bei der Selbstpräsentation „Michael Tarchaniota Marullus, Konstantinopolitaner (Patrizier)“ fällt auf, dass Marullo nicht, wie man dies erwarten müsste, einfach den Namen seines Vaters Marullus/Marules, sondern als ersten Nachnamen den Familiennamen seiner Mutter verwendet. Da er „Tarchaniota“ als ersten Nachnamen angibt, macht er ihn zu seinem entscheidenden Nachnahmen. Dies ist ein ungebräuchlicher Schritt. Er impliziert, dass sich Marullo eher mit der Familie seiner Mutter als mit seinem Vater und dessen Familie identifizierte. Da die Annahme des Vatersnamens normal war, bedeutete die Voransetzung des Familiennamens der Mutter eine partitielle Entautorisierung des Vaters. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass Marullo diesen Affront gewagt hätte, während der Vater noch am Leben war. Nun deckt sich diese Beobachtung mit dem Publikationsdatum des ersten Gedichtbandes, Epigrammata, Buch 1 und 2 (1489). In diesem Gedichtband befindet sich das Grabgedicht auf den Vater (Epigrammata II, 36). Marullos Vater Manilios war gestorben, bevor sich sein Sohn der Öffentlichkeit als „Tarchaniota“ präsentierte. Da Manilios Marules ein hohes Alter erreichte, 95 Jahre,64 ergibt sich, dass Marullo erst relativ spät als Tarchaniota hervortrat. 63
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Man mag die Frage stellen, ob Marullo sein Präsentationsproblem nicht ebenso überzeugend gelöst hätte, wenn er sich, wie es wohl den Tatsachen entsprach, als Spartaner bezeichnet hätte. Sparta war von der Antike her geadelt und von dem Namen ging ein Tapferkeitsappeal aus. Vielleicht hat Marullo vor 1489 in der Tat diese Geburtsangabe verwendet; jedenfalls sein Neapolitaner Freund Sannazaro bezeichnete ihn unverblümt als Spartaner. Jedoch kann man feststellen, dass von der Hauptstadt des ehemaligen Byzantinischen Reiches ein viel größeres Ansehen ausging. Auch kann man sich vorstellen, dass Marullo nach all dem, was vorgefallen war, nicht unbedingt mit dem feigen und durch innere Zwistigkeiten zerstrittenen Despotenstaat assoziiert werden wollte, der ruhmlos dahinvegetierte und ruhmlos unterging. Schon seit 1453 zahlte man dem Sultan Tribut. Wenn Probleme auftauchten, rief man den Sultan feige zur Hilfe. Schliesslich ergab sich Demetrios kampflos, Thomas flüchtete. Demetrios’ Tochter wurde dem Harem des Sultans einverleibt. McGanns Identifikation des Manilios Marullus der Inschrift aus der Familientombe in Ancona mit Marullos Vater überzeugt (s. „The Ancona Epitaph of Ma-
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Weshalb entschied sich Marullo zu dem ungebräuchlichen Schritt? Ein auf der Hand liegendes Motiv wäre, dass der Adel des Vaters nicht bedeutend genug oder dass der Adel der Familie der Mutter den des Vaters an Alter und Qualität in einem solchen Masse übertraf, dass das Gewicht der Familie des Vaters sozusagen ins Nichts fiel. Einigermassen überraschend ist, dass dies nicht aufgeht. Wie aus Trapps Prosopographischem Lexikon der Palaiologenzeit und Kazhdans und Talbots The Oxford Dictionary of Byzantium hervorgeht, handelt es sich sowohl bei den Marules als auch bei den Tarchaneiotai um alte und bedeutende adelige Familien.65 Die Marules hatten seit dem 12. Jahrhundert Hofämter in Konstantinopel inne; 1143 bekleidete ein gewisser Basilios Marules das prestigeträchtige Amt des Protonotarios. Andere Familienmitglieder hatten Kirchenämter inne. Im 14. Jahrhundert war die Familie besonders stark vertreten. Sie lieferte Generäle und Höflinge in Konstantinopel. Die Tarchaneiotai hatten zu einem noch früheren Zeitpunkt wichtige militärische Ämter inne und waren eng mit dem Paläologenhof verbunden. Jedoch kann man nicht konstatieren, dass der Adel der Marules verglichen mit dem der Tarchaneiotai minderwertig war. Die Marules leiteten ihren Adel sogar von römischen Kaisern ab (Gordiani). Der Vater des älteren Gordianus, Marcus Antonius Gordianus Sempronianus Romanus Africanus Augustus, der 238 n. Chr. zusammen mit seinem Sohn zum Kaiser ausgerufen wurde, trug den Namen Maecius Marullus.66 Das Epitaph, das sich im Familiengrab der Marules in der Kirche S. Domenico in Ancona befand, führt eindrucksvoll vor, dass sich die Familie auf die Gordiani berief: Dem Manilius Marullus. Sein Vaterland/seine Vaterstadt war Konstantinopel. Er ist aus dem sehr alten Geschlecht der Marulli geboren, die von den Gordiani-Marulli, den Römischen Kaisern, Abstammen […].
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nilius Marullus“). Entscheidend ist schon der Befund der Tombe, wie er von Schraderus wiedergegeben wird: Zunächst kommt die Inschrift, die die Brüder Theodoros und Philippos dem Manilios Marules setzten, dann das Grabepigramm „auf denselben“, das von Michele Marullo stammt (= Epigrammata II, 36). Vgl. unten. E. Trapp et alii, Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit, Wien 1975 ff., 7. Faszikel (erstellt von E. Trapp unter Mitarbeit von H. V. Beyer), Artikel „Maroules“, 130–134; 11. Faszikel (erstellt von E. Trapp unter Mitarbeit von H. V. Beyer, I. G. Leontiades und S. Kaplaneres, Wien 1991), Artikel „Tarchaneiotes“, 173–181; The Oxford Dictionary of Byzantium (A. P. Kazhdan, A.-M. Talbot, A. Cutler, T. E. Gregory, N. P. Sevcenko), New York–Oxford 1991, Bd. 2, Artikel „Maroules“, 1304; Bd. 3, Artikel „Tarchaneiotes“, 2011–2012. Vgl. KP IV, Artikel „Gordianus“, Z. 16.
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Manilio Marullo. Patria Constantinopolitano, vetustissimo genere Marullorum nato, qui ex DD. Gordianis Marullis Rom[anis] Imp[eratoribus] orginem ducunt […].67
Michele Marullo war natürlich mit diesem Stammbaum vertraut. Aus der Liebeselegie an Neaera geht hervor, dass er das Stammbaumkonstrukt selbst verwendete: Es ist dennoch schon etwas, die Marulli zu Vorvätern zu haben, Die die Marsstadt Rom so oft als Führer akzeptierte. Et tamen est aliquid proavos habuisse Marullos Quos totiens tulerit Martia Roma duces (Epigrammata II, 32,135–136).
Daraus ergibt sich, dass Marullo seine Marules-Abstammung keinesfalls aufgrund mangelnden Adels verdrängt haben kann. Warum präsentierte er sich aber im offiziellen Bereich vor allem als Tarchaneiotes? Der Familienname der Tarchaneiotai hatte dem Vatersnamen etwas Entscheidendes voraus: Einige Tarchaneiotai waren während des Endkampfes mit den Türken auf dem Peloponnes ums Leben gekommen. Insbesondere war der Vater der Mutter, Michael Tarchaneiotes, im Sommer 1460 den Heldentod gestorben, und zwar nachdem sein „König“ vom Peloponnes geflohen war (im Juli). Auch drei Kinder (anscheinend Söhne) des Michael Tarchaneiotes fanden im Kampf mit den Türken den Tod (Epigrammata I, 27, 10). Von diesen kam namentlich Demetrios Tarchaneiotes damals auf dem Peloponnes ums Leben, wahrscheinlich ebenfalls im Jahre 1460.68 Die Tarchaneiotai waren für Marullo Helden, insbesondere der Großvater Michael, von dem er wohl auch seinen Vornamen bezogen hat. Michael Tarchaneiotes verleiht Marullo eine Dimension, die der des legendären Spartanerkönigs Leonidas nahe kommt, der mit 300 Getreuen auf dem Thermopylenpass im Kampf gegen die Perser den Heldentod erlitt. Marullo hat auf den Grossvater und seine Getreuen ein erschütterndes Grabgedicht verfasst, das er im ersten Gedichtband von 1489 der Öffentlichkeit präsentierte (Epigrammata II, 17). Simonides’ berühmtes Gedicht auf Leo-
67 68
Vgl. McGann, „The Ancona Epitaph of Manilius Marullus“. Das geht daraus hervor, dass der verwaiste Sohn des Demetrios Tarchaneiotes, Paulos, 1460 zu Michele Marullos Vater Manilios nach Ragusa geschickt wurde. Vgl. oben und McGann, „1453 and all that“, 146.
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nidas und seine Getreuen, „Wanderer, kommst du nach Sparta […]“69, evozierend heißt es: Wanderer, in dieser Grabtombe liegen wir, die einzige Hoffnung der argolischen Erde, Zwanzigtausend Mann begraben mit dem Vaterland, Während wir unsere Kinder und Väter, den Gott des Vaterlandes und das Vaterland verteidigen, Und dem Befehl unseres Führers Tarchaniota Folge leisten. Inachii spes una soli, bis dena, viator, Milia in hoc tumulo cum patria tegimur, Dum natosque patresque, larem patriamque tuemur, Imperioque ducis Tarchanii obsequimur.
In einem anderen Epigramm, dem prächtigen Epitaph, das Marullo für die Familientombe in Ancona verfasste und in seinem ersten Gedichtband publizierte, evoziert der Dichter ebenfalls den Heldentod des Großvaters: Als die Lage aussichtslos war, spornte er seine drei Söhne an und stürzte sich, zusammen mit dem Vaterland, in den Untergang (Epigrammata I, 27, 10–12). Diese Grabinschrift zierte ein leeres Grab. Die sterblichen Überreste des Michael Tarchaneiotes und seiner Söhne lagen irgendwo im Feindesland auf dem Peloponnes. Marullo bittet den Wanderer, der an der Tombe vorübergeht („hospes“, Z. 1), er möge das richtig verstehen: „Schenke dem keine Beachtung, dass meine Überreste hier nicht in der Urne liegen, / Dafür bin nicht ich, sondern Fortuna verantwortlich“ (Z. 3–4). Wo war hingegen der Vater Manilios Marules, als sich die Tarchaneiotai auf dem Peloponnes heldenmütig den Türken entgegenstemmten? Er war vom Peloponnes bereits geflohen und befand sich im venezianischen Ragusa, außerhalb der Gefahrenzone. Ein verwaistes Mitglied der Familie der Mutter, Paulos Tarchaneiotes, der Sohn des Demetrios, wurde 1460 zu ihm nach Ragusa geschickt.70 Wenn wir dem Sohn des Paulos, Iannos (Giovanni Tarcagnota), glauben dürfen, nahm Manilios den Waisenknaben nicht gerade mit offenen Armen auf. Manilios Marules fürchtete sich vor den Türken. Er hatte keine Lust, in den Heldentod zu gehen. Genauso wie er zeitig vom Peloponnes geflüchtet war, so war er 1460 im Begriff, eine weitere Flucht vorzubereiten. Deshalb hatte er seine Familie, seine Frau und die sechs Kinder, damals bereits nach Italien (Kalabrien) geschickt. Manilios war kein Held. 69 70
Simonides, Fragment 88a Diehl. Giovanni Tarcagnota, Delle istorie del mondo, f. 484r.
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Wenn man die Weise, in der Marullo die Flucht des Thomas Palaiologos vom Peloponnes im Juli 1460 beurteilt, berücksichtigt („der König, der unwürdig war, sein Vaterland mit Waffen zu beschützen, / Floh schändlich aus seinem Reich und aus dem Vaterland“),71 kann man sich einen Reim darauf machen, wie er das Verhalten seines Vaters bewertete, der nicht, wie Thomas, im letzten Augenblick, sondern bereits einige Jahre zuvor das Weite gesucht hatte: ‚Mein Vater Manilios hat versäumt, das Vaterland zu verteidigen. Er ist schändlich geflohen, um auf fremder Erde dahinzuvegetieren‘. Dieser Zustand muss für Marullo umso deprimierender gewesen sein, als sein Vater 95 Jahre alt wurde. In seiner Person prolongierte er sozusagen die Schande der Familie. Die Feigheit seines Vaters beschäftigte den tapferen Michele Marullo sein Leben lang. Es ist nicht auszuschließen, dass er nicht zuletzt deswegen Soldat wurde. Es ist auch nicht auszuschließen, dass er seinen Vater dafür aus tiefstem Herzensgrund verachtete und hasste. Interessant ist in dieser Beziehung wiederum ein Blick in die Grabtombe der Marulli in Ancona. Die Texte zu den meisten Grabplatten hat gerade Michele Marullo verfasst.72 Bezeichnend ist, dass der Nachruf auf den Vater das dürftigste aller Epitaphien des Marullo ist. Er schreibt dem Vater gar keine Tugend zu, was besonders in einem Grabgedicht merkwürdig wirkt. Der Vater ist nichts weiter als eine dahinvegetierende Trauerweide, der von seinem ersten Geburtsschrei bis zum Tod zu nichts anderem als zum Weinen im Stande ist: Weinend machte ich meinen ersten Atemzug, geboren unter einem unheilverkündenden Omen, Mein Leben war voll Tränen, nachdem ich das Vaterland verlor, Und auch jetzt noch weinend sterbe ich, damit nichts frei von Tränen bleibe. Das ist das Los des Menschengeschlechts. Flens primum has auras hausi puer omine diro, Flebilis erepta vita fuit patria. Nunc quoque flens morior, ne quid non flebile restet: Haec est humani conditio generis.
Marullo hat dieses seltsame Grabgedicht, dessen Argumentation am ehernen Gebot des „De mortuis nil nisi bene“ knapp vorbeischrammt, in seinem ersten Gedichtband publiziert (Epigrammata II, 36). In der Grab-
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Epigrammata II, 17, 5–6. Vgl. McGann, „The Ancona Epitaph of Manilius Marullus“, 401–402.
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tombe und im Gedichtband stach der dürftige, fast abschätzige Vierzeiler von den prächtigen, viel längeren und warmen Grabepigrammen auf die Tarchaneiotai ab: auf den Großvater Michael Tarchaneiotes (Epigrammata I, 27) und auf die Mutter (Epigrammata I, 52), welche jeweils dreimal so lang sind. Sowohl dem Großvater als auch der Mutter schreibt Marullo im Gegensatz zum Vater sehr positive Eigenschaften zu. Die Mutter war wunderschön, keusch, eine gute Ehefrau, fruchtbar (sie schenkte ihrem Mann sechs Kinder) und hatte als Leidtragende Anteil am Heldentod ihrer Familienmitglieder, wobei sie sich durch eine außergewöhnliche Vaterlandsliebe auszeichnete: „‚Trauerte sie über jemanden gemeinsam mit dem Vaterland?‘ – ‚Über ihre Brüder und über ihren Vater, / Die sie jedoch ‚selige Seelen‘ (felices animae) nennen konnte.‘/ ‚– Wahrlich sind diese ‚selige Seelen‘, deshalb ist aber auch sie eine selige Seele, / Eine Frau mit einer so seltenen Liebe zum Vaterland‘“ (Epigrammata I, 52, 9–12). Man kann sich vorstellen, dass nicht alle Marulli über das dürftige Grabepigramm ihres Dichters auf den Familienvater glücklich waren. Wohl deshalb fügten zwei Brüder des Michele Marullo, Philippos und Theodoros, später eine zweite Grabinschrift auf den Vater hinzu. Auf dieser Inschrift hoben sie seine positiven Eigenschaften hervor: Manilios besaß eine kaiserliche Herkunft, alle Tugenden (sic), hervorragende Sitten, vor dem Überfall der Türken glänzenden Reichtum, hatte zahlreiche Ämter bekleidet und viele Gesandtschaften ausgeführt.73 In der Setzung der zweiten Inschrift spiegelt sich möglicherweise ein Familienzwist. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Brüder Philipp und Theodor die zweite Inschrift erst nach dem Ableben des Michele Marullo setzten. Michele starb im April 1500 bei einem Unfall, als er den hochwassertragenden Fluss Cecina (bei Volterra) zu Pferd zu überqueren versuchte. McGann hat die Inschrift überzeugend auf 1500 datiert.74 Michele Marullo hatte jedenfalls ein anderes Vaterbild als seine Brüder: Für ihn war die Flucht des Vaters der alles überschattende Tatbestand. Er war auf seinen Vater weniger stolz als auf die Familie seiner Mutter. Deshalb gab er sich 1489 in der Öffentlichkeit den Namen Tarchaniota. Indem er nun denselben Namen wie sein Großvater mütterlicherseits, „Michael Tarchaniota“ trug, identifizierte er sich nachhaltig mit diesem griechischen Helden, der im Kampf gegen die Türken den Tod gefunden hatte. 73
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Der Text der Inschrift abgedruckt bei McGann, ebd., 401 und Schraderus, Monumentorum Italiae libri IV, f. 276v. McGann, ebd.
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7. „Es ist Sitte meiner Väter …“ Griechischer Heldentod als Mittel der Alteritäts-Selbstpräsentation Eines der ersten Gedichte des von Marullo 1489 publizierten Gedichtbandes lautet: Tod fürs Vaterland. Wenn du – wer immer du seist – auf einem öden Acker so viele Tausende Männer liegen siehst, haarigen Raubtier’n zum Fraß, Wundre dich nicht: Das ist der Brauch meiner Väter, nicht ein Grab zu verlangen, Sondern auf dem Schlachtfeld einen ehrvollen Tod. Mortui pro patria. Tu quicunque virum vacuo tot milia in arvo Cernis ab hirsutis dilaceranda feris, Desine mirari: patrii est hoc moris, honestam Pugnando mortem quaerere, non tumulum (Epigrammata I, 6).
Dieses Gedicht musste auf die Mitglieder der Respublica litteraria des 15. und 16. Jahrhunderts einen tiefen, schockierenden Eindruck machen. Nicht, weil es einen Mangel an Kriegen gegeben hätte, sondern weil hier ein Grundrecht zivilisierter Menschen, in einem ordentlichen Grab bestattet zu werden, harsch in Abrede gestellt wird. Es gab wohl kaum eine schlimmere Vorstellung, als auf einem wüsten Acker ohne kirchliche Weihung unbestattet dahinzufaulen, während Getier an dem Kadaver zerrt und frisst. Das wurde als das Ende aller Zivilisation, Religion und Würde des Menschen erfahren, war etwas geradezu Unvorstellbares, Makaberes. Überhaupt zeichnet Marullos Gedicht den Krieg auf eine Weise, die für den italienischen Leser des 15. Jahrhunderts ungewohnt war. Schon das Konzept des „Todes für das Vaterland“ war schwer nachvollziehbar. Im 15. Jh. waren Bürger italienischer Städte prinzipiell nicht bereit, für ihre Vaterstadt bzw. ihr Vaterland zu kämpfen. Das Kriegshandwerk überließ man in der Regel Söldnern.75 Wenn der Adel kämpfte, bildete nicht das Vaterland seine Motivation, sondern territorialer oder ökonomischer Gewinn oder individuelles Ruhmstreben (virtù, gloria). Keiner 75
Vgl. Mallet, Mercenaries and their Masters; J. R. Hale, Renaissance War Studies, London 1983; Ders., War and Society in Renaissance Europe 1450–1620, London 1985; J. E. Thomson, Mercenaries, Pirates, and Sovereigns. State-Building and Extraterritorial Violence in Early Modern Europe, Princeton U. P. 1994.
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dieser Sachverhalte stimulierte Kunst und Literatur, die makabere Seite des Krieges zu betonen.76 Krieg wurde als nützliche Sache betrachtet, die auf verschiedene Weise Vorteil bringen konnte. Im Italien des 15. Jh. gehörte Krieg zum Alltag. Jedoch waren (vor 1494) sein Umfang und seine Folgen meist beschränkt. Es gab verhältnismäßig wenige Todesopfer. Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung waren meist gering.77 Die Soldaten waren Profis, die ihr Handwerk gut beherrschten. Der Krieg wurde als Kunst (‚arte‘) angesehen, sogar als „schöne“ Kunst, die nach gewissen Regeln gestaltet wurde. Man kämpfte nicht bis zum Äußersten, etwa bis ein Schlachtfeld von 20000 Leichen übersät war. Mars wurde nicht als der mitleidlose Todesgott betrachtet, sondern als perfekter, verfeinerter und geradezu dandyhafter Ritter.78 Der perfekte Ritter ist ein Galant. Besonders beliebt war die Abbildung von Mars als Liebhaber der Venus. Bezeichnend dafür sind Botticellis oder Piero di Cosimos Gemälde von Mars und Venus in den Staatlichen Museen in Berlin von 1483 und ca. 1485.79 Piero di Cosimos Mars hat nichts Makaberes: Er ist ein schöner und lieblicher Jüngling, der sein lockiges Haupt auf ein sanftes Kissen gelegt hat, während Engelchen mit seiner Rüstung spielen und sich zwei Turteltäubchen sanft küssen (Abb. 8). Dasselbe gilt für Botticellis Mars, mit dessen Waffen Satyr-Putten Unfug treiben.80 Marullos makaberes „Tod fürs Vaterland“ musste den italienischen Leser des 15. Jh. außerordentlich befremden. Interessant ist, dass Marullo diese Reaktion offensichtlich einkalkuliert hat: Er fordert den Leser auf, sich über sein Kriegsbild nicht zu wundern (Z. 3). Marullo präsentiert damit den schauerlichen Tod fürs Vaterland zugleich als horrende Alterität in Bezug auf den Leser und als automatische, selbstverständliche Identität in Bezug auf sich selbst. Denn der Wille, so in der Schlacht umzukommen, sei eine typisch griechische Eigenheit. Das sei die Vätersitte der Griechen: sich fürs Vaterland rücksichtslos in den Tod zu stürzen. Nur so kann man ehrvoll leben, indem man den Tod in der Schlacht sucht. Für den Griechen bildet der verfaulende Leichnam das höchste Ideal, die Grundlage seiner Identität. 76
77 78 79
80
Hale, „War and Public Opinion in Renaissance Italy“, in: Ders., War and Society in Renaissance Europe 359–387. Ebd., 367 ff. Ebd., 370. M. Bacci, L’opera completa di Piero di Cosimo, Mailand 1976, Nr. 25 (Abb. XXVIII– XXIX). Vgl. A. Grömling, T. Lingesleben, Alessandro Botticelli, Köln 1998, 66–67 (Nr. 73).
Abb. 8: Piero di Cosimo, Mars und Venus. Berlin, Staatliche Museen.
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In welchen Diskurs sind wir geraten? Selbstdefinition durch Selbstzerstörung? Unglaublich, aber wahr: Die Identität ‚des Griechen‘ liegt in der Selbstzerstörung. Wer sein Leben rettet, hat seine Identität verloren. Der ist kein Grieche mehr. Wer sein Leben rettet und aus der Schlacht ruhmlos heimkehrt, hat sich selbst verloren; der verdient nicht mehr zu leben. Seine Ehre hat er eingebüßt, die Vätersitte, das Vaterland und seine Familie verleugnet. Er ist ein Verräter. Epigramm II, 6 führt dies vor: Die Tapferkeit der Spartanerin. Eine Spartanische Mutter (Mater Lacaena) erblickte ihren Sohn, Wie er ohne Schild nach Hause kam. Entgegen ging sie ihm und – durchbohrte ihn mit dem Schwert. Dem Toten sagte sie: Fahr dahin, stirb, Spross, der du meiner nicht wert bist, Der du dein Vaterland und deine Familie verleugnet hast. De fortitudine Lacaenae. Mater Lacaena conspicata filium Relicta inermem parmula, Progressa contra traiicit ferro latus, Super necatum his increpans: ‚Abi hinc, morere, non digna proles, abi, Mentite patriam et genus!‘
Wiederum das Unglaubliche, Verfremdende. Der Leser wird hier zum Zeugen eines Kindesmordes. Dies war nicht nur gesetzeswidrig und verabscheuungswürdig, sondern widerstrebte dem grundlegenden Gebot des christlichen Glaubens: „Du sollst nicht töten“. Der Schockeffekt ist umso größer, als es eine Frau ist, die das Gebot verletzt und wohlgemerkt mit einem Schwert tötet. Mutterliebe, Familienbande, nichts scheint mehr zu zählen. Wer der Griechen Vätersitte verletzt, soll sterben. Ebenso bemerkenswert sind die Nachfahrinnen der Spartanerin, die Byzantinerinnen. „Die Tapferkeit der Byzantinerin“ heißt das Gedicht (Epigrammata II, 30). Eine byzantinische Matrone verrichtet gerade ein Gebet, als ihr zu Ohren kommt, ihr Sohn sei in der Schlacht gefallen (Z. 1–2). Anstatt in Tränen auszubrechen und zu jammern, bringt sie das Zeremoniell unbewegt („immota“, Z. 5) zu Ende. Als ihr zu Tode verwundeter und von Blut triefender Sohn auf seinen Waffen mit dem Gesicht nach unten herbeigebracht wird, vergießt sie keine Träne und rauft sich nicht das Haar. Im Gegenteil: Sie ist froh und glücklich und stolz auf
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ihren Sohn. „Jetzt endlich hat es sich gelohnt, ein Kind zur Welt gebracht zu haben!“ („Nunc demum peperisse iuvat“, Z. 15), ruft sie aus. Das ist die Inversion der Mutterliebe: Statt einer Pietà mit einer tränenüberströmten und traurigen eine frohlockende und glückliche Maria, die den Tod ihres Sohnes bejubelt! Marullo ruft in seiner Lyrik eine alles überschreiende Tapferkeit herauf, die den Bürgertod für das Vaterland als höchstes Ideal plaziert. Marullo ließ damit seine italienischen Leser erschaudern. Während sie nicht im Entferntesten daran dachten, für ihr Vaterland die Waffe zur Hand zu nehmen, plädiert Marullo für den Bürgertod. Das Vaterland muss man bis zum letzten Blutstropfen verteidigen, dafür stirbt man gerne. So will es das Gesetz. Wie es Simonides in Bezug auf Leonidas und die Seinen verwortete: Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest, Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.81
Marullo war einer der Söldner, die die Italiener für sich kämpfen ließen und die den Krieg als schöne und einträgliche Kunst betrachteten. In seiner Lyrik aber schreibt er sich in den Diskurs des spartanischen Heldentodes fürs Vaterland. Mit dieser Fremdartigkeit, die er für sich auf diese Weise in Anspruch nimmt, konstituierte er seine Identität in der Fremde. Er gibt sich als griechischer Kämpfer aus, dem die Todesverachtung in den Augen geschrieben steht. Sich in den Tod zu stürzen, das ist der Brauch seiner Väter. Im Exilgedicht beansprucht Marullo ebendiese Todesverachtung. Er bescheinigt sich, dass sein Geist „genug Verächter des Lebens sei“ (Z. 4), um sein Exil für den Tod einzutauschen. Interessant ist, dass Marullo einen Götterhymnus an Mars geschrieben hat. Bezeichnenderweise ist Mars dort kein ritterhafter Dandy, sondern der düster dräuende Schlachtengott, „Gradivus“ (Hymni II, 6, Z. 24 und 87), der in der Schlacht voranschreitet und kein Mitleid mit den Soldaten hat, die neben ihm ins Gras beißen. Es ist Gradivus, der Gott des totalen Krieges. In seiner Mitleidlosigkeit hat er in der letzten Zeit die furchtbaren Heere der Türken begünstigt und sich von den Griechen entfernt. Man soll jedoch die Hoffnung nie aufgeben, vielleicht besinnt sich der Schlachtengott irgendwann und wendet sich wieder seinen Enkeln zu. Dafür würde
81
Diehl Fr. 88a, Übersetzung von Friedrich Schiller. Schillers Übersetzung „Gesetz“ geht auf Ciceros Übersetzung der irrigen Lesart „nommois“ statt des ursprünglichen „rhemasi“ („Befehlen“) zurück. Leonidas gehorchte den Befehlen der spartanischen Volksversammlung, nicht irgendeinem Gesetz.
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Marullo alles geben: in vorderster Reihe mitkämpfen, sein Leben lassen. Der Hymnus endet mit der emotionalen Bitte um den Schlachtentod: Wenn ich auch, aus dem so großen Reichtum meiner Väter vertrieben, In Florenz von untätiger Muße verzehrt werde, Lass mich dennoch, heilige Klio, lass mich preisen den Vater Gradivus (Mars, Anm.) Mit einem Loblied nach der Sitte der Väter, Gradivus, den – ach! – so viele jammervolle Niederlagen der Seinen Ergötzen, der den thrakischen Strymon und Byzanz’ Stolze Mauern verschmäht, solange er Die furchtbaren Heere des Türken begünstigt. Aber was bewirken nicht gnädige Bitten? Vielleicht beendet auch er endlich einmal seine Drohungen, Vergisst, was einst geschah, und Neigt sich wieder einmal seinen Enkeln zu. […] Heil dir, Mars, Vater der Männer, Vater der Waffen! Schenke mir einst, ich bitte dich – wenn ich es nur verdien’! – Schenke mir, Gradivus, einen schönen und Plötzlichen Tod fürs Vaterland!
Quare, tot olim quanquam opibus patrum Excussi Etrusco carpimur otio, Dic, sancta, dic, Clio, parentum Laude patrem solita Gradivum, Heu tot suorum quem miserae iuvant Clades, neglecto Strymone Thracio Tectisque Byzanti superbis, Tristia dum fovet arma Turcae. Sed quid benignae non faciunt preces? Forsan minarum desinet hic quoque Iam tandem et oblitus peracti Respiciet propior nepotes. […] Salve, et virorum Mars pater et pater Armorum, et olim – si merui modo! – Da, quaeso, da, Gradive, pulchraque Ob patriam atque inopina fata.82
82
Ich drucke hier den Text der Handschriften Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale, Magliabechianus VII 1146, und Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Riccar-
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8. „De exilio suo“ – eine Apologie der Griechen? Der Fall Konstantinopels Marullo schildert den Fall Konstantinopels (Z. 25–46) auf folgende Weise: Die Griechen haben damals die Sitte ihrer Väter vergessen, die ihnen gebietet, die Ehre und den Tod auf dem Schlachtfeld zu suchen. Statt die Bürger zum Kampf aufzurufen, vertraute der Kaiser die Stadt Genueser Söldnern an. Prompt verrieten die Genuesen Konstantinopel, übergaben die Stadt den Türken und zündeten sie obendrein an: „Jener Söldner, der war in Wahrheit der Feind, der den reichen Bosporus erobert hat, / Der hat geraubt den Besitz der eroberten Stadt, / Der hat die Kirchen, Ikonen gebrandschatzt, der hat das Feuer gelegt, / Der hat das Römische Reich ausgeliefert dem Türk’“ (Z. 41–44). Von der Eroberung Konstantinopels gibt es eine Reihe von Augenzeugenberichten und Schilderungen bei Historiographen, die Runciman in seinem The Fall of Constantinople ausgewertet hat.83 Zwischen Marullos Erklärung und den überlieferten historischen Berichten sowie zu den Tatsbeständen, die daraus hervorgehen, ergeben sich auffällige Diskrepanzen: Zunächst kann man schwerlich behaupten, dass die Griechen nicht gekämpft hätten oder dass sie nicht tapfer genug gewesen wären oder dass sie ihre Stadt einfach den Genueser Söldnern übergeben hätten. Im Heer der Verteidiger kämpften etwa doppelt so viele Griechen (4973 Mann)84 wie Söldner. Dem Kaiser konnte man nicht vorwerfen, er hätte sich einseitig für den Einsatz von Söldnern entschieden. Im Gegenteil: Im Westen wunderte man sich, dass er so wenig Söldner aufbot. Denn zu einer erfolgreichen Verteidigung wären viel mehr Männer erforderlich gewesen. Durch die zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber dem Heer Mehmeds II., der mindestens 80000, nach manchen sogar ca. 150 000 Krieger heranführte, war das Unternehmen schon von vorneherein zum Scheitern verurteilt.85 Der Kaiser konnte mit dem Heer, das
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84
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dianus 971. Der Text weicht an zwei Stellen von dem späteren Druck Hymni et Epigrammata, Florenz, Societas Colubris, 1497, ab: Z. 26 „neglecto“ statt „repulso“; Z. 27 hat Marullo die „Mauern der Griechen“ („tectisque Graiorum“) durch „Byzanz’ Mauern“ („tectisque Byzanti“) präzisiert. Perosa (S. 127) und Schönberger (S. 62) geben den Text der gedruckten Ausgabe von 1497 wieder. Für die Vorstellung der Quellen s. insb. Appendix 1 „Principal Sources for a History of the Fall of Constantinople“, 192–198. Vgl. z. B. Majoros, Rill, Das Osmanische Reich, 159; Von Pastor, Die Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. I, 613. Majoros, Rill, Das Osmanische Reich, 159.
Der Fall Konstantinopels
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ihm zur Verfügung stand, nicht einmal alle Festungswerke angemessen besetzen. Dass nicht genug Söldner dawaren, lag auch daran, dass der Westen auf den dringenden Appell Konstantins nur halbherzig und zu träge reagierte. Die Hilfsflotte kam zu spät. Die Venezianer hatten gar keine Lust, tatsächlich einzugreifen. Während der zweimonatigen Belagerung warfen sich sowohl Griechen als auch Söldner den Türken mit wahrem Heldenmut entgegen. Trotz seiner zahlenmäßigen und technischen (neue, größere Kanonen) Überlegenheit wurde Mehmed II. immer wieder zurückgeworfen. Der Sturm vom 29. Mai war im Eigentlichen eine Alles-oder-nichts-Aktion von äußerster Dramatik. Als die Mauern schließlich überrannt wurden, bedeutete das den Tod der meisten Verteidiger, gleichgültig ob Griechen oder Söldner. Der letzte Kaiser, Konstantin XI. Palaiologos, starb den Heldentod auf dem Schlachtfeld. Auch stimmt keineswegs, dass die Genuesen die Stadt verraten oder willentlich den Türken ausgeliefert oder angezündet hätten. Sie zählten überhaupt zu den besten Kräften und wurden dementsprechend im Zentrum der Verteidigung, an dem Tor des Hl. Romanus, direkt gegenüber dem Sultan und seinen Elitetruppen, den Janitscharen, aufgestellt.86 Sie kämpften neben dem Kaiser wie Löwen. Worauf stützt sich die Geschichte vom Verrat? Beim Sturm am 29. 5. wurde der Anführer der Genuesen, Giovanni Giustiniani-Longo, im Kampf verwundet. Eine Kugel war durch seinen Panzer gedrungen, und der Condottiere blutete heftig.87 Seine Leibwache trug ihn vom ersten Mauerring, so dass er versorgt werden konnte. In der Folge entstand Verwirrung und Panik, weil einige Verteidiger dies versehentlich als Zeichen zum Rückzug werteten. Viele Genuesen zogen sich dadurch in die Stadt zurück. Die Verwirrung nutzten türkische Truppen, um in den ersten Mauerring einzubrechen. Sofort hissten sie den Halbmond. Dadurch nahm die Verwirrung enorm zu. Die Verteidigung war im Begriff zusammenzubrechen. Der Sultan drängte seine Elitetruppen an der nämlichen Stelle zum Sturmangriff und hatte damit Erfolg. In der Verwirrung gelang es Genueser Söldnern, ihren verwundeten Hauptmann aus der Stadt zu bringen. GiustinianiLongos Verwundung war jedoch tödlich, er erlag ihr einige Tage später. Diese Begebenheiten werteten westliche genuesenfeindliche Autoren, zum Beispiel der Venezianer Niccolò Barbaro oder der Erzbischof von Lesbos, Leonardo von Chios, als Verrat. Sie bezeichneten Giustinia86
87
Vgl. den militärischen Aufstellungsplan in Runciman, The Fall of Constantinople, 93. Runciman, The Fall of Constantinople, 138.
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ni-Longo als Deserteur.88 Westliche Autoren, die meist gegenüber den Griechen eine negative Einstellung hatte, kritisierten auch deren Auftreten. Sie betrachteten die Griechen als feige, verweichlicht, moralisch verwerflich und als Ketzer. Daher seien sie am Untergang Konstantinopels selbst schuld.89 Auch der Heldentod des Kaisers Konstantin XI. wurde bezweifelt oder in Abrede gestellt. Zum Beispiel meinte man, dass der ungeschickte Kaiser einfach von Pferden zu Tode getrampelt wurde.90 Man könnte sich vorstellen, dass griechische Autoren bei einem Versuch, die griechische Sache zu rechtfertigen, ebenfalls den Genuesen die Schuld gegeben hätten. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie dies nicht taten. Man vergleiche den Bericht des Griechen Michael Dukas: Die Byzantiner stellten sich innerhalb der Mauern ebenfalls in Schlachtordnung auf. Der Kaiser, gemeinsam mit Giovanni Giustiniani, verteidigte die bereits in Stücke geschossenen Mauern außerhalb des Forts […], und hatte ca. 3000 Mann bei sich. […] Sie wachten die ganze Nacht hindurch und hatten überhaupt keine Gelegenheit zu schlafen. Dann stürmten die Türken (oben bezifferte Dukas ihre Anzahl auf 150 000, Anm. ) mit ihrem Anführer auf die Mauern zu, wobei sie unzählige Leitern, die sie angefertigt hatten, mit sich trugen. Der Tyrann (= Mehmed II., Anm.) rannte, ein ehernes Schwert in seiner Hand, seinen Mannen hinterdrein und spornte seine Bogenschützen an, manchmal mit schmeichelnden, manchmal mit drohenden Worten. Inzwischen wehrten sich die Verteidiger der Stadt nach Kräften. Giovanni Giustiniani kämpfte tapfer, wobei er den Kaiser an seiner Seite hatte, der in Waffenrüstung mit seinen Männern mitkämpfte. Aber die Tapferkeit dieser Männer sollte den Türken zum Vorteil gereichen. Denn Gott entriss mitten aus dem Heer der Griechen den General Giustiniani, diesen heldenhaftig kämpfenden Mann. Er wurde durch eine Gewehrkugel am Arm verwundet, während es noch dunkel war. Die Kugel war durch seinen Panzer gedrungen, der ebenso mächtig geschmiedet war wie der Panzer des Achilles. Er hatte heftige Schmerzen. Also sagte er zum Kaiser: „Halte du tapfer die Stellung. Ich aber werde mich auf mein Schiff begeben, und, wenn meine Wunde versorgt ist, schnell zurückkehren“.91
Man gelangt bei einem Vergleich zu der überraschenden Entdeckung, dass der Grieche Marullo in seiner Schilderung des Falls von Byzanz die Version westlich-lateinischer, italienischer, griechen- und genuesenfeindlicher Autoren wiedergibt! Nebenbei geht aus seinem Bericht keine Augenzeugenschaft hervor. Die Behauptung, dass die Genuesen Konstantinopel geplündert und angezündet hätten, ist ohne jedes reale Fun88 89
90 91
Ebd., 196. Vgl. M. J. McGann, „Haeresis castigata, Troia vindicata: the Fall of Constantinople in Quattrocento Latin Poetry“, in: Respublica Litterarum 7 (1984), 137–146. Pius II., Commentarii II, 1 (ed. van Heck), S. 113. Dukas, Historia Turko-Byzantina, (ed. I. Bekker), Bonn 1834, 222–223.
Venus, Ovid und der Kreuzzug
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dament. Es ist klar, dass ein Teil der Genuesen gerade noch mit knapper Not entkommen konnte, während die übrigen umkamen. Daraus erhellt aber auch, dass es zum Plündern und Anzünden keine Zeit gab. Das einzige, das zählte, war das eigene Leben. Aus dem Vergleich mit den übrigen Schilderungen geht auch hervor, dass Marullo in „De exilio suo“ keine starke und überzeugende Apologie der Griechen bzw. der Konstantinopolitaner geliefert hat! Eine solche hätte den Heldenmut, mit dem die Griechen kämpften, hervorheben; den Heldentod, den Konstantin XI. Palaiologos gestorben ist, attestieren und akzentuieren; die Übermacht des Feindes und seine technische Überlegenheit – Kanonen bis dato unerhörten Ausmaßes, die Tag und Nacht die Mauern zerfetzten – gebührend darlegen; den Mangel an Hilfe aus dem Westen anprangern müssen. Dabei lässt sich kaum annehmen, dass Marullo über keine griechischen Quellen oder Berichte verfügte, aus denen er Material für eine kräftige Verteidigung der griechischen Sache hätte gewinnen können. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es ihm in „De exilio suo“ eben nicht um eine Apologie der griechischen Sache ging. Marullos Version stellt sich als das Gegenteil einer Apologie der Griechen heraus: Er prangert die Griechen an. Sie hätten nicht gekämpft, wie es ihrer Vätersitte entsprach. Der Kaiser hätte die Verteidigung der Stadt feige ausländischen Söldnern überlassen. Es lag nicht an der türkischen Überlegenheit (80000 – 150 000 gegen ca. 7000 Mann), gegen die die Griechen ohnehin nichts ausrichten konnten. Es lag auch nicht an Gottes Willen („nec fata deum“, Z. 45), wie der Grieche Dukas argumentiert („Gott entriss […]“, s. oben). Nein, es ist die Schuld der Griechen selbst! Man fragt sich, welchen Zweck Marullo mit dieser Anti-Apologie verfolgte.
9. Venus, Ovid und der Kreuzzug: Zusammenführung der Interpretationsstränge Es ist Zeit, zum intertextuellen Referenzpunkt, zu der Rede der Venus aus Vergils Aeneis (X, 18–62), zurückzukehren. Es ist nunmehr klar, dass es nicht Marullos Anliegen gewesen sein kann, sein Versagen bei der Belagerung Konstantinopels zu rechtfertigen, da er damals noch nicht einmal geboren war. Es ist auch klar, dass es ihm nicht um eine Apologie der Griechen ging. Worum bittet Venus Jupiter? Dass die Rutuler und ihr Anführer Turnus, die vom Kriegsglück begünstigt werden, nicht obsiegen möchten; dass es den Trojanern gelingen möge, wieder in den Besitz
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Marullos lyrische Autobiographik
ihrer Vaterstadt Troja zu gelangen. Der Schluss ihres Plädoyers lautet: „Wäre es nicht besser gewesen, auf den letzten Resten des Vaterlandes und auf dem Boden, der einst Troja war, wohnhaft zu bleiben? Gib, Vater, den armen Trojanern den Xanthus und Simois (Flüsse bei Troja, Anm.) zurück, dreh’ das Rad des Schicksals zurück“ (59–62). Troja ist in Marullos Gedicht gleich Konstantinopel. Dies geht aus der Mehrfachanbindung an die Aeneis hervor, mit letzter Direktheit aus „patriae quondam dum regna manebant“ (Marullo, Z. 23; „patria“ = Konstantinopel), einer wörtlichen Übertragung aus der Aeneis: „Priami dum regna manebant“ (Aen. II, 22; II, 445; „Priami regna“ = Troja). Venus’ abschließende Bitte erstreckt sich auf den Sinn von Marullos Gedicht „De exilio suo“: Gott, gib den Griechen Troja (= Konstantinopel) zurück! Mach, dass die Konstantinopolitaner an den Bosporus zurückkehren können! Lass die Rutuler (= Türken) nicht obsiegen! Die Rückgabe Konstantinopels kann nicht kampflos vonstatten gehen. Das geht nur mit einem Kreuzzug, an dem aufopfernde Kämpfer teilnehmen. Aufopfernde Kämpfer wie Euryalus, dessen „Geist ein Verächter des Lebens“ ist (Z. 5). Marullo identifiziert sich mit Euryalus, er ist Euryalus. Marullo will an diesem Kreuzzug teilnehmen, mit Todesmut kämpfen. Dies würde die Erfüllung eines Traumes bedeuten: Rache zu nehmen an den Türken, die Stadt der Väter zurückzuerobern, endlich den Fuß auf den Boden Konstantinopels zu setzen. Die oben bereits zitierte Hymne an Mars, die zur nämlichen Zeit entstanden ist, führt diese Haltung eindrucksvoll vor: Wenn ich auch, aus dem so großen Reichtum meiner Väter vertrieben, In Florenz von untätiger Muße verzehrt werde, Lass mich dennoch, heilige Klio, lass mich preisen den Vater Gradivus (Mars, Anm.) Mit einem Loblied nach der Sitte der Väter […] Heil dir, Mars, Vater der Männer, Vater der Waffen! Schenke mir einst, ich bitte dich – wenn ich es nur verdien! – Schenke mir, Gradivus, einen schönen und Plötzlichen Tod fürs Vaterland! (Hymni II,6, 21–24 und 85–88)
Es ist Marullo, der Mars inständig bittet, er möge wieder die Griechen begünstigen und sich von den Türken abwenden. Marullo möchte an dem Kreuzzug teilnehmen. In Florenz hielt es der Kreuzritter in spe schon kaum mehr aus: Er spürte, wie er „von untätiger Muße verzehrt“ wurde. Marullo lässt alle Welt wissen, dass er zum Kreuzzug bereit ist.
Venus, Ovid und der Kreuzzug
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Für die weitere Interpretation der Intertextualität der Venus-Rede ist der historische Kontext relevant. Die Diskussion des Abfassungsdatums von „De exilio suo“ hat ergeben, dass Marullo das Gedicht nach der Drucklegung seines ersten Gedichtbandes 1489 (in Rom) geschrieben haben muss. In Frage kommt damit die Periode in Florenz, zwischen Anfang August 1489 und der Niederschrift der Handschriften des 3. Buches (jedenfalls vor Ende 1494). In dieser Zeit ereignete sich etwas, wodurch ein Kreuzzug zur Rückeroberung Konstantinopels ernsthaft diskutiert wurde. Papst Innozenz VIII. gelang es 1489 zur Überraschung vieler, den Bruder des Sultans, Djem, in seinen Gewahrsam zu bringen.92 Im März 1489 wurde Djem unter dem Jubel des Volkes in Rom empfangen. Da sich Marullo damals in Rom aufhielt, ist es wahrscheinlich, dass er die Einholung Djems miterlebte. In der Person von Djem hatte der Papst eine Handhabe gegen Sultan Bajaschid II. Wenn es gelingen sollte, mit einem Kreuzfahrerheer Konstantinopel zurückzuerobern, konnte man Djem als Gegensultan einsetzen. Djem versprach für den Fall, dass ihm die Christen das Kalifat sichern würden, dass er die Türken für immer nach Asien zurückziehen werde.93 Das hätte in der Tat das „Rad des Schicksals zurückgedreht“: Die Türkenfrage, die Europa seit 1453 ständig in Atem hielt, wäre dann nahezu gelöst gewesen. Der Papst beriet sich 1489 intensiv mit seinen Konsortien, wie man dies bewirken könne. Diplomaten wurden zu den europäischen Mächten zu sondierenden Verhandlungen entsandt. Im Herbst 1489 entschied sich die Kurie zur aktiven Vorbereitung eines Kreuzzuges. Noch im selben Jahr wurden Einladungen an die Machthaber Italiens und Europas zu einem Kongress in Rom verschickt, der auf den 25. März 1490 anberaumt war und an dem ein großangelegter Kreuzzug vorbereitet werden sollte. Der Kongress von 1490 zögerte sich jedoch hinaus, weil es die üblichen Streitigkeiten gab. Einerseits waren die Verhandlungspunkte äußerst konkret (Wie viele Soldaten waren erforderlich, wie viel Geld? Wer sollte den Oberbefehl erhalten? Welche Strategie sollte man anwenden? Wie lange sollte der Feldzug dauern – 3 oder 5 Jahre?), andererseits ließen konkrete Maßnahmen auf sich warten. Einen Tiefpunkt erreichten die Bemühungen um den Kreuzzug, als sich der Papst im November des Jahres von den Gesandten Sultan Bajaschids II. überreden ließ, Schutz92
93
Für eine Beschreibung dieser Ereignisse s. Von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance, Bd. III, 1, 256–277. Ebd., 270.
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geld für Djem anzunehmen. Der geistige Führer der Christenheit war vom Sultan bestochen worden. Djem blieb, wie auch immer, im Gewahrsam des Papstes. Diplomatische Verhandlungen wurden auch nach dem November 1490 fortgesetzt, wenngleich auf Sparflamme. Im Januar 1492 fing König Ferrante I. von Neapel an, sich für den Kreuzzug gegen die Türken zu interessieren.94 Er entsandte Marullos Lehrmeister, Giovanni Pontano, an die Päpstliche Kurie. Sultan Bajaschid II. reagierte mit einer diplomatischen Gegenoffensive: Er sandte dem Papst Geschenke, unter anderen die wertvolle Reliquie der Lanze, mit der Christus die Seite geöffnet worden war. Der Papst ließ sich erneut bestechen. Unter großem Pomp wurde die Lanze am 31. Mai 1492 in Rom eingeholt. Als der Papst in der Nacht vom 25. zum 26. Juli starb, ergab sich eine neue Situation. Marullo widmete Innozenz VIII. einen gehässigen Nachruf, in dem er sich für die Verschleppung des Kreuzzuges rächte: „Unter diesem Grabstein, Achter, liegen die Unflätigkeit, / Die Fresssucht, die Habsucht und die faule Tatenlosigkeit begraben“ (Epigrammata IV, 25). Der neue Papst Alexander VI. profitierte zunächst jedoch ebenfalls von den Schutzgeldzahlungen des Sultans. Allerdings erging am 17. Februar 1493 ein alarmierendes Schreiben des Königs von Neapel an den florentiner Botschafter Marino Tomacelli, ihm sei zu Ohren gekommen, dass der Papst mit Marullo (!) ein Komplott schmiede, um dem Anspruch der französischen Krone auf das Königreich Neapel stattzugeben.95 Der französische König Charles VIII. übernahm den Plan des Kreuzzugs zur Rückeroberung Konstantinopels. Als 1. Etappe setzte er die gewaltsame Besitzergreifung des Königreichs Neapel fest. Marullo wollte an dem Kreuzzug unbedingt teilnehmen. Ende 1494 verließ er Florenz, um sich nach Lyon zu Charles VIII. zu begeben. Wir wissen nicht, inwieweit Marullo vom jeweiligen Stand der Verhandlungen zwischen Sommer 1489 und Juli 1492 unterrichtet war. Wir können jedoch annehmen, dass er wusste, dass man über einen Kreuzzug zur Rückeroberung Konstantinopels verhandelte, besonders, seitdem er sich bei Lorenzo de’ Medici aufhielt (August 1489). Jedenfalls seit Anfang 1493 muss er einen ziemlich guten Informationsstand gehabt haben, da er an den Vorbereitungen des Kreuzzugs selbst beteiligt war. 1495 begleitete er Charles VIII. auf dem berüchtigten Marsch durch Italien. 94 95
Ebd., 278. Vgl. Kidwell, Marullus, 203.
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Es bleibt nur ein Schluss: „De exilio suo“ wurde während der zähflüssigen Verhandlungen über einen Kreuzzug zur Rückeroberung Konstantinopels geschrieben, als sich Marullo zumeist in Florenz aufhielt.96 Die Venus-Rhetorik in „De exilio suo“ mit ihrer Strategie der Empörungsrede (indignatio) und Mitleidsrede (miseratio) hängt mit diesem Problem zusammen. Marullo will zur Durchsetzung des Kreuzzugs überreden, indem er auf die elende, bemitleidenswerte Lage des Flüchtlings hinweist. Die autobiographische Retrospektive seiner früheren Existenz unter dem „Bessen“ dient hierfür als wirkungsvolles Argument. Die Ovidanbindung dient demselben Zweck: Sie soll beim Leser die lange und eindringliche Mitleidsrede aufrufen, mit der sich der römische Dichter in fast 7000 Versen über das Elend seiner Verbannung be96
Im Widmungsgedicht zum ersten Gedichtband an Lorenzo de’ Medici (Epigrammata I, 1), das Marullo kurz vor der Drucklegung, also kurz vor dem Sommer 1489, verfasst haben muss, präsentiert er sich als fahrenden Ritter: „Während ich in verschiedenen Weltteilen mein Schwert ziehe / Nimm du dies Geschenk (nml. den Gedichtband, Anm.) als Unterpfand meiner aufrichtigen Liebe an“ (Z. 9–10). In ihrer romantisch-historischen Datenbank-Interpretation hat Kidwell dies so aufgefasst, dass Marullo, während er diese Verse schrieb, in der Tat auf einem fernen Feldzug gewesen ist. Sie hat behauptet, dass Marullo damals wahrscheinlich bei König Maximilian von Österreich war (Kidwell, Marullus, 171). Zu diesem Schluss kommt sie aufgrund einer weiteren romantisch-historischen Interpretation eines Gedichts an Maximilian (Epigrammata III, 12), in dem Marullo diesen als Herrn der Donau bejubelt. Marullo hat Kidwells Meinung nach die Landschaft an den Donauufern so gut beschrieben, dass er „gives the impression that he was there for some time since he refers to the marble villas going up, the new houses everywhere in the fields, the large tracts of land being brought under cultivation […]“ (Kidwell, Marullus, 172). Dies zeigt nun abermals, wie man Lyrik nicht interpretieren darf. Es handelt sich dabei nicht um ein einfaches An-Ort-und-Stelle-Festhalten von dem, was man sieht und erlebt. Genausowenig wie Marullo je am Schwarzen Meer war, so wenig war er, als er Epigrammata III, 12 schrieb, tatsächlich an der Donau. Was Marullo hier liefert, ist keine realistische Beschreibung des Donauufers, sondern sind topische Versatzstücke einer Landschaftsbeschreibung. Die Textgeschichte lehrt, dass Marullo, als er diese Verse schrieb, die Donau nicht einmal vor seinem geistigen Auge gehabt haben kann! Denn das Gedicht war ursprünglich Lorenzo de’ Medici gewidmet, den Marullo als Herren der Toskana feiert. Statt „An Maximilianus Caesar“ stand dort ursprünglich „An Laurentius Medices“, statt „besiegte Städte“ „etruskische (= toskanische) Städte“ (Z. 1) und statt „Hister“ („Donau“) „Arnus“ („Arno“), der Hauptfluss der Toskana. Die Landschaftsbeschreibung hat mit der Donaulandschaft also überhaupt nichts zu tun. Die Tatsache, dass sich Marullo im Widmungsgedicht als fahrenden Ritter präsentiert, besagt nicht, dass er damals in der Tat an einem fernen Feldzug teilnahm. Es handelt sich um Selbstpräsentation, um Image-Building, um einen rhetorischen Akt.
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klagt. Der Wirksamkeit der Empörungsrede dient, dass Marullo die Ansicht westlicher genuesenfeindlicher Autoren über den Fall Konstantinopels übernimmt. Konstantinopel, sein Vaterland, ist durch Verrat und durch die Nachlässigkeit seiner griechischen Landsleute, allen voran Kaiser Konstantins gefallen! Wenn er z. B. die Version des Griechen Dukas angewendet hätte, wäre dieser Schuss nach hinten losgegangen. Nach Dukas ging es schief, weil sich Gott von den Griechen abgewendet hatte. Wie hätte man sich darüber noch empören können? Empörung ist nur dort möglich, wo es Schuldige gibt. Da sich Marullo an ein westliches Publikum richtete, musste er Sorge tragen, dass nicht die westlichen Großmächte oder der Papst die Schuld zugeschoben bekamen. Es hatte keinen Sinn zu argumentieren, dass Konstantinopel fiel, weil der Papst und die westlichen Mächte zu spät reagierten. Die Genuesen waren diesbezüglich ein geeigneterer Sündenbock. Auch ist klar, dass es in einer Empörungsrede kontraproduktiv war, die Übermacht der Türken zu betonen: Damit wäre einerseits die Schuld der Verteidiger minimiert, andererseits die Hoffnung auf den günstigen Ausgang eines Kreuzzuges zerstört worden! Die Hoffnung konnte nur dadurch vergrößert werden, dass man darlegte, die Verteidiger wären damals nicht adäquat vorgegangen. Wenn man damals mutig gekämpft hätte, wäre Byzanz nicht gefallen. Wenn man jetzt heldenmutig kämpft, kann man die Stadt zurückerobern. In diesem Sinn schreibt sich Marullo in den erhofften Kreuzzug ein. Er zeigt auf, dass er ein geeigneter Kandidat ist. Das fängt damit an, dass er klar macht, ein geborener Konstantinopolitaner zu sein. Er, der Sohn Konstantinopolitaner Adeliger, besitzt die stärkste Motivation zum Kampf, die es gibt: Es geht um sein Vaterland. Er proklamiert den Kampf für die „patria“ bis in den Tod. Er besitze einen „Geist, der ein Verächter des Lebens ist“. Er will, koste es was es kosten wolle, in die Stadt zurückkehren, in der sich die Gräber und Ehrenmonumente seiner Familienmitglieder befinden. Er verstärkt seine Motivation durch die Beteuerung, er fühle sich für die Ereignisse von 1453 schuldig. Sein Schuldgefühl ziert den Kreuzfahrer in spe umso mehr, als er 1453 noch ein Knabe war. Damit kann er am wenigsten dafür, dass damals einige Leute versagt haben. Er vergießt bittere Tränen, solange die Stadt nicht zurückerobert ist. Die Ovidischen Exiltränen dienen hier als verkapptes martialisches Argument: Schmerz als Motivation zum Kampf. Als Kämpfer wäre Marullo sehr tauglich. Als Grieche ist er von seiner Natur her ein tapferer Recke. Er attestiert, dass es Vätersitte sei, fürs Vaterland zu sterben. Er will damit die Schuld seiner Väter sühnen. Sühne ist ihm oberstes Ge-
Posthume Gräzisierung eines lateinischen Autors: Giovio
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bot. Sie ist nur möglich, wenn Konstantinopel zurückerobert wird. Die Strategie ist also nicht darauf ausgerichtet, die seelischen Befindlichkeiten des jungen Marullo in zweckfreier Retrospektive festzulegen, sondern sich mit einem überzeugenden Plädoyer in den ersehnten Kreuzzug einzuschreiben.
10. Posthume Gräzisierung eines lateinischen Autors: die Verortung des ‚Erlebnislyrikers‘ in der Biographik des Paolo Giovio (1546) In der Ruhmeshalle der Helden des Geistes, die Paolo Giovio in seiner Villa in Como anlegte, räumte er Michele Marullo einen Platz ein. Er besaß eine Kopie des Porträts, das Botticelli zwischen 1489 und 1494 von dem Dichter angefertigt hatte (Abb. 7, S. 368), wie aus dem Holzschnitt, den Tobias Stimmer nach dem Porträt herstellte, hervorgeht (Abb. 9). In der Biographiensammlung Elogia virorum literis illustrium, dem literarischen Pendant zu der Porträtgalerie, verfasste Giovio eine Kurzbiographie des Marullo.97 Bezeichnend ist, dass Giovio, obwohl er den abenteuerlichen Lebenslauf Marullos sogar mehrfach attestiert, ihn dennoch nicht als ‚Erlebnislyriker‘ darstellt. Er lobt vielmehr die hohe „elegantia“ seiner Gedichtsammlung (Epigrammatum libelli),98 ein Begriff, der sich auf die literarische Qualität, die antikisierende Authentizität, die intertextuelle Anbindung an die antiken Vorbilder und die Gelehrsamkeit des poeta doctus bezieht. Die getreue ‚Abbildung‘ des Lebens war in der Hochschätzung des Lyrikers nicht inkludiert. Zwischen dem soldatischen Leben Marullos und seiner lyrischen Produktion gibt es nach Giovio keinen direkten Zusammenhang. Der eine Bereich gehört dem Mars, der andere den Musen. 97
98
Paolo Giovio, Elogia virorum literis illustrium, quotquot vel nostra vel avorum memoria vixere. Ex eiusdem MUSAEO (cuius descriptionem una exhibemus) ad vivum expressis imaginibus exornata, Basel (Petrus Perna) 1577, S. 52–53. Zu Petrus Pernas illustrierter Ausgabe von Giovios Biographiensammlung vgl. P. O. Rave, „Paolo Giovio und die Bildnisvitenbücher des Humanismus“, in: Jahrbücher der Berliner Museen 1959 (119–154), 150–151. Tobias Stimmer reiste nach Como, um die von Giovio gesammelten Porträts abzuzeichnen. Vgl. E. F. Kossmann, „Giovios Portätsammlung und Tobias Stimmer“, in: Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde, N. F., 24 (1922), 49–54. Giovio, a.a.O.: „[…] post editos Epigrammatum libellos, quibus Apollo pereleganter arriserat“.
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Marullos lyrische Autobiographik
Abb. 9: Michael Marules. Paolo Giovio, Elogia virorum literis illustrium [ …], Basel (Petrus Perna) 1577, S. 52.
Posthume Gräzisierung eines lateinischen Autors: Giovio
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Diese werden als einander ausschließende Gegensatzbereiche verortet: Der Kriegsgott ist hart und unzivilisiert („durus“), die Musen zart und zivilisiert („tenerrimae“). Wenn Marullo an einer militärischen Kampagne teilnimmt, dichtet er nicht. Seine dichterische Produktion wird daher als abschnittmäßig („per intervalla“) eingestuft. Das romantische Bild des Dichters, der in seinem Militärzelt sich poetisch betätigt – welches den Umschlag von Kidwells Marullo-Buch ziert99 – liegt Giovio fern. Er konstituiert gerade als erstaunliche Leistung Marullos, dass er diese Gegensätzlichkeit in einer Person unterbringen konnte; dass er dichtete, obwohl er Soldat war. Mit der Fähigkeit, Gegensätze in sich zu vereinigen, hängt nach Giovio die zweite Hauptleistung des Marullo zusammen: Er verfasste lateinische Literatur, obwohl er Grieche war. Giovio hat das Griechentum des Marullo stark betont. Er verortet ihn in einer Reihe griechischer Intellektueller, Manuel Chrysolaras, Kardinal Bessarion, Georgius Trapezuntius, Theodorus Gaza, Joannes Argyropulos, Demetrius Chalcondyles, Marcus Musurus und Joannes Lascaris.100 Dabei ging Giovio davon aus, dass Marullo auch als Intellektueller vollständig in der griechischen Kultur verwurzelt war. Es war ihm offensichtlich unbekannt, dass Marullo seine gesamte Ausbildung im lateinischen Westen erhalten hat. Denn merkwürdigerweise behauptet Giovio, dass sich Marullo auch als Autor griechischer Lyrik hervortat! Seine außerordentliche Leistung wäre gerade gewesen, dass er den Sprung von der griechischen zur lateinischen Lyrik gewagt hätte.101 Diesbezüglich stellt Giovio Marullo auf eine Stufe mit Theodorus Gaza und Argyropulos, Griechen, die die lateinische Sprache ebenfalls beherrschten. Dies beruht jedoch auf einer Fehleinschätzung: Marullo war zweisprachig, während Gaza und Argyropulos, die einer anderen Generation angehörten (geb. um 1400 bzw. um 1415), griechische Muttersprachler waren, die Latein erst im fortgeschrittenen Alter als zweite Sprache hinzulernten.102 Argyropulos lehrte am Museion in Konstantinopel und verließ die Stadt erst kurz, bevor Mehmed II. zu ihrer Einverleibung ins 99 100 101 102
Gemalt von Nicholas Kidwell. Giovio, Elogia virorum literis illustrium, S. 41–60. Ebd., S. 52. Zu Theodorus Gaza s. D. J. Geanakoplos, „Theodore Gaza, a Byzantinian Scholar of the Palaeologan ‚Renaissance‘ in the Italian Renaissance“, in: Medievalia et Humanistica 12 (1984), 61–81; H. Hunger, Art. „Gazes, Theodoros“, in: LMA IV, Sp. 1151–1152; zu Joannes Argyropulos G. Cammelli, Giovanno Argiropulo, 1941; Chr. Böhme, Art. „Argyropulos, Johannes“, in LMA I, Sp. 925.
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Marullos lyrische Autobiographik
türkische Reich ansetzte; mit seiner Lehrtätigkeit in Italien fing er 1457 an, am Studio in Florenz. Er erlernte Latein erst, nachdem er das vierzigste Lebensjahr überschritten hatte. Gleiches gilt für Theodorus Gaza, der sich seit den Vierzigerjahren des 15. Jahrhunderts in Italien aufhielt. Es beruht auf dieser Fehleinschätzung, dass Giovio Marullo als griechischen Lyriker konstituiert. Marullo hat in Wirklichkeit weder griechischen Gedichte publiziert noch gibt es einen konkreten Hinweis darauf, dass er welche verfasst hätte. So zieht Giovio aufgrund des tödlichen Unfalls des Marullo in der Cecina den irrigen Schluss, dass die griechische Literatur dadurch ebenfalls einen herben Verlust erlitt.103
103
Giovio, a.a.O., S. 53: „Luxere eum pari moestitia Graeci Latinique“.
Selbstlob als autobiographische Methode
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XV. Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus’ Liebesbrief an die Nachwelt (1514) 1. Diskursbruch? Selbstlob als autobiographische Methode Als grundlegender Unterschied zwischen biographischen und autobiographischen Diskursen hat sich bisher ergeben, dass Biographien nach dem Regelsystem des rhetorischen Personenlobs eingerichtet werden bzw. so temperiert werden müssen, dass dieses Regelsystem nicht verletzt wird, autobiographische Texte sich jedoch davon distanzieren sollen. Ein wichtiger Punkt ist das Werten: Für den Biographen, der innerhalb der akzeptierten sozialen Verhaltensmuster operiert, ist es obligat, der dargestellten Person durch implizite oder explizite Wertungen die ihr zukommende soziale Ehre zu bezeigen. Der Autobiograph hingegen vermeidet positive Werturteile. Selbstlob verträgt sich nicht mit dem Ethos, mit dem sich der Autobiograph dem Publikum vermittelt. Dieser Diskursunterschied tritt dort besonders klar hervor, wo ein biographischer in einen autobiographischen Text transformiert wurde, wie im Fall Petrarcas, der Boccaccios Biographie zur Autobiographie (Brief an die Nachwelt) umschrieb: Wie oben gezeigt wurde, tilgte oder neutralisierte er mit Methode Boccaccios positive Wertungen. Die Autobiographie des deutschen Humanisten Helius Eobanus Hessus (1488–1540), Eobanus Posteritati (Brief Eobans an Frau Nachwelt),1 hält sich überraschenderweise gar nicht an dieses Diskursregulativ.2 Der Au1
2
Für den Text siehe Eobanus posteritati, in: Helius Eobanus Hessus, Dichtungen Lateinisch und Deutsch, hrsg. und übers. von H. Vredeveld, Bd. III: Dichtungen der Jahre 1528–1537, 476–483; H. C. Schnur (Hrsg., Übers.), Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, Stuttgart 1967, 210–219 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8739–45). Für eine erste Studie zu Eobanus’ Autobiographie im Rahmen der Ovid-Rezeption siehe meinen Aufsatz „Autobiographisches Ethos und Ovid-Überbietung: Die Dichterautobiographie des Eobanus Hessus“, in: Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), 25–38. Die Beobachtungen und Schlussfolgerungen dieses Aufsatzes wurden in vorliegendem Kapitel verarbeitet, das sich gleichwohl von dem Aufsatz
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
tor brüstet sich, stellt sich als außerordentlichen Menschen dar, schreibt sich ausschließlich positive Eigenschaften und unglaubliche Leistungen zu. Die Irritation, die er damit hervorruft, wird dadurch verstärkt, dass er Selbstlob nicht hie und da einstreut, sondern es methodisch entfaltet, streng nach dem topischen Regelsystem des rhetorischen Personenlobes, ähnlich wie die Biographen Boccaccio und Platina in Bezug auf Petrarca und Pius II. Das Regelsystem bestimmt, dass der Biograph zuerst die Abstammung und Herkunft des Biographisierten preisen solle: das Land/die Region, die Stadt und/oder die Eltern, deren Lob auf den Dargestellten abstrahlt. Eoban befolgt diese Vorschrift präzise, indem er sein Heimatland Hessen lobt: Das Land genießt die Segnungen großer und berühmter Ströme, des „wogenden Rheins“ (Z. 45) und der „gläsern glitzernden Wasser“ der Eder. Der Wasserreichtum macht das Land fruchtbar, und der Ruhm der Ströme überträgt sich auf das Land und seine Bewohner. Die Vorfahren im weiteren Sinn, die geschichtliche Vergangenheit vermögen ebenfalls Lob zu generieren. Eoban macht sich diesen Topos zunutze, indem er sich mit Hessens Geschichte schmückt, deren Bevölkerung er auf die Germanen der Antike, die Chatten, zurückführt (Z. 45–47). Der Umstand, dass das Land auf eine so alte Geschichte zurückblicken kann, verleiht Ruhm und Glanz. In Eobans Autobiographie erscheint es als Vorrecht, in einem solchen Land geboren zu sein. Ein Vorrecht wäre es auch, in einer alten, berühmten, großen, mächtigen und reichen Stadt zur Welt gekommen zu sein. Eoban nennt das hessische Frankenberg seinen Geburtsort, auf das jedoch keine dieser Eigenschaften zutraf. Was war in einem solchen Fall zu tun? Die Rhetorikleitfäden hatten dafür Lösungen parat – schließlich konnte es nicht jedem gegeben sein, in einer alten, berühmten, großen, mächtigen und reichen Stadt geboren zu sein. Man konnte zum Beispiel die Tugend des Biographisierten betonen, indem man sagte, dass er trotz dieses Nachteils schnell berühmt geworden sei, glänzende Leistungen erbracht, ein Amt erreicht habe usw. Eoban wählt hier die radikalste und prahlerischste aller Lösungen: Er ruft aus, dass nicht seine Vaterstadt ihn, sondern er seine Vaterstadt berühmt gemacht habe(!). Frankenberg ist nunmehr allgemein bekannt, weil dort der berühmte Eoban zur Welt gekommen ist(!). Dieses gesteigerte Selbstlob ist in zweifacher Hinsicht durch eine andere methodische Konzipierung im Sinne der historischen Diskursanalyse, durch die Differenzierung der Heroinenrhetorik in zwei Ebenen und durch eine gründlichere und umfänglichere Ausarbeitung unterscheidet.
Selbstlob als autobiographische Methode
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noch merkwürdiger: Erstens war Frankenberg, als Eoban seine Autobiographie verfasste, nicht als Eobanus-Hessus-Städtchen bekannt (der Autor war ein unbekannter junger Schriftsteller) und zweitens war des Dichters Geburtsort in Wirklichkeit nicht Frankenberg, sondern das Dörfchen Halgehausen (oder vielleicht Bockendorf).3 Lob generieren weiter Prophezeiungen, Vorzeichen, Orakel – eine Direktive, die beispielsweise Boccaccio in seiner Petrarca-Biographie oder Platina in seiner Pius-Biographie umsetzte. Für das autobiographische Schreiben ist übrigens bezeichnend, dass sich der Autobiograph in Bezug auf diesen Topos zurückhaltend bezeigt – Petrarca etwa hat die Prophezeiung der Biographie nicht in seine Autobiographie übernommen. Der Autobiograph Eoban hingegen konstituiert sich überraschenderweise unter einem äußerst günstigen Vorzeichen: Er behauptet, dass in der Nacht, in der er geboren wurde, das Sternbild der Leier (Lyra) aufgeleuchtet habe (Zeile 59–60), zum Zeichen, dass ein großer Dichter heraufkäme („Quaque ego nascebar, fulsit lyra nocte, fuitque / Una ortus facies illius atque mei“). Ja, er überbietet dieses unerträglich wirkende Selbstlob sogar noch einmal, indem er aufführt, dass einer der ersten Dichter des Landes ihm eine große Zukunft vorhergesagt habe: „Hessus, Knabe, einst wirst du die Zierde der heiligen Quelle sein“ („Hesse, puer, sacri gloria fontis eris“).4 In diesem Stil geht es weiter. Eoban lobt sich für seine Leistungen, seinen Eifer, Einsatz, Aufnahmefähigkeit, Frühreife, Umfang seiner dichterischen Produktion: Spielerisch dichtete ich außerdem noch ein sehr große Anzahl anderer Jugendgedichte, Die du, weil sie ja veröffentlicht sind, kennen kannst. Plurima praeterea iuvenilia carmina lusi, Quae, quia sunt etiam publica, nosse potes.5
Dass Eoban auch noch sein Aussehen und seine Körperkräfte lobt, vervollständigt für uns das Bild eines ruhmredigen, grenzenlos eitlen Mannes. Zum Anbeißen schön war er, anziehend kräftig und außerdem mutig und lebhaft: 3
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5
C. Krause, Helius Eobanus Hessus. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Culturund Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts (2 Bde.), Gotha 1879, Bd. I, 3 ff. Eobanus Posteritati, Z. 98. Es handelt sich um Mutianus Rufus. Wenn Eoban den Namen dieses Dichters, der kaum publiziert hat, genannt hätte, hätte die Prophezeiung an Wirkungskraft eingebüßt. Eobanus Posteritati, Z. 105–106.
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
Mein Körper war sowohl schön in all seinen Gliedern als auch imstande Schwere Strapazen zu ertragen. Ich hatte kräftige Arme, Beine und Einen kräftigen Leib. Ich besaß eine männliche Schönheit, ein makelloses Gesicht, eine breite Stirne und einen hochstrebend-feurigen Geist. Corpus erat membrisque decens patiensque laborum Robore firma suo brachia, crura, latus. Forma virum decuisse potest, sine labe decensque Frons diversa, animi spiritus altus erat.6
Wie ist zu erklären, dass Eoban das Selbstlob zum autobiographischen Prinzip erhob? Weshalb konnte er sich über die vorhandenen Diskursregulative hinwegsetzen? Aus welchem Grund die literarischen und sozialen Schamgrenzen ignorieren? Ist dies möglicherweise der literarischen Ungeschicklichkeit eines unerfahrenen Autors oder der Naivität eines jungen Mannes zuzuschreiben? Bevor diese Fragen verhandelt werden, ist es erforderlich, Eobans Lebenslauf überblicksmässig zu erfassen.
2. Vom Dörfler zum Dichter: Eobans Lebenslauf 7 Eobans tatsächliche Herkunft gab kaum Anlass zu berechtigtem Stolz: Er wurde am 6. Januar 1488 in einem hessischen Dorf, Halgehausen (oder Bockendorf), als Sohn eines hörigen Bauern des Zisterzienserklosters Haina, namens Koch, geboren.8 Eoban versuchte von frühester Jugend an seine niedrige Herkunft abzuschütteln. Er hatte Glück, dass Dietmar, der Abt des Klosters Haina, Eobans Begabung erkannte und ihm kostenlosen Schulunterricht gewährte; die Eltern aufmerksam machte, dass ihr Sohn zu anderem als zum Bauern befähigt sei. Ein weiterer günstiger Zufall war, dass ein Verwandter der Mutter, Johann Mebes, Lehrer an einer Lateinschule war. 6 7
8
Eobanus Posteritati, Z. 137–140. Zu Eobans Lebenslauf vgl. E. Bernstein, „Hessus, Helius Eobanus“, in: ER IV, 148–149; I. Gräßer-Eberbach, Helius Eobanus Hessus, der Poet des Erfurter Humanistenkreises, Erfurt 1993; E. Kleineidam, Art. „Eobanus, Helius Hessus“, in: CE, Bd. I, 434–436; Krause, Helius Eobanus Hessus und H. Vredeveld, „Eobanus Hessus“, in: J. N. Hardin, M. Reinhart (Hrsg.), German Writers of the Renaissance and Reformation, 1280–1580 (Dictionary of Literary Biography 179), Detroit-Washington-London 1997, 97–110. Die materialreichste Biographie ist nach wie vor die von Krause, Helius Eobanus Hessus; einen substanziellen und mit neueren bibliographischen Angaben versehenen Artikel liefert Vredeveld, „Eobanus Hessus“. Vgl. Krause, Helius Eobanus Hessus, Bd. I, 4–7. Die Überlieferung Bockendorfs als Geburtsort geht auf Camerarius, Narratio, zurück, die Halgehausens auf Wiegand Lanzes Geschichte des hessischen Landgrafen Philipp.
Vom Dörfler zum Dichter: Eobans Lebenslauf
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Man entschloss sich, Eoban zu ihm nach Gemünden zu schicken. Mebes förderte das Talent des Knaben so weit, dass dieser mit vierzehn Jahren auf die Lateinschule nach Frankenberg an der Eder übersiedeln konnte, zu Jakob Horle (Horlaeus), einem Alumnus der Universität Erfurt. Horle führte ihn in die lateinische Poesie ein und lehrte ihn die Kunst des Versemachens. Eoban verbuchte hervorragende Lernerfolge, so dass ein Universitätsstudium in Sichtweite kam. Im Alter von sechzehn Jahren (1504) immatrikulierte er sich an der Universität Erfurt, an der er 1506 das Baccalaureat in den Artes, 1508 den Magister- und 1509 den Doktortitel erreichte. Neben seinem Studium gab er sich mit Feuereifer humanistischen Bestrebungen hin. Häufig fuhr er in das benachbarte Gotha zu dem humanistischen Gelehrten Mutianus Rufus (Conrad Mut), der um sich einen Kreis Gleichgesinnter gesammelt hatte, den dieser, wie andere humanistische ‚Sektenführer‘, etwa Pomponio Leto, Platina oder Pontano, mit sakralem Pathos leitete.9 In Muts ‚lateinischem Orden‘ wurde Humanismus zelebriert. Eoban lernte dort eine Reihe talentierter junger Humanisten und Dichter kennen, Georg Spalatin,10 Johann Jäger (der die Humanistennamen Joannes Crotus Rubianus und Joannes Venatorius trug),11 Petreius (Peter Eberbach), den gekrönten Dichter Hermann Trebelius und nicht zuletzt den Ritter Ulrich von Hutten, eine der treibenden Kräfte des deutschen Humanismus. Mutianus Rufus, der Vorsteher des ‚Musenheiligtums‘, machte Eoban zu einem überzeugten Vertreter des Humanismus. Auf die Zeit der Gotha-Aufenthalte datieren auch Eobans erste publizierte poetische Versuche in lateinischer Sprache.12 Nach dem Studienabschuss gelang es Eoban die Aufmerksamkeit eines Mäzens auf sich zu ziehen, des Bischofs, Domherrn und Universitätsprofessors Joannes Lasphe (Bonemilch), der ihn zum Rektor der Stiftsschule von St. Severus ernannte. Als Schulmann war Eoban nicht erfolgreich, Pädagogik interessierte ihn kaum. Viel lieber wollte er lateinischer Dichter werden. Er wetteiferte mit Vergil, indem er Hirtengesänge, Bucolica, verfaßte,
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Zu Mutianus Rufus und seinem Kreis siehe H. R. Abe, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, Diss. Jena 1953 (Typoskript); F. Halbauer, Mutianus Rufus und seine geistesgeschichtliche Stellung, Leipzig 1927 (Neudruck 1972); E. Kleineidam, Art. „Mutianus, Conradus Rufus“, in: CE, Bd. II, 473–474; Ders., Universitas Studii Effordiensis, Leipzig 1964–1980, Bd. II, 223–225; F. W. Krapp, Der Erfurter Mutiankreis und seine Auswirkungen, Diss. Köln 1939 (Typoskript); Krause, Helius Eobanus Hessus, Bd. I, 33–51; R. W. Scribner, „The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt“, in: Journal of Religious History 9 (1976–1977), 3–31; Ders., Reformation, Society and Humanism in Erfurt c. 1450–1530, Diss. London 1972 (Typoskript); L. W. Spitz, The Religious Renaissance of the German Humanists, Cambridge Mass. 1963, 130–154. Zu Spalatin vgl. I. Höss, Art. „Spalatinus, Georgius“, in: CE, Bd. III, 266–268; Dies., Georg Spalatin 1484–1545, Weimar 1956. I. Guenther, Art. „Crotus, Johannes Rubianus“, in: CE, Bd. I, 362–363; Krause, Helius Eobanus Hessus, Bd. II, 164–167. Die metrische Schilderung des Erfurter Studentenaufruhrs (De pugna studentium erphordiensium, Erfurt, W. Stürmer, 1506) und der Flucht vor der Pest im selben Jahr (De recessu studentium ex Erphordia), sowie ein Loblied auf die Universität Erfurt (De laudibus […] celebratissimi gymnasii litteratorii apud Erphordiam, Erfurt, W. Stürmer 1507).
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
die er seinem Gönner Lasphe widmen wollte. Doch das Verhältnis brach abrupt entzwei: Der Bischof, der mit Eobans Unterricht unzufrieden war, entließ ihn kurzerhand. Eobans poetische Ambition hatte ihn in eine Notlage gebracht. Im selben Jahr (1509) gelang es ihm, sich aus ihr zu befreien, indem er Bischof Hiob von Dobeneck auf sich aufmerksam machte, der ihn als Sekretär anstellte. Im Gefolge Hiobs reiste Eoban nach Pommern, an dessen Bischofssitz in Prabuty (Riesenburg). Dort lernte er seinen langjährigen Freund Johann von Danzig (Joannes Dantiscus) kennen, der ebenfalls eine lateinische Autobiographie verfaßte.13 Während des Aufenthaltes in Riesenburg schuf Eoban den Hauptteil seines dichterischen opus magnum, der Heroides. Da Eoban gerne auf großem Fuß lebte, litt er unter chronischem Geldmangel. Zur Verbesserung seiner Einkommenslage nahm er 1513 das Jura-Studium in Angriff, in Frankfurt an der Oder und Leipzig. Seine humanistischen Studien führte er nebenher weiter: Während seines Jura-Studiums in Leipzig gab er seine Heroides Christianae heraus, die ihn mit einem Schlag berühmt machten. Seit dieser Zeit trat er selbst als Leiter eines humanistischen Bundes auf. In der Folge bekleidete Eoban eine Universitätsprofessur in Erfurt, die seine prekäre Einkommenslage zu verbessern schien (1518–1526). 1523 fing er, wieder aus Geldmangel, sogar mit einem weiteren Studium, der Medizin, an, was aber nicht den erwünschten Erfolg brachte. 1526–1533 lehrte er am Gymnasium in Nürnberg als Kollege seines früheren Schülers Joachim Camerarius. 1533 zog es ihn wieder an die Universität Erfurt. Eine Rettung vor dem finanziellen Ruin brachte eine Professur in Marburg, die er von 1536 bis zu seinem Tod im Jahre 1540 bekleidete. Die Marburger Professur brachte ihm endlich auch die ersehnte gesellschaftliche Anerkennung ein. Als wichtige Bestätigung betrachtete er, dass er 1538 zum Rektor gewählt wurde. Während seiner Marburger Jahre gab er als sein literarisches Vermächtnis seine Gesammelten Werke, Farragines heraus.14
3. Autobiographie als literarischer Liebesbrief Eobanus kam auf den reizvollen Gedanken, seine Autobiographie als Liebesbrief zu verfassen. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts demonstrierte Max Frisch in seiner autobiographischen Erzählung Montauk, ein welch wirkungskräftiges autobiographisches Potential ein Liebesverhältnis als autobiographischer Referenzpunkt hergibt. Die Einbettung der Selbstdarstellung in eine Liebesbeziehung kann zum Beispiel Intimität, Authentizität und Aufrichtigkeit vermitteln. Der passionierte Kritiker Reich-Ranicki hat Montauk in der Tat als Frischs „aufrichtigstes Buch“ bezeichnet und es gewissermassen zum Lohn in seinen Kanon der 13
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Zu Dantiscus vgl. J. Ijsewijn, W. Bracke (Hrsg.), Johannes Dantiscus (1485–1548). Polish Ambassador and Humanist. Proceedings of the International Colloquium Brussels, May 22–23, 1995, Turnhout 1996. Farragines duae, quibus multa accessunt nunc primum aedita, Halae Suevicae 1539.
Autobiographie als literarischer Liebesbrief
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deutschen Prosa aufgenommen. Wer sollte die Adressatin von Eobans Liebesbrief-Autobiographie sein? Mit welchen Auswirkungen der Adressatinnenwahl auf die Selbstkonstituierung hatte er zu rechnen? Die Grenzen lassen sich am besten ausloten, wenn man sich die Implikationen eines ‚gewöhnlichen‘ Falls vergegenwärtigt, also – ein Mädchen aus Erfurt, aus bürgerlichem Haus, im heiratsfähigen Alter. Auf welche Weise hätte Eoban sich selbst präsentieren können? Welche Aspekte seiner Person hätte er zur Geltung bringen können? Der von einer solchen Adressatin bedingte Diskurs hätte gewissermassen zwangsläufig zur Argumentationsstrategie geführt, sich als passenden, reizvollen und seriösen Heiratspartner vorzustellen. „Ich bin ein lateinischer Dichter“, „Ich bin Student“, „Mit meinen Gedanken bin ich im Altertum“ oder „Ich halte leidenschaftlich gern mit meinen Freunden Sitzungen in der Kneipe ab, sie nennen mich Eoban den Schwan (Eobanus Swanus)“, „mit meinem ersten Studium war kein Brot zu verdienen, deshalb habe ich gerade mit einem anderen angefangen“, „wobei mir dennoch das Verfassen lateinischer Gedichte die wichtigste Sache der Welt ist“ usw. hätte in diesem Diskurs keinen sinnvollen Platz gehabt, obwohl diese Aussagen der Wahrheit sehr nahe gekommen wären. Wenn Eoban eine solche Adressatin gewählt hätte, hätte er unweigerlich für ihn wichtige Aspekte seiner Persönlichkeit ausblenden müssen. Stattdessen hätte er sich bemühen müssen, aufzuzeigen, dass er ein gutes und festes Einkommen besitze, aus gutem Hause stamme, imstande sei, der Frau eine sichere Existenz zu gewährleisten, weiter, dass er Tugenden besitze, die mit diesen schönen Angaben korrespondieren. Wie aus der obigen Kurzbiographie hervorging, hätte sich Eoban als völlig andere Persönlichkeit darstellen müssen. In Wirklichkeit stammte er aus erbärmlichen Verhältnissen; als Sohn eines hörigen Bauern war er keine Partie für eine Bürgertochter. Außerdem verfügte er weder über Haus noch Vermögen und hatte vor kurzem, da er Schulden gemacht hatte, mit einem neuen Studium angefangen. Ein Dörfler und ewiger Student. Eobans autobiographischer Selbstkonstituierungsrahmen wäre so eingeengt worden, dass dieser Text weder bei der betreffenden Frau noch bei seinem Publikum Anklang gefunden hätte. Noch wichtiger ist, dass ein solches Geschöpf nicht zu den übrigen Frauen gepasst hätte, die in Eobans Heroides Christianae, dem Werk, in welches der autobiographische Brief Eobanus Posteritati eingebettet ist, das Sagen haben. Gegenüber den weiblichen Heiligen und Märtyrern hätte sie als bizarrer Fremdkörper gewirkt. Eoban brauchte etwas anderes, ihm standen andere Inhalte und ein anderer Diskurs vor Augen. Eine weibliche Gestalt war gesucht, die sich
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
sowohl in den Reigen der christlichen Heroinen einfügen als auch dem Autor ermöglichen würde, die Aspekte seiner Persönlichkeit, die er als darstellenswert betrachtete, zu vermitteln. Eine Frau also, die ihn versteht; die hören will, dass er ein lateinischer Dichter sei, die antiken Autoren über alles liebe, humanistische Freundschaften pflege. Eine Frau, die in die beiden Diskurse passen würde, die Eoban in seiner Autobiographie zusammenführen wollte, den Diskurs der elegischen Dichterautobiographie, nach dem Modell von Ovids Tristia IV, 10, und den des Heroinenbriefs, nach dem Modell der Heroides desselben Dichters. Der Diskurs von Ovids Gattungsschöpfung15 der Heroides ist in der Weise eingerichtet, dass Frauengestalten des Mythos (Heroinen), in der Regel Töchter, Gattinnen oder Geliebte von Königen oder Königssöhnen, sich nach ihren in der Ferne weilenden Männern sehnen und ihrem Verlangen in einem Liebesbrief Ausdruck verleihen: Penelope sehnt Odysseus (Herrscher von Ithaka) herbei, Phaedra (Königsgattin von Athen) Hippolytus, Dido (Königin von Karthago) Aeneas, Ariadne Theseus (König von Athen) usw. Die Frauen versuchen, in den Briefen ihre Männer zu überreden: sie herbeizulocken, zur Rückkehr oder zur Erwiderung der Liebe zu bewegen. Der Diskurs ist von einer starken rhetorischen, persuasiven Orientierung gekennzeichnet; in gewissem Sinn stellen diese Briefe kleine Kunstreden in Versform dar, die der Überredung des Liebhabers gewidmet sind. Innerhalb dieser persuasiven Orientierung funktioniert die Darstellung von Gefühlen und persönlichen Gedanken, für die Ovid eine differenzierte Palette entwickelt hat. Gefühle des Schmerzes, der Trauer, der Verlassenheit, der Sehnsucht, der Zuneigung, der Liebe, der Freude, der Erfüllung, der Treue, des Ärgers, der Eifersucht, ja des Hasses entfalten sich in vielen interessanten Schattierungen vor den Augen des Lesers. Was den Bereich des Persönlichen und Emotionalen betrifft, schließt der Diskurs der Heroides an den der Elegie an.16 Im formalen Bereich geht dies mit der Verwendung des Elegischen Distichons einher. 15
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Freilich war vor Ovid schon Properz auf die Idee des Heroides-Briefs gekommen (Elegien IV, 3). Jedoch hat er keine entsprechende Sammlung veröffentlicht, so dass Ovid den Anspruch erheben konnte, der Gattungsgründer zu sein (Ars amatoria III, 346). Zu den Heroides vgl. N. Holzberg, „Elegische Liebe im Konflikt mit mythischer Realität: Die Epistulae Heroidum und die Briefpaare“, in: Ders., Ovid, München 1998 (2. Aufl.), 79–99; H. Jakobson, Ovid’s Heroides, Princeton, New Jersey 1974; F. D. Kennedy, „The Epistolary Mode in the First of Ovid’s Heroides“, in: The Classical Quarterly 34 (1984), 413–422; H. Rahn, „Ovids elegische Epistel“, in:
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Ovids Gattung der Heroides fand in der der lateinischen (und der volkssprachlichen) Literatur der Frühen Neuzeit außerordentlich großen Anklang. Heinrich Doerrie hat in seiner Pionierstudie einen eindrucksvollen Versuch unternommen, das Riesencorpus der Texte zu erschließen.17 Die intensive Auseinandersetzung der frühneuzeitlichen Autoren mit der Gattung förderte zahlreiche Variationen zu Tage. Neben Gestalten des klassischen Mythos werden jetzt auch jüngere, vor allem frühneuzeitliche historische Personen verwendet, die vorzugsweise aus adeligen Häusern stammen. Eoban hat seine Erfindungsgabe einer weiteren Variation gewidmet, indem er seine Heroinen als Märtyrerinnen und Heilige konzipierte. Die Liebesbeziehung wird bei ihm ins Geistige und Religiöse, in den amor Dei transponiert: Eobans Heroinen sehnen sich nach Gott. Weiter kommen in der frühen Neuzeit verstärkt die Männer zu Wort, die ihren Damen antworten oder selbst die Initiative ergreifen. Obwohl das Liebesthema weiterhin im Vordergrund steht, verbreitert sich das thematische Spektrum und fächert sich auf. Dabei spielt die (auto)biographische18 Erzählung eine bei weitem größere Rolle, als Doerrie ihr aufgrund seiner These des ‚Zweitvollzugs‘ als Gattungsmerkmal der Heroides ursprünglich zubilligte.19 (Auto)biographische Angaben eignen sich hervorragend als persuasive Argumente. Bei
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Antike und Abendland 7 (1958), 105–120; G. A. Seeck, „Ich-Erzähler und ErzählerIch in Ovids Heroides. Zur Entstehung des neuzeitlichen literarischen Menschen“, in: E. Lefèvre (Hrsg.), Monumentum Chiloniense. Studien zur augusteischen Zeit. Kieler Festschrift für Erich Burck zum 70. Geburtstag, Amsterdam 1975, 436–470; F. Spoth, Ovids Heroides als Elegien, München 1992 (Zetemata 89). H. A. Dörrie, Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968; für die niederländische Literatur siehe die Monographie von O. van Marion, Heldinnenbrieven. Ovidius’ Heroides in Nederland, Diss. Leiden 2005. ‚Autobiographisch‘ aus der Sicht des (fingierten) Briefschreibers, ‚biographisch‘ aus der Sicht des Autors und der Leser. Natürlich wird ein Heroides-Dichter nicht danach streben, bekannte Mythen schulmässig und möglichst vollständig nachzuerzählen. Wenn ein klassischer Mythos sein Stoff ist, betrachtet er es als Ziel seiner Kunst, (auto)biographische Elemente auf subtile Weise in seine Briefargumentation einzuarbeiten. Wenn er andere Stoffe behandelt, verfällt die Beschränkung, auf Wiederholung des allzubekannten Inhalts zu verzichten, von vorneherein. (Auto)Biographische Angaben zum Leben frühneuzeitlicher Menschen sind durchaus willkommen. Van Marion geht in ihrer Studie nicht auf Doerries These des ‚Zweitvollzugs‘ ein, bemerkt jedoch zu Recht, dass eine autobiographische Skizze zu den Standardargumenten der Heroides zählt (Heldinnenbrieven, 40). Sie belegt das mit den von ihr behandelten Beispielen des niederländischen Raums (passim).
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
aller Differenzierung behält der Diskurs seine distinkte soziale Färbung: Nicht jeder darf sich der heroischen Briefrede befleissigen, das Wort erhalten nur Personen, die aus den höchsten Kreisen stammen. Indem Eoban entschlossen sich selbst das heroische Wort erteilt, nimmt er eine gewagte Richtungstransformation des Diskurses vor. Mit Flair setzt er sich mit einem Streich über die sozialen Diskursgrenzen hinweg. Der Bauernsohn, der Sohn eines Dienstmannes tritt als Held hervor! Der studentische Habenichts usurpiert den Raum der höchsten Elite. Der literarische Handstreich hat etwas Revolutionäres an sich. Eoban erkennt dem Adel sogar die von ihm beanspruchte Vorangstellung explizit ab, indem er ihm einen von der sozialen Herkunft unabhängigen Tugendadel gegenüberstellt. Eoban fordert von seiner Heroine: Frage nicht, was mein Familienwappen oder wer meine Eltern gewesen sind! Sie waren beide arme, jedoch unbescholtene Leute. Ich führe hier weder Adel noch Ahnherren noch Ahnentafeln auf. Ach, ich möchte meiner Tugend wegen als adelig gerühmt werden. Quae mihi signa domus, qui sint, ne quaere, parentes. Pauper uterque fuit, sed sine labe parens. Non genus aut proavos numero, non stemmata avorum Virtute o utinam nobilis esse ferar (Z. 63–66).
Was ist Eobans Tugend? – Seine Begabung als lateinischer Dichter. Somit transformiert er den Blutadel in einen Bildungsadel. Dieser Schritt Eobans beschränkt sich übrigens nicht auf den vorliegenden Text. Er verfasste eine theoretische Schrift mit dem Titel Vom wahren Adel (De vera nobilitate),20 in der er zu beweisen versuchte, dass der „wahre Adel“ auf individueller Leistung (Tugend) beruhe. Es ist klar, dass sich die Frage, an welche Heroine der Brief gerichtet werden sollte, nunmehr in einem anderen Licht stellt. Eine konkrete Neueinordnung in den sozial dominierten Heroinendiskurs (etwa in dem Sinn, dass die Adressatin ein edles Fräulein sei) wäre in der nunmehrigen Situation ziemlich nachteilig gewesen, weil sie unwillkürlich Eobans soziale Inkompatibilität erwiesen hätte. Also war es sinnvoll, eine Adressatin zu finden, die nicht in dieses Korsett geschnürt war. Da hatte Eoban eine zündende Idee: Seine Heroine sei eine Personifikation. Personifikationen entziehen sich dem Irdisch-Materiellen, damit auch der strikten Sozialordnung. Auf die Erfindung der passenden Personifi20
Vgl. C. Krause, „De vera nobilitate. Eine neu aufgefundene Schrift des Helius Eobanus Hessus“, in: Centralblatt für das Bibliothekswesen 11 (1894), 163–169.
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kation kam Eoban durch die Lektüre von Ovids Dichterautobiographie Tristia IV, 10: Dort taucht in den Anfangszeilen der Begriff posteritas, Nachwelt, auf. Was, wenn man sich posteritas als weibliche Gestalt denke? Frau Posteritas stellte sich als ideale Heroinen-Partnerin für den selbsternannten ‚Helden‘ Eoban heraus. Seinen Heldenstatus schrieb sich Eoban ja aufgrund seiner Begabung und Leistung als Schriftsteller zu, genau das, worauf sich Posteritas bezieht. Die Tatsache, dass Eoban mit ihr redet, wird stets auch als Bestätigung und affirmierender Beweis seiner Leistung und Begabung, und damit seines Helden-Status, wirken. Als Heroine, als begehrte Frau, ist Posteritas in mehr als einer Hinsicht reizvoll und sinnvoll. Da Posteritas schon von ihrer Definition her stets in der Ferne liegt, vermittelt sie hervorragend die von Sehnsucht und unerfüllter Liebe geprägte Diskurssituation des Heroinenbriefs.21 Auch bietet sie eine ausgelesene Möglichkeit, das Liebesthema des HeroidesBriefes zu variieren und zu transformieren. Indem der Dichter nach dem Vorbild des Horaz, Ovid usw. ewigen Ruhm erstrebt, stellt er sein gesamtes Schaffen und Leben in den Dienst von Frau Posteritas. Dabei ergeben sich reiche Möglichkeiten, im literarischen Spiel Doppelbödigkeiten herzustellen zwischen sexueller Liebe und intellektuellem Streben; eine problematische, besonders intensive Liebesbeziehung auf überzeugende Weise zu gestalten. Denn der Reiz dieser fernen Liebe ist umso größer, als sie prinzipiell unerfüllbar ist. Der Liebhaber wird seine Geliebte nie mit eigenen Augen schauen, nie mit ihr in persönlichen Kontakt treten können; der Liebesakt kann nur nach dem Tod des Liebhabers stattfinden.22 Aber auch der Liebesakt im Tode ist unsicher: Der Schriftsteller, der um die Hand der Posteritas wirbt, kann nie wissen, ob er sie post mortem auch erhalten wird. In puncto Unsicherheit ähnelt Posteritas Frau Fortuna: Je mehr man sie besitzen will, desto eher entgleitet sie: „Je mehr man dich umwirbt, desto mehr weichst Du schelmisch / Zurück: So treibst Du mit Deinen Freiern Dein Spiel, schlüpfrige Göttin! […] / Schlüpfrig entgleitend, sich nähernd und sträubend / Zugleich: nie lässt sich Deine wunderschöne Gestalt erhaschen“.23 Der Schriftsteller, der berühmt werden will, lässt
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Schon die durch die Briefsituation bedingte Abwesenheit gibt dies vor. Eobanus Posteritati, Z. 15–16: „Nemo tuis potuit vivens amplexibus unquam / Nemo tuo praesens captus amore frui“ („Niemand hat sich je, während er noch am Leben war, Deiner Umarmung erfreuen, keiner, der von Liebe zu Dir ergriffen war, ihr teilhaftig werden können“). Eobanus Posteritati, Z. 7–8 und 17–18 (Übers. von Vredeveld).
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sich auf ein gefährliches, aber umso reizvolleres blind date mit seinen künftigen Lesern ein. Für die Liebe des literarischen Helden Eoban gilt dasselbe wie für andere Liebesverhältnisse: Je mehr Schwierigkeiten sich in den Weg stellen, desto stärker wird sie. Eoban lässt nicht von Posteritas ab, er hat sie schon immer geliebt und er will sie besitzen: Dich habe ich, wie Du weißt, immer als erste geliebt […] Von Dir hatte ich eher in meinem Geist ein Bild geformt, Als ich zu sagen verstand, wie ich Dich wohl am besten umwerben konnte. Fast noch ein Knabe, weihte ich Dir meine jugendliche Begabung, denn Ich sehnte mich, ein noch so geringer Teil Deines Heeres zu sein.24
Diese Beteuerung bildet den Auftakt zu einem persuasiven Text, einer Kunstrede. Damit war ein überzeugender Diskursrahmen für die Autobiographie gefunden. Das Selbstlob funktioniert nunmehr in diesem Diskursrahmen, rechtfertigt sich von seinem rhetorischen Ziel her: Der Liebhaber preist sich, um seine Geliebte vom Wert seiner Person zu überzeugen. Somit ist die Schilderung von Eobans Leben stets auch als Argumentation zu lesen, welche die Dame Posteritas zur Erwiderung der Liebe bewegen soll. Diese Konzeption bestimmt die Auswahl der Lebensfakten und Themen: Nur das wird gewählt, was für Eobans Überredungsziel zweckdienlich ist. Da er vor allem als Dichter berühmt werden will, ist auch klar, dass er diesen Persönlichkeitsaspekt hervorhebt. Er will, dass Frau Posteritas Eoban den Dichter liebt. Die Autobiographie ist umso sinnvoller, als Eoban verlangt, dass Frau Nachwelt einen jungen und unbekannten Dichter liebe. Er publiziert das Werk, mit dem er bekannt zu werden hofft, gerade erst jetzt. Dazu passt, dass er das Werk, die Heroides Christianae, der Posteritas als Liebesgeschenk darreicht: „Während unser dreimal höchster Kaiser Maximus/ Aemilianus [= Maximilian I., Anm.] die Blitze des schonungslosen Mars gegen die Venezianer schleudert, / Schreibe ich diese Heldinnenbriefe von berühmten Frauen. / Dir widme ich sie besonders, o Nachwelt. Nimm, göttliche Greisin, / Die Liebespfänder freundlich in Deinem Schoß auf, / Wenn es Dir möglich ist, und sei ihnen eine zärtliche Mutter“.25 Frau Posteritas soll das Werk gnädig aufnehmen. Sie soll Eoban unsterblich machen.
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Eobanus Posteritati, Z. 35–40 (Übers. nach Vredeveld). Eobanus Posteritati, Z. 109–114 (Übers. nach Vredeveld).
Heroinenrhetorik 1: Erotische Selbstkonstituierung
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4. Autobiographik als Heroinenrhetorik, erste Ebene: erotische Selbstkonstituierung Mit seinem Liebesbrief an die Nachwelt ist Eoban ein wahres Kunststück gelungen. Die Sinngebung des Textes spielt sich auf zwei Ebenen ab. Zunächst verleiht Eoban seinem Werbeschreiben eine erotische Ausrichtung, in der der Briefempfänger als eine für sexuelle Signale empfängliche Frau gedacht ist. Oben wurden bereits einige Beispiele von Eobans erotischer Gestaltung der Posteritas als schlüpfrige, schwierige, unerreichbare Geliebte angeführt. Hier soll es nunmehr um die Erotik des autobiographischen Arguments gehen. Mit welcher autobiographischen Präsentation macht Eoban die Geliebte an? Womit will er sie reizen, ihre Aufmerksamkeit erregen? Was verschweigt er? Um Eobans Gedankengänge auf dieser Ebene zu verfolgen, müssen wir die Wertmassstäbe von aus Eobans Sicht begehrenswerten LeserInnen des 16. Jahrhunderts anlegen. Als Leser gehören wir dem Bildungsadel und der sozialen Elite an. Als Leserinnen haben wir dieselben Vorzüge, wobei wir ausserdem jung, hübsch, auf passende Weise arrogant und vor allem wählerisch sind. In was für einen Mann würden wir uns – im Gedankenexperiment – verlieben? Wohl nicht in einen Bauernsohn, einen Bocken- oder Halgedörfler. Obwohl wir nicht so engstirnig sind, dass uns daran läge, dass unser Liebhaber unbedingt von Adel sei: Ein Dörfler, eine Figur, wie sie Breughel gemalt hat, wäre wegen ihrer geistlosen Körper- und Erdbezogenheit eher ein Remedium amoris. Natürlich war Eoban klar, dass er als Dörfler keine Chance haben würde. Ehrlichkeit war hier also fehl am Platze. Es lässt sich von daher verstehen, dass er seine bäuerische Abstammung verschwieg und als Geburtsort statt Bockendorf das Städtchen Frankenberg angab. Eoban tat übrigens gut daran, uns bezüglich seiner Herkunft keine spektakulären Geschichten aufzutischen. Wenn er behauptet hätte, von adeligen Vorfahren abzustammen, hätten wir uns vielleicht erkundigen können, da wir ja nicht auf einen Parvenü hereinfallen wollen. Es macht Eoban im Gegenteil vertrauenswürdig, dass er unumwunden zugibt, nicht von Adel zu sein (Z. 62–63). Was erotisiert an der Abstammung sonst, wenn Adel nicht in Betracht kommt? Eoban verlegt sich auf das Land, in dem er geboren war, „Germanien“, Hessen. Das soll auf uns Eindruck machen, durch die Geschichtsträchtigkeit des Landes, die wir als HumanistInnen vor allem hochschätzen, und durch die Eigenschaften, die man seit der Antike den Bewohnern zusprach: Tapfere und kräftige Kämpfer brachte das Land
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
hervor. Mit der stolzen Angabe, aus dem „kämpferischen Hessen“, pugnax Hessia, zu stammen, appelliert Eoban an unsere Sinnlichkeit. Jetzt will uns der Jüngling Eoban mit seinem Lebenslauf beeindrucken – was soll er uns erzählen? Seine Kindheit möglichst ausführlich und ehrlich schildern? Das wird einmal Frauen in der Utopia des 21. Jahrhunderts interessieren, jedoch nicht die begehrenswerten LeserInnen anno 1514. Welchen Sinn hätte eine solche Argumentation? In der Utopia des 21. Jahrhunderts mag das Kindische im Mann charmant wirken, im 16. Jahrhundert erscheint es eher albern. Eoban war klar, dass er mit umfänglichen Kindheitserzählungen keine gute Figur machen würde. Wegen seiner Jugend war es daher nicht sinnvoll, eine detaillierte chronologisch angelegte Lebensschilderung zu liefern. Deshalb gruppiert er sein Leben um ein Hauptthema: das Dichtertum. Alles weitere, das Eoban über sich vermeldet, steht im Zeichen dieses Gegenstandes. Eoban entwirft sich als Dichter, wirbt um uns als Dichter. Damit hat er das Gebiet erreicht, auf dem er auf uns Eindruck machen kann: seine Bildung, seine Beherrschung der Kultursprache Latein, seine dichterischen Fähigkeiten, seine literarischen Leistungen. Eoban betont die inbrünstige Hingabe, die er an den Tag legte, um die Regeln der lateinischen Dichtkunst zu erlernen. Auch scheint er frühreif gewesen zu sein. Sofort nach Bemeisterung der Metrik seien Verse aus seiner Feder geflossen, unverzüglich sei er berühmt geworden. Ein führender Dichterkollege habe ihm eine große Zukunft vorhergesagt. Mit fünfzehn habe er sein erstes Werk publiziert, seine dichterische Produktion sei bereits zu diesem frühen Zeitpunkt sehr umfangreich gewesen. Dies macht Eindruck auf uns, besonders da sein Talent von anderen offensichtlich beglaubigt wurde. Dass Eoban seine Publikationen auflistet, bestätigt seine Angaben. Der Dichter-Jüngling hat unsere Aufmerksamkeit erregt. Dennoch: Obwohl uns begehrenswerten LeserInnen Bildung, Literatur und Geist die Hauptsache sind, schauen wir nichtsdestoweniger auch ein wenig auf das Äußere. Wie sieht er aus? Hoffentlich kein Intellektueller wie er im Buche steht, ein schwächlicher Mann, blass, mit eingefallener Brust und gekrümmtem Rücken? Eoban, der solche Zweifel vorhersah, räumte sie unverzüglich aus dem Weg: „Mein Körper war sowohl schön in all seinen Gliedern als auch imstande / Schwere Strapazen zu ertragen. Ich hatte kräftige Arme, Beine und / Einen kräftigen Leib. Ich besaß eine männliche Schönheit, ein makelloses / Gesicht, eine breite Stirne und einen hochstrebend-feurigen Geist“.26 26
Eobanus Posteritati, Z. 137–140.
Heroinenrhetorik 2: Werbeschreiben des Autors
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Das Gedankenexperiment zeigt, auf welche Weise das Selbstlob, das zunächst Irritation erweckte, im Rahmen der erotischen Organisation der autobiographischen Rhetorik einen Sinn ergibt. Das Werben des Liebhabers ist entschuldbar, wirkt charmant, selbst wenn oder vielleicht besonders wenn bei gleichzeitigem Versiegen der rationalen Argumente die Intensität zunimmt. Aus der Heroinenrhetorik, mit der Eoban Fräulein P. zu überreden versucht, ergibt sich übrigens auch, dass es nicht vornehmlich sein Ziel gewesen sein kann, möglichst viele individuelle Züge mitzuteilen. Das Individuelle ist leicht angreifbar, manches kann abstoßend wirken. Der Text soll aber ein Werbeschreiben sein. Die geringe Anzahl der individuellen Lebensdetails zeigt nicht, dass Eoban nicht imstande war, derartiges darzustellen, sondern im Gegenteil, dass es im persuasiven Rahmen zweckdienlich war, diesbezügliche konkrete Angaben nach Kräften zu verschweigen. Das Resultat ist eine idealisierte, durch Selbstmystifizierung überhöhte Dichterexistenz, die mit wenigen Retouchen auf eine ganze Reihe neulateinischer Dichter aus dem deutschen Sprachgebiet zutreffen könnte. Bezeichnend ist Eobans Darstellung seines Aussehens und Körpers, potentiell ein ausgelesenes Thema, individuelle Züge zu vermitteln. Das Bild, das Eoban aufruft, ist das einer Idealgestalt: stark und schön. Konkreteres oder gar körperliche Besonderheiten (wie bei Petrarca und Cardano) erfahren wir nicht. In seiner Heroinenrhetorik will Eoban die potentielle Geliebte mit seinem „makellosen“ Äußeren verführen („sine labe“, Z. 139). Die Barbie- und Kent-artige Verwischung der Individualität ist nicht für die humanistische Autobiographik an sich bezeichnend, passt aber zur literarischen Selbstkonstituierung des jungen Liebhabers im Heroinenbrief.
5. Autobiographik als Heroinenrhetorik, zweite Ebene: vom Liebesbrief zum Werbeschreiben des Autors an die Respublica litteraria Die erotische Selbstkonstituierung ist jedoch nicht die alleinige Aufgabe dieses Heroinenbriefes. Man könnte sogar sagen, dass sie eher die äußere Hülle darstellt, in der, reizvoll verpackt, der Autor ein anderes Anliegen vorträgt. Die Sehnsucht, die den jungen Dichter hier vor allem beseelt, ist, in die Gemeinschaft der Humanisten, die Respublica litteraria, aufgenommen zu werden, und zwar mit seinem ersten großen Werk, den Heroides Christianae, und insbesondere der darin eingebetteten Au-
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
tobiographie. Posteritas fungiert als die Personifikation der Respublica litteraria bzw. des Wunsches, ihr zuzugehören. Obwohl sich Posteritas wörtlich aufgefasst nur auf die Leserschaft nach dem Tod des Dichters bezieht, schließt sie dennoch gedanklich die Mitwelt ein. Posteritas ist ohne diese gar nicht vorstellbar, wobei hinzukommt, dass, wer die Nachwelt erreichen will, zuerst die Mitwelt von seinen Qualitäten überzeugen muss. Posteritas ist also im Grunde eine idealisierte und überhöhte Version der mitweltlichen Respublica litteraria. Eobans Heroinenrhetorik läuft auf das überraschende Resultat hinaus, dass sie sich mit ihrem Werben eigentlich an Männer (aus denen sich ja die Respublica litteraria fast ausschließlich konstituierte) richtet, und dass die bei einem ersten Lektüregang auffallenden erotischen Argumente jeweils auch in nicht-erotischem Sinn gemeint sind. Dabei stellt sich heraus, dass fast jedes Argument der Heroinenrhetorik an Überzeugungskraft gewinnt. Einige Beispiele: Die dörflerische Herkunft stieß mehr noch als wählerische Fräuleins die Mitglieder der Respublica litteraria ab. Die Gebildeten, die sich als zur Elite gehörig betrachteten, empfanden zum Lebensbereich des bäurischen Dorfes einen starken Gegensatz. Zum Selbstbild der Humanisten gehörte Kultiviertheit, Bildung (litterae), Freizeit (otium). Mit Bauerntölpeln wollten sie nichts zu tun haben. Sich als Bockendörfler zu affichieren, wäre also eine negative Empfehlung gewesen. Die kaum kontrollierbare Notlüge von der Frankenberger städtischen Herkunft ist hier also a fortiori sinnvoll. Auch die Betonung der Geburtsregion Hessen ist als Werbeargument in Bezug auf die Respublica litteraria sinnvoller als auf der erotischen Ebene: Denn Eoban hebt vor allem die Tatsache hervor, dass die Region in der Antike bekannt war („Cattos dixere vetusti“, „Die Alten nannten sie Chatten“). Das ist der Argumentationstypus, der bei der humanistischen Respublica litteraria besonders erfolgversprechend ist. Ein Ort, eine Region etc. war dann für die Humanisten „nobel“, wenn sie mit antiken Namen belegt werden konnte. Es ist die Patina der Antike, die adelt. Auch das Lobargument der Kampfkraft und Tapferkeit der Germanen gehört in diesen Diskurs, weil es sich um Eigenschaften handelt, die in den antiken Quellen den Germanen zugeschrieben werden. Die wunderbaren Umstände der Geburt ergeben ebenfalls eine stärkere Wirkung in Bezug auf die Respublica litteraria: Mit der Behauptung, im „Zeichen der Leier“ geboren zu sein, schreibt sich Eoban sogar astrologisch in die Gemeinschaft ein. Wen astrologische Vorzeichen zum Dichter bestimmten, dem kann man den Eintritt in die Gemeinschaft nicht verweigern.
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Die Tatsache, dass der Rest der Autobiographie ganz Eobans Dichtertum gewidmet ist, unterstreicht noch mehr ihre Ausrichtung auf die Respublica litteraria. Eoban arbeitet genau die Aspekte seiner Persönlichkeit heraus, die ihn zur Mitgliedschaft der Respublica litteraria befähigen. Seine frühe Bewunderung der Dichter, der Umstand, dass ihn schon als Kind das Wort „poeta“ in höhere Regionen versetzte, der Fleiß beim Erlernen der lateinischen Grammatik und der Metrik, die dichterische Frühreife – alles Argumente, die seine Eignung als Mitglied belegen sollen. Die Ausrichtung der Heroinenrhetorik auf die Respublica litteraria zeigt sich auch dort, wo Einwände antizipiert werden. Ein Beispiel hierfür: Das Mitglied muss – als absolute Voraussetzung – die lateinische Sprache vollendet beherrschen. Nun behauptet das Mitglied in spe ebendies. Jedoch ist es mitten in Germanien, also in einem Barbarenland, geboren. Italienische Humanisten hatten im Allgemeinen vor den Lateinkenntnissen der Deutschen keinen Respekt. Wie reimt sich dies? Ist es glaubhaft, dass jemand in einer akulturellen Umgebung etwas zuwege bringt? Eoban antizipiert diesen Einwand, indem er aufzeigt, dass Deutschland schon in seiner Kindheit nicht mehr das Barbarenland war, als welches es traditionell bekannt war. Er erinnert, dass die Bewohner des Landes eine enorme Bildung besitzen, die nicht nur auf den Schulund Universitätsunterricht beschränkt bleibt: Auch nach Universitätsabschluss bleibt Bildung das Hauptgeschäft der Deutschen. Obwohl von der Natur her zum Krieg veranlagt, widmen sie sich heutzutage vor allem der lateinischen Sprache. Damit haben sie einen doppelten Sieg errungen: einmal über sich selbst, das andere Mal über die italienischen Zweifler. Das Latein ist ihnen so geläufig, dass die Deutschen nunmehr lateinischer als die Bewohner Latiums geworden sind. Eoban verteidigt hier vehement die deutsche Abteilung der Respublica litteraria. Damit ist ein weiteres Stichwort zur autobiographischen Identität Eobans gefallen. Eoban konstituiert sich selbst im Rahmen der deutschen Respublica litteraria, namentlich der Mitglieder, die einer deutschnationalen Identität anhängen. Explizite Identitätsmarker wie „unser Germanien“ (Germania nostra, Zeile 81) zeigen dies auch im formalen Bereich an.27 Dadurch, dass sich Eoban für den deutschen Humanismus so kräftig einsetzt, zeigt, dass er zunächst eine Zugehörigkeit zu den deutschen Humanisten erstrebte. Dies stimmt damit überein, dass er sich in 27
Vgl. auch die Formulierung nostro Germania tempore, die den Abschnitt über die zeitgenössischen Dichter Deutschlands einleitet (Eobanus Posteritati, Z. 123).
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Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
seiner Autobiographie im Besonderen dem führenden deutschen Humanisten, Ulrich von Hutten, anschloss. Ulrich von Hutten ist der einzige Humanistenkollege, den Eoban mit Namen anführt (Z. 123–130). Eoban lobt ihn über alles: Er ist der Mann der Zukunft, der Mann, dessen Schriften man gelesen haben muss. Damit spricht Eoban eine zentrale Figur im Netzwerk des deutschen Humanismus an. Er erwartet sich von ihr eine Art Aufnahmebewilligung. Wenn Von Hutten sagt: „Eobanus ist einer von uns“, dann haben diese Worte Gültigkeit und man schenkt ihnen Glauben. Mit anderen Worten: Wenn es Eoban gelingt, Ulrich von Hutten zu überreden, dann ist er am Ziel seiner Wünsche angelangt.
6. Wahrheit und Überprüfbarkeit? Velten hat Wahrheit und Überprüfbarkeit zu Kriterien der Autobiographiedefinition erhoben. Dass in der Regel kaum etwas überprüft oder kontrolliert werden konnte, ist bereits mehrfach gezeigt worden. Das gilt auch für Eobans Autobiographie. Zum Beispiel hatte der frühneuzeitliche Leser kein Instrument in Händen, die Lüge bezüglich des Geburtsorts (Frankenberg statt Bockendorf oder Halgehausen) aufzudecken. Das Interessante an Eobans Autobiographie ist jedoch, dass sie Stellen enthält, die dem Leser prinzipiell ermöglichen würden, die Angaben zu kontrollieren. Sie beziehen sich auf die Publikationsdaten von Eobans Werken, die im Druck erschienen waren. Diese Bücher waren im Umlauf und in ihnen war das jeweilige Jahr des Erscheinens klar abzulesen. Kein Zweifel war hier möglich. Dennoch stellt sich heraus, dass Eoban nicht die Wahrheit spricht. Zum Beispiel gibt er an, dass er zum Zeitpunkt seiner ersten Publikation fünfzehn Jahre alt gewesen sei: „Als das Publikum zum ersten Mal meine Gedichte las und günstig beurteilte, / Waren gerade erst dreimal fünf Jahre meines Lebens vergangen“.28 Eobans Erstpublikation, das Gedicht über die Studentenunruhen in Erfurt (De pugna studentium Ephordiensium) erschien jedoch erst 1506 (bei W. Stürmer in Erfurt), also als Eoban achtzehn Jahre alt war. Die Hirtengedichte (Bucolica) datierte Eoban sogar um ungefähr fünf Jahre zurück: Er verfaßte sie nicht, wie er angibt, mit
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Eobanus Posteritati, Z. 99–100: „Carmina cum primum populus mea lecta probaret, / Clausa fere fuerant iam tria lustra mihi.“
Autobiographisches Duell mit Ovid
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sechzehn, sondern mit einundzwanzig Jahren (1509).29 Daraus kann man nur schließen, dass das Überprüfbarkeitskriterium Eoban völlig gleichgültig war. Es bezeichnet keine relevante Diskursregel der frühneuzeitlichen Autobiographik. Weshalb aber hat Eoban geschwindelt? Dies ist teilweise durch den Diskurs der Heroinenrhetorik als Werbeschreiben an die Respublica litteraria zu erklären – Eoban beglaubigt damit seine Frühreife – teilweise durch eine andere, weiterführende literarische Selbstkonstituierung.
7. Autobiographisches Duell: Einschreibung in die Respublica litteraria als neuen Ovid Bei der Erörterung von Eobans Liebesbrief an die Respublica litteraria wurde ein Strang seiner Argumentationsstrategie noch nicht beleuchtet, der dennoch von entscheidender Bedeutung ist. Eoban konstituiert sich in dem Heroinenbrief als Reinkarnation eines antiken Dichters – Ovid.30 Dies war gerade im Rahmen der Respublica litteraria ein höchst wirksames Argument zur Legitimierung und Beglaubigung. Wenn es Eoban gelang, sich selbst plausibel in der Formation Ovids darzustellen, so konnte niemand mehr an seiner Berechtigung, der Respublica litteraria zuzugehören, zweifeln. Die Art und Weise, wie er mit dem Muster von Ovids Autobiographie umging, war für den Erfolg oder Misserfolg entscheidend. Klar war, dass die Anbindung an Ovid bereits in den ersten Zeilen zu erfolgen hatte, am besten mit einer wörtlichen Verweisung, aber was dann? Ovid wiederholen? Seine Persönlichkeitsmerkmale übernehmen und variieren? Eoban hatte eine Idee, die ihm reizvoller erschien: Obwohl als junger Dichter in einer hoffnungslos unterlegenen Position, krempelte er die Ärmel hoch und ging – als „kämpferischer Hesse“ – mit dem großen Römer einen autobiographischen Wettkampf an. Er forderte Ovid zum autobiographischen Duell heraus. Die provokante und selbstbewusste Haltung war auf das erwünschte Ziel hin berechnet. Die Respublica litteraria sollte auf Eoban aufmerksam werden: Wer ist der Mann, der sich so etwas traut? Wer ist der Ovid-Überbieter? 29 30
Vgl. Krause, Eobanus, Bd. I, S. 74 ff. In K. Smolak, „Der verbannte Dichter (Identifikationen mit Ovid in Mittelalter und Neuzeit)“, in: Wiener Studien N. F. 14 (1980), 158–191, wird Eobanus Hessus nicht vermeldet.
448
Autobiographie als Heroinenbrief: Eobanus Hessus
Einige Beispiele sollen zeigen, wie Eoban den autobiographischen Wettkampf gestaltet. Zunächst die Herkunftsfrage: Die Ausgangslage war, dass sich Eoban mit Ovid, der ja ein Adeliger war, nicht messen konnte. Eoban nimmt aber dennoch den Handschuh auf, indem er den Kampfplatz zur Geburtsregion hin verlagert. Dort, wo Ovid seinen Geburtsort kurz vermeldet (in zwei Zeilen, 3–4) und mit dem bescheidenen Lob des Wasserreichtums versieht, ergreift ihn Eoban und überbietet ihn dreifach: erstens den Hinweis auf Wasserreichtum durch die epische Wiedergabe eines gewaltigen und berühmten Stromes, des Rheins, was durch die Anführung eines zweiten Stromes, der Eder, noch gesteigert wird; zweitens beschränkt sich Eoban nicht auf den Geburtsort – er erweitert das Lob auf das gesamte Land; drittens zieht Eoban die Dimension der Geschichtlichkeit heran. Er bescheinigt seinem Land ein ehrwürdiges Alter und adelt es damit. Schon oben wurde gezeigt, wie günstig dieser strategische Schachzug auf das deutsche Segment der Respublica litteraria, das Eoban besonders ansprechen wollte, wirken musste. Dass der junge Eoban Ovid als lateinischer Dichter übertreffen würde, lag nicht auf der Hand. Er hatte neben seiner Unerfahrenheit immerhin den Nachteil, kein Native Speaker zu sein. Jedoch gab Eoban so leicht nicht auf. Kämpferisch wirft der Hesse die provokante Behauptung in den Ring, Deutschland sei heutzutage fast lateinischer als Latium! („Nunc vero Ausonias ita se convertit ad artes [sc. Germania] / Ut Latio fuerit pene Latina magis“, Z. 85–86). Freilich war in puncto Verstechnik o. Ä. kein Sieg zu erringen, was Eoban dann auch nicht versucht. Dennoch verlagert er die Argumentation zu seinen Gunsten: Wenn schon nicht in Bezug auf die Verstechnik, so konnte er Ovid hinsichtlich der Motivation, Dichterkonzeption und Dichtungsauffassung übertreffen. Ovid behauptet, dass, obwohl er sich um einen anderen Lebensweg bemühte, ihn die Muse heimlich zur Dichtkunst hingezogen hätte. Damit beweist er Augustus gegenüber seine Aufrichtigkeit und Harmlosigkeit.31 Eoban, der freilich eine ganz andere Strategie verfolgt, findet hier einen Ansatzpunkt zu einer weiteren Überbietung: Er verleiht seiner Muse größeres Selbstvertrauen – Heimlichkeit ziemt sich für sie nicht. Es ist die göttliche Vorsehung selbst, die Eoban zum Dichter auserkoren hat. Er bringt dies durch die Mitteilung zum Ausdruck, dass bei seiner Geburt das Sternzeichen der Leier aufgeleuchtet habe. Außerdem legt 31
Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10. Rhetorische Strategien und Interpretation“.
Autobiographisches Duell mit Ovid
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Eoban nach, indem er sich die Befähigung zur geistigen Entrückung zuschreibt („raptus“, Z. 70; „sine mente fui“, Z. 74). Überhaupt entdeckt Eoban zahlreiche Schwächen in Ovids Selbstpräsentation (die ja erklärlicherweise vorhanden waren, da der exilierte Römer das Mitleid seiner Leser, insbesondere des Augustus, erwecken wollte32). Dann schlägt er im Autobiographieduell herzhaft zu. Zum Beispiel gibt Ovid an, dass er an der Laufbahn eines Anwalts und Politikers gescheitert sei, weil weder sein Geist noch sein Körper die Strapazen dieses Berufes ertragen konnten („nec patiens corpus, nec mens fuit apta labori“).33 Das würde bedeuten, dass er Dichter aus körperlicher und geistiger Schwäche geworden sei. Für Eoban war dies gänzlich unakzeptabel. Das Dichtertum ist für ihn das Höchste auf Erden. Sein Dichtertum ist daher nicht aus Unfreiheit, sondern aus freiem Entschluss geboren. Der Körper- und Geistesschwäche Ovids gegenüber hebt Eoban folgerichtig, ihn überbietend, seine körperliche Stärke und seinen „feurigen Geist“ hervor. Eine Tour de Force stellt schließlich das autobiographische Duell in Bezug auf die dichterische Frühreife dar. Ovid war hier kaum zu überbieten, weil er bekanntlich bereits in ganz jungen Jahren in Rom als Dichter berühmt war. Es ist bezeichnend, dass der Hesse dennoch zum Angriff übergeht: Während Ovid angibt, dass er dem Volk seine ersten Gedichte vorlas, als ihm der erste Bart wuchs, um das achtzehnte Lebensjahr, brüstet sich Eoban, er sei zur Zeit seiner Erstpublikation gerade erst fünfzehn Jahre alt gewesen. Das hat nichts damit zu tun, dass Eoban etwa früher der Bart gewachsen wäre. Um im autobiographischen Wettkampf mit Ovid zu siegen, griff Eoban ohne Gewissensbisse zum Mittel der chronologischen Verfälschung. Es ließen sich noch weitere Scharmützel vorführen. Dies kann aber hier unterbleiben, da das Resultat immer dasselbe ist: Eoban geht als glänzender Sieger im Vergleich zu dem in Moll gestimmten Exildichter hervor. Das erwünschte Resultat des Sieges über Ovid ist, dass die Respublica litteraria Eoban die Aufnahme nicht verweigern konnte.
32 33
Ebd. Tristia IV, 10, 37.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
XVI. Tod eines humanistischen Helden: Trauerbiographik für Eobanus Hessus (1540; 1543) 1. ‚Erlebnisdichtung‘? Jacobus Micyllus’ Trauergedicht für Eobanus Hessus mit Biographie (Epicedium Eobano Hesso continens vitae ipsius descriptionem) Der autoritative Kenner der neulateinischen Lyrik Georg Ellinger1 beurteilte Micyllus’ „Lied auf den Tod Eoban Hesses“ trotz der allgemeinen „Unergiebigkeit der Gelegenheitsdichtung“2 positiv, da es „die Lebensgeschichte des Hessus in lebhafter Erzählung“ darbiete.3 „Lebhafte Erzählung“ bedeutet für Ellinger, dass das Gedicht ‚lebensnah‘ sei, ‚Erlebnisse‘ bzw. ‚Wirklichkeit‘ in der wahr erlebten, „individuellen“ Gefühlswelt des Dichters vermittle. In der Tat geht Micyllus’ imposantes Trauergedicht von fast 400 Versen von einem Gefühlsausbruch aus, der sich in Ellingers Interpretationskategorie des individuellen Gefühlsausdrucks zu fügen scheint: Also sogar über dich besaßen die grausamen Schwestern eine solche Macht, Eobanus, o Zierde, o Führer unseres Kreises? Weder deine Tugend noch die Vielzahl deiner Gedichte konnte dich Beschützen, konnte verhindern, dass du vor deiner Zeit verstarbst. Und dies war den Göttern wohlgefällig, deren gewalttätige Macht schon fast Alles Großartige, das irgendwann dagewesen, uns entrissen?
1
2
3
Siehe seine monumentalen Übersichtswerke Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert, 3 Bde., Berlin 1929–1933 (photomechanischer Nachdruck Berlin 1969); Die neulateinische Lyrik Deutschlands in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1929 (Nachdruck 2 Bde., Berlin 1969); Geschichte der neulateinischen Lyrik in den Niederlanden vom Ausgang des fünfzehnten bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, Berlin-Leipzig 1933 und Italien und der deutsche Humanismus in der neulateinischen Lyrik, Berlin-Leipzig 1929. G. Ellinger, „Jakob Micyllus und Joachim Camerarius. Zwei neulateinische Dichter“, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik 12 (1909), (150–173), 163. Ebd. 153.
‚Erlebnisdichtung‘? – Micyllus’ Epicedion
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[…] Weinet, o Pieriden, beweint den Dichter, der uns entrissen, Und beweinet mit mir das Begräbnis eures Anführers. Weinet, chattische Nymphen, die ihr die hohen Wälder, das Hessische Königreich bewohnt, Göttinnen, die in den Bergen ihr weilt; Die die Werra umspült, die die Eder benetzt, Und die Fulda, welche mit ihrem Fluss neue Ströme bildet […]. Und du, Vater Lanus, mit deinem langen Bart, der auf deine Brust herabhängt, Der du mit einer langen Grenze die hessischen Fluren durchschneidest, Reiß dir das grüne Haar aus, wirf deinen grünen Mantel ab Und beweine das jüngste Begräbnis deines Verehrers. Ergo in te saevae tantum potuere Sorores O decus, o nostri dux Eobane chori? Nec tua te virtus neque tot texere Camenae, Legitimum caderes quo minus ante diem. Idque placet superis, quorum violenta potestas Iam prope praeclarum, quod fuit, omne tulit? […] Plangite, Pierides, ereptum plangite vatem, Et mecum vestri funera flete ducis. Plangite quae celsas colitis, regna Hessica, sylvas, Catthiades nymphae, monticolaeque deae. Quas circum Veraris fluit et quas Aedera circum, Et nova facturus flumina Fulda suo. […] Et tu, Lane pater, pendente in pectora barba, Hessica qui longo limite rura secas, Exue fronde comas, viridantes exue amictus, Et nova cultoris funera plange tui.4
Die Gefühlsskala der Ohnmacht, der hilflosen Trauer, der Enttäuschung, vielleicht sogar einer Art ‚Weltschmerz‘, wird in den ersten Zeilen sichtbar. Micyllus leidet unter dem Eindruck, dass die Götter der Menschheit alles Wertvolle entrissen haben. Seine Gefühle werden angesichts der Tatsache verständlich, dass ein besonders teurer und wertvoller Freund dahingerafft worden ist, noch dazu in viel zu jungem Alter, „vor seiner Zeit“ („legitimum ante diem“). Ellinger interpretierte Trauer und Enttäuschung als individuelle Gefühle des Micyllus, dessen „empfindsamer“ und weicher Charakter zu „sanfter Schwermut“ geneigt haben soll.5 Micyllus soll überzeugt gewesen sein, dass er vom Unglück verfolgt wurde. „Das elegische Mass (das Klage- und Trauerdichtung transportiert,
4
5
Epicedion scriptum Helio Eobano Hesso Poetae a Iacobo Micyllo, Continens Vitae ipsius Descriptionem, in: Helius Eobanus Hessus, Epistolarum familiarium libri XII (1543), f. *3r–[*7], hier f. *3r. Ellinger, „Jakob Micyllus“, 150–163.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
Anm.) entsprach offenbar seinem Wesen am meisten“.6 Auf diese Weise liest Ellinger Micyllus’ elegische Dichtung als Autobiographik. Da Micyllus mit Eoban befreundet war, scheint sich dessen Biographie nahtlos in die lyrische Autobiographik einzufügen. Eine lebensnahe Erzählung liegt dann auf der Hand, da Micyllus Augen- und Zeitzeuge war und Eobans Leben aus nächster Nähe kannte. Jedoch widerstrebt der Text des Trauergedichts für Eobanus Hessus mit Biographie überraschenderweise diesem Interpretationsmuster. Statt Intimität und Nähe vermittelt er stets monumentalen Abstand und – auf mehrfache Weise – Ferne. Überhaupt verlässt Micyllus’ Trauergedicht, obwohl es vom Versmaß her als Elegie markiert ist, über weite Strecken die Diskursmerkmale der Elegie und gleicht sich in Bezug auf Inhalte, Darbietungsweise und Stilregister dem Epos an. Ein erhabenes, suggestives Mythologiegewebe durchzieht das gesamte Gedicht. Dieses ist ausserdem durch das epische Darstellungsmittel der Topothesie, welches heroische Ereignisse einleitet, mehrfach strukturiert. Eoban erscheint nicht als intimer Freund, sondern als epischer Held mit zeitlosen Zügen, der sich auf einer heroischen Irrfahrt befindet: Und er begab sich in von weitem Abstand getrennte Gebiete. Ferne von uns liegt ein Land, direkt unter dem doppelten Dreschochsen (Trio), Von Kälte erstarrt, von weißem Schnee ganz verbrannt. Dort liegt ein Meer, das die Venezianer im vorigen Jahrhundert befuhrn, Wo die zarten Jungfrauen tragen den erlesenen Bernstein. Von dort hält der Sohn des Mars den auswärtigen Feind ferne, Der Sarmate, der sich nährt vom Blut des Pferdes. Die edle Borussia selbst hat seinen alten Namen bewahrt, Mächtig einst durch das Schwert des teutonischen (deutschen, Anm.) Ritters. Dorthin führte ihn, getrieben auf vielen tausenden Wegen, Sei es das Schicksal, sei es ein bestimmtes Verlangen. Dort ging mit Fürsten er um, an vielbevölkertem Hofe, Und sah die Sitten der Menschen und ihre Gesinnung. Wie einst der Ithakische Odysseus herumgetrieben wurde Durch weite Länder und weite Fahrten des Meers, Antiphates sah und die thrazischen Völker und den grausamen Zyklopen Und die Speisen der Lotophagen und den Hain des Alkinous, So ertrug unser Held inmitten verschiedener Völker Gutes und Schlechtes mit unerschütterlichem Geist.7
6 7
Ebd., 162. Epicedion scriptum Helio Eobano Hesso, f. 4*r-v. Für den lateinischen Text siehe unten Kap. XVI. 5, „Das Leben ein Reise oder Eoban als homerischer Held“.
Ellingers hermeneutische Interpretation des Micyllus
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Die Gegensätzlichkeiten, die hier zu Tage treten, erforden eine Aufklärung. Klärungsbedürftig ist sowohl die Frage, inwiefern man Micyllus’ (Trauer)dichtung als Autobiographik interpretieren darf als auch, wie die Tatsache zu verstehen ist, dass der Dichter die elegische Lebensgeschichte des Eoban als epische Irrfahrt aufbereitet, die ihn an die Grenzen der Erde, bis in den Bereich des Nordpols führt.
2. Wiedergabe „individueller Stimmung“: Georg Ellingers hermeneutische Interpretation der neulateinischen Dichtung am Beispiel des Micyllus In seinem oben zitierten Aufsatz8 liefert Ellinger eine Bewertung der Dichtung des Micyllus, bei der die grundsätzlichen Züge seiner Interpretation der neulateinischen Lyrik zu Tage treten. Für ihn ist Micyllus im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen9 „ein wirklicher Dichter“.10 Was kennzeichnet den wirklichen, den wahren Dichter? Seine Schöpfungen sind Ausdruck seiner „individuellen Stimmungen“, „Gefühle“ bzw. Erlebnisse und in diesem Sinne Abbildungen der autohistorischen Wirklichkeit. Für ein gutes Gedicht ist der „wahre Anteil des Gemütes“11 ganz entscheidend. In diesem Sinn schafft ein wahrer Dichter immer auch Autobiographik. Er hält Lebensbilder fest, die je wirklichkeitsnäher, desto einprägsamer, „eindringlicher“12 und besser sind. Ganz wesentlich ist weiter, dass diese Autobiographik „unmittelbar“ wirkt, „unmittelbar“ verständlich ist. Zum Beispiel sind für Ellinger „sowohl die Widmung der Psalmen wie der Brief an Melanchthon unmittelbare Äußerungen des Gefühls, Seufzer, durch die sich die bedrängte Brust erleichtern will“.13 „Es kann doch kein Zweifel daran sein, dass der Dichter hier unmittelbar in sein Inneres blicken läßt und ein Bild seelischer Kämpfe entwirft“.14 Der wahre Dichter ist ein Beobachter, der Einzelzüge „im Bild festzuhalten weiss“.15 Die Naturbeobachtung ist diesbezüglich wichtig, nicht zu8 9
10 11 12 13 14 15
„Jakob Micyllus“. Ebd., 156: „das in dem Deutschland des 16. Jahrhunderts fast ganz vereinzelt dasteht“. Ebd., 162. Ebd., 153. Ebd. Ebd., 156. Ebd. Ebd., 158.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
letzt weil sie die „Unmittelbarkeit“ garantiert. In diesem Sinn beurteilt Ellinger Micyllus’ Reisegedicht aus dem Jahre 1526 sehr positiv. „Der Wald im Regenwetter, das rauhe Söllinger Bergland im dicken Schneegestöber, vom Sturmwind durchschüttelt, vom Geknarr der Bäume durchächzt“, dies alles bringt nach Ellinger die Lebenswirklichkeit in greifbare Nähe.16 Die wahre Dichtung des Micyllus liefert also „Schilderungen“, Abbildungen der Wirklichkeit, am liebsten „ohne Schnörkel“. Die „inneren Empfindungen“ sollen nicht auf äussere Wirkung hin berechnet sein. Sie sind am besten, wenn sie der Dichter „absichtslos hinwirft“ bzw. wenn sie „absichtslos wirken“17. Dann kommt es zu „sich ganz unwillkürlich losringenden Selbstgesprächen“ des Dichters.18 Je mehr innerlicher Drang, je weniger Absicht, desto besser. Das schönste Gedicht ist nach Ellingers Interpretation Micyllus’ Trauergedicht auf seine Gattin aus dem Jahre 1548.19 Hier ist alles Äussere über Bord geworfen, der „auf innerlichster Empfindung beruhende Gefühlsinhalt“ tritt in optima forma hervor. Micyllus gelingt „eine unmittelbare Schilderung“ des Charakters seiner Ehefrau. Der Interpret Ellinger kann „nachfühlen“, „dass der sanfte, unter dem Druck des Unglücks schwer leidende Mann in solchen Augenblicken (Tage der bangen Sorge, Anm.) mit besonderer Verehrung zu seiner tatkräftigen Frau aufschaute“.20 Aufgrund der hermeneutischen Wahrhaftigkeit dieser Gedichte wird das „Nachfühlen“ leicht gemacht. Ihre „Unmittelbarkeit“ wirft keine Interpretationswiderstände auf. Dennoch: Was stemmt sich der wahren Dichtung in Ellingers Optik entgegen? Vor allem Mythologie, Rhetorik, Topik, Zitate klassischer Dichter, die Anforderungen der „Gelegenheitsdichtung“. Das sind für Ellinger „klassische Schnörkel“,21 „allgemeine Gedanken“,22 „einengende Formen des Zeitgeschmacks“,23 „Floskeln“,24 „Künsteleien“ usw.25 Wenn sie sich bei Micyllus finden, hat er „Konzessionen“ an den „Zeit16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Ebd. Ebd., 152. Ebd., 156. Ebd., 153–154. Ebd., 154. Ebd., 153. Ebd. Ebd., 155. Ebd., 163. Ebd., 162.
Humanistisches Trauerritual: Selbstbestätigung
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geschmack“ gemacht. Der wahre Dichter macht dem Zeitgeschmack möglichst wenige Konzessionen. So entdeckt Ellinger bei Micyllus nur „verhältnismässig seltene […] Anlehnungen an die römischen Dichter“.26 Auf diese Weise kommt es in seiner Dichtung zu „einem Vorwalten der individuellen Stimmung“, was die Authentizität seiner lyrischen Autobiographik garantiert.
3. Humanistisches Trauerritual: Selbstbestätigung der Respublica litteraria Nun handelt es sich bei Micyllus’ Trauergedicht keineswegs um „absichtslos hingeworfene“ Verse, die aus der Seele des Dichters strömten, weil er von der lebenswirklichen Inspiration unmittelbar überwältigt wurde. Sie fungieren in einem bestimmten Kontext, und zwar sowohl in einem bestimmten Publikationskontext als in einem bestimmten Diskurs. Das Gedicht bildet das erste Werk in einer umfassenden Trauerund Memorialpublikation für Eobanus Hessus,27 wodurch sich auch die Verankerung im Diskurs humanistischer Trauer- und Memorialmanifestationen ergibt, die mit dem Komplex sozialer und intellektueller Selbstdefinition eng verbunden sind. Ihre besondere Interessensgemeinschaft schmiedete die Humanisten zu einem Staat im Staat, zu einer Sonderrepublik des Geistes, der Respublica litteraria zusammen. Wenn es um die humanistische Sache ging, legten sie ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl an den Tag und nahmen es gegen Leute auf, die dem Humanismus feindlich gesinnt waren. Ihr Staat im Staat, ihre Kriegsführung mit der Feder erforderte, nicht anders als in einem materiellen Staat oder in einem leibhaftigen Krieg, Anführer und Feldherren, die die Manifestationen der humanistischen Respublica litteraria ihrem Umfeld gegenüber koordinierten. Das Wegfallen einer Führungspersönlichkeit wurde zuweilen als schwerer Schlag erfahren und führte zu Repräsentationsverhalten, in dessen Rahmen sich die Humanisten neu gruppierten oder ihre Gruppenidentität zu bestätigen versuchten.
26 27
Ebd. Helius Eobanus Hessus, Epistolarum familiarium libri XII, Quibus non modo Vita illius, sed et aliarum rerum descriptiones pulcherrimae scituque dignissimae continentur, Marburg, Chr. Egenolph 1543, f. *3r-[*7]v.
456
Trauerbiographik für Eobanus Hessus
Dieses Phänomen zeigte sich besonders augenfällig 1536, als Erasmus starb.28 Aufgrund der zentralen Führungsrolle, die Erasmus innehatte, bewirkte sein Verlust, dass sich die humanistische Respublica litteraria in ihrer Existenz bedroht fühlte. War jetzt das Ende der humanistischen Sache herbeigekommen, stand ein Weltuntergang des Geistes bevor? Jetzt, da der mächtigste Vorkämpfer des Humanismus gestorben war, würden sich die Feinde des Fortschritts und der geistigen Freiheit zusammentun und dem Humanismus den Garaus machen. Es war jetzt dringend erforderlich, das Weiterleben der verbindenden Persönlichkeit Erasmus zu sichern. Hauptmittel in diesem Selbstbestätigungs- und Trauerdiskurs war die Publikation von Erasmus-Biographien, die bereichert mit Trauergedichten, von Froben in Basel und in Antwerpen von der Witwe de Keysere herausgegeben wurden.29 Dieses Ritual vollzog sich in ähnlicher Weise, als wenig später (1540) eine weitere Führungspersönlichkeit der deutschen Respublica litteraria, Eobanus Hessus, verstarb. Der humanistische Kreis Eobans besaß, jedenfalls im Humanismus auf dem Gebiet des deutschen Reichs, große Bedeutung. Ihm gehörten unter anderen Ulrich von Hutten (1488–1523), einer der Ideologen und Hauptpolemiker des deutschen Humanismus,30 Joannes Crotus Rubeanus (Johann Jäger, um 1480 – um 1539), ein exzellenter neulateinischer Dichter und mit Hutten Hauptautor des humanistischen Manifests Dunkelmännerbriefe,31 Joachim Camerarius d. Ä. (Kammermeister, 1500–1574), ein Gräzist, Polymath und einflussreicher 28
29
30
31
Für die Reaktion der Respublica litteraria auf den Tod des Erasmus siehe K. A. E. Enenkel, „The Self-definition of the Republic of Letters and the Epitaphs of Erasmus“ (Bainton Lecture des Warburg Institutes 2000 [27. 4. 2000]), in: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 21 (2001), 14–29. Zu Erasmus vgl. unten, Kapitel XVII „Die wunderbaren Wirkungen der Dokumentierungsrede: Erasmus’ Leitfaden für seine Biographie (Compendium vitae) und andere autobiographische Lebensabrisse (1516–1529)“. Für eine Analyse dieser Publikationen siehe Enenkel, „The Self-definition of the Republic of Letters“. Vgl. E. Bernstein, Ulrich von Hutten, Reinbek bei Hamburg 1988; B. Könneker, Art. „Hutten, Ulrich von“, in: CE, Bd. II, 216–220; P. Kalkhoff, Huttens Vagantenzeit und Untergang. Der geschichtliche Ulrich von Hutten und seine Umwelt, Weimar 1925; K. Kleinschmidt, Ulrich von Hutten. Ritter, Humanist, Patriot, Berlin 1955; V. Press, „Ulrich von Hutten, Reichsritter und Humanist 1488–1523“, in: Nassauische Annalen 85 (1974), 71–86; L. W. Spitz, „Hutten. Militant Critic“, in: Ders., The Religious Renaissance of the German Humanists, Cambridge Mass. 1963, 110–129. I. Guenther, Art. „Crotus, Johannes Rubianus“, in: CE, Bd. I, 362–363; Krause, Helius Eobanus Hessus, Bd. II, 164–167.
Humanistisches Trauerritual: Selbstbestätigung
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humanistischer Pädagoge,32 Joannes Draconites (Draco oder Drach, 1494–1566),33 ein Theologe und Bibelherausgeber, der neulateinische Dichter Jacobus Micyllus (Molsheym, 1503–1558), weiter Philippus Pistorius, Caspar Rudolphi, Antonius Corvinus sowie Joannes Pollius an. Der Verlust Eobans, der die Humanisten von Erfurt, Nürnberg und Marburg aus dirigiert hatte,34 war überaus schmerzlich. Das drohende Unheil, dass der Kreis auseinanderfallen und seine Identität verlieren würde, musste unbedingt abgewendet werden. Das geeignetste Mittel hierfür schien eine biographische Memorialpublikation. Der Hauptinitiator war Johann Drach, der seit der Zeit von Eobans Erfurter Professur (1518) dem Kreis angehörte und seit 1536 dessen Kollege an der Universität Marburg war. Drach hatte bereits in einer Leichenrede für Eoban versucht, die entsetzte humanistische Gemeinde zu trösten.35 Drach veranstaltete eine umfangreiche und prestigeträchtige biographische Publikation, deren Hauptteil die Privatkorrespondenz (Epistolae familiares) Eobans bildete. Drach stellte die Privatbriefe dabei ausdrücklich in den Diskursrahmen (auto)biographischer Texte. Dies geht aus dem metrischen „Vorwort an den Leser“ hervor: Wenn Du ein naturgetreues Porträt Des Dichters Hessus betrachten willst, So lies diese Briefe, Die Vermittler seines Privatlebens und seines Inneren. Denn nicht einmal Apelles vermochte je ein Porträt so getreulich zu malen, Nicht einmal ein Spiegel (dessen kannst du sicher sein) hat je das Spiegelbild So getreulich wiedergegeben, Wie das Bild des Geistes, das Wort.36
Es geht hier darum das ‚wahre‘ Bild Eobans der Mit- und Nachwelt zu bewahren. Die Verewigung des ‚wahren‘ Bildes wird durch das Paragone-Argument von der Überlegenheit der Wortkunst über die bildende Kunst legitimiert. Der Diskursrahmen der Publikation wurde von Drach dazu verwendet, die Identität von Eobans Kreis zu bestätigen. Diese Absicht wird daraus ersichtlich, dass Drach Briefe aufnahm, die weder von Eoban stammten noch an ihn gerichtet waren noch auch von ihm han32 33 34
35 36
I. Guenther, Art. „Camerarius, Joachim“, in: CE, Bd. I, 247–248. I. Guenther, Art. „Draconites, Johannes“, in: CE, Bd. I, 404–405. Zu Eoban als Vorsteher des „Erfurter Kreises“ siehe Krause, Eoban, Bd. I, 133–416; besonders 219–329; Für Eobans Nürnberger Kreis, ebd., Bd. II, 28–56; für den Marburger Humanistenkreis ebd., Bd. II, 198–225. Eine Trostpredigt […] über der Leiche Helii Eobani Hessi, Straßburg 1541. Eoban, Epistolarum familiarium libri XII, Titelei.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
delten, deren Autoren jedoch Mitglieder des Eoban-Kreises waren. Micyllus’ Epicedion […] continens Vitae ipsius descriptionem kommt in dieser Publikation eine entscheidende Funktion zu. Der Text soll ein gültiges Präsentationsbild des verstorbenen Humanisten liefern, mit dem der Leser auf die Rezeption des ‚wahren‘ Eoban eingestimmt wird. Der Text bietet ein monumentales Standbild, in welchem diejenigen Eigenschaften des literarischen Anführers festgeschrieben werden, die nach der Auffassung von Eobans Kreis die Aufgabe erfüllten, ihren humanistischen Anführer in die ferne Zukunft hinein gegen etwaige Kritik zu wappnen und damit – indirekt – die Grundlage des Humanistenkreises gegen Angriffe von außen abzusichern.
4. Diskursadaption: vom Heroinenbrief zur metrischen Trauerund Memorialbiographie Der erhöhte Anspruch von Micyllus’ Epicedion ergibt sich schon aus dem Titel „Trauergedicht mit Biographie“. Die Diskursregelung des Grabund Trauergedichts bzw. der Grabrede bietet natürlich Platz für biographische Angaben, zum Beispiel, indem die Leistungen des Verstorbenen oder Ereignisse memorisiert werden, bei denen der Verstorbene eine positive Rolle gespielt hat. Eine vollständige bzw. vollwertige Biographie gehörte dabei jedoch nicht zur Standardausstattung, unter anderen weil der Traueranlass dem Dichter oder Redner in Bezug auf Umfang und Inhalt Beschränkungen auferlegte. Micyllus erweiterte den Diskursrahmen des Trauergedichts, indem er im Gedicht eine vollwertige Biographie Eobans darbot. Dies korrespondiert mit der Funktion, welche das Gedicht in der Publikation erfüllt – als Vorspann zu der Ausgabe von Eobans Privatkorrespondenz. Das Trauergedicht übernimmt in dieser Hinsicht die Rolle der alexandrinischen Dichterbiographie, die als Beigabe zu einer autoritativen Werkausgabe fungierte. Bei der Erstellung einer Biographie konnte Micyllus auf eine Vorlage zurückgreifen, Eobans Dichterautobiographie in den Heroides Christianae. Die Rezeption dieses Textes geht aus einigen inhaltlichen und zudem einigen wörtlichen Übernahmen hervor.37 Dennoch waren der Über37
Z.B. Micyllus, Epicedion […] continens Vitae ipsius descriptionem, f. *3v „Aedera lambit aquis“; vgl. Eobanus Hessus, Eobanus Posteritati, Zeile 50: „Aedera lambit aquis“;
Vom Heroinenbrief zur Memorialbiographie
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nahme dieses Textes schnell Grenzen gesetzt. Die inhaltliche Selektionierung und die rhetorische Organisation der frechen HeroinenAutobiographie passte nicht zu der diskursiven Anlange der erhabenen Trauer- und Memorialbiographie. Zum Beispiel widerstrebte die grundlegende erotische Ausrichtung der Autobiographie, in der sich Eoban als jungen, reizvollen und schönen Liebhaber konstituierte („Mein Körper war sowohl schön in all seinen Gliedern […] / ich hatte kräftige Arme, Beine und / Einen kräftigen Leib. Ich besaß eine männliche Schönheit, ein makelloses / Gesicht, eine breite Stirne […]“38) den Zielsetzungen der Trauer- und Memorialbiographie. Argumente, die an die Sinnlichkeit appellierten, waren im Trauerfall unpassend und anstoßerregend. Auch die Dichter-Imago, die Eoban in dem gewagten Duell mit Ovid errichtet hatte, war nicht wiederholungsfähig. Micyllus musste befürchten, dass das Bild eines ‚frivolen‘ Liebesdichters nach der Prägung Ovids dem Pietätspostulat des Trauerfalls nicht entsprechen werde. Deshalb zog er Eoban das Kleid des Ovidischen Liebesdichters aus und konstituierte ihn als Universaldichter, der sich in mehreren Gattungen auszeichnet. Statt des Seidenmantels des sensiblen Elegikers warf er Eoban das archaische, grobgewirkte Heldengewand des griechischen Epos über. Die Einschreibung von Eobans Leben in den epischen Diskurs ist in Bezug auf die Monumentalfunktion, die Drach und Micyllus mit ihrem biographischen Manifest vor Augen hatten, sinnvoll. Eoban, der Anführer ihrer humanistischen Gemeinde, sollte eine verehrungswürdige Gestalt erhalten, eine Gestalt, zu der man feierlich aufblickt, wie zu einem Denkmal. Die Errichtung dieses literarischen Denkmals kam in besonderer Weise dem Affirmationsbedürfnis des humanistischen Kreises um Eoban entgegen. Die Grundlage von Micyllus’ Textkonstituierung ist somit nicht, seine „individuelle Stimmung“ festzuhalten und diese möglichst wirklichkeitsgetreu, ungezwungen und unmittelbar wiederzugeben. Vielmehr geht es um eine komplexe intertextuelle Operation, bei der Eobans Leben in den Diskurs des (homerischen) Epos eingeschrieben wird. Dies ist keine Konzession des romantischen Dichters Micyllus „an den Zeitgeschmack“, keine „Schnörkel“ oder „Floskel“, sondern ein wesentliches Anliegen des Textes.
38
Micyllus, ebd.: „Mons ubi Christiparae celeberrimus aede puellae“ (= Eobanus, ebd., Z. 49). Eobanus Posteritati, Z. 137–140.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
5. Das Leben eine Reise oder Eoban als homerischer Held In seiner Briefautobiographie bezweifelte Lipsius die Darstellungswürdigkeit des Lebens von Schriftstellern und Gelehrten, weil es eintönig und ereignisarm sei.39 In einer Hinsicht irrte der niederländische Humanist mit seiner übrigens doppelbödigen Bemerkung: Die Intellektuellen der frühen Neuzeit wechselten vielfach ihren Aufenthaltsort, zogen von einem Fürstenhof zum anderen, von einer Stadt, von einer Universität zur anderen. Diesbezüglich war also an Ereignissen kein Mangel. Zugleich war der spezifische Ereignisüberschuss nicht unproblematisch, insofern die unstete Lebensweise potentiell dem Vorwurf der moralischen Anrüchigkeit ausgesetzt war. Der Vaterlandsmangel konnte sich auf diese Weise als Dilemma herauskristallisieren. In diesem Fall war eine bestimmte Interpretation des Materials eine unabdingbare Aufgabe des (Auto)Biographen. Ein Blick auf den Lebenslauf des Eobanus Hessus zeigt, dass für ihn dieses Problem in vollem Umfang zutrifft.40 Eine Vielzahl von Ortswechseln ist zu verzeichnen: Von Halgehausen und Haina ging es nach Gemünden; nach dem Gemündener Aufenthalt begab sich Eoban nach Frankenberg, worauf er nach Erfurt übersiedelte (1504–1509). 1509 verließ er Erfurt und begab sich nach Prabuty im Herzogtum Preussen (heutiges Polen); 1513 übersiedelte er nach Frankfurt an der Oder und im selben Jahr nochmals nach Leipzig; 1514 verließ er Leipzig und begab sich abermals nach Erfurt; nach längeren Reisen war ab 1519 wieder Erfurt sein Domizil; 1526 übersiedelte er nach Nürnberg, 1533 wieder nach Erfurt, 1536 nach Marburg. Erst mit 48 Jahren schien er so etwas wie eine feste Bleibe gefunden zu haben, was sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen lässt, da er schon vier Jahre später starb. Bei Eoban trat der geringe Repräsentationswert seines ‚Vaterlandes‘ erschwerend hinzu. Seine tatsächliche Heimat Bockendorf oder Halgehausen war nicht präsentabel, die adoptierte – Frankenberg – brachte kein zusätzliches Ansehen ein. Micyllus löste das Problem, indem er aus der Not eine Tugend machte – indem er durch eine spezifische diskursive Zuordnung aus Eobans Ortswechseln gerade den erwünschten hohen Status ableitete:
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Vgl. unten, Kap. XXVI, „Odysseus auf der Rückreise ins Vaterland oder Chamäleontik als autobiographische Methode: Justus Lipsius (1600)“. Siehe oben Kap. XV. 2, „Vom Dörfler zum Dichter: Eobans Lebenslauf“.
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Also ließ er hinter sich die ersten Jahre der Kindheit, Als er drei Lustren vollendet hatte; Er war der Ansicht, dass es unrichtig wäre, niemals das Vaterland zu Verlassen und an einem einzigen Ort zufrieden zu altern. Außerdem entflammte er in Liebe zu größerem Ruhm, Wollte die Gesichter der Gelehrten anschauen. Er verließ sein Vaterland und begab sich in die thüringische Stadt, Der die heilige Furt den Namen verliehn. Denn dort war einst ein berühmtes Heiligtum der Musen, Geadelt durch die schönen Künste und Wissenschaften. […] Und er verließ auch jene Orte, in denen er sich längere Zeit aufgehalten hatte (Erfurt, Anm.), Und begab sich in von weitem Abstand getrennte Gebiete. Ferne von uns liegt ein Land, direkt unter dem doppelten Dreschochsen (Trio, Anm.), Von Kälte erstarrt, von weißem Schnee ganz verbrannt. Dort liegt ein Meer, das die Venezianer im vorigen Jahrhundert befuhrn, Wo die zarten Jungfrauen tragen den erlesenen Bernstein. Von dort hält der Sohn des Mars den auswärtigen Feind ferne, Der Sarmate, der sich nährt vom Blut des Pferdes. Die edle Borussia selbst hat seinen alten Namen bewahrt, Mächtig einst durch das Schwert des teutonischen (deutschen, Anm.) Ritters. Dorthin führte ihn, getrieben auf vielen tausenden Wegen, Sei es das Schicksal, sei es ein bestimmtes Verlangen. Dort ging mit Fürsten er um, an vielbevölkertem Hofe, Und sah die Sitten der Menschen und ihre Gesinnung. Wie einst der Ithakische Odysseus herumgetrieben wurde Durch weite Länder und weite Fahrten des Meers, Antiphates sah und die thrazischen Völker und den grausamen Zyklopen Und die Speisen der Lotophagen und den Hain des Alkinous, So ertrug unser Held inmitten verschiedener Völker Gutes und Schlechtes mit unerschütterlichem Geist. Ergo idem primis nuper digressus ab annis, Tempora cum lustris conderet acta tribus: Turpe ratus patrios nunquam liquisse penates Contentumque uno consenuisse solo. Partim etiam accensus famae potioris amore, Doctorumque volens ora subire virum. Egressus patria Turingam venit in urbem, Cui vada fecerunt nomen Hiera tua. Nam fuit haec quondam sedes celeberrima Musis, Artibus et studiis nobilitata bonis. […] His quoque digressus, quas tunc celebraverat oras, Dissita longinquo venit in arva solo. Terra iacet gemino procul hinc subiecta Trioni,
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
Pigra gelu et cana tota perusta nive. Hinc mare, quod Veneti seclo coluere priore, Unde gerunt tenerae succina lecta nurus. Illic externum secludit Martius hostes, Sanguine qui pastus Sarmata vivit equi. Ipsa vetus retinet generosa Borussia nomen, Teutonici quondam militis ense potens. Huc illum evectum per millia multa viarum, Seu fors seu rerum certa cupido tulit. Hic cum principibus crebra versatus in aula, Et mores hominum vidit et ingenia Atque uti Neritius quondam iactatus Ulysses, Hinc circum terras, hinc freta longa maris, Antiphatem et Cicones vidit saevumque Cyclopa Lothophagumque dapes Alcinoique nemus. Sic ille in media variorum gente virorum Nunc bona nunc aequo pertulit ore mala.41
Diese Darstellung erweckt den Anschein, dass wir es mit einer abenteuerlichen Entdeckungsreise zu tun haben. Dem Abenteurer ist die Heimat zu klein. Um Ruhm zu erwerben, begibt er sich an die Grenzen der Erde, in Gebiete, die kaum je ein Mensch, der der zivilisierten Welt angehört, betreten hat. Es handelt sich um ein merkwürdiges Land, das direkt unter dem doppelten Dreschochsen liegt, also dem nördlichen Himmelspol, und von ewigem Schnee und Eis bedeckt ist. Nur seetüchtige Entdecker, Venezianer, hatten diese Gebiete – wohlgemerkt im vorigen Jahrhundert – durchfahren. Dort macht Eoban seltsame anthropologische Beobachtungen: Die Frauen des Landes tragen den mysteriösen Bernstein und die Männer kämpfen gegen ein Volk, das Pferdeblut trinkt. Es ergibt sich die Frage, welchen Sinn dieser auffällige ‚Reisebereicht‘ hat. Dem Bericht haften zunächst einige Ungereimtheiten an. Erstens erscheint es unglaublich, dass es in einem Land, das ständig von Eis und Schnee bedeckt ist, Fürstenhöfe gegeben haben soll. Zweitens bezeichnet der Name des Landes, Borussia – Preußen – in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kein unerschlossenes, völlig unzivilisiertes Gebiet.42 Es handelt sich um das Herzogtum Preussen (heute im nördlichen Polen), das aus den ehemaligen Besitzungen des Deutschen Ordens hervorgegangen war (auf welche Micyllus auch hinweist). Das Herzogtum Preus41 42
Epicedion […] continens Vitae ipsius descriptionem, f. 4*r-v. Vgl. H. Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreussen und Westpreussen, 1992.
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sen war natürlich nicht ständig mit Eis und Schnee bedeckt, genausowenig wie die Herzogtümer Mecklenburg oder Holstein, die sich auf demselben geographischen Breitengrad befinden. Den Ort, an dem sich Eoban ab 1509 aufhielt, Prabuty/Riesenburg, ca. 70 km südöstlich von Gdansk/Danzig, kann man nicht mit Recht als unzivilisiert bezeichnen, genausowenig wie das südlich des Herzogtums Preußen gelegene Polen, welches sich nachhaltig dem lateinischen Humanismus verschrieben hatte.43 Bei Prabuty handelt es sich um einen Bischofssitz, der mit allen dazugehörigen kulturellen Einrichtungen versehen war. Auch die Aussage, dass „der Sohn des Mars“ die feindlichen und barbarischen Sarmaten, wohlgemerkt „Pferdebluttrinker“, von Preussen ferngehalten haben soll, lässt sich schwerlich mit der historischen Realität reimen. An den Grenzen Preussens gab es keine Pferdebluttrinker. Das Trinken von Pferdeblut wurde seit der Antike nomadischen Stämmen zugeschrieben, besonders den asiatischen Skythen. Im Herzogtum Preussen waren Nomaden jedoch nirgends in Sichtweite. Wenn der „Sohn des Mars“ den Polnischen König Sigmund I. Jagiellon (1506–1548) bezeichnen soll, der über das Herzogtum Preussen und über Polen in Personalunion regierte, dann ist unklar, was mit der Abwehr der Sarmaten historisch gemeint sein soll.44 Mit „Sarmatia“ wurde in der lateinischen Geschichtsschreibung Polens gerade Polen selbst bezeichnet, also vornehmlich „zivilisiertes“ Gebiet, z.B. in Maciej Miechows Tractatus de duabus Sarmatiis, Asiana et Europeana, welcher 1517 erschien. Weder waren die Polen Pferdebluttrinker noch kämpfte Sigmund I. Jagiellon gegen derartige Leute. Weiter trifft die Motivation, die Micyllus für die Reise nach Prabuty angibt, nicht zu: es handelte sich keineswegs um eine Entdeckungsreise oder eine aus Neugierde unternommene Bildungsreise: Eoban begab sich nach Prabuty, um die Sekretärsstelle, die ihm der dortige Bischof angeboten hatte, anzutreten. Was bezweckte Micyllus mit der merkwürdigen Verlagerung des Reisemotivs und dem kuriosen Zerrbild der Örtlichkeit, besonders der Verortung an die Grenzen der Erde? Micyllus versetzte Eoban damit in den homerischen Heldendiskurs und gleicht ihn dem epischen Protagonisten Odysseus an. Damit verleiht er dem Humanistenführer den Status eines Helden, womit es ihm zugleich gelingt, Eobans Unstetigkeit in Bezug auf seine Aufenthaltsorte 43
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Vgl. H. B. Segal, Renaissance Culture in Poland: The Rise of Humanism, 1470–1543, Ithaca, N. Y. 1989; J. Ziornek, Renesans, Warschau 1995; J. Axer, J. Kieniewicz, Art. „Poland“, in: ER, Bd. V, 101–105. Vgl. N. Davies, God’s Playground: A History of Poland, 2 Bde., New York 1982.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
moralisch zu rechtfertigen. Der homerische Held Odysseus fungierte in der Frühen Neuzeit als vielfach zitiertes Tugendvorbild. Da sich in der Odyssee die Tugend des Helden im Rahmen vieler gefährlicher Reiseabenteuer entfaltet, erhält das Reisen als Tugendkatalysator Berechtigung. Außerdem trug zu diesem Heldendiskurs bei, dass die Anfangszeilen der Odyssee, der Held habe vieler Leute Gesinnung kennengelernt und Städte betrachtet, in der Frühen Neuzeit vielfach auf die Bildungsreise der Grand Tour angewendet wurden. Auf diese Weise konnten die Mitglieder der Respublica litteraria sich für einen bestimmten Abschnitt ihres Lebens das Gewand des epischen Helden Odysseus überziehen. Indem Micyllus das Herzogtum Preußen als abenteuerliches Land am Rande der Erde, das ständig von Schnee und Eis bedeckt ist, darstellt, ordnet er es in den Diskurs der homerischen Abenteuerfahrt ein. Auch Odysseus hat an Königshöfen, z. B. der Phäaken, Halt gemacht. Zur Mythifizierung trägt weiter bei, dass Micyllus den Namen des Hofes verschweigt, ganz besonders, da er ihn an eine Liste gefährlicher Ungeheuer, mit denen sich Odysseus auseinandersetzen musste, anbindet. Die spezifische Angleichung des Bischofssitzes von Prabuty an die gefährlichen Stationen der Odyssee hatte wahrscheinlich auch einen konfessionellen Hintergrund. Der Kreis, dem Micyllus angehörte und der für Eoban ein literarisches Denkmal errichtete, setzte sich aus Lutheranern zusammen. Eoban selbst war zu einem frühen Zeitpunkt Lutheraner geworden. Micyllus versuchte, Eobans Sekretariat bei einem katholischen Würdenträger, das immerhin fast vier Jahre dauerte (1509–1513; wohlgemerkt vor Luthers Aufstieg), den Anstrich eines gefährlichen Abenteuers zu geben. Insofern ist es besonders sinnvoll, den katholischen Bischofssitz ins unerschlossene Barbarenland, ans Ende der Welt, zu versetzen und mit den gefährlichen Abenteuern des Odysseus zu assoziieren: mit dem Aufenthalt bei Antiphates, dem menschenfressenden König der Laistrygonen, der viele der Kameraden verspeiste und dem elf der zwölf Schiffe zum Opfer fielen; mit den grausamen, ebenfalls menschenfressenden Zyklopen und so weiter. Der Bischof wird dadurch mit den homerischen Ungeheuern assoziiert, und Eoban erscheint als der Dulder Odysseus, der selbst in den schlimmsten Situationen nicht verzagte. Bei der Einschreibung Eobans als neuer Odysseus begegnete Micyllus einem lästigen Problem: Odysseus reiste zurück in sein Vaterland, und von daher leitete sich zu einem Gutteil die moralische Legitimierung seiner Reise ab. Dass er sich solange auswärts aufhielt, war nicht seine
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Schuld, sondern lag am Willen der Götter beziehungsweise an den Wechselfällen des Geschicks. Konnte man dasselbe von Eoban behaupten? Reiste er überhaupt zurück in sein Vaterland? Aus seiner Biographie geht nicht hervor, dass er im Laufe seines Erwachsenenalters noch einmal in Bockendorf/Halgehausen oder im benachbarten Frankenberg lebte. Um die Gleichsetzung mit Odysseus durchzuhalten, erfand Micyllus für Eoban ein neues Vaterland – Erfurt: „Dann endlich wendete er seinen Geist wieder den väterlichen Fluren zu / Und kehrte in deine Länder, sanftfließende Er, zurück“ („Hinc tandem patrias animum revocavit ad oras, / Et redit in terras, lenis Hiera, tuas“).45 Dies ist insofern merkwürdig, weil schon aus Eobans Namen, der im Titel des Trauergedichts mit Biographie aufscheint, Eobanus Hessus („Hessus“ – „aus Hessen“), hervorgeht, dass sein Vaterland Hessen war und nicht Thüringen. Erfurt hatte jedoch den Vorzug, dass es in den Rückkehrdiskurs der Odyssee passte. Die Erfindung Erfurts als Eobans neues Vaterland ermöglichte Micyllus, Eobans Unstetigkeit als Rückreise ins Vaterland zu rechtfertigen. Erklärungsbedürftig war dann allerdings, warum sich Eoban in seinen letzten Lebensjahren in Marburg (also wieder in Hessen) aufhielt: Vielleicht hätte er dort (in Erfurt, Anm.) sein Leben zu Ende geführt, Wenn ihm das Schicksal erlaubt hätte, es an einem Ort zu beschließen. Fortuna jedoch, die überall das Gute bekämpft, Duldete auch nicht, dass dieser an einem Ort lebe. Denn als er schon im fortgeschrittenen Alter war und Ruhe und das Ende Der Strapazen erhoffte und fast das Ufer erreicht hatte, Übersiedelte er, sei es durch die Abgunst der Menschen, sei es, dass ihn das Schicksal Zwang, an einen neuen Aufenthaltsort.46
Dies ist das Schema, mit dem Micyllus Eobans Leben erklärt: Wie bei Odysseus ist eine höhere Macht dafür verantwortlich, dass Eoban immer aufs Neue seinen Aufenthaltsort wechseln muss. In diesem Interpretationsschema stellt Micyllus Eoban als einen vom Schicksal Gequälten und Verfolgten dar, und stellt ihn auf eine Stufe mit Homers Odysseus. Die Einschreibung in den Diskurs des homerischen Epos wirkt auf zwei Ebenen. Einmal wird darin ein besonders hochgesteckter Repräsentationsanspruch sichtbar, der sich zum Teil aus der ‚Notlage‘ erklärt, in 45 46
Epicedion […] continens Vitae ipsius descriptionem, f. *5r. Epicedion […] continens Vitae ipsius descriptionem, f. *5r.
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Trauerbiographik für Eobanus Hessus
welche einige wichtige humanistische Netzwerke des deutschen Raums durch den schmerzlichen Verlust ihrer Schaltstellen (Erasmus; Eobanus Hessus) geraten waren. Die prekäre Lage macht den Wunsch der Zirkel verständlich, ihre Anführer als mythische Helden in die Geschichte einzuschreiben. Im Fall des Erasmus lässt sich ganz Ähnliches beobachten. Seine Anhänger verehrten ihn in ihren Trauer- und Memorialpublikationen als neuen Hercules, Prometheus und Apoll.47 Auf einer zweiten Ebene ist die Einschreibung in den homerischen Heldendiskurs mit einem spezifischen Interesse des Eoban-Kreises für Homer verbunden. Dies verleiht der homerischen Biographie-Konstituierung Eobans einen besonderen Sinn. Sowohl Micyllus als auch Eobanus Hessus hatten sich intensiv mit Homer beschäftigt. Der Homerkenner und Gräzist Micyllus (der an der Universität Tübingen und am Frankfurter Gymnasium Griechisch dozierte) bereitete gemeinsam mit einem anderen Mitglied des Kreises, Joachim Camerarius d. Ä., eine Gesamtedition des griechischen Textes (sowohl der Ilias als auch der Odyssee ) vor, die 1541 in Basel erschien.48 Micyllus’ und Camerarius’ humanistische Studien konzentrierten sich also gerade in den Jahren um Eobans Tod auf Homer. Mit der Initiative der Textausgabe ging ein wichtiges Übersetzungsprojekt einher, das Eoban selbst ausführte. In seinen letzten Lebensjahren besorgte er die erste vollständige lateinische Vers-Übersetzung der Ilias, die im Jahr seines Todes, 1540, erschien.49 Der Eoban-Kreis unternahm also gerade um 1540 einen energischen Versuch, die homerischen Epen der Respublica litteraria neu zugänglich zu machen. Die Titelei der lateinischen Ilias-Übersetzung legt die spezifische Homer-Verehrung des Eoban-Kreises fest: Homer betrachteten sie als „mit Abstand größten Dichter aller Zeiten“ (Poetarum omnium seculorum longe princeps). Deshalb ist es besonders sinnvoll, dass sich der Eoban-Kreis nach dem Ableben ihres Anführes vehement über Homer definierte.
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Vgl. Enenkel, „Epitaphs on Erasmus and the Self-definition of the Republic of Letters“. Opus utrumque Homeri Iliados et Odysseae [cum scholiis] opera J. Micylli et Joach. Camerarii recognitum, Porphyrii Homericarum quaestionum liber, eiusdem de Nympharum antro in Odysseae opusculum, 2 Bde., Basel, J. Hervagen, 1541. Zur Arbeit am Homertext vgl. Classen, Jacob Micyllus, 159–160. Poetarum omnium seculorum longe principis Homeri Ilias, hoc est, De rebus ad Troiam gestis descriptio, iam recens Latino carmine reddita, Helio Eobano Hesso interprete […], Basel, Robert Winter 1540.
Einleitung
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XVII. Die wunderbaren Wirkungen der Dokumentierungsrede: Erasmus’ Leitfaden für seine Biographie (Compendium vitae) und andere autobiographische Lebensabrisse (1516–1529) 1. Einleitung Die autobiographischen Lebensabrisse des Erasmus, des im 16. Jahrhundert europaweit bekanntesten Humanisten, stellen einen interessanten Casus für ein näheres Verständnis der Formation der humanistischen Autobiographik dar. Denn Erasmus hat in diesen Schriften ein ungewöhnlich reiches Arsenal einzelner Lebensfakten und Detailangaben bereitgestellt. Erzählzeit und erzählte Zeit rücken hier nahe zusammen: Wir erfahren, was sich an gewissen Tagen zugetragen hat und auf welche Weise, was der Inhalt und der Wortlaut der damaligen Gespräche war und auf welche Art die beteiligten Personen aufeinander reagierten. Diese Darstellungsweise ermöglicht eine eingehende heuristische Auseinandersetzung mit dem Definitionskriterium für die Autobiographie, das Velten in seine Version von Lejeunes autobiographischem Pakt aufgenommen hat – dass frühneuzeitliche autobiographische Texte prinzipiell authentische und überprüfbare Fakten darbieten würden. Es gilt hier zu ermitteln, wie Erasmus’ detaillierte Dokumentierungsrede zu verstehen ist. Ein besonders günstiger Umstand ist, dass wir in diesem Fall gleich drei Lebensabrisse, unter anderen einen Leitfaden für eine Biographie, den der Humanist im Jahre 1524 zusammengestellt hat (Compendium vitae), zur Verfügung haben. Dies ermöglicht uns, die vermittelten Fakten im analytischen Vergleich in der Tat zu überprüfen. Man darf erwarten, dass sich daraus Einblicke gewinnen lassen, welche Ausgangspunkte der Formation dieser Texte zugrundeliegen. Dabei muss erörtert werden, was ein humanistischer Schriftsteller unter einer Dokumentierungsrede verstand, und nach welchen Diskursregeln sie
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Wunder der Dokumentierungsrede: Erasmus’ Lebensabrisse
eingerichtet ist. Es soll gezeigt werden, in welcher Weise Erasmus diese Diskursregeln seinen Lebensabrissen zugrunde legte. Es wird sich en passant herausstellen, dass die Argumente, mit denen man die Echtheit des Compendium vitae bestritten hat, zum Teil auf inadäquaten Leseerwartungen, mit denen man an diesen (auto)biographischen Text herangegangen ist, beruhen.1
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Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. II (S. 46–52). Der Begleitbrief an Goclenius Allen, Bd. V, Nr. 1437 (S. 431–438). Dass der Autor des Compendium vitae Erasmus ist, wurde seit J. B. Kans Attacke gegen den Erstherausgeber, Paullus Merula, lange bestritten und hat eine Flut einschlägiger Literatur hervorgebracht. Crahays Aufsatz aus dem Jahr 1939, worin Erasmus das Compendium vitae aberkannt wurde (R. Crahay, „Recherches sur le Compendium vitae attribué à Érasme“, in: Humanisme et Renaissance 6 [1939], 7–9; 135–153) war so einflussreich, dass sich daraus gewissermaßen eine communis opinio bildete. Unter vielen anderen folgten ihm hierin Post, Koch und Kohls: R. R. Post, „Geboortejaar en opleiding van Erasmus“, in: Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, afdeling letterkunde, N. S. 16 (1953), 327–348; Ders., „Quelques précisions sur l’année de la naissance d’Erasme (1469) et sur son éducation“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 26 (1964), 489–509; Ders., „Nochmals Erasmus’ Geburtsjahr“, in: Theologische Zeitschrift 22 (1966), 319–333; E.-W. Kohls, „Das Geburtsjahr des Erasmus“, in: Theologische Zeitschrift 22 (1966), 96–121; Ders., „Noch einmal das Geburtsjahr des Erasmus: Antwort an R. R. Post“, in: Theologische Zeitschrift 22 (1966), 347–359; A. C. F. Koch, The Year of Erasmus’ Birth and Other Contributions to the Chronology of his Life, Utrecht 1969. Argumente, die man gegen Erasmus als Autor vorbrachte, sind jedoch nicht stichhaltig. Spätestens, seitdem Avarucci (1983) auf Handschriften hinwies, die Erasmus’ Vater angefertigt hatte, ist an der Echtheit des Compendium vitae nicht zu zweifeln (s. unten). Aber das ist keinesfalls der einzige Grund, das Compendium vitae als echt zu betrachten. Alle Argumente, die man angeführt hat, um Erasmus die Autorschaft abzusprechen, weisen vielmehr auf diese hin. Dies möge aus dem Untenstehenden passim erhellen. Die leidige Echtheitsdiskussion erweist sich im Licht paralleler, authentischer Schriften des Erasmus als hinfällig. Sie soll daher hier nicht im Vordergrund stehen oder gar die Struktur des Kapitels bestimmen. Tracy, „Bemerkungen zur Jugend des Erasmus“, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 72 (1972), 221–222, A. Godin, „Une biographie en quete d’auteur: le Compendium vitae Erasmi“, in: J.-P. Massaut (Hrsg.), Colloque Erasmien de Liège: commémoration du 450 e anniversaire de la mort d’Érasme, Paris 1987, 197–221, H. Vredeveld, „The Ages of Erasmus and the Year of his Birth“, in: Renaissance Quarterly 46 (1993), 754–809 und andere bestätigen zu Recht die Echtheit des Compendium vitae.
Erasmus’ Brief an Lambertus Grunnius
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2. Die biographische Dokumentierungsrede: Erasmus’ Brief an Lambertus Grunnius Während Erasmus drei autobiographische Aufrisse verfasst hat, hat er nicht einen mit einer Autorsbestätigung im Sinn von Lejeunes autobiographischem Pakt versehen. Der eifrige und überaus erfolgreiche Publizist hat keine gedruckte, von ihm als solche autorisierte Autobiographie hinterlassen. Überhaupt scheute Erasmus meist davor zurück, seine Gesinnung offen zur Schau zu stellen. Auch offenes, nachdrückliches Auftreten für andere war nicht sein Ding. In einem bestimmten Fall, im August 1516 (er hielt sich damals in England auf) machte er nach eigener Aussage2 eine Ausnahme. Einem alten Freund aus den Niederlanden – er heißt Florentius – war ein zum Himmel schreiendes Unrecht widerfahren: Er war gegen seinen Willen in ein Kloster eingesperrt worden, hatte dies nach einigen Jahren verlassen, und jetzt verfolgte man ihn als untreuen Mönch, der aus dem Kloster ausgebrochen war. Aus dieser misslichen Lage konnte ihn nur ein Dispens des Papstes befreien. Da griff Erasmus zur Feder und schrieb an den päpstlichen Sekretär Lambertus Grunnius einen lateinischen Brief, in welchem er ihm die Sache vorlegte:3 Es waren zwei Brüder, Florentius und sein älterer Bruder Antonius. Noch als kleine Knaben verloren die Brüder ihre Mutter. Ihr Vater starb einige Zeit später und hinterließ ein bescheidenes Erbe, das jedoch ausgereicht hätte, die Vervollständigung der Ausbildung der Brüder zu finanzieren, wenn es nicht die Habsucht der Familienmitglieder, die an seinem Totenbett standen, heruntergebracht hätte. Von Bargeld fehlte jede Spur. Was jedoch an Immobilien und Schuldscheinen übrig war (das war ja nicht im selben Maße der Raubgier jener Harpyien ausgeliefert), hätte ungefähr genügt, um den Brüdern den Abschluss ihrer Studien in den Artes liberales zu ermöglichen, wenn nicht wieder ein Gutteil durch die Nachlässigkeit der Vögte verlorengegangen wäre. Du weißt ja, wie wenige Leute es gibt, die das Vermögen anderer bona fide verwalten. So kamen die Vögte auf den Gedanken, die Brüder fürs Kloster ausbilden zu lassen, indem sie es als außerordentlichen Ausdruck ihres Pflichtgefühls betrachteten, wenn sie ihnen ihr tägliches Brot sicherten. Die Vögte, die dem ohnehin zuneigten, wurden dazu von einem gewissen Guardianus (Ward) überredet, einem eingebildeten Mann, der im Ruf großer Frömmigkeit stand, besonders der eine Vogt, der ein Schulmeister war und den Brüdern die Grundzüge der Grammatik beigebracht hatte. Diesen Mann (den Vogt, Anm.) betrachtete man allgemein als fromm und sittenrein, das heißt, er war nicht als Spieler, Hurenbock, Verschwen-
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Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 447, S. 293, Z. 1–6. Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 447, S. 291–312.
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Wunder der Dokumentierungsrede: Erasmus’ Lebensabrisse
der, Alkoholiker oder Verbrecher verrufen. Aber er war ein ganz und gar egoistischer Mensch und ein unglaublicher Geizhals, der um kein Haar besser war als das Gros der Menschen und der zudem keinen Respekt vor der Bildung hatte, es sei denn jener fehlerhaften und armseligen, die er sich selbst angeeignet hatte. Als Florentius, der damals vierzehn Jahre alt war, ihm einen etwas ausgefeilteren lateinischen Brief schrieb, antwortete er ihm streng, dass er ihm, wenn er ihm noch einmal so einen Brief schreibe, einen Kommentar zur Erläuterung mitschicken müsse: Selbst halte er es so, dass er stets einfach und ‚auf das Punkt gebracht‘ (sic; „punctuatim“)4 schriebe; denn er verwendete wirklich diese falsche Ausdrucksweise! Er schien – und von dieser Sorte Leute kenne ich viele – davon überzeugt gewesen zu sein, dass er Gott das wohlgefälligste Opfer darbrachte, wenn er einen seiner Schüler dem Klosterleben zuführte, und er brüstete sich gerne, indem er aufzählte, wie viele Jünglinge er jedes Jahr für den Heiligen Franciscus oder für den Heiligen Dominicus oder für den Heiligen Benedikt oder für den Heiligen Augustin oder für die Heilige Brigitta zur Strecke gebracht hatte. In der Folge, als die Brüder schon für den Universitätsunterricht reif waren – denn sie beherrschten die Grammatik zur Genüge und hatten sich die Dialektik des Petrus Hispanus größtenteils zueigen gemacht – bewirkte der Vogt, weil er fürchtete, dass sie dort irgendwie weltliche Luft einatmen und das Joch abwerfen könnten, dass sie in die Zucht gewisser Leute kämen, die man Brüder des Gemeinen Lebens nennt und die sich überall eingenistet haben, um aus der Ausbildung von Schülern ein einträgliches Geschäft zu machen. Es ist die vornehmlichste Absicht dieser Leute, wenn sie einen Knaben sehen, der etwas begabter und intelligenter ist […], dass sie mit Schlägen, Drohungen, Beschimpfungen und anderen Methoden seinen Willen brechen und sein Selbstvertrauen vernichten – sie nennen das züchtigen – und ihn so für das Mönchsleben gefügig machen. Aus diesem Grund werden sie von den Dominikanern und den Franziskanern sehr geschätzt. Diese sagen sogar, ihre Mönchsorden würden in kürzester Zeit zum Untergang verurteilt sein, wenn die Brüder des Gemeinen Lebens nicht für Nachwuchs sorgten. Denn aus deren Höfen suchen sie sich ihre Rekruten aus. Meiner Meinung nach gibt es unter den Brüdern des Gemeinen Lebens zwar einige keineswegs schlechte Leute; da sie jedoch an einem enormen Mangel an antiken Autoren leiden, da sie in ihren Verstecken nach ihren idiosynkratischen Sitten und Gebräuchen leben, sich niemals mit anderen messen und immerzu in ihrem eigenen Saft garen, da sie ein Gutteil des Tages für Gebet und Arbeit verwenden, sehe ich nicht, auf welche Weise sie für eine wirklich gute Ausbildung der Jugend sorgen könnten. Die Sache spricht ja für sich: Keine andere Schule verlassen die Schüler mit einer mangelhafteren Ausbildung und mit schlechteren Sitten. In der Schule dieser Fratres vergeudeten die Brüder also zwei Jahre, ja sogar noch mehr, besonders der jüngere, der um einiges gelehrter als seine Lehrmeister war, jedenfalls in der Wissenschaft, die sie unterrichteten. Einer der Lehrmeister
4
Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 447, S. 295, Z. 91. Erasmus zeigt damit beispielhaft, welch unglaublicher Dummkopf dieser Lehrer war, der das Lateinische nicht beherrschte. Das Wort „punctuatim“, das er anscheinend verwendete, existiert nicht. Das richtige lateinische Wort für „auf den Punkt gebracht“ ist „punctatim“.
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war von der Art, dass Florentius noch kein ungebildeteres und eingebildeteres Monster gesehen hatte. Und man liefert die Knaben nicht selten solchen Leuten aus. Denn Schullehrer werden nicht von Gelehrten berufen, die ihre Fähigkeit beurteilen könnten, sondern werden von Patriarchen, welche zumeist selber ungebildet sind, willkürlich ernannt. Ein anderer Bruder, der sich über Florentius’ Begabung immer höchst zu freuen schien, bemerkte, dass die Rückreise nach Hause erwogen wurde, und fing deshalb an, unter vier Augen den jungen Mann zu bearbeiten, damit er ihrer Lebensregel beitrete. Er führte dabei eine Reihe von Argumenten ins Treffen, für welche Knaben im Allgemeinen sehr empfänglich sind. Ach wäre ihm sein Vorhaben nur gelungen! Dann wäre Florentius entweder aus Frömmigkeitsliebe freiwillig dort geblieben, oder es hätte ihm andernfalls freigestanden, in die frühere Freiheit zurückzukehren. Denn diese Art von Leuten […] wird nicht von einem unauflöslichen Profess in Ketten geschmiedet. […] Als dieser Lehrer ihm also mit unablässigen Ermahnungen, manchmal mit Schmeicheleien, kleinen Geschenken und Küsschen ständig zusetzte, gab ihm schließlich der Knabe Florentius eine Antwort, die von einer viel größeren Reife zeugt, als man in seinem Alter erwarten konnte: dass er weder diese Lebensform noch auch sich selbst genügend kenne; sobald er ein reiferes Alter erreicht habe, werde er darüber nachdenken […]. Nachdem also Antonius und Florentius nach Hause zurückgekehrt waren, fingen die Vögte, die den an sich schon kargen Besitz nicht nach bestem Wissen und Gewissen verwaltet hatten, an, über den Eintritt in einen Mönchsorden zu reden, zum Teil, damit sie schneller von ihrer Fürsorgepflicht befreit würden, zum Teil, weil jener Schulmeister, der den Besitz alleine verwaltete (denn der eine Vogt war plötzlich an der Pest gestorben, ohne eine Verfügung zu hinterlassen, und der dritte Vogt, ein Kaufmann, kümmerte sich wenig um sein Amt), meinte, wie ich schon sagte, er werde Gott das wohlgefälligste Opfer bringen, wenn er ihm diese beiden Lämmer schlachtete. Als Florentius bemerkte, dass die Vögte die Sache so behandelten, als ob der Wille ihrer Schützlinge keine Rolle spielte, beriet er sich mit seinem Bruder, der fast drei Jahre älter war, während er selbst gerade erst das fünfzehnte Lebensjahr hinter sich gebracht hatte, und stellte ihm die Frage, ob er denn wirklich in Ketten geschmiedet werden wolle, von denen er sich später nicht mehr würde befreien können. Dieser gestand aufrichtig, ihn beseele nicht so sehr die Liebe zur Religion als die Furcht vor den Vögten. „Wer ist denn verrückter als du“, sagte Florentius, „wenn du aus dummer Angst und Ehrfurcht vor Leuten, von denen du mit Sicherheit keine Schläge befürchten musst, dir selbst eine Lebensweise auferlegst, die du nicht kennst und von der du dich, wenn du sie einmal angenommen hast, nicht mehr befreien kannst?“. Da führte Antonius den geringen Besitz ins Treffen, der durch die Nachlässigkeit der Vögte nochmals verringert worden war. „Du brauchst nichts zu befürchten“, sagte Florentius. „Kratzen wir zusammen, was übrig ist, treiben wir ein kleines Sümmchen auf, und begeben wir uns an eine Universität! An Freunden wird es uns nicht fehlen, und viele, die überhaupt nichts haben, ernähren sich vom Fleiß ihrer Hände“. Und er schloss mit den Worten: „Gott hilft denen, die nach dem Guten streben“. Antonius gefiel diese Antwort so gut, dass er sogar viele günstige Aussichten aufzeigte, an die der Jüngere gar nicht gedacht hatte. Zu guter Letzt beschlossen
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sie einmütig, dass die Sache mit dem Eintritt ins Kloster vertagt werden sollte, bis sie drei oder vier Jahre an einer Universität studiert hätten und dann aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer größeren Erfahrung richtiger beurteilen könnten, was das Beste sei. Dieser Beschluss gefiel beiden auf Dauer. Aber der Ältere wurde dennoch von Scheu und Furcht geängstigt, wie man das denn den Vögten beibringen könne. Diese aber schritten, ohne dass sie sich nach dem Willen ihrer Schützlinge erkundigt hätten, schnell und entschlossen zur Tat. Da entwarf man die Formulierung einer Antwort. Antonius pflichtete ihr bei, nur flehte er den Jüngeren an, er möge als Jüngerer das Wort führen und für beide antworten. Denn er war sowohl scheuer im Sprechen als auch weniger gelehrt. Florentius akzeptierte zwar diese Bedingung, erkundigte sich jedoch vorab sorgfältig, ob Antonius bei seinem Beschluss geblieben war. […] Antonius schwor hoch und heilig, er werde dem einmal gefassten Beschluss treu bleiben. Nach einigen Tagen kam jener Vogt. Nachdem er eine lange Vorrede über seine Zuneigung und sein Pflichtgefühl seinen Schützlingen gegenüber und über seinen wunderbaren Einsatz und seine Umsichtigkeit gehalten hatte, fing er an, sie zu beglückwünschen, weil er für beide einen Platz bei jenen Mönchen gefunden habe, die sich Regulärkanoniker nennen. Der Knabe Florentius antwortete in beider Namen, wie abgesprochen, indem er dem Vogt für seinen Einsatz und seine Zuneigung dankte. Im Übrigen betonte er, dass es ihm und seinem Bruder unvernünftig scheine, sich in diesem Alter und mit dieser geringen Lebenserfahrung für eine bestimmte Lebensweise zu entscheiden. Sie würden sich nicht einmal selbst genügend kennen und völlig im Ungewissen sein, was diese Lebensweise, die sie annehmen sollten, enthalten würde. Denn sie hatten noch kein Kloster betreten und konnten nicht vermuten, was für ein Lebewesen der Mönch ist. Es schien ihnen viel besser, dass nach einigen Jahren, die sie für die ehrbarsten Studien verwenden würden, ein reiferer Entschluss gefasst werde. So werde man ein besseres Resultat erzielen. Während der Vogt diese wahrlich nicht knabenhafte Antwort des Knaben in aller Form umarmen hätte müssen, wenn er ein wahrhaft frommer Mann gewesen wäre, der mit der Weisheit des Evangeliums ausgestattet war, […] wurde er hingegen vor Zorn ganz weiß, gerade so, als ob man ihm einen Faustschlag versetzt hätte, und der Mann, der sonst scheinbar einen milden Charakter hatte, geriet bei dieser Gelegenheit so in Wut, dass er kaum seine Hände zurückhalten konnte, und er nannte mit erstaunlichem Hochmut Florentius einen Nichtsnutz und sagte, ihm fehle das heilige Feuer (du erkennst hier den Wortschatz der Mönche). Er legte sein Vogtsamt nieder, weigerte sich, weiterhin gegenüber jenen, bei welchen er das täglich Brot der Brüder erkauft hatte, als Bürge aufzutreten, und er schwor, dass vom Besitz nichts mehr übrig sei. Sie möchten sich selbst umschauen, wo sie ihr Brot fänden. Mit diesen und anderen wilden und unflätigen Beschimpfungen geißelte er den Jüngeren, die zwar dem Knaben die Tränen in die Augen trieben, ihn aber nicht von seinem sorgfältigen Beschluss abbringen konnten. „Wir akzeptieren“, sagte er, „dass du dein Amt als Vogt niederlegst und wir befreien dich von der Fürsorge für uns“. So ging man damals auseinander. Als der Vogt einsah, dass er mit Drohungen und Beschimpfungen nichts ausrichtete, führte er seinen Bruder als Unterhändler ins Treffen, der den Ruf hatte, ein unglaublich umgänglicher und einnehmender Mann zu sein. Man traf sich im Garten, die Knaben wurden eingeladen, sich zu
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setzen, die Becher wurden auf den Tisch gestellt, und, nachdem man sich freundschaftlich unterhalten hatte, kam man zur eigentlichen Sache, jedoch auf ganz andere Weise. Alles, was der Bruder des Vogts vorbrachte, klang süß und angenehm, und ein ganzes Arsenal von Lügen über die wunderbare Glückseligkeit jener Lebensweise wurde aufgetischt, gewaltige Hoffnungen auf enormen Reichtum gemacht, und schließlich flehte der Mann die Knaben auch noch an. Was anderes? Von diesen Schmeicheleien eingelullt geriet der Ältere ins Wanken, und er vergaß dabei seinen oftmals bestätigten Treueschwur. Der Jüngere blieb nichtsdestoweniger bei seinem Beschluss. Der Ältere begab sich in kurzer Zeit unter das Joch, indem er den Jüngeren verriet, wobei er jedoch auch noch heimlich stahl, was an Besitz übrig geblieben war. Das war übrigens nicht das erste Mal. […] Denn wenn er auch langsam von Begriff war, so hatte er doch einen robusten Körperbau und war, wenn es um materielle Dinge ging, aufmerksam, ja gewichst und durchtrieben, stahl häufig Geld, war ein tüchtiger Trinker und geiler Hurenbock. Kurz: Er war dem Jüngeren so unähnlich, dass er von anderen Eltern abzustammen schien. Niemals war der Ältere für seinen Bruder etwas anderes als ein böser Geist. Und nicht viel später betrug er sich unter seinen Kameraden nicht viel anders als Judas unter den Aposteln. Als er seinen Bruder so elendiglich in der Falle sitzen sah, wurde er vom Stachel des schlechten Gewissens gequält und er bereute, dass er ihn in die Schlinge gelockt und in den Untergang geführt habe. Da hörst du das Judasbekenntnis! Hätte er sich doch jenen auch sonst zum Vorbild genommen und sich aufgehängt, bevor er jene frevlerische Schandtat beging! Florentius war, wie es gemeinhin Leute sind, die für die Wissenschaft und für die Literatur geboren sind, unerfahren und nachlässig in den Dingen des gewöhnlichen Lebens, ja unglaublich einfältig, während es andererseits Leute gibt, deren Geschäftssinn voll entwickelt ist, noch bevor ihnen die ersten Barthaare wachsen. Zu keiner anderen Sache taugte sein Geist als zum Studium. […] Er hatte einen schwächlichen Körper, der jedoch intellektuellen Betätigungen gewachsen war, und er war damals gerade erst sechzehn geworden. Zu guter Letzt war er auch noch von chronischem Fieber geschwächt, das ihm schon mehr als ein Jahr zusetzte und das er sich durch jene schmutzige und unfreie Ausbildung zugezogen hatte. Wohin sollte sich ein solcher Jüngling wenden, der von allen verraten und verlassen war, völlig unerfahren in den Dingen des Lebens und noch dazu kränklich? […] Unterdessen treibt jener blöde Vogt, damit ihm nicht misslinge, was er einmal angefangen, und er die Tragödie dem letzten Akt zuführe, von überallher ganz verschiedene Leute auf, Hohe und Niedrige, Männer und Frauen, Mönche und Halbmönche, Onkel und Tanten, Vettern und Nichten, Alte und Junge, Bekannte und Unbekannte. […] Um mich kurz zu fassen: Kein Trick blieb unversucht, um den Geist des einfältigen, von seinem treulosen Bruder verratenen, schließlich auch noch von Krankheit gebrochenen Jünglings zu bearbeiten. Dabei wurde nicht weniger Sorgfältigkeit, Eifer und Wachsamkeit verwendet, als wenn es eine reiche Stadt zu erobern gegolten hätte. […] Vieles lasse ich bewusst weg, mein gelehrtester Grunnius, damit ich dir nicht mit Einzelheiten auf die Nerven gehe. Du kannst ja in deiner Weisheit leicht von dem, was ich hier vermelde, auf das Übrige schließen. Florentius befand sich unterdessen, wie das Sprichwort sagt, zwischen Hammer und Amboss. Während er so in der Klemme saß und sich umschaute, ob
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nicht von irgendwoher irgendein Gott auftauchte und ihm einen Ausweg zeigte, besuchte er zufällig ein Kloster, das sich in der Nähe der Stadt befand, in der er sich damals aufhielt. Dort traf er zufällig einen gewissen Cantelius, mit dem er als Kind gemeinsam aufgezogen worden war. Dieser war um ein paar Jahre älter, von aufgewecktem Geist, der immerzu seinen Vorteil im Auge behielt, der aber dennoch außerordentlich war. Diesen hatte nicht so sehr Frömmigkeit ins Kloster gelockt als seine Fresssucht und seine Faulheit. Denn er war von seinem Charakter her ganz ungewöhnlich faul und träge, und deshalb machte er in der Wissenschaft kaum Fortschritte. Er kannte sich nur beim Singen aus, was man ihm von Kindheit an beigebracht hatte. […] Als Cantelius im Gespräch entdeckte, welch gewaltige Fortschritte Florentius in der Wissenschaft gemacht hatte, dachte er sofort an seinen Vorteil und fing an, ihn mit unglaublich gefühlsbetonten Reden zu seiner Lebensweise zu überreden. Er war von seinem Charakter her ein wahrer Sohn Merkurs. […] Er kannte den Köder, mit dem man den Geist des Jünglings in die Falle locken konnte. Kurz zusammengefasst: Wenn du dem Mann zugehört hättest, hättest du gemeint, dass er nicht in einem Kloster, sondern in einem Musenhain lebe. Florentius war dem Cantelius in seiner Naivität in heftiger knabenhafter Liebe zugetan, besonders da sie sich nach so langer Zeit unverhofft getroffen hatten, wie es ja jenem Lebensalter entspricht, feurige Jünglingsfreundschaften zu schließen. […] Cantelius verfolgte inzwischen eifrig seine Absicht, indem er die Naivität und Umgänglichkeit seines Freundes missbrauchte. […] Cantelius liebte in Wirklichkeit nur sich selbst. Inzwischen erlaubte man dem Florentius alles, damit er nur nicht abspringe. Den Knaben verlockte der angenehme Umgang mit Gleichaltrigen. Man sang, man scherzte, man veranstaltete Wettkämpfe im Dichten. Man brauchte sich nicht an die Fastensregeln zu halten, man brauchte nicht in der Nacht aufzustehen um Psalmen zu singen. Niemand ermahnte den Knaben, niemand schalt ihn aus, alle waren freundlich und zeigten ihm ihre Zuneigung. Unversehens verflossen einige Monate im gedankenlosen Spiel. Als der Tag drohend herannahte, an dem das weltliche Gewand abgelegt und das geistliche angelegt werden sollte, kam Florentius endlich zur Besinnung und wiederholte sein altes Lied. Nachdem die Vögte herbeigerufen worden waren, plädierte er für seine Freiheit. Dabei kam es aufs neue zu grässlichen Drohungen, und man hielt ihm vor Augen, dass es für ihn keine andere Hoffnung gab, als auf dem Weg voranzuschreiten, den er so schön eingeschlagen hatte. Cantelius hatte daran keinen geringen Anteil, denn er wollte seinen nächtlichen Gratis-Lehrer nicht verlieren. Ich bitte dich, ist das nicht die reinste Gewaltanwendung […]? Was enthalte ich dir noch das Resultat vor? Dem protestierenden Knaben wurde die Mönchskutte übergeworfen, obwohl man wusste, dass er seine Meinung nicht geändert hatte. Und, nachdem dies geschehen war, besänftigte man seinen knabenhaften Geist aufs Neue mit Schmeicheleien und mit Nachsicht.
Auf den modernen Leser macht dieser biographische Bericht zunächst einen überzeugenden Eindruck. Der Leser fasst die Biographie als referentiellen Text mit Informationswert und Realitätscharakter auf, und insofern erwartet er, dass dieser (überprüfbare) Fakten und genaue Detailangaben anbietet. Erasmus’ Darlegung scheint unschwer auf dieses
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Erwartungsmuster zu passen. Er will offensichtlich möglichst umfassend und genau über einen bestimmten Abschnitt der Biographie seines Freundes informieren. Er bietet die Information in kleine, übersichtliche Portionen verpackt an und lässt keine Undeutlichkeit bezüglich des erzählten Hergangs aufkommen, indem er die beteiligten Personen, die involvierten Sachverhalte, ja sogar die Orte der Handlung präzise benennt, wobei die einzelnen Informationsbestandteile eng miteinander verbunden sind. Die Fülle der Fakten und Einzelheiten, die auf den Leser einwirken, sowie ihre klare Anordnung hinterlässt eine überwältigende Beglaubigungswirkung – eine Wirkung, die also in erster Linie auf die genaue Dokumentierung zurückzuführen ist. Diese Fakten-Konditionierung des modernen Lesers in Bezug auf biographische Texte bringt aber auch mit sich, dass er sie kritisch liest. Elemente des Textes, die jenseits des Faktischen angesiedelt sind, bzw. Informationsbestandteile, die einander widersprechen oder nicht aufeinander bezogen sind, erregen seine Aufmerksamkeit. Zum Beispiel registriert er die merkwürdige Emotionalisierung des Biographen, die unter anderem in wüsten Beschimpfungen der beteiligten Personen zum Ausdruck kommt: der Vögte, der Lehrer des Brüderhauses, des Bruders Antonius, des Freundes Cantelius sowie der Mitmönche. Zum Beispiel stigmatisiert der Biograph den Bruder des Florentius als Erzverräter und Judas, als Faulpelz, Genussspecht, Dieb und Hurenbock; den Freund Cantelius als Egoisten, durchtriebenen Profiteur, notorischen Faulpelz und außerdem als begriffsstutzigen Schüler. Eine solche Vorgehensweise scheint sich nicht für einen Biographen zu gehören, und insofern macht der Text einen ziemlich unangenehmen Eindruck. Dazu kommt, dass der Text von seiner Anlage her in einer Hinsicht fragwürdig wirkt. Erasmus will seinen Bericht auf der Grundlage der Autopsie erstellt haben, indem er explizit mitteilt, dass er das meiste in der Tat selbst gesehen hat (Z. 18–19). Er behauptet also, dass er bei den Gesprächen, die er im Wortlaut wiedergibt, selbst zugegen gewesen sei. Die Autopsie als solche bildet für den modernen Leser zweifellos eine legitime Grundlage des biographischen Berichtes. Jedoch fällt ihm auf, dass in Erasmus’ Bericht unklar bleibt, wie das zugegangen sein soll. Von einem Freund des Florentius namens Erasmus, der bei den Ereignissen anwesend war, ist in der Beschreibung nirgends die Rede. Von bestimmten Gesprächen wird hingegen explizit vermeldet, dass sie unter vier Augen stattfanden, etwa vom Gespräch des Florentius mit dem Lehrer bei den Brüdern des Gemeinen Lebens (Z. 125 ff.) oder vom Gespräch des Florentius mit seinem Bruder. Die hier hervorbrechende Widersprüch-
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lichkeit wird dadurch verstärkt, dass die Ereignisse mehrheitlich in einem ganz intimen Kontext stattfanden, will sagen: die Anwesenheit eines unbeteiligten Dritten ausschliessen. Dies verträgt sich nicht gut mit Erasmus’ Autopsieanspruch. Die Perspektive scheint in diesem Text nicht richtig zu stimmen. Der Text erzeugt ein unangenehmes Schwindelgefühl, das durch Erasmus’ kryptische Bemerkung, dass er sich selbst kaum besser kenne als den Florentius (Z. 17–18), verärgert wird. Der frühneuzeitliche Leser wird von dem Fakten- und Detailreichtum des Textes nicht veranlasst, diesen als Biographie zu verorten. Unter einer Biographie verstand dieser in der Regel einen Text viel geringeren Umfanges, als ihn Biographien des 19. oder des 20. Jahrhunderts aufweisen. Insofern erwartete er nicht eine geballte Ladung von Fakten, wie sie Erasmus’ Bericht aufweist. Diese machte ihm eher das Leseangebot, den Bericht als juristischen Text zu verorten, in dem strittige Tatbestände verhandelt werden. Der Emotionalisierung des Textes misst der frühneuzeitliche Leser nicht dieselbe Bedeutung zu wie der moderne Leser. Da für ihn ein juristischer Text vorliegt, erfährt er die Emotionalisierung als mehr oder weniger normal. Das Plädoyer eines Anwalts, der sich für eine bestimmte Person einsetzt, erfordert, dass er deren Widersacher vehement angreift. Die kryptische Bemerkung, dass der Verfasser des Textes sich selbst kaum besser kenne als den Freund, liest er als etwas übertriebene Beteuerung, die bloß der Beglaubigung seiner Sachkenntnis dienen soll. Er misst ihr weiter keine Bedeutung zu. Auf den Gedanken, die Beteuerung anhand der konkreten Einzelheiten des Textes zu überprüfen, kommt er schon gar nicht. Das würde ihm als überflüssiges und im Grunde lächerliches Unterfangen erscheinen. Insofern erzeugt die Innenperspektive, welcher der Text zustrebt, beim frühneuzeitlichen Leser nicht dasselbe perspektivische Unwohlsein, das den modernen Leser beschleicht. Der frühneuzeitliche Leser erfährt sie lediglich als Beglaubigungsinstrument, nicht als ungehörige Verschiebung der Perspektive.
3. Der Kontext des Compendium vitae und des Briefes Nr. 1436: Todeserwartung und humanistische Polemik Acht Jahre nach dem Brief an Grunnius erkrankte Erasmus so schwer, dass er befürchtete, sein Leben werde bald zu Ende gehen. Der Sieben-
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undfünfzigjährige meinte, dass sich nunmehr die letzte Möglichkeit darbieten würde, der Nachwelt ein ‚richtiges‘ Bild seiner selbst zu hinterlassen. Eine autorisierte Autobiographie wollte er jedoch nicht herausgeben. Es schien ihm besser und überzeugender, wenn andere die Aufgabe einer Biographie auf sich nehmen würden. Potentielle Autoren hatte er in seinem weitläufigen Freundes- und Bekanntenkreis genug, besonders drängte sich der Löwener Kreis mit Conrad Goclenius (Goclen) auf. Dennoch wollte Erasmus seine Freunde nicht einfach gewähren lassen. Eine Biographie ist eine heikle Angelegenheit, und da ist es gut, wenn man Kontrolle ausüben kann. Zu diesem Zweck verfasste Erasmus den Leitfaden für seine Biographie (Compendium vitae; 1524), welchen er im selben Jahr seinem Freund und niederländischen Sachwalter Conrad Goclen nach Löwen schickte. Das Compendium vitae ist von seiner Funktion her dem Porträtgemälde vergleichbar, das Erasmus in der nämlichen Zeit in Basel von Hans Holbein d. J. anfertigten liess und William Warham, dem Erzbischof von Canterbury, schenkte. Dieses ist höchstwahrscheinlich mit dem Dreiviertelporträt mit dem antikisierenden Pilaster identisch, das sich jetzt in der National Gallery befindet (Abb. 10, S. 478). Dazu ist weiter eine Vorstudie überliefert (zur linken Hand Abb. 11, S. 479). Erasmus vergewisserte sich brieflich bei dem Bischof, ob das Porträt angekommen sei, wobei er seine Todeserwartung erneut zum Ausdruck bringt: „Ich glaube, dass du das gemalte Porträt, das ich dir geschickt habe, erhalten hast, damit dir etwas von Erasmus übrig bleibt, wenn mich Gott aus dieser Welt abberuft“.5 Das Porträt stellt Erasmus so dar, wie er sich gerne der Mit- und Nachwelt überliefern wollte: Als humanistischen Kulturhelden, der durch seine herkulische Sonderleistung Bildung und Wissenschaft förderte. Seine Hände ruhen stolz auf seinem „Werk“ (einem Buch), das durch den Autorsnamen Erasmi Roterodami als sein Eigentum und seine Leistung gekennzeichnet ist und auf der Kopfseite als „herkulische Anstrengung“ (Herakleioi Ponoi) qualifiziert wird (Abb. 10). Die Übersendung des eindrucksvollen Porträts des sich todkrank wähnenden Erasmus hat die Karriere des Hans Holbein entscheidend beeinflusst: Man wurde in England auf seine große Kunstfertigkeit aufmerksam, was zu zwei langen Englandaufenthalten mit zahlreichen Aufträgen, schließlich zur Ernennung zum Hofmaler König Heinrichs VIII. führte. Der Erzbischof William Warham war von dem Erasmus-Porträt so angetan,
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Allen, Opus Epistolarum, Bd. V, Nr. 1488 (S. 534).
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Abb. 10: Hans Holbein d. J., Porträt des Erasmus mit 57 Jahren. Holz, 73.6 × 51.4 cm. Privatsammlung, als Dauerleihgabe an die National Gallery, London.
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Abb. 11: Hans Holbein d. J., Vorstudie zu Erasmus’ Händen. Silberstift, schwarze Kreide und Rötel, 20.6 × 15.3 cm. Paris, Louvre.
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dass er sich drei Jahre später von Holbein auf ganz ähnliche Weise porträtieren ließ (Abb. 12, S. 481). Neben dem Compendium vitae stellte Erasmus noch einen zweiten Lebensabriss in Briefform zusammen (Brief Nr. 1436), von dem nicht mehr bekannt ist, an wen er ihn adressiert hat.6 Publiziert hat er ihn jedenfalls nicht. In der Form, in der er uns überliefert ist, war der Brief nicht publikationsreif.7 P. S. Allen setzte die Schreibsituation des Briefes mit dem des Compendium vitae gleich, das Abfassungsdatum mit dem des GocleniusBriefes (Anfang April 1524), und registrierte tentativ den Geschichtsschreiber Gerard Geldenhauer als Adressaten. Wie eine Beobachtung von Erika Rummel erwiesen hat, kann jedoch keine dieser Zuordnungen richtig sein. Aus einer Anspielung im Anfangsteil des Briefes geht hervor, dass sich Erasmus auf ein gegen ihn gerichtetes polemisches Werk bezieht, die Apologia in eum librum quem ab anno Erasmus Roterodamus de confessione edidit, welche am 21. März 1525 in Löwen bei dem Drucker Cocus erschien.8 Die Verfasser dieser bissigen Schrift waren vier Löwener Theologen, die sich mit dem Pseudonym „Godefridus Ruysius Taxander“ maskierten. Der Brief des Erasmus Nr. 1436 ist also etwa ein Jahr nach dem Compendium vitae (nach dem 21. März 1525; möglicherweise im April oder Mai, jedenfalls aber vor dem 25. August) verfasst worden und stellt eine Reaktion auf die Anschuldigungen der vier Löwener Theologen, die von Viventius Theorici angeführt wurden, dar. Da die Theologen Erasmus’ Lebenslauf aufs Korn nahmen, lieferte dieser einen Lebensabriss zur Widerlegung der Anschuldigungen. Der Tatsache, dass sich seine Lebenssituation 1525 nicht wesentlich von der des Jahres 1524 unterschied, entspricht, dass die Darstellung in ihren Grundzügen mit der des Compendium vitae übereinkommt.
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Allen, Opus Epistolarum, Bd. V, Nr. 1436 (S. 426–431). Z. B. fängt Erasmus Z. 26 unvermittelt an, über „uns“ und „wir“ zu reden, ohne dass der Leser weiß, wer damit gemeint ist. Erst elf Zeilen später wird klar, dass Erasmus’ Bruder die Mehrzahl bedingte. Das zeigt, dass dem Text der Schliff fehlt, den man von einem publikationsreifen Schriftstück erwartet. Außerdem fehlt dem Brief ein einleitender und ein abschliessender Abschnitt. E. Rummel, „Nihil actum est sine authoritate maiorum: New Evidence Concerning an Erasmian Letter Rejecting the Accusation of Apostasy“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 54 (1992), 725–731; vgl. Erasmus, Collected Works, Toronto 1974 ff., Bd. X (1992), 214–215 und Bd. XI (1994), 162–164.
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Abb. 12: Hans Holbein d. J., Porträt von William Warham, Erzbischof von Canterbury, 1527. Holz, 82 × 67 cm. Paris, Louvre.
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4. Florentius – Erasmus, Biographie – Autobiographie: die inhaltliche Gleichläufigkeit der Lebensabrisse Vergleicht man den Brief an Grunnius mit den beiden autobiographischen Abrissen, so macht man die überraschende Entdeckung, dass die ‚Erlebnisse‘ des Florentius auf wundersame Weise bis in die Einzelheiten mit denen des Erasmus übereinstimmen. Im Compendium vitae verliert Erasmus, genau wie Florentius, im Knabenalter Vater und Mutter (Z. 41–46);9 in der Folge wurde er, genau wie Florentius, drei Vögten überantwortet (Z. 46);10 die Vögte beorderten ihn, wie Florentius, auf eine Schule der Brüder des Gemeinen Lebens (Z. 49–57),11 obwohl er, wie Florentius, eigentlich schon für den Universitätsunterricht reif war (Z. 49–50).12 Erasmus’ Hauptvogt übte, genau wie der des Florentius, den Beruf eines Schulmeisters (Z. 47–48) aus.13 Erasmus’ Vögte setzten, wie die des Florentius, alles daran, den Knaben ins Kloster zu stecken (Z. 60 ff.).14 Sie verwalteten, wie die Vögte des Florentius, das Vermögen, das der Vater hinterlassen hatte, nachlässig (Z. 60).15 Einer von Erasmus’ drei Vögten starb an der Pest, genau wie einer der drei Vögte des Florentius (Z. 59–60).16 Der junge Erasmus litt, ebenso wie Florentius, damals an einem chronischen Fieber, das mehr als ein Jahr andauerte (Z. 61–62).17 Erasmus’ Hauptvogt schob, als er merkte, dass er nichts ausrichtete, seinen Bruder vor, um den Knaben mit Schmeicheleien zu bearbeiten (Z. 76–77), auf dieselbe Weise wie der Vogt des Florentius.18 Ein alter Freund überredete Erasmus auf verräterische Weise zum Klosterleben, ebenso, wie dies dem Florentius widerfahren war (Z. 78–87).19 Wie die Art und die Menge der gleichläufigen Fakten anzeigen, kann es sich hier nicht um zufällige Übereinstimmungen handeln. Hinter Florentius verbirgt sich niemand anderer als Erasmus. Eine Reihe wörtlicher Anklänge im Compendium vitae erhärtet diese Annahme: 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Brief an Grunnius, Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 447, Z. 69–70. II, Nr. 447, Z. 150–152. II, Nr. 447, Z. 97–146. II, Nr. 447, Z. 97–103. II, Nr. 447, Z. 81–83; 91–96; 150. II, Nr. 447 passim. II, Nr. 447, Z. 70–78; 147–149; 163–164; 209. II, Nr. 447, Z. 150–151. II, Nr, 447, Z. 242–244. II, Nr. 447, Z. 214–223. II, Nr. 447, Z. 296–367.
Florentius – Erasmus
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Dort, in der sogenannten Brüderschule, lebte, das heißt vergeudete er (Erasmus, Anm.) fast drei Jahre. […] Diese Sorte von Leuten (die Brüder des Gemeinen Lebens, Anm.) hat sich bereits weithin über die Erde verbreitet, während sie der Untergang für talentierte Geister und zugleich ein Nachwuchsreservoir für die Mönchsorden ist. Romboldus, der das Talent des Knaben unglaublich liebte, fing an ihn aufzufordern, seiner Herde beizutreten. Der Knabe schützte die Unerfahrenheit seines Alters vor. Nachdem die Pest aufkam und der Knabe lange am chronischen Fieber laborierte, kehrte er zu seinen Vögten zurück. Sein lateinischer Schreibstil war damals bereits ausgereift und er hatte sich eine Reihe guter Autoren zu eigen gemacht. Einer der Vögte starb an der Pest. Die beiden übrigen, die das Vermögen nicht gerade gut verwaltet hatten, fingen an, den Eintritt ins Kloster vorzuschlagen. Der Jüngling, der vom Fieber geschwächt war, das ihn mehr als ein Jahr im Griff hatte, scheute nicht vor der Frömmigkeit zurück. Aber vor dem Kloster ekelte ihn. Also gaben sie ihm einen Tag Bedenkzeit. Inzwischen leitete der Hauptvogt Leute an, ihn dazu zu verlocken, ihm zu drohen, seinen schwachen Geist zu überreden. Außerdem fand der Vogt unterdessen einen Platz im Kloster der Regulärkanoniker, das sich bei Delft befindet und Sion heißt. Das ist das Hauptkloster des Kapitels. Als der Tag herangekommen war, an dem er eine Antwort geben sollte, antwortete der Jüngling klug: Er wisse weder, was das weltliche Leben noch was das Klosterleben enthalte, noch kenne er sich überhaupt selbst; deshalb komme es ihm vernünftiger vor, noch einige Jahre in der Schule zuzubringen, bis er sich besser kennengelernt habe. Als Petrus (d. h. Pieter Winckelman, der Hauptvogt, Anm.) sah, dass der Knabe dies festentschlossen vortrug, entbrannte er in Wut: „Also“, sagte er, „habe ich mich umsonst bemüht, damit ich für viel Geld einen solchen Platz für dich bekomme. Du bist ein Nichtsnutz, du bist kein guter Mensch! Ich nehme von meinem Vogtsamt Abstand. Sieh selbst, woher du dein täglich Brot nimmst“. Der Jüngling antwortete, dass er seinen Rücktritt vom Vogtsamt akzeptiere, und außerdem, dass er alt genug sei, um auch ohne Vogt auskommen zu können. Als der Vogt einsah, dass er mit Drohungen nichts ausrichtete, schickte er seinen Bruder vor, einen Kaufmann, der der zweite Vogt war. Dieser versuchte es mit Schmeicheleien. Von überallher kamen Leute herbei, die ihn zum Klosterleben anspornten. Er hatte einen Kameraden, der den Freund verriet. Und das Fieber setzte ihm zu. Dennoch verlockte ihn das Kloster nicht, bis er zufällig ein Kloster desselben Ordens, Emmaus bzw. Steyn, besuchte, das in der Nähe von Gouda liegt. Dort begegnete er Cornelius, der in Deventer auf der Brüderschule sein Zimmergenosse gewesen war. […] Dieser Cornelius fing an, aus Eigennützigkeit mit wunderbarer Beredsamkeit die heiligste Lebensform auszumalen, den Umfang der Bibliothek, die Freizeit, die Ruhe, die Freundschaft mit den Engeln. Was Wunder? Aus knabenhafter Zuneigung wurde er zu dem alten Freund hingezogen. Die einen lockten ihn, die anderen schubsten ihn ins Kloster. Das Fieber bedrückte ihn schwer. Diesen Ort suchte er sich aus, während er den anderen abgelehnt hatte. […] Als er das Kloster vor dem Gelübde verlassen wollte, hielten ihn zum Teil Scham vor den Menschen, zum Teil Drohungen, zum Teil die Notwendigkeit davon ab. Er legte das Gelübde ab. Illic vixit, hoc est perdidit, annos ferme tres in aedibus Fratrum, ut vocant. […] Quod genus hominum iam late se spargit per orbem, quum sit pernicies bonorum
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ingeniorum et seminaria monachorum. Romboldus, qui mire adamabat ingenium pueri, coepit eum sollicitare, ut suo gregi accederet. Puer excusabat inscitiam aetatis. Hic exorta peste, quum diu laborasset febri quartana, reversus est ad tutores, iam stylo quoque satis prompto ex aliquot auctoribus bonis parato. Unus tutor perierat peste. Caeteri duo re non admodum bene gesta coeperunt agere de monasterio. Adolescens languens febri, quae supra annum illum tenuerat, non abhorrebat a pietate. Caeterum a monasterio abhorrebat. Itaque sinunt diem ad cogitandum. Interim tutor subornat qui pelliceant, qui minitentur, qui perpellant animam imbecillem. Atque interea repererat locum in monasterio canonicorum, qui vulgo vocantur regulares, in collegio, quod iuxta est Delft, dicto Sion; quae domus est principalis eius capituli. Ubi dies venisset respondendi, respondit prudenter adolescens se nondum scire neque quid esset mundus neque quid esset monasterium neque quid esset ipse; proinde videri consultius ut adhuc annos aliquot agat in scholis, donec sibi notior esset. Haec quum videret constanter dici ab adolescente, statim infremuit Petrus: „Ergo“, inquit, „frustra laboravi, qui talem locum tibi magnis precibus pararim. Tu es nebulo, non habes spiritum bonum. Abdico tutelam tuam. Vide, unde alaris“. Adolescens respondit se accipere abdicationem, et ea esse aetate, ut non opus sit tutoribus. Ubi vidit se minis nihil proficere, subornat fratrem, qui et ipse tutor erat, negociatorem. Is blanditiis agit. Accedunt instigatores undique. Habebat sodalem, qui prodidit amicum. Et urgebat febris. Nec tamen arridebat monasterium, donec forte fortuna viseret monasterium eiusdem ordinis in Emaus sive Seyne, iuxta Gaudam. Ibi reperit Cornelium, quem Daventriae habuerat sodalem in eodem cubiculo. […] Hic suum agens negotium coepit mira loquentia depingere vitae genus sanctissimum, copiam librorum, otium, tranquillitatem, sodalitatem angelicam. Quid non? Trahebat affectus ille puerilis ad veterem soldalem. Alii alliciebant, alii propellebant. Onerabat febris. Hunc locum delegit altero fastidito. […] Parantem abire ante professionem partim pudor humanus, partim minae, partim necessitas coercuit. Professus est.20
Der Vergleich zeigt: Florentius und Erasmus sind identisch. Dasselbe Resultat erhält man, wenn man den Grunnius-Brief mit dem autobiographischen Lebensabriss im Brief Nr. 143621 vergleicht. Wie Florentius ist der Waise Erasmus Vögten („tutores“) ausgeliefert, die ihn mit allen Mitteln ins Kloster stecken wollen (Z. 25–77).22 Wie Florentius’ Vögte verwalten sie das Vermögen nachlässig, und wollen deshalb durch die „Verbannung“ des Erasmus ins Kloster sich auf simple Weise ihrer Verpflichtung entziehen (Z. 25–26).23 Wie Florentius besitzt Erasmus einen um drei Jahre älteren Bruder (Z. 37–38).24 Wie in Florentius’ Fall ist 20 21 22 23 24
Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, (Nr. II), S. 49, Z. 52–93. Allen, Opus Epistolarum, Bd. V, S. 426–431. Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 447 passim. Bd. II, Nr. 447, Z. 70–78; 147–149; 163–164; 209. Bd. II, Nr. 447, Z. 155–156.
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auch Erasmus’ Schicksal mit dem des Bruders verbunden: Beide Brüder sollen ins Kloster eintreten (Z. 25–77).25 Wie Florentius wird Erasmus von seinem um drei Jahre älteren Bruder „verraten“ (Z. 66–77).26 Wie Florentius’ Bruder traut sich Erasmus’ Bruder nicht das Wort zu führen, was er feige dem Jüngeren überantwortet (Z. 41–44).27 Wie Florentius nimmt Erasmus seinem Bruder zuvor den Treueschwur ab (Z. 44–45).28 Wie Florentius’ Vogt nennt der des Erasmus seinen Schützling einen „Nichtsnutz“ („nebulo“) (Z. 58).29 Wie Florentius entlässt Erasmus seinen Vogt aus seinem Amt (Z. 61).30 Die Liste dieser keinesfalls zufälligen Übereinstimmungen ließe sich beliebig fortsetzen. Aus ihnen geht klar hervor, dass Florentius niemand anderer als Erasmus selbst ist.
5. Maskenspiel: die publizistische Verwertung des autobiographischen Plädoyers In dem Grunnius-Brief (Nr. 447) änderte Erasmus die Namen aller beteiligten Personen: Sogar der Name des Adressaten ist ein Pseudonym. Einen päpstlichen Sekretär mit dem Namen Lambertus Grunnius, etwa „Lambert Grunzer“ oder „Lambert Schwein“, gab es nicht.31 Den Namen hat Erasmus aus der satirischen lateinischen Schrift Testament des Schweinchens Grunnius Corocotta (Testamentum Grunnii Corocottae porcelli) bezogen, welche in der Spätantike zirkulierte und damals große Heiterkeit erweckte, wie Erasmus’ Lieblingsautor Hieronymus mitteilt. Das Schweinchen hatte ein Testament aufgesetzt, bevor es geschlachtet werden sollte. Erasmus zitierte den Titel dieser fiktionalen Schrift im Widmungsbrief seines Lobes der Torheit an Thomas More.32 25 26 27 28 29 30 31
32
Bd. II, Nr. 447 passim. Bd. II, Nr. 447, Z. 214–223. Bd. II, Nr. 447, Z. 174–180. Bd. II, Nr. 447, Z. 180–186. Bd. II, Nr. 447, Z. 206–207. Bd. II, Nr. 447, Z. 212–213. R. Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 65 (1974), 27–28. Erasmus, Collected Works, Toronto 1974 ff., Bd. IV, 6. Für die Erwähnung im Widmungsbrief zum Lob der Torheit s. Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. 222, Z. 37–39. Erasmus zitiert das Testament des Schweinchens Grunnius Corocotta dort als Exempel antiker satirischer Literatur.
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Wunder der Dokumentierungsrede: Erasmus’ Lebensabrisse
Hinter der Maske des „Lambert Grunzer“ verbirgt sich der päpstliche Sekretär Andrea Ammonio, der zu diesem Zeitpunkt fiskaler Administrator des Papstes in England war und eine Präbende in der St. Stephens Cathedral in Westminster innehatte.33 Ammonio befand sich also damals in unmittelbarer Nähe des Erasmus. Er spielte in der Angelegenheit die Rolle des Beraters und Vermittlers, ebenso wie er sich schon einige Jahre vorher stets für Erasmus eingesetzt hatte. Zum Beispiel hatte er damals bewirkt, dass Erasmus 1512 die Parochie Aldington in Kent erhielt.34 Ammonio reichte den Brief des Erasmus, mit einem Begleitschreiben versehen (Brief Nr. 466) an den Papst weiter. Die Sache wurde in Rom von Silvestro Gigli, Bischof von Worcester, beherzigt, dessen Vertrauter Andrea Ammonio war. Gigli reiste damals zum Konzil nach Rom, das im Jahre 1516 stattfand.35 Daraus ergibt sich, dass auch Gigli mit dem Inhalt des Grunnius-Briefes vertraut gewesen sein muss. Wir befinden uns somit im Diskurs eines an den Papst gerichteten Bittschreibens in einer kirchenrechtlichen Angelegenheit. Um welche Sache ging es? Erasmus hatte, nachdem er im November 1487 ins Augustinerchorherrenkloster Steyn als Novize eingetreten und ein Jahr später den Profess abgelegt hatte, 1492 das Kloster verlassen und war seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Obwohl er am 24. April 1492 in Utrecht zum Priester geweiht worden ist,36 blieb er in der Folge, auch noch 1516, nichtsdestoweniger Mitglied des Klosterordens, blieb also Mönch, und war damit von einer speziellen Freistellung, in erster Linie des Abtes, abhängig, die ihm gestattete, bis auf weiteres außerhalb des Klosters zu verbleiben. 1514 forderte jedoch der Abt von Steyn, Servatius Rogerus (Servaas Rotger), den verreisten Mönch Erasmus dezidiert zur Rückkehr ins Kloster Steyn auf. In einem nervösen Antwortschreiben gab Erasmus Servatius keine positive Antwort37 und führte allerlei Gründe an, weshalb es nicht vernünftig sei, zum gegebenen Zeitpunkt ins Kloster zurückzukehren. Er stellte ihm jedoch eine persönliche Aussprache in Aussicht. Diese hatte 1516 freilich noch stets nicht stattgefunden.38 33
34 35 36 37 38
Zu Ammonio s. C. Pizzi, Un amico di Erasmo, l’umanista Andrea Ammonio, Florenz 1956; Art. „Ammonio, Andrea“, in: CE, Bd. I, 48–50; für die Identifikation vgl. Erasmus’ Dankschreiben an Leo X., in: Allen (Hrsg.), Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 446, Z. 36–37. Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. 247, 248, 249, 250, 255 und 273; CE, Bd. I, 49. CE, Bd. I, 49. Vgl. Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, 22. Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. 296, S. 564–573. Vgl. Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, 27.
Maskenspiel
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1516 erachtete es Erasmus nicht mehr für opportun, die Sache länger in der Schwebe zu halten. Er versuchte nunmehr, eine offizielle Erlaubnis für den Austritt aus dem Mönchsstand zu erwirken.39 Diesem Zweck dient der autobiographische Aufriss von Brief Nr. 447. Erasmus legt in dem Brief die Gründe dar, weshalb sein Eintritt ins Kloster nicht in vollem Sinn rechtsgültig gewesen sei, und sammelt Argumente, die den Dispens, um den er ersuchte, rechtfertigen konnten. Die Aktion, die Ammonio unterstützte und der Bischof von Worcester persönlich betreute, war erfolgreich: Am 26. Januar 1517 stellte Leo X. einen Dispens aus, der Erasmus aufgrund besonderer Umstände vom Mönchsstand befreite und ihn zum Weltpriester machte (Briefe Nr. 517, 518 und 519).40 Am 9. April enthob Ammonio in St. Stephens Erasmus feierlich der Verpflichtung, das Mönchsgewand zu tragen.41 Welchen Sinn macht die Maskerade des Grunnius-Briefes? Es erscheint schwer nachvollziehbar, dass Erasmus in einer so ernsten Angelegenheit, die im Diskurs des Kirchenrechts situiert war und die eine so große Bedeutung für seine persönliche Zukunft hatte, dem Papst ein Schreiben an „den päpstlichen Sekretär Grunzer“ vorgelegt hat. Obwohl Leo X. mit Humor gesegnet war, hätte er sich unweigerlich verulkt gefühlt. Erasmus konnte nicht riskieren, dass der Papst, statt den Dispens zu verleihen, ‚zurückgrunzte‘. Erasmus muss in dem Schreiben, in dem er den Sachverhalt darlegte, mit Sicherheit für den Adressaten den richtigen Namen Andrea Ammonio verwendet haben. Daraus muss man schliessen, dass Erasmus sein Anliegen dem Papst in eigener Sache vorgelegt hat, also in der ursprünglichen Version des „Grunnius-Briefes“ nicht die Maske des Florentius getragen haben kann. Die Maskerade ist m. E. im Zusammenhang mit der Tatsache zu erklären, dass Erasmus den Brief (beträchtliche Zeit nachher) publiziert hat, in der Ausgabe seiner Gesammelten Briefe (1529 bei Froben). 1529 war nicht nur die Sache längst entschieden, sondern hatten auch Leo X. und Ammonio das Zeitliche gesegnet. Erasmus brauchte nicht mehr zu befürchten, dass er Leo X. oder Ammonio vor den Kopf stoßen würde. Die Darstellung seines Falles schien ihm jedoch so gelungen, dass er sie gerne einem breiten Publikum vorlegen wollte. Der Fall bildete immer-
39 40 41
Ebd. Vgl. Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, 27–29. CE, Bd. I, 49.
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hin einen weiteren Beweis für die mächtige Wirkungskraft seiner sprachlichen Begabung. Das Maskenspiel erklärt sich jedenfalls nicht daraus, dass sich Erasmus später vom Inhalt des Grunnius-Briefes distanziert hätte. Dies zeigen die genauen Übereinstimmungen mit den späteren autobiographischen Aufrissen. Was hinderte Erasmus daran, in eigener Person aufzutreten? Um dies nachzuvollziehen, muss man sich vorstellen, welches Autorsethos zustandegekommen wäre, wenn Erasmus den Text in der Ich-Form verfasst und statt der Pseudonyme die wirklichen Namen der beteiligten Personen publiziert hätte. Als Beispiel nehme man den Abschnitt, in welchem Erasmus seinen Freund Cornelius Aurelius („Cantelius“) darstellte: Dort traf ich zufällig einen gewissen Cornelius Aurelius, mit dem ich als Kind gemeinsam aufgezogen worden war. Dieser war um ein paar Jahre älter, von aufgewecktem Geist, der jedoch immerzu seinen eigenen Vorteil im Auge behielt […]. Diesen Cornelius hatte nicht so sehr Frömmigkeit ins Kloster gelockt als seine Fresssucht und Faulheit. Denn Cornelius war von seinem Charakter her ganz ungewöhnlich faul und träge, und deshalb machte er in der Wissenschaft kaum Fortschritte. […] Als Cornelius im Gespräch entdeckte, welch gewaltige Fortschritte ich in der Wissenschaft gemacht hatte, dachte er sofort an seinen eigenen Vorteil und fing an, mich mit unglaublich gefühlsbetonten Reden zu seiner Lebensweise zu überreden. Er war von seinem Charakter her ein wahrer Sohn Merkurs. […] Er kannte den Köder, mit dem man den Geist eines Jünglings in die Falle locken konnte […]: Wenn man dem Mann zuhörte, hätte man gemeint, dass er nicht in einem Kloster, sondern in einem Musenhain lebe. Ich war dem Cornelius in meiner Naivität in heftiger knabenhafter Liebe zugetan, besonders da wir uns nach so langer Zeit unverhofft wiedergesehen hatten, wie es ja jenem Lebensalter entspricht, feurige Jünglingsfreundschaften zu schließen. […] Cornelius verfolgte inzwischen eifrig seine Absicht, indem er die Naivität und Umgänglichkeit seines Freundes missbrauchte. […] Cornelius liebte in Wirklichkeit nur sich selbst.42
Auf diese Weise hätte Erasmus bei einem breiten Lesepublikum einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen und ein bedenkliches Autorsbild vermittelt – das eines hinterhältigen Rufmörders, der einen langjährigen Freund auf ganz üble Weise verleumdet. Ebenso unvorteilhaft wäre gewesen, dass die Ich-Form die Belange, die Erasmus in dieser Sache hatte, nachhaltig zum Ausdruck gebracht hätte. Es handelt sich hier um eine nachteilige Eigenschaft der Autobiographik gegenüber der Biographik, der wir bereits mehrfach begegneten. Erasmus’ Brieftext war somit nur publizierbar, wenn er nicht als autobiographische Schrift präsentiert 42
Vgl. Brief an Grunnius, in Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 447, Z. 298–363.
Inhaltliche Selektionierung: Kindheit und Jugend
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wurde. Auf diese Weise konnte er die beteiligten Personen in den schwärzesten Farben malen, ohne sich selbst ein negatives Autorsethos zuzuziehen. Durch die Maskierung konnte ihm nicht einmal die öfters aufflammende Emotionalität schaden. Sie liess vielmehr Erasmus’ Autorsethos als Biograph im schönsten Licht erscheinen: Es ziert den Biographen, dass er sich mit solch vehementem Einsatz für einen Freund engagiert! Die Maskierung ist weiter insofern nützlich, als einige der Personen, denen Erasmus im Grunnius-Brief so übel mitspielte, 1529 noch lebten, wie z. B. Cornelius Aurelius. Indem Erasmus die wahren Namen der beteiligten Personen änderte, benahm er ihnen das Recht, sich in direkter Weise zu rächen. Er konnte im Falle des Falles immer behaupten, dass sich die Anwürfe ja gar nicht auf die betreffenden Personen bezögen. Da nur mehr der offiziell publizierte Brief erhalten ist, lässt sich nicht mit Sicherheit ausmachen, in welchem Masse und in welcher Weise Erasmus den ursprünglichen Text bei der Publikation im Briefcorpus abgeändert hat. Man kann annehmen, dass er ihn stilistisch überarbeitet, zuweilen ausgeschmückt und erweitert hat. Das ursprüngliche Schriftstück war mit ziemlicher Sicherheit kürzer.43 Anzunehmen ist, dass Erasmus ein paar allgemeinere Textteile, z. B. den locus-communis-Teil des Vorwortes (Z. 24–63) und den Generalangriff auf das Mönchtum (Z. 545–673), welcher ohnehin als Zusatz gekennzeichnet ist,44 erst für die publizierte Version des Jahres 1529 geschrieben hat. Dass Erasmus das beschriebene Geschehen selbst gravierend geändert hätte, ist hingegen eher unwahrscheinlich. Was er vorbringt, dient ausnahmslos dem rhetorischen Ziel, den Dispens vom Mönchsstand zu rechtfertigten. Und gerade diesbezüglich hatte sich ja die ursprüngliche Version bewährt.
6. Kindheit und Jugend: die inhaltliche Selektionierung der Lebensabrisse Alle drei autobiographischen Schriften sind vornehmlich der Darstellung der Kindheit und Jugend gewidmet. Zur Zeit der ursprünglichen Abfassung des Grunnius-Briefes war Erasmus 49 Jahre, zur Zeit der Pub43
44
Vgl. Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, 28; Erasmus, Collected Works, Bd. IV, 7. Z. 545: „Addam et illud“.
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likation desselben 62, zur Abfassungszeit des Leitfadens 57, zu der des autobiographischen Abrisses in Brief Nr. 1436 58 Jahre alt. Das bedeutet, dass Erasmus in allen drei Fällen den Hauptteil seines sowohl in wissenschaftlich-literarischer als auch sozialer Hinsicht außerordentlich erfolgreichen Lebens nicht behandelte. Dies ist nicht auf textgenetische Ursachen oder auf Zeitmangel zurückzuführen, sondern auf eine bewusste Selektionierung. Die Erfolge des erwachsenen Erasmus waren sowohl evident als im Fall des Grunnius-Briefes und des Briefes Nr. 1436 irrelevant. Für das Compendium vitae gilt, dass ein Biograph, besonders wenn er dem Freundeskreis des Erasmus zugehörte, kein Problem haben würde, die Fakten, die den erwachsenen Erasmus betreffen, zusammenzutragen. Laudativ auswertbares Material lag in Hülle und Fülle vor, Erasmus zweifelte nicht daran, dass sich daraus unschwer eine Lobbiographie konstruieren ließe. In diesem Sinn schließt er den Lebensabriss im Compendium vitae, welches er dem Goclenius schickte, nach der Darstellung seiner Jugend mit den Worten: „Das weitere kennst du ja“ („Caetera sunt tibi nota“, Z. 133). Der springende Punkt, die Problemstelle, war gerade Erasmus’ Kindheit und Jugend, weil er ein uneheliches Kind war, und weil er dem Mönchsstand abgeschworen hatte bzw. von ihm dispensiert werden wollte. Wir befinden uns in dieser Beziehung, wie auch Stupprich in seiner gründlichen rechtshistorischen Erörterung nahegelegt hat,45 in allen drei Lebensabrissen im Diskurs kirchenrechtlich relevanter Dokumentierung. Fügt sich das, was Erasmus vorträgt, somit in die Definition authentischer, dokumentarisch einwandfreier und überprüfbarer Information?
7. Die diskursive Verortung der Lebensabrisse: juristische Narratio Ganz offensichtlich war es in jedem der drei autobiographischen Abrisse Erasmus’ vorrangiges Anliegen zu belegen und zu dokumentieren. Der hauptächliche Darstellungsmodus war also jeweils der der Dokumentierungsrede. Man muss nunmehr in den Blick nehmen, in welcher Weise die Dokumentierungsrede aufzufassen ist. Handelt es sich um einen homogenenen Darstellungsmodus, der im Wesentlichen historisch und kulturell indifferent ist? 45
Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“.
Juristische Narratio
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Merkwürdigerweise kann man unter „Dokumentieren“ ziemlich Verschiedenes verstehen. Zum Beispiel lassen sich in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und der Antike in Bezug auf den historischen Beleg grosse Divergenzen feststellen. Antike Historiographen erachteten es in der Regel nicht für notwendig historische Belegstücke in ihre Werke aufzunehmen (Akten, Beschlüsse, Senatus consulta, kaiserliche Dekrete, Inschriften usw.), während im Gegenteil moderne Historiker darauf grossen Wert legen. Paratexte, wie Fußnoten, Endnoten, Appendices, Listen von Quellen und Archivstücken oder Bibliographien, lassen diese andersartige Diskursorientierung schon von der äußeren Gestaltung her erkennen. Der Beleg (Evidenz) ergibt sich für den antiken Historiker hingegen vornehmlich aus einer kunstvollen Präsentationsweise, die dem Leser die Ereignisse gewissermassen vor Augen stellen soll. Für den juristischen Bereich gilt Ähnliches. In modernen, demokratischen Staaten, die ihre Verfassungen nach bestimmten, schriftlich fixierten Rechtsordnungen anlegen, besitzt das Dokument als Beweismittel einen sehr hohen Status, dessen Relevanz durch die Einführung technischer Hilfsmittel progressiv erweitert worden ist (Fingerabdruck, genetischer Code durch DNA-Analyse etc.). Im Rechtswesen der römischen Antike spielt jedoch der Dokumentenbeleg, verglichen mit der Moderne, eine eher bescheidene Rolle. Viel mehr hing von einer kunstvollen Erzählung des Anwalts ab. Das ‚Belegen‘ war im Wesentlichen die Aufgabe der juristischen „narratio“ („Erzählung des Hergangs“), welche einen festen Bestandteil der Gerichtsrede darstellte. Erasmus hat seine Darlegungen nach den Diskursregeln der römischen, juristischen narratio eingerichtet. Zum Beispiel geht im Grunnius-Brief schon aus der Einleitung hervor, dass wir einen juristischen Text vor uns haben. Erasmus teilt mit, dass er eine „causa“ vorträgt, das antike lateinische Wort für Prozess,46 und dass er das „Amt eines Anwalts“ („patrocinium“) auf sich genommen habe (Z. 4). Mit den Diskursregeln der antiken juristischen narratio war Erasmus vertraut, insofern ihm die antiken Rhetorikleitfäden, welche Instruktionen bezüglich der narratio anbieten,47 geläufig waren. Nach dieser Diskursregelung sollte die narratio „kurz“, einfach und deutlich, d. h. klar verständlich, und glaubhaft sein.48 Quintilian bietet in seiner Institutio oratoria die genaueste Darlegung der narratio: „Klar 46 47 48
Z. 17: „causam ago“. H. Lausberg, Handbuch der Literarischen Rhetorik, München 1960, 165 ff. Ebd. 168–169.
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und deutlich wird nun die Erzählung, wenn sie erstens in den eigentlichen, treffenden und zwar nicht gemeinen, jedoch auch nicht gesuchten und außer Gebrauch gekommenen Worten dargelegt wird und weiter Sachen, Personen, Zeitumstände, Örtlichkeiten und Gründe klar erkennen lässt, wobei man zusätzlich die äußere Form des Vortrags darauf einrichten muss, dass der Richter das, was zur Sprache kommt, möglichst leicht aufnimmt“ („Erit autem narratio aperta et dilucida, si fuerit primum exposita verbis propriis et significantibus et non sordidis quidem, non tamen exquisitis et ab usu remotis, tum distincta rebus, personis, temporibus, locis, causis, ipsa etiam pronuntiatione in hoc accommodata, ut iudex quae dicentur, quam facillime accipiat“).49 Es handelt sich um einen äußerst sorgfältig ausgewählten Satz von Vorschriften, welche sowohl die Selektion und Anordnung des Materials als auch den Redestil (Wortwahl) und den Vortrag (pronuntiatio) betreffen. Die Diskursregel der „Kürze“ bezieht sich nicht auf eine absolute, quantifizierbare Länge der narratio, sondern wird eher als Qualität der zweckbezogenen inhaltlichen Selektionierung aufgefasst. „Kurz“ ist eine Erzählung dann, wenn sie genau das aufnimmt, was der Darlegung des Sachverhalts dient und für sie zweckdienlich ist. „Es gibt nämlich eine Art von Kürze der einzelnen Teile, die sich doch im ganzen als Länge auswirkt […]. Wir aber nehmen Kürze in dem Sinn: nicht, dass weniger, sondern dass nicht mehr gesagt wird als nötig […]; (dass gesagt wird), soviel nötig und soviel genügend ist. […] Auch wird meine Sorge um Kürze wohl nie so gross sein, dass ich nicht das, was die Darstellung glaubhaft macht, hineinbringen möchte. Denn eine einfache und ringsum verstümmelte Darstellung hat nicht so sehr Anspruch, Erzählung zu heissen, als vielmehr Geständnis“, lehrt Quintilian.50 Die Informationsvermittlung wird im Leitfaden für Advokaten also vor allem als Kunst präsentiert, nicht als eine natürliche und automatisch ablaufende Sprechhandlung. Das ist von ganz entscheidender Bedeutung: Es geht nicht um ein einfaches, unkompliziertes Vorlegen von Dokumenten, sondern um eine möglichst wirkungsvolle Präsentationsweise, bis in die Wortwahl und die Vortragskunst hinein. Die inhaltlichen Selektionierungskriteria sind nicht ‚Wahrheit‘ und ‚Überprüfbarkeit‘, sondern ‚Wahrscheinlichkeit‘ und ‚Glaublichkeit‘. Es 49
50
Institutio oratoria/Ausbildung des Redners, hrsg. und übersetzt von H. Rahn, Darmstadt 1995 (3. Aufl.) IV, 2, 36 (Bd. I, 450–451), Übers. Rahns mit Änderungen. Ebd. IV, 2, 41, 42, 45–47, Bd. I, 453 und 455.
Juristische Narratio
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geht prinzipiell nicht um dokumentarisch wahre, sondern vor allem um „scheinbar tatsächliche“, „einleuchtende“ und „glaubliche“ Hergänge.51 Das einzig Wichtige ist, dass der Richter der narratio Glauben schenkt, dass sie ihm einleuchtet. Quintilian war sich des feinen Unterschiedes zwischen Wahrheit und Glaublichkeit wohl bewusst: „Doch halte es niemand für tadelnswert, dass ich den Satz aufgestellt habe, die Erzählung, die ganz zu unseren Gunsten sei, müsse wahrscheinlich sein, während sie doch wirklich wahr ist. Denn es gibt sehr viele Dinge, die zwar wahr, aber allzu unglaublich sind, so wie auch Falsches oft wahrscheinlich ist“.52 Nachdem der Redner von Quintilian (und anderen Leitfäden) schon von vorneherein in Bezug auf die narratio vom Wahrheits- und Wahrhaftigkeitszwang befreit ist, kann er sich voll auf das Erreichen des „Glaublichen“ und „Einleuchtenden“, also auf die kunstfertige Präsentation, konzentrieren. Dazu gehört das Beschreiben von Personen, das Einbringen genauer zeitlicher Angaben, das Festlegen und Schildern von Örtlichkeiten sowie die kausale Vernetzung der Angaben und geschilderten Ereignisse. Erasmus hat seine Darstellung sorgfältig nach diesen Diskursvorgaben eingerichtet. Er hat die Einzelereignisse, die er beschrieb, chronologisch zueinander in Beziehung gesetzt. Er redet im Grunnius-Brief diesbezüglich von „rei series“, „Aufeinanderfolge von Sachverhalten“ (Z. 7). Die sorgfältige chronologische Anordnung unterstreicht Erasmus weiter durch eine Reihe von direkten Datierungen. Der Diskursregelung der juristischen narratio entspricht weiter, dass Erasmus die handelnden Personen, ihre Eigenschaften und Handlungsmotive beschreibt, wobei er stets kausale Zusammenhänge herstellt. Die Kombination dieser Darstellungsmittel wirkt besonders überzeugend. Zum Beispiel ist der Hauptvogt von seinem Charakter her geizig, egoistisch, bildungsfeindlich und ein Religionsfanatiker (Z. 86 ff.). Da er geizig und egoistisch ist, ist verständlich, dass er das Vermögen, das ihm anvertraut wurde, nicht bona fide verwaltete. Da er das Vermögen heruntergebracht hat, ist verständlich, dass er alles daransetzt, Florentius und Antonius (Erasmus und seinen Bruder Pieter) ins Kloster zu bringen, um sich der finanziellen Verpflichtungen zu entledigen. Dieser Wunsch wird dadurch verstärkt, dass der Vogt ein Bildungsfeind und Religionsfanatiker ist usw. Die Art von Erasmus’ Dokumentierungsrede zeigt, dass sie in einem kreativen Diskurs stattfindet, bei dem die Konstruktion wichtiger ist als 51 52
Ebd. IV, 2, 31, Bd. I, 449. Ebd. IV, 2, 34, Bd. I, 451.
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das Baumaterial. Aufgrund dessen kann man ein neues Licht auf die autobiographischen Abrisse werfen, wenn man sie im analytischen Vergleich betrachtet.
8. Authentische Dokumentierung? Die drei Lebensabrisse im Vergleich oder im Glaspalast der virtuellen Wirklichkeiten A. Chronologische Dokumentierung Ein grundlegendes Merkmal der juristischen Dokumentierungsrede ist, dass die Ereignisse datiert und chronologisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Erasmus hat seine Lebensabrisse klar erkennbar nach dieser Diskursregel eingerichtet. Betrachet man die Darstellungen in dieser Beziehung genauer und vergleicht man sie miteinander, so treten jedoch einige merkwürdige Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten hervor. Im Compendium vitae sagt Erasmus, dass er, als seine Mutter und kurz nachher der Vater an der Pest starben, 12 Jahre alt war (Z. 41–42). Die Vögte, die die Fürsorge übernahmen, hätten ihn jedoch nicht an eine Universität geschickt, „obwohl er für die Universität völlig (bzw. mehr als) reif war“ (Z. 49–50). Das ist seltsam: Selbst wenn man Erasmus zubilligen würde, dass er in der Bildung schnell Fortschritte gemacht habe, kann man einen Zwölfjährigen schwerlich als „völlig (bzw. mehr als) reif für die Universität“ bezeichnen und den Vögten daraus einen Vorwurf machen, dass sie ein Kind in diesem Alter nicht auf die Universität schickten. Mit dem Universitätsstudium fing man in der Regel mit 16 – 18 Jahren an; Studenten, die jünger als 15 Jahre alt waren, wurden prinzipiell nicht immatrikuliert. Noch krasser stellt sich diese Widersprüchlichkeit im GrunniusBrief dar. Dort sagt Erasmus, dass Florentius und sein Bruder „als kleine Knaben“ („admodum pueri“, Z. 69–70) die Mutter und kurz darauf den Vater verloren hätten. Die Altersangabe „als kleine Knaben“ ist natürlich vage, kann sich jedoch schwerlich auf junge Männer beziehen, die die Universitätsreife (zwischen 16 und 18 Jahren) erreicht haben. Die Altersangabe „admodum pueri“ als solche suggeriert eher ein Alter zwischen 5 und 12 Jahren. In grellem Kontrast dazu teilt Erasmus im unmittelbaren Kontext mit, dass der Besitz, den der Vater bei seinem Ableben hinterließ, „leicht zur Vervollständigung der Ausbildung ge-
Im Glaspalast der virtuellen Wirklichkeiten
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reicht“ („absolvendis studiis“) hätte (Z. 71–72). Die Vögte hätten jedoch, weil sie das Vermögen nicht bona fide verwalteten (Z. 73–78), geplant, die Knaben ins Kloster zu stecken (Z. 78 ff.). Diese Faktenreihe ist in mehrfacher Beziehung kurios. Zunächst deckt sich die Altersangabe nicht mit der des Compendium vitae: Dort hat Erasmus vermeldet, dass er beim Ableben von Vater und Mutter 12 Jahre alt war, was impliziert, dass sein Bruder damals 15 gewesen wäre. Einen Fünfzehnjährigen kann man aber nicht mehr sinnvoller Weise als „kleinen Knaben“ bezeichnen. Wenn wir von der normalen Bedeutung von „admodum pueri“ ausgehen, so kann Erasmus damals nicht älter als 9 (sein Bruder nicht älter als 12) gewesen sein. So junge Knaben haben aber noch einen langen Ausbildungsweg vor sich, bevor sie den Profess (der ja Volljährigkeit voraussetzt) leisten können. Wenn unmittelbar nach dem Ableben des Vaters Misswirtschaft vorlag (wie Erasmus behauptet), wäre akuter Handlungsbedarf gegeben gewesen. Der Plan, die Brüder später einmal in ein Kloster zu stecken, wäre dann nicht sinnvoll gewesen. Denn die Vögte hätten in diesem Fall für den Bruder noch mindestens 6, für Erasmus selbst noch mindestens 9 (!) Jahre Ausbildung bezahlen müssen. Wie derartiges mit einem an sich geringen Vermögen möglich gewesen wäre, bleibt ein Rätsel. Weiter ist seltsam, dass sich gleich beim Antritt der Erbschaft herausgestellt haben soll, dass die Vögte das Erbe nicht bona fide verwaltet haben. Man würde meinen, dass sich so etwas erst nach einiger Zeit herausstellt, wie übrigens Erasmus selbst an anderen Stellen angibt. Tatsache ist zudem, dass die Vögte mit dem Vermögen, welches, wie Erasmus selbst vermeldet, „gering“ („exile“, Brief an Grunnius, Z. 71; „mediocre“, Compendium vitae, Z. 48) war, für ihn und seinen Bruder für drei Jahre einen Ausbildungsplatz mit Schlafplatz und Verköstigung in der Brüderschule von Den Bosch kauften, und für Erasmus noch für ein weiteres Jahr einkauften, wie aus Brief Nr. 1436 (Z. 34–35) hervorgeht. Diesen Tatbestand verschweigt Erasmus jedoch im Brief an Grunnius und im Compendium vitae. Der Tatbestand steht in krassem Gegensatz zu dem Hergang, den Erasmus in diesen beiden autobiographischen Aufrissen schildert. Außerdem passt er insgesamt schlecht zu der Beschuldigung der Mala-Fide-Vermögensverwaltung: Eher scheint das, was die Vögte bezahlten, den Möglichkeiten einer kleinen Erbschaft angemessen gewesen zu sein. Weiter fördert ein Vergleich Diskrepanzen in Bezug auf die Datierung des Streitgesprächs mit dem Hauptvogt zu Tage, das nach der Rückkehr der Brüder aus Den Bosch stattfand. Aus dem Compendium vitae geht
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hervor, dass Erasmus damals 15 Jahre alt gewesen sein soll.53 Damit stimmt nicht überein, dass er den Vogt mit dem Argument entlässt, er sei bereits volljährig („in dem Alter, in dem man keinen Vogt mehr braucht“, Z. 75–76). Ein Fünfzehnjähriger kann nicht als Rechtsperson auftreten und braucht daher sehr wohl einen Vogt. Im Brief an Grunnius datiert Erasmus das Gespräch jedoch auf die Zeit, als er „kaum erst das 15. Lebensjahr hinter sich gebracht hatte“ (Z. 136–137), das heißt, als er gerade 16 Jahre alt geworden war. In Brief Nr. 1436 will Erasmus jedoch, als das Gespräch stattfand, „kaum erst das 16. Lebensjahr hinter sich gebracht haben“, also gerade 17 geworden sein. In jeder der Schriften hat Erasmus also das Gespräch anders datiert. Was ist richtig? Die erste Datierung befindet sich übrigens mit dem Gesprächsgegenstand, dass Erasmus zum nämlichen Zeitpunkt ins Kloster eintreten sollte, auf Kriegsfuss: Ein Fünfzehnjähriger kann nicht rechtsgültig in einen Mönchsorden eintreten. Die chronologischen Angaben, die Erasmus hier macht, sind jedoch nicht nur in sich selbst widersprüchlich. Wenn man sie mit der gesicherten Chronologie, die Harry Vredeveld in seiner grundlegenden und plausiblen Studie über Erasmus’ Geburtsjahr erstellt hat,54 vergleicht, ergibt sich, dass sie sämtlich falsch sind. Erasmus hat sich jeweils um einige Jahre jünger gemacht, als er tatsächlich war. Als die Mutter und der Vater starben, im Sommer 1484, war er nicht 12, sondern tatsächlich 17 Jahre alt. Für dieses Alter stimmt in der Tat die Qualifikation, die Erasmus selbst anbringt, nämlich „dass er für die Universität völlig (mehr als) reif war“. Als „fast drei Jahre später“ das Gespräch mit dem Vogt stattfand, war Erasmus weder 15 noch gerade erst 16 noch eben erst 17 Jahre alt, sondern 20. Zu diesem Alter passt freilich das Argument, dass Erasmus volljährig sei und deshalb keinen Vogt mehr brauche. Worauf sind die unrichtigen Angaben zurückzuführen? Sicher nicht auf eine etwaige Unechtheit des Compendium vitae. Denn auch die Angaben in den anderen beiden Lebensabrissen, die zweifellos von Erasmus stammen, sind falsch. Auch ist völlig unwahrscheinlich, dass sie auf Unwissen oder auf eine plötzliche Gedächtnisschwäche des Erasmus zurückzuführen sind. Erasmus wusste genau, wann er geboren war. Er hatte auch sonst kein schlechtes chronologisches Gedächtnis, wie Vredeveld überzeugend gezeigt hat. Weiter ist unwahrscheinlich, 53 54
12 Jahre (Tod der Eltern) plus fast drei Jahre („annos ferme tres“, Z. 52). Harry Vredeveld, „The Ages of Erasmus and the Year of his Birth“, in: Renaissance Quarterly 46 (1993), 754–809; Zeittafel 803 und 804.
Im Glaspalast der virtuellen Wirklichkeiten
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dass die Erklärung im Bereich der Psychoanalyse gefunden werden kann, wie es Godin versucht hat.55 Man muss berücksichtigen, dass hier keine unwillkürlichen Abwehrreaktionen eines im freudianischen Sinn Traumatisierten vorliegen. Wir befinden uns in einem juristischen Diskurs. Bei dem, was Erasmus vorbringt, handelt es sich um wohlbewusste ‚Korrekturen‘, Fälschungen der Chronologie zu einem bestimmten juristischen Argumentationszweck. Mit Hilfe der gefälschten Chronologie will Erasmus beweisen, dass sein Eintritt ins Kloster als Novize (zu welchem Zeitpunkt er in Wirklichkeit 21 Jahre alt, also voll entscheidungsfähig und verantwortlich war!) als Minderjähriger stattfand und daher nicht rechtskräftig sei. Im Brief Nr. 1436 sagt Erasmus wörtlich, dass er den Profess (den er in Wirklichkeit im November 1488, also mit 22 Jahren, geleistet hat) „vor der Pubertät“ (!) („ante pubertatis annos“) abgelegt hätte, so dass dieser nicht „bindend“ sei.56 Erasmus fälschte somit sein Alter in noch krasserer Weise, als dies Eobanus Hessus einige Jahre vor ihm getan hatte. Man darf solche autobiographischen Verjüngungskuren nicht einem allzu strengen moralistischen Urteil unterwerfen. In Erasmus’ juristischer Argumentation heiligte der Zweck die Mittel. Die ‚Korrektur‘ des Alters war zweckdienlich, um von dem leidigen Mönchsstand befreit zu werden. Die krasse Verfälschung der Chronologie zeigt nebenher an, dass sich der Autobiograph offensichtlich nicht verpflichtet fühlte, dem Leser authentische, dokumentarisch einwandfreie und überprüfbare Lebensfakten zu vermitteln; weiter, dass er davon ausging, dass der Leser das meiste nicht überprüfen konnte und dass er, selbst dort, wo Überprüfungen möglich gewesen wären, diese nicht vornehmen würde. Der Autobiograph fühlte sich sicher. Dokumentkontrollen fürchtete er nicht.
B. Kausale und sachliche Dokumentierung Betrachten wir einige Faktenreihen und Kausalverknüpfungen näher. Für seinen Eintritt ins Kloster lehnt Erasmus jegliche Verantwortung ab. Er fand unfreiwillig und erzwungen statt, während er noch minderjährig war, und war das Resultat einer böswilligen Kampagne verschiedener Personen gegen ihn: der Vögte, besonders des Hauptvogts Pieter Winckel, 55 56
„Une biographie en quete d’auteur: le Compendium vitae Erasmi“, bsd. 212–221. Allen, Opus Epistolarum, Bd. V, S. 427, Z. 21–22: „Et ideo professio ante pubertatis annos suscepta non habet rigorem“.
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des Bruders Pieter Gerardz. (alias Antonius) und des Freundes Cornelius Aurelius (alias Cantelius). Sie alle hätten Erasmus aus unlauteren, eigennützigen Motiven ins Kloster stecken wollen. Selbst hat er das Klosterleben stets mit standhaftem Sinn, ja Heldenmut (während er ein armer Waise und mittelloser Knabe war!) abgelehnt. Dass er Mönch wurde, ist ausschließlich die Schuld dieser schurkischen, betrügerischen und durchaus schlechten Leute. Demontieren wir diese Selbstgeschichte! Zunächst soll die unfreiwillige Verbannung ins Kloster die Schuld der Vögte sein. In allen drei Selbstgeschichten führt Erasmus das Argument an, dass sie das Vermögen des Vaters mala fide verwaltet hätten, und, um den Vermögensverlust zu kamouflieren, die Brüder kurzerhand ins Kloster stecken wollten. Im Brief an Grunnius behauptet Erasmus sogar, sie hätten das Geld geraubt (Z. 72). Dass die Vögte das Geld für sich selbst verwendeten, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich: Es handelte sich, wie oben gezeigt, um ein nur geringes Vermögen, von dem die Vögte immerhin für zwei Personen drei Jahre lang einen Schulplatz bezahlten, für Erasmus sogar noch ein zusätzliches Jahr, und außerdem für beide Brüder Plätze in Klöstern der Regulärkanoniker einkauften. Alles weist darauf hin, dass gerade aufgrund dieser Ausgaben das Vermögen im Jahre 1487 erschöpft war. Das heißt, die Vögte hatten durchaus umsichtig und ökonomisch gewirtschaftet und aus der kleinen Erbschaft für die Brüder das Mögliche herausgeholt. Erasmus tut so, als ob die Vögte die Pflicht gehabt hätten, ihm und seinem Bruder ein Universitätsstudium zu bezahlen. Das war jedoch von vornherein ausgeschlossen, weil dazu das bescheidene Vermögen des Vaters nicht ausreichte. Erasmus’ Vater selbst konnte, als er noch lebte, für seine Söhne offensichtlich kein Universitätsstudium bezahlen: Als er starb, war Erasmus 17 und sein Bruder 20 Jahre alt, also beide im universitätsreifen Alter. Es ist jedoch bezeichnend, dass sie damals eben nicht studierten. Erasmus befand sich damals in der Schule der Brüder des Gemeinen Lebens in Deventer. Wenn die Vögte Erasmus und Pieter in der Folge auf eine Schule der Brüder des Gemeinen Lebens (in Den Bosch) schickten, finanzierten sie also im Grunde gewissenhaft den Bildungsweg, den der Vater für seine Söhne ausersehen hatte. Die Entscheidung der Vögte beruht also – soweit sich ersehen lässt – weder auf Eigennutz noch auf sonst irgendwelchen unlauteren persönlichen Motiven. Außerdem sprach die rechtliche Situation gegen das Unterfangen eines Universitätsstudiums. Erasmus und sein Bruder waren beide uneheliche Kinder. Uneheliche Kinder waren jedoch – worauf Stupprich
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hingewiesen hat – an der Sorbonne und auch an anderen Universitäten von den akademischen Graden ausgeschlossen. Viel später, als Erasmus in Paris Vorlesungen belegte, wurde er auf frustrierende Weise mit dieser Tatsache konfrontiert.57 Welchen Sinn hätte ein Studium gehabt, wenn man ohnehin keinen Titel erlangen konnte? Freilich ist nicht mehr belegbar, inwieweit die Vögte oder Erasmus selbst mit dieser Rechtslage vertraut waren. Klar ist jedoch, dass die Vögte wussten, dass man die allgemeinen Rechtsbelämmerungen, denen uneheliche Kinder ausgesetzt waren, am effizientesten überwinden konnte, indem man dem Mönchsstand beitrat. Sie hatten also auch in dieser Beziehung das Beste mit den Brüdern vor. Später, 1492, erntete Erasmus in der Tat die Früchte ihrer Bemühungen. Seine Ernennung zum Priester setzte voraus, dass er dem Mönchsstand angehörte.58 Dass die Argumente der Mala-Fide-Vermögensverwaltung, des Geizes und des Eigennutzes des Hauptvogts auf reiner Erfindung beruhen, lässt sich mit Hilfe einer weiteren Quelle erhärten: Erasmus’ Brief an Servaas Rotger, den Abt von Steyn.59 Servatius war damals, als sich Erasmus im Kloster aufhielt, ein Mitmönch und enger Freund. Das bringt mit sich, dass Erasmus bei der Schilderung der Ereignisse diesem Mann gegenüber nicht die unrichtigen Geschichten auftischen konnte, die er den uneingeweihten Lesern ungefährdet vorsetzen konnte. Die Geschichte von der Mala-Fide-Vermögensverwaltung fehlt dort erwartungsgemäß.60 Der Hauptvogt, Pieter Winckel, sei ein Bildungsfeind gewesen, behauptet Erasmus interessanterweise im Grunnius-Brief, und deshalb habe er die Brüder nicht auf die Universität gehen lassen. Schon im Licht des Obenstehenden klingt dies nicht überzeugend. Ein Bildungsfeind war Pieter Winckel kaum. Er war ein Schulmeister und der zweite Lehrer der Johannes-Schule in Gouda.61 Gerade er war es, der Erasmus den ersten Unterricht erteilte. Als zweiten Hauptschuldigen für seinen unfreiwilligen Eintritt ins Kloster brandmarkt Erasmus seinen Bruder Pieter. Worin liegt dessen Schuld? Er habe seinen jüngeren Bruder auf schändliche Weise verraten.
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Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, 30ff. Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, 22. Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. 296, S. 564–573. Das einzige, was im Brief an Servatius davon übrig bleibt, ist „die Hartnäckigkeit der Vögte“ („tutorum pertinacia“), Z. 13. Vgl. Art. „Pieter Winckel“, in: CE, Bd. III, 451 (C. G. Leijenhorst).
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Er habe geschworen, dass er sich gemeinsam mit ihm dem Vorsatz der Vögte, sie ins Kloster zu schicken, widersetzen werde. Weiter habe er Erasmus versprochen, mit ihm auszureißen und einige Jahre an einer Universität zu studieren. Erasmus bezeichnet Pieter als Judas, der ihn den Häschern, das heißt den Vögten, zu seinem eigenen Vorteil ausgeliefert hat. Auch hier befinden wir uns im virtuellen Glaspalast der freien Erfindung. Erasmus tut so, als ob die Entscheidung, ins Kloster einzutreten oder nicht, völlig von der Haltung des Bruders abhängig gewesen, als ob sein Schicksal unauflöslich mit dem des Bruders verbunden gewesen wäre. Diese Behauptung stützt sich nicht auf die realen Verhältnisse. Dass der Bruder in ein Kloster eingetreten ist, bedeutet keineswegs, dass auch Erasmus automatisch ins Kloster eintreten musste. Erasmus war schließlich schon 20 Jahre alt, also volljährig. Er brauchte den Bruder somit keinesfalls zur Billigung seiner Entscheidung. Dass die Vögte die Schicksale der Brüder nicht als identisch betrachteten, zeigt gerade die Situation des Jahres 1487 (nach der Rückkehr der Brüder aus Den Bosch): Für Erasmus kauften die Vögte noch für ein weiteres Jahr einen Platz an der Schule in Den Bosch, für Pieter jedoch nicht (Brief 1436, Z. 34–35). Der Grund ist leicht nachvollziehbar: Pieter war damals bereits 23 Jahre alt, und seine Ausbildung war nach den ungefähr drei Jahren an der Brüderschule vollendet. Das heißt, dass sich die Vögte für ihn zu einem früheren Zeitpunkt als für Erasmus um einen Platz in einem Kloster kümmern mussten. Im Brief an Grunnius argumentiert Erasmus, dass die Brüder noch zu jung für die Entscheidung, in ein Kloster einzutreten, gewesen wären (Z. 191–199). Dieses Argument kann jedenfalls für Pieter, der bereits 23 war, nicht gelten: Er war vielmehr in einem Alter, in dem es höchste Zeit war, eine solche Entscheidung zu treffen! Aufgrund von Pieters Alter ist es auch unwahrscheinlich, dass er Erasmus hoch und heilig versprochen hat, mit ihm einige Jahre an einer Universität zu studieren. Für Erasmus, der 20 war, hätte dieser Schritt noch Sinn gemacht. Pieter war dafür jedoch eigentlich zu alt. Er hatte schon lange genug die Schulbank gedrückt, insbesondere wenn man in Betracht nimmt, dass er, wie Erasmus selbst sagt, weder geistige Interessen hatte noch intellektuell besonders begabt war. Im Grunnius-Brief sagt Erasmus wörtlich, der Bruder wäre „langsam von Begriff “ („ingenio tardus“, Z. 226) gewesen. Jemand, der „ingenio tardus“ ist, setzt sich normalerweise nicht in den Sinn, mit 23 Jahren noch ein Universitätsstudium anzufangen. Es ist also im Grunde auszuschließen, dass Pieter mit Erasmus an einer Universität studieren wollte bzw. dass er ihm das versprochen hat. Wenn er ihm das nicht versprochen hat, kann er ihn auch
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nicht verraten haben. Wenn Pieter nicht studieren wollte, was hätte er, statt des Eintritts in ein Kloster, sonst gewollt? Wieder zurück an die Brüderschule in Den Bosch? Dies ergab freilich keinen Sinn mehr. Einen bürgerlichen Beruf ergreifen? Als uneheliches Kind wäre er in keine Gilde aufgenommen worden. Hingegen war für ihn der Eintritt in den Mönchsstand höchst sinnvoll. Aus all dem lässt sich schließen, dass es nicht wahrscheinlich ist, dass Pieter Erasmus in Bezug auf die Lebenswahl verraten hat. Weiter behauptet Erasmus im Grunnius-Brief (Z. 223–225) und in Brief Nr. 1436 (Z. 74–76), dass Pieter, der „Judas“, nachdem er ins Kloster eingetreten war, den Rest der flüssigen Geldmittel aus der Erbschaft stahl. Auch dies ist eine Beschuldigung, die nicht schlüssig ist. Erstens einmal war es offensichtlich gerade ein Problem, dass die Erbschaft damals versiegt war und nichts Flüssiges mehr dawar. Zweitens durfte er als Ordensmann keinen persönlichen Besitz haben: Es erscheint daher nicht sehr plausibel, dass er ausgerechnet in dieser neuen Situation „den Rest der Erbschaft“ gestohlen haben soll. Dass die umfangreiche Erzählung vom Verrat des Bruders, der Erasmus ins Kloster brachte, auf rhetorischer Erfindung beruht, legt schließlich auch der Brief an Servaas Rotger nahe: Da sie dem Wissen des Eingeweihten nicht standhalten konnte, fehlt sie dort völlig. Wenden wir uns dem dritten Hauptschuldigen und Verräter zu, dem Freund „Cantelius“ (Grunnius-Brief, Z. 296–365; Compendium vitae, Z. 78–87). Cantelius ist, wie aus dem Compendium vitae hervorgeht (Z. 81–82 „reperit Cornelium“) und wie derselbe Anfangsbuchstabe sowie dieselbe Anzahl der Buchstaben nahe legen, ein Pseudonym für Cornelius Aurelius oder Cornelius von Gouda, den niederländischen Frühhumanisten, Augustinerchorherrn und Verfasser der berühmten „Divisiekroniek“.62 Cornelius soll die Freundschaft des Erasmus missbraucht haben, indem er ihn aus eigennützigen Motiven in verräterischer Weise zum Klosterleben überredete, wobei er ihm allerlei Einseitiges und Falsches vorspiegelte, zum Beispiel, dass der Mönch sich in der vita contemplativa in der Gemeinschaft der Engel befände, dass das
62
C. P. H. M. Tilmans, Aurelius en de Divisiekroniek van 1517, Hilversum 1988; Dies., Historiography and Humanism in Holland in the Age of Erasmus. Aurelius and the Divisiekroniek of 1517, Nieuwkoop 1992; Dies., „Cornelius Aurelius en het ontstaan van de Bataafse mythe in de Hollandsche geschiedschrijving (tot 1517)“, in: B. Ebels-Hoving et alii, Genoechelijke ende lustige historien. Laatmiddeleeuwse geschiedschrijving in Nederland, Hilversum 1987, 191–213.
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Mönchsleben das Paradies auf Erden bedeute, oder dass man dort nach Herzenslust studieren könne. Der Eigennutz des Cornelius Aurelius bestand darin, dass er einen Gratis-Lehrer suchte, weil er selbst ein notorischer Faulpelz war und aufgrund seiner Nachlässigkeit in der Bildung noch nicht genug Fortschritte gemacht hatte. Nicht einmal ein Italienaufenthalt hatte seiner Bildung auf die Sprünge geholfen! Das einzige, wozu er im Stande war, war faulenzen und schön singen (daher der Deckname Cantelius). Dass Cornelius Aurelius im Jahre 1487 einen Gratis-Lehrer brauchte, der ihn in Latein unterrichtete, ist zunächst eine Behauptung, die den wirklichen Sachverhalt geradezu auf den Kopf stellt. Cornelius war nicht nur ca. 6 Jahre älter als Erasmus,63 sondern auch in der Bildung viel weiter fortgeschritten. Im Gegensatz zu Erasmus hatte er zu diesem Zeitpunkt ein Universitätsstudium bereits hinter sich gebracht, das heißt den unerfüllten Bildungstraum des Erasmus verwirklicht. Cornelius hatte sogar sehr gründlich studiert, sieben bis acht Jahre lang (1477–1485) und an drei renommierten Universitäten: in Köln, Löwen und Paris. 1477–1481 studierte er in Köln,64 1482 in Löwen65 und 1483–1485 an der Sorbonne66, jeweils an der Artistenfakultät. In Paris erreichte er 1483 das Baccalaureat in der Artistenfakultät und 1485 ebendort den Magistertitel. Wahrscheinlich hat er nebenher auch Vorlesungen in der Theologie belegt, obwohl er es auf diesem Fachgebiet damals zu keinem offiziellen Studienabschluss brachte. Erasmus bezeichnet ihn in den Jugendbriefen dennoch als Theologen.67 1485, nach seinem Studienabschluss, trat Cornelius in den Orden der Regulärkanoniker ein, in deren Klöstern er es bis zum Prior brachte. 1487, als er sich in irgendeiner Form im Kloster Steyn aufgehalten haben muss,68 war Cornelius nicht 63
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Die bisher beste biographische Studie zu Cornelius Aurelius findet sich in Tilmans, Historiography and Humanism, 12–76. Tilmans geht zu Recht davon aus, dass Cornelius um das Jahr 1460 geboren wurde; vgl. ebd., 11–12. H. Keussen, Matrikel der Universität Köln, Bonn 1919–1931, Bd. II, 1477, 354.74 (Cornelius de Gouda); Tilmans, Historiography and Humanism, 15. E. Reusens et alii, Matricule de l’Université de Louvain, Brüssel 1903–1969, Bd. II, 1482, 461.209. Tilmans, Historiography and Humanism, 15. H. Denifle, E. Chatelain, C. Samaran et alii, Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis, Bd. III (Paris 1935), 576.28; Bd. VI (Paris 1964), 604.24; 619.11; 620.14; Tilmans, Historiography and Humanism, 15. Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. 17; Nr. 18; Nr. 28 (Briefüberschriften). Tilmans hat in ihren Aurelius-Studien überraschenderweise die autobiographischen Aufrisse des Erasmus nicht benutzt, obwohl an der Identifizierung von Erasmus’ Freund Cantelius mit Cornelius Aurelius nicht gezweifelt werden kann.
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nur Magister Artium, sondern er hatte in Paris zudem mit den neuesten intellektuellen Entwicklungen Bekanntschaft gemacht, unter anderem auch mit dem italienischen Humanismus. Zum Beispiel hatte er den Epigrammautor Girolamo Balbi kennengelernt, der ihn inspirierte, selbst lateinische Gedichte zu verfassen.69 Balbi unterrichtete damals an der Sorbonne und war wahrscheinlich einer von Cornelius’ Lehrern. Cornelius betätigte sich seitdem in der genuin humanistischen Textgattung der lateinischen Lyrik. Es ist ein Witz, dass Erasmus 1487 dem um sechs Jahre älteren Magister artium in nächtlichen Übungen wohlgemerkt den Schulautor (!) Terenz beigebracht haben will (Grunnius-Brief, Z. 346–349). Diese schweren Nachtarbeiten sollen die schwache Gesundheit des armen Erasmus völlig durcheinandergerüttelt haben, was dem Erzegoisten und Ausbeuter Cantelius-Cornelius allerdings gleichgültig gewesen sei (Z. 348–351). Ohne behaupten zu wollen, dass Cornelius „der Lehrmeister des Erasmus“ gewesen sei, als welchen ihn später der Leidener Professor Bonaventura Vulcanius bezeichnet hat, unterschied sich das tatsächliche Verhältnis dennoch grundlegend von der Darstellung des Erasmus: Es war für Erasmus 1487 ein wichtiges Argument, das Kloster Steyn vorzuziehen, weil er dort von dem gelehrten Cornelius Aurelius zu profitieren hoffte.70 Wenn Erasmus dem Cornelius etwas vorzuwerfen hatte, dann gerade die Tatsache, dass er das Kloster Steyn und damit auch den Rotterdamer schon bald verließ, um im Leidener Regulärkanonikerkloster Lopsen weiterzuwirken. Auch in anderer Hinsicht erweist sich die Behauptung, dass Erasmus dem Rattenfänger Cornelius auf dem Leim gegangen ist, wonach er ge69 70
Tilmans, Historiography and Humanism, 16. „Cornelio Aurelio D. Erasmi Roterodami olim praeceptore“; cf. Tilmans, Historiography and Humanism, 2–3; Tilmans beantwortete in ihrem „Cornelius Aurelius (c. 1460–1531), praeceptor Erasmi?“, in: F. Akkerman and A. Vanderjagt (Hrsg.), Rudolphus Agricola Phrisius 1444–1485 […], Leiden etc. 1988, 200–210 die selbstaufgeworfene Frage negativ. Sie geht dabei allerdings vor allem von der späteren Situation aus und berücksichtigt nicht die Situation des Jahres 1487 (die eigentlich für die Frage relevant wäre), wobei sie die Lebensabrisse des Erasmus nicht auswertet. Die Herangehensweise, die von der Frage ausgeht, wer die besseren und fortschrittlicheren Werke verfasst habe, erscheint nicht vielversprechend. Wenn man sie auf beliebige Lehrer des Erasmus anwenden würde, käme dabei jeweils heraus, dass sie nicht die Lehrer des Erasmus gewesen sein können. Die Begriffsprägung des Vulcanius verdient im Übrigen keine besondere Beachtung als Quelle, die etwas Entscheidendes über Cornelius aussagen kann: Es ging ihm darum, den Autor des von ihm herausgegebenen Textes anzupreisen.
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gen seinen Willen die Kutte übergeworfen bekam, als unrichtig. Wenn dem so wäre, hätte Erasmus nämlich in der Folge den Cornelius geradezu hassen müssen. Aus dem Briefwechsel muss man jedoch schließen, dass davon keine Rede sein kann. Aus 14 erhaltenen Briefen des Erasmus kann man ablesen, dass die beiden noch im Jahre 1489, also ca. zwei Jahre nach dem Eintritt des Erasmus ins Kloster, in liebevoller Freundschaft miteinander verkehrten. Davon, dass Erasmus den Eintritt sofort bereute, wie er in den autobiographischen Abrissen behauptet, ist in den Jugendbriefen an Cornelius nicht die Rede. Auch davon, dass er in der Beziehung zu Cornelius die Rolle des Lehrers spielte, findet sich in den Briefen keine Spur. Erasmus redet den Cornelius vielmehr ehrfürchtig als „Dichter“ („poeta“) – der Lobestitel der Humanisten schlechthin – und als „Theologen“,71 weiter als „allerberedsamsten“ („eloquentissimus“) Mann72 an, als „auf jedem Gebiete allergelehrtesten Mann“ („undecunque doctissimus“)73 oder als „allergelehrtesten Mann“74, sämtlich für Humanisten äußerst schmeichelhafte Ehrentitel. Erasmus schmachtet in diesen Briefen nach Cornelius, der in ein anderes Kloster übersiedelt war. Er schreibt dem lateinischen Stil des Cornelius eine bewundernswerte Schönheit („admiranda gratia“) und „attische“ Klarheit zu,75 und preist sich glücklich, dass er mit einem solchen Mann verkehren darf. Die Geschichte, dass Cornelius den Erasmus aus eigennütziger Absicht ins Kloster gelockt hätte, um einen Gratis-Lehrer zu haben, beruht somit abermals auf freier Erfindung. Dies wird vom Brief des Erasmus an Servatius Rogerus (Nr. 296) bestätigt. Dem Mönch Servatius, der den Mitmönch Cornelius sowie das Verhältnis zwischen Cornelius und Erasmus kannte, konnte der Rotterdammer diese erfundene Geschichte nicht auftischen. Welcher Authentizitätsgehalt bleibt von der ausführlich dokumentierenden Geschichte, die in den drei autobiographischen Lebensabrissen präsentiert wird, bei einer kritischen Überprüfung übrig? Was die Hauptlinien der Darstellung betrifft, gar keiner. Es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass Erasmus damals das Mönchsleben radikal abgelehnt hat. Er hätte ja immerhin nach Den Bosch gehen können, um ein 71 72 73 74 75
Z. B. Allen, Opus Epistolarum, Bd. I, Nr. 17; Nr. 18; Nr. 28 (Briefüberschriften). Bd. I, Nr. 22 (Briefüberschrift). Bd. I, Nr. 20 (Briefüberschrift). Bd. I, Nr. 27 (Briefüberschrift). Bd. I, Nr. 17, Z. 23–25.
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weiteres Jahr zu studieren, ohne „im Kerker des Klosters“ eingesperrt zu sein. Den Platz hatte der Vogt ja bereits gekauft. Das lehnte Erasmus aber ab. Daraus kann man nur schließen, dass ihm das Klosterleben offensichtlich lieber war als das weltliche Leben an einer Laienbrüderschule. Auch war er sich ziemlich sicher der Tatsache bewusst, dass ihm als unehelichem Kind nicht massenhaft verlockende Stellen im weltlichen Bereich offen standen, oder, andersherum formuliert, dass gerade in seiner Lage das Kloster die besten Aufstiegschancen bot.76 Hat er den Eintritt ins Kloster, wie er in den Lebensabrissen behauptet, sogleich bereut? Auch dies stimmt nicht mit den übrigen Quellen überein. Noch ca. vier Jahre nach seinem Eintritt ins Kloster, 1491, verfasste er einen ausführlichen Traktat zum Lob der mönchischen Lebensweise (De contemptu mundi)!77 Darin liefert er selbst eine ausführliche Ausarbeitung der Gedanken, für die er Cornelius Aurelius in den Lebensabrissen später des Betruges bezichtigt hat. Erasmus legt darin dar, dass das Klosterleben die Glückseligkeit auf Erden bedeute („De felicitate vitae solitariae“, Z. 550–660), dass das Klosterleben gerade die höchste Freiheit bietet, die es überhaupt gibt („Libertatem summam esse non in mundo, sed in secessu“, Z. 661–750), dass die Mönche sich einer doppelten Ruhe erfreuten (Z. 751–924), sowie dass das Mönchsleben eine äußerst lustvolle Lebensweise sei (Z. 925–1153). Nach vier Jahren Klosterleben war er also offensichtlich noch dieser Meinung. Die tiefe Seelenruhe öffnet dem Menschen den Umgang mit den Himmlischen, studieren kann man im Kloster nach Herzenslust, das Kloster stellt überhaupt die beste Lebensform dar, die es gibt. Eine eingehende kritische Betrachtung und vergleichende Analyse der Fakten und Kausalverknüpfungen in Erasmus’ Dokumentierungsreden führt also zu dem einigermassen aufrüttelndem Ergebnis, dass der feste Boden des historischen Belegs unter den Füssen wegrutscht, dass das Meiste auf Erfindung beruht. Es stellt sich heraus, dass sich der Leser in einem kunstvoll aufgezogenen, jedoch leicht zerbrechlichen Glaspalast befindet, der eine virtuelle Realität vorspiegelt, die zwar stets dem jeweiligen Argumentationsziel dient, jedoch mit der biographischen Realität, auf die er sich bezieht, nur entfernt verwandt ist. Die Konstruktion bzw. die Konstruktionen des Erasmus sind gerade deswegen so interessant, weil sie sich so weit von der Realität entfernen. Sie zeigen au76
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Stupprich, „Zur Biographie des Erasmus von Rotterdam“, hat dies auf überzeugende Weise gezeigt. Amsterdammer Werkausgabe ASD V,1 (1977) (ed. S. Dresden).
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genfällig den Freiraum, in dem sich ein frühneuzeitlicher Autobiograph bewegen konnte, wenn es zweckdienlich war. Die historische Realität wird von einer Art rhetorischer Potenzialität ersetzt. Maßgeblich ist nicht, was der historischen Wirklichkeit entspricht, sondern was sich mit den Darstellungsmitteln der lateinischen Stilkunde annehmlich machen ließ. Erasmus’ autobiographische Aufrisse besitzen in dieser Beziehung paradigmatische Aussagekraft.
9. Tilgung von Lebensfakten: das wundersame Verschwinden des Bruders im Compendium vitae Der Freiraum, den die juristische narratio schafft, bringt mit sich, dass auch Lebensfakten getilgt werden konnten, wenn sie dem Darstellungsziel nicht entsprachen. Das zeigt sich am spektakulärsten daran, dass sogar Personen, die anderenorts dokumentarisch belegt sind, aus der Dokumentierung entfernt werden konnten. Erasmus’ Compendium vitae weicht in einem Punkt auffällig von den beiden anderen Lebensabrissen ab: In ihm spielt der Bruder bei der Verschwörung gegen den Minderjährigen keine Rolle, ja dieser wird nicht einmal erwähnt. Aus dieser Tatsache hat man die Schlussfolgerung gezogen, dass das Compendium vitae unmöglich von Erasmus selbst stammen könne.78 Wie hätte Erasmus vergessen können, dass er einen Bruder hatte! Diese Schlussfolgerung ist jedoch verfehlt. Wir stossen hier auf eine weitere Problemstelle von Erasmus’ Leben: Desiderius war ein uneheliches Kind.79 Dies erforderte nach Erasmus’ Ansicht eine entsprechende Dokumentierung, umso mehr, als sein Vater außerdem Priester war: Sein Vater namens Gerard hatte ein heimliches Verhältnis mit obengenannter Margareta, wobei er hoffte, sie heiraten zu können. Es gibt Zeugen, die aussagen, das Verhältnis wäre ans Licht gekommen. Das nahmen die Eltern und Brüder dem Gerard übel. […] Gerard war der Zweitjüngste. Alle waren der Meinung, dass unter einer so großen Anzahl von Söhnen einer Gott geweiht werden müsse. Du kennst ja das Seelenleben älterer Leute. Und die Brüder wollten nicht, dass die
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R. Crahay, „Recherches sur le Compendium vitae attribué à Érasme“, in: Humanisme et Renaissance 6 (1939), 7–9; 135–153. Vgl. dazu A. Godin, „Une biographie en quete d’auteur: le Compendium vitae Erasmi“, in: J.-P. Massaut (Hrsg.), Colloque Erasmien de Liège: commémoration du 450 e anniversaire de la mort d’Érasme, Paris 1987, 197–221.
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Erbschaft verringert werden würde, jedoch sehr wohl, dass es hinfort jemanden gäbe, bei dem man gratis einkehren kann. Als Gerard erkannte, dass er vom Erbe durch einstimmigen Beschluss aller ausgeschlossen werden sollte, tat er, was Leute zu tun pflegen, die keine Hoffnung mehr haben: Er machte sich heimlich aus dem Staub und schickte unterwegs den Eltern und Brüdern einen Brief […] mit dem Schlusswort: „Lebt wohl, ich werde euch nie mehr wiedersehn“. Unterdessen blieb die Braut in spe schwanger zurück. Der Knabe wurde von einer Tante erzogen. Gerard begab sich nach Rom. […] Als den Eltern zu Ohren kam, dass er sich in Rom aufhielt, schrieben sie ihm, dass das Mädchen, das er ehelichen wollte, gestorben sei. Daraufhin ließ Gerard, der dem Bericht Glauben schenkte, sich zum Priester weihen und widmete sich aus ganzer Seele der Religion. Als er nach Hause zurückkehrte, entdeckte er den Betrug. Jedoch wollte er nachher jene weder heiraten, noch hat er sie jemals wieder berührt (Compendium vitae, Z. 4–29).
Erasmus wendete zur Wiedergabe dieser tragischen Geschichte dieselben Darstellungsmethoden an wie schon in Bezug auf seinen unfreiwilligen Eintritt ins Kloster: die aufrichtig und dokumentarisch überzeugend wirkende ‚Kürze‘ und Einfachheit, welche die klassische Rhetorik für die juristische narratio vorschrieb; die minuziöse Wiedergabe von Einzelheiten; die genaue Beachtung der chronologischen Reihenfolge; die Beglaubigung durch wörtliche Zitate (aus dem Brief Gerards) und Zeugen (über das Gerede, das entstand); die Beschreibung der beteiligten Personen und ihrer Handlungsmotive; die ständige kausale Verknüpfung der Sachverhalte. Durch ihre kundige Darstellungsart wirkt diese Geschichte auf den ersten Blick überzeugend und plausibel. Wie das Obige gezeigt hat, werden interessante Einblicke zu Tage gefördert, wenn man Erasmus’ Dokumentierungen kritisch überprüft. Zunächst fällt auf, dass die Geschichte jener von Erasmus’ Eintritt ins Kloster überraschend ähnelt. Wie Erasmus selbst war schon sein Vater das Opfer einer Verschwörung geworden: In seinem Fall verschworen sich Eltern und Geschwister gegen ihn. Wie Erasmus selbst ist sein Vater einem Betrug zum Opfer gefallen. Wie Erasmus selbst hat sich auch sein Vater nichts zu Schulden kommen lassen. Sein Handeln ist moralisch einwandfrei, folgerichtig und verständlich. Das heimliche Verhältnis kann man ihm nicht übel nehmen, weil er ja das Mädchen ordnungsgemäß heiraten wollte. Dass er floh, ist angesichts seiner hoffnungslosen Lage entschuldbar. Dass er auf die Nachricht hin, die ihm die Eltern hinterbringen lassen, Priester wird, zeigt seine große Frömmigkeit. Er weiht sein Leben Gott. Dennoch richtet er, unter anderem weil er zu gutgläubig ist, gegen die Übermacht der Feinde nichts aus. Wie der Sohn, so der Vater!
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Die genau dargestellte Selbstgeschichte erweist sich bei einer näheren Betrachtung jedoch als außerordentlich fragwürdig. Das hat nicht nur damit zu tun, dass in ihr Pieter Gerardz., Erasmus’ um drei Jahre älterer Bruder, der vielfach dokumentarisch belegt ist, nicht vermeldet wird, sondern dass die Geschichte nur funktionieren kann, wenn Erasmus ein Einzelkind ist. Wenn es in einem Abstand von drei Jahren zwei Kinder gibt, so kann nur von einem lange andauernden unehelichen und verbotenen Verhältnis die Rede sein. Nun behauptet Erasmus, dass sein Vater obengenannte Margareta zu ehelichen beabsichtigte; als ihm die Eltern dies vereitelten, weil sie ihn zum Kleriker ausbilden lassen wollten, sei er nach Italien geflüchtet. Dort habe er sich, als ihm die Hiobsbotschaft vom Tod Margaretas überbracht wurde, zum Priester weihen lassen. Es ist nicht leicht einzusehen, dass Letztes in der Tat auf diese Weise hergegangen sein kann. Man kann sich in der Fremde nicht einfach ins Priesteramt katapultieren lassen, nur weil man Liebeskummer hat. Dazu ist eine Ausbildung erforderlich, die nicht ad hoc vorhanden gewesen sein kann. Es wäre natürlich möglich, dass Erasmus’ Vater diese Ausbildung bereits in den Niederlanden erhalten hatte. Dann stimmt jedoch der Rest von Erasmus’ Geschichte nicht: Wenn der Vater in einer Priesterausbildung begriffen war, konnte er unmöglich gehofft haben, Margareta zu ehelichen. Es liegen in diesem Fall jedoch externe Dokumente vor, mit denen sich belegen lässt, dass Erasmus’ Geschichte von seiner Geburt und dem Verhältnis seiner Eltern ebenso ein virtuelles Gebilde ist wie die Geschichte von seinem Eintritt ins Kloster. Im Compendium vitae teilt Erasmus mit, dass sein Vater in Italien als Kopist gearbeitet hat. Kopisten, die etwas auf sich halten, versehen ihr Werk zuweilen mit ihrem Namen. So hielt es auch Erasmus’ Vater, der, wie sein Sohn zu Recht bemerkte, ein guter Kopist war.80 1983 erschien ein Aufsatz von Avarucci, in dem er die Aufmerksamkeit auf zwei in Italien geschriebene Handschriften lenkte, die Erasmus’ Vater angefertigt und mit seinem Namen, Gerard, Sohn des Helias, aus Rotterdam, versehen hat.81 Es handelt sich um Abschriften von Thomas von Aquinos Summa Theologica und von Augustins De civitate Dei. Die Kopie des zweiten Teils der Summa Theologica vollendete Erasmus’ Vater am 18. Februar 80 81
Compendium vitae, Z. 20–21. G. Avarucci, „Due codici scritti da „Gerardus Helye“ padre di Erasmo“, in: Italia medioevale et umanistica 26 (1983), 215–255. A. Godin, „Une biographie en quete d’auteur: le Compendium vitae Erasmi“, 197–198, hat zu Recht noch einmal auf die Bedeutung dieser Tatsache hingewiesen.
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1457 im Benediktinerkloster von Fabriano, das ca. 70 km von Ancona entfernt inmitten der waldigen Hügel der Marken liegt;82 an der Kopie von De civitate Dei arbeitete er Ende des Jahres 1457 und Anfang des Jahres 1458. Das siebente Buch hatte er am 20. Dezember 1457 vollendet (f. 61v), das gesamte Werk am 25. Januar 1458.83 Avarucci, der die Darstellung aus dem Compendium vitae als authentische Wiedergabe der Wirklichkeit auffasste (er hatte damit ja immerhin erwiesen, dass das Compendium „echt“ ist; den Autorsnachweis identifizierte er fälschlich mit der Authentizität des Berichts), zog daraus den in dieser Beziehung folgerichtigen, in der Sache aber kuriosen Schluss, dass Erasmus nicht 1466, sondern bereits 1456 geboren worden sei. Er meinte dafür sogar noch einen weiteren Beweis zu finden: In den Unterschriften dankt Erasmus’ Vater neben Gott, dem Heiligen Geist und Maria auch dem Schutzheiligen Erasmus. Nach Avarucci wollte der Vater damit auf die Geburt des Erasmus hinweisen.84 Dies ist jedoch kein zwingender Schluss. Die Gebetsadresse in der Unterschrift besagt nur, dass der Vater eine besondere Beziehung zu diesem Nothelfer hatte. Die Datierung von Erasmus’ Geburtsjahr auf 1456 steht mit allem, was wir vom Leben des Humanisten weiter wissen, in Widerspruch. Das merkwürdige Resultat des naiven Glaubens an die dokumentarische Authentizität von Erasmus’ Selbstgeschichte, nachdem die „Echtheit“ der Schrift erst einmal erwiesen war, ist die neue Zeittafel, die Avarucci erstellte: 1456 Geburt des Erasmus 1465–1470 Schulunterricht bei den Brüdern des Gemeinen Lebens in Deventer 1470–1473 Schulunterricht bei den Brüdern des Gemeinen Lebens in Den Bosch 1473–1484 Schulunterricht bei den Brüdern des Gemeinen Lebens in Deventer 1484 Eintritt ins Kloster Steyn.85 82
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Berlin, Staatsbibliothek Stiftung Preussischer Kulturbesitz, HS. Lat. Fol. 906, f. 202r: „Explicit secunda pars summe edite a fratre Thoma de aquino. In Fabriano in conventu sancti benedicti per me Gherardum helye hollandrinum Civitatis Rotterdammis anno domini MCCCCLVIIo mensis februarii die decima octava finita est […]“. HS London, British Library Additional 27867, f. 112v: „Helye gerardus 1458 Rotterdammis die vicesima quinta mensis ianuarii“. „Due codici scritti da „Gerardus Helye“ padre di Erasmo“, 241. „Due codici scritti da „Gerardus Helye“ padre di Erasmo“, 255.
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Demnach hätte Erasmus 18–19 Jahre in der Schule gesessen! Damit wäre er das Unikat des frühneuzeitlichen Bildungswesens schlechthin und hätte er einen unerreichten Rekord in Bezug auf Begriffsstutzigkeit und Sitzenbleiberei aufgestellt. Dabei vermeldet er im Compendium vitae säuerlich, dass er nach dem Tod der Eltern, statt an die Universität zu gehen, fast drei Jahre auf der Schule der Brüder des Gemeinen Lebens in Den Bosch verloren hat, ohne irgendetwas neues zu lernen. Nach Avaruccis Zeittafel hätte Erasmus nach dieser frustrierenden Schulprolongation noch einmal fast 9 Jahre die Schulbank bei den Brüdern gedrückt! Auch kann er nicht 1484 ins Kloster Steyn eingetreten sein, da dies die Anwesenheit des Cornelius Aurelius in Holland voraussetzt. Dieser studierte 1484 (und auch 1485) jedoch noch in Paris. Und dann die arme Mutter des Erasmus! Sie war, als sie 1484 starb, ca. 40 Jahre alt (Compendium vitae, Z. 45–46), d. h. sie ist ca. 1444 geboren worden. Wenn Erasmus 1456 zur Welt gekommen sein soll, wäre die unglückliche Mutter damals erst ca. 12 Jahre alt gewesen! Da Erasmus’ Bruder Pieter drei Jahre älter war, hätte sie diesen mit ca. 9 Jahren gebären müssen! Averuccis „neue Zeittafel“ darf man getrost abschreiben. Aus dem wertvollen Handschriftenfund müssen wir vielmehr schließen, dass die Geschichte, die Erasmus erzählt, nicht stimmen kann. Erasmus wurde 1466, sein Bruder 1463 geboren. Der Italienaufenthalt des Vaters fand also lange vor der Geburt seiner Söhne statt! Das bedeutet weiter, dass er nicht aus Frustration nach Italien ging, weil er Margareta nicht heiraten durfte. Das Verhältnis mit Margareta datiert vielmehr auf die Zeit nach seiner Rückkehr aus Italien. Wenn sich der Vater 1457 selbständig in Italien aufhielt, bedeutet dies weiter, dass er zu diesem Zeitpunkt mindestens 18 Jahre alt, wohl aber noch etwas älter war. 1463, als Pieter geboren wurde, war er somit mindestens 24, 1466, als Erasmus zur Welt kam, mindestens 27 (in beiden Fällen wahrscheinlich aber sogar älter). Da die Eltern Erasmus’ Vater zum Priester ausersahen, impliziert dies, dass er zum Zeitpunkt der Geburt der Söhne (als er mindestens zwischen 24 und 27, wahrscheinlich aber bereits zwischen 26 und 29 Jahre alt war), die Priesterausbildung bereits hinter sich gebracht haben muss. Somit ergibt sich, dass Erasmus’ Vater die Söhne mit Margareta gezeugt hat, als er bereits Priester war. Genau darauf bezieht sich der Wortlaut, der sich in dem Dispens findet, den Leo X. dem Erasmus im Jahre 1517 verlieh: „ex illicito et, ut timet, incesto damnatoque coitu genitus“ („gezeugt aus einer verbotenen und, wie er fürchtet, unkeuschen und verdam-
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mungswürdigen Geschlechtsgemeinschaft“).86 Unehelicher Geschlechtsverkehr war „verboten“, Geschlechtsverkehr mit einem Priester jedoch zusätzlich „verdammungswürdig“. Aus einem „verdammungswürdigen“ Verhältnis zu stammen war selbstverständlich um einiges schlimmer, als einfach aus einer unehelichen Beziehung hervorgegangen zu sein. Es lässt sich unschwer nachvollziehen, dass Erasmus diesen Sachverhalt im Hinblick auf seine Biographie mit aller Macht verschleiern und ‚wegdokumentieren‘ wollte.
10. Epilog Was lernen wir aus der Analyse der Lebensaufrisse des Erasmus? Natürlich nicht, dass Erasmus ein krankhafter Lügner war; auch nicht, dass man ihn als Traumatisierten behandeln und dringend einer psychoanalytischen Untersuchung unterziehen sollte; sondern zuvorderst wohl, dass wir die Texte auf eine Art gelesen haben, die Erasmus nicht erwartet hätte. Wir haben etwas getan, das sich außerhalb der Diskurse befindet, in denen Erasmus operierte. Er erwartete nicht, dass die Leser seine autobiographischen Texte einmal auf ihre tatsächliche dokumentarische Richtigkeit hin gründlich überprüfen würden. Er ging davon aus, dass seine Leser Dokumente, über die wir jetzt aufgrund ganz anderer Prämissen, Fokussierungen und technischer Mittel verfügen, nicht zur Hand hatten. Zum Beispiel konnte er sich nicht vorstellen, dass es einmal Leute geben würde, die Bibliotheken auf datierte und unterzeichnete Manuskripte hin durchsuchen und so auf den Namen seines Vaters stoßen würden. Dass die frühneuzeitlichen Autobiographen dem Leser vor allem dokumentarisch belegbare und überprüfbare Fakten anbieten wollten, verweist gerade der Fall des Erasmus in den Bereich der Utopie. Wenn ein Autor so ausführlich belegt wie Erasmus, weist das auf das gerade Gegenteil der Dokumententreue hin, nämlich, dass sich der Autobiograph in argen Schwierigkeiten befindet und gezwungen ist, unwahre Tatbestände zu konstruieren. Um die Unwahrheiten zu camouflieren, verpackt er sie in genaue Dokumentation. Der Darstellungsmodus des genauen Dokumentierens dient somit vielfach gerade der Verschleierung von Tatbeständen. 86
Allen, Opus Epistolarum, Bd. II, Nr. 517, Z. 7. McConicas Interpretation von „incestus“, dass die Eltern des Erasmus Verwandte gewesen seien, ist nicht einleuchtend (Erasmus, Collected Works, Bd. IV, S. 188 ff.).
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Der Kreativität des Autors waren dabei nur insofern Grenzen gesetzt, als er sich an die Regeln der Diskurse halten musste, in denen er sich bewegte. Erasmus’ autobiographische Aufrisse sind dem Diskurs der juristischen narratio, deren Regeln in der klassischen Rhetorik festgelegt worden sind, verpflichtet. Diesen Regeln entsprechen sie, wie oben gezeigt wurde, genau. Sie verstoßen auch, was die kreative Verformung der ‚Wahrheit‘ betrifft, nicht gegen die klassische Rhetorik. Diese verpflichtete den Redner (meist ein Anwalt) keinesfalls, in der narratio die Wahrheit zu erzählen. Für einen Anwalt wäre dies kontraproduktiv gewesen. Sie forderte nur, dass er die narratio „plausibel“ („probabilis“) und „wahrscheinlich“ („veri similis“) gestalte. Genau diesen Effekt versucht Erasmus durch seine Darstellungsart, das genaue Dokumentieren, das Zitieren, die Beachtung der chronologischen Reihenfolge und die vielfachen Kausalverknüpfungen zu erzielen.
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XVIII. Autobiographie in die Allegorie oder die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie (1527–1530) 1. Einleitung. Ort der Kindheit – Erkennen und Befremden Jacopo Sannazaro, einer der bedeutendsten Dichter der Frühen Neuzeit, der mit seiner italienischen Arcadia die Gattung des Schäferromans erfand und damit die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts (u. a. Sidney, Shakespeare, Margarete von Navarra, Du Bellay, Milton) nachhaltig beeinflusste,1 besass als neulateinischer Dichter bei seinen Zeitgenossen sogar noch grösseres Ansehen. In der lateinischen Literatur tat er sich in verschiedenen Gattungen hervor, verfasste Bukolik (Salices), weithin gepriesene Elegien (3 Bücher) und Epigramme (ebenfalls 3 Bücher).2 Zusätzlich erfand er eine neue Gattung, die Fischer-Eklogen (Eclogae piscatoriae),3 eine Verschmelzung der antiken Bukolik (Vergil) mit dem Neapolitaner Fischerlied. Den Höhepunkt seines Ruhmes brachte ihm das Epos über die Geburt Christi, De partu Virginis, ein, eine evozierende Verschmelzung des antiken Heldengesangs mit dem Evangelium
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A. Caracciolo Aric, L’Arcadia del Sannazaro nell’autunno dell’umanesimo, Rom 1995; R. Marnoto, A „Arcadia“ de Sannazaro eo bucolismo, Coimbra 1996; D. Kalstone, „The Transformation of Arcadia: Sannazaro and Sir Philip Sydney“, in: Comparative Literature 15 (1963), 234–249; F. Brie, Sydneys Arcadia. Eine Studie zur englischen Renaissance, Strassburg 1918; K. Garber, Der locus amoenus und locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln-Wien 1974; E. G. Carnap, Das Schäferwesen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts und die Hirtendichtung Europas, Diss. Frankfurt a. M. 1939. Zu Sannazaros Arcadia s. W. J. Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, Hanover-London 1983. Vgl. Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 72–90 (Elegien); 59–72 (Epigramme). Vgl. Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 149–180.
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und mit der pastoralen Tradition.4 Im dritten Buch seiner Elegiensammlung hinterließ der Gattungskünstler ein autobiographisches Gedicht, in welchem er, sein Leben aus der Retrospektive überblickend, seiner Kindheit eine besondere Bedeutung zumaß.5 Das Gedicht, das in den frühneuzeitlichen gedruckten Ausgaben den Titel „Quod pueritiam suam egerit in Picentinis“ („Dass er seine Kindheit im Picentino verbrachte“) trägt, fängt mit der Beschreibung der Örtlichkeiten an, an denen sich Sannazaros Kindheit abgespielt habe:
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Mitten in den Picentiner Bergen liegt ein Tal von wunderbarer Schönheit: Ein frommes Volk verehrt dort die Götter der Väter. Oberhalb hängt, in den Himmel hineinragend, der Cerretische Fels,6 Ihm gab der Wald von Cerrea seinen Namen. Auf der anderen Seite antworten die Felsen der heiligen Tevenna,7 Und die trutzige Spitze des Berges, der Merula8 heißt. Rundherum ruht weithin Wald mit seinem Schatten, Wo viele Wässer fließen von den tropfnassen Hängen, Die schaudergebietende Heimat – wenn es wahr ist, was die Dichter singen – des halb Tieres, halb Gottes Faunus, Wo sich die wilden Tiere gern lagern. Dort lässt die junge Kuh den schönen Bullen gewähren, Dort die stumpfnasige Zicke den stinkenden Gatten. Tausend Graslager gibt es dort, die Rastplätze der Dryaden, tausend Verstecke der Satyrn, Und Grotten, wo sich die Göttin des Waldes gern aufhält. Vivula9 heißt eine Quelle, und ein kleines Bächlein Subucula10, und ein Wasser, das nach dem Eisregen, von dem es herrührt, benannt ist. Dorthin brachte mich von meinen ersten Jahren an (sie trug mich noch auf dem Arm) meine Zeugerin, Die frischvermählte Braut zeigte mich dem lieben Vater, Brachte den dort ansässigen Göttern die ihnen gebührenden Geschenke, Zuvorderst Blumenkränze der gelehrten Schar.
Vgl. Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 180–224. Sannazaro, Elegie III, 2; lateinischer Text u. a. in: Poeti Latini, 1140–1147 (mit ital. Übers.); Nichols (Hrsg.), An Anthology of Neo-Latin Poetry, 304–311 (mit engl. Übers.); Sannazaro, Opera omnia, Douai, Jean Bogard, 1596, f. 61v–63r. Zu dem Gedicht vgl. Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 83–85. Bei S. Cipriano. S. Maria di Tevenna. Heute Monte Merola. Heute Acquavivola. „Subucula“. Im Text in Poeti Latini und bei Nichols (Hrsg.), An Anthology of NeoLatin Poetry, „Subuncula“.
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Die Schar waren Aoniens Töchter, und, begleitet vom Gefolge ihrer Schwestern, War Kalliopeia selbst die Anführerin des Reigens. Der Delier stimmte seinen sangesgewandten Zöglingen ein Lied an, Spielte zur Leier mit seinen geschmeidigen Fingern. Dort wuschen sie mich mit dem heiligen Wasser, Sie, denen die Sorge um mich oberstes Anliegen war. Sie stellten den gewaschenen Knaben in die Mitte des Reigens, Und liessen es um ihn her laut erschallen. Dann bekränzten sie ihn mit Efeu und Lorbeer, dem jungfräulichen, Und lehrten ihn süß zur Kithara zu singen. Und auf den frohen Fluren erschallte ein solcher Vogelgesang, Dass man meinen könnte, die Götter selbst wären zugegen. Alle zahmen Tiere kamen herbei und alle wilden, Und feierten an diesem Tag ein Fest. Da stimmte ich zum ersten Mal nach dem Takt der Hirten auf Der Rohrpfeife ein Waldlied an, spielte Im linden Schatten ein Lied, und weidete Auf weiten Fluren unzählige Herden. Bald schon folgte ich Androgeus und Opicus und den heiligen Riten der Hirten, Bewegte mit meinen Tränen fromme Steine, Als ich den frühen Tod der teuren Mutter besang, und Deine, Meliseus, Seufzer. Ich bahnte mir einen Weg, in Stille, durch überwucherte Grotten, Und erblicke Flüsse, von verschiedenen Quellen entsprungen. Bald schon riefen mich höhere Götter zu sich. Denn des hohen Gottes Heilige Ereignisse fuhren in meinen Geist, Die heiligen Ereignisse Gottes, des Königs der Menschen und Herren der Götter, Das früheste Werk der heiligen Religion, Wie von den Sternen des Äthers der geflügelte Bote kam, Und sein Geschenk legte in den Schoß der keuschen Jungfrau. Was soll ich den Schafstall nennen, was das Spiel der singenden Hirten, Wozu deine, Parthien, Könige? Nicht weniger entbrannte in mir inzwischen das feurige Verlangen Zu fischen, in den Meeresbuchten die Netze auszuwerfen, Trügerische Köder in Reusen zu schließen Und mit dem Haken die wellenflüchtigen Scharen zu locken. Denn ich stieg als erster hinab zu den Wellen des Salzmeers, Wagte als erster ungewohnte Klänge von mir zu geben […]. Est Picentinos inter pulcerrima montes Vallis; habet patrios hic pia turba Deos. Quam super, hinc coelo surgens Cerretia rupes Pendet: at huic nomen Cerrea sylva dedit, Parte alia sacrae respondent saxa Thebennae,
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Die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie Quique rigens Merulae nomine gaudet apex. Et circum nigra late nemus accubat umbra, Plurima qua riguis effluit unda iugis, Semiferi, si vera canunt, domus horrida Fauni, Convectant avidae quo sua lustra ferae. Accipit hic tergo formosum bucula taurum, Accipit immundum sima capella marem. Mille tori Dryadum, Satyrorum mille recessus, Antraque Sylvicolae grata latebra Deae. Vivula nomen aquae, tenuique Subucula rivo Et, quae de gelida grandine dicta, sonant. Huc mea me primis genetrix dum gestat ab annis, Deducens charo nupta novella patri, Adtulit indigenis secum sua munera divis, In primis docto florea serta gregi. Grex erat Aonidum, coetu comitata sororum Ipsa sui princeps Calliopea chori. Delius argutis carmen partitus alumnis, Flectebat faciles ad sua plectra manus. Atque hic me sacro perlustravere liquore, Cura quibus nostrae prima salutis erat. Tum lotum media puerum statuere chorea, Et circumfusis obstrepuere sonis. Denique praecinctumque hederis et virgine lauru, Ad citharam dulces edocuere modos. Tantus erat laetis avium concentus in agris, Ut posses ipsos dicere adesse deos. Venerat omne genus pecudum, genus omne ferarum, Atque illa festum luce habuere diem. Tunc ego pastorum numero sylvestria primum Tentavi calamis sibila disparibus Deductumque levi carmen modulatus in umbra, Innumeros pavi lata per arva greges. Androgeumque Opicumque et rustica sacra secutus, Commovi lachrymis mox pia saxa meis, Dum tumulum charae, dum festinata parentis Fata cano, gemitus dum, Melisee, tuos; Ac tacitas per operta vias rimatus et antra, Inspecto et variis flumina nata locis. Mox maiora vocant me numina, scilicet alti Incessere animum sacra verenda Dei; Sacra Dei regisque hominum dominique deorum, Primaevum sanctae relligionis opus; Nuncius aethereis ut venerit aliger astris, Dona ferens castae Virginis in gremium. Quid referam caulasque ovium lususque canentum Pastorum et reges, Arsacis ora, tuos?
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Nec minus haec inter piscandi concitus egit Ardor in aequoreos mittere lina sinus, Fallacesque cibos vacuis includere nassis Atque hamo undivagos sollicitare greges. Quandoquidem salsas descendi ego primus ad undas, Ausus inexpertis reddere verba sonis.
Im Kontrast zu den sonnigen Tagen der Kindheit, die Sannazaro in der schönen Landschaft verbrachte, endet die Schilderung seines Lebens in bitterem, untröstlichem Schmerz, mit einem Aufstöhnen, in der für ein Gedichtende auffälligen syntaktischen Form des Anakoluths: Und auch du, Cassandra11, die du Zeugin bist meines, sei’s drum, trägen Greisenalters, Der dir allein das Recht zukommt, über mein Begräbnis zu entscheiden, Sorge dafür, dass meine Asche und Gebeine ins Grab gelegt und geweiht werden, Vergiss nicht, deinem Sänger die letzte Ehre zu erweisen. Rauf dir jedoch, mein Liebling, nicht das Haar wegen mir, ach ich Armer, Oder – ach, mein Schmerz verbietet mir weiterzureden. Tu tamen vel fessae testis, Cassandra, senectae, Quam manet arbitrium funeris omne mei, Compositos tumulo cineres atque ossa piato Neu pigeat vati solvere iusta tuo. Parce tamen scisso – heu12 me –, mea vita, capillo Sive – sed, heu, prohibet dicere plura dolor (Z. 111–116).
Eine wilde, naturbelassene, schöne Landschaft taucht in dem Gedicht vor den Augen des Lesers auf: Berge, bewaldete Hänge, aufragende Felsen, schattige Täler, in denen Quellen fliessen. Der Text könnte den Leseerwartungen eines hermeneutischen Autobiographieverständnisses insofern entsprechen, als er Eindrücke und Erlebnisse festzulegen scheint. Eine Landschaftsschilderung lässt sich in hermeneutischem Sinn als Wiedergabe visueller Eindrücke mit realem Ortsbezug aus der Perspektive eines Individuums verstehen. Diesbezüglich erscheint das Kindesalter ein besonders ergiebiger Lebensabschnitt, weil sich dann Eindrücke nachhaltig einprägen. Insofern könnte man vermuten, dass die wilde Naturlandschaft des Picentino auf den Knaben Jacopo einen
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Cassandra Marchese, die beste Freundin des Dichters. Der von den Drucken überlieferte lateinische Text hat hier „seu“, was aber das folgende „me“ unübersetzbar macht. Ein Eingriff in den Text erscheint hier erforderlich. Für die Konjektur von „seu“ zu „heu“ möchte ich Stephan Busch meinen Dank aussprechen.
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‚unauslöschlichen‘ Eindruck gemacht habe. Auch wäre, da Tiere gerade bei Kindern einen tiefen Eindruck hinterlassen, nachvollziehbar, dass der kleine Sannazaro vom ersten Anblick einer Kuh oder Ziege ‚betroffen‘ war. Die hermeneutische Textlektüre scheint dadurch bestätigt zu werden, dass Sannazaro mehrmals Örtlichkeiten mit konkreten Namen versieht: den „Cerretischen Felsen“, die „Felsen der Tevenna“, den Berg „Merula“, die Quelle „Vivula“, den Bach „Subu(n)cula“. Dabei handelt es sich offensichtlich um die Orte, die er damals, in seiner Kindheit, stets vor Augen hatte. Vielleicht war Sannazaro von einem ‚tiefen‘ „Naturgefühl“ beseelt, dem seit Biese immer wieder eine diachronische Valenz zugeschrieben wurde.13 Carol Kidwell hat die Stelle in hermeneutisch-konkretem Sinne aufgefasst, als Beschreibung der Gegend, in der die Familie der Mutter Sannazaros ein Landgut besass. Mit Sannazaros Beschreibung im Gepäck besuchte die Biographin zu Ostern 1992 Santo Mango, wo sie sich von Einheimischen eine der beiden Quellen, die Sannazaro namentlich nennt, „Vivula“ („Acquavivola“) zeigen liess. Dabei musste sie jedoch enttäuscht feststellen, dass es sich um ein dünnes, fast ausgetrocknetes Rinnsal handelt, das nicht dem Wasserreichtum, den Sannazaro vermeldet, entspricht. Das Foto der Quelle Acquavivola versah Kidwell mit einer Beischrift, welche die Diskrepanz erklären soll: „the stream Aquavivola, Eleg. III, 2, 15, much diminished after four dry years“.14 Auch die letzten Zeilen der autobiographischen Elegie scheinen für eine hermeneutische Interpretation zu sprechen. Auf emotionale Weise nimmt der Autobiograph Abschied. Seine Autobiographie ist im buchstäblichen Sinn ein letzter Versuch, sich seinem Publikum zu vermitteln. Die Erwartung, dass ihr Verfasser dem Tode nahe ist, verleiht der Autobiographie einen bekenntnishaften und manifestoartigen Anstrich. Auch Kennedy interpretiert hermeneutisch, wenn er das Gedicht als authen13
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Für die Annahme eines diachronisch valenten Naturgefühls vgl. A. Biese, Das Naturgefühl im Wandel der Zeiten, Leipzig 1926; Ders., Die Entwicklung des Naturgefühls bei den Griechen (Teil I ) und Römern (Teil II ), Hildesheim 1973 (urspr. Kiel 1882 und 1884); H. R. Fairclough, Love of Nature among the Greeks and Romans, New York 1963; L. Fiedler, Quelle – Nacht – Mittag. Untersuchungen zu Naturbeschreibungen und Naturgefühl in der antiken Dichtung, Diss. München 1944; A. Geikie, The Love of Nature among the Romans, London 1912; R. Hennig, Die Entwicklung des Naturgefühls, Leipzig 1912; H. Krefeld, „Zum Naturgefühl der Römer“, in: Gymnasium 64 (1957), 23–26; I. v. Lorentz, Art. „Naturgefühl“, in: RE XVI, 2, Sp. 1863–1885. Kidwell, Sannazaro and Arcadia, London 1993, 12.
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tische Wiedergabe des Geistes- und Seelenlebens des Dichters auffasst: „The poet has expressed his inner life in a fully satisfying form“.15 Allerdings befremdet die vorliegende Autobiographie den modernen Autobiographierezipienten insofern, als der Text kaum konkrete Anhaltspunkte zu Sannazaros Leben liefert. Der Leser erfährt nicht, wo und wann Sannazaro geboren wurde, wer seine Eltern sind, wie seine Schulbildung verlief usw. Stattdessen wird der Leser mit einer Reihe mythologischer Wesen konfrontiert – Dryaden (Waldnymphen), Satyrn, Faunus, Diana, Apoll, Musen, Gestalten, die von der Realität wegführen und das Geschehen in eine vage, märchenhafte Zwischenwelt überführen. Mitten im mythologischen Geschehen hat Sannazaro anscheinend den Beruf des Hirten ergriffen, „weidete / Auf weiten Fluren unzählige Herden“ und „stimmte […] zum ersten Mal nach dem Takt der Hirten auf / Der Rohrpfeife (Hirtenpfeife, Anm.) ein Waldlied an“ (Z. 35–38). In einer hermeneutischen Lektüre gerät dies zu einem eher schwer verständlichen Informationsbruchstück: Es wird nicht richtig klar, wie man diese Mitteilung mit Sannazaros konkretem Leben verbinden soll. Es ist nicht plausibel, dass der kultivierte Edelmann als schmutziger Hirte Ziegen durchs süditalienische Bergland begleitet habe. Kennedy hat in seiner Interpretation der Elegie das Zusammensein mit den Hirten in der Tat als authentischen autobiographischen Bericht aufgefasst. Der junge Sannazaro soll mit den lokalen Hirten durchs Picentino gezogen sein und dort seine ersten Hirtenlieder komponiert haben: „His first direct (sic, Anm.) inspiration came from the local shepherds at Merula, among whom he composed bucolic songs on various reeds ([lines] 35–36)“.16 Freilich wäre (nach Kennedy) ein Nachteil gewesen, dass ihre Hirtenpfeifen nicht so gut geklungen, sondern eher raue, schleifende oder quietschende Pfeiftöne („hissing“) hervorgebracht hätten.17 Diese hermeneutische Interpretation des autobiographischen Gedichts erscheint mir nicht einleuchtend. Es will mir eher scheinen, dass die Worte des Dichters einen Strom bilden, der in einem anderen Bett als dem des realen Lebens fliesst.
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Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 85. Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 83. Ebd.
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2. Sannazaro’s Lebenslauf: Jacobus Sannazarius wird Actius Sincerus Jacopo Sannazaro (1458–1530)18 brauchte sich nicht mit dem (auto)biographischen Hauptproblem, mit dem Erasmus und Josephus Scaliger kämpften, der verächtlichen Abkunft, herumzuschlagen. Er entstammte einem ursprünglich lombardischen Adelsgeschlecht, den San Nazzari dei Burgundi in Lomellina.19 Der Name der Familie geht auf das Schloss San Nazaro in der Nähe Pavias zurück.20 Sannazaros Urgroßvater und Großvater, Niccolò und Giacomo, dienten den Königen von Neapel aus dem Hause Anjou, wofür sie zum Dank Schlösser und Besitzungen im Königreich Neapel erhielten. Nachdem sich die Familie dort etabliert hatte, verlor sie um die Mitte des 15. Jh. wieder ein Gutteil ihres Besitzes.21 Sannazaros Vater, Nicola, erbte nicht viel mehr als einen Palazzo in Neapel und eine Zinkmine, vermehrte seine Besitzungen jedoch durch Heirat mit Tomasella di Santo Mango e di Cola, der Tochter eines Adelsgeschlechts aus Salerno.22 Santo Mango befindet sich ca. 45 km nördlich von Salerno. Jacopo Sannazaro wurde am 28. Juli 1458 in Neapel geboren, zufälligerweise gerade am Festtag des Heiligen Nazarus. Bereits 1469/70 verlor er seinen Vater. Die früheste Kindheit hat Sannazaro nicht, wie er in seiner Autobiographie suggeriert, auf dem Land bzw. in einem Tal mitten in den Bergen verbracht, sondern in der Stadt Neapel. Dort wurde er bis zu seinem zwölften Lebensjahr von den Humanisten Lucio Grasso (ca. 1430–1490) und Giuniano Maio (1430–1493) unterrichtet, beide Professoren an der Universität von Neapel. Mit Hilfe dieser Lehrer eignete sich Sannazaro bereits früh hervorragende Lateinkenntnisse und eine grundlegende Kenntnis der römischen Literatur an. Nach dem Tod des Vaters übersiedelte die Mutter mit ihren Söhnen zeitweilig auf das Landgut der Familie bei S. Cipriano Picentino (1470). Nachdem Sannazaro das für eine höhere Ausbildung reife Alter erreicht hatte, zog die Familie jedoch bald wieder nach Neapel um (1473/74).23 Giuniano Maio, der Professor für Rhetorik an der
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Zum Leben Sannazaros vgl. die Biographie von Kidwell, Sannazaro; vgl. weiter S. Niccoli, „Jacopo Sannazaro“, in: A. M. Carella (Hrsg.), La chiesa di S. Maria del Parto in Mergellina, Neapel 2000, 49–64; E. Percopo, „Per la giovinezza del Sannazaro“, in: M. Barbi (Hrsg.), Miscellanea di studi critici in onore di Arturo Graf, Bergamo 1903, 775–81; Ders., Vita di Jacopo Sannazaro, Neapel 1931; Kennedy, Jacopo Sannazaro and the Uses of Pastoral, 10–27; A. Altamura, Jacopo Sannazaro. Con appendici di documenti e testi inediti, Neapel 1951; M. Picone, Art. „Sannazaro, Jacopo“, in: LMA VII, Sp. 1366; J. Tylus, Art. „Sannazaro, Jacopo“, in: ER V, 394–396; Th. B. Deutscher, Art. „Sannazaro, Jacopo“, in: CE, Bd. III, 193–194; B. Croce, „La Tomba di Jacobo Sannazaro e la Chiesa di S. Maria del Parto“, in: Napoli nobilissima 1 (1892), 68–76; Giovanni Battista Crispo, Vita di Giacopo Sannazaro, Rom 1593. Vgl. Picone, „Sannazaro“, 1366. Vgl. Niccoli, „Jacopo Sannazaro“, 49. Vgl. Niccoli, „Jacopo Sannazaro“, 49. Für die Familie Sannazaros siehe Kidwell, Sannazaro, 3–4. Niccoli, „Jacopo Sannazaro“, 50.
Sannazaros Lebenslauf
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Universität von Neapel, trieb erneut die Ausbildung des jungen Mannes voran.24 1478 verkehrte Sannazaro in den Kreisen der Neapolitaner Intellektuellen. Neapel bildete damals eines der Zentren des italienischen Humanismus. Facios Berühmte Männer listen eine Reihe bekannter Humanisten auf, die in Neapel tätig waren. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Neapolitaner Humanismus spielte Antonio Beccadelli („il Panormita“),25 der eine humanistische Akademie gründete, die große Anziehungskraft besaß.26 In ihrem Charakter ähnelte sie der Römischen Akademie des Pomponio Leto, von der oben im Zusammenhang mit der Pius-Biographik Campanos und Platinas die Rede war. Zu Sannazaros Zeit oblag die Leitung der Neapolitaner Akademie Giovanni Pontano (1422–1503), nach welchem sie Accademia Pontaniana benannt wurde. Dieser hochintelligente und vielseitige Humanist, der in Poesie und Prosa gleichermaßen hervorragende Leistungen erbrachte, beeindruckte Sannazaro so sehr, dass er sich als Mitglied der Akademie anmeldete. Der Eintritt in die Akademie beeinflusste Sannazaros intellektuelle Entwicklung entscheidend. Wie andere humanistische Akademien hatte auch die Neapolitaner Akademie einen religiös-rituellen Anstrich. Die Aufnahme neuer Mitglieder wurde durch einen Initiationsritus vollzogen, bei dem sie einen neuen Namen erhielten. Das Sektenmitglied Jacopo Sannazaro hieß nunmehr Actius Sincerus. Mit dem neuen Namen, den Sannazaro fortan als Autor und Mitglied der Respublica litteraria trug, erhielt er eine neue Identität. Pontano widmete dem neu getauften Actius diverse Gedichte27 und einen Dialog, der sogar den Titel Actius trug.28 Seine Mitgliedschaft bei der Akademie vermittelte Sannazaro den Zugang zum Neapolitaner Hof. Der Sektenanführer Pontano bekleidete die Stelle des Sekretärs des Königs von Neapel.29 1481 nahm ein Verwandter des Königs, Alfons, der Herzog von Kalabrien, Sannazaro als Höfling auf und gewährte ihm ein Jahreseinkommen von 120 Dukaten.30 Sannazaro verfasste Dichtungen, die im Ambiente des Hoflebens besonders reizvoll waren: verschlüsselte, allegorische Poesie, in der hinter den aufgeführten Gestalten (z. B. Hirten) wie bei einem Maskenball Personen ihre wahre Identität verschleiern. Im höfischen Deutungsspiel konnte man raten, wer sich hinter der jeweiligen Maske verberge. Sannazaros Aussichten wurden noch besser, als sein Herr, Herzog Alfons, nach dem Tod Ferrantes I. 1494 zum König von Neapel gekrönt wurde (Alfons II., 1494–1495). Jedoch schlitterte das Königreich Neapel damals in eine tiefe Krise: Charles VIII., der König von Frankreich, machte seine Ansprüche auf den Thron von Neapel geltend, rückte mit einer übermächtigen Armee heran und eroberte Neapel. Alfonso II. dankte ab und starb kurze Zeit später (1495). Sannazaro floh mit Ferrandino, dem
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Ebd. Bartolomeo Facio, De viris illustribus, ed. Mehus, 4. Vgl. Kidwell, Pontano, 55–59. Hendecasyllabi seu Baiae 11. Für den Text siehe u. a. Poeti Latini del Quattrocento, 608–613. Vgl. dazu Kidwell, Pontano, 282–285. Pontano vollendete den Dialog vor dem 1. 6. 1499. Kidwell’s Bezeichnung Pontanos als „Prime Minister“ (Pontano, 200–239; Kapitel 10 „Prime Minister“) suggeriert eine etwas zu grosse Machtfülle. Kidwell, Sannazaro, 35.
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Sohn Alfons II., und Federigo von Aragon nach Ischia. Charles VIII., der sich nicht ständig in Neapel aufhalten konnte, ließ eine Besatzungsmacht zurück. Ferrandino (Ferdinando II.) gelang es im nächsten Jahr, den größten Teil des Königreichs zurückzuerobern. Sannazaro begleitete ihn bei dieser Reconquista. Ferrandino starb jedoch noch im selben Jahr an Malaria (1496). Sannazaro diente daraufhin Ferrandinos Nachfolger, Federigo III. (1496–1501; Federigo von Aragon), der ihn noch großzügiger unterstützte. Federigo verlieh Sannazaro ein Jahreseinkommen von 600 Dukaten, ernannte ihn zum Paten seines Sohnes und schenkte ihm eine prächtige Villa am Meer, bei Mergellina.31 Das Villen-Dichtertum wurde nach zwei Jahren gewaltsam unterbrochen, der Dichter in den Strudel der politischen Ereignisse hineingezogen. 1501 zwang Louis XII., Charles’ VIII. Nachfolger, Federigo III. zur Abdankung, wobei dieser als Trostpreis das Herzogtum Maine in Frankreich erhielt. Sannazaro blieb seinem Herrn treu und begleitete ihn ins Exil nach Frankreich (1501–1504). Vom Dezember 1501 bis Mai 1502 verblieb der Hof des Königs ohne Königreich in Blois, nachher in Genua und Mailand. Während die meisten Neapolitaner Edlen ihren König längst verlassen hatten, blieb Sannazaro bis 1504 in Frankreich, ungeachtet der prekären Lage. Im Sommer 1504 erkrankte der König schwer. Im November desselben Jahres starb er im Schloss Montils bei Plessis-lès-Tours. Louis XII. erlaubte nicht, dass Federigos Leiche nach Neapel überführt werde; er wollte die Erinnerung an das Haus Aragon als Herrscher von Neapel auslöschen. Kurz nach Federigo starben auch sein Halbbruder Don Cesare und seine zwei minderjährigen Söhne Alfonso und Cesare. Königin Isabella wurde die Rückkehr nach Neapel verweigert. Merkwürdigerweise entstand Sannazaros europaweiter Ruhm gerade in dieser Zeit der Aussichtslosigkeit. Die Arcadia erschienen in diesen Jahren mehrere Male im Druck, zunächst ohne Wissen des Dichters, dann in autorisierter Form. Das Werk entpuppte sich als Bestseller. Mittlerweile hatten die Franzosen Neapel an Spanien verloren. 1505 kehrte Sannazaro auf Einladung des spanischen Vizekönigs Gonsalvo de Cordoba nach Neapel zurück. Jedoch blieb Sannazaro fortan Privatmann. Er gewann eine junge Edelfrau, Cassandra Marchese, Abkömmling eines der ältesten Geschlechter von Neapel, als Vertraute. Sannazaro widmete sich seinem Villenleben auf Mergellina und der Neapolitaner Akademie. Er besorgte die Publikation der Werke des früheren Vorstehers der Akademie, Pontano (der 1503 gestorben war), indem er die textkritische Arbeit auf sich nahm und für die Drucklegung aufkam. Sannazaros Villa wurde ein Zentrum der akademischen Zusammenkünfte. Sannazaro widmete sich verstärkt seiner lateinischen Dichtung. Auf Mergellina verfasste er nunmehr ein neues Hauptwerk, das Epos über die Geburt Christi De partu Virginis. Nebenher entwarf er eine neue poetische Gattung, die Fischer-Eklogen, formvollendete, verschlüsselte Poesie. Sannazaro bildete einen strahlenden Fixstern des Neapolitaner Kulturlebens, trat sozusagen als ‚Sincerus Superstar‘ auf. Der Dichter trug fast schulterlanges Haar, wie auf dem Gemälde von Gian Paolo de Agostini zu sehen ist (Abb. 13) und umgab sich mit einem mysteriösen Glanz. Es besass programmatischen Aussagewert, dass er unweit des Grabes des Vergil wohnte. In der Respublica litteraria wuchs Sannazaros Ruhm. Der päpstliche Hof erbettelte förmlich die Publikation des christlichen Epos De partu Virginis. Leo X. hoffte, das
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Kidwell, Sannazaro, 85.
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Abb. 13: Gian Paolo de Agostini, Porträt Sannazaros, Ölgemälde.
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Gedicht werde Luthers Häresie vernichten (Brief aus dem Jahre 1521).32 Als Sannazaro das Epos 1526 herausgab und Papst Clemens VII. widmete, wurde er mit Lob überhäuft, wobei sich der Papst sogar zu einem persönlichen Brief herabließ.33 Sannazaro bereitete sich in diesen Jahren sorgfältig auf sein Ende, das ihm nahe schien, vor. Er gab seine Gesammelten Werke heraus und ließ neben seinem Wohnhaus in Neapel eine Kirche errichten (seit 1524), die er nach dem Epos S. Maria del Parto taufte (Abb. 15). In der Kirche ließ er – eine Selbstdarstellung großen Stils – ein Dichtergrab anfertigen, als Pendant zu Vergils Grab (Abb. 16). Oben in der Mitte befindet sich eine antikisierende Porträtbüste Sannazaros mit Dichterlorbeer, die von den Göttern der Dichtkunst und der Gelehrtsamkeit, Apoll (links) und Minerva (rechts), flankiert wird (Abb. 17). Im Zentrum unten befindet sich ein Grabepigramm in römischen Kapitallettern, das Sannazaros Freund und Bewunderer, Kardinal Bembo, verfasst hatte. Darin wird Sannazaro mit Vergil verglichen (Abb. 14): STREU BLUMEN DER HEILIGEN ASCHE: HIER RUHT DER BERÜHMTE SINCERUS, DER ALS DICHTER VERGIL AM NÄCHSTEN KOMMT; WIE AUCH SEIN GRAB DEM DES VERGIL AM NÄCHSTEN LIEGT. ER LEBTE 72 JAHRE. ER STARB 1530. DA SACRO CINERI34 FLORES: HIC ILLE MARONI SINCERUS35 MUSA PROXIMUS, UT TUMULO. VIXIT ANNOS LXXII * OBIIT MDXXX.
Abb. 14: Grabinschrift Sannazaros. S. Maria del Parto, Neapel.
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Kidwell, Sannazaro, 149. Kidwell, Sannazaro, 154–155. In Carella, La chiesa di S. Maria del Parto, 70, wird fälschlich „cineris“angegeben. In Carella, La chiesa di S. Maria del Parto, 58, wird fälschlich „Syncerus“ angegeben.
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Abb. 15: Sannazaros Grabkirche, S. Maria del Parto, Neapel, Innenansicht.
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Abb. 16: Grabmal Sannazaros in S. Maria del Parto, Neapel.
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Abb. 17: Büste Sannazaros, zu seinem Grabmal gehörig. S. Maria del Parto, Neapel.
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3. Die Verlandschaftung der Autobiographie 1: Topothesie, Ekphrasis Wenn man die Schilderung von Sannazaros Kindheitslandschaft auf hermeneutische Weise interpretiert, fördert ein Vergleich mit den historischen Gegebenheiten kuriose Diskrepanzen zu Tage. Zum Beispiel gibt Sannazaro an, dass ihn seine Mutter „von den ersten Lebensjahren an“ („primis ab annis“),36 zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht selbständig gehen konnte (er musste auf dem Arm getragen werden), auf das Landgut der Familie bei S. Cipriano Picentino gebracht hat. Da Sannazaro in der Autobiographie fortan in der beschriebenen Landschaft bleibt, erhält man den Eindruck, dass er sein ganzes Leben bis zur Niederschrift seiner Geburt Christi, De partu Virginis, auf dem Lande verbrachte. Diese Lokalisierung stimmt jedoch nicht mit den Daten von Sannazaros Biographie überein. Denn nicht nur die Kindheit bis zum zwölften Lebensjahr, sondern auch der Großteil des Lebens des Erwachsenen spielte sich in der Stadt Neapel ab. Sannazaro vermeldet diesen Aufenthaltsort jedoch seltsamerweise überhaupt nicht. Das bildet eine Indikation dafür, dass die Ortsbeschreibung wahrscheinlich eine andere Funktion hat bzw. dass sie in einem anderen Diskurs verankert ist. Eine weitere Diskrepanz ergibt sich aus der Autopsie der Gegend von S. Cipriano Picentino. Sannazaro schildert eine schattige, wasserreiche, dicht bewaldete Landschaft. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um ein karges, trockenes und eher unwirtliches Bergland. Die Beobachtung Kidwells, dass man statt den vor Wasser „triefenden Hängen“ ein dünnes Bächlein antrifft, deutet nicht so sehr auf eine Veränderung der Natur, als auf eine interessante Diskontinuität, die im Text aufklafft. Offensichtlich sind wir in einen Diskurs geraten, der wassertriefende Hänge und Schatten konstituiert. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass die Landschaftsschilderung nicht auf einen Automatismus zurückzuführen ist, der sich aus dem Autobiographievorhaben als solchem erklärt. Es gab nichts, was den frühneuzeitlichen Autor verpflichtet hätte, in eine Autobiographie eine Landschaftsbeschreibung aufzunehmen oder gar, diese integral in eine solche einzubinden. Wir haben hier zunächst mit einem narrativen Kunstmittel zu tun, der Ortsschilderung (Topothesia, Ekphrasis), welches in der antiken Historiographie, Rhetorik und im antiken Epos viel36
Elegie III, 2, 17–18.
Topothesie, Ekphrasis
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fach angewendet wird.37 Die Topothesie hat die diskursive Aufgabe, bedeutende, dramatische oder emotionsgeladene Ereignisse einzuleiten bzw. zu evozieren. Die Landschaftsschilderung soll den Leser jeweils auf die im Text folgenden Begebenheiten vorbereiten. Im Allgemeinen geben Topothesien das Signal ab, dass wichtige Ereignisse kurz bevorstehen. Weiter vermitteln sie Evidenz, die zum emotionalen Miterleben einlädt. Im Besonderen stimmen sie den Leser auf die spezifische Beschaffenheit der Geschehnisse ein, kreieren somit Leseerwartungen, die die Interpretation steuern. Diese Funktionsweise lässt sich am besten anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen, etwa Vergils Berschreibung der Bucht in der Nähe Karthagos, wo Aeneas mit seinen Kameraden landet: Es liegt dort ein sehr beschützter Ort: Eine Insel hat einen Hafen Gebildet, um den sie ihre schützenden Arme breitet. Dadurch werden die Wellen, Die von der hohen See her kommen, gebrochen, in kleinstes Kräuseln zerschnitten. Überall ragen ungeheure Felsen und doppelte Klippen In den Himmel hinein, unter deren Gipfeln weithin schweigen die Wasser. Oberhalb beherrschen Wälder mit schwankenden Wipfeln die Szene, Und mit seinem schaurigen Schatten ragt ein düsterer Wald empor. Auf der anderen Seite liegt zwischen den hängenden Felsen eine Grotte. Darin finden sich süße Wasser und Rastplätze auf begrünten Felsen, Die Heimat der Nymphen. Est in secessu longo locus: insula portum Efficit obiectu laterum, quibus omnis ab alto Frangitur inque sinus scindit sese unda reductos. Hinc atque hinc vastae rupes geminique minantur In caelum scopuli, quorum sub vertice late Aequora tuta silent; tum silvis scaena coruscis Desuper, horrentique atrum nemus imminet umbra. Fronte sub adversa scopulis pendentibus antrum; Intus aquae dulces vivoque sedilia saxo, Nympharum domus.38
Es würde nicht viel Sinn machen, die Küste Libyens nach der nämlichen Stelle abzusuchen, noch abgesehen von der konkreten Frage, ob man in der Tat erhoffen könnte, dort eine Bucht mit einer Süßwasserquelle zu entdecken. Schon antike Leser warnten davor, wie z. B. der Vergilkommentator Servius: „Übrigens ist klar, dass es einen solchen Ort nirgends
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Z.B. Ovid, Metamorphoses I, 168ff.; VIII, 788ff.; XII, 39ff.; Statius, Thebais II, 32ff.; Vergil, Aeneis I, 159 ff.; 530ff.; III, 163 ff.; IV, 480ff.; VII, 563ff. Vergil, Aeneis I, 159–168.
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in Afrika gibt“ (ad loc.). Antike Leser waren sich der Tatsache bewusst, dass Topothesien – trotz der behaupteten Realitätsreferenz – prinzipiell erfundene Örtlichkeiten beschreiben.39 Im Vordergrund stand die Funktion der Lesersteuerung: Zunächst sollte eine Topothesie die Aufmerksamkeit des Lesers steigern und ihn in einen Zustand erwartungsvoller Spannung versetzen. Weiter bereitet die Topothesie den Leser auf die spezifischen Ereignisse vor (hier Aeneas’ Romanze mit Dido, die ein verhängnisvolles Ende nehmen sollte), indem sie emotionale Assoziationen mit dem künftigen Geschehen evoziert: einerseits präludiert der „beschützte Ort“, der Hafen mit seinen „schützenden Armen“, die Bucht, die die Wellen des offenen Meeres „abwehrt“, Schützendes, Sicherheit Gewährendes und Angenehmes – die Errettung von dem Schiffbruch und von dem Scheitern des Unternehmens, die freundliche Aufnahme durch die Königin von Karthago, die Wärme der aufkeimenden Liebesbeziehung. Andererseits nimmt die Unruhe und Undurchdringlichkeit der Natur – die „schwankenden Wipfel“, die „doppelten Klippen“, die „ungeheuren Felsen“, der „schaurige Schatten“, der „düstere Wald“ – den tragischen Ausgang der Ereignisse vorweg: das Ende der Liebesbeziehung im Streit, die Flucht des Geliebten und den Selbstmord der Königin.40 Sannazaros Landschaftsschilderung weist Elemente auf, die auch in Vergils Topothesie auftreten. Beide Landschaften werden als das „Haus“ eines Gottes bezeichnet. Bei Vergil ist die Landschaft „das Haus der Nymphen“, bei Sannazaro „das Haus des Faunus“. Wie bei Vergil sind in Sannazaros Landschaft Berge und Felsen, Schatten, Wälder und Wasser vorhanden. Die spektakulären Elemente gestalten die Landschaft in beiden Fällen zu einer „Szenerie“ bzw. Kulisse („scaena“ bei Vergil), gegen deren Hintergrund sich das bedeutsame Geschehen abspielt. Aus dem – heuristisch aufschlussreichen – Vergleich der beiden Ekphraseis lassen sich ihre spezifischen Orientierungen eruieren. Sannazaros Landschaft macht trotz der spektakulären Elemente einen ruhigeren Gesamteindruck. Sein Wald schwankt (zittert) nicht wie 39
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Vgl. dazu den Kommentar von R. G. Austin, P. Vergilii Maronis liber primus. With a Commentary by R. G. A., Oxford 1971, 71–72. Für die Naturschilderungen in Vergils Aeneis vgl. J. Gislason, Die Naturschilderungen und Naturgleichnisse in Vergils Aeneis, Diss. Münster 1937; H.-D. Reeker, Die Landschaft in der Aeneis, Hildesheim-New York 1971. Austin, Commentary, a.a.O., hat überraschenderweise nur das Angenehme („peace and safety“) festgestellt und die bedrohlichen Fingerzeige Vergils übersehen.
Arkadien, der Ort der Akademiker
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der Vergils („silvis […] coruscis“, Z. 164), sondern er „ruht“ („nemus accubat“, Z. 8). Die beruhigende Wirkung wird dadurch verstärkt, dass der Wald von „frommen“ Leuten bevölkert ist. In Vergils Landschaft leben hingegen keine Menschen. Von der Antike bis gegen Ende der Frühen Neuzeit erstreckt sich eine lange Tradition der Naturperzeption, in der man die unbewohnte Natur als unangenehm und bedrohlich erfuhr. Sannazaro war es also offensichtlich darum zu tun, diesen Aspekt zu dämpfen. In seinem Wald wird nichts Schreckliches geschehen, sondern etwas Positives und Schönes. Die spektakulären Landschaftselemente sollen in beiden Ekphraseis beim Leser den Effekt des Befremdens erzeugen. Bei Vergil schlägt die Befremdung sofort in das Bedrohliche um: Den Leser befällt ein unheimliches Gefühl, die bedrohliche Fremde verheisst nichts Gutes. Sannazaro benennt die Landschaft hingegen mit bestimmten Namen. Damit suggeriert er: Die Landschaft ist kein Teil des Unbekannten, des Feindeslandes. Freilich ist sie auch bei ihm „schaudergebietend“. Jedoch will er damit nicht so sehr ‚Furcht‘ als ‚Ehrfurcht‘ vermitteln. Denn der Punkt, um den es ihm geht, ist, dass die raue Berglandschaft die Heimat der Götter ist. Bei Sannazaro spielen die Götter in der Tat eine viel grössere Rolle als in der Ekphrasis Vergils. Neben den vielen Waldnymphen tauchen noch Satyrn in Scharen auf, weiter die Göttin des Waldes, Diana, und nicht zuletzt der Hirtengott Faunus. Die Konstituierung der Landschaft als gebirgiges, bewaldetes und von Göttern bevölkertes Wunderland bereitet den Leser auf das wundersame Geschehen vor, das da kommen wird.
4. Die Verlandschaftung der Autobiographie 2: Arkadien, der Ort der Akademiker Das Auftreten des Hirtengottes im „Haus des Faunus“ bildet den Auftakt zu einer umfassenden Diskursanbindung, welche die Autobiographie im Regelspiel der Bukolik/Hirtendichtung verortet.41 Diese topische Verortung ist wesentlich als Landschaftseinschreibung verfasst, als Einschreibung in die literarische Hirtenlandschaft Arkadien. Das für 41
Zur Gattung der Hirtendichtung vgl. P. Alpers, What is Pastoral?, Chicago 1996; Th. K. Hubbard, The Pipes of Pan. Intertextuality and Literary Filiation in the Pastoral Tradition from Theocritus to Milton, Ann Arbor 2001; E. Carrara, La poesia pastorale, Mailand 1905; W. L. Grant, Neo-Latin Literature and the Pastoral, Chapel Hill 1965.
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Die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie
Sannazaro massgebliche Arkadien ist vor allem von Vergil (Eklogen) entworfen worden.42 Das vergilische Arkadien setzt sich aus einer Mischung von Landschaftselementen des tatsächlichen Arkadien, der bewaldeten, rauen Berglandschaft des Peloponnes, und Elementen gemäßigter, ‚lieblicher‘ Landschaften Italiens zusammen. Nicht nur die zerklüftete Bergwelt (locus horribilis), sondern auch der „liebliche Ort“ (locus amoenus) konstituiert die Landschaft. Seine festen Bestandteile bilden Baumschatten, Kühle, Bach oder Quelle und Vogelgesang.43 An diesem Ort lagern sich die Hirten und an ihm stimmen sie ihre Lieder an.44 Den Strom des locus amoenus kanalisierte Vergil in seinen Eklogen in das spezifische „bukolische Lagerungsmotiv“, das in der europäischen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ein vielstimmiges Echo heraufgerufen hat.45 Die Verlandschaftung, die in den Anfangszeilen der ersten Ekloge auftritt, verbuchte eine gattungskonstituierende Wirkung: „Tityrus, indem du dich lagerst unter das breite Blätterdach der Buche, / Stimmst an mit der Hirtenflöte das Waldlied“ („Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi / Silvestrem tenui Musam meditaris avena“, E. 1, 1–2). Vergils Hirten lagern sich im angenehmen Schatten der Bäume und in kühlen, feuchten, begrünten Grotten („viridi proiectus in antro“, E. 1, 75). Es lässt sich nunmehr verstehen, in welcher Beziehung der kühle Schatten, der Wald- und Wasserreichtum für Sannazaros Landschaft be42
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Vgl. P. Maisak, Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt, Frankfurt a.M.-Bern 1981; G. Highet, Römisches Arkadien, Dichter und ihre Landschaft, München 1974 (urspr. engl. New York 1957); M. O. Lee, Death and Rebirth in Vergil’s Arcadia, New York 1989; E. A. Schmidt, Bukolische Leidenschaft oder Über antike Hirtenpoesie, Frankfurt 1987; Ders., Poetische Reflexion. Vergils Bukolik, München 1972; B. Snell, „Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft“, in: Ders., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1955 (3. Aufl.; Aufsatz urspr. 1945), 371–400; H. Petriconi, „Das neue Arkadien“, in: Antike und Abendland 3 (1948), 187–200; M. C. Putnam, Virgil’s Pastoral Art: Studies in the Eclogues, Princeton 1970. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, BernMünchen 1973 (8. Aufl.), 197–206. Speziell zum locus amoenus in der antiken Literatur vgl. P. Haß, Der locus amoenus in der antiken Literatur: Zu Theorie und Geschichte eines literarischen Motivs, Bamberg 1998 und G. Schönbeck, Der locus amoenus von Homer bis Horaz, Diss. Heidelberg 1962. Haß, Der locus amoenus in der antiken Literatur, 88; (der locus amoenus) „dient ihnen (den Hirten, Anm.) […] als angenehmer Hintergrund für den Vortrag eines Liedes oder für einen Gesangswettstreit“; weiter 89–98 (Vergil, Eklogen 1, 1–10; 36–39; 46–58; 74–83; 10, 40–43; Theokrit, Idyll. 1,1–3; 7–8; 12–14; 21–23); A. Pennacini, Amore e canto nel locus amoenus, Turin 1979. K. Garber, Der locus amoenus und locus terribilis.
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deutend ist: Damit beschreibt Sannazaro das Picentino als sein Arkadien, seine Hirtenlandschaft. Das Wasser, das reichlich von den Hängen rinnt („plurima unda“, Z. 8), die Quelle Vivula, der Bach Subucula, sowie der weitläufige Wald (Z. 8) mit seinem Schatten („umbra“, Z. 8) konstituieren Sannazaros ‚locus amoenus‘. Im „linden Schatten“ („levi umbra“, Z. 37) stimmte der Hirte Sincerus sein Waldlied an („sylvestria sibila“, Z. 35–36). Mit dieser Figuration hängt das Diskursregulativ der Hirtenpoesie zusammen, dass der Landschaft und ihren Bewohnern prinzipiell ein allegorischer Wert zukommt. Die Hirten versinnbildlichen Dichter: Vergils Eklogen stellen in dieser Hinsicht stets Reflexionen über die Existenz und das Schaffen des Dichters dar. Dieses Diskursregulativ erweist sich für die Autobiographie Sannazaros als entscheidend. Durch die Einschreibung in die bukolische Landschaft konstituiert sich Sannazaro als humanistischer Dichter. Im Besonderen war diese Selbstkonstituierung für die humanistische Akademie Neapels massgeblich, deren Vorsteher, als ihr Sannazaro beitrat, Giovanni Pontano war (in den Siebzigerjahren des 15. Jahrhunderts; Pontano leitete die Akademie 1471–1503). Die Neapolitaner Dichter-Humanisten gaben sich Hirtennamen und entwarfen ihr Selbstbild in der ‚Formatierung‘ der Hirten Vergils. Sie gaben die Ereignisse der Gegenwart allegorisch-verschlüsselt in Gestalt ländlicher Episoden wieder. Der Vorsteher der Akademie, Pontano, hieß Meliseus, eine Nachempfindung von Vergils Hirten/Dichter Meliboeus. Der Gründer der Akademie und frühere Vorsteher, Antonio Beccadelli, trug den Namen Androgeus. Diese Dichterwelt im Gewand der Hirtenwelt stellte Sannazaro eingehend in seinem Schäferroman Arcadia dar. Sannazaro selbst nannte sich in der Arcadia Ergasto. In der fünften Ekloge besucht zum Beispiel der Hirte Ergasto das Grab des Hirtenführeres Androgeo (Beccadelli) (Abb. 18). In diesem Sinn ist m. E. Sannazaros autobiographische Mitteilung zu verstehen, dass er den Beruf des Hirten ergriff und in die Schar der Hirten aufgenommen wurde: 35
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Da stimmte ich zum ersten Mal nach dem Takt der Hirten auf Der Rohrpfeife ein Waldlied an, spielte Im linden Schatten ein Lied, und weidete Auf weiten Fluren unzählige Herden. Bald schon folgte ich Androgeus und Opicus und den heiligen Riten der Hirten, Bewegte mit meinen Tränen fromme Steine, Als ich den frühen Tod der teuren Mutter besang, und Deine, Meliseus, Seufzer.
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Abb. 18: Sannazaros Arcadia, Fünfte Ekloge. Holzschnitt von Francesco Sansovino, in: Sannazaro, Rime, Venedig 1578, 42.
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DieMitteilung, dass Sannazaro „den heiligen Riten der Hirten“ „folgte“, bezeichnet seine Teilnahme an den Zusammenkünften der Akademie, die nach einem Zeremoniell mit sakralem Charakter eingerichtet waren. Dass er dem Hirten Androgeus folgte, bedeutet, dass er sich den Gründer der Akademie, Antonio Beccadelli, zum Vorbild nahm. Die Aussage, dass Sannazaro „mit seinen Tränen fromme Steine bewegte“, besagt, dass er damals im Rahmen der Akademie Trauer- und Grabgedichte verfaßte. „Meliseus’ Seufzer“ bezeichnen ein Trauergedicht, das Sannazaro für die Frau des damaligen Akademievorstehers Pontano, Arianna Sassone, die 1490 plötzlich verstarb, verfaßte. Die Hirtenlandschaft des autobiographischen Gedichtes bezieht sich somit wesentlich auf die intellektuelle Landschaft der Neapolitaner Akademie. Z. 35 und 36 beziehen sich somit keineswegs auf die wirkliche Landschaft im Picentino, noch auf die lokalen Hirten, mit denen Sannazaro – wie Kennedy das Gedicht interpretierte – herumgezogen sein soll,46 sondern im allegorischen Sinn auf seine Akademikerfreunde. Sannazaros Selbstkonstituierung als Hirte wird auch in der Ikonologie seines Grabmals ersichtlich, das der Dichter in seinen letzten Lebensjahren in seiner Privatkirche Santa Maria del Parto errichten liess. Dieses weist ein zentral plaziertes Relief auf, auf dem die Dichterlandschaft Arkadiens abgebildet ist. Im Vordergrund links ist der bocksfüßige Hirtengott Pan mit der Hirtenflöte (Panflöte) zu sehen, rechts eine leichtbekleidete Nymphe; hinter Pan erscheint die Wald- und Jagdgöttin Diana47 (Abb. 19). In dem Relief wird vorgeführt, dass Sannazaro die Hauptleistung seines Lebens, sein dichterisches Werk, in der Hirtenlandschaft der Akademie zustande brachte. Die Selbstkonstituierung auf dem Relief des Grabmals, in deren Zuge sich Sannazaro in der bukolischen Landschaft verortet, läuft mit der Selbstkonstituierung im autobiographischen Gedicht parallel. Die dichterischen Leistungen werden durch bukolische Ereignisse wiedergegeben. Autobiographie ist in diesem Sinn wesentlich Landschaftseinschreibung.
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Kennedy, Sannazaro and the Uses of Pastoral, 83. Vgl. Kidwell, Sannazaro, 169. Der sonst nicht zur arkadischen Szenerie gehörende Meeresgott Neptun spielt auf Sannazaros Fischer-Eklogen an. Kidwell identifiziert überraschenderweise die durch den Pfeil gekennzeichnete Diana als „a nymph looking on from the background with a long feathered arrow“.
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Abb. 19: Arkadische Dichterlandschaft. Relief von Girolamo Santacroce in Sannazaros Grabkirche S. Maria del Parto, Neapel.
Properz’ und Sannazaros Dichterweihe
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5. Der sakrale Akt: Properz’ und Sannazaros Dichterweihe Zu welchem Ereignis soll die Topothesie hinführen? Es handelt sich hierbei um ein übernatürliches Geschehen in der Gestalt eines Sakralakts. Die Mutter trägt Sannazaro in die heilige Landschaft und bringt „der gelehrten Schar“ Weihegeschenke dar. Der Ausdruck „gelehrte Schar, Töchter Aoniens“ lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers in den Diskurs der griechisch-römischen Dichterlegitimation. In Aonien – mit diesem Namen bezeichneten die Dichter die griechische Region Böotien48 – waren die heiligsten Heiligtümer der Dichter, der Musenberg Helikon und die dort entspringende Musenquelle Hippokrene, situiert. In der heiligen Landschaft kommt es zu einer Epiphanie Apolls und der Musen. Apoll weiht den Knaben, indem er ihn mit „Weihwasser“ („sacro […] liquore“, Z. 25) benetzt. Dann bilden die Musen einen Kreis. Der Kreis hat ebenfalls sakrale, symbolische Bedeutung. Mit ihm wird ein göttliches Kraftfeld aufgespannt. Der Knabe Sannazaro befindet sich im Zentrum des Kraftfeldes. Die Musen übertragen auf ihn die Kraft der Dichtkunst, indem „sie ihn mit Gesang umtönen“ („circumfusis obstrepuere sonis“, Z. 28). Zum Zeichen der Vollendung der Weihe krönen sie ihn zum Dichter, indem sie ihn mit Efeu und Dichterlorbeer bekränzen. Mit dem Krönungsakt ist die Initiation vollzogen, der Knabe ist ein Dichter geworden. Zum Zeichen, dass die Initiation erfolgreich war, freut sich die Natur: Die Vögel stimmen ein lautes Jubellied an, alle Tiere eilen herbei und feiern ein Fest. Die Dichterweihe spielt in der Komposition von Sannazaros Autobiographie eine zentrale Rolle. Zur ihr führt der erste Teil, die Verlandschaftung (Z. 1–16), hin, und von ihr ist alles Weitere (Z. 34–116) abhängig: Damit stellt Sannazaro die Dichterweihe als entscheidendes Ereignis seines Lebens dar. Aus der humanistischen Selbstkonstituierung als „poeta“ erklärt sich, dass in der humanistischen (Auto)Biographik Dichterkrönungen wichtige Ereignisse bilden. Man vergleiche etwa Petrarcas Brief an die Nachwelt, Boccaccios Petrarca-Biographie oder Enea Silvios Privatbriefe. 48
Für „Aonides“ siehe z. B. Ovid, Metamorphoses V, 333; VI, 2; Fasti IV, 245: „Aonia Camena“; Tristia IV, 10, 39: „Aoniae sorores“; Juvenal, Satiren 7, 58: „aptusque bibendis fontibus Aonidum“; Statius, Silvae I,2,247; I, 4, 20: „Aonias […] divas“; V, 3, 120–121: „sorores Aonides“; Martial, Epigrammata VII, 22, 2: „Schar der Töchter Aoniens“ („Aonidum turba“).
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Die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie
Allerdings handelt es sich in diesen Fällen um Dichterkrönungen, die im Rahmen offizieller Zeremonien tatsächlich stattfanden, bei denen ein weltlicher Würdenträger, zum Beispiel der Römische Senat oder der Kaiser, einen Humanisten mit den betreffenden Insignien und Privilegien ausstattete. Bei Sannazaro geht es jedoch um einen rein literarischen Legitimationsakt, der sich in einer Phantasielandschaft, im Bereich der antiken Mythologie und im Beziehungsfeld der antiken Intertextualität ereignet. Sannazaro legitimiert sich in diesem Beziehungsgeflecht als göttlich inspirierter Dichter. Die Intertextualität ruft einen Sakralakt ab, der in der griechisch-römischen Literatur bereits mehrfach festgelegt worden war; einen Sakralakt, mit dem sich Hesiod, Kallimachos, Ennius und Properz als Mitglieder der Respublica litteraria der Poeten auswiesen. Den Akt und seine Symbolik hat Kambylis in einer Studie beschrieben.49 Sannazaro richtete seine Dichterweihe vor allem nach der des Properz ein, welche sich wohl nicht ganz zufällig ebenfalls im dritten Buch einer Elegien-Sammlung befindet (III, 3). Es ist von daher zu erwarten, dass sich die Aussage von Sannazaros Weihe aus dem Zusammenspiel mit dem Properztext ergibt. Properz träumt, dass er unter einem schattigen Baum am Helikon liegt, an der Musenquelle Hippokrene („Visus eram molli recubans Heliconis in umbra […]“, III, 3, 1). Die römische Geschichte taucht vor seinem geistigen Auge auf. Dabei kommt in dem Dichter der Wunsch auf, in die Fußstapfen des Ennius zu treten und ein Heldenepos über die römische Geschichte zu dichten. Da erscheint ihm Apoll, der von diesem Plan abrät und ihn auffordert, in der Gattung weiterzumachen, in der er bereits dichtet, der Liebeselegie. Nach diesen ermahnenden, jedoch auch bestätigenden Worten weist ihm Apoll den Weg zum Musenheiligtum, wo die Weihe stattfindet: 25 Sprach’s und zeigt mir mit seinem elfenbeinernen Plektrum den Ort, Wo auf moosigem Boden ein Pfad gebahnt war. Dort befand sich eine begrünte Grotte mit kunstvoll angebrachten Steinchen50, Oben an der Bimssteinhöhle hingen Tympana, Die Musikinstrumente der Musen, eine tönerne Statue des Vaters Silenus
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A. Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius, Heidelberg 1965. Properz hat zeitgenössische römische Gartengestaltungen vor Augen. In den römischen Lustgärten wurden künstliche Grotten errichtet, deren Innenwände zum Teil mit Steinchen mosaikartig ausgelegt waren.
Properz’ und Sannazaros Dichterweihe 30
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Und deine Flöte, tegeischer Pan. Die Vögel der Herrin Venus, die Tauben, mein Gefolge, Tauchten ihre purpurnen Schnäbel in das Gorgonische Nass51 Und die neun Mädchen, denen der ländliche Ort vom Schicksal zugeteilt worden, Übten ihre Tätigkeiten aus mit ihren zarten Händen. Die eine flocht aus Efeu einen Thyrsos, die andere sang zur Leier, Die nächste flocht aus Rosen einen Kranz. Aus ihrer Zahl berührte mich eine Göttin (nach ihrem Aussehen zu schließen, war es Kalliope) und sprach: „Zufrieden wirst du immerfort von schneeweißen Schwänen gezogen werden, Nicht wird das streitbare Ross wiehernd dich führen zum Kampf. Es ist nicht deine Aufgabe mit rau ertönendem Horn das Signal zur Schlacht zu geben, Und auch nicht den Musenhain mit Schlachtenblut zu besudeln. […] Du wirst Verliebte besingen, die bekränzt an einer fremden Türschwelle stehen Und die Spuren, die ein Betrunkener auf der nächtlichen Flucht hinterlässt, So dass der, der die strengen und harschen Männer überlisten will, Mit deiner Hilfe die eingesperrten Mädchen mit Gesang herauszaubert.“ So sprach Kalliope, nahm aus der Quelle Wasser, und mit Philetas’52 Nass Netzte sie mein Gesicht.
Bei seiner Dichterweihe53 geht es Properz vornehmlich um die Legitimation der Liebeselegie, einer Gattung, die damals erst vor relativ kurzer Zeit ‚erfunden‘ worden war.54 Indem Properz zu zeigen versucht, dass er dazu einen göttlichen Auftrag erhalten hat, legitimiert und bestätigt er die ‚neue‘ Gattung und damit auch sein literarisches Werk. Properz’ Dichterweihe ist der Beschränkung auf eine einzige Gattung gewidmet. In Bezug auf andere Gattungen liegt eine Recusatio (Verweigerung) vor. Der letzte Punkt ist entscheidend. Wie Properz hat Sannazaro seine Dichterweihe in einer Elegie situiert. Aufgrund der intertextuellen Be51
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„Gorgonisches Naß“: gelehrte Umschreibung für die Musenquelle Hippokrene am Helikon. Die Musenquelle wird als Gorgonisch bezeichnet, weil sie durch den Hufschlag des Pegasos, des Rosses des mythischen Helden Bellerophon, entsprungen sein soll. Pegasos soll aus dem Rumpf des Ungeheuers Gorgo, der Meduse, entsprungen sein. Philetas aus Kos, hellenistischer Dichter; Theokrit bezeichnete ihn als sein Vorbild. Für die Dichterweihe des Properz siehe Kambylis, Die Dichterweihe, 125–190. J. B. Debrohun, Roman Propertius and the Reinvention of Elegy, Ann Arbor, Michigan 2003.
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ziehung erwartet der Leser zunächst, dass sich auch Sannazaro als Dichter des vorliegenden Werkes, also als Elegiker, legitimieren und dies weiter durch eine Recusatio bestätigen werde. Diese Beschränkung unterbleibt jedoch. Stattdessen zeichnet sich Sannazaro als Verfasser von Bukolik (Z. 35), von arkadischer Prosa-Poesie-Mischdichtung (Z. 39–44), ja des Epos („mox maiora vocant me numina“, Z. 44 ff.), dem sich Properz so nachhaltig verweigerte. Gerade aus der intertextuellen Beziehung mit dem Properztext geht Sannazaro als universaler Gattungskünstler hervor.
6. Der geniale Gattungswanderer: allegorisches Dichterleben auf den Spuren Vergils und darüber hinaus Vielleicht der berühmteste ‚Gattungskünstler‘ der Antike war Vergil, der sich gleich in drei Gattungen hervortat, der Hirtendichtung (Eklogen), der Lehrdichtung (Georgica) und dem Epos (Aeneis). Zugleich ist Vergil einer der wenigen römischen Dichter, von denen uns antike Biographien überliefert sind. Die von Sueton und Donatus ausgehende VergilBiographik lieferte das Modell eines vorbildlichen Dichterlebens. In dieser Biographik war das dichterische Werk Vergils sowohl chronologisch als auch hierarchisch gestaffelt. Der herkömmlichen Gattungshierarchie zur Folge wurde das Epos als die höchste, die Hirtendichtung als die unterste Stufe veranschlagt. Die Gattungshierarchie verquickte man mit einer straffen chronologischen Anordnung: Vergil habe mit der niedrigsten Gattung angefangen und sich zur höchsten, dem Heldensang, emporgearbeitet. Dieses doppelte Ordnungsprinzip hatte es in sich, für neulateinische Dichter ein Modell als Arbeitsprogramm, als ‚Lebensplan‘ oder als Selbstkonstituierungsmodul herzugeben. Sannazaros Vergilkult erhellt schon aus seinem Wohnort (Mergellina) und Grabmonument (Santa Maria del Parto)55 in der Nähe von Vergils Grab. Wie es sein Freund Pietro Bembo in dem Grabepigramm festlegte, wollte Sannazaro der Neulateiner sein, der Vergil am nächsten kam: „Streu Blumen der heiligen Asche: Hier ruht der berühmte / Sincerus, der als Dichter Vergil am nächsten kommt; wie auch sein Grab dem des 55
Vgl. A.Ch. Alabiso, „La chiesa di S. Maria del Parto: le vicende artistiche“, in: Carrella (Hrsg.), La chiesa di S. Maria del Parto, 67–79.
Der geniale Gattungswanderer
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Vergil am nächsten liegt“. Vergil nahm sich Sannazaro zum Vorbild, sowohl in Bezug auf sein Arbeitsprogramm als auch auf seinen Lebensplan. Wie Vergil fing er mit der Hirtendichtung an, wonach er sich zur höchsten Gattung, dem Epos, emporschwang. Das Epos, De partu Virginis, das er 1525/26 vollendete, betrachtete er als seine größte Leistung. Der Name der Kultkirche in der Nähe des Vergilgrabes, Santa Maria del Parto, ist nicht zufällig mit dem Epos verbunden. Beide, die Kirche wie das Epos, sollten das Fortleben des Dichters in alle Ewigkeit garantieren. In der Elegie III, 2 hat Sannazaro den in den Biographien überlieferten Arbeits- und Lebensweg Vergils seiner autobiographischen Selbstkonstituierung zugrundegelegt. Nach seiner Initiation als Dichter wendet sich Sannazaro zuerst der Hirtendichtung zu. Er „Da stimmte ich zum ersten Mal nach dem Takt der Hirten auf / Der Rohrpfeife ein Waldlied an, spielte / Im linden Schatten ein Lied, und weidete / Auf weiten Fluren unzählige Herden“ (Z. 35–38). Sannazaro betont, dass er es nicht bei der Hirtendichtung beliess, wie er (bis zu einem gewissen Grad paradoxerweise) in der allegorischen Verschlüsselung der Hirtenlandschaft mitteilt: Der Hirte Sannazaro bricht auf, verlässt seine Hütte. Er wandert durchs unwegsame Bergland und erforscht verwachsene Grotten, bahnt sich durchs Unterholz seinen Weg. Bei seinen „Wanderungen“ entdeckt der Hirte „verschiedene Flüsse“ (Z. 43–44). Was bedeuten die „Flüsse“? Die intertextuelle Beziehung zu Properz gibt Aufschluss. Denn die Fluss- und Wassermetaphorik tritt in der nämlichen Elegie III, 3 auf, in der Properz seine Dichterweihe beschreibt. Dort tadelt Apoll Properz dafür, dass er „aus einem solchen Fluss Wasser trinke“ („Quid tibi cum tali, demens, est flumine?“, III, 3, 15) – damit meint Apoll den Fluss des Epos. Die Fluss- und Wassermetaphorik bezieht sich somit auf Dichtungsgattungen. Wenn der Hirte Sannazaro verschiedene Flüsse entdeckt, bedeutet dies, dass er sich in verschiedenen Gattungen versucht. Die nächste Gattung, die er nunmehr „erblickt“, ist das Epos. Diese Bezugnahme ergibt sich aus der Formulierung „Bald schon riefen mich größere Götter zu sich“ (Z. 45). „Größere Götter“ bezeichnet die hierarchische Überordnung des Epos über andere Gattungen. Aus der intertextuellen Beziehung geht nebenbei hervor, dass Sannazaro den Dichter Properz übertroffen hat: Der erhabene Heldengesang, dem Properz nicht gewachsen war, ist die Gattung von Sannazaros Meisterwerk De partu Virginis. In der Vergil-Biographik stellt das ‚Erreichen‘ des Epos den Schlusspunkt dar. Nicht so bei Sannazaro. In seiner Wanderung durchs poeti-
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Die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie
sche Gattungsland zog Sannazaro in der Folge ans Meeresgestade und wandelte sich in einen Fischer: „Nicht weniger entbrannte in mir inzwischen das feurige Verlangen / Zu fischen, in den Meeresbuchten die Netze auszuwerfen, / Trügerische Köder in Reusen zu schließen / Und mit dem Haken die wellenflüchtigen Scharen zu locken“ (Z. 53–56). Indem Sannazaro selbstbewusst auf seine Fischer-Eklogen hinweist, verleiht er sich erneut den Status eines Gattungsbegründers. Stolz verzeichnet er: „Denn ich stieg als erster hinab zu den Wellen des Salzmeers, / Wagte als erster ungewohnte Klänge von mir zu geben“ (Z. 57–58). In dieser Selbstkonstituierung geht die Nachahmung (imitatio) in ehrgeizige Überbietung (aemulatio) über. Schneller als Vergil hat Sannazaro die höchste Gattung, das Epos, erreicht. Anders als Vergil ist er zweimal Gattungsstifter geworden. Während Vergil in nicht mehr als drei Gattungsflüssen strömte, reichte Sannazaros Wanderung weiter hinaus ins poetische Land. In einer kumulativen Auflistung führt Sannazaro weitere Gattungsströme auf, in denen er Leistungen erbrachte: Elegien (Z. 59–60), Verse „mit scherz- und ernsthaftem Inhalt“ (Epigrammata, Z. 61–62) und außerdem „vieles andere in der Sprache der Etrusker“, d. h. im Volgare (Z. 63–64). Damit übertrifft der geniale Gattungswanderer sein Hauptvorbild, den Gattungskünstler Vergil.
7. Verbannung aus der Dichterlandschaft – eine Rechtfertigung des Inspirationsverlustes? Nach den erfolgreich bestandenen Wettkämpfen mit Properz und Vergil droht Sannazaros Dichterautobiographie in ungezügeltes Selbstlob zu entarten. Jedoch tritt überraschenderweise der gegenteilige Effekt auf: Der letzte und dritte Abschnitt der Autobiographie (Z. 65–116) wird vielmehr von Depression und Trauer bestimmt. Sannazaro beklagt, dass seine dichterische Kraft nunmehr geschwunden sei. „Weder im Regen noch im Sonnenschein“, d. h. niemals, wird ihm noch Inspiration zuteil („cum nullum interea frugis genus imbre vel aestu / Redderet ingenio Musa vocata meo“, Z. 85–86). Er entschuldigt sich für die starre, traurige Unbeweglichkeit seines Geistes: Wie eine schlimme Krankheit hat ihn depressive Untätigkeit („segnities“) befallen. Sein Geist ist eine Ruine, die unaufhaltsam abbröckelt und bald einstürzen wird. Indem er sich bei der Nachwelt, posteritas (Z. 101), bei den Freunden (Z. 107) und bei Cassandra (Z. 111) entschuldigt, nimmt er seinen herannahenden Tod vorweg:
Verbannung aus der Dichterlandschaft 101
107 111
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Entschuldige wenigstens du, gute Nachwelt, meine Depression, Die bewirkt, dass mein Ruhm als Dichter verächtlich gering ist Und dass ich der Segnungen der Musen beraubt werde und den Ruf eines Berühmten Sängers verliere und auch noch meine, dass ich für dieses Elend verantwortlich bin […]. Und auch ihr, meine Freunde, verzeiht mir meine Faulheit und Trägheit, Dem die mitleidlose Natur ihre Segnungen verweigert […]. Und auch du, Cassandra, die du Zeugin bist meines, sei’s drum, trägen Greisenalters, Der dir allein das Recht zukommt, über mein Begräbnis zu entscheiden, Sorge dafür, dass meine Asche und Gebeine ins Grab gelegt und geweiht werden, Vergiss nicht, deinem Sänger die letzte Ehre zu erweisen. Rauf dir jedoch, mein Liebling, nicht das Haar wegen mir, ach ich Armer, Oder – ach, mein Schmerz verbietet mir weiterzureden (Z. 101–116 ).
So mündet Sannazaros Abschiedselegie in Bedauern, Entschuldigungen, Melancholie, Depression und Selbstkasteiung, wodurch sich der Dichter sozusagen von der Bühne wegschreibt – dem Schmerz freie Bahn lässt, der ihm das weitere dichterische Wort verbietet. In welcher Hinsicht bedauert Sannazaro den Verlust der dichterischen Schaffenskraft? Schenkt man den Worten des Dichters („Entschuldige“, „Verzeiht“; „ignosce“, „parcite“) Glauben, hat es den Anschein, als wollte er sich für seine mangelnde Schaffenskraft rechtfertigen. Dazu passt, dass er für sein Versagen einen äußerlichen Grund angibt: die Vertreibung aus der Dichterlandschaft, das Exil („exilia“, Z. 70). Dies verbindet er mit den Ereignissen, die den Untergang des Hauses Aragon herbeiführten. Die Abdankung des Königs Federigos III., die Abreise nach Frankreich und schliesslich der Tod des Königs bilden den Wendepunkt:
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Aber dort (im Exil, Anm.) mussten wir endlich deinen Tod betrauern, bester König von allen, So heftig, wie Hecuba um ihre Kinder weinte, So heftig, wie Cassandra mit aufgelöstem Haar ihre Brüder beweinte, So heftig wie Andromache, als sie die Gebeine ihres Gatten auflas. Oh unglückliches Los, oh trügerisches Schicksal, was machten wir damals? Oh Kahn, der an einem traurigen Ort unterging! Als meine Muse, wenn ich sie anrief, keine Frucht mehr brachte, Gleichgültig ob im Sonnenschein oder im Regen. Und ich wundere mich noch, wenn meine armselige dichterische Ader, Von so einer so langen Trauer bedrückt, ihre Kräfte verlor? Selbst Homer, der Verherrlicher der Götter und Menschen,
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Die Verlandschaftung des Ichs: Sannazaros Abschiedselegie Wäre in einer solchen Situation versiegt, der doch keineswegs träge war im Bespielen der Leier; Ja der Erfinder des Liedes selbst, Apoll, wäre versiegt, Der doch die heilige Quelle der Musen besitzt.56
Die Begründung Sannazaros erscheint in mehrfacher Hinsicht plausibel. Er hat seine Dichterlandschaft erstens verloren, indem er seine Heimat Neapel verlassen, zweitens, indem er seine Akademikerkollegen dort zurücklassen musste; drittens verlor Sannazaro, als der König starb, sein letztes Zuhause, den Königshof, das inspirierende soziale Ambiente, das ihm die Aragonen geboten hatten. Hirten- und Hofleben gehören zusammen: Es lässt sich verstehen, dass die Hirten, wenn sie vom Hof entfernt sind, sich entheimatet und elend fühlen. Obwohl diese Erklärungen annehmlich und plausibel sind, können sie in dieser Form nicht auf Sannazaros reale Biographie zutreffen. Sannazaro hat den König 1502–1504 zwar in der Tat ins Exil nach Frankreich begleitet. Jedoch lässt sich die nachfolgende Zeit (1504–1527) beim besten Willen nicht auf den gemeinsamen Nenner der fehlenden Schaffenskraft bringen. Vielmehr hat Sannazaro den größten Teil seines lateinischen Werkes, darunter seine literarischen Großtaten – das Epos De partu Virginis, die Fischereklogen, die Elegien – gerade in dieser Periode verfasst! Das Epos, das ihm so großen Ruhm einbrachte, hatte er eben erst vollendet (1525/1526). Wie das Epos, waren die Fischereklogen gerade im Druck erschienen (1526). An den Elegien arbeitete er noch stets, insbesondere an der Vollendung des dritten Buches. Die Tatsache, dass ein lateinischer Autor in einem lateinischen Gedicht, das er gerade schreibt, behauptet, er könne nicht mehr dichten, hat etwas reizvoll Paradoxes an sich. Jedenfalls ist schwer nachvollziehbar, dass Sannazaro aufgrund der Sachlage, die sich ihm kurz nach 1526 darbot, einen zwingenden Grund gehabt hätte, sich für seine mangelnde Produktivität zu entschuldigen. Das auf den ersten Blick Verständliche gerät somit zum Rätsel.
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Elegie III, 2, Z. 79–92.
Autobiographenethos: Exil und Sprachverlust
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8. Das passende Ethos des Autobiographen: Exil und Sprachverlust Die Lösung des Rätsels lässt sich aus der Intertextualität ableiten. Sannazaro sagt, dass es bei all dem Elend kein Wunder gewesen ist, dass seine „armselige dichterische Ader“ („parvula vena“, Z. 88) versiegt sei. Diese Formulierung macht dem Leser das Angebot, Sannazaros Autobiographie mit Ovid, Tristia III, 14, 34 zu verbinden. Ovids Exildichtung hat sich bereits mehrfach als brauchbares Modell für die neulateinische Autobiographik erwiesen (z. B. Petrarca, Campano, Eobanus Hessus). In Tristia III, 14 entschuldigt sich Ovid bei seinen Lesern für die magere Qualität seiner Verse. Der Leser möge berücksichtigen, in welcher Situation sie entstanden sind – im Exil, mitten im Barbarenland. Das Elend habe Ovids Geist gebrochen, seine an sich schon armselige dichterische Ader („parvaque vena“) zum Versiegen gebracht: Aequus erit scriptis, quorum cognoverit esse Exilium tempus barbariamque locum: Inque tot adversis carmen mirabitur ullum Ducere me tristi sustinuisse manu. Ingenium fregere meum mala, cuius et ante Fons infecundus parvaque vena fuit. Sed quaecunque fuit, nullo exercente refugit Et longo periit arida facta situ (Z. 29–36).
Ovid gesteht zu seiner Scham, dass er oft mit dem Dichten anfängt, dass aber nichts dabei herauskommt. Es wollen ihm einfach keine Worte mehr einfallen, die Inspiration ist versiegt: „Dicere saepe aliquid conanti – turpe fateri! – / Verba mihi desunt dedidicique loqui“ (Z. 45–46). Indem er den Leser um Vergebung bittet, bietet er ihm das dritte (!) Buch seiner Trauergedichte an. Sannazaro hat seine Autobiographie somit in ihrem dritten Teil in den Trauerdiskurs der autobiographischen Exilelegien Ovids eingeschrieben. Die Behauptung des Sprachverlustes, die Klage über das Versiegen der dichterischen Ader dient als akzeptable Form, das Wagnis der Selbstdarstellung auf sich zu nehmen. Die Selbsterniedrigung bildet ein passendes Antidotum gegen die Selbsterhöhung, die aus den mächtigen, heroischen Kulturleistungen des Gattungskünstlers sowie seiner göttlichen Legitimation als gekrönter Dichter hervorgeht. Der humanistische Kulturheld schreibt sich in die internationale, ewig dauernde Respublica litteraria paradoxerweise ein, indem er sich abschreibt.
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
XIX. Diskurskaleidoskop. Die multiple Autobiographik des österreichischen Edlen Sigmund von Herberstein (1553–1564) 1. Einleitung. Autobiographik eines Mannes ohne Eigenschaften, im Licht der zweiten Selbstbiographie (bis 1553) Alle menschen sollen billichen dermasen auf erden leben, damit sy mügen unnd sollen Raittung geben Ihres thuns unnd wesens, damit man müg sprechen, das ainer gelebt habe. Das hat mich bewegt, sölich mein Raittung meines lebenns zu beschreiben, Ob yemant, unnd sonderlichen meines namens, ichtes daraus nehmen wollte, dem nachzuvolgen, oder merers unnd Eerlicheres für sich zu nehmen, unnd nach seinem thün den nachkhomenden ein pessere anweisung zu geben.1 Alle Menschen sollen dergestalt redlich auf Erden leben, damit sie Rechenschaft ihres Tuns und ihres Daseins ablegen können, auf dass man sagen könne, der betreffende Mensch habe wahrlich gelebt. Diese Anforderung hat mich motiviert, auf diese Weise einen Rechenschaftsbericht meines Lebens zu verfassen, damit andere, und besonders meine Nachkommen in männlicher Linie, sich daraus etwas abschauen und es nachmachen können, oder sich größere und ehrenvollere Taten vornehmen und durch sie ihren Nachkömmlingen bessere Anweisungen geben können.
Auf diese Weise leitet der steirische Edelmann Sigmund von Herberstein (1486–1566), der durch die Beschreibung seiner Russlandreise europaweiten Ruhm erwarb, die zweite seiner insgesamt sieben Autobiographien ein. Die Tatsache, dass Sigmund von Herberstein gleich sieben Autobiographien in deutscher und lateinischer Sprache und nebenher eine Genealogie, mehrere familiengeschichtliche Werke, ausführliche Berichte seiner Russland-, Polen- und Spanienreisen, sowie zahlreichere 1
Vgl. Th. G. von Karajan (Hrsg.), Tagebuch, 1477 bis 1495 von Johannes Tichtel. Selbstbiographie, 1486 bis 1553 von Sigmund von Herberstein. Tagebuch 1502 bis 1527 von Johannes Cuspinian. Denkwürdigkeiten, 1519 bis 1553 von Georg Kirchmair (Fontes rerum Austriacarum, Abt. 1, 1), Wien 1855, 69.
Ein Mann ohne Eigenschaften
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kleinere Berichte über sein Leben und tagebuchartige Aufzeichnungen verfasste, weist auf ein außerordentlich starkes Interesse an seiner eigenen Person hin. Dies könnte darauf hindeuten, dass dieser Autor, der an den Brandherden der europäischen Politik operierte, geradezu eine narzißtische, in sich selbst verliebte Persönlichkeit war, deren Eigenliebe so weit fortgeschritten war, dass sie sich selbst fast täglich festhalten und festschreiben wollte. Demgegenüber überrascht, dass Von Herberstein auf insgesamt vielen hunderten Seiten autobiographischen Schreibens nur ganz ausnahmsweise über seine Gefühle und persönlichen Ansichten redet. Weshalb? Von Herbersteins Autobiographien beruhen weder auf einem autobiographischen Selbstzweck, noch sind sie von einer angeborenen Eitelkeit des Edelmanns her erklärlich, sondern haben auf mehrfache Weise einen zweckbestimmten Sitz im Leben. Das Vorwort der hier zitierten, handschriftlich überlieferten, zweiten, in der deutschen Sprache verfassten Autobiographie zeigt eine wesentliche Komponente des Herbersteinschen autobiographischen Drives auf: Er möchte seinen Nachkommen männlicher Linie, jenen, die in Zukunft seinen Namen tragen werden, ein wirksames Vorbild und einen nützlichen Leitfaden für ihr Verhalten überliefern: Er möchte sie anleiten, gleiche Leistungen zu erbringen wie er oder die seinen zu übertreffen. In der zweiten, sehr ausführlichen, handschriftlichen Autobiographie stand ihm jedoch in erster Instanz kein Tugendspiegel vor Augen: Tugenden werden in ihr kaum je benannt. Von Herberstein mag zwar jeden Zoll ein Ritter sein, aber es geht ihm in dieser Autobiographie nicht darum, seine Rittertugend darzustellen. Noch geht es ihm um die Verherrlichung seiner Abstammung: Die Autobiographie bietet keine Genealogie noch ist sie in einen genealogischen Zusammenhang eingebunden. Auch geht es ihm nicht um ein Festschreiben seiner adeligen Lebensweise, im Kreis seiner Familie, auf dem Familienschloss, mit allem was dazugehört. Im Gegenteil: Laut seiner Autobiographik verblieb dieser Edelmann nur ausnahmsweise auf seinen angestammten Besitzungen. Meistens war er auf Reisen: in Ungarn, Polen, in der Tschechei, im Baltikum, in Russland, Italien, Spanien, im Deutschen Reich, in den Niederlanden usw. Übrigens hat er ungleich mehr erreicht als sein Vater Leonhard von Herberstein, der auf dem peripheren Schloss Wippach (Vipava, heute Slowenien) die Stelle eines Schlosshauptmanns, Pflegers und Landesrichters bekleidete. Seine Karriere führte Sigmund von Herberstein an die Position eines Topdiplomaten, der im Dienst der Habsburger die europäische Politik mitgestaltete. Schon von daher war er nicht geneigt, seinen Nach-
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
kömmlingen die bloße Weiterführung der angestammten adeligen Lebensweise als höchstes Gut zu überliefern. Er hoffte, dass seine Familie künftig seine politisch-diplomatischen Leistungen fortsetzen werde und wollte ihr zeigen, wie man dies zustandebringen könne. In diesem Sinn ist der von ihm in der zweiten Autobiographie angesprochene Rechenschaftsbericht („Raittung geben“) seines Lebens zu verstehen: „Rechenschaft ablegen“ nicht in philosophisch-ethischer, religiöser oder ideologischer Hinsicht, sondern mit einer dominant praktischen Zielrichtung. Weiter spielt für Von Herberstein Apologetik keine maßgebliche Rolle. Es geht ihm nicht um eine Verteidigung der Richtigkeit seines Handelns. Dazu gab das beabsichtigte Publikum seiner Familienmitglieder auch keinen Anlass. Weshalb hätten sie ihn „anklagen“, weshalb zur Verteidigung und Rechtfertigung zwingen wollen? Mit „Raittung geben“ meint Von Herberstein hier vor allem eine praxisorientierte Berichtgebung seiner diplomatischen Tätigkeit. Wenn seine Nachkommen in Zukunft Erfolg haben sollen, ist die Vermittlung praktischen Wissens entscheidend. Die hier angesprochene Autobiographie funktioniert im Diskurs der praktischen Diplomatie. Dieser Diskurs erklärt zugleich das geringe Maß in der Wiedergabe von Gefühlen und persönlichen Stellungnahmen. Wir wollen freilich gerne wissen, wie Sigmund von Herberstein es mit der Religion hielt, welche Gedanken ihn bei bestimmten historischen Ereignissen beseelten, was er über die gekrönten Häupter seiner Zeit dachte usw. Für sein Darstellungsziel wären schlüssige Aussagen dazu jedoch nicht nur uninteressant, sondern geradezu schädlich gewesen. Ein Diplomat kann nur erfolgreich sein, wenn er nicht versucht, den anderen seine persönlichen Auffassungen aufzudrängen. Von Herberstein sprach mit Wassilij, dem Großfürsten von Moskau, gewissermaßen der personifizierten Alterität, Von Herberstein sprach mit dem personifizierten Teufel, dem Feind aller Christen, Sultan Süleyman II., der Innerösterreich und die Steiermark verwüstet, die Bevölkerung gemordet, Dörfer und Kirchen verbrannt, der den Balkan und Ungarn überrannt und Wien belagert hatte und Europa unter das Joch der Pforte bringen wollte. Die Gesandtschaft zu Süleyman II. wäre schon von vorneherein zum Untergang verdammt gewesen, wenn Von Herberstein den Sultan darüber belehren hätte wollen, was die wahre Religion sei. Respekt vor dem anderen, Diskretion, Zurückhaltung in Bezug auf die persönlichen Ansichten hatten nicht nur einen wichtigen Sitz in Von Herbersteins Leben, sondern stellen ein wesentliches Lehrziel der Autobiographie dar. Sie bewirken, dass der Mensch das nahezu Unmögliche
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zustandebringt, mit dem Teufel reden kann. Zur Audienz bei einem türkischen Sultan gehörte eine tiefe Verbeugung mit Handkuss. Als Von Herberstein bei Süleyman II. (der gerade erneute Brandschatzungen und Eroberungen vorbereitete) war, wurde er von heftigen Lendenschmerzen geplagt, welche die obligatorische tiefe Verbeugung zur Höllenqual machten. Süleyman II. streckte jedoch seine Hand nach oben hin, so dass Von Herberstein den Handkuss im Stehen vollziehen konnte. Von Herberstein räumte ein, dass man daraus auf Güte und Barmherzigkeit des Sultans schließen müsse: „Das ich Ime ye zw ainer güete unnd Barmhertzigkeit Raitten unnd auslegen muess“.2 In dieser Hinsicht macht es Sinn, in der Autobiographie keine Eigenschaften seiner selbst zu benennen, nicht von sich zu reden. Von Herberstein ist ein Mann ohne Eigenschaften, nicht weil er keine besaß, sondern weil er keine beredet. Es geht ihm in seiner zweiten, sehr umfänglichen, in deutscher Sprache verfassten, handschriftlichen Autobiographie zuvorderst um Tatbestände geographischer, diplomatischer und materieller Natur: Wie man von Ort A an Ort B kommt, wie lang die gesamte Wegstrecke, wie lang die jeweiligen Etappen und Wegstücke sind, wie viel Zeit man für sie braucht, welche Verkehrsmittel zu wählen sind, welche Schwierigkeiten unterwegs überwunden werden müssen, wo man die notwendigen Vorräte (z.B. Pferdefutter) bekommt, wo man übernachten bzw. vor welchen Quartieren man sich hüten soll; mit welchen Witterungsumständen (Regen, Überschwemmungen, Schneefall; heftige Stürme bei bestimmten Schiffsreisen) man rechnen muss; mit welchen kulturbedingten Besonderheiten (Trink-, Eß-, Jagdgewohnheiten usw.) man sich auseinandersetzen muss, von welchen politischen Strukturen auszugehen ist, welche Besonderheiten die höfische Etikette und die kirchlichen Zeremonien je aufweisen; was der Zweck der einzelnen diplomatischen Verhandlungen war, wie sie angelegt wurden, was ihren Verlauf bestimmte; auf welche Weise der Empfang bei dem betreffenden Fürsten stattfand, wer zugegen war, in welcher hierarchischen Aufstellung; welche Schriftstücke überreicht, welche Reden gehalten wurden und was ihr Inhalt, mehrfach sogar, was ihr Wortlaut war; was vorfiel, welche Sachlagen welche Tatbestände hervorbrachten, was im Einzelnen zu beachten war. Nun ist es nicht bei dieser Von Herbersteins Leben bis zum 67. Jahr darstellenden Autobiographie geblieben. Der multiple Charakter der Herbersteinschen Autobiographik eröffnet interessante Möglichkeiten, das Diversitätspotential frühneuzeitlicher Autobiographien zu verste2
Vgl. die Ausgabe Von Karajans, 334.
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
hen, da es ja ein und derselbe Mann war, der sieben unterschiedliche Autobiographien hervorbrachte. Die Tatsache, dass zwei Autobiographien in handschriftlicher Form, fünf jedoch im Druck vorliegen, dass fünf in deutscher Sprache, zwei jedoch auf Lateinisch verfasst sind, ist an sich erklärungsbedürftig. Tersch bemerkt in dem Von Herberstein gewidmeten Kapitel in seinen Österreichischen Selbstzeugnissen, in denen er die Ego-Dokumente von Österreichern der Frühen Neuzeit in bewundernswerter Breite erschloss, dass in Bezug auf das Verhältnis der Herbersteinschen Autobiographien noch eingehende Studien fehlen. Tersch versucht die Unterschiedlichkeit der Herbersteinschen Autobiographien in die Termini (Text)„Überlieferung“, (Text)„Varianten“, „Übersetzung“, und (historische) „Quellen“, die einander „ergänzen“, zu fassen.3 Diese begriffliche Einordnung lässt sich jedoch m.E. nicht durchhalten und lenkt von wesentlichen Aspekten ab. Ich glaube nicht, dass hier Varianten einer bestimmten „Überlieferung“ vorliegen, die auf irgendeine Weise als textlich homogen zu betrachten ist, sondern divergente, grundsätzlich eigenständige Texte, die sich im Hinblick auf ihre Diskursivität und zum Teil auch auf ihren Publikumsbezug unterscheiden. Der Autor verfolgte mit den in Druck gegebenen Autobiographien nicht unbedingt dieselben Ziele wie mit den handschriftlichen, und mit den lateinischen nicht dieselben Ziele wie mit den deutschen. Tersch hingegen betrachtet Zielsetzung und Publikum der Autobiographien als homogen: Sie richten sich alle an dasselbe Publikum und verfolgen denselben Zweck: Nach Tersch richtete sich Von Herberstein mit allen Autobiographien an seine Familie, wobei er die Werke als „Wegweiser, die den Jüngeren Richtlinien und ethische Werte wie Treue, Ehre, Fleiß, Arbeitsamkeit usw. vermitteln sollen“, konzipierte.4 Zum Verhältnis der lateinischen und der deutschen Autobiographie verzeichnet Tersch: „Das lateinische Werk gilt als das ursprünglichere 3
4
H. Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (1400–1650 ). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen, Köln-Weimar-Wien 1998, 194: „die erste Gruppe besteht aus zwei handschriftlichen Varianten der Lebensbeschreibung […]. Die zwei Überlieferungen stimmen in ihrem Grundaufbau überein, weichen jedoch in Umfang und inhaltlichem Detail voneinander ab […]. Beide Texte ergänzen einander in einzelnen Hinweisen“; 196: „die vom Verfasser in Druck gegebenen Werke […] sind wichtige Ergänzungen zu den Manuskripten […]. Das lateinische Werk gilt als das ursprünglichere und in der Chronologie genauere […], während die deutsche Arbeit über weite Strecken als eine äußerst freie Übersetzung angesehen werden kann“. Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse, 196–197.
Ein Mann ohne Eigenschaften
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und in der Chronologie genauere […], während die deutsche Arbeit über weite Strecken als eine äußerst freie Übersetzung angesehen werden kann“. Diese Einschätzung ist unrichtig: Die lateinische Autobiographie ist nicht die ursprünglichere, sondern erst nach der deutschen (der gedruckten, auf die sich Tersch hier bezieht) entstanden. Die 1558 bei Raphael Hofhalter in Wien erschienene lateinische Autobiographie ist durch einen Vermerk des Autors zum Jahr 1558 genau datiert: „MDLVIII Haec conscripsi, anno aetatis LXXII exacto“ („1558 habe ich dieses Werk geschrieben, nach vollendetem 72. Lebensjahr“). In der deutschen, ohne Erscheinungsjahr im Druck erschienenen Autobiographie fehlt dieser Vermerk; überhaupt berichtet sie die Ereignisse nur bis zum Jahr 1556. Diese deutsche Autobiographie ist jedenfalls vor der lateinischen verfasst worden, vielleicht schon 1556 oder 1557 (und wahrscheinlich auch vor dieser im Druck erschienen). Demnach kann die deutsche Autobiographie auch keine (freie) Übersetzung der lateinischen sein. Was den Lebensbericht angeht, ist die Annahme, dass die lateinische Autobiographie in der Chronologie genauer ist, ebenfalls unrichtig. Das chronologische Gewebe der deutschen ist in den meisten Fällen präziser und feinmaschiger. Während es in der lateinischen Autobiographie zumeist bei einer annalistischen Zuordnung zu einem bestimmten Jahr bleibt, liefert die deutsche sehr häufig auf den Tag genaue Datierungen. Zum Beispiel datiert die deutsche Autobiographie sehr häufig die Tage der An- und der Abreise präzise, während dies in der lateinischen nur ausnahmsweise der Fall ist. Ist die gedruckte lateinische Autobiographie etwa umgekehrt eine (freie) Übersetzung der gedruckten deutschen? Auch dies ist nicht der Fall. Die Texte divergieren völlig. Die zwischen 1556 und 1558 verfasste deutsche Autobiographie fängt mit einer längeren theoretischen Einleitung (11 Seiten)5 und sodann mit einer ausführlichen Familiengeschichte (23 Seiten)6 an. Diese beiden Abschnitte sind in der 1558 erschienenen lateinischen nicht vorhanden. Die Folge dieser Tatsache ist immerhin, dass in ihr schon einmal ungefähr die Hälfte des Textes der deutschen nicht vorhanden ist. Wenn man den Text im Detail vergleicht, zum Beispiel die Berichte zum Jahr 1541, so ergibt sich, dass von einer „Überset5
6
Sigmund Freyherr zuo Herberstain, Neyperg und Guettenhag oberster Erbcamrer und oberster Druchsas in Kaernntn, Den Gegenwurtign und nachkomendn Freyherrn zu Herberstein […], Wien, R. Hoffhalter s.d., f. A ii r – Biii r. Ebd., f. Biii v – Dii v.
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
zung“, wenngleich einer freien, nicht die Rede sein kann: Die Texte weichen von einander völlig ab. Über Wortwahl und Syntax braucht an dieser Stelle nicht einmal geredet werden, da schon der Inhalt größtenteils ein anderer ist! Wir werden auf diese Divergenzen sogleich zu sprechen kommen. Außerdem stellt sich heraus, dass es nicht, wie Tersch angibt, zwei gedruckte Autobiographien (eine auf Deutsch, eine auf Latein), sondern deren vier gibt (zwei auf Deutsch, zwei auf Latein). Es handelt sich keinesfalls um bloße Nachdrucke. Die Textzusammenstellung divergiert erheblich, ebenso wie das Format und die Textillustrationen. Die zweite deutsche Autobiographie ist undatiert. Die zweite lateinische folgt wiederum auf die zweite deutsche, und weist ein klares Druckdatum auf (1560). Der von Tersch so hergestellte Monolith eines homogenen und zusammengehörigen, sich selbst „ergänzenden“ autobiographischen Riesenwerkes im Sinne einer historischen Dokumentation verdeckt uns die Sicht auf das, was Von Herberstein jeweils vorschwebte, sowie auf den jeweiligen besonderen Sinn seiner Diskurszuordnungen. Zum Beispiel hat er die lateinische Autobiographie nicht, wie Tersch den Text einstuft, zu dem Zweck verfasst, dass er dem Leser mit einem „meist trockenen Handlungsgerüste“ „wichtige Ergänzungen“ zu den beiden langen deutschen Autobiographien zur Hand reiche.7 Das Publikum der beiden lateinischen Autobiographien ist nicht mit dem der beiden handschriftlichen und den beiden gedruckten deutschen Autobiographien identisch. Sigmund von Herberstein ging nicht davon aus, dass das Lesepublikum der lateinischen Autobiographien die beiden umfänglichen handschriftlichen deutschen Autobiographien zur Hand hatte. Dass er in den beiden Handschriften Marginalnotizen anbrachte, bedeutet auch nicht, dass Von Herberstein die Handschriften autorisierte.8 Wir dürfen nicht ausschließen, dass es gewisse Gründe gab, dass Von Herberstein diese Texte, anders als die fünf publizierten Autobiographien, nicht in den Druck gegeben hat.
7 8
Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse, 196. Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse, 194.
Vom Botschafterbericht zum Adelsbuch
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2. Diskursumbruch. Vom Rechenschaftsbericht des Botschafters zum Adelsbuch (1556–1558) Die erste gedruckte deutsche Autobiographie9 richtet sich, wie auf der Titelseite zu ersehen ist, wie schon die Handschriften, zunächst ebenfalls an die männlichen Mitglieder des Geschlechts Herberstein, den damals lebenden und den künftigen: „den Gegenwurtigen und nachkomendn Freyherrn zu herberstein“. Während es in den Handschriften jedoch um einen sehr detaillierten Rechenschaftsbericht des Botschafters ging, der sich als konkrete Anleitung für die diplomatische Tätigkeit verstand, tritt uns hier eine andere Fokussierung vor Augen: Ungefähr drei Viertel der konkreten Angaben wurden gestrichen; genaue Angaben zu Wegstrecken in Meilen, Weg-, Übernachtungs-, Bevorratungs- und Witterungsumstände fehlen, ebenso wie konkrete Angaben zu Etikette und Religion, sowie zu kulturbedingten Besonderheiten. Wie das Vorwort gleich zu Beginn explizitiert, gilt das primäre Interesse der Genealogie bzw. der Familiengeschichte des Geschlechts Herberstein: Wie gemainglichen alle Völcker und Geschlaecht sich ihres alltn heerkhumens berühmen und erfreyen, Also hab auch ich mit grosser begier mich underfangen meiner voreltern Namen unnd die nacheinander geporn sein, zu erkundigen und zubeschreiben. Gleichwol solche begiert mir spat zukhumen ist, das ich mich in leben meines Vatters, auch Friderischen von Herberstain der Eltern nit erkhündigen mügen.
Von Herberstein veröffentlichte also eine Familiengeschichte, der eigene Lebensbericht ist ein Bestandteil der Genealogie. Das ist kein leerer Aufhänger. Von Herberstein liefert im Vorwort (f. A ii r-B iii r; 11 Seiten) weitere Überlegungen zu Sinn und Funktion eines genealogischen Werkes. Weiter behandelt er im Vorwort für diese inhaltliche Fokussierung bezeichnende Topoi, wie das Familienschloss: „Mein Vater Herr Leonhart, hat das Schloss Wippach am Carst von Kayser Fridrichen gehabt […]“ (f. E r). Sodann folgt zur Dokumentation der integrale Abdruck eines Schriftstückes, des Briefes eines Familienmitglieds an den Autor. Der nächstfolgende Abschnitt ist zur Gänze der Familiengeschichte gewidmet: Von Herberstein behandelt die Herbersteins bis auf seinen Bruder und ihn selbst (f. B iii v – D ii v, 23 Seiten). Die Familiengeschichte ist in diesem Abschnitt mit großer Genauigkeit dargestellt. 9
Z. B. Österreichische Nationalbibliothek, BE.10.Q.32.
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
Zahlreiche Dokumente bestätigen den Adel, das Alter und das Ansehen des Geschlechts. Nach Behandlung einiger noch lebender Herbersteins folgt der Bericht des eigenen Lebens (f. E r – L ii v), von der Geburt bis zum Jahr 1556. Das Werk schließt abermals mit Adelsdokumenten: Schriftstücken, welche von den Habsburgern ausgefertigt wurden und Ernennungen und Verleihungen zum Inhalt haben, zum Beispiel die Erhebung Sigmund von Herbersteins in den Freiherrenstand (f. L iii r – !O ii" v, ca. 23 Seiten). Innerhalb der Genealogie ist die Lebensbeschreibung Sigmund von Herbersteins sinnvoll: Er ist derjenige, der von allen seinen Familienmitgliedern die höchsten Ehren davongetragen hat; er ist es, der seine Familie in ihren bis dato höchsten Adelsstand, den Freiherrenstand, gebracht hat. Davon zeugt auch das groß gedruckte, prächtige Freiherrenwappen Sigmund von Herbersteins am Anfang des Buches. Diesen erhöhten Adelsstand hat Sigmund von Herberstein durch seine Lebensführung, will sagen, seine Taten erreicht. In der Darstellung verbindet er den Ruhm seiner Familie mit seinem persönlichen Ruhm. Der Diskurs des Werkes ist von der Zurschaustellung des Adelsruhmes bestimmt. Damit ist weiter der erhöhte und explizite moralische Anspruch verbunden, den Von Herberstein in und mit dem Werk erhebt. In der handschriftlichen Autobiographie ist der moralische Anspruch weniger nachdrücklich und nur implizit vorhanden – es ging ihm dort vor allem um eine möglichst genaue Nachfolge seiner die praktische Diplomatie betreffenden Vorgaben. In der ersten gedruckten deutschen Autobiographie geht es jedoch um allgemeine Anspornungen zur Tugend. Die Familienmitglieder sollen sich in ihrer Lebensführung ihrem Stand, der Familie Herberstein und nicht zuletzt ihrem großen Familienmitglied Sigmund von Herberstein würdig erweisen. Sigmund von Herberstein präsentiert sich im Vorwort offen als Tugendvorbild (f. A ii r-v). Natürlich vermittelt der Adel angeborene Rechte, jedoch auch, was wichtiger ist, Pflichten. Eine tugendhafte Lebensweise, das Erbringen von respektablen Leistungen, ist unabdingbare und hauptsächliche Pflicht. Der Benutzer des Textes soll sich stets vor Augen halten, dass der Adel nicht vom Anbeginn der Welt dawar, sondern erst durch großartige Leistungen erworben werden musste. Sigmund von Herberstein ist das Musterbeispiel dieser Tatsache: Er hat gezeigt, wie’s gemacht wird, seine Familienmitglieder sollen es ihm nachmachen. Der Diskurs des Adelsbuches bestimmt den den Lebensbericht im engeren Sinn: Tatsachen, die nichts mit dem Ruhm und dem Ansehen Sigmund von Herbersteins zu tun haben, werden gestrichen. Es geht
Die erste lateinische Autobiographie
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Von Herberstein nicht darum, seinen Nachfahren möglichst konkrete Angaben zur Ausübung politisch-diplomatischer Tätigkeiten zu liefern. Da es ihm vor allem um sein Ansehen zu tun war, ist verständlich, dass in diesem Diskurs die vielen Detailangaben der handschriftlichen Autobiographien (Wegstrecken, Witterungsumstände, Viehfutter etc.) fehlen: Sie machen diesbezüglich keinen Sinn. Sinnvoll hingegen sind Details des Hoflebens, aus denen Von Herbersteins hohe Stellung hervorgeht, insbesondere solche, die seine Beziehung zu den drei Habsburgern, Kaiser Maximilian I., Kaiser Karl V. und Kaiser (Erzherzog) Ferdinand hervorheben. Die Illustrationen, sämtlich Herrscherporträts, dienen dazu, diese Beziehungen zu betonen und bildlich zu beglaubigen. Dies führt uns zu der Frage, weshalb Von Herberstein diesen Text drucken ließ. Wenn er seine Familienmitglieder zur Tugend hätte anspornen wollen, möchte man meinen, hätte es genügt, dass sie den Text in handschriftlicher Form rezipiert hätten. Die Publikation ist aber in mindestens ebenso großem Ausmaß vom Diskurs adeliger Selbstpräsentation getragen. Sigmund von Herberstein zeigt sich allen, die lesen können und die deutsche Sprache verstehen, in vollem Ornat, als Freiherr und Diener der Habsburgischen Kaiser, im Rahmen seiner Adelsfamilie, bestätigt von Urkunden und Dokumenten.
3. Vom Adelsbuch und vom Rechenschaftsbericht des Botschafters zur Posteritas-Publikation: die erste lateinische Autobiographie (1558) Obwohl Von Herberstein auf der Titelseite seine Adelstitel vermeldete,10 konstituiert er sich in der ersten lateinischen Autobiographie nicht, wie in der gedruckten deutschen, im Diskurs des Adelsbuchs bzw. der Genealogie. Er strich das Vorwort, in welchem er in der deutschen gedruckten Fassung seine Autobiographie als Bestandteil der Genealogie positionierte, ebenso wie den ausführlichen genealogischen Abschnitt. Die Adressaten sind nicht mehr die männlichen Mitglieder des Hauses Herberstein (auch nicht in erster Instanz), sondern Posteritas, das internationale Lesepublikum all jener, die die lateinische Sprache beherrschen, die
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Sigismundus liber Baro / in Herberstain, Neiperg et / Guetenhag, primarius ducatus Carin- / thiae hereditariusque et Camerarius et / Dapifer etc., imunitate meritorum / Ergo donatus […].
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
Respublica litteraria. Die Adresse an Posteritas dominiert die Titelseite des Werkes. Posteritas konnte 1558 bereits auf eine lange humanistische Diskurstradition zurückblicken, die Petrarca mit seiner Epistola Posteritati eröffnet hatte. Wer Posteritas ansprach, bekannte sich zum Humanismus und zugleich zu seiner ewigen Ruhm spendenden Kapazität. Ein Posteritas-Jünger war per definitionem ein Humanist. Somit schrieb sich Von Herberstein mit seiner zweiten gedruckten Autobiographie in den Diskurs der internationalen Respublica litteraria ein. Natürlich wollte er nicht verhindern, dass seine Herbersteinschen Nachkommen das Buch lesen würden, jedoch stellen sie nicht mehr das intendierte Lesepublikum dar. Da der Diskurs und die Publikumsfokussierung anders geartet sind, erachtete Von Herberstein eine mehr oder weniger wörtliche Übersetzung des deutschen Textes für unerwünscht. Sein Blick war nunmehr auf das ‚ewige‘ lateinische Bildungspublikum gerichtet. Dies hat zur Folge, dass im Lichte des lateinischen Ewigkeitsdiskurses die kleinen Lebensdetails wegschmolzen wie Schnee an der Sonne. Wie in den vorhergehenden drei Autobiographien kommt Von Herbersteins Reisen ein wichtiger Stellenwert zu. Jedoch lässt sich gerade diesbezüglich die Andersartigkeit der diskursiven Ausrichtung feststellen. In der ausführlichen (zweiten) handschriftlichen Autobiographie hatte die detaillierte Beschreibung der Reisen den Sinn, den männlichen Nachkommen des Geschlechts Herberstein einen Leitfaden für diplomatische Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen. Das wesentliche sind dabei die vielen praxisorientierten Angaben zu Wegstrecken und -abschnitten, Geographie, Sitten und Gebräuchen etc. In der lateinischen Autobiographie fehlen diese Detailangaben nahezu sämtlich. Sogar besondere Vorfälle während der Reisen werden gestrichen. In der gedruckten deutschen Autobiographie finden sich hingegen zahlreiche präzise Datierungen, besonders was Abreise- und Ankunftsdaten angeht, außerdem viele Detailangaben, vor allem in den Fällen, die Von Herbersteins Verhältnis zu den Habsburgern betreffen. Als Beispiel möge der Bericht zum Jahr 1541 dienen: Die gedruckte deutsche Autobiographie vermeldet, dass Sigmund von Herberstein am 13. Januar nach Wiener Neustadt an den Habsburger Hof gebeten wurde, von Wien nach Wiener Neustadt reiste (ca. 50 km): „In die Neustadt an hoff ervordert Salzstaigung halben, den dreyzehenten Januarii“. FebruarMärz unternahm er im Auftrag des Kaisers eine Reise von Wien nach Comaron, um den österreichischen Truppenführer Wilhelm von Roggendorff zu überreden, in seinem Amt zu bleiben – eine Reise, die er am 28. 2. antrat und von der er am 7. 3. zurückkehrte: „zu Wienn aussge-
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raisst am 28. Februari, wiederkhomen am 7. tag martii“. In der gedruckten deutschen Autobiographie verzeichnet Von Herberstein den Inhalt seines Gesprächs mit Wilhelm von Roggendorff: „der zaigt mir an sein mengl und ungenugsamheit, wie er auch kniend umb erlassung des ambtes gebeten, Batte mich solle noch darumb bitten, Er wolte nit aus dem Veld, sonder ainen yeglichen gehorsam laistn, allain den Niclas Jurischitz nit, mit den er nicht zu thuen wolt haben; sagt mir desselben untugendt […]“. Als im Spätsommer Sultan Süleyman II. in Ungarn aufgezogen war, wurde Von Herberstein erneut an den Habsburger Hof gerufen: (da) „fordert mich der Khünig, bevihlt mir zu dem Türcken zu ziehen, gab mir die waal Graff Niclasen von Salm, oder herrn Marxn Beckh von Leopoldßdorff, Österreichischen Cantzler neben mein einzuordnen“. In der deutschen Autobiographie datiert Von Herberstein seine Ankunft beim Sultan präzise (6. September) und ebenso das Gespräch mit ihm (8. September), sowie den Tag seiner Abreise aus Ungarn (12. September) und seine Ankunft am Habsburger Hof in Wiener Neustadt (23. September). In der lateinischen Autobiographie fehlen diese Eintragungen. Was die Reise nach Comaron betrifft, wird gerade noch vermeldet, dass ein Treffen mit Wilhelm von Roggendorff stattfand; jedoch wird das Gespräch nicht wiedergegeben, ja es bleibt überhaupt unklar, welchen Zweck das Treffen hatte. Auch Details seines Hofdienstes bzw. der höfischen Hierarchie streicht Von Herberstein nunmehr. Zum Beispiel hatte die Wiedergabe des Gesprächs mit Von Roggendorff in der deutschen Autobiographie den Sinn, Von Herbersteins einflussreiche Stellung hervorzukehren: Der mächtige Von Roggendorff bat Von Herberstein inständig, sich für ihn beim Kaiser einzusetzen. Denselben Sinn hat die Detailangabe, dass Ferdinand Von Herberstein ermächtigte, sich für die äußerst heikle diplomatische Mission zu Sultan Süleyman II. selbst den Begleiter zu wählen: Ein außerordentlicher Vertrauensbeweis, besonders wenn man berücksichtigt, wer die „Begleiter“ waren – Niklas von Salm oder Marx Beckh von Leopoldsdorff, zwei Politiker der allerhöchsten Kategorie. Diese hatten nichts zu sagen, Herberstein hatte das Sagen. Der gesteigerte moralische und ideelle Anspruch der lateinischen Autobiographie verbietet diese Details. In hundert, zweihundert, fünfhundert Jahren wird vielleicht niemand mehr mit der Bedeutung dieser Sachverhalte etwas anfangen können. Das Virtus-Verständnis der lateinischen Literatur sub specie aeternitatis veranlasst Von Herberstein, die Tatsachen zu streichen. Die lateinische Autobiographie zeichnet sich insgesamt durch eine bis zum Äußersten durchgeführte lapidare Kürze aus. In einigen Fällen
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
streicht Von Herberstein überhaupt alle Begleitumstände und sogar den Grund einer Reise, wie im Fall der Mission nach Comaron. Übrig bleibt dann nur die Angabe, dass Von Herberstein in einem bestimmten Jahr eine Reise an einen bestimmten Ort unternahm. Dieser Befund zwingt uns nachdrücklich zu der Schlussfolgerung, dass die lateinische Autobiographie nicht denselben Zweck wie die beiden handschriftlichen deutschen Autobiographien gehabt haben kann. Im Hinblick auf die diplomatische Tätigkeit kann der Leser aus der lateinischen Autobiographie im Grunde gar nichts lernen. Aus keiner Zeile geht hervor, dass Von Herberstein ein diesbezügliches didaktisches Anliegen gehabt hätte. Er ging nicht davon aus, dass sein Lesepublikum – die lateinkundigen Leser der Gegenwart und Zukunft, die lateinische Respublica litteraria – diplomatische Ambitionen hatte. Dieser Tatenbericht hat seiner Präsentation nach überhaupt keinen didaktischen Charakter, sondern ist ein stolzes Manifest, mit dem Von Herberstein das Ziel verfolgte, sich bei der Nachwelt literarisch zu verewigen. Diesbezüglich leistet die lateinische Autobiographie Ähnliches wie eine monumentale Ehreninschrift der Antike. Die Diskursregulative fama und gloria sind die Schlüsselbegriffe, die bis in die römische Antike hinabreichen. Ein römischer Amtsträger, ein Senator ebenso wie der Römische Kaiser, will, dass seine Taten in Ehreninschriften der Mit- und Nachwelt überliefert werden. Von Herberstein war mit der Altertumswissenschaft ausreichend vertraut, so dass er zweifellos auch über das Phänomen der Ehreninschrift Bescheid wusste. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die lateinische Autobiographie vom Druckbild her den Eindruck einer antiken Ehreninschrift vermittelt. Das Druckbild unterstreicht die annalistische Gliederung besonders nachdrücklich, indem die durch Absätze getrennten Jahresberichte jeweils durch eine ins Auge stechende Jahreszahl in römischen Ziffern eingeleitet werden, stets mit einer groß- und fettgedruckten Initiale anfangen, fast immer mit der römischen Ziffer für 1000, M. Die Gleichläufigkeit und regelmäßige Wiederholung immer derselben Initiale M und der römischen Ziffern verleiht dem Text schon vom Druckbild her einen monumentalen, lapidar-inschriftähnlichen Charakter: Mdxiiii Mdxv Mdxvi Mdxvii Mdxviii Mdxviiii usw.
Die erste lateinische Autobiographie
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Ein merkwürdiger Zufall will, dass die eindrucksvollste Ehreninschrift der römischen Antike, der Tatenbericht (Res gestae) des Kaisers Augustus, gerade wenige Jahre vor dem Erscheinen der lateinischen Autobiographie (1555) in Ankara entdeckt wurde (Monumentum Ancyranum). Augustus hat in dem Werk in lapidarem Stil seine Taten für das Römische Reich festgeschrieben: Welche Kriege er gewonnen, welche Gebiete er erobert, welche Gebäude er errichtet, welche Ämter er bekleidet, welche Schenkungen er dem Römischen Volk verliehen usw. Auch Sigmund von Herberstein, der das Werk gleich im Titel als Tatenbericht affichierte – er teilt mit, dass er hier seine „Taten“ („actiones“) vom Knabenalter bis zum 73. Lebensjahr „hinterlassen“ („reliquit“) habe – überliefert hier, welche Ämter er bekleidet und welche militärischen Leistungen er erbracht hat. Als eine seiner ersten Taten verzeichnet er seine Teilnahme am Feldzug Maximilians I. gegen König Wladislaw II. von Ungarn und Böhmen (1506) und seinen Kampf gegen die Venezianer in Istrien und Friaul. Das Jahr MDVIII trägt zum Beispiel den lapidaren Vermerk: „Nachdem sie Raspe eingenommen hatten, belagerten mich die Venezianer in der Feste Marnfels am 6. November“ („Veneti Raspo recuperato me in arce Marnfels obsederunt VI Novembris“, f. A2v). Dieser Bericht ist an vornehmer, cäsarhafter Kürze kaum zu übertreffen. Dass Von Herberstein gegen die Venezianer standhielt, erscheint eben aufgrund der lapidaren Kürze des Berichts als eine militärische Großtat zum Nutzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. In der gedruckten deutschen Autobiographie hingegen konstituiert er die militärische Leistung (wie es den Tatsachen entsprach) im Diskurs der Familiengeschichte. Der Bruder Hans von Herberstein hatte sich unter ungünstigen Bedingungen auf Marnfels ergeben und damit den Familienbesitz preisgeben müssen; die Auflagen der Venezianer enthielten, dass die Familie den Besitz langfristig verlieren würde: „Nachdem Maernfels in Istreich mein Brueder Herr Hans von unsres Vaters wegen ingehabt, und auch gedrungen wurdt, sich zu ergeben mit solcher condicion, das allain ime seinem leibs Erben dasselb bleiben soll, darumb schickt mich mein Vater gehen Venedig seinthalben darumb zu handln […]“. Also eine reine Familienangelegenheit, deren Beherzigung zunächst nicht von Erfolg gekrönt war. In der lateinischen Autobiographie gestaltet sich die Vermeldung der Erfolge gegen die Venezianer im Jahre 1513 hingegen ganz kurz und lapidar: Es gelingt, ihren Anführer zu töten. Unmittelbar darauf wird verzeichnet, dass Von Herberstein dafür von Maximilian I. durch die Ver-
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
leihung eines militärischen Ordens, einer goldenen Kette sowie durch die Aufnahme in den Hofrat ausgezeichnet wurde (f. A3r). Durch diese lapidare Darstellungsweise entsteht der Eindruck, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation diesen Erfolg vor allem Von Herberstein verdankte. Dies ist der Diskurs, in dem man mit Posteritas reden kann. Posteritas heiligt die Kürze und die Kürze ist das Mittel zum Zweck. Der Diskurs der deutschen Autobiographie, die sich ja zunächst vor allem an die unmittelbare Umgebung richtete, die mit den Tatbeständen zum Teil hervorragend vertraut war, verbat diese Vorgehensweise: Dort vermeldet Von Herberstein (wie es den Tatsachen entsprach), dass der Anführer der Kaiserlichen Truppen Niklas von Salm war, sowie dass Von Salm für die Erfolge mit militärischen Ehren dekoriert wurde (f. F i v). Die Stelle ermöglicht, den Sinn der Illustrationen in der lateinischen Autobiographie zu erörtern. Es geht um sieben Holzschnitte, auf denen Kaiser Maximilian I., Sigmund I. Jagiellon, König von Polen, Wassilij Großfürst von Moskau, Ludwig II., König von Ungarn und Böhmen, Kaiser Ferdinand, Sultan Süleyman II. und Sigmund II. König von Polen porträtiert sind.11 Diese Holzschnitte haben weder eine didaktische Funktion noch sollen sie das Textgeschehen verbildlichen noch handelt es sich um inhaltsleere Ornamentik. Sie dienen, wie die meisten Elemente der lateinischen Autobiographie, der Festlegung des Herbersteinschen Ruhmes. Sub specie aeternitatis der lateinischen Literatur konstituiert sich Von Herberstein mit Hilfe der Illustrationen im Kaiser- und Königsdiskurs. Indem der Text der lateinischen Autobiographie mit den Porträts der mächtigsten Herrscher verbunden wird, bindet Von Herberstein sich selbst an den Kreis der gekrönten Häupter an bzw. konstituiert sich im Netzwerk der Mächtigsten der Erde. Die Porträts sagen nichts über die gekrönten Häupter aus, sondern sollen den Leser jeweils zu Von Herberstein selbst hinführen. Das lässt sich besonders augenfällig am Porträt Maximilians I. zeigen. Wenn das Porträt etwas zu Maximilian aussagen bzw. die Aufmerksamkeit des Lesers zu ihm hinlenken hätte sollen, dann hätte es dort eingefügt worden müssen, wo Maximilans Tod vermeldet wird: „MDXIX Divus Maximilianus Imperator pius foelix victor fatis concessit 12. Jan.“ (f. B v). Das Porträt findet sich aber als Beigabe zu der Stelle, wo Von Herberstein berichtet, dass er vom Kaiser militärische Auszeichnungen erhielt (f. A3 r). Das Porträt Maximilians I. soll also etwas über Von Herberstein aussagen. 11
Vgl. f. A3r, !A4"r, !A4"v, B r, B v, D v, Dii r.
Die erste lateinische Autobiographie
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Im Vergleich zu den deutschen Autobiographien ist bemerkenswert, dass Von Herberstein im lateinischen Werk die Darstellung jeweils wesentlich auf die Reise selbst, nicht auf ihren Inhalt, fokussiert: Die Überwindung des geographischen Raumes an sich wird als Tat konzipiert. Vielfach beschränkt sich Von Herberstein überhaupt auf die bloße „Reisetat“, wobei er nicht einmal den Zweck der Reise vermeldet. Zum Beispiel weist das Jahr MDXXXVI ausschließlich den Vermerk auf, dass der Autobiograph König Ferdinand auf einer Reise nach Trento und zurück, über Kärnten und die Steiermark, nach Innerösterreich begleitet habe. Oder für das Jahr MDXLVII: „Im Juni fuhr ich im leichten ungarischen Reisewagen eilends zur Stadt Güssing, und führte meinen Auftrag aus“. Ungeklärt bleibt, um was es ging, wem er den Bericht überbrachte, ob er Erfolg hatte oder nicht usw. Gegenüber der allgemeinen lapidaren Kürze in der lateinischen Autobiographie fällt die relativ präzise Datierung und Wiedergabe der Reisen auf, die er im Jahr 1534 an ein und demselben Tag unternahm. Ist der Autor hier in seiner Präzisionswut unversehens ins Tagebuch abgeglitten? Keineswegs: Von Herberstein bringt das Detail nur deshalb, weil er an dem nämlichen Tag – eine unglaubliche Leistung – vier (!) Gesandtschaftsreisen machte: nach Annaberg, von Annaberg nach Kaden, von Kaden wieder nach Annaberg und schließlich zurück nach Kaden. Das betrachtete er als eine Spitzenleistung, die auch sub specie aeternitatis eine Vermeldung verdient. Das erhöhte Prestige der lateinischen Autobiographie im Unterschied zu den handschriftlichen Autobiographien und auch zu der gedruckten deutschen Autobiographie zeigt sich anhand weiterer Beobachtungen. Zum Beispiel berichtet die in der Wiener Handschrift überlieferte deutsche Autobiographie, dass Sigmund von Herberstein in seiner Kindheit sehr kränklich war, so dass schließlich die verzweifelte Mutter im Fall der Besserung eine Wallfahrt nach Loreto und Recanati gelobte (S. 70), die er schließlich mit seinem älteren Bruder Hans unternahm. Auch die gedruckte deutsche Autobiographie vermeldet dieses – in den Kontext des Familienbuches passende – Faktum: „In meiner Jugent was ich so kranckh, das man menschlicher hilff verzweifelte und zu Gott und seinen Heiligen sich getröst, Darumb mich zu walfartn verhaissen gen Loreth oder Recanad zu unser Frawen, darin mich mein Brueder her Hans auf Quaram in Istreich über Moer gen Ancona und fürther zu Pferd gebracht“ (f. Ei r). In der lateinischen Autobiographie jedoch reduzierte Von Herberstein das Geschehen auf die lapidarisch wiedergegebene „Reisetat“, wobei er verzeichnet, dass „er eine Schiffsreise über die Adria nach Ancona“ unternahm (f. A2 r). Im Diskurs des lapidaren Tatenbe-
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
richtes gleicht er die Wallfahrt seinen übrigen Reiseaufzeichnungen an. Die selbständig verrichtete Reisetat entsprach der Repräsentativität, die Von Herberstein in der lateinischen Autobiographie erstrebte, jedoch galt nicht dasselbe für die Kränklichkeit als Ursache, für die Mutter als „Auftraggeberin“ und für den älteren Bruder als die die Reise moderierende Autoritätsperson. Alle diese Tatbestände streicht er daher in der lateinischen Autobiographie. In dieselbe Richtung weisen Von Herbersteins Angaben zu seiner Ausbildung. In der Wiener Handschrift vermerkt er die Schwierigkeiten, die ihm das Erlernen der slowenischen Sprache bereitete. In der lateinischen Autobiographie jedoch findet sich nicht einmal ein Hinweis darauf, dass er Slowenisch gelernt hat. In dem an die Respublica litteraria gerichteten Posteritas-Diskurs, der dem lateinischen Sprachimperialismus verpflichtet war und in dem die Volkssprachen verachtet wurden, wäre ein solcher Vermerk nicht förderlich gewesen. In der lateinischen Autobiographie tauchen überhaupt keine Angaben zur Ausbildung in der Kindheit und frühen Jugend auf. Sub specie aeternitatis und im Kreis der Gelehrten waren die Namen seiner lokalen Lehrer nicht ruhmstiftend. In der gedruckten deutschen Autobiographie hingegen vermeldet er die Namen seiner Lehrer (f. E i r). Dies passte in den Diskurs der Familiengeschichte, besonders da einer seiner Lehrer das Kind einer Herbersteinerin war: „hernach zu herrn Wilhalmen Weltzer Thumb Probst zu Gurckh, des Mutter ain herberstainerin was, umb lernung und zucht willen gelassen worden, ungeverlichen Jm 1495. Jar“. In der handschriftlichen deutschen Autobiographie nennt er die Namen seiner Wiener Lehrer und Universitätsprofessoren, während sie in der lateinischen fehlen. In der handschriftlichen Wiener Autobiographie kommentierte Von Herberstein seinen Verbleib in Wien an der Domschule zu St. Stephan mit dem Stoßseufzer: „Wolt got das ich nit so frey gelassen wär worden, ich hette vil merers gelernt!“ (S. 71). In der Handschrift hatte der Vermerk den didaktischen Sinn, die Herbersteiner davon zu überzeugen, dass in der Schule Disziplin ganz wesentlich sei. In der lateinischen Autobiographie jedoch hätte ein solches Bekenntnis das beabsichtigte Bildungsprestige beeinträchtigt. In ihr reduziert von Herberstein seinen Bildungsweg auf den lapidaren Vermerk: „Ich kam 1498 nach Wien und erreichte das Baccalaureat in den Artes“ (f. A r). Da sich Von Herberstein mit der lateinischen Autobiographie in die Respublica litteraria einschrieb, erachtete er es nicht für opportun, schulische Mängel (gleichgültig ob vermeintliche oder tatsächliche) zuzugeben.
Die erste lateinische Autobiographie
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Der besonderen Diskursivität der lateinischen Autobiographie entspricht weiter, dass sich Von Herberstein als lateinischer Autor affichiert, ja das Verfassen und Publizieren eines lateinischen Werkes als „Tat“ auffasst, die im Prinzip den gleichen Stellenwert einnimmt wie seine politischen Reisen: „MDXLIX. Historiam Moscoviae stilo simplici congessi eandemque tipis curavi“ („MDXLIX verfasste ich die Geschichte Moskaus in einfachem Stil und gab sie in Druck“, f. D iii r). In der gedruckten deutschen Autobiographie fehlt ein entsprechender Vermerk: Im Rahmen der Familiengeschichte und des Adelsbuchs war es irrelevant, sich als lateinischer Autor zu affichieren. In der lateinischen Autobiographie, in dem sich Von Herberstein an die internationale Respublica litteraria richtete, machte der Vermerk hingegen Sinn: Die Historia Moscoviae war eben das Werk, das seinen Ruhm als lateinischer Autor begründete. Wie schon die Selbstaffichierung als lateinischer Autor andeutet, weist die lapidare lateinische Autobiographie Elemente auf, die sich nicht in der gedruckten deutschen Autobiographie finden. Unter anderem entwirft Von Herberstein in der lateinischen zuweilen ein Bild der historisch-politischen und der historisch-militärischen Lage, während desbetreffende Angaben in der deutschen fehlen. Zum Beispiel erläutert er die militärische Lage in Bezug auf die diplomatische Mission zu Sultan Süleyman II. im Jahre 1541 (f. C iv v – D v), die er als einen der Höhepunkte seiner Karriere betrachtete. Von Herberstein vermeldet die Tatsache, dass der Sultan mit einem riesigen Heer nach Ungarn gezogen war, nachdem ihn die ungarischen Machthaber herbeigerufen hatten; weiter, dass die österreichischen Truppen von Süleymans II. Heer und auch von der ungarischen Reiterei, die von Valentin Terek angeführt wurde, in die Enge getrieben wurden. In äußerster Bedrängnis sahen die Österreicher keinen anderen Ausweg, als sich unter dem Schutze der Nacht über die Donau zurückzuziehen. Ihr Plan wurde aber vereitelt, da ein heftiger Sturm aufkam, der das Übersetzen verunmöglichte. Zu allem Überfluss bemerkten die Ungarn die missliche Lage der Österreicher, welche sie den Türken übermittelten. Aufgrund dessen griffen die Türken die Österreicher an und metzelten sie nieder. Die Österreicher verloren in der überstürzten Flucht ihr Gepäck und ihre Ausrüstung, die Donau färbte sich rot von ihrem Blut. Diese Beschreibung, die in der gedruckten deutschen Autobiographie völlig fehlt, wird vom lateinischen Posteritas-Diskurs gesteuert. Damit bindet Von Herberstein seine Autobiographie an den Diskurs der antiken lateinischen Geschichtsschreibung an, an die militärischen Berichte des Caesar, des Livius und des Tacitus. Die Dar-
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Diskurskaleidoskop: Sigmund von Herberstein
stellung richtet sich an das breite Publikum der Respublica litteraria, das mit diesen Texten vertraut war. Von den militärischen Beschreibungen der antiken Historiographie ging eine ruhmstiftende Wirkung aus. Im Hinblick auf den Posteritas-Diskurs machte sich Von Herberstein diese zunutze. Im Kontext der Familiengeschichte und Genealogie, der den Diskurs des deutschen Druckes bestimmt, konnte Von Herberstein auf eine solche Anbindung verzichten. Abschließend sei ein auffälliger Unterschied zwischen dem lateinischen und dem deutschen Druck benannt. In der deutschen gedruckten Autobiographie stellt Von Herberstein seine Mission von 1516 und 1517 nach Polen, ins Baltikum und nach Russland als reine Gesandtschaftsreise dar. In der lateinischen konstituiert er sie aber zusätzlich als Entdeckungsreise im Diskurs der antiken Geographie! Er habe Flüsse entdeckt, die in der Antike noch unbekannt waren und die sich bei keinem antiken Schriftsteller finden, zum Beispiel den Volchow. Weiter habe er die Quellen der Wolga und anderer großer Flüsse entdeckt. Auch sei er 36 deutsche Meilen über die Quellen des Don hinausgekommen. Dabei habe er durch eigene Anschauung festgestellt, dass die Quellen des Don nicht von irgendwelchen Bergen herabfließen, sondern von einem großen See gespeist werden, der sich auf einer Hochebene befindet. Die Daheimgebliebenen haben, wie Von Herberstein den Bericht weiter authentifiziert, über diese Neuigkeiten sehr gestaunt.12 Damit verweist er in der lateinischen Autobiographie abermals auf seine Historia Moscoviae. Er schreibt sich damit als Entdecker und Literat in den Ewigkeitsdiskurs der lateinischen Respublica litteraria ein. Von ihrer Aufmachung her wird die lateinische Autobiographie weiter durch Rahmentexte in den Posteritas-Diskurs der Respublica litteraria versetzt: Nach der Autobiographie folgt eine Reihe von lateinischen Lobgedichten auf Sigmund von Herberstein, unter anderen von der Hand des polnischen Humanisten Joannes Dantiscus, eines Freundes des Erasmus und des Eobanus Hessus. Es handelt sich dabei keinesfalls um nur nebensächliche Rahmentexte: Den Lobepigrammen und -ele12
Herberstein, Gratae posteritati […], f. !A4"r-B r: „Confectoque ex sententia negotio, superato Rubone flumine Traho usque Novogardiam magnam, quam Volchow priscis scriptoribus incognitus fluvius interfluit. Ex ea veredariis equis Moscoviam ad Basilium magnum Russorum ducem, qui primus se regem appellari voluit, decurrens, Rha magno amne traiecto et navigato perveni […]. Atque in hoc itinere fontes Rubonis Crononis, Rha, et Boristhenis circuiens, et XXXVI miliaribus Germanicis supra fontes Tanias progressus, non ex ullis montibus, sed ex lacu in planiciae fontibus profluere expertus nostris id oppido mirantibus retuli“.
Die Prunkausgabe der deutschen Adelsbuch-Autobiographie
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gien wurde sogar ein ungefähr gleich großer Raum wie der Autobiographie selbst zugemessen! Die Lobgedichte erfüllen im Prinzip dieselbe Aufgabe wie die lateinische Autobiographie: Sie sollen den humanistischen Helden Sigmund von Herberstein in die lateinische Respublica litteraria einschreiben und ihn in diesem Rahmen verewigen.
4. Kleider machen Leute: die Prunkausgabe der deutschen Adelsbuch-Autobiographie (1560) Die ersten beiden gedruckten Autobiographien waren im Quartformat erschienen. Im Fall der lateinischen Autobiographie war das Quartformat insbesondere im Hinblick auf die lateinische Respublica litteraria geeignet, da es sich um ein in diesem Rahmen sehr häufig verwendetes Format handelte. Unter anderen die Autobiographien des Franciscus Junius, des Joseph Scaliger, der Autobiographie-Kommentar Kaspar Schoppes und die Autobiographien-Biographien-Sammlung des Meursius sind in diesem Format erschienen. Von Herberstein veranlasste 1560 jedoch eine Neuauflage seiner deutschen Autobiographie bei demselben Drucker, Raphael Hofhalter in Wien, im Folio-Format.13 Dieses Format hatte eine prestigeträchtige Ausstrahlung. Es betont schon von der Aufmachung her die Hauptabsicht der deutschen gedruckten Autobiographie: sich im Diskurs adeliger Selbstrepräsentation zu konstituieren. Von einer praktischen Anleitung zu diplomatisch-politischer Betätigung, die ja keineswegs das prestigeträchtige Folioformat erforderte, ist keine Rede mehr. Im Vergleich zur ersten Auflage fällt auf, dass sich die Person Sigmund von Herberstein in der Prunkausgabe ein erheblich grösseres Gewicht zumisst. Dies zeigt sich auf zwei Ebenen. In der ersten Auflage hatte er die Autobiographie aus der Genealogie erklärt: Wie gemainglichen alle Völcker und Geschlaecht sich ihres alltn heerkhumens berühmen und erfreyen, Also hab auch ich mit grosser begier mich underfangen meiner voreltern Namen unnd die nacheinander geporn sein, zu erkundigen und zubeschreiben.
In der Prunkausgabe dreht er den selbstkonstruierten Kausalnexus um, indem er die Genealogie aus der Autobiographie, in der die Vorbildfunktion des Individuums für das Geschlecht zum Ausdruck komme, erklärt. Der Einleitungssatz lautet nunmehr: 13
Z. B. Wien, Österreichische Nationalbibliothek 48.D.10.
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Der Mensch soll sich von gemainen Thirn mit seinem Leben und thuen absondern und seines thuens ain erliche Gedachtnus lassn, guet beyspill oder exempel sonderlichen seines Geschlachts nachkommen geben und vorlassen, weil dan gemeiniglichen alle Völker und Geschlaecht sich jres alten herkhumens beruehmen und erfreyen […].
Das heißt, das genealogische Interesse beruht darauf, dass große Individuen in ihrer Autobiographie ein hervorragendes Exemplum überliefern. Das bezieht sich natürlich auf den großen Sigmund von Herberstein, den berühmtesten und hervorragendsten Spross seines Geschlechtes. Damit bettet er nicht die Autobiographie in die Genealogie, sondern die Genealogie in die Autobiographie ein. Sigmund von Herberstein nimmt in der Prunkausgabe eine überlebensgroße Gestalt an, die in dem gesamten Werk vom Anfang bis zum Ende dominiert. Die Dominanz des Individuums Sigmund von Herberstein in der Prunkausgabe beruht in noch höherem Masse auf sechs Folioseiten mit großen, prächtigen Porträts des Autors, die jetzt den Text gliedern. Im Rahmen der humanistischen Autobiographik ist diese nachdrückliche Bildlichkeit ein Unikum. Kaum eine humanistische Autobiographie weist ein Porträt des Autors auf, von Herbersteins deutsche Autobiographie des Jahres 1560 jedoch sogar sechs! Diese Porträts vermitteln einen überwältigenden Eindruck. Wie das Folio-Format das prestigeträchtigste Format darstellt, so bilden im Rahmen der Porträts diejenigen die prestigeträchtigste Kategorie, die den Porträtierten in ganzer Gestalt zeigen. Von Herbersteins Porträts sind ca. viermal so groß wie die dort ebenfalls gedruckten Porträts der Kaiser und Könige! Sigmund von Herberstein überschattet nunmehr die Gestalten, auf welche er in den ersten beiden gedruckten Autobiographien sein Ansehen und seinen Ruhm gründete. Die riesigen Porträts zeigen Von Herberstein in sechs verschiedenen Prunkgewändern. Das erste im Gewand, in welchem er seine Mission nach Polen und Russland erfüllte (1517); das zweite im Gewand, das ihm der Großfürst von Moskau schenkte (1517); das dritte im Gewand, welches er auf seiner diplomatischen Reise zu Kaiser Karl V. trug (1519); das vierte im Gewand, in das er sich auf seiner zweiten Reise nach Russland hüllte; das fünfte im Gewand, in welchem ihn Ferdinand zu Sultan Süleyman II. entsandte (1541; Abb. 20) und das sechste im Gewand, mit dem ihn Sultan Süleyman II. beschenkte (1541; Abb. 21). Die prächtigen Porträts drücken den Anspruch, den Sigmund von Herberstein mit der Prunkausgabe seiner deutschen Autobiographie erhob, prägnant aus. Sie zeigen ihn im vollen Ornat des Edelmanns und
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Abb. 20: Sigismund von Herberstein im 5. Gewand in der Folio-Prunkausgabe der Autobiographie (1560).
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Abb. 21: Sigismund von Herberstein im 6. Gewand in der Folio-Prunkausgabe der Autobiographie (1560).
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Kaiserlichen Gesandten. Ihr ehrfurchtgebietendes Prestige weist zugleich auf die Funktion als Tugendexempel, die sich der Autor zumisst, hin. Sie zeigen Sigmund von Herberstein als leuchtendes Vorbild eines erfolgreichen Edelmannes, eines Edelmannes, der sich sein Ansehen durch seine glänzenden Tugendleistungen (= die Gesandtschaftsreisen) erworben hat. Die Kleidergeschenke, die Von Herberstein als Aushängeschilder seines sozialen Status wie Trophäen präsentiert, besitzen einen ähnlichen Stellenwert wie seine Taten, ja übertreffen diese durch ihre einprägsame Bildlichkeit. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Porträts auf das hier und heute beziehen. Die Kleider verweisen zwar auf den autohistorischen Text: „Jn sollicher Khlaidung bin Ich zu Khunig Sigismunden in Polln, Und dem Großfurstn in die Mosgua abgefertigt worden. 1517“ (f. C iii r); jedoch entspricht das Gesicht dem des dreiundsiebzigjährigen Sigmund von Herberstein, des Autobiographen. Damit korrespondiert die Datierung, die dem Porträt rechts unten beigegeben wurde (1559). Sigmund von Herberstein hat sich somit in den Prunkkleidern, die seinen Ruhm als Gesandter versinnbildlichten, 1559 porträtieren lassen. Daraus ergibt sich übrigens ein seltsames, interessantes Spannungsfeld zwischen dem Ich des Autobiographen und dem autobiographisierten Ich. In der Überschrift sagt Von Herberstein „bin Ich“: Wer ist „ich“ – der dreiundsiebzigjährige Autobiograph oder der in der Autobiographie dargestellte junge Diplomat des Jahres 1517? Dieses Spannungsfeld ergibt sich nicht einfach aus der Sache. Wenn es Von Herberstein um eine möglichst getreue historische Textillustration gegangen wäre, hätte er dem Illustrator ja unschwer den Auftrag geben können, ihn jünger darzustellen. Die Tatsache, dass dies nicht der Fall ist, zeigt an, dass es ihm um anderes zu tun war. Es ging ihm um die adelige Selbstrepräsentation hier und heute: Er, Sigmund von Herberstein, stellt hier und heute die ehrfurchtgebietende Adelsikone, das leuchtende Tugendvorbild dar.
5. Humanismus und Adel: die Prunkausgabe der lateinischen Autobiographie (1560) Die spannungsgeladenen Diskursunterschiede, die wir zwischen der ersten deutschen und der ersten lateinischen gedruckten Autobiographie festgestellt haben, setzen sich in dieser Autobiographiepublikation
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fort.14 Ein wichtiges Merkmal der lateinischen war, dass sie, im Unterschied zur deutschen, eben nicht im Diskursrahmen des Adelsbuches und der Genealogie funktionierte. Für den Lebensbericht selbst gelten die Diskursunterschiede, die wir oben festgestellt haben, auch hier. Jedoch hat von Herberstein jetzt eine viel prestigeträchtigere Publikation als die der Erstausgabe vor Augen. Die Transformation in einen prestigeträchtigeren Diskurs vollzieht sich auf mehreren Ebenen: durch das Folio-Format; durch die Anbringung eines neuen Vorworts; durch die Einfügung der sechs prächtigen Ganzporträts; durch die Anbringung neuer, prestigeträchtiger Herscherporträts; durch die größere Textmenge; durch die Vervielfachung der Lobgedichte; durch den Zusatz eines selbstverfassten Geschichtsabrisses; durch den Zusatz panegyrischer Gedichte zu den prächtigen Autorenporträts; durch die Prosabiographie von der Hand des Poeta laureatus Petrus Paganus, sowie durch die Versbiographie desselben Dichters. Die Prunkausgabe der lateinischen Autobiographie übertrifft auch die der deutschen bei weitem; sie viel aufwendiger und umfangreicher: Während die deutsche 44 Folio-Seiten zählt, weist die lateinische 118 Folio-Seiten auf. Mit dem Folio-Format schreibt sich Sigmund von Herberstein in den Diskurs der Ausgaben humanistischer Klassiker, eines Petrarca, Valla und Erasmus ein, die um die Mitte des Jahrhunderts in Basel erschienen. Mit der 1560-er Ausgabe der lateinischen Autobiographie konstituiert sich Von Herberstein noch nachdrücklicher im Posteritas-Diskurs der humanistischen Respublica litteraria. Der gleich bei einem Blick auf die Titelseite sichtbare, auffällige Unterschied zur Erstausgabe ist, dass Von Herberstein jetzt Humanismus und Adel betont verbindet. Er schreibt sowohl den Adel in den Humanismus als den Humanismus in den Adel ein. Auf der Titelseite prangen jetzt sowohl die übergroß und fett gedruckten Lettern GRATAE POSTERITATI, die den humanistischen Diskurs angeben, als auch das groß abgebildete prächtige Freiherrenwappen Sigmunds von Herberstein, das den Adelsdiskurs angibt (s. Abb. 22).15 Von besonderer Bedeutung für diese Diskurszusammenlegung ist das neue Vorwort. Es greift zunächst auf das der ersten deutschen Ausgabe, das die Autobiographie als Bestandteil der Genealogie bzw. des Adels14
15
Gratae Posteritati Sigismundus Baro in Herberstain Neyperg et Guettenhag […], Viennae Austriae excudebat Raphael Hofhalter, 1560. Im Unterschied dazu war in der Erstausgabe weder auf der Titelseite noch auf der Rückseite der Titelseite ein Adelswappen vorhanden. Dieses wurde erst auf der letzten Seite der Publikation gedruckt.
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Abb. 22: Freiherrenwappen Sigmunds von Herberstein. Titelseite der Prunkausgabe der lateinischen Autobiographie (1560).
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buchs positionierte, zurück. Die ersten beiden Sätze sind eine mehr oder weniger wörtliche Übersetzung des Anfangs des Vorworts der ersten deutschen Ausgabe. Dadurch, dass die ersten Sätze das genealogische Interesse als Ausgangspunkt des autobiographischen Unternehmens zementieren, scheint Von Herberstein nunmehr die lateinische Autobiographie völlig in den Diskurs des Adelsbuchs zu übertragen. Es scheint, als ob hier die Rolle des Humanismus auf die einer Dienstmagd für die Selbstpräsentation eines adeligen Herren zurückgedrängt worden ist. Jedoch der Schein trügt! Der Humanismus ist in der neuen Publikation noch dominanter präsent. Von den insgesamt 118 Folio-Seiten gehören mehr als zwei Drittel (80) dem Humanismus, und nur etwas weniger als ein Drittel dem eigentlichen Lebensbericht mit dem neuen Vorwort (38). Aber auch das Vorwort stellt sich nicht als bloße (freie) Übersetzung des deutschen dar, sondern als ein völlig neuer Text, der einen anderen Inhalt aufweist und vor allem auf die humanistische Respublica litteraria Bezug nimmt. Im Übrigen setzt Von Herberstein die in den ersten beiden Sätzen angesprochene Einbindung der Autobiographie in die Genealogie im weiteren Textverlauf nicht durch: Der desbetreffende lange Textabschnitt des deutschen Druckes, die Genealogie, wird nicht in die lateinische Publikation übersetzt! Im humanistischen Vorwort der lateinischen Prunkausgabe kommt Von Herberstein im Eiltempo vom genealogischen Ausgangspunkt des Abstammungsadels zu einer stark divergierenden Position: Der Adelsstolz des Abstammungsadels ist, wie er sagt, eine völlig untaugliche Angelegenheit. Den Adel konstituieren recht eigentlich tugendhafte Großtaten. Statt des Abstammungsadels redet Von Herberstein von dem „wahren Ruhm“ („vera gloria“), will sagen dem wahren Adel. Mit wenigen Handgriffen überführt er den traditionellen Abstammungsadel in den humanistischen Tugendadel. Die eigentliche Aufgabe der Adeligen sei das Erbringen tugendhafter Leistungen, mit denen sie ein Vorbild (exemplum) für die Jüngeren abgeben sollen (f. A 2r). Die Erziehung zur Tugend gründet sich auf Nachahmung („imitatio“). Für die „Vorfahren“ verwendet er das Reizwort des antik-römischen Tugenddiskurses schlechthin, MAIORES. Die Römer gründeten ihre Tugend gemeinhin auf die „Sitte der Väter“, den „MOS MAIORUM“, wie man bei Cicero und vielen anderen Autoren lesen kann. Das Institut des Adels hat demnach den Sinn, „dass wir uns Vorbilder vor Augen halten und alle unsere Taten auf die Nachahmung der Vorväter gründen“ („ut […] exempla ob oculos habentes omnes actiones nostras ad maiorum imitationem com-
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ponamus“, f. A ii r). Zur Autorisierung dieses Tugendappells und dieser Adelsauffassung beruft er sich auf Vergils „Disce, puer, virtutem ex me verumque laborem!“. Die Leser sollen sich mit dem „puer“, dem Knaben aus Vergils Aeneis identifizieren, und von Sigmund von Herberstein die Tugend lernen, welche er gleich unten in der Autobiographie vermittelt. Während schon diese Auffassung des Adels gewiss nicht mit der der meisten zeitgenössischen Adeligen übereinkam, geht Sigmund von Herberstein noch einige Schritte weiter. Die Grundlage dieser für den Adeligen verbindlichen Tugend beruhe neben der politischen und militärischen Erziehung auf der humanistischen Bildung, der „freieren Gelehrsamkeit“ („liberalior doctrina“, f. A ii v). Die Eltern sollen diesbezüglich weder Mühe noch Kosten scheuen. Die Fürstenkinder sollen die Universitäten bevölkern! Zum „wahren Ruhm“ trägt eine gründliche und gute Ausbildung oft mehr bei als der Abstammungsadel („Et ad veram gloriam plerumque bona institutio plus affert momenti quam nativitas spectabilis et EYGENEIA“). Zur Autorisierung dieser Auffassung des Tugend- und Bildungsadels beruft er sich, wie es dem humanistischen Diskurs entspricht, auf Plato, Horaz und Juvenal. In der Einleitung zur ersten deutschen Ausgabe hatte Von Herberstein ebenfalls die Wichtigkeit der Tugend sowie der Erziehung betont. Er hatte sich aber davor gehütet, zumal in einer Genealogie, den Adel neuzudefinieren. Hier zeigt sich einmal mehr, dass er mit seinen lateinischen Autobiographien ein anderes Publikum ansprach als mit den deutschen. Die theoretische Einleitung der Prunkausgabe der lateinischen Autobiographie weist klar ersichtlich einen anderen Inhalt auf als die der deutschen gedruckten Autobiographien. Der Diskursumbruch zeigt sich an gewissen Stellen in auffälliger Weise. Während zum Beispiel die deutsche Ausgabe vom Familienschloss der Herbersteiner redet, lässt die lateinische Ausgabe dies weg. Das Adelssymbol des Familienschlosses ist im Tugenddiskurs des humanistischen Werkes überflüssig geworden. In der deutschen Ausgabe wird die Lebensweise des Adels auf seinen Schlössern, die mit der Landwirtschaft verbunden war, gelobt. Die lateinische Ausgabe vermeldet die Schlösser nicht, sondern verlegt sich zur Gänze auf ein eingehendes, eine ganze Folioseite langes Lob der bäuerlichen Lebensweise. Die Grundlage dieser geänderten Vorgehensweise ist das Umschreiben in den Literaturdiskurs des Humanismus: Das Lob des Landlebens (laus rei rusticae) war einer der am häufigsten verwendeten literarischen Topoi des Humanismus, ein Topos, der insbesondere
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in Vorworten und Einleitungen beliebt war. Dem liegt die Tatsache zugrunde, dass die Humanisten das Lob des Landlebens mit der kontemplativen Lebensweise, die ihrem Hauptinteresse, dem mit der Antike verbundenen Literaturbetrieb, entgegenkam, assoziierten. Die laus vitae rusticae wurde somit zu einem humanistischen Markenzeichen. Indem Sigmund von Herberstein dieses Markenzeichen aufgriff, konstituiert er sich als humanistischer Schriftsteller. Zu dem topischen humanistischen Landlebendiskurs gehörte, dass gewisse antike Basistexte immer wieder zitiert wurden, zum Beispiel der Schlussabschnitt von Vergils Georgica, Buch II (Makarismus des bäuerlichen Lebens) oder Horaz’ zweite Epode. Von Herberstein übernimmt die Diskursregulative, indem er beide Basistexte namentlich zitiert: „‚Beatus ille qui procul negotiis […]‘, cecinit sapiens poeta Horatius. Et Virgilius ipse de agricultura luculentissime scribens tandem exclamat ‚O fortunatos nimium sua si bona norint, / Agricolas!‘“. Von Herberstein verbindet in der lateinischen Prunkausgabe die humanistische Ausrichtung der lateinischen Autobiographie mit dem Adel, aber er stellt den Adel zugleich auf die andersartige Grundlage des Tugend- und Bildungsadels. Auf dieser Grundlage gewinnt seine Autobiographie noch größeres Gewicht: Sie bildet jetzt das Tugendvorbild, mit dem der Leser, gleichgültig ob er von Adel ist oder nicht, den wahren Adel erreichen kann. Von Herberstein verleiht sich damit denselben Status, den Scipio der Ältere in der lateinischen moralistischen Literatur innehatte. Er präsentiert sich als einen der MAIORES, nach dem die Jüngeren ihr Leben gestalten sollen. Die sechs großartigen Ganzporträts unterstützen den gehobenen moralischen Anspruch: Sie zeigen das Tugendvorbild Sigmund von Herberstein in der Kleidung, in der er seine Großtaten vollbrachte bzw. die er zum Lohn für seine Großtaten geschenkt bekam. Das Tugendvorbild steht dem Leser somit stets leibhaftig vor Augen. Er soll sich die Taten einprägen und die Porträts werden ihm dabei helfen. Er wird sich auch an das Tugendvorbild erinnern, nachdem er das Buch weggelegt hat. Er wird sich in Zukunft immer wieder an die Porträts erinnern. Mit Hilfe der Erinnerungsbilder wird er Sigmund von Herberstein nacheifern. Man versteht, dass Von Herberstein bei dieser Ausrichtung des Textes den Abschnitt über die Genealogie des Hauses wegließ: Dieser hatte im Grunde seinen Sinn verloren, da das Werk ganz dem Tugendvorbild Sigmund von Herberstein gewidmet sein sollte.
Zwei Autobiographien
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XX. Persönlichkeitsverdopplung? Persönlichkeitsspaltung? Diskursspaltung? Dichterisches und prosaisches Ich in den Autobiographien des schweizer Reformators Joannes Fabricius/Hans Schmid (1565) 1. Einleitung. Zwei Autobiographien Eine Autobiographie deckt zuweilen nicht den gesamten Autobiographiebedarf einer Person ab. Das zeigt nicht nur die multiple Autobiographik des Österreichers Sigmund von Herberstein. Man könnte sagen: Eine Autobiographie reicht nicht zur Konstituierung des frühneuzeitlichen Menschen, der verschiedene Personen zur Schau tragen kann. Hierzu besitzen wir in dem in der Schweiz tätigen Humanisten und Reformator Joannes Fabricius Montanus (Hans Schmid, 1527–1566) einen besonders interessanten Fall, da er uns zwei parallele, kurz nacheinander verfasste Autobiographien hinterlassen hat. Aufgrund der zeitlichen Nachbarschaft der Autobiographien können Faktoren chronologischer und situationsbedingter Art, die Unterschiede verursachen können, von vorneherein ausgeschlossen werden. Fabricius hat seine Autobiographien jeweils genau datiert: Die Prosaautobiographie schrieb er im März des Jahres 1565, die metrische Autobiographie am 5. November desselben Jahres.1 Die beiden Autobiographien sind später nicht mehr in nennenswerter Weise revidiert worden. Fabricius starb unerwartet schon im folgenden Jahr (am 5. September) an der Pest und kam nicht mehr dazu, 1
Die Texte der beiden Autobiographien hat Siegmar Döpp herausgegeben in S. Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus. Die beiden lateinischen Autobiographien“, in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse 1998, Nr. 8.; die Prosaautobiographie findet sich auf S. 34–38, die Dichterautobiographie auf S. 39–45. Unten werden die Autobiographien nach Döpps Ausgabe zitiert (Prosaautobiographie mit Angabe des Paragraphen; Dichterautobiographie mit Angabe der Verszeile).
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Die Autobiographien des schweizer Reformators Fabricius
eine etwaige Ausgabe seiner Autobiographien zu betreuen, in deren Rahmen Änderungen hätten vorgenommen werden können. Es ist nicht nur die zeitliche Nähe, die einen Vergleich der beiden Selbstdarstellungen fruchtbar erscheinen lässt. Es liegt eine umfängliche Intertextualität thematischer und verbaler Art vor. Diese Intertextualität geht so weit, dass in der Prosafassung zwei Verszeilen (aus Ovid) auftreten, die auch in der metrischen Autobiographie zitiert werden.2 Fabricius hat bei der Komposition der metrischen Autobiographie seine Prosaautobiographie intensiv verwendet. Seine Arbeitsweise gestaltete sich also wohl zunächst so, dass er den Prosatext in Verse umschmiedete. Aufgrund dieser Ausgangslage kann man eine möglichst große Homogenität der Selbstkonstituierung erwarten. Somit ergibt sich ein interessanter Testfall: Ist es in der Tat richtig, dass die Diskursregeln unterschiedlicher Textsorten die Selbstkonstituierung prinzipiell steuern? Oder gibt es Fälle, in denen die diskursiven Unterschiede zwischen den Textsorten vernachlässigt werden können? Der Eindruck der Homogenität wird zunächst dadurch verstärkt, dass der Autor in beiden Fällen merkwürdigerweise vor allem seine Kindheit und Jugend darstellt (Prosaautobiographie § 1–11; Dichterautobiographie Z. 1–166), während er sein Leben als Erwachsener, seine Karriere als Kirchenmann und Reformator nur skizziert (§ 12–14; Z. 167–212). In beiden Fällen sind also, in auffälliger Gleichläufigkeit, ca. 80 % der Darstellung der Kindheit und Jugend und nur 20 % dem Erwachsenenalter gewidmet. Zur Homogenität trägt weiter bei, dass in beiden Fällen Bekenntnisse vorzuliegen scheinen. Der Autor bekennt Tatsachen und Umstände, die nicht eben positiv zu bewerten sind, in denen sich Schwächen, ja Fehlverhalten und Scheitern manifestieren. In der Dichterautobiographie gibt Fabricius zum Beispiel zu, dass er in seiner Jugend faul gewesen sei und sich einen Bildungsrückstand eingehandelt habe (Z. 85–96). Das hatte u. a. zur Folge, dass er wohlgemerkt in seinem zwanzigsten Lebensjahr die Regeln der lateinischen Metrik noch immer nicht beherrschte (Z. 109–112; § 11). In der Prosaautobiographie stellt er zum Beispiel den misslungenen Versuch dar, seinen Bildungsweg in Strassburg an dem Gymnasium, das dort eröffnet werden sollte, fortzusetzen: Statt in der Bildung voranzukommen, half er damals längere Zeit in der Metzgerei des Vaters aus (§ 5–6).
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Prosaautobiographie, § 9: „Vivitur ex rapto […] socer a genero“ (= Dichterautobiographie, Z. 155–156).
Zwei Autobiographien
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Dennoch springen bei einem ersten Vergleich der Autobiographien einige Unterschiede ins Auge. Zum Beispiel wirkt die Dichterautobiographie emotionsgeladen, während die Prosaautobiographie einen vergleichsweise zurückhaltenden Eindruck macht.3 Siegmar Döpp wies für die Dichterautobiographie auf die zahlreichen direkten Anreden (Apostrophen) hin, ein aus der Antike stammendes Darstellungsmittel, das Gefühlsbetontheit signalisiert: Der Autor wird in seinem Gefühlsleben derart angeregt (oder gibt dies vor), dass er Personen oder Sachen plötzlich direkt anredet. So wendet sich Fabricius in der Dichterautobiographie unvermittelt an die Stadt Zürich (Z. 40; 45ff.; 75–76), die Stadtväter von Zürich (Z. 91 ff.), an die Freunde Funck (Z. 141–142) und Alt (Z. 106), an den Humanisten und Reformator Kaspar Peucer (Z. 145) sowie an den römischen Dichter Tibull (Z. 120). Besonders gefühlsbetont ist der Abschnitt, in dem Fabricius den Verlust seiner Mutter beschreibt. Sie brachte den nur Siebenjährigen aus dem Elsass nach Zürich zu ihrem Bruder Leo Jud, der den Knaben ausbilden sollte. Die Autobiographie schildert den Schmerz des Knaben Fabricius beim Abschied von der Mutter: So gingen einige fröhliche Sonnen dahin, Bis plötzlich die glücklichen Tage vorbei waren: Ach ich Armer, schon kehrte die Mutter zurück in die Heimat, Und ich, ein weinender Knabe, werde auf fremder Erde zurückgelassen. „Auf Wiedersehn, liebe Mutter“, „Auf Wiedersehn, lieber Sohn“, So sagten wir, das waren die letzten Worte zum Abschied. Ich folge ihr, als sie sich von mir entfernt, mit feuchten Augen, Innerlich koche ich über vor Schmerz. Nachher, als ich sie aus den Augen verlor, die ihren Dienst versagten, Da ging die Sonne unter, zog zurück sich in schwarze Nacht (Z. 59–68).4
Dieser Trennungsschmerz lässt sich unschwer nachvollziehen: Dass ein Kind in einem so jungen Alter von den Eltern getrennt wird, hat, wie es scheinen mag, fast zwangsläufig traumatische Folgen. Das Identitätsgefühl des Kindes, das stark mit der Kernfamilie, zuerst Vater und Mutter, verbunden ist, wird schwer verletzt. Das traumatische Erlebnis des Identitätsverlustes scheint hier natürlich vorgegeben zu sein, und somit automatisch die Darstellung zu sanktionieren. Wenn wir die Mentalität von Fabricius’ Zeitgenossen berücksichtigen, verliert die hier geschilderte Reaktion jedoch ihre natürliche Selbst3
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Dies registrierte auch Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus“, 32: „Das emotionale Element ist nun in Vita II wesentlich stärker“. Der lateinische Text der Dichterautobiographie ist im Appendix abgedruckt (XXI. 6).
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verständlichkeit: In der Frühen Neuzeit gingen Eltern mit ihren Kindern prinzipiell distanzierter und „sachlicher“ um, als es dem modernen westlichen Standard entspricht: jedenfalls nahm man kaum Rücksicht auf die Wünsche des Kindes. Nicht selten wurde die Erziehung Ammen, Hauslehrern und anderen nicht zur Kernfamilie gehörigen Personen überlassen, während Mutter und Vater im Hintergrund blieben. Auch kam es häufig vor, dass Kinder bei Verwandten aufwuchsen; in der Regel wurde nicht viel Federlesens gemacht. Die Kinder hatten keine Stimme im Kapitel und fügten sich ins Unvermeidliche. Auch unter den Verfassern lateinischer Autobiographien gab es einige, die Fabricius’ Schicksal teilten. Zum Beispiel wuchsen Giannantonio Campano und Eobanus Hessus ebenfalls bei ihren Onkeln auf (und wurden von ihnen ausgebildet). Jedoch haben sich weder Campano noch Eoban in ihren Autobiographien darüber beschwert. Campano drückt in seiner ersten Autobiographie sogar seine Freude darüber aus, dass er den Vater verlassen durfte und bei seinen Onkeln aufgezogen wurde.5 Wenngleich also die Trennung von der Mutter für Fabricius ein schmerzliches Erlebnis gewesen sein mag, so lag für den Autobiographen Fabricius dennoch kein Sachzwang vor, dieses Erlebnis im Werk darzustellen oder gar hervorzukehren. Dies wird sogleich manifest, wenn man einen Blick in Fabricius’ Prosaautobiographie wirft. Dort ist von einem Schmerz über die Trennung von der Mutter nicht die Rede, im Gegenteil: Die „Verbannung“ nach Zürich erscheint als außergewöhnliche Gunst, als Vorrecht, ja als Beweis von Gottes Gnade, der Gutes mit dem Auserkorenen Fabricius vorhat! Es war ja keineswegs selbstverständlich, dass Kinder eine intellektuelle Ausbildung erhielten. Für einen Großteil der Bevölkerung galt, dass dazu schlicht die finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichten. Bei mäßigem Besitz konnte oft nur ein Kind (ein Sohn) auf eine intellektuelle Weiterbildung rechnen. In Fabricius’ Familie gab es drei Söhne, und von diesen war Joannes der jüngste. Nur einer der Brüder konnte in der Fremde vom Onkel Leo Jud ausgebildet werden: Dieses Vorrecht fiel zunächst dem mittleren Sohn zu, der die größte Intelligenz zu besitzen schien. Er starb jedoch in jungem Alter. Das Vorrecht ging in der Folge auf den ältesten Sohn über. Es stellte sich jedoch heraus, dass dessen Intelligenz nicht ausreichte: Nur durch diesen doppelten günstigen Zufall bekam Joannes Fabricius überhaupt eine Chance:
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Vers 25 ff. Vgl. oben Kap. VIII, „Seiltanz zwischen Ovid-Legitimierung und OvidContrafakturierung: Giannantonio Campanos erste Autobiographie (1455/56)“.
Zwei Autobiographien
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Wir waren drei Brüder, und in einem solchen Abstand voneinander geboren, dass jeweils der ältere dem jüngeren um zwei Jahre voraus ging. Ich war der jüngste. Lorenz, der mittlere Bruder, war für die Ausbildung zum Intellektuellen vorherbestimmt, weil dieser Knabe eine scharfe und lebhafte Intelligenz besaß, jedoch eine unzeitige, wie sich später herausstellte: Denn der Tod ereilte ihn und beraubte die Eltern aller ihrer Hoffnungen. Sodann wurde mir der älteste Sohn Jakob wegen seines höheren Alters vorgezogen und war er es, der auf Onkel Leos Geheiß an Lorenz’ Stelle nach Zürich geschickt wurde. Als er dort eine zeitlang die Schule besucht hatte, stellte sich heraus, dass sich sein Geist für das Studium nicht eigne, obwohl er sich später zu einem berühmten Meister in der Bildhauerkunst und in der Architektur entwickelte. Das kann man aus seinen Werken schliessen, die man überall in Deutschland sehen kann, vor allem in Bingen nördlich von Mainz, wo er starb und in der Kirche ein ehrvolles Grab erhielt, mit einem Grabstein und einem Grabmonument, wegen seiner Kunst, die das dortige Volk bewunderte. Aber auch er erreichte das vierzigste Jahr nicht. Weil mein Bruder aber eine andere Lebensweise erstrebte, wurde damals ich, da mich die göttliche Gnade begünstigte, anstatt seiner endlich auserwählt. Ich reiste im siebenten Lebensjahr nach Zürich und besuchte dort mit Leos Sohn Hans, der ungefähr gleichaltrig war, die Schule. (3) Fratres omnino tres fuimus, sic per intervalla nati, ut semper maior natu minorem biennio antecederet. Ego omnium fui minimus. Medius nostrum Laurentius studiis erat destinatus, quod in eo puero ingenium esset argutum et vegetum, sed nimis praecox, ut postea eventus declaravit; morte enim praeventus parentum spem omnem destituit. Exinde maximus natu Iacobus mihi propter aetatem praelatus pro Laurentio hortatu Leonis avunculi Tigurum missus est. Ibi cum aliquamdiu scholas frequentasset, deprehensus est ingenio a studiis alieno et averso, qui tamen postea in arte sculptoria et architectonica celebris magister effectus est. Quod eius monumenta testantur, quae passim per Germaniam cernuntur, maxime Bingae infra Moguntiam, ubi et mortuus et in templo honorifice sepultus est monumento et lapide addito propter artem, quam in eo gens illa admirabitur. Sed is quoque quadragesimum aetatis annum non attigit. Tunc vero, quod frater meus ad aliud vitae genus aspiraret, ego in eius locum Divina sic favente gratia tandem cooptatus sum. (4) Tigurum veni septimo aetatis anno ibique cum Leonis filio Ioanne, quod aequales fere essemus, scholas frequentavi.6
Diese völlig gegensätzliche Darstellungsweise erweckt unsere Verwunderung. Ein und dasselbe Ereignis wird dort als Elend und Misere, hier durchaus positiv, ja optimistisch interpretiert: Wir spüren förmlich die Aufbruchsstimmung des kleinen Joannes, als er – endlich! – nach Zürich reisen durfte. Dem Diskurs des Elends und der Misere steht der des ,Erwähltseins‘ gegenüber. Das Wort „erwählt“ (lateinisch: cooptatus) ist bemerkenswert und bedeutungsgeladen: cooptatus wird seit der römischen Antike für die sehr ehrvolle Selektion in den Senat einer Stadt (oder in ein vergleichbares Führungsgremium) verwendet. Daraus ergibt 6
Prosaautobiographie, § 3–4.
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sich, dass Fabricius die Tatsache, dass er nach Zürich reisen durfte, als ein sehr ehrvolles und positives Ereignis dargestellt hat. Von einer Rolle der Mutter im Zusammenhang mit der Reise nach Zürich ist in der Prosaautobiographie überhaupt nicht die Rede: Es scheint, dass Fabricius alleine in die Schweiz reiste! Auch wirkt er keinesfalls bemitleidenswert oder verlassen: Wie er vermeldet, hatte er in Leo Juds gleichaltrigem Sohn Hans einen ständigen Kameraden, zuhause und in der Schule (§ 3). In der Dichterautobiographie schien es, als ob Fabricius gewissermaßen für immer von der Mutter Abschied nehmen musste; aus der Prosaautobiographie geht jedoch hervor, dass es regelmäßigen Kontakt zum Elternhaus gab. Auch gehören das Elsass und die Schweiz nicht völlig getrennten Welten zu: Bergheim (der Standort der Eltern) ist von Basel (wo Fabricius in der Folge ausgebildet wurde) nur etwa 75 km, von Zürich nur etwa 140 km entfernt. Obwohl die Überbrückung dieser heute kaum Aufsehen erregenden Distanzen im 16. Jahrhundert mehr Zeit kostete, ließ die Entfernung dennoch mehrere Besuche im Jahr zu. Die Ausbildungsstätten anderer Humanisten befanden sich zuweilen in viel größerer Distanz zum Elternhaus: Petrarca studierte drei Jahre in Bologna, während sein Elternhaus in Carpentras (bei Avignon) situiert war (Land- und Seeweg im günstigsten Fall ca. 420 km), Conversino da Ravenna wurde in Norditalien ausgebildet, während sein Vater in Ungarn tätig war, Campano studierte in Perugia, während sich sein Elternhaus in Galluccio befand (mehr als 300 km entfernt) usw. Keiner dieser Humanisten hat in seiner Autobiographie einen etwaigen Trennungsschmerz vom Elternhaus dargestellt. In Fabricius’ Fall kommt der diesbezüglichen Diskrepanz zwischen der Dichter- und der Prosaautobiographie besonderes Interesse zu. Wie erklärt sie sich? Andererseits brachte Fabricius in seiner Prosaautobiographie eine Reihe von Privatangelegenheiten zur Darstellung, die in der Dichterautobiographie fehlen. Der soeben zitierte Abschnitt über die Karriere seines älteren Bruders Jakob ist nur ein Beispiel dafür. Unter anderem erzählt Fabricius in der Prosaautobiographie von einem Besuch seiner Mutter bei Onkel Leo in Zürich (§ 2), übrigens ein weiterer Hinweis darauf, dass es öfters Familienbesuche gegeben haben muss. Auch bemüht sich Fabricius an dieser Stelle um eine weitere Präzisierung der Datierung: Der Besuch hat seiner Ansicht nach vor der Weinernte stattgefunden (sonst wäre Joannes wohl in Zürich zur Welt gekommen). Weiter beschreibt Fabricius einen Elsass-Aufenthalt ausführlich (§ 5–6), und zwar vor allem den Privatbereich, den Aufenthalt im Elternhaus. Davon findet sich in der Dichterautobiographie jedoch keine Spur. Wie ist dies zu erklären?
Fabricius’ Lebenslauf
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Bevor wir diese Diskrepanzen näher zu orten und zu verstehen versuchen, ist es notwendig, einen Blick auf Fabricius’ Lebenslauf zu werfen.
2. Fabricius’ Lebenslauf: Ausbildung zum protestantischen Pfarrer und humanistischen Schulmann7 Hans Schmid/Joannes Fabricius wurde im September/Oktober 1527 in Bergheim, einem Ort des Oberelsass (ca. 15 km nördlich von Colmar), als Sohn des Metzgers Jakob Schmid geboren. Als Siebenjähriger übersiedelte er zu seinem Onkel mütterlicherseits, Leo Jud, nach Zürich, um dort zur Schule zu gehen.8 In der Folge sorgte ein anderes in der Schweiz lebendes Familienmitglied, Juds Cousin Johann Heinrich Winckeli, in Basel für Fabricius’ Ausbildung, indem er ihn auf seine Kosten bei dem Humanisten Huldrych Mutz (Huldricus Mutius, Huldrych Hugwald, 1496–1571) zur Schule schickte. 1536 war Fabricius bei der Leichenfeier für Erasmus zugegen. Als man im Jahre 1537 in Straßburg die Eröffnung eines humanistischen Gymnasiums plante, wurde Fabricius dorthin geschickt. Dieses Vorhaben hatte jedoch nicht den erwünschten Erfolg. Nach einem verlorenen Jahr sandten die Eltern Joannes wieder zu Leo Jud nach Zürich. Der Elfjährige wurde nunmehr von seinem Onkel ausgebildet. Als dieser 1542 verstarb, besuchte Fabricius die von Zwingli gegründete Zürcher Theologenschule. Die Stadt Zürich finanzierte sein Studium der höheren Fakultäten auf den Universitäten Marburg und Leipzig (1545–1547). Die Stadtväter von Zürich strebten danach, eine Riege reformierter Intellektueller heranzuziehen, um in der Folge wichtige weltliche und kirchliche Stellen besetzen zu können. Nach Abschluss des Studiums kehrte Fabricius nach Zürich zurück, wo er eine Stelle als Pfarrer (in Schwamedingen bei Zürich) und Lehrer (am Zürcher Großmünster) erhielt (1547). Nachdem Fabricius eine Stelle mit gesichertem Einkommen erlangt hatte, gründete er einen Hausstand. Er heiratete noch im selben Jahr Katharina, die Tochter Ulrich Stutz’, des Kaplans des Zürcher Großmünsters. Bei der Geburt des ersten Kindes starben jedoch zu Fabricius’ Leidwesen Mutter und Kind. Fabricius verheiratete sich bald zum zweiten Mal, mit Agatha, der Tochter des Zürcher Griechischlehrers und Humanisten Rudolphus Collinus, der ebenfalls eine lateinische Autobiographie verfaßte.9 7
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Für Fabricius’ Biographie vgl. Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus“, 13–21; C. Bonorand, Art. „Fabricius Montanus“, in: NDB 4 (1959), 737–738; T. Schiess, „Johannes Fabricius Montanus“, in: Zürcher Taschenbuch 27 (1904), 253–310; Th. Vulpinus, Der lateinische Dichter Fabricius Montanus (aus Bergheim im Elsaß ) 1527–1566, Straßburg 1894. Zu Leo Jud vgl. K.-H. Wyss, Leo Jud. Seine Entwicklung zum Reformator, Frankfurt a. Main 1976. Vita ab ipso descripta, in: Miscellanea Tigurina I (Zürich 1722), S. 1–21; deutsche Übersetzung (von S. Vögelin) „Rudolf Collins Schilderung seines Lebens“, in: Zürcher Taschenbuch 2 (1859), 179–220.
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Agatha schenkte ihrem Mann zwölf Kinder, von denen allerdings neun bereits in jungem Alter starben. Inzwischen machte Fabricius Karriere: Vier Jahre nach seinem Eintritt als Lehrer an der Schule des Großmünsters (1547) wurde er zum Rektor der Zürcher Fraumünsterschule ernannt (1551), eine Stelle, die er mehr als sechs Jahre bekleidete. Neben seiner Tätigkeit als humanistischer Schulmann und reformierter Pfarrer entfaltete er eine vielseitige literarische Tätigkeit. Auf Anregung des herausragenden neulateinischen Dichters Petrus Lotichius verfaßte er seit 1545 neulateinische Gedichte. Seine gesammelten Gedichte, Poemata, gab er 1556 bei der Zürcher Druckerei Gebrüder Gessner heraus.10 Die Gedichte setzten sich aus Lyrik, Elegien, Epitaphien und einem Epyllion, Die Bürgermeister der Stadt Zürich,11 zusammen. Daneben verfaßte er naturwissenschaftliche und theologische Traktate, unter anderen eine Naturgeschichte der Vierfüßer, die 1555 in Zürich, ebenfalls bei den Gebrüdern Gessner, erschien,12 eine Predigt gegen das Konzil von Trient (1562),13 einen Dialog über die Vorsehung Gottes, De providentia divina (1563), eine Polemik gegen die spanischen Theologen Petrus Fontidonius und Casparus Cardillus (1565), weiter einen Predigtsteller,14 eine Trauerrede für den berühmten Reformator Pellican,15 einen satirischen Dialog mit dem Titel Echo, weiter zwei deutsche Schriften, Der Christen Glaub und das Trost-Büchlin, genommen uß dem 2. Capitel des Propheten Habackuks, gestelt auf allerley Trübsal.16 1557 fiel Fabricius die Aufgabe zu, den Kirchensprengel Chur, der damals noch nicht der Eidgenossenschaft zugehörte, dem reformierten Glauben zu sichern. Er widmete sich seiner Aufgabe mit großer Hingabe. Wie seine beiden Brüder erreichte auch Joannes Fabricius „nicht das vierzigste Jahr“: Im September 1566 starb er (wie seine zweite Frau) an der Pest.
3. Klage- und Trauerdiskurs gegenüber Gelehrten- und Bildungsdiskurs Der merkwürdige Unterschied, der sich oben zwischen der Dichterautobiographie und der Prosaautobiographie in Bezug auf die Übersiedlung nach Zürich ergab, stellt sich als symptomatisch heraus: Bei einem nä10
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Fabricius, Poemata (Sylvarum liber unus; De consulibus Tigurinis liber primus; De Vuilhelmo Thellio Elegia […]), Zürich, Gebrüder Gessner, [1556]. De consulibus Tigurinis liber primus. Differentiae animalium quadrupedum secundum locos communes […], Zürich, Gebrüder Gessner, 1555. Oratio. Qua docetur concilium Tridentinum sine scelere a Christianis hominibus frequentari non posse, Basel, Joannes Oporinus, [1562]. De formandis concionibus […] institutio (unvollendet; vgl. Miscellanea Tigurina III, Zürich 1724, 395–396). Oratio, qua et vita reverendi […] Conradi Pellicani et brevis temporis illius res continetur, primum in lucem edita per Raphaelem Eglinum Iconium, Marburg, W. Kezelius, 1608. Für den Beleg der übrigen Werke vgl. Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus“, 8–9.
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heren Vergleich der beiden Texte ergeben sich weitere Diskrepanzen. In der Dichterautobiographie verläuft der Bildungsweg des Fabricius auf unbefriedigende, frustrierende, geradezu katastrophale Weise: Nachdem er mit sieben Jahren schmerzhaft seine teure Heimat – „die glückseligen Fluren des Vaterlandes verlassen“ (Z. 38) muss, um in Zürich vom Onkel ausgebildet zu werden, verliert er in unmittelbarer Folge seinen Erzieher. Einsam, haltlos, ohne Lehrer und überhaupt jeder Bezugsperson beraubt wird der Knabe, wie es scheint, in der Fremde seinem Los überlassen. Diese unvorhersehbare, katastrophale Vernetzung von Unglücksfällen führt zur „ersten Etappe des Untergangs“ seines „Geistes“ („ingenii prima ruina“, Z. 84): Schon brachte mich Leo an die heilige Schwelle der Musen, Schon benetzte der beredte Mann meine Stirn mit Aonischem Wasser, Schon schien mit vollen Segeln ich übers Meer zu fliegen, Als ein grausiger Sturm meinen Kahn erfasste. So bleibt nichts auf Erden für immer fest bestehen: Das neidische Schicksal raubte mir den geliebten Greis, Den Führer meines Lebens, mein Licht und meinen Lehrer: Das war die erste Etappe des Untergangs meines Geistes. Von da an fing ich an, untätig die Zeit meines faulen Lebens zu fristen Und langsam mich mit trägem Fuß fortzuschleppen. So wie ein Kahn ohne Steuermann von den Wellen Hin- und hergeworfen wird und den Kurs nicht mehr halten kann, So konnte ich ohne Lehrer den eingeschlagenen Weg nicht weiter fortsetzen. Euch, Väter, gelehrte Herzen, beschuldige ich nicht, Mäzene, die mir die Stadt Zürich schenkte […]. Wenn ich keine oder kaum Fortschritte gemacht habe, so ist dies, ich bekenne es, Einzig und allein meine Schuld, euch trifft kein Tadel (Z. 77–96).
Die Prosaautobiographie entwirft nicht nur ein anderes Bild von Fabricius’ Bildungsweg; aus den Fakten, die sie vermittelt, geht klipp und klar hervor, dass die Konstruktion der Dichterautobiographie sich mit den tatsächlichen Begebenheiten in einem auffälligen Spannungsverhältnis befindet. Zunächst ist durchaus unrichtig, dass der Onkel bald nach der Übersiedlung des Fabricius nach Zürich gestorben sein soll: Fabricius übersiedelte 1534 nach Zürich, sein Onkel starb aber erst 1542, also mehr als acht Jahre später, als Fabricius mittlerweile fünfzehn war. Acht Jahre sind, was die Ausbildung eines Kindes betrifft, eine lange Zeit: In der Frühen Neuzeit reichten sie in der Regel zum Abschluss der Schulzeit aus. Überhaupt hatten Fünfzehnjährige im Allgemeinen die Schule absolviert. Fabricius’ Behauptung, dass er als Siebenjähriger einsam und allein in der Fremde seinem Schicksal überlassen war und aus diesem
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Grund in der Bildung keine Fortschritte machte, steht in krassem Widerspruch zu den tatsächlichen Ereignissen. Sie stimmt auch deshalb mit den realen Begebenheiten nicht überein, weil es einige weitere Erzieher gab, die sich des Knaben annahmen: den zweiten Onkel Johann Heinrich Winckeli, den in Basel tätigen Lateinlehrer Huldrych Mutz (Mutius), den aus dem Elsass stammenden Reformator Martin Bucer sowie die Pädagogen der Zürcher Theologenschule. Die Gegensätzlichkeit in der Darstellungsweise der beiden Autobiographien ist geradezu kurios: In der Dichterautobiographie erblicken wir einen verlassenen, deprimierten Knaben, der nichts lernt, bis Petrus Lotichius Secundus den bereits Zwanzigjährigen in die Regeln der lateinischen Metrik einweiht; in der Prosaautobiographie treffen wir eine sorgfältige Beschreibung eines etappenreichen Bildungsweges an (vom ABCSchützen bis zum Theologie-, Medizin- und Jurastudenten). In der Dichterautobiographie begegnen wir der Klage über eine geradezu paralytische Lähmung und extreme Untätigkeit des Knaben, in der Prosaautobiographie treffen wir jedoch einen beflissenen Schüler an, der auf seine Lehrer und die humanistischen Beziehungen, die ihm zuteil wurden, stolz ist. Das völlige Ausblenden der meisten Fakten, die sich auf Fabricius’ Schulbildung beziehen, in der Dichterautobiographie ist umso auffälliger, erstens, weil diese Fakten vorrätig und leicht zugänglich waren – der Autor hatte sie ja in seiner Prosaautobiographie bereits selbst zusammengestellt – und zweitens, weil der Bildungsdiskurs für einen Humanisten des 16. Jahrhunderts einen hohen Stellenwert besitzt: Die Humanisten sind in der Regel auf ihre humanistische Ausbildung und auf das, was sie sich erarbeitet haben, stolz. Ähnlich auffällige Diskrepanzen ergeben sich in Bezug auf die Darstellung des Universitätsstudiums. In der Prosaautobiographie listet Fabricius beflissen seine Universitätsprofessoren in Marburg und Leipzig auf (§ 10): den Theologieprofessor Andreas Hyperius (Gheeraerdts, geboren 1511, 1541–1564 Professor in Marburg), den Juristen Johann Oldendorp (ca. 1480–1567), die Medizinprofessoren Joannes Dryander (Eichmann, 1500–1560) und Janus Cornarius (Johann Haynpul, 1500–1558) in Marburg17 sowie die Gräzisten Joachim Camerarius d. Ä. (1500–1574) und Wolfgang Sybotus in Leipzig. In der Dichterautobiographie scheint seltsamerweise keiner dieser Universitätslehrer auf: Der Studienort Marburg wird dort gerade eben flüchtig in einer poetischen Umschreibung ver17
Für einschlägige Literaturhinweise in Bezug auf die Marburger Professoren vgl. Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus“, 18.
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meldet („Schule an der Lahn“, Z. 104), jedoch redet Fabricius in keiner Weise vom Universitätsunterricht. Wir erfahren nicht einmal, welche Fächer er studierte, während er diese in der Prosaautobiographie sehr wohl benennt (die höheren Fakultäten Theologie, Medizin und Jurisprudenz). Aus der Dichterautobiographie gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass Fabricius sich ausschließlich nach Marburg begab, um bei Lotichius (Poesie) zu lernen. Dies ist aber ziemlich kurios, da Lotichius damals kein Universitätsprofessor (erst viel später unterrichtete er Medizin in Heidelberg), sondern gerade erst ein siebzehnjähriger Student war. Lotichius’ Verdienst war anscheinend, dass er Fabricius mit der lateinischen Metrik vertraut gemacht hat. In der Dichterautobiographie konstituiert Fabricius seinen Bildungsweg in dem Sinn, dass er nach Marburg reiste, um das Verfassen lateinischer Poesie zu erlernen. Statt der diversen Universitätsprofessoren der Prosaautobiographie treten in der Dichterautobiographie neben Petrus Lotichius Secundus einige antike Schriftsteller auf: die römischen Dichter Ovid, Tibull, Horaz und Vergil (Z. 119–122). Nach der Dichterautobiographie wären sie es gewesen, die den Geist des Jünglings geformt hätten. Demgegenüber überrascht, dass diese Riesen des Geistes in der Prosaautobiographie nicht einmal vermeldet werden. Die aufklaffenden Diskrepanzen sind so groß, dass die Frage aufkommen könnte, ob wir in den beiden Autobiographien überhaupt dieselbe Person vor uns haben. Sogar in Bezug auf die Datierung ergeben sich Inkonsistenzen: In der Prosaautobiographie treffen wir die (richtige) Datierung an, dass Fabricius als gerade erst Neunzehnjähriger in Marburg eintraf (§ 11; = Herbst 1545) und dass ihn damals der um ein Jahr jüngere Kommilitone Lotichius (der 1544 in Marburg eingetroffen war) mit der lateinischen Metrik vertraut machte. Die Marburger Zusammenarbeit mit Lotichius fand mit Sicherheit im Studienjahr 1545/1546 statt, da Lotichius Marburg schon im April 1546 wieder verließ, um in Wittenberg seine Studien fortzusetzen.18 In der Dichterautobiographie hingegen behauptet Fabricius, dass er zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt gewesen sei (Z. 110). Die Manipulation der Altersangabe nach oben hin ist umso auffälliger, als Fabricius mit ihr das Bekenntnis verknüpft, dass er erst in diesem Alter die Gesetze der lateinischen Metrik erlernte. Die Tatsache, dass es 18
S. Zon, Petrus Lotichius Secundus. Neo-Latin Poet, Bern-Frankfurt a. M.-New York 1983, 61–77. Der Empfehlungsbrief des Onkels Petrus Lotichius an den Wittenberger Professor Melanchthon datiert vom 21. 4. 1546.
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für einen Humanisten nicht gerade schmeichelhaft war, auf diesem Gebiet als Spätzünder zu gelten, macht Fabricius’ Neukonstituierung seines Lebens umso rätselhafter. In dieselbe Richtung geht, dass Fabricius in der Dichterautobiographie zwischen dem Unterricht bei Leo Jud und dem Erlernen der Metrik ein möglichst dickes Zeitpolster legt: Die Perzeption des Lesers wird von (nur) zwei Zeitangaben gesteuert: von der Übersiedlung in den Haushalt Leo Juds „im siebenten Lebensjahr“ („septima […] vitae […] aetas“, Z. 37) und dem Erlernen der Metrik in Marburg im zwanzigsten Lebensjahr (Z. 109–110). Fabricius kreiert damit ein Zeitpolster von ca. 13 Jahren. Diese chronologische Strukturierung stimmt abermals nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten überein: Leo Jud unterrichtete Fabricius nicht nur als Siebenjährigen, sondern auch später, zuletzt von 1538 (als der Knabe aus dem Elsass zu ihm zurückkehrte) bis 1542, also den Elf- bis Fünfzehnjährigen. Somit müssen wir zu unserer Überraschung registrieren, dass zwischen Leo Juds Tod und dem Anfang des Marburger Studiums (1545) nicht 13, sondern in Wirklichkeit nur etwa 3 Jahre liegen! Welchen Sinn hat eine so krasse Manipulation der Chronologie? Ihr kommt in der Neukonstituierung von Fabricius’ Bildungsweg ein argumentativer Wert zu. Entscheidend ist das Anliegen der Dichterautobiographie, Fabricius’ Bildungsweg einen katastrophalen Verlauf zuzudichten. Es wäre nämlich ganz und gar unglaubwürdig gewesen, dass ein Theologiestudent erst mit zwanzig Jahren die Regeln der lateinischen Metrik erlernt haben sollte. Wer Theologie studierte, musste als condicio sine qua non eine gründliche Schulung in der lateinischen Sprache vorweisen können. Der Theologieunterricht wurde ja in lateinischer Sprache gegeben. Eine gründliche Schulung in der lateinischen Sprache setzte weiter die Lektüre der lateinischen Schulautoren voraus, und dazu gehörten die Dichter Vergil und Ovid. Wer also Theologie studierte, beherrschte automatisch die Versmasse dieser Dichter, also den Hexameter und den Pentameter, zugleich die wichtigsten Versmaße der lateinischen Dichtung (des Epos, der Bukolik, der Elegie und des Epigramms), die sich aus den Versfüssen der Daktylen und Spondeen zusammensetzen. Fabricius behauptet in der Dichterautobiographie jedoch wörtlich, dass er mit zwanzig Jahren nicht wusste, was ein Daktylus und ein Spondeus war („cum mihi nec spondeus adhuc nec dactylus esset / notus“, Z. 111–112). Diese Behauptung muss also auf den Leser des 16. Jahrhunderts einen unglaubwürdigen, kuriosen Eindruck gemacht haben. Aus diesem Grund leitet Fabricius sie mit einer Beglaubigungsformel ein: „Ich spre-
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che die Wahrheit, obwohl die Sache seltsam erscheinen könnte“ („Vera loquor, quamvis possit res mira videri“, Z. 109). Die Neustrukturierung der Chronologie dient nun demselben Zweck. Fabricius behauptet nämlich, dass er den vor langer Zeit von Onkel Leo erhaltenen Unterricht vergessen habe (Z. 113–114). Dass er die lateinische Basismetrik vergessen habe, wirkt nur dann plausibel, wenn zwischen dem Unterricht bei Lotichius und dem bei Onkel Leo ein dickes Zeitpolster liegt. Wenn sich Fabricius an die Tatsachen gehalten hätte – nur drei Jahre Zwischenraum –, hätte ihm niemand abgenommen, dass er in so kurzer Zeit derartig einfache Grundregeln der lateinischen Literatur verlernt habe. Die Konstruktion des katastrophalen Verlaufs von Fabricius’ Bildungsweg in der Dichterautobiographie fügt sich in den übergreifenden Diskurszusammenhang der Lebensklage. Eine nähere Analyse der Dichterautobiographie lehrt, dass Fabricius dort sein gesamtes Leben als eine Aneinanderreihung von Katastrophen und Fehlschlägen konstituiert. Auf den Heimatverlust und Verlust der Eltern (Z. 37 ff.) folgt der Verlust des Onkels (Z. 77 ff.), auf diesen ein paralytisches Dahinvegetieren vom siebenten bis zum zwanzigsten Jahr mit einer damit zusammenhängenden horrenden Fehlleistung auf dem Gebiet der Wissensaneignung. Nicht einmal die Eroberung der Metrik mit zwanzig Jahren hat einen permanenten positiven Effekt: Obwohl Fabricius sofort zu dichten anfängt und sich damit Ruhm einheimst, handelt es sich um ein Strohfeuer. Dieses Scheitern erklärt Fabricius mit einer (aus protestantischer Sicht) politisch-militärischen Katastrophe: dem Schmalkaldischen Krieg (Juli 1546 – 24. März 1547), in dem Kaiser Karl V. die protestantischen Fürsten und Städte des Schmalkaldischen Bundes mit strategischer Meisterschaft, Rechenkunde und Glück schachmatt setzte. In Fabricius’ Dichterautobiographie vertrieb der Krieg die Musen und machte das Dichten unmöglich: Schon strebe ich empor, will den Gipfel des Parnass ersteigen, Als ein grässlicher Fall in die Tiefe mich wirft: Noch nicht zur Ruhe gekommen, wird Deutschland von einem neuen Beben erschüttert Und ein grausamer, von Bürgerblut triefender Krieg wallt auf. Der Delier und die neun Schwestern flohen hinweg, Und Kalliope stöhnte auf, da ihre Leier zerbrochen. Denn die jungfräulichen Musen vertragen sich nicht mit dem grausamen Mars, Sie fürchten die Waffen des unkeuschen Soldaten (Z. 127–134).
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In der Dichterautobiographie entsteht der Eindruck, dass der Krieg den Dichter Fabricius vertreibt. Wie Apoll und die Musen ergreift auch Fabricius die Flucht, muss den Musenort Marburg an der Lahn verlassen. Wir erblicken Fabricius, der verunsichert das Weite sucht, sich in die weiten Gebiete, die der Main durchzieht, zwischen Frankfurt (ca. 65 km von Marburg a. d. Lahn entfernt), Aschaffenburg, Lohr am Main, Würzburg, Schweinfurth, Bamberg, Erlangen, Fürth und Nürnberg (ca. 270 km von Marburg a. d. Lahn entfernt) hinausbegibt; Fabricius, der sich auf einer weit ausschweifenden Flucht befindet, so weit wie der Main in breiten Mäandern Mitteldeutschland durchzieht („Interea nos arva procul quae Maenus inundat“, Z. 135); Fabricius, der über die feindlichen Fluren des Nürnberger Gebiets streift („Noridos infestos et peragramus agros“, Z. 136). Was macht der vertriebene Dichter unterwegs? Er „besichtigt die bürgerlichen Lager der großen Führer“ (Z. 138), also die Städte, die am Main liegen. Die Flucht vermischt sich hier merkwürdiger Weise mit einer Art Tourismus. Fabricius’ Selbstkonstituierung in der Dichterautobiographie findet im Rahmen des auf die antike Literatur zurückgehenden Topos statt, dass Krieg kultur- und dichtungsfeindlich sei. Dieser Topos findet sich bei den von Fabricius angeführten römischen Leitdichtern Vergil, Tibull, Ovid und Horaz, zum Beispiel in der Bukolik des Vergil, wo die Soldateska die armen Dichter-Hirten aus ihrer Heimat vertreibt, oder in Tibulls Elegien, wo der Krieg eine ständige Bedrohung der schönen Welt des Dichters bildet. Wie sehr der Dichter Fabricius den Krieg hasst, geht aus dem hier zitierten Abschnitt in aller Klarheit hervor: Er wird mit einer Katastrophe und einem Erdbeben assoziiert, und als „Bürgerkrieg“ verurteilt. Die Soldaten verurteilt er als „unkeusch“ „incesti“ und stellt sie den keuschen und jungfräulichen Musen gegenüber. Die Soldaten erscheinen als grobe Vergewaltiger dieser jungfräulichen zierlichen Wesen. Es ist bemerkenswert, wie grell sich diese Selbstkonstituierung der Dichterautobiographie von den tatsächlichen Begebenheiten abhebt. Der Musensohn Fabricius ist nämlich keineswegs vor dem Krieg und vor den groben Soldaten in die unbestimmte Weite Mitteldeutschlands, die der Main durchzieht, geflohen. Auch wurde Marburg keineswegs vom Krieg bzw. herannahenden Soldatenscharen, die es auf die Musenstadt abgesehen hatten, bedroht. Das Umgekehrte war der Fall: Das protestantische Marburg war 1546 so sicher, wie es eine Stadt im 16. Jahrhundert nur sein konnte. Marburg war eine lutherische Hochburg und der Sitz eines der Führer des Protes-
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tantismus, Philipps des Landgrafen von Hessen. In Wirklichkeit zog der Landgraf selbst im Vollgefühl seiner Macht und Stärke mit einer ehrfurchtgebietenden Truppenmacht in den Krieg! Marburg wurde in der Propaganda nicht als „Musenstadt“, sondern mit einer konstruierten Etymologie als „Marsstadt“ („Martis urbs“) affichiert.19 Der kriegerische Landgraf führte sein Heer eine weite Strecke gegen Südosten, durch das Württemberger Hoheitsgebiet in die Umgebung Nürnbergs, um sich dort mit der zweiten Hauptmacht des Schmalkaldischen Bundes, den Truppen des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, zu vereinigen. Man beabsichtigte, der kaiserlichen Truppenmacht, die sich von Süden her formierte, entweder einen schweren Schlag zu versetzen oder ihr wenigstens den Riegel vorzuschieben. Kaiser Karl V. selbst hielt sich damals in der Reichsstadt Regensburg auf. Die noch überraschendere Tatsache ist, dass der friedliche Dichter Fabricius im Heer des protestantischen Landgrafen von Hessen mitzog! Das geht aus der Prosaautobiographie hervor: „Darauf folgte der für Deutschland sehr schmerzensreiche Schmalkaldische Krieg. Als der Landgraf seine Truppen ins Feld führte, nahmen wir […] an seinem Feldzug teil“ (§ 8). Der lateinische Ausdruck „eius castra sequi“ („unter ihm [dem Landgrafen; Anm.] Kriegsdienst leisten“) zeigt klar, dass Fabricius damals selbst Soldat war! Der Kriegsgegner der Dichterautobiographie zog also damals martialisch selbst ins Feld, ebenso wie sein Kommilitone Funck und später auch Petrus Lotichius.20 Die protestantischen Studenten kämpften aus jugendlichem Idealismus für ihren Glauben. Sie ballten die Faust gegen Kaiser Karl V., der durch sein Bündnis mit Papst Paul III. im Juni 1546 sein Vorhaben, gegen den Schmalkaldischen Bund militärisch vorzugehen, besiegelt und dies am 16. Juni den Schmalkaldenern mitgeteilt hatte. Bedeutend ist weiter, dass Fabricius nicht als Söldner, sondern als freiwilliger Soldat kämpfte. Für ausländische Studenten gab es keine wie immer geartete Verpflichtung, an dem Feldzug teilzunehmen. Die anderen beiden Schweizer Kommilitionen, die in Marburg studierten, Heinrich Opisander und Karl Schwenninger (§ 7), setzten im Gegensatz zu Fabricius und Funck zur selben Zeit in Marburg ihre Studien fort. Erneut möchte man fragen: Handeln die Prosaautobiographie und die Dichterautobiographie von derselben Person? 19 20
Z. B. Fabricius, Poemata, 4: „Martis in urbe“. Lotichius diente vom November 1546 bis zum März 1547 als Soldat im Heer des Schmalkaldischen Bundes.
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Die Autobiographien des schweizer Reformators Fabricius
Die Prosaautobiographie gehorcht anderen Diskursregeln – sie ist dem Bildungs- und Gelehrtendiskurs verpflichtet. Das führt zu anderen merkwürdigen Formationen. Während Fabricius zugibt, Soldat gewesen zu sein, spielt er diese Rolle durch eine zeitliche Einschränkung herab: Er berichtet, dass er nur „einige Tage“ im Heer des Landgrafen mitgezogen sei. Sodann hätte er sich, vom Ruhm des Gelehrten Melanchthon („Melanchthonis fama“) herbeigelockt, nach Wittenberg begeben.21 Auf diese Weise gestaltet er in der Prosaautobiographie den Feldzug zu einer Bildungsreise um. Wie verhält sich dies zu den historischen Fakten und zu den übrigen Angaben des Fabricius? Es ist völlig unglaubwürdig, dass Fabricius in der Tat nur einige Tage am Feldzug Philipps teilgenommen haben soll. Philipp zog in Richtung Nürnberg, und Fabricius teilt in der Prosaautobiographie mit, dass er dort angekommen sei (§ 8: „Nurimbergam usque progressi“). Die Truppenbewegung von Marburg bis in die Umgebung von Nürnberg dauerte aber mit Sicherheit länger als „einige Tage“. Ein so großes Heer konnte sich nicht im Tempo eines Kurierreiters fortbewegen. Auch bliebe völlig unverständlich, mit welcher Begründung Fabricius und seine Kommilitonen plötzlich im Feindesland Nürnberg abgemustert haben sollten. Es ist freilich klar, dass der Landgraf dies nicht zugelassen hätte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein Treffen mit den Truppen Karls V. stattgefunden (so dass Fabricius behaupten hätte können, er habe in irgendeiner Weise seine Aufgabe als Soldat bereits erfüllt), während die Schmalkaldener vorwärtsmarschierten und Regensburg, den Standort des Kaisers, ins Visier nahmen. Allerdings hielten sie in der augenblicklichen Lage eine Eroberung Regensburgs nicht für opportun – freilich ein schwerer taktischer Fehler, da sie zu diesem Zeitpunkt den Kaiserlichen weit überlegen waren. Der Kaiser, der noch Zeit brauchte, um seine Truppen zu sammeln, manövrierte taktisch im Herzogtum Bayern, wobei seine Gastherren die Schmalkaldener mit Erfolg glauben machten, Bayern würde sich neutral verhalten. Aufgrunddessen wollten die Schmalkaldener das Hoheitsgebiet Bayerns nicht verletzen, um dieses nicht ins Lager der Feinde abzudrängen, und sahen davon ab, den Kaiser zu diesem günstigen Zeitpunkt anzugreifen. Der Plan der Schmalkaldener war, alle Truppen zu vereinigen und von einem strategisch günstigen Ort aus operierend die Kaiserlichen zurückzuwerfen. 21
Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus“, 16, übernimmt diese Darstellung: „Die Freunde schlossen sich für einige Tage dem Heereszug des Landgrafen Philipp an“.
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Als Hauptstandort wählten sie Donauwörth, das die Truppenführer Schärtlin und Schankwitz am 20. Juli eingenommen hatten und das sich gerade außerhalb des Bayerischen Hoheitsgebiets in strategisch günstiger Lage diesseits der Donau befand. Dort trafen Philipp von Hessen und die Sachsen am 3. und 4. August mit ihren Truppen ein. Da das Schmalkaldische Heer diese konkreten Aufmarschpläne voll Zuversicht und Optimismus ausführte, ist es nicht wahrscheinlich, dass Fabricius vorher (Ende Juli) in Nürnberg abmusterte. In seiner Prosaautobiographie teilt er dementsprechend auch mit, dass er erst nach Wittenberg reiste, „nachdem der Sommer zu Ende war“ (§ 8). Ende Juli kann man jedoch nicht vom Ende des Sommers sprechen. Auch geht aus der weiteren Beschreibung der Reise nach Wittenberg hervor, dass sie stattfand, als der mit dem Kaiser kooperierende Bruder des Kurfürsten von Sachsen, Herzog Moritz, in Kursachsen einmarschierte (Anfang November 1546). Wir können somit mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen, wann Fabricius in Wittenberg eintraf: Wie er selbst in der Prosaautobiographie mitteilt, kam er nach Wittenberg, als die Professoren und Studenten die Stadt gerade verlassen hatten und nur noch ein paar Nachzügler wie Lotichius und Alt dawaren (§ 9). Das muss sich auf die zweite Novemberwoche des Jahres 1546 beziehen: Am 6. November hatte der Wittenberger Rektor Caspar Cruciger die Universitätsangehörigen aus Sicherheitsgründen zur Abreise aufgefordert. Sie sollten den Universitätsbetrieb bis auf weiteres in Magdeburg fortsetzen.22 Das bedeutet, dass Fabricius am 8. November oder kurz danach in Wittenberg eingetroffen ist. Das bringt weiter mit sich, dass er das Heer Philipps von Hessen wohl erst Ende Oktober verlassen hat, wahrscheinlich an dem Zeitpunkt, vor dem die Nachricht vom Angriff Moritz von Sachsens auf das Territorium seines Bruders eingetroffen war. Sonst wären Fabricius und Funck wohl nicht guter Dinge in Richtung Feind losgezogen. Ende Oktober würde im Übrigen einen plausiblen Zeitpunkt abgeben, an dem sich ein Freiwilliger aus dem Heereslager der Schmalkaldener verabschieden konnte: Denn zu dieser Zeit war die Handlungsfähigkeit der Protestanten auf den Nullpunkt herabgesunken: Bereits Mitte September mussten sie einen schweren Rückschlag einstecken, als die kaiserliche Verstärkung aus den Niederlanden unter der Leitung des Grafen Maximilian von Büren eintraf. Karl V. verfügte nunmehr über ein
22
Vgl. Zon, Petrus Lotichius Secundus, 77.
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den Schmalkaldenern überlegenes Heer von 50000 Mann Fußvolk und 14 000 Reitern. Der Kaiser nahm in unmittelbarer Folge Donauwörth, Dilligen und Lauingen ein, während sich die ausgetricksten Protestanten nach Westen zurückzogen. Bei Giengen nördlich von Ulm schlugen sie ein neues Lager auf, wo sie, der Initiative beraubt, des Kommenden harrten. Schließlich sollten sie sich am 23. November unverrichteter Dinge auflösen und sollte sich der Landgraf mit seinem Heer nach Hessen zurückziehen. Ende Oktober hatten die Studenten fast vier Monate Kriegsdienst geleistet, ohne dass eine Schlacht geschlagen war oder bevorstand. Andererseits hatte um diese Zeit an den Universitäten das Wintersemester angefangen. Es wäre nichts mehr als redlich gewesen, wenn sie den Landgrafen zu diesem Zeitpunkt um ihre Abdankung ersucht hätten. Somit ist wahrscheinlich, dass Fabricius in der Prosaautobiographie seine ca. viermonatige Teilnahme am Feldzug der Schmalkaldener auf „einige Tage“ reduziert hat, wobei er sie außerdem in eine Bildungsreise verwandelte. Zurück zum Klage- und Trauerdiskurs der Dichterautobiographie. Fabricius schlägt sich „mitten durch die feindlichen Linien“ („per medios hostes“, Z. 141) nach Wittenberg durch. Die gefährliche Reise stellt sich jedoch als Fehlschlag heraus: Mit dem Studium wird es nichts, da die Professoren die Stadt aus Angst vor dem Krieg verlassen haben. Einsam hält ein ehrwürdiger Greis die Stellung – Melanchthon. In der Dichterautobiographie klagt und weint auch er. Als er die Jünglinge begrüßt, bricht er in Tränen aus („lacrimis obortis“, Z. 149): Als wir die Hände schüttelten, stiegen ihm Tränen in die Augen und er sprach: „Welch furchtbarer Irrtum, o Jünglinge, führt euch hierher? Wir Elende erleben hier eine tränenreiche Zeit. Es wäre besser, ihr wärt auf helvetischer Erde geblieben. Jetzt ist das Zeitalter angebrochen, das Naso im Liede besingt, Und das mit Recht den Frommen ein Stöhnen entlockt: ‚Jetzt lebt man von Raub, ist der Gastfreund nicht mehr sicher vorm Gastfreund, Nicht der Schwiegervater vorm Schwiegersohn, und nirgends gibt es noch Treue‘.“ (Z. 149–156).
Melanchthon bezeichnet sein Zeitalter insgesamt als tränenreich und assoziiert es im Rahmen der antiken Kulturentstehungslehre, wie sie Ovid in seinen Metamorphosen entwickelt, mit dem Eisernen Zeitalter. Das eiserne Zeitalter ist die grausige Gegenwart des Deutschen Reichs. Sie wird von Hinterhältigkeit, Habsucht, Krieg und Mord gekennzeichnet:
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[…] Aus hartem Stahl ist das letzte Zeitalter. In dieses Zeitalter ergoss sich sogleich aller Frevel übelster Sorte. Es flohen die Scham, die Wahrheit, die Treue. An ihrer statt kamen die List Und die Tücke und die Hinterhältigkeit und die rohe Gewalt und die schändliche Habsucht […]. Vom reichen Boden verlangte man nunmehr nicht nur Frucht und notwendige Nahrung, Sondern man riss gewaltsam auf die Eingeweide der Erde, Schätze […] Grub man hervor, die zu Schandtaten verführten. Schon war das schädliche Eisen Ans Licht gekommen und das noch viel schädlichere Gold. Da tritt der Krieg hervor […] mit blutigen Händen und klirrenden Waffen. Jetzt lebt man vom Raub: Der Gastfreund ist nicht mehr vorm Gastfreund sicher, Nicht der Schwiegervater vorm Schwiegersohn; sogar Bruderliebe ist nunmehr Selten geworden (Ovid, Metamorphoses, I, 127–142).
Der klagende Greis Melanchthon tritt in der Dichterautobiographie als Unheilsprophet auf. Er rät den unwissenden Jünglingen, das ins Eiserne Zeitalter abgerutschte Deutschland zu verlassen und in die Schweiz zurückzukehren. Diese befolgen seinen Rat: „Unverzüglich“ („protinus“, Z. 164), nachdem sie sich nur zwei Tage in Wittenberg aufgehalten haben, reisen sie, abermals unter vielen Gefahren, durch die feindlichen Linien nach Zürich zurück (Z. 163–168). Die von pathetischem Klagediskurs gekennzeichnete Darstellung der Dichterautobiographie kontrastiert auch hier mit der der Prosaautobiographie. Dort treten vielmehr positive Aspekte hervor. Zum Beispiel hebt Fabricius hervor, dass man sie ohne Formalitäten in Wittenberg eingelassen hat (§ 8). Auch hat Melanchthon in der Prosaautobiographie keine Tränen in den Augen (§ 9). Bei den jungen Besuchern herrscht Freude vor, den berühmten Gelehrten persönlich kennen zu lernen. Auch betätigt sich Melanchthon nicht als Unheilsprophet, der den Jünglingen rät, in die Schweiz zurückzukehren. Wie sich aus der Prosaautobiographie herausstellt, reisen die beiden Studenten nach dem Gespräch mit Melanchthon keinesfalls nach Zürich, sondern nach Leipzig und Marburg (§ 9). Fabricius vermeldet ausdrücklich, dass sie längere Zeit in Leipzig Vorlesungen besuchten, und zwar die des Sybotus und des Joachim Camerarius d. Ä. Zum Ende des Herbstsemesters kehrten sie nach Marburg zurück, wo sie dementsprechend „mitten im Winter“ („media hieme“, § 10) ankamen. Sie beabsichtigten selbst zu diesem Zeitpunkt offensichtlich keine baldige Rückreise in die Schweiz, sondern setzen einfach ihre Studien in Marburg fort. Nach Zürich reisten sie erst „im März“ des folgenden Jahres (§ 11).
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Möglicherweise hatte die Rückreise mit einem militärischen Ereignis zu tun, das viele überraschte. Nachdem Karl V. die Schmalkaldener an der Donaufront taktisch besiegt hatte und der Angriff auf Kursachsen erfolgt war, ließ ihn ausgerechnet sein wichtigster katholischer Verbündeter, der Papst, im Stich, weil diesem der Erfolg des Habsburgers nicht geheuer war. Karl V. verlor nicht nur ein Fünftel seiner mühselig zusammengesammelten Truppenmacht, sondern vor allem seine Hauptfinanzquelle. Denn Karls Krieg gegen die Schmalkaldener wurde zum Großteil von der Kurie finanziert (700 000 Golddukaten), welche großes Interesse an der Eindämmung der protestantischen Macht hatte. Die meisten erwarteten nun, dass der Kaiser seinen ambitionierten Plan, die Entmachtung Philipps von Hessen und des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, aufgeben würde. Überraschenderweise entschied sich Karl V. zur entgegengesetzten Vorgehensweise: Der Taktierer, der monatelang Schlachten vermieden hatte, marschierte gegen Sachsen und schlug am 24. März 1547 die Schmalkaldener bei Mühlhausen vernichtend in offener Schlacht. Die Folgen dieses Ereignisses waren für die Protestanten desaströs. Der Schmalkaldener Bund brach völlig zusammen. Philipp, der nicht an der Schlacht teilgenommen hatte und im weit entfernten und sicheren Marburg verblieb, geriet so sehr in Panik, dass er sich freiwillig auf Gedeih und Verderben dem Kaiser auslieferte. Die protestantische Hochburg Marburg war auf diese merkwürdige Weise gefallen. Es wäre verständlich, wenn Fabricius und Funck, die ja fast vier Monate im Heer des Landgrafen gedient hatten, angesichts dieser Entwicklung schleunigst ins sichere protestantische Zürich zurückgekehrt wären. Mit der Rückkehr nach Zürich ist die Darstellung der Jugend und des Bildungsweges und somit der Hauptteil beider Autobiographien abgeschlossen (80 %): Was sich nachher ereignete, will Fabricius, wie er angibt, nur kurz zusammenfassen. In der Dichterautobiographie hebt er dies mit einem expliziten Textmarker hervor („brevibus commemorare“, Z. 170). Trotz der parallelen gerafften Darstellungsweise treten diskursbedingte Unterschiede hervor. In Zürich pflückt Fabricius die Früchte seiner gründlichen Ausbildung: Gleich zwei Ämter werden ihm zuteil, als Lehrer am Fraumünster und als Pfarrer in Schwamendingen bei Zürich, und damit eine gesicherte Lebensgrundlage, so dass er einen Hausstand gründen und heiraten kann. Diese durchaus positive Entwicklung überträgt er in der Dichterautobiographie in den Klagediskurs: Statt sich zu freuen, beklagt er die doppelte „ungeheure Last“, die ihm nun aufgebürdet wurde (Z. 173–174): „Mein
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Herz, das von der doppelten Sorge gequält wurde, / Stöhnte häufig auf, bedrückt von der ungeheuren Last“. In der Prosaautobiographie fehlt diese Klage bezeichnenderweise. Stattdessen betont Fabricius stolz und in der überzeugten Hochschätzung seiner eigenen Leistung, dass er im Lehramt nunmehr der Nachfolger seines früheren Lehrers am Fraumünster, Joannes Frisius, geworden sei (§ 12). Auch auf sein Predigeramt in der Pfarre Schwamendingen ist er in der Prosaautobiographie stolz: Er betont seine Eignung für dieses Amt, indem er darauf hinweist, dass er den Amtsvorgänger Joannes Pontisella schon vorher vertreten hätte. Sogar die göttliche Vorsehung wird zur Sanktionierung dieser seiner Amtsnachfolge ins Spiel gebracht (§ 12). In der Dichterautobiographie konstituiert sich Fabricius jedoch als einen Menschen, der seinem Amt nicht gewachsen ist. Am schönsten wäre es, wenn er von dieser Last befreit würde und sich der Dichtkunst widmen könnte. In der Prosaautobiographie hingegen erblicken wir einen Menschen, der selbstbewusst und freudig in seinem Berufsleben aufgeht. Abermals stellt sich die Frage: Handeln diese Texte von derselben Person? Zu guter Letzt reiht sich sogar das Eheleben in diese Diskursspaltung ein. Gleich nachdem Fabricius seine Ämter erlangte, verheiratete er sich mit der Kaplanstochter Katharina Stutz (im Herbst 1547). Nach ungefähr einem Jahr starb sie bei der Niederkunft ihres ersten Kindes. In der Dichterautobiographie bringt Fabricius seinen Schmerz und seine Trauer kräftig zum Ausdruck. Im lateinischen Pentameter konstruiert er seine letzten Worte an die Verstorbene. Der Dichter ist gebrochen, fristet nunmehr ein freudloses Dasein. Untröstlich legt er sich auf sein Bett, um sich ganz der Trauer hinzugeben: Kaum war sie Mutter geworden und hatte mich zum Vater gemacht, Da starb sie und nahm unsere Freude mit sich ins Grab. Als ich sie zu Grabe brachte, waren dies meine letzten Worte an sie: „Hier liegt die Flamme meiner Liebe begraben“. Ich verbrachte eine tränenreiche Zeit im Bette, das der Tod heimgesucht hatte, Tief verletzt leide ich an der Herzenswunde des Witwers, Die weder der Philyride23 mit heilkräftigen Kräutern zu heilen Vermag noch die heilenden Hände Paeons24 lindern konnten (Z. 181–188).
23 24
Der heilkundige Kentaur Chiron. Gott der Heilkunde.
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Es soll hier natürlich nicht bezweifelt werden, dass Fabricius über den Tod seiner Frau tief betrübt war. Der Vergleich der Dichterautobiographie mit der Prosaautobiographie ermöglicht uns jedoch, Diskursunterschiede dingfest zu machen. In der Prosaautobiographie vermeldet Fabricius zwar auch seinen Schmerz, aber lediglich mit vier Wörtern, um sogleich zu seiner zweiten Frau überzuwechseln (§ 13): „Als Witwer war ich sehr häufig zum Essen bei dem ehrwürdigen Patrizier Herrn Conrad Pellican eingeladen, bis ich mich mit der sehr ehrenwerten Tochter des Herrn Rudolphus Collinus verlobte“. Von einer lähmenden Trauer, die den gebrochenen, nicht mehr zur Freude fähigen Dichter in Tränen aufgelöst im verlassenen Bett festhielt, ist hier keine Rede, sondern von zukunftsorientiertem, sachlichem Auftreten. Fabricius heiratete offensichtlich unmittelbar nach Verstreichen der obligaten Trauerperiode. Die Fakten bestätigen dieses Bild: Seine zweite Frau schenkte ihm bis November 1565 nicht weniger als zwölf Kinder. Das setzt voraus, dass sich Fabricius sofort wiederverheiratet hat und impliziert – wie eine befreundete Wissenschaftlerin entsetzt bemerkte – dass Frau Fabricius Nummer Zwei zwischen 1550 und 1565 fast jedes Jahr ein Kind zur Welt gebracht haben muss.
4. Schmid sei Ovid. Die Dichterautobiographie und der Römer Dass der Autobiograph Schmid zu Ovid in einer besonderen Beziehung steht, stellt er selbst explizit heraus, indem er bei der Aufzählung seiner antiken Vorbilddichter „den Päligner“ an die erste Stelle setzt (Z. 119), obwohl dieser in chronologischer Hinsicht die letzte Stelle einnehmen müsste. Tibull, Horaz und Vergil sind nicht nur älter, sondern fungierten ihrerseits als Vorbilder Ovids.25 Ovid war der erste lateinische Dichter, den Fabricius gelesen hat, und die Lektüre seiner Werke hatte offensichtlich einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ovid taucht in der Dichterautobiographie überhaupt mehrfach auf: in wörtlichen Zitaten, Allusionen, Konzeptionen und diskursiven Verortungen. Er wird noch ein zweites Mal namentlich genannt: In der emotionalen Rede, mit der er die Studenten zur Heimkehr in die Schweiz mahnt, führt der Unheilsprophet Melanchthon Ovid („Naso“) als Autorität auf, indem er zwei Verse aus dessen Beschreibung des Eisernen Zeitalters aus den Metamorphosen 25
Ovid, Tristia IV, 10, 41–52.
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zitiert (I, 144–145). Wörtliche und konzeptionelle Intertextualität gehen hier Hand in Hand: In Ovids Worten schreibt Fabricius Deutschland ins Eiserne Zeitalter des Römers, eine Tatsache, die zum „Untergang“ („ruina“) seiner Person wesentlich beigetragen haben soll – was abermals eine Konzeption aufruft, die von Ovid stammt. In Fabricius’ Autobiographie bewegt sich der Dichter geradewegs seinem „Untergang“ zu. In einer einprägsamen Verszeile hat er diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht: „Das war die erste Etappe des Untergang meines Geistes“ („Haec fuit ingenii prima ruina mei“, Z. 84). Bemerkenswerter Weise ist der ursprüngliche Autor der Verszeile Ovid. In den Heroinenbriefen legt er sie Medea in die Feder (Epistulae Heroidum 12, 32: „Illa fuit mentis prima ruina mei“), die auf diese Weise ihre erste Begegnung mit Jason kommentiert. Die Liebe zu Jason hatte für Medea desaströse Folgen: Sie machte sie zur Verräterin ihres Vaters und Vaterlandes, beraubte sie ihrer Heimat und ihres Gatten und machte sie schließlich zur Mörderin ihrer eigenen Kinder. Die mehrfachen, gefühlsbetonten Übernahmen legen nahe, dass sich Fabricius mit Ovid assoziierte. Dies gilt a fortiori für die hauptsächliche intertextuelle Anbinfung an Ovid, die sich aus den Briefen aus Pontus (Epistulae ex Ponto) und den Trauergedichten (Tristia) ergibt. Bei den Trauergedichten und den Briefen aus Pontus handelt es sich um Sammlungen autobiographischer Elegien, die Ovid in der Küstenstadt Tomi am Schwarzen Meer schrieb, wohin er 8 n. Chr. von dem erzürnten Kaiser Augustus verbannt worden war. In diesen Elegien ist die Sehnsucht nach dem Vaterland („patria“) Rom ein stets wiederkehrendes Thema. In diesen Selbstdarstellungen scheint Ovids Leben nicht viel mehr zu sein als ein Dahinvegetieren in einem unwirtlichen, kulturlosen, kalten und feindlichen Land. Mit niemandem kann sich der Dichter in seiner lateinischen Muttersprache unterhalten, niemand versteht ihn, niemand liest dort seine Gedichte. Ovid hat sein Publikum verloren. Lediglich aus Langeweile oder um sich selbst zu trösten dichtet er weiter. Oft verdunkeln heftige Depressionen seinen Geist. Weil niemand Latein versteht, lernt er, wie er behauptet, aus Verzweiflung das Getische, um künftig in dieser Barbarensprache zu dichten. Seine furchtbare Lage wird von nie enden wollenden Wintern und kriegführenden Barbaren weiter erschwert. Im Rahmen der Trauergedichte verfasste Ovid eine Autobiographie im engeren Sinn (IV, 10),26 die von den Humanisten mehrfach rezipiert 26
Vgl. K. A. E. Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10: Rhetorische Strategien und Interpretation“, in: A. P. Orban, M. G. M. van der Poel (Hrsg.), Ad Litteras. Latin Studies in Honor of J. H. Brouwers, Nimwegen 2001, 113–129, mit weiterführender Literatur.
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worden ist. Ovids Autobiographie bietet in ihrer Verfasstheit Aspekte an, die die Selbstkonstituierung frühneuzeitlicher Dichter in verschiedene Richtungen lenken konnte. Als Beispiele wurden oben Giannantonio Campanos erste Autobiographie und die metrische Selbstbiographie des Eobanus Hessus analysiert. Hier soll uns die Frage beschäftigen, ob die Art, in der Ovid in Tristia IV, 10 über sich selbst redete, möglicherweise für die Besonderheiten, die Fabricius’ Dichterautobiographie von seiner Prosaautobiographie unterscheiden, (mit)verantwortlich sein könnte. Denn der Vergleich der Dichterautobiographie mit der Prosaautobiographie bei gleichzeitiger Analyse der historischen Gegebenheiten hat zahlreiche auffällige Formationen der Dichterautobiographie zu Tage gefördert, die bisher zwar registriert wurden, aber nicht mit letzter Klarheit gedeutet werden konnten. Warum beschreibt Fabricius seine Reise nach Zürich in der Prosaautobiographie als positives, in der Dichterautobiographie jedoch als negatives und beklagenswertes Ereignis? Warum zählt er in der Prosaautobiographie die einzelnen Stationen seines Bildungsweges auf, während er sie in der Dichterautobiographie fortlässt? Warum zählt er in der Prosaautobiographie seine Universitätsprofessoren auf, während er sie in der Dichterautobiographie verschweigt? Warum bezeichnet er sich in der Dichterautobiographie noch mit zwanzig Jahren als Ungebildeten? Warum scheinen in der Dichterautobiographie die römischen Leitdichter Ovid, Tibull, Horaz und Vergil als seine Lehrer auf, während die Lektüre dieser Dichter in der Prosaautobiographie nicht einmal vermeldet wird? Warum zeigt Fabricius in der Prosaautobiographie seinen Stolz auf die berufliche Laufbahn, während er in der Dichterautobiographie beklagt, dem schweren Amt nicht gewachsen zu sein? Bei einer Analyse von Ovids Autobiographie ergibt sich, dass der römische Dichter sein gesamtes Leben als eine Aneinanderreihung von Schicksals- und Fehlschlägen konstituierte.27 Einige Beispiele für diese merkwürdig negative Art der Selbstpräsentation: Im Gegensatz zu seinem Bruder, den er im ersten Abschnitt (Z. 9–41) sehr in den Vordergrund rückt, habe es Ovid nicht geschafft, den von den Eltern gewünschten Beruf des Anwalts und Politikers zu ergreifen, und zwar obwohl er sein Bestes gegeben habe, das von den Eltern gesteckte Ziel zu erreichen. Die nächste Etappe seiner Misere ist, dass er den über alles geliebten Bruder verliert. Diesem Ereignis schreibt Ovid eine traumatische Bedeutung zu: „Ein großer Teil seiner selbst“ sei dadurch gestorben (Z. 31–32). Ovids Schriftstellerei erscheint als eine Art Zwangshand27
Ebd.
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lung, die auf Naivität beruhe und durch Fehlerhaftigkeit gekennzeichnet sei (Z. 61–62). Dann folgt sein Versagen als Familienvater, das von zwei Scheidungen (Z. 69–72), dem Misslingen der ersten Ehe der Tochter und der Trennung von seiner dritten Frau gekennzeichnet ist (Z. 73–74). Darauf folgt der nächsten Schicksalsschlag, der Verlust der Eltern (Z. 77 ff.). Daran knüpft Ovid den noch schlimmeren Unglücksfall seiner Verbannung nach Tomi am Schwarzen Meer. Ovid sei nunmehr ruiniert. Man muss zunächst festhalten, dass die Fakten von Ovids und Schmids Leben als solche keine gewissermaßen natürlichen Parallelen ergeben, in welchem Fall man die Auffassung vertreten könnte, der Schweizer Humanist sei von den dargestellten Fakten zur Nachahmung veranlasst bzw. geradezu gezwungen worden: Auf der einen Seite steht der römische Edelmann und Ritter, von dem man erwartete, dass er in der Hauptstadt Rom den ehrvollen Cursus honorum und die Laufbahn eines Gerichtsredners einschlägt; auf der anderen Seite der Sohn eines bescheidenen Metzgers (kein salonfähiger Beruf!) und nebenberuflichen Winzers aus einem Provinzörtchen, von dem man keinesfalls erwartete, dass er in der Politik oder der Jurisprudenz künftig eine Rolle spielen würde. Von ihrem Hans erwarteten die Eltern wohl zunächst nichts weiter, als dass er später einmal in der Metzgerei und im Weingarten mithelfen werde; eine Ausbildung, die ihn höher hinaus führen könnte, war zunächst nicht vorgesehen. Erst als die beiden älteren Brüder scheiterten, bekam er eine Chance. Allerdings zielte die Ausbildung auch dann nicht auf die Laufbahn eines Politikers oder Anwalts ab: Hans sollte Lehrer werden. Auf der einen Seite steht der moralisch freizügige Römer, der zwei Scheidungen hinter sich hatte; auf der anderen der fromme Protestant, dem die Unauflösbarkeit der Ehe oberstes Gesetz war und der die Ehe vor allem als Fortpflanzungsinstitut betrachtete, wie die zwölf Kinder bezeugen, die er mit Agatha in ungefähr fünfzehn Jahren in die Welt gesetzt hat. Auf der einen Seite erblicken wir den in seinen Ambitionen frustrierten Römer, der aufgrund irgendeines „Fehlers“ und seiner frivolen Gedichte verbannt worden ist und nunmehr im Barbarenland darbt; auf der anderen den keinesfalls verbannten Fabricius, der nach einer gründlichen Ausbildung den vorgegebenen Lebensweg einschlägt, schrittweise, aber stetig in seiner Laufbahn als Schulmann und Pfarrer vorankommt, der einem florierenden Haushalt vorsteht, ein redliches Einkommen bezieht und in der Gesellschaft Zürichs und Churs ein angesehener Mann ist. Auf der einen Seite steht der heruntergekommene
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Edelmann Ovid, auf der anderen der erfolgreiche soziale Upstarter Fabricius. Dieser kurze Vergleich zeigt, dass die Lebensfakten aus Ovids Autobiographie in Fabricius’ Fall geradezu gegen eine literarische Nachahmung bzw. eine Selbstkonstituierung im Rahmen der Ovidischen Autobiographie sprachen. Es ist wichtig, sich diesen Tatbestand zu vergegenwärtigen. Daraus ergibt sich einmal mehr, dass die humanistische Autobiographik nicht so sehr eine einfache, direkte Erinnerung an das eigene Leben darstellt, sondern eine Erinnerung an die antike Literatur, aus der der Humanist auf komplexe Weise sein Leben konstituiert. Es stellt sich einmal mehr heraus, dass in diesem literarischen Prozess die Lebensfakten selbst durchaus zweitrangig sind. Übrigens war Ovids Selbstkonstituierung auch keine selbstverständliche und gewissermaßen natürliche Umsetzung realer Gegebenheiten. Bezeichnend ist seine Klage über die nie enden wollende Kälte, den „ewigen Winter“ von Tomi. Tomi liegt jedoch ungefähr auf derselben geographischen Breite wie Bologna und zeichnet sich durch ein ausgesprochen warmes und angenehmes Klima aus; es scheint heute regelmäßig in Reiseprospekten als einer der beliebtesten Badeorte Rumäniens auf. Daraus darf man nicht den verfehlten Schluss ziehen (wie geschehen ist), dass Ovid keine Ahnung vom Klima Tomis hatte und deshalb wohl nie dort war. Vielmehr haben wir ein rhetorisch wirksames Argument vor uns, mit dem Ovid seine Autobiographik an die Topik der Beschreibung barbarischer Länder anbindet und das dazu dient, bei Kaiser Augustus Mitleid zu erwecken: Der Kaiser soll dem armen Dichter die Rückkehr aus der Verbannung erlauben. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, erklären sich alle Elemente von Ovids Autobiographie aus der rhetorischen Doppelstrategie, die von zwei Seiten her den Kaiser überreden soll, den Dichter zurückzurufen: Einerseits zeigt Ovid, dass er Mitleid verdiene, andererseits, dass es von seinem Lebenslauf her völlig unwahrscheinlich sei, dass er an einer politischen Verschwörung gegen Augustus teilgenommen habe.28 Dass Fabricius die subtile rhetorische Komposition von Ovids Autobiographie erkannt hat, ist für seine Nachahmung nicht entscheidend. Die persuasive Zielsetzung Ovids war für ihn jedenfalls nicht brauchbar: Fabricius war kein Verbannter, und er wollte auch niemanden überreden, ihm die Heimkehr zu erlauben. Was er aus Ovids Trauergedicht lernte, war die 28
Ebd. passim. Vgl. oben Kap. VIII. 4, „Fakturierung und Contrafakturierung: neuer Ovid – Anti-Ovid“.
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diskursive Verortung der Dichterautobiographie. Er interpretierte die Elemente von Ovids rhetorischer Strategie als Diskursregulative. Aus der Tatsache, dass Ovid seine Autobiographie in der Form eines Klagegesangs verfasste, leitete er ab, dass eine Dichterautobiographie als Lebensklage präsentiert werden soll. Fabricius’ diskursive Interpretation von Ovids Autobiographie hat weitreichende Folgen: Sie bezieht sich sowohl auf das Ethos des Autobiographen als auch auf die Auswahl und Interpretation der Lebensfakten als auch auf die Komposition des Textes. Der Dichter sei kein positiv eingestellter, stolzer, von Selbstvertrauen strotzender Mensch. Der Dichter zweifle an sich selbst. Der Dichter erkenne, dass er gegenüber der Macht des Schicksals nichts vermag. Der Dichter bekenne sein Scheitern. Der Dichter scheitere wissentlich und willentlich. Der Dichter gehe unter auf der stürmischen See des Lebens. Ebenso hat Fabricius die Tatsache, dass Ovid der Kindheit und frühen Jugend verhältnismäßig viel Erzählzeit einräumte,29 diskursiv interpretiert. Bei Ovid besitzt dieser Kompositionsschritt einen strategischrhetorischen Zweck: Der Römer möchte sich Augustus und seinem übrigen Publikum gegenüber in all seiner Hilflosigkeit, Verletzlichkeit und Naivität präsentieren; aufzeigen, dass er ein ganz und gar harmloser Mensch sei: Wer so naiv ist, kann unmöglich an einer Verschwörung teilgenommen haben. Auch ermöglicht ihm die nachdrückliche Darstellung der Kindheit und frühen Jugend, für sein Beweisziel wesentliche Aspekte als Charaktereigenschaften zu veranschlagen: zum Beispiel seine mangelnde Eignung zur politischen vita activa. Wer von seinem Charakter her für die Politik ungeeignet ist, beteiligt sich nicht an politischen Verschwörungen. Obwohl sich zu Ovids rhetorischer Strategie eine klare Diskontinuität ergibt, hat Fabricius die Kompositionsweise für seine Selbstkonstituierung übernommen! Wie oben gezeigt, ist seine Dichterautobiographie zu ca. 80 % der Kindheit und frühen Jugend gewidmet, womit dieser Lebensabschnitt viermal so viel Erzählzeit wie das Erwachsenenalter vom 21. bis zum 39. Jahr (1547–1565) erhält. Dabei handelt es sich nicht um ein gedankenloses Mitschleppen Ovidischer Elemente. Das geht aus der Einleitung hervor, in der Fabricius Ovids Kompositionsweise zum Programm erhebt: Er will in seiner Dichterautobiographie zeigen, „auf welche Weise er sein Leben als Knabe verbrachte“ („Quove mihi puero vita peracta modo“, Z. 4; Kursivierungen vom Verf.). Dem liegt das fruchtbare Missver29
Enenkel, „Ovid, Tristia IV,10“, 118–120.
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ständnis der diskursiven Textinterpretation zugrunde. Fabricius interpretierte die vom spezifischen rhetorischen Darstellungsziel bestimmte Verfasstheit von Ovids Autobiographie als Diskursregel! – Der Dichter berichte vor allem über seine Kindheit und frühe Jugend.30 Dabei übernimmt Fabricius zugleich Ovids Präsentation der Autobiographie als informative Textbeilage zu einem übergeordneten literarischen Werk (Trauergedichte): „Wer ich gewesen, der tändelnde Dichter der zärtlichen Liebe, / Den du gelesen – auf dass du’s weißt, Nachwelt, vernimm’s!“ (Z. 1–2) Gleichläufig wollte Fabricius den Leser seiner Gedichte über seinen Lebenslauf informieren: Wer immer du sein magst, der, ergriffen von der Liebe zu den Aonischen Schwestern31, Die Gedichte des Fabricius liest, wie gut oder schlecht sie auch sein mögen, Und vielleicht wissen willst, aus welchem Vaterland und von welchen Eltern ich stamme Und auf welche Weise ich mein Leben als Knabe verbrachte, Lies dieses hier: So wird auch die Nachwelt mit meinen Lebensumständen ein klein wenig vertraut sein (Z. 1–6; Kursivierungen K. E.).
Die Dichterautobiographie sollte also wahrscheinlich Bestandteil einer Gedichtsammlung sein und ihren Autor in diesem Rahmen vorstellen. Fabricius plante wohl eine neue (vermehrte) Auflage seiner 1556 zuerst erschienen Poemata oder die Ausgabe einer neuen Gedichtsammlung.32 Ebenso diente bei Campano und Eobanus Hessus die Dichterautobiographie als Bestandteil eines übergeordneten Werkes.
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Die Komposition und die Faktenauswahl von Eobanus Hessus’ Heroinenbrief könnte darauf hindeuten, dass auch er die Hervorhebung des ersten Lebensabschnitts als Diskursregulativ interpretierte: Auch er widmet seine Autobiographie vor allem der Kindheit und frühen Jugend. Allerdings lässt sich dies in Eobanus’ Fall nicht mit derselben Bestimmtheit wie bei Fabricius feststellen, da dieser zur Abfassungszeit noch sehr jung, erst 26 Jahre alt war. Es lässt sich somit nicht mit Sicherheit ausschliessen, dass in Eobans Fall eine Art Sachzwang vorlag. Fabricius jedoch verfasste seine Dichterautobiographie mit 39 Jahren: Über sein Leben als Erwachsener hätte es genug zu berichten gegeben. Die Musen. Ein Druck der Gedichte des Fabricius, zu der die Dichterautobiographie den Begleittext bildete, ist nicht überliefert. Ich vermute, dass Fabricius keine Zeit mehr hatte, die geplante Ausgabe fertigzustellen, weil ihn schon bald nach der Abfassung der Dichterautobiographie die Pest dahinraffte.
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Von der beabsichtigten Funktion der Dichterautobiographie als Beilage zu einer Gedichtsammlung her erklären sich einige weitere Unterschiede zur Prosaautobiographie. Da der Text für den Leser von Fabricius’ Poemata bestimmt ist, konstituiert sich Fabricius als Dichter und vermittelt dem Leser das, was er für seine Rolle und Existenz als Dichter als entscheidend betrachtet. In dieser Hinsicht lässt sich verstehen, dass er seine lange und etappenreiche Ausbildung gewissermaßen auf Null reduziert. Er erachtete sie als belanglos für sein lateinisches Dichtertum. Weder bei seinen Onkeln Leo Jud und Johann Heinrich Winckeli, noch am Zürcher Fraumünster, noch bei Martin Bucer, noch bei seinen Professoren in Marburg und Leipzig lernte er das Dichten. Überhaupt waren sein Universitätsstudium und die Fächer, in denen er Vorlesungen belegte, in dieser Beziehung bedeutungslos. Relevant war hingegen der Kommilitone Petrus Lotichius: Dieser war ein äußerst begabter und fähiger lateinischer Dichter und regte Fabricius zum Dichten an. Deswegen konstituiert sich Fabricius in der Dichterautobiographie in Bezug auf seinen Marburg-Aufenthalt als Schüler des Lotichius. In diesem Sinn stellt Fabricius in der Dichterautobiographie nicht die Universitätsprofessoren, sondern die antiken lateinischen Dichter (Ovid, Tibull, Horaz und Vergil) als seine Lehrmeister dar. Dies geht mit einer diskursiven Interpretation der Ovidischen Rhetorik einher. Ovid hob in seiner Autobiographie die hingebungsvolle und rückhaltlose Bewunderung hervor, mit der er als Knabe die zeitgenössischen Dichter „wie Götter anbetete“ (Z. 41–42), und untermalte diese Bemerkung mit einem Dichterkatalog (Macer, Properz, Ponticus, Bassus, Horaz, Gallus und Tibull, Z. 43–56). Ovid zeigte damit auf, dass er zu Verehrung und Unterordnung imstande war; dass ein solcher Charakter nicht zur Teilnahme an politischen Verschwörungen neige. Fabricius leitete aus der Textstelle ab, dass es eine Diskursregel der Dichterautobiographie sei, einen Katalog von Vorbilddichtern zu erstellen. Während zu Ovids Strategie auch hier Diskontinuität aufklafft, hat Fabricius’ Interpretation etwas durchaus Plausibles: Zum Beispiel entspricht es der Topik der zeitgenössischen Dichter- und Gelehrtenbiographie, intellektuelle Vorbilder zu behandeln bzw. die intellektuelle Umgebung eines Schriftstellers zu rekonstruieren. Da Nachahmung und literarischer Wetteifer sowie intertextueller Bezug zu literarischen Vorbildern, besonders den antiken Autoren, ein Grundprinzip humanistischer Schriftstellerei war, lag eine diskursive Interpretation der Ovid-Stelle geradezu auf der Hand.
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Interessant ist, dass auch Eobanus Hessus in seiner Autobiographie Ovids Dichterkatalog diskursiv interpretiert hat (Z. 123–135). Dies wird bei ihm besonders evident, da er den Dichterkatalog als Lesererwartung spezifiziert: „Nun wirst du [die Nachwelt = der Leser; Anm.] mich vielleicht bitten, von den vielen Dichtern, welche Deutschland zu meiner Zeit hervorgebracht hat, einige zu nennen“ („Quos tulerit nostro Germania tempore vates / E multis aliquot dicere forte roges“, Z. 123–124). Das bedeutet, dass nach Eoban der Leser davon ausging, dass es eine topische Aufgabe der Dichterautobiographie sei, einen Dichterkatalog zu erstellen. Das ist umso interessanter, als Eoban über diese Lesererwartung nicht glücklich war oder, mit anderen Worten, diese nicht einlösen wollte: „Keines Dichters Name scheine in meinem Lied auf “ (Z. 130). Dieser Vorgehensweise lag zugrunde, dass er sich vor den literatursoziologischen Folgen einer solchen literarischen Sozialhandlung fürchtete. Er war sich der Tatsache bewusst, dass Literaturgeschichte immer auch ein Politikum ist: Welche Schriftsteller soll man aufnehmen, welche nicht? Der Literaturgeschichtler setzt sich der Missgunst aus. Da sich Eoban als junger Dichter mit seiner Autobiographie jedoch gerade erst in die Respublica litteraria einschrieb, um Akzeptanz und Aufnahme in derselben ansuchte, musste er unter allen Umständen vermeiden, in ein solches Wespennest zu greifen. Übrigens lässt sich in der Art der diskursiven Interpretation von Ovids Dichterkatalog ein auffälliger Unterschied zwischen Eoban und Fabricius feststellen. Eoban hatte aus der Ovid-Stelle die Diskursregel abgeleitet: Der Dichterautobiograph erstelle einen Katalog zeitgenössischer Dichter. In der Tat hatte Ovid nur Dichter aufgeführt, die er persönlich kannte. Fabricius jedoch fasste die Diskursregel anders auf: Der Dichterautobiograph erstelle einen Katalog seiner literarischen Vorbilder. Auch diese Interpretation kann sich auf Ovid berufen: Er wollte ja aufzeigen, mit welcher Hingabe er diese Dichter „wie Götter verehrte“. Was liegt dieser unterschiedlichen Interpretation zugrunde? Der junge, erst sechsundzwanzig Jahre alte Eoban wollte sich mit seiner Ovidkonstituierung mit aller Gewalt in die zeitgenössische Respublica litteraria einschreiben und dachte daher bei der topischen Verortung vor allem an seine zeitgenössischen Dichterkollegen; der viel ältere, neununddreißigjährige Fabricius, der bereits vor etwa zehn Jahren seine gesammelten Gedichte publiziert hatte, ging nicht vehement, martialisch und zweckoptimistisch, sondern subtil und zurückhaltend vor. Das geht damit einher, dass er das Einschreiben in die Respublica litteraria in seiner Dichterautobiographie immer geradezu als Ausschreiben oder Abschreiben
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formuliert: Er beweist, dass er nicht dazugehört, dass er es als Dichter nicht geschafft hat! Diese Dichter nahm sich meine aufblühende Muse zum Vorbild, Diese dichterischen Leitgestalten ahmte sie nach. Wenn ich Unglücklicher dennoch nicht einmal ihren Schatten erreiche, Schreib dies, freundlicher Leser, dem unglücklichen Schicksal zu. Denn ich war schon auf dem Weg auf die steilen Hänge des Parnassus, Als mich eine schreckliche Katastrophe in den Untergang riss (Z. 123–126).
In der Tatsache, dass sich Fabricius in der Dichterautobiographie aus der Respublica litteraria ausgeschrieben hat, verbirgt sich eine umfassendere diskursive Interpretation von Ovids Autobiographie. Denn wenn wir davon ausgehen, dass die Dichterautobiographie die Absicht hat, den Autor als Dichterperson zu konstituieren, so begegnen wir dem merkwürdigen Sachverhalt, dass Fabricius seine dichterischen Leistungen kaum hervorhebt. Fabricius hat, jedenfalls ab dem Zeitpunkt, an dem ihn Lotichius anregte, intensiv gedichtet, nicht nur in Deutschland (1546–1547), sondern auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz (1547). Das Resultat dieser literarischen Tätigkeit war eine respektable Gedichtsammlung, die er 1556 veröffentlichte (Poemata). Es ist nun durchaus verwunderlich, dass Fabricius – wohlgemerkt in seiner Dichterautobiographie – sowohl seine Tätigkeit als Dichter zwischen 1547 und der Abfassungszeit als auch seine 1556 veröffentlichte Gedichtsammlung verschweigt! Ja, er stellt das plötzliche Aufkommen seiner dichterischen Begabung unter Lotichius’ Leitung im Jahr 1546 als Strohfeuer dar, das noch im selben Jahr erloschen sei (Z. 123–128). Damit suggeriert er, dass er nach dieser Zeit (abgesehen von der Dichterautobiographie) nicht mehr gedichtet habe. Zusätzlich führt er Gründe an, weshalb er ab dieser Zeit nicht mehr dichten habe können: Der Schmalkaldische Krieg, der ihn selbst und Deutschland in den Abgrund gerissen habe, habe dies vereitelt (ab Juli 1546; Z. 129 ff.). Nach der Rückkehr in die Schweiz sei er von seinem doppelten Amt völlig überfordert gewesen (Z. 171–174). Auch in Chur habe ihn sein Amt sehr beansprucht (Z. 207 ff.), bis abermals Bürgerkriegswirren auftraten. Fabricius’ Dichterautobiographie führt somit im Grunde die Verunmöglichung des Dichtens vor. Der Autor zeigt, dass es ihm nicht gelang, ein lateinischer Dichter zu sein. Wie ist diese merkwürdige Verzerrung zu verstehen? Sie ist auf eine diskursive Interpretation von Ovids autobiographischer Rhetorik zurückzuführen. Ovid hat nämlich in seiner Autobiographie seine Leistung als Dichter geschmälert. Von seinen zahlreichen und
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erfolgreichen Werken nennt er nur seine Jugendgedichte Amores. Damals sei er allerdings noch ein Knabe gewesen, dem gerade die ersten Barthaare wuchsen (Z. 57–60). Er habe zwar nachher noch zahlreiche Verse verfasst, diese jedoch vor allem vernichtet, weil sie ihm fehlerhaft erschienen (Z. 61–64). In der Verbannung dichte er nur mehr, um sich die Zeit zu vertreiben und sich zu trösten; eine Publikation beabsichtige er nicht (Z. 113–118). Es liegt hier eine strategische Selbstreduktion vor, die ebenfalls von dem persuasiven Ziel des Dichters, seine Rückberufung zu erwirken, bestimmt ist. Sie geht auf den offiziösen Grund zurück, den Augustus für die Verbannung angegeben hat: Ovid stifte mit seinen frivolen Werken die Römer zum Ehebruch an. Das bezog sich auf Ovid als einflussreichen Verfasser von Lehrgedichten wie der Liebeskunst (Ars amatoria). Um Augustus günstig zu stimmen, ,entautorisiert‘ er sich, das heißt schreibt er sich als Verfasser solcher Werke weg und betont vor allem, dass er bereit ist, unerwünschte Verse zu tilgen.33 Fabricius hat diese spezifische Verfasstheit von Ovids Autobiographie als Diskursregulativ interpretiert: Der Dichterautobiograph stelle sein dichterisches Scheitern dar. Demnach ist nicht das Verfassen von Gedichten darstellungswürdig, sondern die Feststellung des literarischen Scheiterns! Fabricius hat hier einen Weg eingeschlagen, der unsere Aufmerksamkeit verdient: Die Konsequenz, mit er ihn verfolgt, ist auffällig. Denn sie ergibt sich nicht aus Ovids Text! Ovid hat die dichterische Selbstreduktion am Ende seiner Autobiographie mit geradezu grenzenlosem dichterischem Selbstvertrauen kompensiert. Er bescheinigt sich Ruhm als Schriftsteller und prophezeit, dass er bis in alle Zukunft gelesen werden wird: Du [Muse, Anm.] bist meine Führerin und Gefährtin, du führst mich hinweg von der Donau, Ja du weist mir einen Platz mitten am Helikon zu; Du hast mir – selten kommt’s vor! – noch zu Lebzeiten so großen Ruhm Verliehn, wie ihn Fama sonst nur im Tode gewährt. Auch hat der Neid, der das Schaffen der Lebenden gewöhnlich herabsetzt, Mit seinem gehässigen Zahn bisher noch keins unsrer Werke benagt. Denn obwohl unser Zeitalter zahlreiche große Dichter hervorbrachte, Stellte meinem Talent Fama keine Missgunst in den Weg. Wenn auch ich selbst viele Dichter über mich stelle, so meint man dennoch, dass ich Ihnen um nichts nachstehe: Auf der ganzen Erde liest man mich stets! Wenn also die Wahrsprüche der Seher irgendwie stimmen, so wirst du mich, 33
Vgl. Enenkel, „Ovid, Tristia IV, 10“, 123.
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Grab, und stürb’ ich heut’, nie und nimmer besitzen. Gleichviel, ob deine Gunst mich berühmt gemacht oder meine literarische Leistung, Zu Recht sag ich, gütiger Leser, dir Dank (Tristia IV, 10, Z. 119–132).
Dementsprechend richtet Ovid seine Autobiographie an die Nachwelt (Posteritas). Das Grab wird ihn nie besitzen, sein literarischer Ruhm verleiht ihm ewiges Leben. Ovid hat hier etwas ausgesprochen, das die Humanisten zu einem ihrer Lieblingsgedanken erhoben haben – Literatur verleiht ewigen Ruhm. Sie richten sich mit ihren Werken stets nicht nur an ihre Zeitgenossen, sondern auch an eine Leserschaft in unbestimmter Zukunft. Es liegt daher auf der Hand, dass die Humanisten gerade diesen Gedanken als Diskursregulativ der Dichterautobiographie interpretierten. Das geht zum Beispiel aus der (ersten) Autobiographie Campanos und aus Eobans Dichterautobiographie hervor. Campano teilt in den Anfangszeilen mit: „So möge die Nachwelt den Lauf meines Lebens vernehmen. / Also rede ich zu den noch nicht geborenen Kindern, zu künft’gem Geschlecht / Und, noch zu Lebzeiten, zu meiner Nachwelt“ (Z. 6–8). Eoban hat seinen Glauben an den ewigen Ruhm überhaupt zum Hauptthema seiner Autobiographie gemacht, indem er sie als Liebesbrief an die personifizierte Nachwelt (Posteritas) verfasste. Es ist durchaus auffällig, dass Fabricius den optimistischen Glauben an des Dichters Fähigkeit, den Tod zu überwinden, in eine Akzeptanz des Todes überbringt. Statt Ovids Absage an das Grab besiegelt Schmid in der letzten Zeile der Dichterautobiographie seinen Tod: „Den Tod betrachte ich als Gewinn“ („mors mihi quaestus erit“, Z. 218). Schmid hat also Ovids Selbstreduktion mit letzter Konsequenz zu Ende gedacht: Der Dichter schreibe sich in seiner Dichterautobiographie als Dichter ab. Das Scheitern und die Lebensklage sind wohl überhaupt die hervorstechendsten Merkmale der Ovidischen Rhetorik, die Fabricius als Diskursregeln der Dichterautobiographie interpretierte. Das Diskursregulativ ist: Der Dichter beschreibe seinen Untergang. In diesem Sinn stellt Fabricius die Lebenserzählung seiner Dichterautobiographie ins Zeichen von Unglücksund Todesfällen: des Todes seiner Brüder (Z. 35–36), seiner Onkel (Z. 77–84), seiner ersten Frau und seines ersten Kindes (Z. 179–188) sowie neun seiner zwölf Kinder aus zweiter Ehe (Z. 197–200), des Schmalkaldischen Krieges (Z. 127–166), der Bürgerkriegswirren zur Abfassungszeit (Z. 211ff.), des Verlustes der Mutter (Z. 53–68), des Erziehers (Onkel Leo), der Bildung und der Dichtkunst sowie des Unterganges Deutschlands (Z. 129–130).
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Diesem Formationsprinzip entsprechend vollzieht sich gewissermaßen etappenweise „der Untergang“ von Fabricius’ Geist. Den ersten schweren Schlag bildet der Verlust der Mutter. Beim Abschied von ihr „verdunkelte sich die Sonne“ (Z. 67–68). Als eigentliche „erste Etappe des Untergangs seines Geistes“ konstituiert er den Tod seines Onkels Leo, von dem er in der Dichterautobiographie (zu Unrecht) ableitet, dass seine Ausbildung nunmehr in einen strukturlosen Trümmerhaufen entartet sei und er bis zum zwanzigsten Lebensjahr nichts mehr erlernt habe. Die zweite „Etappe des Untergangs seines Geistes“ stellt der Schmalkaldische Krieg dar („cum me praecipitem vasta ruina trahit“, Z. 128), der unter anderem mit sich bringt, dass seine gerade aufblühende Dichtkunst sofort wieder erlischt. Der Unheilsprophet Melanchthon bestätigt diesen „Untergang“ (Z. 150–156). Fabricius’ erste Ehe scheint einen Glücksfall darzustellen, läuft aber auf eine umso größere Katastrophe hinaus, die dritte Etappe des Untergangs seines Geistes. Der Tod der Gattin raubt ihm künftig jede Befähigung, Freude zu empfinden (Z. 182). Traumatisiert und im Herzen verwundet vegetiert der verhinderte Dichter fortan im verlassenen Bett dahin. Der Tod von neun seiner zwölf Kinder aus zweiter Ehe und die Bürgerkriegsunruhen in Chur tun ein Übriges: Als der Neununddreißigjährige seine Dichterautobiographie verfasst, sehnt er – als letzte Etappe seines Untergangs – den Tod herbei (Z. 218). Verlust, Abschied und Tod kennzeichnen Fabricius’ Dichterautobiographie. Es lässt sich nunmehr verstehen, weshalb Fabricius seine Reise nach Zürich in der Dichterautobiographie als Abschied von der Mutter darstellte, während er sie in der Prosaautobiographie als Vorrecht und Gunst interpretierte; weshalb er seine Ausbildung in der Dichterautobiographie als Katastrophe und einsame Leere ohne Lehrer, in der Prosaautobiographie jedoch als reichen und gestaffelten Bildungsweg, der im Universitätsstudium der höheren Fakultäten gipfelte, konstituierte; weshalb er in der Prosaautobiographie stolz vom Erlangen seiner Ämter als Pfarrer und Schulmann berichtet, in der Dichterautobiographie hingegen nur von der drückenden Last seines Amts redet und hervorhebt, dass er ihm eigentlich nicht gewachsen war. Ähnlich hatte Ovid betont, dass er den römischen Ämtern nicht gewachsen gewesen sei: „Diese Last [der Ämter] war für meine Schultern zu schwer. / Weder war mein Körper, noch mein Geist dieser Anstrengung gewachsen“ (Z. 36). Obwohl das Scheitern und die Lebensklage für Ovids Rhetorik von außerordentlicher Bedeutung war (sie sollte den Effekt des Mitleids erreichen, der zur Rückberufung aus der Verbannung führen sollte), ist die
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Übernahme dieses Darstellungszuges keine Selbstverständlichkeit. Weder Giannantonio Campano noch Eobanus Hessus haben ihn als verbindlich aufgefasst. Campanos erste Dichterautobiographie lässt im Gegenteil eine positive Aufbruchsstimmung erkennen. Aus ärmlichen und schwierigen Umständen hat sich der Dichter emporgearbeitet. Er ist stolz darauf, es geschafft zu haben: „Aus einem kleinen Reis wächst“ der höchste Baum, „die Pinie, empor“, ja „sie ragt in den Himmel hinein“ (Z. 13–14). Campano ist diese Pinie, die in den Himmel hineinragt. Auch der mächtigste Strom, der Tiber, nimmt von einer winzigen Quelle seinen Ausgang. Campano ist dieser mächtige und breite Strom der Dichtung, der nach Rom fließt. Obwohl nur ein unbedeutender Hirte, wird Campano von den Göttern, Apoll und Pallas, zum Dichter auserkoren. Sodann vollzieht sich sein Leben wie ein Siegeslauf: Schnell beschreibt er die Stationen, die er zurücklegt. Dieses Selbstbewusstsein steigert sich zu einem wahren Überschwang an Kraft, als der gerade flügge gewordene Vogel seine Schwingen ausbreitet und Kampanien verlässt (Z. 37 ff.). Der Rest der Autobiographie ist dieser prächtigen Erfolgsgeschichte gewidmet, indem die Reise beschrieben wird (Z. 39–60), die ihn schließlich nach Perugia führen sollte, wo er ein Universitätsstudium abschloss, an derselben Universität zum Professor ernannt wurde und sich zum lateinischen Dichter, zum Ovid Umbriens, mauserte. Eobanus Hessus’ autobiographischer Siegeslauf ist womöglich noch spektakulärer. Er konstituiert sein Leben mit einem überschäumenden Zweckoptimismus, mit dem er Ovid gar zu einem autobiographischen Duell herausfordert. In Bezug auf jeden Aspekt des Lebens besiegt der martialische Hesse den berühmten antiken Dichter.34 Um den frühreifen Ovid sogar in Puncto Frühreife zu übertreffen, griff er zum Mittel der chronologischen Verfälschung. Besonders auffällig ist auch Eobans Replik auf Ovids Feststellung, dass die Last der Ämter für seine Schultern zu schwer, dass „weder war sein Körper, noch sein Geist dieser Anstrengung gewachsen“ gewesen sei: „Mein Körper war sowohl schön in all seinen Gliedern als auch imstande / Schwere Strapazen zu ertragen. Ich hatte kräftige Arme, Beine und / Einen kräftigen Leib. Ich besaß eine männliche Schönheit, ein makelloses / Gesicht, eine breite Stirne und einen hochstrebend-feurigen Geist“ (Z. 137–140). Eoban hat sich also als strahlenden Helden und Sieger dargestellt, den nichts aufzuhal34
Vgl. oben Kap. XV. 7, „Autobiographisches Duell: Einschreibung in die Respublica Litteraria als neuen Ovid“.
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ten vermag. Die Respublica litteraria wird den jungen Dichterstar günstig aufnehmen, die Nachwelt, die sich in ihn verliebt, wird ihn verehren. Betrachten wir noch einen letzten Aspekt, der den humanistischen Dichterautobiographen und neuen Ovid auf unwegsames Gelände führte: die Verbannung. Dieser Aspekt ist für Ovids Autobiographie von entscheidender Bedeutung: Er bestimmt, wie wir gesehen haben, die gesamte rhetorische Strategie, das Ethos, die Selektion der Themen, die Komposition sowie die Argumentation und die Präsentation der Lebensfakten im einzelnen. Humanisten, die sich als neue Ovide konstituierten, bereitete dieser Aspekt zuweilen Schwierigkeiten. Obwohl sie in der Fremde lebten, wäre es nicht sinnvoll gewesen, sich dem Publikum gegenüber als Verbannte zu präsentieren. Leute wie Campano, die in ihrer neuen Heimat Karriere gemacht hatten und sich nunmehr ihrem Lesepublikum empfehlen wollten, hätten mit einer Selbstkonstituierung als Verbannte höchstens eine kontraproduktive Wirkung erzielt. Campano hätte damit die Stadt Perugia, die Universität von Perugia und die führende Familie der Stadt, die Baglioni, die als seine Patrone auftraten, brüskiert. Ähnliches gilt mutatis mutandis für Eobanus Hessus, der sich als Ovid Deutschlands präsentiert. Der Aspekt der Verbannung wäre der Diskursivität seiner Heroinenrhetorik entgegengesetzt gewesen. Die Dame Nachwelt verliebt sich nicht in einen Mann, der als Verbannter in Kummer und Elend schwelgt. Die Respublica litteraria Deutschlands ist nicht bereit, einen Humanisten, der sich in Deutschland als Verbannter fühlt, in ihre Reihen aufzunehmen. Wie ging Fabricius vor? Interessant ist zunächst, dass seine Ausgangsposition mit der des Giannantonio Campano geradezu identisch ist. Beide waren von einer Stadt in der Fremde gnädig aufgenommen worden. Wie Campano in Perugia, so war Fabricius in Zürich gefördert worden. Wie Perugia, so sorgte Zürich für eine mehrjährige kostenlose Ausbildung des zahlungsunfähigen Fremden. Die Universität Perugia gewährte dem mittellosen, sogar seiner Kleider beraubten Campano ein vollständiges Studium; in Zürich gewährte man Fabricius in der von Zwingli gegründeten Theologenschule kostenlos eine dreijährige Ausbildung; sodann verlieh ihm die Stadt Zürich ein Stipendium, um in Marburg an den höheren Fakultäten zu studieren. Wie Campano erhielt Fabricius nach Abschluss seines Studiums ein Amt: Campano das eines Universitätsprofessors, Fabricius das eines Lehrers am Zürcher Fraumünster und das eines Pfarrers.
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Umso bemerkenswerter ist, dass Fabricius, obwohl seine Lebensfakten dagegen sprachen, dennoch den Verbannungsaspekt Ovids als Diskursregel interpretierte und in seine Selbstkonstituierung übernahm! Der erste Teil seiner Dichterautobiographie ist überhaupt dem Heimatverlust, Ovids Hauptthema in den Trauergedichten, gewidmet. Fabricius muss – und zwar schon als Knabe! – die „glückseligen Fluren des Vaterlands“ verlassen (Z. 38). Dazu gehört sowohl der herzzerreißende Abschied von seiner Mutter, wonach sich „die Sonne verdunkelte“ (Z. 68), als auch der in der dichterischen Suggestion bald darauf erfolgende Verlust des Onkels (Z. 77–84). Fabricius stellt sich als Kind dar, das in der Fremde einsam seinem Los überlassen wird („linquor in ignoto flens puer ipse solo“, Z. 62). Dazu gehören die Symptome, die Ovid beschreibt: Depression und untätiges Dahinvegetieren (Z. 85 ff.).35 Zu guter Letzt stellt sich die Schweiz sogar als unwirtliches Land heraus, das in Bezug auf zwei Aspekte Ovids Verbannungsort im Barbarenland ähnelt: Es gibt Krieg, und das Land ist so beschaffen, dass es die Menschen abstößt. In Tomi bewirkt dies die ständige Kälte, in der Schweiz die schrecklichen, dräuenden Felsen: „Dass ich mitten in diesen Bürgerkriegsunruhen meine Lieder schreibe, / Darüber wundern sich, meine ich, die grausigen Felsen, die mich umgeben“ (Z. 213–214). Die „grausigen Felsen“ sind ein Clichébild der unwirtlichen, bedrohlichen Fremde. Krieg bildet den permanenten bedrohlich-deprimierenden Hintergrund auch von Ovids Autobiographie: „An dieser Stelle, obwohl mich aus nächster Nähe Waffengeklirr umgibt, / Versuche ich, soweit es geht, mein trauriges Los mit dem Lied zu erleichtern“ (Z. 111–112). Natürlich bemerkte Fabricius, dass diese Konzeption von den Zürcher Stadtvätern als peinlich erfahren werden konnte. Er führte zwei Darstellungsmittel ins Treffen, um diese Reaktion zu vermeiden: das Städtelob und die Anbindung der Autobiographie an die lateinische Epik. In die Schilderung des schmerzlichen Heimatverlustes flicht er sofort ein Lob der Stadt Zürich ein, das er durch eine gefühlsbetonte Apostrophe verstärkt: „Sei mir gegrüßt, Volk, das von alten Helden abstammt [z. B. Wilhelm Tell, Anm.], sei mir gegrüßt, fromme Stadt [Zürich – urbs Tigurina, Anm.] […]“ (Z. 45 ff.). Eine für die Zürcher ebenso schmeichelhafte Kompensation stellt Fabricius durch die Anbindung an das römische Nationalepos, Vergils 35
Neben der Autobiographie vgl. z. B. Epistulae ex ponto I, 2, 30: „Et similis morti pectora torpor habet“; Tristia I, 3, 8: „Torpuerant longa pectora nostra mora“; V, 12, 22: „ingenium […] torpet“.
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Aeneis, her. In der Beschreibung der „Reise nach Wittenberg“ tauchen im Text plötzlich gehäuft Anklänge an die Aeneis auf. „Mitten durch die Feinde“ („per medios hostes“) „schlagen sich“ Funck und Fabricius nach Wittenberg „durch“ („penetramus“, Z. 141). Dort kommt es zu einer epischen Begegnung mit einem Greis, der, als er sie erblickt, „in Tränen ausbricht“ („lacrimis obortis“, Z. 149) und den Jünglingen mit einem orakelhaften Ausspruch eine Handlungsdirektive erteilt (Z. 145–156). Ein „Irrtum“ („error“, Z. 150) habe sie nach Wittenberg geführt. Die Jünglinge folgen dem Rat des Greises: „Unverzüglich verlassen sie die Fluren“ („linquimus arva“, Z. 164, sc. Wittenbergs) und machen sich auf die Reise in die Schweiz, was übrigens, wie wir oben gezeigt haben, nicht mit den Tatsachen übereinstimmt. „Nach verschiedenen Schicksalsfällen“ („post varios casus“, Z. 167) gelangten sie nach Zürich. Alle diese Wortzitate verweisen den Leser auf die Aeneis.36 Was hat es damit auf sich? Durch die intertextuelle Anbindung an die Aeneis konstituiert Fabricius die Reise nach Wittenberg als epische Irrfahrt, wie sie Aeneas auf der Suche nach dem neuen Vaterland unternimmt. Fabricius verleiht sich Züge des Aeneas. „lacrimis obortis“ und andere Marker legen dem Leser nahe, den Greis Melanchthon mit Aeneas’ Vater Anchises zu assoziieren. Anchises „bricht in Tränen“ aus, als er seinem Sohn in der Unterwelt begegnet, wonach er ihm die Zukunft offenbart. Der Besuch Wittenbergs wird damit als Abstieg in die Unterwelt gekennzeichnet. Der Greis Melanchthon erteilt den Jünglingen den lapidaren Auftrag: Geht zurück in die Schweiz nach Zürich. Damit konstituiert Fabricius die Schweiz („Helvetia“) als das ersehnte Land des Epos („Latium“) und Zürich („urbs Tigurina“) als die ersehnte neue Heimatstadt des Epos (Rom). Die Jünglinge sollen „die Fluren“ des Feindeslandes „verlassen“, ebenso wie in der Aeneis Aeneas und seine Kameraden „die verräterischen Fluren […] der Griechen verlassen“ (III, 550), um in die Heimat der Zukunft zu reisen. „Unter verschiedenen Schicksalsfällen streben wir nach Latium“, sagt Aeneas zu seinen Kameraden (I, 204). Zürich ist also Rom, die ersehnte neue Heimatstadt. Der Impact der Intertextualität ist somit klar: Wenn Zürich die ersehnte neue Heimat ist, dann kann es nicht einfach ein elender Verbannungsort sein. Zürich trifft keine Schuld, wenn Fabricius’ Leben gescheitert ist. 36
„medios hostes penetrare“ (Z. 141) vgl. Vergil, Aeneis I, 242–243 und III, 283; „lacrimis obortis“ vgl. Aeneis III, 492; IV, 30; VI, 867; XI, 41; „linquimus arva“ (Z. 164) vgl. Aeneis III, 550; „post varios casus“ vgl. Aeneis I, 204.
Appendix. Vita Ioannis Fabricii Montani
5. Appendix. Joannes Fabricius’ Dichterautobiographie Vita Ioannis Fabricii Montani eodem auctore LECTORI S.D.
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Quisquis es Aonidum qui captus amore sororum Carmina Fabricii qualiacumque legis, Scireque forsan aves, quae patria quive parentes Quove mihi puero vita peracta modo, Accipe: Sic etiam veniens non nesciet aetas Paucula de vitae condicione meae. Fertilis Alsatiae regio iacet inclyta fama, Quam mediam liquidis irrigat Illus aquis, Illus iter leni peragens sine murmure tractu, Nobilis obliquo tramite sulcat humum. Altera pars Rheno, pars cingitur altera Baccho, In medio regnum possidet alma Ceres. Haec mihi nascenti dedit incunabula tellus, Hinc numero vitae stamina prima meae. Sed tamen ut dulcis patriae quoque moenia noris, Hanc Superos Montes incola turba vocat. Urbs vetus, argenti quondam ditissima venis, Nunc etiam locuples fertilitate soli. Undique pampineo vestiti palmite colles, Undique nativas explicat arbor opes. Hic domus, hic sedes et aviti limina tecti, Hanc tenero pressi poplite nixus humum, Haec eadem genuit clarum pietate Leonem, Ipse meae frater qui genetricis erat. Moenia Rhenanus patriae vicina colebat Nec Pellicanus longius ortus erat. Cum primum teneras rupi vagitibus auras, Per medium librae Phoebus agebat equos, Anno Romuleas quo cepit Carolus arces Papa sibi turpi consuluitque fuga. Ipse pater, quamvis modici possessor agelli, Inter honoratos pars fuit una viros. Tres fuimus numero fratres de stirpe virili, Feminei sexus edita nulla soror.
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Die Autobiographien des schweizer Reformators Fabricius
35 Horum qui minimus gemino de funere resto; Nam reliquos pridem mors tulit atra duos. Septima iam vitae puero mihi venerat aetas, Cum patrii linquo rura beata soli. Ducor ut ingenuas rudis erudiendus ad artes, 40 Consecror et studiis, urbs Tigurina, tuis. Hoc Deus et cari pariter voluere parentes, Hoc Leo, susceptae maxima causa viae. Helvetiae veteres sic fata requirere sedes, Sic pia maiorum visere busta iubent. 45 Salve, gens priscis heroibus edita! Salve, Urbs pia, non uno nomine cara Deo! Tu facili puerum venientem suscipe vultu, Tu placidam fesso porrige quaeso manum. Nam nisi cuncta meam fallunt praesagia mentem, 50 Ipse tuus posthac semper alumnus ero. Sic tua quae caeli se gloria nubibus aequat, Perpetuum stabili sidere nectat iter. Mater ad optati divertit limina fratris; Cum famulo nostrae dux fuit illa viae. 55 Ora senum lacrimis maduerunt, mutua quando Gaudia sunt vultu testificata suo. Mox dextram complexus avunculus oscula figit Dulcibus et verbis tristia corda levat. Sic hilares aliquot numeravimus ordine luces, 60 Cum subito laeti praeteriere dies. Hei mihi, iam repetit mater natalia rura, Linquor in ignoto flens puer ipse solo. ‚Cara vale genetrix‘, ‚Vale, o carissime nate‘, Haec geminans summum dixit uterque ‚vale‘. 65 Eminus hanc oculis abeuntem persequor udis; Intestina coquens implicat ora dolor. Post ubi digressam fugientia lumina linquunt, Tunc etiam nigras sol abit in tenebras. Parce, precor, lacrimis puerilibus, hospita tellus; 70 Nam pietas odii nil habet ista tui. Debita naturae solvendaque munera reddo – Quid mirum, genetrix si pia corda movet? Vivo Dei primum, mox munere vivo parentum, Cedo magisterio tertia iura tuo.
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Tu mea, quo recte vivam modo, pectora forma, Alma parens, monitis officiosa bonis. Iam Leo Musarum sacro me limite sistit, Iam rigat Aoniis ora disertus aquis; Iam videor plenis volitare per aequora velis, Cum ferit adversam dira procella ratem. Sic nihil in terris firmum manet omnibus horis: Invida dilectum fata tulere senem, Qui mihi dux vitae, qui fax erat atque magister: Haec fuit ingenii prima ruina mei. Desidis hinc vacui traducere tempora vitae Lentius et pigro coepimus ire pede. Cymba velut rectore carens agitatur ab undis Et stabili cursum lege tenere nequit, Sic nequiit mea vita suo spoliata magistro Amplius inceptam continuare viam. Non ego vos culpo, doctissima pectora, patres, Urbs Maecenates quos Tigurina dedit, Vos stimulos soliti crebro, vos subdere calcar, Vos residis vigili corda movere manu. Si nihil aut modicum profeci, culpa, fatebor, Una mea est, pietas crimine vestra caret. Sed bene: quos aliquo Deus est acturus honore, Ex humili sensim tollit ad alta gradu; Deprimit ut relevet; ferit, ut data vulnera sanet Nec semel a nigro ducit in astra rogo. Vestra mihi teneros assignat cura puellos; Turba ministeriis haec erat apta meis. Hinc procul Hessiacas vestro quoque munere terras Et peto Lanicolae tecta sacrata Scholae. Hic ubi Lotichii primus mihi contigit usus, Hic ubi non dubia notus es, Alte, fide, Dulcis amicitiae mihi foedere iunctus uterque, Ambo pars animae magna fuere meae. Vera loquor, quamvis possit res mira videri, Ibant iam vitae bis duo lustra meae, Cum mihi nec spondeus adhuc nec dactylus esset Notus: Apollineae tam rudis artis eram. Quicquid enim primis dictarat avunculus annis, Squaluerat longo temporis omne situ.
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Sive (‚sed‘ Döpp) haec temere seu fortiter ausa capessi, Musa tamen volitat nostra per ora virum. Hoc amor, hoc probitas et sedula cura Secundi, Hoc potuit venis insita flamma meis. Blanda statim libo Paeligni carmina vatis, Iungo quibus numeros, culte Tibulle, tuos. Imbuit hinc nostras limatus Horatius aures; Ducit ab his felix in sua castra Maro. Hos sibi proposuit crecens mea Musa magistros, Carminis hos ipsos est imitata duces. Si tamen infelix tenuem vix assequor umbram, Hoc etiam fatis, lector amice, dabis. Iam iuga Parnassi scansurus ad ardua tendo, Cum me praecipitem vasta ruina trahit. Irrequieta novo trepidat Germania motu Et fera civili sanguine bella tument; Delius atque novem pariter fugere sorores, Ingemuit fracta Calliopea lyra. Non bene virginibus cum saevo Marte puellis Convenit, incesti militis arma timent. Interea nos arva procul quae Maenus inundat, Noridos infestos et peragramus agros. Sic alacres animi iuvenum, sic vota ferebant Civica magnorum castra videre ducum. Fama Melanchthonis post haec et cura Secundi Carpere difficili tempore suadet iter. Per medios hostes penetramus ad Albidos urbem Te dubias, Funcci, concomitante vias. Doctorum iam turba frequens excesserat urbe Hoste fero pavidos incutiente metus. Unus erat reliquus tecum, Peucere, Philippus; Attulit hanc vobis publica causa moram. Cernere nil tota potuerunt lumina vita Gratius ora pii quam veneranda senis. Ut dedimus dextras, lacrimis sic infit obortis: ‚Quis vos, o iuvenes, huc malus error agit? Vivimus hic miseri nimium lacrimabile tempus. Rectius Helvetiae vos tenuisset humus. Tempora nunc ea sunt, memorat quae carmine Naso Quaeque piis gemitus iure movere queant:
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Vivitur ex rapto, non hospes ab hospite tutus, Non socer a genero, fallit ubique fides‘. Hinc quid Bullingerus agat, quid cognitus olim Pellicanus, adhuc vivat uterque, rogat. Haec ita nobiscum pro tempore pauca locutus, Grande quod urgebat mox repetebat opus, Nos veteres raptim salvere iubemus amicos, Lotichius quorum primus et Altus erat. Sic biduum tristi non amplius urbe morati, Protinus Albiaci linquimus arva soli Nec tamen effugimus truculenti militis ora: Omne premebatur Marte furente latus. Post varios casus exhaustaque multa viarum Millia nos reduces urbs Tigurina videt. Inde meae dederint vitae quae fila Sorores, Hic etiam brevibus commemorare libet. Evocor ad sacri mystes praeconia verbi Officium pariter iussus obire Scholae. Ancipiti mea sic exercita pectora cura Saepe sub ingenti pondere pressa gemunt. Quaero tori sociam thalami, quae foedere iuncta Temperet auxilio munera nostra suo. Ducitur omnigena praestans virtute puella, Virginei rutilans flosque decusque chori. Fortunatus eram, nisi coepta caduca fuissent Inque auras issent irrita vota leves. Vix ubi facta parens me fecerat ipsa parentem, Occidit et secum gaudia nostra tulit. Hanc tumulo condens haec verba novissima dixi: ‚Hic iacet ardoris flamma sepulta mei‘. Tempora funesto peragens lacrimosa cubili Saucius in viduo pectore vulnus alo, Quod neque Phillyrides sanare potentibus herbis Paeoniae poterant nec relevare manus. Una recens veteri medicina reperta dolori Venit in amplexus casta puella novos. Hanc miser antistes Phoebi Schnelleside nympha Sustulit et proprium munus habere dedit. Ipsa vetus prisca deducit origine stemma Claraque Collinae nomina gentis habet.
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Filia fecundi non infecunda parentis Pignora iam lecti bis mihi sena dedit. Tres superant nati tantummodo, cetera mortis Praeda novem tumulis contumulata iacent; Omnibus una quies, spes omnibus una puellis; Angelicae expectant signa suprema tubae. Quod superest, brevibus sic accipe, candide lector: Ad metam properat iam mea Musa suam. Collegii studiosa cohors prope limina pontis Traditur auspiciis inde regenda meis. Ampla voluntatis mihi praestans signa senatus Ingenui civis nomen habere dedit. Auspiciis citius Rhaetaeas missus ad oras Curiae, quae summis cingitur alta iugis. Hic annos haerere novem mihi contigit, ex quo Tempore Christicolas pasco minister oves. Interea variis res publica fluctibus acta Alterat instabiles irrequieta vices. In mediis igitur turbis quod carmina scribo, Horrida me circum saxa stupere puto. Quid statuant de me venturis fata diebus, Una videt magni provida cura Dei. Quicquid erit quaecumque manent me tempora tandem, „Vita mihi Christus, mors mihi quaestus erit“.37 Scripsi Anno Domini 1565 Novemb. die 5. aetat. 39.
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Text nach Döpp, „Ioannes Fabricius Montanus“, 39–45 (mit geringfügigen Änderungen).
Diskursfriktionen: Authentizitätsrede und Wunschwelt
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XXI. Der seltsame Zauber der stupsnasigen Zicklein Westflanderns: Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt (1573) 1. Diskursfriktionen im Brief an die Nachwelt: Spannungsverhältnis zwischen Authentizitätsrede und Wunschwelt Seine 1575 erschienenen Poemata hat der aus Westflandern stammende Dichter Jacobus Sluperius (Jacques de Slupere) mit einer Autobiographie ausgestattet, die er als Brief an die Nachwelt definierte:
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Unbefangene Nachwelt, die du nach meinem Tode wirst leben, Die du in diesen Gegenden, in denen auch wir uns aufhalten, zu Gast wirst sein, Und angenehm dein Leben verbringen wirst in den Aonischen Bergen (d. i. der Musen; Anm.): Wenn du, wie ich hoffe, in meinen Büchern lesen wirst, Die wir bis jetzt in einen zarten Schleier hüllen. Auf welche Weise Sluperius sein Leben einrichtete und in welcher Reihenfolge es verlief, An welchem Ort er als nacktes Kindlein auf die Welt kam, Welcher sein Bildungsweg gewesen, Falls du das wissen willst (schaden kann es ja nicht), So will ich dies mit der zarten Rohrflöte in Erinnerung bringen, Jetzt, da ich schon viermal zehn Ernten erlebte. Dort, wo Flandern zum französischen Erdkreis hinblickt, Unweit der Quelle der linde fließenden Leie (lat. Lys; Anm.), Liegt ein Ort, der eine zierliche Stadt bildet, die nicht von türmebesetzten Mauern umringt ist: Ihn umgeben auf allen Seiten verschiedene Berge, schön mit ihren blumenübersäten Gärten und ihrer reichen Frucht, Sämtlich mit gesunden Wäldern bewachsen und wimmelnd von aller Art Tieren, Voll von heiligen Häusern (Laren) und bevölkert von zahlreichem Volk. […]
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Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt „Bailleul“ nennt den Ort das römische Volk; das flandrische: „Belle“. Bailleul hat den aus dem Mutterschoß Geborenen in weiche Binden gewickelt. Den Knaben nährte das der Ceres liebe Herzeele, der höchste Stolz der Grudischen (Gallischen; Anm.) Bauern. Löwen erschloss ihm die Physik und die Logik. Die süßen Grundlagen der lateinischen Grammatik Lehrte Merville den Jüngling, durch den Magister Marcotte, Merville, wo die Nymphen der Leie sich auf den lieblichen Wiesenfluren Stets freudig ergehen und ihre Lieder singen. Zweimal fünf Sommer wärmte Boezinge seinen Diener, Der angenehm weilte in Aonischen Gärten (Gärten der Musen; Anm.), Bis auf die Stadt Ypern stieß das Volk der Geusen, Wo der Hirte, der Grudische Daphnis, dem wolletragenden Volk Und den stupsnasigen Zicklein darreicht das willkommenste Futter Und die Meister der Ackerfluren ernennt und unterweist. Aber nachdem ich zwei Ernten und vier Monde geweilt dort, Begab ich mich wieder hinaus auf die kräuterreiche Flur. Schon verweile als Fremder und Gast ich auf Westvleterens Äckern, Wo ich jetzt zweiter Diener bin im heiligen Hause, Und als wachsamer Priester der Aoniden Tempel verehre, Ernste Gesänge vermische mit lustigem Spiel und Heilige Versmaße verbinde mit profanen Gesängen […].1
Der moderne Autobiographieleser erkennt sofort, dass ihm der Autor Sluperius das Angebot einer authentischen Textlektüre macht. Sluperius bestätigt dem Leser sowohl durch die Titelüberschrift als auch in dem vorwortartigen Anfangsteil unmissverständlich, dass eine Autobiographie vorliegt, dass er, Sluperius, der Autor sei und dass dieser mit dem Gegenstand des Textes identisch ist. Der richtige Name „Slup(p)erius“ scheint nicht nur im Titel, sondern auch in der vorwortartigen Einleitung des Briefes an die Nachwelt auf (Z. 6). Zusätzlich teilt der Autor mit, dass die Drucklegung mit seinem Einverständnis vorgenommen wurde (Z. 66), dass er also in vollem Sinn für den Text verantwortlich zeichne bzw. ihn autorisiere. Sluperius’ Brief an die Nachwelt ist damit geradezu ein Musterbeispiel für Lejeunes Autobiographiedefinition des ‚autobiographischen Paktes‘. Außerdem verfasst der Autor Sluperius den autobiographischen Text als Brief, der sich direkt an den Leser richtet. Diese nachdrückliche Bezugnahme auf den Leser scheint nicht nur in der Titelüberschrift, sondern mehrfach im Text auf (Z. 1–9; 50–54; 57; 60–66; 69–72). Die Autobiographie wird vom Autor als Widmungsbrief
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Der lateinische Text von De Sluperes Brief an die Nachwelt findet sich ungekürzt im Appendix.
Diskursfriktionen: Authentizitätsrede und Wunschwelt
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definiert, mit dem der Dichter seine nunmehr gedruckten Werke dem Publikum übermittelt (Z. 66). Der Brief ist zudem genau datiert: „Westvleteren, im Gebiet Veurnes, am 4. September 1573“. Präziser kann man ein Werk nicht datieren. Hinzu kommt, dass der Autobiograph im Vorwortteil authentische Fakten verspricht: Er will den Leser informieren, indem er seinen Lebenslauf aufzeichnet („suam quo duxerit ordine vitam“, Z. 6), seinen Geburtsort mitteilt („quove loco genitus“, Z. 7) und seinen Bildungsweg wiedergibt („studiisque suos quibus egerit annos“, Z. 8). Der Autobiograph löst diese Versprechen in der Tat ein, indem er seinen Geburtsort beschreibt (Bailleul [im heutigen Nordfrankreich, knapp an der belgischen Grenze, ca. 15 km südwestl. von Ypern / Ieper], Z. 12–23) und seine jeweiligen Wohnorte genau und mit ihren eigentlichen Namen angibt: Herzeele (im heutigen Nordfrankreich, ca. 5 km von der belgischen Grenze entfernt, ca. 20 km westlich von Ypern], Z. 24), Löwen (Z. 25), Merville an der Leie/Lys (im heutigen Nordfrankreich, ca. 30 km westlich von Lille, Z. 27), Boezinge (im heutigen Belgien, ca. 4 km nördlich von Ypern, Z. 30) und Westvleteren (im heutigen Belgien, ca. 12 km nordwestlich von Ypern, Z. 38). Es verstärkt den Eindruck der Authentizität, dass auf diese Weise einige Wörter in die lateinische Poesie gelangen, die ihr von Grund auf fremd sind („Herzeele“ Z. 24; „Boësinga“ Z. 30; „Westfletranis“ Z. 38). Das Authentizitätsverlangen des Verfassers ist offensichtlich so stark, dass er Niederländisch reden muss und auf Verballatinisierungen verzichtet. Die genauen Ortsangaben fügen sich in den Diskurs der Dokumentierungsrede, wie sie etwa in Erasmus’ autobiographischen Aufrissen vorliegt. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass Sluperius sein Leben in chronologischer Reihenfolge erzählt. Zusätzlich macht er genaue chronologische Angaben: In Boezinge hielt er sich zehn Jahre auf (Z. 30), in Ypern zwei Jahre und vier Monate, in Westvleteren befindet er sich zum Zeitpunkt der Abfassung der Autobiographie, d. h. am 4. 9. 1573. Zu diesem Zeitpunkt, teilt Sluperius weiter mit, befindet er sich in seinem vierzigsten Lebensjahr (Z. 11). Es scheint hier nichts einer hermeneutischen Textlektüre zu widersprechen. Der Autor selbst scheint eine solche nahezulegen. Er will nichts verschleiern, sondern Klarheit schaffen, die Wahrheit, die konkrete Wirklichkeit vermitteln. Seine übrigen dichterischen Werke „verhüllte er bis jetzt mit einem zarten Schleier“ (Z. 5), in der Autobiographie lüftet er ihn. Moderne Leser haben Sluperius’ Autobiographie in
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der Tat als einen Akt der konkreten Wirklichkeitsvermittlung aufgefasst, z. B. Alphonse Roersch.2 Wenn der moderne Leser auf das massiv angebotene hermeneutische Lektüreverständnis eingeht, wird er Sluperius für einen Liebhaber des Landlebens halten. Aus dem Text geht ja hervor, dass der Dichter sich fast sein gesamtes Leben in einer ländlichen Umgebung aufhielt: Beilleul, Herzeele, Boezinge, Ypern, Westvleteren, allesamt ländliche Orte. Bailleuil liegt mitten in einem gebirgigen Wald, der von allen möglichen Tieren nur so wimmelt (Z. 15–17). Es ist eine naturbelassene Gegend, ein Quellengebiet, da ganz in der Nähe („non procul“, Z. 14) ein Fluß entspringt. Herzeele ist ein überaus fruchtbares Ackergebiet, das sich besonders für Getreideanbau eignet, „der Stolz der Grudischen [gallischen; Anm.] Bauern“ (Z. 23–25). Merville befindet sich inmitten lieblicher Wiesen (Z. 28–29). Boezinge ist ein Gartengebiet (Z. 31), Ypern ein agrarischer Ort, in dem sich Schafe und „stupsnasige Zicklein“ befinden (Z. 33–34). Schliesslich ist auch Westvleteren ein Ackergebiet („Westfletranis in agris“, Z. 38) mit „kräuterreichen Fluren“. Nur Löwen scheint aus dem Ton zu fallen. Da sich Sluperius um das Füttern von Ziegen kümmert, war er dem Landleben offensichtlich auch in konkret-materiellem Sinn verbunden. Hatte er eine Vorliebe für die bäuerliche Lebensweise? Dies scheint auch durch die Tatsache nahegelegt zu werden, dass Sluperius die chronologischen Angaben zu seinem Leben in „Ernten“ („messes“) und „Sommern“ („aestates“, die Erntezeit) rechnet. Zum Zeitpunkt der Abfassung der Autobiographie hat er vierzig „Ernten“ erlebt (Z. 11). In Boezinge hat er sich zehn „Sommer“ aufgehalten (Z. 30), in Ypern blieb er „zwei Ernten“ (Z. 36). Van der Putte hat Sluperius, diesem Selbstbild folgend, als Dichter interpretiert, der den größten Teil seines Lebens auf dem Lande lebte und der aufgrund dessen ein ausgeprägtes „Naturgefühl“ und eine hervorragende Beobachtungsgabe für Natur und Landschaft entwickelte.3 Roersch stimmte ihm in dieser Beziehung zu: „F. van de Putte avait déja remarqué avec raison combien les longues années qu’il passa au milieu des champs éveillèrent en lui le sentiment de la nature. Ce néolatin est un maître paysagiste qui décrit admirablement les sites, les moeurs, les
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A. Roersch, Art. „Sluperius, Jacques“, in: BNB, Bd. XXII (1914–1920), Sp. 706: „l’epitre à la Postérité donnant de curieux détails sur l’auteur“. F. van de Putte, „Etude sur la litterature latine dans la West-Flandre“, in: Annales de la Societé d’Emulation, Brügge 1875, 161–188.
Diskursfriktionen: Authentizitätsrede und Wunschwelt
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coutumes de nos campagnes flamandes: il a su voir les hommes, les fleurs, les arbres, les animaux“.4 Der moderne Leser wird sich nicht von vorneherein der Möglichkeit verschliessen, die autobiographische Authentizitätsrede als psychologisches Selbstbild zu verstehen. Sluperius’ massive Angaben zum Landleben legen nahe, sie als ‚Erleben‘ zu deuten: Nordfrankreich und Westflandern als ein Gebiet, in dem man damals Landleben ‚erleben‘ konnte. Die Darstellung des Geburtsortes scheint dies zu bestätigen: Sluperius erinnert sich offensichtlich an Gärten mit blühenden Blumen (Z. 16) und an die vielen Tiere, die es dort gab (Z. 17). Da Kindheitserlebnisse bekanntlich stark und prägend sind, haben sie möglicherweise Sluperius’ spätere Landliebe mitbestimmt. Eine weitere Art, die Landliebe des Sluperius psychologisch-hermeneutisch zu deuten, wäre, sie in Bezug auf seine dichterische Tätigkeit zu verstehen: das Landleben als geeignete Ambiente seines dichterischen Schaffens, als Ort der Ruhe, Beschaulichkeit, Naturverbundenheit und Zivilisationsferne, als Ort, der zum Dichten inspiriert. Möglicherweise haben wir einen Lyriker vor uns, der sich aufs Land zurückgezogen hat, um sich in aller Ruhe seiner Kunst zu widmen. Gleichwohl stößt der moderne Leser, der Sluperius’ Authentizitätsangebot annimmt, auf einige befremdliche Elemente. Wenn er die geographischen Angaben bezüglich Sluperius’ Geburtsort überprüft, kommt er zu der merkwürdigen Entdeckung, dass die Leie/Lys nicht in der Nähe von Bailleul entspringt, sondern ca. 50 km entfernt, bei Fruges, was zur Atlantikküste hin näher liegt als zu der nämlichen Stadt an der belgischen Grenze. Einen Ort, der 50 km entfernt liegt, kann man im Lateinischen schwerlich mit „non procul“ angeben. Die behauptete geographische Nähe Bailleuls zu der Quelle der Lys gerät bei einer hermeneutischen Lektüre also zu einem schwer verständlichen Informationsbruchstück. Weiter ist seltsam, dass der Autobiograph explizit angibt, dass Bailleul „von allen Seiten“ („undique“, Z. 15) von Bergen umgeben sein soll. Kontrolliert man diese Angabe, so stellt sich heraus, dass nur nordwestlich der Stadt Hügel liegen (die höchste Erhebung befindet sich auf ganzen 164 m Seehöhe), während das übrige umliegende Land flach ist. Vor allem überrascht den modernen Leser, dass Sluperius abgesehen von den genauen Datierungen und geographischen Lokalisierungen nur wenige (oder eigentlich kaum) konkrete Angaben macht, z. B. zu den Tätigkeiten, die er jeweils ausübte. Es scheint, als ob das Landleben 4
Roersch, „Sluperius“, BNB, Bd. XXII, Sp. 706.
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Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt
selbst das Wichtigste war. Aber auch dieses bleibt eher vage. Z. B. gab es in Merville „liebliche Wiesenfluren“, während sich Sluperius in Boezinge als „Diener“ („minister“) in den „Gärten der Musen“ (Z. 31) aufgehalten haben will. Das ist nichts Konkretes. In Ypern soll ein gallischer Hirte Schafe und Ziegen gefüttert haben (Z. 33–34). Das mag im materiellen Sinn konkret erscheinen, ergibt aber gerade als konkrete Angabe wenig Sinn. Wieso sollen sich die Schafe und Ziegen vor allem in der Stadt aufgehalten haben? Das gelegentliche Abgleiten in eine klassizistische Mythologie, zu den „Nymphen“, die auf den Wiesenfluren Boezinges ihre Lieder singen, bzw. zu dem „Tempel der Aoniden“ (Z. 40) trägt nicht dazu bei, die Authentizitätserwartung befriedigend einzulösen. Jedenfalls steht die vage Wiedergabe des Landlebens in einem widersprüchlichen Verhältnis zu dem massiven Authentizitätsanspruch, mit dem der Text daherkommt. Weiter fällt dem modernen Leser nicht leicht, einen Zugang zu der Art zu finden, in der Sluperius, der „Meister der Beschreibung des Landlebens Westflanderns“, Tiere beschreibt. Eine Formulierung wie „stupsnasige Zicklein“ (Z. 34) iritiert. Das wäre als Kindheitseindruck, wo vom Tierefüttern des Kleinkinds die Rede ist, vielleicht noch erträglich, wenn Erwachsene so etwas in Bezug auf das Erwachsenenalter von sich geben, wirkt dies eher possierlich und maniriert. Die gekünstelte Formulierung erscheint unmotiviert, unverständlich und stört die Authentizitäserwartung, mit der der Leser an den Text herangeht. Betrachten wir die Autobiographie nunmehr von der Warte eines frühneuzeitlichen Lesers. Dieser wurde von der mangelnden Konkretisierung in der Beschreibung des Landlebens keineswegs irritiert. Denn in seiner Lektüreerwartung ging er nicht davon aus, dass Dichter authentische Eindrücke des Landlebens sammeln und festhalten wollen. Auch erwartete er nicht, dass Poeten tatsächlich über Wälder, Wiesen und Ackerfluren zögen. Literatur entsteht für ihn in der Schreibstube, nicht im wogenden Getreidefeld oder im duftenden Gras. Seine intertextuelle Lesehaltung lässt den frühneuzeitlichen Leser erkennen, dass Sluperius’ Landschaftsbeschreibungen jenen der Bukolik ähneln. Das verwendete Versmaß (Hexameter) wies schon in diese Richtung. Ziemlich sicher hat der frühneuzeitliche Leser Vergils Eklogen bereits in der Schulzeit gelesen, wahrscheinlich sogar, wie viele Lateinschüler und Studenten, selbst irgendwann zur Übung ein Vergilisches Hirtenlied verfasst. Sein intertextuelles Gespür registriert gerade die „stupsnasigen Zicklein“ („simisque capellis“), die den modernen Leser irritierten, als etwas
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Vertrautes: Sie kommen aus Vergils 10. Ekloge herbeigelaufen, wo sie am „zarten Gebüsch“ („tenera virgulta“) rupfen (Z. 7). Da der frühneuzeitliche Leser mit der Gattung der Bukolik vertraut ist, akzeptiert er die niedlichen Aspekte, die zur Gattungsästhetik gehören, ohne Widerspruch. Der Dichter-Hirte redet mit seinen lieben Tierlein: „Es wird schon Abend. Wenn ihr satt seid, geht heim, meine Zicklein, geht heim“, wie der letzte Vers der nämlichen Ekloge lautet (10, 77). Da er mit der Gattung der Bukolik vertraut ist, weiss der Leser auch, dass diese sich vorzüglich der allegorischen Rede bedient. Er wird deshalb aus den Versen des Sluperius prinzipiell nicht herauslesen, dass dieser besonders naturverbunden war. Er wird weder die Tierlein noch ihre Eigenschaften wörtlich auffassen. Die „stupsnasigen Zicklein“ sind für ihn keine Zicklein, so wie auch der Hirte für ihn kein wirklicher Hirte ist. Zum Beispiel symbolisieren die Zicklein aus der Schlusszeile der Eklogen die Leser: Vergil verabschiedet sich damit freundlich von seinem Publikum. Von seiner Lesehaltung her erwartet der frühneuzeitliche Leser nicht, dass Sluperius’ Beschreibungen des Landlebens realistisch gemeint sind. Er käme nicht – wie wir – auf den Gedanken, sie zu kontrollieren, z. B. indem er Landkarten konsultiert oder sich anderwärtig über die Gegebenheiten vor Ort informiert. Er hat kein Bedürfnis, diese Art von Authentizität zu überprüfen. Wenn er erführe, dass die Leie nicht bei Bailleul, sondern ca. 50 km entfernt entspringe, würde ihn diese Information wohl kalt lassen. Was ihm das unangenehme Gefühl vermittelt, dass hier Diskurse durcheinandergeraten, rührt gerade von der massiven Authentizitätsbehauptung und Dokumentierungsrede des Sluperius her. Der frühneuzeitliche Leser erwartet von einem bukolischen Text nicht, dass dieser unverhüllt eine solche Reihe konkreter Ortsangaben macht, schon gar nicht niederländische Ortsnamen (Herzeele!) aufweist, noch dass er ein konkretes Datum trägt, schon gar nicht ein so ein genaues wie „Westvleteren, 4. 9. 1573, im Gebiet von Veurne“. Diese Widersprüchlichkeit befremdet den Leser und verleiht dem Text eine schmerzliche Spannung, eine Spannung, die in jeder Verszeile aufzubrechen droht wie ein Körper, dessen schlaff gewordene Haut die pulsierenden Adern nicht mehr zusammenzuhalten vermag. Man muss befürchten, dass sie jeden Augenblick zerbirst und das Blut heraussprizt. Diese Spannung lässt vermuten, dass hier Gewaltanwendung im Spiel ist. Es hat den Anschein, dass diese mit aller Macht zugedeckt werden soll, während sie ständig hervorzubrechen und katastrophale, chaotische Kräfte freizusetzen droht.
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Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt
2. De Sluperes Lebenslauf 5 Jacques de Slupere (Slupper, Sluyper, 1532–1602) wurde als Sohn des wohlhabenden Bürgers Jacques Slupper in der Kleinstadt Bailleul (im heutigen Nordfrankreich) geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Herzeele (ca. 18 km von Bailleul entfernt), wohin die Eltern übersiedelt waren. Die lateinische Grammatikschule besuchte er in Merville (ca. 25 km südlich von Herzeele). Anschließend studierte er an der Universität Löwen, wo er den Titel des Magister artium erlangte. Nach dem Studienabschluss schlug er die kirchliche Laufbahn ein: 1555 wurde er zum Kaplan von Boezinge bei Ypern ernannt, eine Stelle, die er zehn Jahre bekleidete. Neben der Seelsorge widmete er sich humanistischen Studien, vor allem der neulateinischen Poesie. Er gehörte einem humanistischen Zirkel an, zu dessen Mitgliedern auch der Bürgermeister und andere Magistrate der Ortschaft zählten. 1563 veröffentlichte er seinen ersten lateinischen Gedichtband,6 der sich aus zwei Büchern Lyrik, zwei Büchern Elegien, der Ekloge Eucharis und einem Werk über seine Lieblingsdichter zusammensetzte. 1566 wich er vor den Bilderstürmern nach Ypern aus und verlor seine Pfarre. Zwei Jahre später erhielt er eine neue Stelle als Kaplan in Westvleteren, die er etwas mehr als zehn Jahre bekleidete. In Westvleteren widmete er sich neben der Seelsorge weiterhin der neulateinischen Dichtung; 1575 gab er dort seinen zweiten Gedichtband heraus, in dem sich die hier betrachtete Autobiographie befindet. Als Ypern 1578 von den Genter Kalvinisten eingenommen wurde, flüchtete er nach Arras (im heutigen Nordfrankreich, ca. 55 km südlich vonYpern), wo er von dem Humanisten Anton de Meyere aufgenommen wurde. In Arras befand er sich in Gesellschaft zahlreicher katholischer Religionsflüchtlinge. Er blieb dort bis zu seinem Tode (1578–1602). Er betätigte sich weiter als neulateinischer Dichter; es gelang ihm jedoch nicht mehr, seine (neuen) Werke drucken zu lassen. In der Kommunalbibliothek von Arras befindet sich eine Sammlung unveröffentlichter Autographe De Sluperes, worunter ein Epos, Bukolik, Hymnen und Eklogen.
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Zu De Sluperes Lebenslauf vgl. Roersch, „Sluperius“; Ders., BB, Bd. V, 164–170; AA XVII, 2, 743–744; M. A. Nauwelaerts, Art. „Sluperius“, in: Moderne encyclopedie van de wereldliteratuur, 2. Aufl., hrsg. von A. G. H. Bachrach u. a., Haarlem 1980–1984 (11 Bde.), Bd. IX, 29–30; vgl. BHAPB (1988), 366. Jacobi Sluperii Herzelensis Flandri Poemata, nunc primum in lucem aedita […], Antwerpen, Joannes Withagen, 1563; BB, Bd. V, 164–165.
In Sincerus’ Schatten
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3. In Sincerus’ Schatten: Sluperius’ Bukolisierung der Autobiographie als Sannazaro-Imitation und Katholizismus-Bekenntnis Sluperius’ Lebensbericht fängt mit einer Topothesie der Geburtsstadt an: Dort, wo Flandern zum französischen Erdkreis hinblickt, Unweit der Quelle der linde fließenden Leie, Liegt ein Ort, der eine zierliche Stadt bildet, die nicht von türmebesetzten Mauern umringt ist: Ihn umgeben auf allen Seiten verschiedene Berge, schön mit ihren blumenübersäten Gärten und ihrer reichen Frucht, Sämtlich mit gesunden Wäldern bewachsen und wimmelnd von aller Art Tieren, Voll von heiligen Häusern und bevölkert von zahlreichem Volk (Z. 12–18).
Oben stellten wir fest, dass diese Schilderung merkwürdige Diskontinuitäten zu der tatsächlichen geographischen Lage Bailleuls aufweist. Die Quelle der Leie entspringt nicht bei Bailleul und die Stadt ist nicht von allen Seiten her von bewaldeten Bergen umgeben. Die vorliegende Topothesie ist auch noch in anderer Hinsicht auffällig. Sie bildet kein verpflichtendes Element der Autobiographie oder Biographie (auch nicht der Dichter-Autobiographie), kann also nicht von der (auto)biographischen Topik her erklärt werden. Ovid bespielsweise hat in seiner Dichterautobiographie zu seinem Geburtsort Sulmo nur zwei kurze Angaben gemacht.7 Indem Sluperius seine Autobiographie mit dieser Topothesie einleitet, bindet er sie an die Autobiographie des großen Sincerus, „der Vergil am nächsten kam“,8 an.9 Sannazaros Autobiographie zeichnet sich durch ihre eindringliche Verlandschaftung aus, die oben analysiert wurde.10 Sluperius konstituiert sich damit als Nachfolger Sannazaros, als begnadeter lateinischer Dichter. Wenn man Sluperius’ Selbstkonstituierung als neuen Sannazaro erkannt hat, versteht man die Metamorphose, welche der Lage der Stadt Bailleul zuteil wurde. Bailleul ist „von allen Seiten her“ von „Bergen“ umgeben, weil der Landsitz der Edlen von Santo Mango im Picentino (S. Cipriano) in einem Tal lag, das von allen Seiten her von Bergen umgeben war. Die erste Verszeile von Sannazaros Gedicht führt dies vor: 7 8 9 10
Tristia IV, 10, 3–4: 90 Meilen von Rom entfernt; Wasserreichtum. Bembos Grabepigramm auf Sannazaro in S. Maria del Parto, vgl. oben, Abb. 14. Sannazaro, Elegie III, 2; s. oben, Kap. XVIII. S. oben, Kap. XVIII, Abschnitte 3 („Die Verlandschaftung der Autobiographie 1: Topothesie, Ekphrasis“) und 4 („Die Verlandschaftung der Autobiographie 2: Arkadien, der Ort der Akademiker“).
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Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt
„Est Picentinos inter pulcherrima montes / Vallis […]“. Der Wald umringt Bailleul, weil tiefer Wald allseits auch S. Cipriano umringte: „Et circum […] late nemus accubat“ (Z. 7). Der Wald wimmelt bei Sluperius nur so von wilden Tieren, weil Sannazaro den Wald um S. Cipriano als Heimat der wilden Tiere bezeichnete (Z. 10). Die Quelle der Leie verlegte Sluperius in die Berge Bailleuls, da auch an Sannazaros Örtlichkeit eine Quelle entsprang: „Vivula nomen aquae […]“ (Z. 15). Die Berge um Bailleul sind „voll von heiligen Laren und bevölkert von zahlreichem Volk“ (Z. 18), weil auch die Gegend um S. Cipriano von frommem Volk besiedelt war: „habet patrios hic pia turba deos“ (Z. 2). Die konstituierende Wirkung, die von Sannazaros Topothesie ausging, wurde von Sluperius als so mächtig erfahren, dass es die eigentliche Funktion, welche das antike Darstellungsmittel der Topothesie erfüllt, die narratologische Vorbereitung eines bedeutenden Ereignisses, gewissermassen vergaß. Was geschieht nach der eindrucksvollen Topothesie (10 Verszeilen!)? Eigentlich nichts. Sluperius teilt mit, dass ihm dieser Ort eine angenehme Wiege war (eineinhalb Zeilen). Bei Sannazaro folgte, wie wir oben erörterten, der emotionsgeladene Sakralakt der Dichterweihe mit der Aufnahme in die Akademie von Neapel (26 Verszeilen). Sluperius’ Auswertung der gewaltigen Topothesie wirkt damit verglichen wie eine Antiklimax. Dies täuscht jedoch über die Tatsache hinweg, dass er den Punkt, um den es ihm eigentlich ging, erreicht hat: Er wurde in Sannazaros Landschaft hineingeboren. Genau damit hat er sich jedoch als inspirierter lateinischer Dichter legitimiert. Deshalb brauchte er keine Dichterweihe mehr: Die Geburt in Sannazaros heiliger Autobiographielandschaft war Weihe genug. Damit schreibt sich Sluperius in die Respublica litteraria als Sannazaro Flanderns ein. Sluperius verlandschaftet sein Leben auf diese Weise in der literarischen Hirtenlandschaft, Arkadien. Arkadien kann überall und allezeit stattfinden. Der Leser erkennt, dass die bukolische Landschaft nicht als realistische Beschreibung, sondern in allegorischem Sinn gelesen werden muss. Sie ist der geistige Raum des Dichters. Der Hirt, der seine Lieder singt oder seine Tiere betreut, symbolisiert den Dichter, der seine Werke erschafft und anderen vorträgt. Man versteht somit, dass der Hirt in Ypern (Z. 33) niemand anderer als Sluperius selbst ist. Sluperius ist der „gallische Daphnis“ („Grudius […] Daphnis“, Z. 33), also Dichter von pastoraler Poesie. Damit spielt Sluperius auf seine Diversorum carminum silvula seu Lusus Pastorales an.11 11
Poemata, 1575, 201–276.
In Sincerus’ Schatten
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Dass er Schafe und Ziegen fütterte, bedeutet, dass er seine Gedichte dem Publikum vortrug, sie publizierte. Wie schon bei Vergil (Ekloge 10, 77) symbolisieren die „Zicklein“ („capellae“) die Leser. In der Tat hat Sluperius seinen ersten Gedichtband (mit bukolischen Gedichten) in seiner Boezinger Periode, 1563, publiziert.12 In Z. 34–35 verortet Sluperius seine Leser in Ypern. Die Bürgern Yperns bezeichnet er als „wolletragendes Volk“ („lanigera gens“), was insofern einen reizvollen Doppelsinn ergibt, als die Formulierung auf die Textilindustrie der Stadt anspielt. Sluperius hatte damals den Status eines lokal angesehenen Dichters erreicht. Dass er „Meister der Ackerfluren ernennt und unterweist“ bedeutet, dass er einem humanistischen Kreis vorstand und als solcher Dichterkandidaten aufnahm und ausbildete. Die „ernsten Gesänge“ („cantica seria“, Z. 41), die der Hirte Sluperius „auf den kräuterreichen Fluren“ Westvleterens „im heiligen Haus“ singt, symbolisieren die Sacri hymni, die er damals verfasste.13 Nun weist die allegorische Selbstkonstituierung als Hirte bei Sluperius eine Bedeutungsschicht auf, die bei Sannazaro nicht gegeben war. Sluperius übte nämlich den Beruf eines katholischen Kaplans aus, war also auch in diesem Sinn ein „Hirte“. Er war Kaplan in Boezinge (1555–1566) und in Westvleteren (1569–1578).14 Seine „Schäflein“ sind damit nicht nur sein Leserpublikum, sondern seine parochiale ‚Herde‘. Die Dichterfunktion des Hirten vermischt sich in der ganzen Autobiographie auf merkwürdige Weise mit der Priesterfunktion. Wenn Sluperius in Boezinge als „Diener“ („minister“) im Garten der Musen (Z. 30) oder in Westvleteren als „Priester“ im Tempel der Musen auftritt (Z. 40), so bezieht sich dies jeweils auch auf sein kirchliches Amt. Wenn er sagt, dass er in Westvleteren nunmehr „zweiter Diener“ „im heiligen Hause“ sei, so will er damit bedeuten, dass er dort die Stelle des Kaplans der Ortskirche15 innegehabt habe. Der wesentliche Punkt ist, dass Sluperius offensichtlich die Kulturfunktionen des katholischen Priesters und des humanistischen Dichters fast deckungsgleich verwendete. Dies hat im Spiegel der Ereignisse, die Westflandern 1566 und den folgenden Jahren wie eine Flutwelle überrollten, einen besonderen Sinn.
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BB, Bd. V, 164–165. Poemata, 1575, 11–61; vgl. BB, Bd. V, 166–167. Vgl. Roersch, „Sluperius“, Sp. 704–705. Ebd., Sp. 705.
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4. Der Referenzpunkt der Bukolik: der Niederländische Aufstand Die Topothesie des Geburtsstädtchens Bailleul weist ein weiteres merkwürdiges Element auf: Es ist zierlich, insofern es keine türmebesetzten Mauern besitzt. Stadtmauern bzw. Befestigungswerke waren in der Frühen Neuzeit jedoch klar in der Topik des Städtelobes verankert. Es galt für eine frühneuzeitliche Stadt als eine geradezu ästhetische Qualität, hohe, starke, ‚uneinnehmbare‘ Mauern zu besitzen. De Slupere lobt jedoch auffälligerweise das Fehlen von Mauern. Damit konstituiert er die Zeit seiner Geburt (1532) als Goldenes Zeitalter, in welchem Frieden und Eintracht herrscht. Die zahlreiche Bevölkerung (Z. 18) lebte damals in Ruhe und Sicherheit mitten in der Natur, inmitten „der gesunden Wälder“ (Z. 17). Es gab damals keine Aggression, keinen Krieg. Die bukolische Landschaft ist somit mehr als eine symbolische Figuration des Dichtertums: Sie fungiert als Garant von Frieden und Sicherheit. Sie bildet die warme, weiche und sichere Decke, in welche das Leben des Sluperius gebettet war. 1566 bekam diese Decke Risse, es kam zu einer Katastrophe. Im Text wird die Katastrophe verschleiert. Die Formulierung, dass Boezinge „Zweimal fünf Sommer seinen Diener wärmte, / Der angenehm weilte in Aonischen Gärten, / Bis auf die Stadt Ypern stieß das Volk der Geusen“, lässt das Ausmass der Gewalt, das über die Niederlande insgesamt und Sluperius im Besonderen hereinbrach, kaum erahnen. 1566 explodierte die angespannte Lage in Westflandern. Im Sommer dieses Jahres zogen die Bilderstürmer über das Gebiet her. Am 13. August verwüsteten sie die Kirchen und Klöster von Sluperius’ Geburtsort Bailleul, am 14. diejenigen Poperinges, am 16. August die Yperns, und in den nämlichen Tagen auch Boezinge (Abb. 23).16 Sluperius wurde ein Opfer der Bilderstürmer.17 Er kam zwar mit dem Leben davon, verlor aber seine Kirche, die gestürmt wurde. Der radikale Prädikant Sebastian Matte dirigierte die Gewaltakte. Sluperius flüchtete nach Ypern, wahrscheinlich weil er sich in einer Stadt sicherer fühlte. Erst mehr als zwei Jahre später wagte er wieder, als Kaplan in einer Parochie tätig zu sein. Er wich damals nach Westvleteren aus.
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G. Parker, Der Aufstand der Niederlande, München 1979, 79–85; J. Scheerder, De beeldenstorm, Bussum-Haarlem 1974, bsd. 104–113. Roersch, „Sluperius“, Sp. 705.
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Abb. 23: Der Bildersturm in den Niederlanden. Schematische Wiedergabe nach G. Parker, Der Aufstand der Niederlande, 80.
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Die Geusen, denen eine leitende Rolle beim Bildersturm zugesprochen wurde18 – wie u. a. aus Pamphlethen hervorgeht (s. Abb. 24) – machten in der Folge die Küstengebiete der Niederlande und deren Hinterland unsicher.19 Es ist klar, dass Sluperius davon persönlich betroffen war: Als katholischer Kleriker war er seines Lebens nicht mehr sicher. Das Schicksal seines Vaters zeigt, dass eine persönliche Tragödie vorlag. Dieser war nach dem Tod seiner Frau ins Kloster von Herzeele eingetreten. Als die Geusen 1570 das Kloster stürmten, folterten sie den zweiundachtzigjährigen Greis grausam zu Tode.20 Wie ist zu verstehen, dass der autobiographische Text diese Ereignisse, die das Leben des Autobiographen entscheidend beeinflussten, nicht dokumentiert? – Die hereinbrechenden Ereignisse waren zu blutig, zu gewalttätig. Das Machtmittel des bukolischen Diskurses wird eingesetzt, sie zu verdrängen und zu neutralisieren. Wenn die bukolische Landschaft intakt bleibt, wird die Ordnung erhalten bleiben. Gerade in dieser Beziehung ist die Gleichung Hirtenlandschaft = Humanismus = Katholizismus von größtem Belang. Wie stellte sich Sluperius’ Lage in Westvleteren, in der Periode, in der die Autobiographie verfasst wurde (1572–1573), dar? In dieser Zeit war die Bedrohung nicht geringer geworden. 1572 fielen die nördlichen Niederlande von Philipp II. ab und gingen offen zum Angriff über. Wilhelm von Oranien mit den Seinen kontrollierte in der Folge weite Teile Hollands und Seelands.21 Auch Südniederländische Städte fielen dem König ab: Mechelen, Diest, Löwen, Oudenaarde, Nivelles, Mons, Valenciennes. Katholische Kleriker waren aufgrund der Übergriffe der Geusen ihres Lebens nicht sicher. Das Ausmaß der Gefahr lässt sich an dem Fall des Delfter Priesters und humanistischen Dichters Cornelis Muys (Musius) erkennen, dem in dieser Zeit (1572) ein ähnliches Los zuteil wurde wie 1570 Sluperius’ Vater: Er wurde von den Geusen gefangengenommen, die den Siebzigjährigen zu Tode folterten, seine Leiche verstümmelten, sein Geschlechtsteil abschnitten und sein Körperfett zur Weiterverwendung verkauften (Abb. 25).22 18
19 20 21
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D. R. Horst, De Opstand in zwart-wit. Propagandaprenten uit de Nederlandse Opstand [1566–1584], Zutphen 2003, 47–52. Horst, De Opstand in zwart-wit, 50. Roersch, „Sluperius“, Sp. 704. Parker, Der Aufstand der Niederlande, 147–183 („Das Jahr 1572“ und „Die neue Ordnung des Prinzen von Oranien“). P. Noordeloos, Cornelis Musius. Pater van Sint Agatha te Delft. Humanist/Priester/ Martelaar, Utrecht 1955, 201–243.
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Abb. 24: Anonymus, De beeldenstorm door de geuzen, 1566, Holzschnitt.
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Abb. 25: Die Folterung und der Märtyrertod des Cornelius Musius. Leuven, B. Masius, 1634.
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Während der katholische Kleriker Sluperius in Wirklichkeit unter ständiger Bedrohung und Furcht lebte, bleibt er in der literarischen Darstellung der bukolische Hirte, der sich (tapfer) auf die kräuterreichen Fluren Westvleterens hinausbegibt (Z. 27 ff.). Indem er dort als „zweiter Diener im heiligen Hause“ wirkt und weiterhin seine Gesänge übt, erhält er die Welt heil. Allerdings bricht jetzt die Gewalt durch den Text hindurch, insofern Sluperius die „Rebellen aus Seeland und Holland“ benennt, die „das katholische Volk und die Mönche und Nonnen und die heiligen / Tempel ihrer Besitzungen berauben und alles – ach! – / Durch ihre Verbrechen und ihre Frevel verwüsten und das Heilige entheiligen / Und sich weder an Gesetze halten noch die höchsten Heiligen mit / Ehrerbietung behandeln, weder den Teufel fürchten noch die Hölle“ (Z. 44–49). War damit der bukolische Diskurs gesprengt worden? Dies ist insofern nicht der Fall, als gerade der römische Gattungskonstitutor Vergil das Thema des Bürgerkriegs und seiner Folgen in seine Hirtengedichte aufgenommen hatte. Aufgrund des Krieges verlieren manche Vergilische Hirten ihr Land. Bereits bei Vergil lag diesbezüglich ein autobiographischer und historischer Hintergrund vor: Vergil bezieht sich auf die Landenteignungen, in deren Zuge der Besitz der Bauern der Gallia Cisalpina an die siegreiche Soldateska verteilt wurde. Vergils Vater, der bei Mantua einen Bauernhof besaß, war davon betroffen. Daher rührt die Klage des Hirten Meliboeus in der 1. Ekloge: 65
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Wir aber ziehen von hier, in Afrikas Gluten die einen, Andre zu den Skythen und weiter zum kreidewirbelnden Oxus, Und zum anderen Ende der Welt, zu den fernen Britannen. Ob ich wohl je nach langer Zeit mein väterlich Land hier Und den rasengedeckten, den Giebel der ärmlichen Hütte, Ob ich’s je noch sehe, mein Reich […]? Ehrfurchtlos übernimmt der Soldat die gepflegten Gefilde, Er, der Barbar, diese Saaten: Wohin hat uns elende Bürger Zwietracht gebracht! Wir bebauten das Land für dieses Gesindel! Jetzt, Meliboeus, pfropfe den Birnbaum, setz deine Reben! Geht fort, meine Tiere, noch jüngst so glücklich, geht fort, ihr Ziegen! Nimmermehr seh’ ich euch wieder, in grüner Grotte gelagert, Wie ihr ferne dort hängt am dornumwucherten Felsen. Lieder sing ich nicht mehr, bin nicht euer Hirt mehr, ihr Ziegen, Wenn ihr blühenden Klee euch rupft und bittere Weiden.23
Ekloge 1, 64–78, in: Vergil, Landleben (übersetzt von J. und M. Götte, Darmstadt 1977; mit einigen Änderungen), 10–11.
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Jacques de Sluperes Brief an die Nachwelt
Wie Meliboeus von seinem Land, so wurde Sluperius aus seinem „Musengarten“ von Boezinge vertrieben. Vergils bukolische Geschichte bildete somit für Sluperius eine passende Geschichte. Meliboeus’ Hirtenmantel ist ihm auf den Leib geschneidert. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied: Obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte, schildert sich Sluperius nicht als aus der Hirtenlandschaft Vertriebenen. Was hat es damit auf sich?
5. Selbstkonstituierung des Vergilianischen Dichters in Bezug auf den Herrscher: das politische Statement der Autobiographie Sluperius teilt im autobiographischen Text mit, dass er sich 1573 nach wie vor in der Hirtenlandschaft aufhält (Z. 38–49). Er macht dies – und damit seine Existenz als Dichter und katholischer Kleriker – von der Tätigkeit Herzog Albas, des Statthalters der Niederlande, abhängig: Schon verweile als Fremder und Gast ich auf Westvleterens Äckern, Wo ich jetzt zweiter Diener bin im heiligen Hause, 40 Und als wachsamer Priester der Aoniden Tempel verehre, Ernste Gesänge vermische mit lustigem Spiel und Heilige Versmaße verbinde mit profanen Gesängen, Während der fromme Herzog von Alba seine Scharen führt Gegen die häretischen Feinde, dort, wo die Rebellen aus Seeland und Holland 45 Das katholische Volk und die Mönche und Nonnen und die heiligen Tempel ihrer Besitzungen berauben […] (Z. 38–46).
Das Lob Albas wirkt auf den ersten Blick wie eine obligatorische Reverenz des braven Untertanen Sluperius, der im autohistorischen Bericht den machtspolitischen Status Quo im Sinn der spanischen Obrigkeit bestätigt. In dieser Hinsicht ist bemerkenswert, dass zum Zeitpunkt der Bejubelung Albas (4. 9. 1573) dessen Stellung als Statthalter der Niederlande bereits seit längerem unhaltbar geworden war. Wegen Albas militärischer Erfolglosigkeit, des Scheiterns seiner administrativen Massnahmen, der hoffnungslosen, bankrottreifen Finanzlage und wegen des unversöhnlichen Hasses, den er sich bei der Bevölkerung eingehandelt hatte, hatte Philipp II. im September 1571 den Beschluss gefasst, diesen durch Don Juan de la Cerda, den Herzog Medina Celi, zu ersetzen.24 Allerdings traf 24
Parker, Der Aufstand der Niederlande, 192.
Politische Selbstkonstituierung des Vergilianischen Dichters
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der designierte Nachfolger Albas erst im Mai 1572 in den Niederlanden ein, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, da damals offene Kampfhandlungen ausgebrochen und in vollem Gang waren. Da an eine geordnete Amtsübergabe unter diesen Umständen nicht zu denken war, schien es dem König unumgänglich, mit der offiziellen Ablöse zuzuwarten. Ab Mai 1572 gab es sozusagen zwei spanische Statthalter in den Niederlanden, einen abdankenden und einen designierten. Das hatte einen peinlichen Autoritätsverlust beider zur Folge. Don Juan de la Cerda sah täglich klarer ein, wie desaströs die Massnahmen Albas waren, während dieser noch stets den Oberbefehl führte. Dazu bestürmten ihn niederländische Politiker, wie die Führer der katholischen Adelspartei, Philippe de Croy und Frederic Perrenot, mit Ratschlägen und Memoranden. Es kam zu einem unerquicklichen Kleinkrieg zwischen dem Hardliner Alba und dem gemässigten De la Cerda, der sich in gegenseitigen Beschuldigungen und Denunziationen in Briefen an Philipp II. ausdrückte. Im Januar 1573 war die Lage unhaltbar geworden. Philipp II. fasste den Entschluss, beide Statthalter, sowohl De la Cerda als auch Alba, abzuberufen. Als neuen Statthalter ernannte er am 30. 1. 1573 Don Luis de Zuinga y Requesens, den Gouverneur der Lombardei.25 Es dauerte freilich bis zum November 1573, bis der neue Statthalter in Brüssel seinen Einzug hielt. Sluperius’ lobte Alba also zu einer Zeit, in der sich die Machtslage in Brüssel äussert prekär gestaltete. Dass Alba abgelöst werden sollte, war den niederländischen Untertanen spätestens im Mai 1572 klar geworden, als de la Cerda eingetroffen war. In dieser Lage macht Sluperius ein bemerkenswertes politisches Statement, das zu Albas Gunsten ausfällt und gegen die Massnahmen des spanischen Königs plädiert! Er setzt sich offen dafür ein, dass Alba nicht abgelöst werde. Nur wenn Alba im Amt bleibe, wird es gelingen, die Rebellen zurückzudrängen. Die volle Tragweite dieses Plädoyers geht aus der Intertextualität hervor. In den letzten Versen seiner Georgica hat Vergil eine eindrucksvolle Sphragis, ein autobiographisches Siegel, hinterlassen, in welchem er seine Existenz als Dichter in Beziehung zu dem Machthaber Augustus (der damals noch Caesar Octavianus hiess) setzte:
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Ebd., 193.
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Diese Verse sang ich von Ackerbau, Viehzucht und Obstanbau, Während der grosse Caesar (nml. Octavian, Anm.) am tiefen Euphrat einen Blitzkrieg Führt und als Sieger den willigen Völkern Gesetze auferlegt Und also hinanstrebt die Bahn zum Olymp. Zu dieser Zeit nährte mich, Vergil, das liebliche Neapel, Da meine Dichtkunst erblühte im Otium, ferne des Ruhmes. Ich ersann damals mit dem Mute der Jugend spielerisch Hirtengedichte, Tityrus, von dir sang ich unterm Blätterdach der breitästigen Buche. Haec super arvorum cultu pecorumque canebam Et super arboribus, Caesar dum magnus ad altum Fulminat Euphraten bello victorque volentis Per populos dat iura viamque adfectat Olympo. Illo Vergilium me tempore dulcis alebat Parthenope studiis florentem ignobilis oti, Carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi (Georgica, IV, 559–565).
Der Dichter verfasst Hirten- und Landbaugedichte im friedlichen Otium, während sein Caesar, der Überwinder des Bürgerkriegs, in ruhmvollem, glänzendem und siegreichem Krieg die Grenzen des Reiches sichert. Genau diese Verse hat Sluperius seiner Selbstkonstruktion im Brief an die Nachwelt, Z. 38–49, zugrundegelegt. Er setzt damit den in Ablösung begriffenen, erfolglosen Gouverneur Alba mit der strahlenden Lichtgestalt Caesar Octavianus, dem Bürgerkriegssieger, dem ersten Römischen Kaiser gleich! Er bringt dadurch Albas Autorität auf das Niveau Philipps II. und suggeriert, dass man ihn gar nicht ablösen könne. Wer, wenn nicht er, kann die Niederlande retten? Einen Mann, der dem Urheber der Pax Augusta gleicht, fortzuschicken, wäre mehr als widersinnig. Die harmlosen, stupsnasigen Zicklein der Bukolik laufen, wie die Landlebendichtungen Vergils, auf eine politische, propagandistische Stellungnahme hinaus.
Appendix. Brief an die Nachwelt
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6. Appendix. Lateinischer Text von Sluperius, Brief an die Nachwelt OPTIMAE LONGAEVAE CANdidae Posteritati, Iacobus Sluperius Herzelensis P. P. P.26
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Candida Posteritas, quae post mea funera vives, Et, veluti iam nos, his in regionibus hospes Dulciter Aoniis perages in montibus aevum: Si tibi contigerit nostros, ut spero, libellos Volvere, quos adeo tenui velamus amictu: Slupperiusque suam quo duxerit ordine vitam, Quove loco genitus vitalem nudus in auram Prodierit studiisque suos quibus egerit annos, Si novisse voles nec enim novisse nocebit, (S. 287:) Est animus nobis tenui memorare cicuta, Iam decies quartam qui vidimus ordine messem. Inclyta Francigenum qua Flandria prospicit orbem, Non procul a Lyzae fluitantis leniter ortu, Turrisgeris lepidam faciens sine moenibus urbem Est locus: hunc varii circundant undique montes Florigeris hortis et laeta messe decori, Omnigenisque feris sylvisque salubribus omnes Exculti Laribusque sacris populisque referti: Qua Boreas Eurusque gravi cum turbine spirant, Quaque pigro Septem versantur in axe Triones: Balliolum Romana vocat gens; Flandria Bellam. Hoc me fasciolis exceptum matris ab alvo Mollibus involvit: Cereri dilecta puellum Nutriit Herzeele: Grudiis suprema colonis Gloria, Lovanium Phisicen Logicamque reclusit. Dulcia Grammatices iuvenem rudimenta Latinae Per Marcottaeum docuit Mervilla magistrum, Lysiades ubi continuo per amoena vireta Se choreis Nymphae recreant et carmina dicunt. Aestates bis quinque suum Boësinga ministrum Fovit in Aoniis versantem suaviter hortis, Donec ad Hyperiam plebs Geusia pelleret urbem: Pastor ubi Grudius gratissima pabula Daphnis Lanigerae placidus genti simisque capellis
Iacobi Sluperii Herzelensis Flandri Poemata, Antwerpen, Joannes Bellerus, 1575, 286–289. Verwendet wurde das Exemplar Amsterdam, Universiteitsbibliotheek 1096 B 35.
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35 Praebet et arvorum docet instituitque magistros. Sed geminam messem quatuorque moratus ibidem Menses, herbigerum discessi rursus ad arvum, (S. 288:) Iam Westfletranis peregrinus et hospes in agris: Alter ubi sacra nunc versor in aede minister, 40 Et vigil Aonidum veneror pia templa sacerdos Cantica iucundis immiscens seria ludis Metraque carminibus coniungens sacra profanis: Dum pius Haereticos Dux agmina cogit in hostes Albanus: qua Zelandi Batavique rebelles 45 Catholicam plebem Mystasque Deumque verenda Templa suis opibus spoliant et cuncta (gemendum) Per scelus atque nefas grassati sacra profanant Nec leges nec iura colunt nec summa verentur Numina, nec Satanas metuunt nec Tartara curant. 50 O bona posteritas, quae post mea funera vives, Optimus astrifero Superum moderator ab axe Candidiora tibi Deus, et meliora reservet Tempora, quae bellis careant Stygiasque revellant E populo sectas, quibus haec invertitur aetas 55 Iusque silet legesque iacent astraeaque rursum Per scelus atque nefas super aurea sydera Virtus Pellitur. O bona Posteritas charique nepotes, Altitonans vestro procul haec avertat ab aevo: Stelligeroque sacram demittat ab aethere Pacem 60 Et tribuat vobis placidas super omnia Musas, Ardua quos Clariae iuga rupis adire iuvabit, Pegasaeaque sitim lympha sedare perennis Coget amor: quibus et sacris Heliconis in arvis Vivere sanctus erit calor, et sine felle Voluptas. 65 Interea, bona Posteritas lepidique nepotes, (S. 289:) Haec excusa typis mea Carmina dedico vobis, Quaeque dein mihi Pierides et amicus Apollo Dona ministrabunt, vobis sacranda relinquam: Vos igitur placido mea sumite munera vultu 70 Posteritas dilecta mihi charique nepotes; Vosque meo cineri placidam post fata quietem Exoptate; levisque tegat lapis ossa: Valete. Ex VVestuletra agri Furnensis, 1573, a. d. IV Nonas Septemb.
Exhibitionismus am „Nabel der Werke“?
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XXII. Paranormale Autobiographik: Gerolamo Cardanos De vita propria (1574–1576) 1. Exhibitionismus am „Nabel der Werke“? Vielleicht verdiene ich in keiner Hinsicht Lob; sicherlich nicht dafür, dass ich mich dem Schach- und Würfelspiel auf so maßlos-leidenschaftliche Weise hingegeben habe, dass ich – wie ich einsehe – Tadel verdiene. Beiden Spielen habe ich während vieler Jahre gefrönt, dem Schachspiel mehr als 40, dem Würfelspiel etwa 25 Jahre lang, und zwar nicht nur so viele Jahre hindurch, sondern außerdem – ich schäme mich dies zuzugeben – tagtäglich. Ich habe auf diese Weise gleichermaßen an Achtung wie an Vermögen und Zeit Einbusse erlitten. Und es bleibt mir in dieser Beziehung keine Ecke übrig, in die ich mich zu meiner Verteidigung zurückziehen könnte, es sei denn, jemand wolle mich mit dem Argument verteidigen, ich hätte nicht so sehr das Spiel an sich geliebt, als vielmehr die bitteren Umstände gehasst, die mich zum Spiel getrieben haben: Verleumdungen, Unrecht, Armut, die Unverschämtheit gewisser Leute, die ständige Unsicherheit meiner beruflichen Stellung, Missachtung, Kränklichkeit und die Folge aller dieser üblen Umstände, die unwürdige Beschäftigungslosigkeit. Auf die Richtigkeit dieser Erklärung weist die Tatsache hin, dass ich das Spielen aufgegeben habe, sobald ich eine standesgemäße berufliche Stellung erlangt habe. Ich habe also nicht aus Spielwut oder Vergnügungssucht gespielt, sondern aus Missmut und Eskapismus. Obwohl ich zahlreiche wichtige Erfindungen zu diesem Gegenstand in meinem Buch Vom Schachspiel niedergeschrieben habe, habe ich freilich manche wegen der Beschäftigung mit anderen Dingen wieder vergessen: Vor allem acht oder zehn Punkte sind es, die ich nie wieder rekonstruieren konnte und die von ganz unglaublicher Erfindungskraft waren und allen menschlichen Scharfsinn zu übersteigen schienen. Ich erwähne dies nur deshalb, weil ich hoffe, dass bald ein neugieriger Leser darauf stößt und dem Werkchen die Krone, das heißt den Schlussschnörkel aufsetzen möge. In nulla forsan re dignus laude haberi possum: at non tam certe, quam quod latrunculis et aleae tam immodice operam dedi, ut me dignum reprehensione fore intelligam. Lusi per plures annos utroque modo, sed latrunculis supra quadraginta, alea circa viginti quinque, nec solum tot annis, sed totis diebus, turpe dictu. Itaque iacturam simul existimationis feci et rei et temporis. Nec angulus defensioni relictus est, praeterquam si quis velit me defendere, ut dicat non amasse ludum, sed odisse ea, propter quae ludere cogebar: calumnias, iniurias, paupertatem, quorundam insolentiam, confusionem ordinum, contemptum et morbosam naturam atque ex his indignum otium; cuius indicio fuit, cum primum licuit me
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Paranormale Autobiographik: Cardanos De vita propria
exercere digna persona, illa reliquisse. Ergo non amor ludi, non luxuria haec fuit, sed odium atque fuga. Multa et preclara quamquam invenerim in libro de latrunculis, quaedam tamen ob occupationes exciderunt. Octo aut decem, quae nunquam licuit recuperare, ea omnino humanam solertiam excedere et impossibilia inventu esse videbantur. Ob id haec adieci, ut monerem (quod spero venturum), si quando occurrant curiosis, ut coronidem seu apicem adiiciant (De vita propria, Kap. 19).1
[38. Kapitel: Fünf Fähigkeiten, die mir halfen] Jetzt will ich von einer wunderbaren Seite meiner Persönlichkeit sprechen, die insofern umso wunderbarer ist, als ich fühle, dass in mir etwas ist, von dem ich nicht genau weiß, was es ist; dass ich fühle, dass es in mir ist, während ich nicht feststellen kann, dass es aus mir herauskommt; dass es sich um eine Fähigkeit handelt, die mir zur Verfügung steht, wenn ich sie brauche, die jedoch nie gegen meinen Willen da ist. Diese Fähigkeit, die aus mir herauswächst, übersteigt meine eigenen Kräfte. Ich entdeckte die Fähigkeit zum ersten Mal gegen Ende des Jahres 1526 oder zu Anfang des nächstfolgenden Jahres, so dass also seither mehr als 49 Jahre vergangen sind. Nunc de mei ipsius natura quadam admirabili et eo admirabiliore, quod in me sentio esse quippiam, quod quid sit nescio; et id in me esse, cum non a me proficisci talia percipiam, adesse cum expedit, non cum nolo. Quod oritur inde, maius viribus meis, quod detectum fuit anno MDXXVI in fine seu initio sequentis, ut sint peracti ex eo anni supra XLIV.2 [Fähigkeit Nr. 1]: Ich fühle etwas von außen her mit einem gewissen Geräusch in mein Ohr dringen, und zwar stets aus der Richtung, wo gerade von mir geredet wird. Handelt es sich dabei um etwas Gutes, so schlägt sich das Geräusch auf der rechten Seite nieder. Auch wenn es von links kommt, dringt es in mein rechtes Ohr. Dabei handelt es sich um ein regelmäßiges Geräusch. Wenn man von mir schlecht redet, so setzt sich das Geräusch in meinem linken Ohr fest. […] Es kommt mit großer Präzision jeweils aus der Richtung, wo jener lärmende Streit stattfindet. Dabei macht es nichts aus, in welche Richtung ich das Haupt wende. Oft wird, wenn die Sache dort schlecht ausgeht, die Stimme gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sie erwar-
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Lateinischer Text nach Cardano, De propria vita liber, ex bibliotheca Gabrielis Naudaei. Adjecto hac secunda editione de praeceptis ad filios libello, Amsterdam, Joannes Ravestein, 1654, 58–59. In der ersten Zeile wurde „at“ statt „an“ gedruckt. Zur Erstellung der deutschen Übersetzung wurde Hefeles deutsche Ausgabe Des Girolamo Cardano von Mailand (Bürgers von Bologna) eigene Lebensbeschreibung, Jena 1914 herangezogen, jedoch mehrfach abgeändert. De propria vita liber, Amsterdam 1654, 126. Im lateinischen Text steht, dass mehr als 44 Jahre vergangen seien (XLIV). Es muss sich dabei jedoch um einen Druckfehler handeln (für XLIX).
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tungsgemäß aufhört, auf der linken Seite stärker, und sie vervielfältigt sich. Wenn die fragliche Sache in derselben Stadt, in der ich mich aufhalte, stattfindet, kommt es sehr oft vor, dass sofort nach dem Aufhören der Stimme ein Bote zur Tür hereintritt und mich im Namen derer anspricht, die gerade über mich geredet haben. Fand das Gespräch aber in einer entfernten Stadt statt und es kommt ein Bote, so braucht man nur die Reisedauer zurückzurechnen, und man wird sofort erkennen, dass beide Momente zeitlich zusammenfallen und weiter, dass die Sache dort genau auf die Art ausgegangen ist, in der sich das Geräusch niederschlug. Dieses Phänomen dauerte bis ins Jahr 1568, also bis kurz an die Zeit, da die Verschwörung gegen mich ins Werk gesetzt wurde, und ich wunderte mich, dass es aufhörte. Sentio ingredi foris in aurem rem cum strepitu ex ea parte directe, unde fit sermo de me; et, si ad bonum, decumbit in latere dextro. Et si a sinistro venit, penetrat in dextrum (sc. latus) et fit strepitus ordinatus […]. Si ad malum, decumbit in sinistro latere; venit ex !ea" parte ad unguem, unde voces illae tumultuantur. Et ideo a quocunque parte capitis ingreditur. Et persaepe cum res male cedit, vox ex sinistra parte dum finiri deberet, intenditur et multiplicantur voces. Et persaepe si res sit ex urbe eadem, accidit, ut voce vix finita ingrediatur nuncius, qui te vocet illorum nomine. Et si ex alia civitate, et veniat nuncius: computa tempus interpositum a deliberatione et initio itineris, et incidunt in idem, et vides sententiam peractam sub forma, qua conclusa est. Et duravit ad annum usque MDLXVIII, sub tempore cui conspiratio succedebat, et ego mirabar, quod cessaret.3 [Fähigkeit Nr. 3]: Die dritte Eigenschaft betrifft einen gewissen Glanz, den ich allmählich gesteigert habe. Er trat zuerst um das Jahr 1529 auf. Gleichwohl gelang es mir erst gegen Ende meines 73. Jahres, zwischen Ende August und Anfang September 1574, ihn zur vollen Ausprägung zu bringen. Jedoch seine eigentliche Vollkommenheit hat dieser Glanz – wie es scheint – erst jetzt, in diesem Jahr 1575, erreicht. Diese Eigenschaft lässt mich – im Gegensatz zu den anderen obengenannten, die wieder von mir gewichen sind – nicht im Stich, sondern wappnet mich gegen meine Rivalen und gegen drohende Zwangslagen. Diese Eigenschaft stellt eine Kombination von kunstvoller Übung und einer von außen bezogenen Strahlenkraft dar. Diese ist außerordentlich angenehm und für mein Ansehen, meine Arbeit, meinen Gelderwerb, für die Gediegenheit meiner Studien alleine schon von größerem Wert und Nutzen als die beiden erstgenannten Phänomene zusammen. Sie hält mich weder von den allgemein gebräuchlichen Verrichtungen noch vom Umgang mit den Menschen ab, sondern macht mich vielmehr für alles Mögliche geeignet; besonders ist sie bei der Abfassung meiner Schriften von höchstem Wert. Dieser Glanz scheint das Höchste und Beste meiner Persönlichkeit zu sein, denn er fördert und verwirklicht all das zugleich, was jene überhaupt zu leisten vermögen. Auch wenn dieses Phänomen nicht von Gott kommt, so ist es sicherlich das vollendetste Menschenwerk.
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Der lateinische Text nach De propria vita liber, Amsterdam 1654, 126–127. In der zweiten Zeile wurde „et si“ anstatt „aut si“ gedruckt; in der dritten Zeile „ea“ hinzugefügt.
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Tertium fuit splendor. Hunc sensim auxi. Originem sumpsit circa annum MDXXIX. Auctus fuit, sed nunquam perfici potuit nisi circa finem Augusti et initium Septembris anni MDLXXIV. Sed proprie hoc anno MDLXXV, nunc, ut mihi videtur, habeo perfectum. Est autem res, quae non me deserit, sed loco duorum praecedentium quae desierunt, munit adversos aemulos et pro incumbente necessitate. Et est composita ex exercitatione artificiosa et lumine circumforaneo: iucunda nimis, et per se praestat longe plus ad authoritatem, exercitationem, lucra et soliditatem studiorum, quam illa duo simul iuncta. Et hominem non abstrahit a communibus studiis et conversatione humana, et reddit promptum ad omnia et !est" ad compositionem librorum praestantissima, et videtur quasi ultimum nostrae naturae. Repraesentat enim omnia simul, quae ad rem illam faciunt. Et si non est res divina, certe est perfectissimum opus mortalium.4
Die Autobiographie des Arztes und Universalgelehrten Gerolamo Cardano (1500–76)5, aus der diese Textbeispiele stammen, wird immer wieder als Musterbeispiel der Autobiographik der Renaissance und des Humanismus bezeichnet, als gewissermassen repräsentativer Text, der bestimmte Eigenschaften, die der Renaissance zugeschrieben werden, paradigmatisch verkörpert: Den hohen Stellenwert des Individuums, die universale Persönlichkeit, die Miteinbeziehung der materiellen Welt, das Interesse für den menschlichen Körper usw. Georg Misch bringt diese Betrachtungsweise prägnant zum Ausdruck: „In Cardano gelangt der Individualismus der Renaissance zu philosophischem Bewußtsein, die Selbstdarstellung zur Einsicht in ihre wesentlichen Antriebe und die
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Für den lateinischen Text vgl. De propria vita liber, Amsterdam 1654, 127–128. Übersetzung nach Hefele, 120–121 (mit Änderungen). Zu Cardanos Autobiographie De vita propria gibt es eine ansehnliche Reihe von Studien. Man sehe hierzu die Bibliographie 4.13. Unter anderem aufgrund der grossen Aufmerksamkeit, die Cardanos Autobiographie erhalten hat, ist sein Lebenslauf bekannter als der anderer Verfasser, deren Autobiographik in diesem Buch behandelt wurde. Deswegen wurde hier auf eine separate Beschreibung seines Lebenslaufes verzichtet. Eine gute und faktenreiche Übersicht bietet G. Gliozzi, Art. „Cardano, Gerolamo“, in: DBI 19 (1976), 758–763. Für weitere Lebensdetails sehe man Ø. Ore, Cardano, the Gambling Scholar […], Princeton, New Jersey 1956 und M. Fierz, Girolamo Cardano, 1501–1576: Arzt, Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom und Traumdeuter, Basel 1977 (englische Übersetzung u. d. T Girolamo Cardano, 1501–1576. Physician, Natural Philosopher, Mathematician, Astrologer, and Interpreter of Dreams, Boston 1983); M. Baldi, G. Canziani (Hrsg.), Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita. Atti del Convegno internazionale di studi, Milano (11–13 dicembre 1997 ) (Filosofia e scienza nel Cinquecento e nel Seicento 1, Studi 50), Mailand 1999; W. G. Waters, Jerome Cardan: a biographical study, London 1898 und F. Scolari, Gerolamo Cardano. L’avventura della sua vita e le persone del suo tempo, Mailand 1989.
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künstlerische Autobiographie zu der Stellung einer wissenschaftlichen Disziplin“.6 August Buck betrachtete Cardanos Autobiographie als Spiegel des „Lebensgefühls der Renaissance“,7 während schon Hefele Goethes Ansicht über den Autobiographiker Cellini – „ein Mann, der als Repräsentant seines Jahrhunderts […] gelten dürfte“ – auf Cardano angewendet hat.8 Ohne diese apodiktischen Zuweisungen hier zur Diskussion stellen zu wollen, fällt auf, dass der Repräsentativitätsanspruch für Cardanos Autobiographie jeweils im Hinblick auf geistesgeschichtliche Konzepte erhoben wird. Was dabei vielfach übersehen wird, ist, dass das Werk als autobiographischer Text keinesfalls Repräsentativität beanspruchen kann: Cardanos Autobiographie ist überwiegend eine merkwürdige, durchaus idiosynkratische Ausnahme. Schon seinem Umfang nach sprengt der Text den Rahmen der akzeptanzfähigen autobiographischen Diskurse: in der Amsterdammer Ausgabe (1654) 228 kleinbedruckte Oktavo-Seiten, in der Gesamtausgabe 108 Folio-Spalten, in der deutschen Übersetzung 219 Normalseiten. Cardano betrachtete sich selbst als so ungeheuer interessanten Gegenstand, dass es ihm offensichtlich schwer fiel, seiner Selbstbeschreibung Grenzen zu setzen. Auch was ihre Themen betrifft, sprengt Cardano die Grenzen des Gebräuchlichen: Das äußert sich in relativ Harmlosem, wie in dem Eingeständnis seiner Spielsucht, welche im ersten Textbeispiel vorgestellt wurde, oder der genauen Festschreibung sogar der kleinsten Abweichungen vom Zustand der Gesundheit, wie Erkältungen, Husten, Fieber und Halsschmerzen. Unter anderem stellt er fest: „1559, in dem Jahre, in welchem ich nach Pavia zurückkehrte, litt ich zwei Tage lang an Halsschmerzen“ (Kap. 6). Die meisten frühneuzeitlichen Autobiographen hätten derartiges nicht als darstellungswürdig betrachtet. Jeder hat ja irgendeinmal Halsschmerzen, was könnte das also über eine bestimmte Person schon aussagen? Anders Cardano: Selbst das allerkleinste Detail seines Ichs ist ihm interessant und wertvoll. Es ergibt sich die Frage, auf welchem Wege oder im Rahmen welcher Diskurse Cardano zu seiner auffällig detaillierten und intensivierten Selbstbetrachtung gelangte. 6
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Geschichte der Autobiographie, Bd. 4, 2. Hälfte: Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts (1969), 696. A. Buck, „Das Lebensgefühl der Renaissance im Spiegel der Selbstdarstellungen Petrarcas und Cardanos, Formen der Selbstdarstellung“, in: Reichenkron, Haase (Hrsg.), Formen der Selbstdarstellung, 35–52. In der Einführung zu seiner deutschen Übersetzung von De vita propria: Des Girolamo Cardano von Mailand (Bürgers von Bologna) eigene Lebensbeschreibung, VII.
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Die Faszination, die von der Beschäftigung mit dem eigenen Ich ausgeht, setzt sich in weniger Harmlosem, besonders in einer großen Menge okkulter Selbstbeobachtungen fort. Das zweite Textbeispiel ist in Wirklichkeit nur ein kleiner Ausschnitt aus einer langen Reihe okkulter Selbstkonstituierungen, in denen es um Astrologie, Zukunftsträume und ihre Deutung, Visionen, Wunder, Orakel, Prophezeiungen, geheimnisvolle Stimmen, Metoposkopie, Chiromantik usw. geht. Cardanos autobiographischer Diskurs ist vom Paranormalen gekennzeichnet, das in seiner Massivität und Intensität den Leser bei einem ersten Lektüregang förmlich überschwemmt. Cardano glaubte an die okkulten Mächte, die seiner Ansicht nach das gesamte Sein durchziehen und verbinden, das All mit dem Individuum, den Mikrokosmos mit dem Makrokosmos.9 Die okkulten Beobachtungen beschränken sich bei ihm keinesfalls auf metaphysische Sinnzuschreibungen: Das Okkulte bestimmt tatsächlich jeweils die konkrete Gestaltung der materiellen Wirklichkeit und die konkreten Abläufe des historischen Geschehens. Es ist bezeichnend, dass Cardanos Autobiographie mit einem Horoskop anfängt. Cardano hat sich ausführlich mit Astrologie beschäftigt. Er verfasste eine Vielzahl astrologischer Schriften, zum Beispiel Vom Erstellen von Horoskopen (De iudiciis geniturarum, Mailand 1538; Nürnberg 1547), Hundert Horoskope prominenter Menschen (De exemplis C geniturarum, ebd.), Buch der zwölf Horoskope (Liber duodecim geniturarum, Basel 1554), Horoskope von fünf Fürsten mit Erläuterungen (Quinque principum geniturae cum expositione; Mailand 1538), Horoskope von fünf Gelehrten mit Erläuterungen (Quinque eruditorum virorum geniturae cum expositione, Mailand 1538), Supplement auf den Almanach (Mailand 1538; Nürnberg 1547), Siebenundsechzig Horoskope prominenter Menschen mit Erläuterungen (Geniturae LXVII […] cum expositione, Nürnberg 1543), weiter, wie er selbst in seiner Bibliographie, die sich in seiner Autobiographie befindet (Kap. 45), aufführt, vier Bücher Kommentare zu Ptolemaios (Basel 1554), worin er unter anderem sein eigenes Horoskop aufgenommen hat, Von astrologischen Fragestellungen und Selektionen (De interrogationibus et electionibus, ebd.), Berichtigungen bezüglich der Bewegung der Himmelskörper und ihrer astrologischen Auswertung (De restitutione temporum et motuum coelestium, Nürnberg 1543) und überhaupt ein Lob der 9
Siehe hierfür Anthony Graftons exzellente Studie Cardano’s Cosmos. The Worlds and Works of a Renaissance Astrologer, Cambridge, Massachusetts-London 1999 (deut. Übers. u. d. T. Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen, Berlin 1999).
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Astrologie (Astrologiae encomium). Schon die ersten drei Schriften dieser übrigens unvollständigen Liste besitzen einen solchen Umfang, dass sie in den Opera omnia einen ganzen Folio-Band in Anspruch nehmen. Astrologie gehört gegenwärtig natürlich in den Bereich der Scharlatanerie, kein Wissenschaftler, der ernstgenommen werden will, könnte es wagen, Horoskope zu erstellen. Im 16. Jahrhundert besaß die Astrologie einen anderen Stellenwert: Sie stand nicht in einem diametralen Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit, sondern bildete einen zwar diskutablen, jedoch vor allem wirkungsmächtigen Diskurs der Wirklichkeitsbewältigung. Nahezu jeder Fürst beschäftigte Astrologen, einschließlich Bischöfen, Kardinälen, Päpsten. Cardano ist nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache zu großem Reichtum gekommen. Als er im Oktober 1570 gefangengenommen wurde, konnte er mit einem Schlag 1800 Goldkronen Kaution auf den Tisch legen (Kap. 43: „1800 coronati aurei“). Dennoch geht von der Wirkungsmacht der Astrologie in der Frühen Neuzeit kein wie immer gearteter Darstellungszwang in autobiographischen Werken aus. Dies zeigen nicht nur die bisher analysierten Texte, in denen Astrologie kaum eine Rolle spielt. Auch kann davon, dass besonders und zuvorderst die Astrologen zur Autobiographik vorstießen, nicht die Rede sein. Es sind das durchaus unterschiedliche Sachen: astrologische Schriften zu verfassen und eine Autobiographie im astrologischen Rahmen zu erstellen. Das zweite war ungewöhnlich und musste den frühneuzeitlichen Leser verwundern. Es mag umso mehr verwundern, als es nicht ungefährlich war, besonders in Cardanos Fall, der sich in nächster Nähe zur Inquisition aufhielt, die ihm seit 1570 so übel mitgespielt hatte. Es ergibt sich die Frage, wie es zu verstehen ist, dass er sich gerade auf diese Weise präsentierte. Dass Cardano seine okkulten Erfahrungen und Wahrnehmungen im autobiographischen Werk offenlegt, ist also durchaus auffällig. Wohl die Mehrzahl der Mitglieder der Respublica litteraria war der Überzeugung, dass man derartiges, auch wenn man sich ihm persönlich öffnete, lieber im dunklen Kämmerchen der Privatgeheimnisse belassen sollte. Bezeichnend für diese Diskontinuität zwischen Cardano und seinen Zeitgenossen ist, dass Cardano befürchtete, dass ihn manche Leser deswegen auslachen würden: „Ich weiß sehr wohl, auf welche Weise gewisse Leser darüber scherzen und lachen werden, auf dass man sie für kritisch ansehe“ („Scio quales quidam de talibus – ut nasuti videantur – iocos et risus excitabunt“)10, sagt er in Kap. 43, nachdem er die paranormale Er10
De vita propria, Amsterdam 1654, 164.
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scheinung, die er am 9. Oktober 1570 im Gefängnis in Bologna „empfing“, beschrieben hat. Jedoch war sein Verlangen, sich mit seinen paranormalen Fähigkeiten darzustellen, auf irgendeine Weise stärker als die Furcht, verspottet zu werden. Aber auch den augenscheinlich harmlosen Lebensdetails, die Cardano anführt, wohnt eine Virulenz inne, die die Schamschwellen des gesellschaftlichen und literarischen Dekorums öfters überwuchert. So redet er ohne Umschweife und zu wiederholten Malen über seine Impotenz, die ihm bis zu seinem einunddreißigsten Lebensjahr unmöglich machte, Geschlechtsverkehr zu haben. Man muss die Frage stellen, weshalb Cardano derartiges so schamlos vor den Augen der Leser ausbreitet. Inwiefern ist das Faktum relevant? Man könnte sich vorstellen, dass ein Autor Kontroverses preisgibt, wenn es ihn zum Zeitpunkt der Abfassung sehr bedrückt. Das kann jedoch für Cardanos Impotenz schwerlich der Fall sein, da sich das Problem schon seit wohlgemerkt 43 Jahren (!) erübrigt hatte. Cardano war inzwischen verheiratet gewesen und hatte drei Kinder gezeugt. Auch zur Erklärung des aktuellen Zustandes Cardanos trägt die Vermeldung der Impotenz von der Geschlechtsreife bis zum 31. Jahr kaum etwas bei. Der Autor nimmt also offensichtlich in Kauf, zur Vermeldung eines für die Abfassungszeit nicht mehr bestimmenden Lebensdetails die Schamschwellen zu verletzen. Aus dem ersten, oben zitierten Textbeispiel lässt sich Ähnliches ablesen. Während am Würfel- oder Schachspiel als solchem nicht viel auszusetzen ist, überschreitet das Bekenntnis der Spielsucht, die wie eine Droge wirkt, die Grenzen des Dekorums und der Scham. Damit korrespondiert Cardanos Angabe, dass er sich dafür schämt, dass er das Würfel- und Schachspiel tagtäglich obsessiv betrieb. Stellen diese Spiele zur Abfassungszeit der Autobiographie für Cardano ein Problem dar? Offenbar genauso wenig wie die Impotenz. Denn Cardano hat, wie er selbst vermeldet, seine Spielsucht längst aufgegeben. Welchem Zweck dient das Eingeständnis einer Sache, die nicht nur peinlich, sondern zudem moralisch verwerflich war? Haben wir eine Art Lebensbeichte vor uns, nach dem Modell Augustins? Als Beichtgegenstand wäre derartiges verständlich: Es ist in diesem Diskurs sinnvoll, dass ein Autobiograph seine moralischen Irrungen aufzeigt. Er kann dadurch einerseits seinen dornenreichen Weg zu Gott, andererseits Gottes Güte und Barmherzigkeit überzeugend belegen. In diesem Fall lag das Confessio-Argument zum Greifen nahe: Cardano ist ja mittlerweile von seiner Spielsucht erlöst worden: Er hätte zeigen können, dass er sich gebessert, Gott sich seiner erbarmt habe.
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Betrachtet man die Darstellung, so zeigt sich jedoch, dass Cardano das Argument ganz nachdrücklich nicht aufgreift. Sein Text bewegt sich nicht im Diskurs von Augustins Confessiones. Cardanos Scham ist nichts weiter als ein bloßes Lippenbekenntnis. Der Autor scheint im Gegenteil auf seine Devianz stolz zu sein. Er bereut nichts, obwohl ihm seine Spielsucht geschadet hat. Eine (psychologische) Erklärung der Sucht und bis zu einem gewissen Grad ihre Rechtfertigung interessiert ihn mehr. Er hat, wie er angibt, gespielt, weil er unglücklich und mit seinem Leben unzufrieden war, also aus einer Art Eskapismus. Dieser hat sich zur Abfassungszeit erübrigt, weil für ihn der psychologische Anreiz zur Droge Spiel weggefallen ist. Im Übrigen ist er sogar stolz auf seine Sucht, da sie ihn zu grandiosen wissenschaftlichen Entdeckungen geführt hat: Er hat ein Werk über das Schachspiel geschrieben, in dem er seine Geheimnisse ergründete. Die Art, in der Cardano seine „Erfindungen“ präsentiert, kommen naiver Prahlerei gleich; unter anderem redet er von „acht bis zehn“ Entdeckungen, „die von ganz unglaublicher Erfindungskraft waren und allen menschlichen Scharfsinn zu übersteigen schienen“. Das hat nichts mit der Reumütigkeit des Beichtenden gemein. Man könnte fast vermuten, dass es Cardano bei seinen zwielichtigen Bekenntnissen um die Verletzung von Tabus an sich geht. Jedoch lässt sich aus der Selektion der Lebensfakten keine derartige Fokussierung feststellen: Denn Cardano vermeldet eine große Anzahl von Lebensdetails, die das Schamgefühl seiner Leser nicht verletzten. Zum Beispiel befindet sich unmittelbar vor dem Kapitel über die Spielsucht ein Kapitel mit dem Titel „Liebhabereien“ (18). Cardano redet darin von seiner Vorliebe für stilettartige Schreibgriffel, teure Federn, Edelsteine, kleine Vasen, Glaskugeln und seltene Bücher. Nichts davon ist Tabu. Nicht wenige Mitglieder der Respublica litteraria werden Cardanos Liebhabereien geteilt haben, übrigens ohne diese Neigungen in literarischen Werken festzuschreiben. Bemerkenswert ist, dass Cardano offenbar davon ausging, dass alle diese (zumeist nicht weiter ausgearbeiteten) Informationen den Leser interessieren würden. Cardanos Selbstdarstellung macht in dieser Beziehung einen exhibitionistischen Eindruck. Es scheint ein Autor am Werk zu sein, der alle noch so kleinen Stellen seines Ichs ausstellen und vorzeigen will; der dem Leser abverlangt, dass er sich eingehendst mit ihm beschäftige. Dieser Exhibitionismus erscheint zwanghaft und obsessiv. Der Leser könnte vermuten, dass Cardano die psychologischen Grundlagen seines Exhibitionismus in der Autobiographie mitüberliefert hat: die fragwürdige und
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zum Teil mangelhafte Beziehung zu seinen Eltern, die dem Kind nicht genug Liebe und Zuneigung angedeihen ließen, die ihm nicht durch beständige Liebe Festigkeit und Selbstvertrauen vermittelten: „Meine Eltern hatten gemein, dass sie beide zum Jähzorn neigten und wenig beständig waren, sogar in der Liebe zu ihrem Sohne“ („Ambobus parentibus commune fuit iracundos esse et parum constanter etiam in amore filii“, Kap. 3).11 Es erscheint verständlich, dass ein Kind, dem eine grillige, zum Teil lieblose Art elterlicher Fürsorge zuteil wurde, stets um Aufmerksamkeit bettelt: Das Kind ebenso wie der Erwachsene will, dass sich möglichst viele Leute mit ihm möglichst intensiv beschäftigen. Läßt sich Cardanos auffällig starker Publikationsdrang auf diese Weise deuten? In diversen Werken Von seinen Werken (z. B. De libris propriis) breitet er die Masse des von ihm Publizierten nachdrücklich vor den Augen seiner Leser aus. Auch in der Autobiographie befindet sich ein Kapitel mit einer ausführlichen Selbstbibliographie (Kap. 45). Darin bietet er eine Liste von wohlgemerkt 93 Büchern bis 1570 an, wobei er bemerkt, dass in der Zeit von Oktober 1570 bis September 1574 „nur“ 19 Schriften entstanden seien (sic! ) und dass die Liste im Übrigen keinesfalls alles aufzähle, was er bisher geschrieben habe. Im Jahre 1573 will er 120 (sic! ) Schriften verbrannt haben. In einem anderen autobiographischen Werk, in dem Dialog mit seinem Vater Fazio, behauptet Cardano, er habe (bis zum 4. April 1574, Anm.) 139 Bücher publiziert und habe 111 weitere (sic! ) vorrätig, die noch gedruckt werden sollten. Das Paranormale erscheint als der spektakulärste Teil des exhibitionistischen Spektakels: Es erheischt a fortiori die ganze Aufmerksamkeit des Lesers für diesen Mann, der übernatürliche Gaben zu besitzen behauptet. Dieser Mann ist, wie er angibt, imstande, beliebigen Personen vorherzusagen, an welchem Tag und an welcher Krankheit sie sterben werden; er kann in die Zukunft sehen, kann militärische, politische und individuelle Ereignisse gleichermaßen vorhersagen. Er hat einen sechsten Sinn dafür, festzustellen, wann, wo und auf welche Weise über ihn geredet wird. Er hört Stimmen und empfängt Visionen und Zukunftsträume. Er besitzt einen übernatürlichen Strahlenglanz, eine unerklärliche Kraft, die ihn erleuchtet. Diese hilft ihm beim Abfassen seiner Werke und schützt ihn vor seinen Feinden usw. Der Stellenwert der Paranormalia wird durch die Art gesteigert, in der sie Cardano präsentiert: als strikt persönliche, individuelle Fähigkeiten und Ereignisse. Statt paranormale Kräfte als kollektive Erfahrungen zu be11
Ebd., 8.
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glaubigen bzw. mit Hilfe des kollektiven Gedächtnisses zu bestätigen, insistiert er im Gegenteil darauf, dass die Erfahrungen nur ihm gehören. Dies ist umso bemerkenswerter, als zum Beispiel das Phänomen, Stimmen aus der Richtung zu hören, von woher von einem geredet wird, auf einen weit verbreiteten Aberglauben zurückgeht, der mit der Deutung des „Schluckauf “ verwandt ist, von dem frühere Generationen behaupteten, er bedeute, dass jemand an einen denkt. Bemerkenswert ist, dass Cardano ein Phänomen, das als solches nicht individualspezifisch ist, als Individualspezifikum beansprucht. Die paranormale Fähigkeit gerät auf diese Weise zu einem wichtigen Teil von Cardanos Identität, in der er sich konstituiert. Auf welche Weise läßt sich Cardanos Selbstkonstituierung durch das Paranormale erklären?
2. Augustus. Die geheimen Kräfte des Suetonischen Diskurses Bereits Boccaccio hatte um die Mitte des 14. Jahrhunderts den Suetonischen Kaiserdiskurs zur Erstellung der Lebensbeschreibung eines Privatmannes (Petrarca) aufgegriffen, wonach der Biographisierte selbst den Suetonischen Diskurs in seinen Privatangelegenheiten, Altersangelegenheiten und in seinem Brief an die Nachwelt in die Autobiographik übertrug. Als Cardano das literarische Land des Suetonischen Diskurses betrat, gab es also bereits zahlreiche Wege und gebahnte Pfade, auf denen ein Autobiograph vorankommen konnte. Übrigens war Cardano auch mit Petrarca sowie der Petrarca-Biographik vertraut. Er betrachtete Petrarca als einen seiner beiden Lieblingsdichter, wie er in seiner Autobiographie angab. Weiter fühlte er sich mit Petrarca in Bezug auf wesentliche Charaktereigenschaften verwandt, unter anderem hinsichtlich seines Strebens nach Ruhm und in seiner Neigung zur Einsamkeit, der vita solitaria. Im 18. Kapitel von De vita propria bemerkt Cardano: „Die liebsten italienischen Dichter sind mir Petrarca und Luigi Pulci. Einsamkeit ist mir lieber als der Umgang mit Freunden […]“. Cardanos hohe Wertschätzung Petrarcas lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass er sein astrologisches Werk der Hundert Horoskope prominenter Menschen (De exemplis C geniturarum) gerade mit dem Horoskop Petrarcas12 einleitete: 12
Siehe hierzu D. Bobory, „An Unusual Biography: Cardano’s Horoscope of Petrarch“, in: K. A. E., Enenkel, J. Papy (Hrsg.), Petrarch and his Readers in the Renaissance (Intersections. Yearbook of Early Modern Studies 6 (2006)), 209–229.
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Erstens: Die kunstreiche Süße seiner Lieder, die in der ganzen Welt gefeiert wird. Solches gewährt Jupiter im Haus des Merkur, im Geviertschein mit der Venus,13 die beim Fuß des Zwillings steht, und dieser hat die Natur des Merkur und nicht die der Venus. Die Venus aber war im Drittschein mit dem Mond. Dessen Wirkung aber wird gemindert durch die Strahlung des Jupiter in Opposition. So ergibt sich eine Beredsamkeit, die größer nicht sein könnte. Zweitens: Die Tiefe seiner Empfindungen verbunden mit größtem Fleiß. Das gewährt Merkur im Aszendenten neben der Sonne, im Sechstschein mit Saturn. Und gewaltig mehrte dies der im Aszendenten aufsteigende kleine Hund, der die Natur des Merkur hat. Er fügte Kraft zu Gelehrsamkeit und Beredsamkeit.14 Als drittes kommt dauernder, nie nachlassender Ruhm hinzu, so dass er sogar ins Spanische übersetzt wurde. Das zeigt die Ähre an, die in der Tiefe des Himmels steht.15
Cardano war ein aufmerksamer Leser Suetons. Insbesondere war er von dem Suetonischen Beschreibungssystem in Rubriken16, in denen jeweils ein bestimmter Aspekt der Persönlichkeit erörtert wird, sehr angetan, da dieses eine eingehende, detaillierte und analytische Persönlichkeitsdarstellung ermöglichte. Wohl aus diesem Grund legte es Cardano der Komposition seiner Autobiographie zugrunde:17 In diesem Sinn stellte er 52 thematische Rubriken auf (jeweils ein Kapitel in der Ausgabe Naudés18), deren Gegenstände sich mehrfach mit den von Sueton behandelten decken.
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Cardano, De exemplis centum geniturarum, 465: „Primum carminum suavitas elegans, qua per universum orbem celebratur. Praestat hoc Iupiter in domo Mercurii, in quadrato Veneris […]“. Ebd.: „Secundum est profunditas sensuum cum studio maximo. Praestat hoc Mercurius in ascendentis gradu iuxta Solem, in sextili Saturni, quod in amplissimum auxit coascendens minor canis Bebenia, naturae Mercurii. Atque eo modo authoritatem cum doctrina et eloquentia coniunxit“. Ebd.: „Tertium est perpetue manens ac indefessa gloria, ut etiam in Hispanicam linguam transierit. Ostendit hoc spica virginis in coeli imo constituta“. Die deutsche Übersetzung nach Markus Fierz, Girolamo Cardano, 94. Vgl. z. B. H. Gugel, Studien zur biographischen Technik Suetons (Wiener Studien, Beiheft 7), Wien 1977; R. G. Lewis, „Suetonius’ Caesares and their Literary Antecedents“, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, 33, 5 (1991), 3623–3674 und A. Wallace-Hadrill, Suetonius. The Scholar and his Caesars, London 1983. Nicht einfach, um ein Werk ‚in der humanistischen Tradition‘ zu verfassen, wie Buck annimmt („Girolamo Cardano’s ‚De propria vita‘“, in: Annali d’Italianistica 4 (1986), 80–90). Vgl. T. Cerbu, „Naudé as Editor of Cardano“, in: Baldi, Canziani (Hrsg.), Girolamo Cardano. Le opere, le fonti, la vita, 363–378.
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Wie sehr Cardano in seiner Arbeitsweise von Sueton inspiriert wurde, zeigt sich gerade in einer kritischen Anmerkung zum Suetonischen Rubrikensystem. Cardano bemängelte in der Einleitung zu seiner Autobiographie, dass durch die Aufgliederung des Lebens in thematische Lemmata der Überblick ins Gedränge komme, besonders der chronologische Zusammenhang. Während der Leser sich stets mit Einzelbeobachtungen beschäftigt, verkehrt er in Unsicherheit, wann sich die jeweiligen Ereignisse zugetragen haben und wie man sie in den Lebenslauf der betreffenden Person einordnen müsse. Die Beigabe eines chronologischen Lebenslaufes ist nach Cardanos Meinung dringend erforderlich: „Eine solche Zusammenfassung hätte auch Sueton, wenn er überhaupt sein Augenmerk darauf gerichtet hätte, der Bequemlichkeit seiner Leser zuliebe beigeben können. Denn, wie die Philosophen sagen: Etwas kann nur existieren, wenn es auch ein zusammenhängendes Ganzes ist“ („Forsan hoc si Suetonius animadvertisset, addere ob commodum legentium poterat. Neque enim, ut philosophi dicunt, quicquam est, quod unum non sit“).19 Im Unterschied zu Sueton legte Cardano seiner Autobiographie ein solches zusammenhängendes Ganzes bei, indem er in einem der ersten Kapitel einen überblicksmässigen, chronologischen Lebenslauf (auf ca. 8 Normalseiten) voranschickte (Kap. 4)20, bevor er sich der thematischen Analyse seiner Persönlichkeit widmete. Nun fällt bei der Lektüre von Cardanos Autobiographie auf, dass darin besonders viele Parallelen zu Suetons Augustus-Biographie auftreten. Diese literarische Anbindung kann verschiedene Ursachen haben. Die Augustus-Biographie ist die erste vollständige Biographie der Kaiserbiographien, zugleich die längste und am besten ausgearbeitete und dadurch auch die einprägsamste Biographie.21 Diese Eigenschaften machen die Augustus-Biographie zur Nachahmung besonders geeignet. Auch Petrarca hatte seine Altersautobiographie (Epistola posteritati) an die Augustus-Biographie angebunden, wie oben gezeigt wurde. Dennoch reichen diese Erklärungen in Cardanos Fall nicht aus: Die Parallele zu Augustus, die er herstellt, ist spezifischer – sie ist astrologischer Natur. 19
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Cardano, De vita propria, Amsterdam 1654, 9 (Kap. 4); deut. Übers. nach Hefele, 7. De vita propria, Amsterdam 1654, 9–17. Zur Augustus-Biographie vgl. K. A. E. Enenkel, „Biographisches Werten und biographische Ambiguität. Ein Vergleich von Suetons Augustus-Vita und Plinius’ Panegyricus“, in: Wiener Studien 116 (2003), 155–171; R. Hanslik, „Die Augustusvita Suetons“, in: Wiener Studien 67 (1954), 99–144.
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Im Kapitel über seine Geburt (Kap. 2) liefert Cardano eine Erörterung seines Horoskops. Gegen Ende des Kapitels findet sich der anscheinend beiläufige Zusatz: „Am selben Tag ist einst Augustus geboren worden“ („Hac die ortus est olim Augustus“).22 Hinter dieser lakonischen Bemerkung verbirgt sich ein wirkungsmächtiger Zusammenhang. Durch die Astrologie verbindet Cardano sein Leben und seine Persönlichkeit mit Augustus, mit dem Augustus wohlgemerkt, wie ihn Sueton dargestellt hat. Der Diskurs der Augustus-Biographie ist im Fall von Cardanos Autobiographie also vom astrologischen Gesichtspunkt her gerechtfertigt. Der Leser soll registrieren: Hier wird das Leben einer außerordentlichen Persönlichkeit geschildert, welche durch eine ähnliche Konstellation der Sterne mit dem wichtigsten und größten Römischen Kaiser verbunden ist. Schon dadurch ist gewissermaßen vorgegeben, dass manche kulturellen und literarischen Schamschwellen für den frühneuzeitlichen Leser von vorneherein hinfällig werden. Was im Fall des Augustus erlaubt ist, kann auch im Fall des Cardano nicht verboten sein. Andernfalls würde die Wahrheitssuche des Astrologen ins Gedränge kommen. Auf diese bemerkenswerte Weise fällt die Suetonische Diskursivität mit dem astrologischen Diskurs zusammen. Im Rahmen der astrologischen Gleichsetzung mit dem ersten Römischen Kaiser leidet Cardano, wie dieser, an einer schwachen Gesundheit. Sueton hat der Kränklichkeit des Augustus einen ausführlichen Abschnitt gewidmet (80–82, gewisse Elemente auch 78 und 79); Cardano maß der Rubrik ‚Krankheiten‘ ein solches Gewicht zu, dass er sie gleich an den Anfangsteil seiner Autobiographie setzte, als zweites Kapitel nach dem überblicksartigen Lebenslauf (Kap. 6). Daraus geht unter anderem hervor, dass Cardano „ständig an Hautkrankheiten und lästigem Jucken am ganzen Körper, bald hier, bald dort“ litt („Vexatus quoque perpetuo morbis cutaneis ac pruritu: modo his, modo illis“).23 Die astrologische Affinität ist zwingend – Augustus litt an demselben Übel: „Er (Augustus) besaß […] viele flechtenartige Schwielen, die er sich durch ständigen und übermäßigen Gebrauch des Badestriegels für sein Hautjucken zugezogen hatte“ (80).24 Weiter litt Augustus, wie Sueton angibt, an Schlaflosigkeit: „(Er) schlief […] meist kaum länger als 7 Stunden, und selbst diese nicht ohne 22 23 24
De vita propria, Amsterdam 1654, 7. Ebd., 19. Übersetzung nach Sueton, Cäsarenleben. Neu herausgegeben und erläutert, mit einer Einleitung von R. Till, Leipzig 1936, 138.
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Unterbrechung; vielmehr wachte er während dieser Zeit drei bis vier Mal auf. Konnte er den durch Unterbrechung gestörten Schlaf, wie es öfters vorkam, nicht wiedergewinnen, so ließ er einen Vorleser oder Geschichtenerzähler an sein Bett kommen und sich so wieder zum Einschlafen bringen. […] Er wachte in der Nacht nie, ohne dass jemand an seinem Bette saß“ (78).25 Wie die astrologische Affinität nahe legt, leidet auch Cardano an Schlaflosigkeit: „an einer alljährlich viermal, im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter wiederkehrenden Schlaflosigkeit, die jedes Mal fast acht Tage anhält, so dass ich auf diese Weise jedes Jahr fast einen Monat, mitunter weniger, verliere“ (Kap. 6).26 „Quälte mich nachts Schlaflosigkeit, so stand ich auf, spazierte um mein Bett, und zählte in Gedanken bis tausend; auch enthielt ich mich dann der Speisen ganz oder aß doch um mehr als die Hälfte weniger als sonst“ („Si vigilia torqueret, surgebam et deambulabam circa lectum, cogitabam de orochilia, abstinebam a cibo vel plusquam dimidio“, Kap. 8).27 Wie Augustus litt Cardano an häufigen Katarrhen der Atmungsorgane und des Verdauungsapparates. Augustus laborierte jeweils im Frühjahr an Blähungen, und im Herbst stets an Stockschnupfen (81). Auch bei Cardano wechseln sich diese Katarrhe stets ab: „Von Natur litt mein Kopf an Schleimfluss, der sich einmal auf die Brust, das andere Mal auf den Magen niederschlug“ (Kap. 6).28 Zur Angegriffenheit des Verdauungsapparates gehört, dass Augustus eine gefährliche Absonderung der Leber bekam (81) und deshalb nur sehr mäßig Nahrung aufnehmen konnte (76), während Cardano ständig an einem „schwachen und überladenen Magen litt“, und immer, wenn er „zu viel oder zu hastig oder zu Kaltes aß, sofort Magenschmerzen bekam“, überdies einen Darmbruch erlitt (Kap. 6).29 Auch hatte Cardano Probleme mit der rechten Hand, die „zu plump und ihre Finger schwach waren“ („dextra manu crassiore digitisque incompactis“, Kap. 5).30 Da die astrologische Affinität zwingend ist, gilt dasselbe für Augustus, der „im Zeigefinger der rechten Hand eine solche Schwäche fühlte, dass er das erstarrte und von Kälte abgestorbene Glied nur mühsam mit Hilfe eines Hornringes zum Schreiben brauchen
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Ebd., 136–137. De vita propria, Amsterdam 1654, 20. De vita propria, Amsterdam 1654, 24; Übersetzung nach Hefele, 21. De vita propria, Amsterdam 1654, 18. Ebd., 19. Ebd., 17.
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konnte“ (80). Die Parallelie geht auch für die Zähne auf, die bei Augustus „klein und schadhaft waren“ (79) und bei Cardano so in Mitleidenschaft gezogen waren, dass er zur Abfassungszeit der Autobiographie nur noch 15 übrig hatte, worunter einen kranken (Kap. 6).31 Dem Kaiserdiskurs von Suetons Augustus-Vita maß Cardano eine starke mit dem Paranormalen verbundene Kraft zu: Er ermöglicht Cardano, zahlreiche Aspekte und Eigenschaften seiner Persönlichkeit astrologisch zu verorten und in den relevanten Kontext einzuordnen, und garantierte zugleich die Präsentabilität der beschriebenen Phänomene: Wenn Augustus Träger bestimmter Eigenschaften war, so konnten sie Cardano keine Schande bereiten. Das gilt zum Beispiel für die Droge des Würfelspiels. Sueton berichtete über Augustus: „Aus dem Gerede über seine Leidenschaft zum Würfelspiel machte er sich gar nichts; vielmehr spielte er, selbst noch als alter Mann, ohne Hehl und Heimlichkeit zu seinem Vergnügen weiter, und nicht bloß im Monat Dezember, sondern auch an anderen Fest- und Werktagen. Hierüber besteht kein Zweifel. In einem eigenhändigen Brief an Tiberius sagt er: ‚Bei der Tafel haben wir […] gestern wie heute gespielt. Wir würfelten nach der Regel, dass, wer den Hund oder den Sechser warf, für jeden Würfel einen Denar in die Kasse legen musste, und, wer die Venus warf, das Ganze gewann‘“ (71).32 Dieser Bericht bedeutete nicht nur eine Autorisierung des Würfelspiels, sondern zusätzlich des Spielens um Geld. Cardano braucht gar nicht zu bereuen, dass er spielte, denn das Vorbild des Augustus sanktionierte sein Verhalten. In diesem Sinn kann er auch eine Szene beschreiben, die im Wohnhaus eines venezianischen Edelmannes stattfand und die den Glücksspieler Cardano von seiner schlechtesten Seite zeigt. Über das Spiel um Geld entsteht Streit, Cardano fühlt sich betrogen und versetzt seinem Spielpartner mit dem Stilett, das er vorsorglich bei sich trägt, einen Schnitt ins Gesicht. Er rafft das Geld und die anderen Wertgegenstände vom Spieltisch zusammen, bedroht die Diener des verwundeten Edelmannes mit dem Leben, zwingt sie, die Haustüre aufzuschließen, und ergreift die Flucht (Kap. 30).33 31
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Für die Beschreibung des Körperlichen in Cardanos Autobiographie vgl. A. C. E. van Galen, „Body and Self-Image in the Autobiography of Gerolamo Cardano“, in: K. A. E. Enenkel, B. de Jong-Crane, P. Liebregts (Hrsg.), Modelling the Individual. Biography and Portrait in the Renaissance, 133–152. Übers. nach Sueton, Cäsarenleben. Neu herausgegeben und erläutert, mit einer Einleitung von R. Till, 131–132. De vita propria, Amsterdam 1654, 79–80.
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Dasselbe gilt für das Fischen, eine Tätigkeit, die in Cardanos Zeit nicht unbedingt in hohem Ansehen stand. Cardano fischte gerne und oft, mit geradezu obsessivem Eifer. Möglicherweise hat ihn das Zufallselement, das mit dieser Tätigkeit verbunden ist, auf ähnliche Weise gefesselt wie das des Glücksspiels. Nicht wenige Mitglieder der Respublica litteraria würden das Fischen als sinnlosen, zeitraubenden Müßiggang betrachtet haben, der sie von der Gelehrtentätigkeit abhalten würde. Cardano vermeldet jedoch in seiner Autobiographie: „Das Fischen hat mir viel Freude bereitet, und ich habe, als ich in Pavia wohnte, mich dieser Beschäftigung mit Eifer hingegeben und wollte, ich wäre nie davon abgekommen“ (Kap. 18).34 Auch das Fischen war schon von Cardanos Horoskopgenossen Augustus vorsanktioniert: „Zur geistigen Entspannung pflegte er mit der Angel zu fischen […]“ (83). Auch die für einen Gelehrten nicht obligatorische Kategorie der Leibesübungen war von Suetons Augustus vorexemplifiziert: In seiner Jugend machte Augustus eifrig Reit- und Fechtübungen auf dem Marsfeld, später spezialisierte er sich auf das Ballspiel, außerdem auf das Reiten und Spazierengehen (83). Augustus legte auf seine körperliche Ertüchtigung so großen Wert, dass er jedes Mal das letzte Stück eines Spaziergangs in kleinen Sprüngen zurücklegte. Das Vorbild des Horoskopgenossen autorisiert Cardanos Neigung zu Leibesübungen, denen er ein eigenes Kapitel widmet (Kap. 7): Von früher Jugend an habe ich mich allen Arten von gladiatorischen Übungen gewidmet, sodass ich es bei dieser wilden und übermütigen Klasse von Menschen wohl zu einigem Ansehen hätte bringen können. Ich machte Fechtübungen mit dem Schwert, […] mit dem Schild, mit dem oblongen, mit dem kleinen oder großen Rundschild. Auch lernte ich mit dem Stoßdegen und mit dem Schwert zugleich, mit der langen Lanze und mit Wurfspeeren, oder aber auch mit Schwert und schwerem Mantel ohne besondere Anstrengung auf ein hölzernes Pferd zu springen, und verstand es, unbewaffnet einem anderen den gezückten Dolch zu entreißen. Ich übte mich auch im Laufen und Springen und habe es darin zu genügender Fertigkeit gebracht. […] Beim Reiten, Schwimmen oder Abfeuern von Schusswaffen war mir nicht recht behaglich, fürchtete ich doch auch die Blitze wie den Zorn der Götter.35
Cardano fürchtete sich, wie dieses Textbeispiel nebenbei lehrt, vor Gewittern, insbesondere vor dem Blitz. Sogar in Bezug auf diese nebensächliche Eigenschaft wirkt die astrologisch bestimmte Kraft von Sue-
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Ebd., 58. Übersetzung nach Hefele, 20–21.
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tons Augustus: „Vor Donner und Blitz hatte er (Augustus) […] eine übertriebene Angst. Deshalb führte er immer als Schutzmittel das Fell einer Robbe bei sich und verbarg sich bei jedem auch nur geringen Anzeichen eines etwas stärkeren Gewitters sofort in einem tiefen festgemauerten Keller“ (90).36 Die Reihe der Übereinstimmungen setzt sich in den Bereich des Paranormalen selbst fort: Wie Cardano empfing Augustus Träume, die die Zukunft vorhersagten (91), sowie Wahrzeichen (92). Sueton berichtet unter anderem: „Wenn man ihm (Augustus) morgens die Schuhe verkehrt, den linken statt des rechten, anzog, sah er darin eine sehr böse Vorbedeutung. Wenn an einem Morgen des Tages, an dem er zu Land oder zu See eine weite Reise antreten wollte, starker Tau gefallen war, erkannte er darin ein glückliches Zeichen für eine schnelle und gesunde Heimkehr […]“ (92).37 Aufgrund des Traumes eines Freundes verließ Augustus bei Philippi sein Zelt, obwohl er krank war. Der Zukunftstraum erwies sich als rettend: Es gelang den Feinden an dem nämlichen Tag, an sein Zelt heranzukommen und seinen Tragstuhl mit Lanzen zu durchbohren (91). Damit sind Cardanos Zukunftsträume und Wahrzeichen sowohl von seiner literarischen Quelle als auch astrologisch vorsanktioniert. Suetons Text erweist sich als Mediator des Paranormalen, um das Cardanos Autobiographie kreist.
3. Autobiographie als Selbstvergewisserung im Feld der okkulten Kräfte: der Zusammenhang von De vita propria mit dem Dialog mit Fazio (1574) Am 4. April 1574 fühlte sich Cardano am Tiefpunkt seiner Existenz. Er hatte seine Professur in Bologna und damit die Hauptquelle seines gesellschaftlichen Ansehens verloren, weiter war ihm von der Inquisition ein Publikationsverbot auferlegt worden. Damit war ihm auch die Hauptquelle seines Ruhmes als Wissenschaftler abgeschnitten. Nach seiner Gefangennahme (1570) kämpfte Cardano verzweifelt um die Aufhebung des Publikationsverbots. Ein autographer Brief an Papst Gregor XIII., in 36
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Übers. nach Sueton, Cäsarenleben. Neu herausgegeben und erläutert, mit einer Einleitung von R. Till, 146. Ebd., 147.
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dem Cardano nachfragt, wie weit das offenbar zugesagte Examen seiner Werke gediehen sei, und verspricht, alles zu korrigieren, was man von ihm verlange, bestätigt seine Anstrengungen in diese Richtung.38 Bis zum 4. April 1574 fruchtete dies alles jedoch nichts, obwohl Cardano 1571 sogar nach Rom gezogen war, um sich der Kurie direkt zur Verfügung zu stellen. Auch war es ihm bis zum 4. April 1574 nicht gelungen, seine Aufnahme ins römische Ärztekolleg zu erwirken. Er konnte also seinen Beruf nicht frei ausüben. Cardano fühlte, dass sein Ende herannahte. Wie er in einer lateinischen Dialogschrift angibt, begenete ihm in seiner Verzweiflung die Seele seines Vaters Fazio: Hieronymus : Ach, in welch schlimme Lage bin ich geraten! Durch Ungerechtigkeit ist mir meine gute und ehrvolle Professur entrissen worden, und gleichzeitig habe ich die Möglichkeit verloren, meine Bücher herauszugeben. Was aber noch schlimmer ist: In meinem Alter, wo andere sich zur Ruhe setzen, bin ich gezwungen, in Rom mit diesen Ärzten zu leben; schon Galen konnte es mit besseren nicht aushalten. Ich habe keine Einkünfte, bin von meinen Kindern und Enkeln getrennt, meine Gesundheit ist schwach, und auf Treue von Dienern und Freunden ist kein Verlass. […] Facius : Wer jammert da so laut und dumm? Hieronymus : Oh weh, jetzt hetzen mich auch noch Dämonen! Facius : Ich bin kein Dämon, ich bin dein Freund, dein allerbester Freund. Einst war ich dein Vater. Jetzt habe ich schon längst die schmutzige Körperhülle abgelegt – du weißt es – ich, Facius Cardanus.39
Hieronymus–Cardano verbindet in diesem Dialog seine gegenwärtige üble Lage mit einem Todestraum, den er fast 40 Jahre vor der Abfassungszeit der Schrift hatte:40 Ihm träumte, dass seine Seele im Himmel des Mondes schwebe, losgelöst von der Hülle des Körpers. Es ist dort einsam und kalt, und seine Seele fühlt sich verlassen und elend. Diesen Traum, in welchem die Seele seines Vaters zu ihm sprach, gab er auch in seiner Autobiographie (Kap. 37) wieder: „Ich bin dir von Gott zum Schutzgeist bestimmt. Hier ist alles voller Seelen, jedoch siehst du sie, wie auch mich, nicht, und darfst nicht zu ihnen sprechen. Du musst in diesem Himmel 7000 Jahre bleiben und ebenso lang in jedem anderen Himmelskreise, bis zum achten, und dann wirst du zu Gott kommen“.41
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Reg. Lat. 2023, f. 66r. In dem Brief gibt Cardano zu verstehen, dass er 73 Jahre alt sei. Da er stets davon ausgeht, dass er im Jahre 1500 geboren ist, muss er den Brief in der Zeit zwischen dem 24. 9. 1573 und 23. 9. 1574 geschrieben haben. Dialog mit Fazio, Übersetzung von Fierz, Girolamo Cardano, 122–123. Ebd., 123. Übersetzung nach Hefele, 116.
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Am 4. April 1474 war es offensichtlich so weit. Cardanos Schutzgeist, die Seele seines Vaters, nimmt Kontakt mit ihm auf, um ihm zu verkünden, dass er nunmehr in den Kreis des Mondes ein-, und die Jenseitsreise antrete. Im Dialog mit Facius kann man lesen: Facius: „Heute ist der 4. April 1574, und diesen Tag sollst du als deinen ersten, gleichsam als neuen Geburtstag betrachten. Du verstehst nun, wie du, ausgehend vom Kreis des Mondes, durch alle Sphären bis zur höchsten aufsteigen wirst. Freue dich, dass sich dein Traum verwirklicht hat und dass die Zeit gekommen ist“.42 Das bedeutet, dass Cardano um den 4. April 1574 seinen Tod erwartete. Konkret hatte er sich sein Ende vorerst wie folgt vorgestellt: Er meinte, dass ihn die Inquisition erneut verhaften lassen würde, dass ihm erneut der Prozess gemacht und dass er hingerichtet werden würde. Diese Erwartung gründete Cardano auf zwei Vorzeichen. Das erste Vorzeichen trat am 9. Oktober 1570, im Gefängnis in Bologna, auf. Am dritten Tage nach seiner Verhaftung bat er seinen Schüler Rudolfo Silvestre, die Zellentür von innen zu schließen. Da ertönte am Gefängniseingang ein heftiger Lärm, kurz darauf am Fenster seiner Zelle, wobei auch das Gitter klirrte. Dieses Zeichen interpretierte Cardano wie folgt: Der erste Schlag am Gefängniseingang bedeutet seine erste, der zweite Schlag am Fenster seine zweite Verhaftung; das Klirren des Gitters seine Hinrichtung. Dieses Zeichen schien durch ein zweites bestätigt zu werden, das einige Zeit später in Bologna auftrat, und zwar am selben Wochentag, an dem er verhaftet worden war. Cardano begegnete zwei Marktweibern, von denen das eine mit Hunden, das andere mit Stricken gewaltig Lärm machte. Die Hunde deutete Cardano als seine zweite Verhaftung, die Stricke als seine herannahende Hinrichtung.43 Im Dialog mit Fazio versucht die Seele des Vaters, Gerolamo zu beruhigen. Die Marktweiber mit den Hunden und Stricken seien gar kein Vorzeichen, verkündigt die Seele, sondern Zufall. Das erste Vorzeichen jedoch habe Gerolamo nicht richtig verstanden: „Die Schläge am Eingang weisen auf einen Urteilsspruch in Bologna, die am Fenster auf einen in Rom. Das Klirren der Gitter zeigt, dass du aus Bologna, deinem neuen Vaterland, scheiden musstest, um eine ruhmreiche Pilgerschaft anzutreten. Aber es besteht keine Gefahr einer zweiten Verhaftung […]“.44 Für das Übrige bittet die Seele des Vaters den gequälten 42 43 44
Dialog mit Fazio, Übersetzung von Fierz, Girolamo Cardano, 124. Ebd., 125. Ebd., 129.
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Gerolamo, der Zukunft gegenüber eine andere Haltung an den Tag zu legen. Statt zu Angst und Verzweiflung rät sie ihm zu stoischer Seelenruhe und einer rationalen Selbstschau, bei der er die guten Seiten seines Lebens hervorkehren soll. Dies ließ sich allerdings, wie die meisten stoischen Ratgebungen, leichter vorschlagen als verwirklichen. Cardano befand sich also seit dem 6. 10. 1570, und besonders in den ersten Monaten des Jahres 1574, in einem Zustand panischer Angst. Das Schlimmste waren die beiden Zeichen. Wenn es nur gelänge, sie anders zu deuten! Der Dialog mit Fazio zeigt, dass Cardano in dieser Hinsicht verzweifelt Bemühungen anstellte. Er erzählte sie allen möglichen Leuten, in der Hoffnung, sie könnten sie schlüssig, und zwar auf andere Weise, deuten.45 Offensichtlich – jedenfalls bis zum 4. 4. 1574 – ohne Erfolg. Ende August bzw. Anfang September 1574 fing Cardano mit der Abfassung seiner Autobiographie De vita propria an. Zur Situation, die der Dialog mit Fazio beschrieb, ergibt sich ein bedeutender Unterschied. Der Cardano von De vita propria macht einen grundsätzlich positiv gestimmten, streckenweise sogar euphorischen Eindruck. Was war geschehen? Eines ist zunächst klar: Cardano ist von seiner Angst, seine Deutung der beiden Vorzeichen würde sich bewahrheiten, erlöst worden. Das lässt sich an der Weise ersehen, auf die er das erste Vorzeichen in De vita propria präsentiert, nämlich als „frohen Boten eines neuen Lebens“. Die Erscheinung verleiht ihm Sicherheit: „Und auf diese Weise verlängerte ich mein Leben, um das es so gut wie geschehen war“ (Kap. 43).46 Das zweite Vorzeichen mit den Stricken und Hunden vermeldet er in De vita propria nicht mehr. Es hatte sich erübrigt. Das lässt sich nur so erklären, dass im Laufe des Jahres 1574 eine Änderung in seinem Verhältnis zur Kurie eingetreten war. Er befürchtete offensichtlich nicht mehr, dass er abermals verfolgt, eingekerkert oder hingerichtet werden würde. Während er einen Urteilsspruch der Kurie in Rom am 4. 4. 1574 noch erwartete, war dieser bis Ende August/Anfang September 1574 bereits erfolgt. Wie der Brief an Papst Gregor XIII. suggeriert, muss es sich dabei um eine erneute Begutachtung von Cardanos revidierten Werken gehandelt haben. Das Publikationsverbot war (jedenfalls teilweise) aufgehoben worden. Im selben Jahr 1574 wurde ein Werk Cardanos in Rom gedruckt, die Commentaria in librum Hippocratis
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Ebd., 125. Übersetzung nach Hefele, 154.
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de alimento (bei Antonius Baldius’ Erben). In De vita propria ist keine Rede davon, dass Cardano zur Abfassungszeit unter Publikationsverbot steht. Er geht davon aus, dass De vita propria und andere Werke demnächst gedruckt werden würden (passim, besonders Kap. 45). In seinem Testament, das er in De vita propria aufnimmt, gibt er Anweisungen, auf welche Weise seine Werke gedruckt werden sollen (Kap. 36). Nicht lange nach Cardanos Tod gab sein Schüler Rudolfo Silvestre eine Schrift des Lehrmeisters heraus und widmete sie wohlgemerkt Papst Gregor XIII. (De sanitate tuenda, 1580). Es gibt noch einen weiteren Unterschied. Im Dialog mit Fazio ging Cardano noch davon aus, dass sein Tod – wenngleich nicht durch Hinrichtung – im April 1574 nahe bevorstand. Ende August/Anfang September 1574 stellte er fest, dass sich diese Erwartung nicht bewahrheitet hat. Zur Abfassungszeit der Autobiographie (1574 – Frühjahr 1576) erwartete er nicht mehr, dass sein Ende kurz bevorstehe. Das zeigt seine nunmehrige Wiedergabe des Mondtraumes in De vita propria (Kap. 37): Er verbindet ihn nicht mehr mit einer bald eintreffenden Zukunftserwartung. Der Traum zeige lediglich, dass Cardano „einst“, also in unbestimmter, entfernter Zukunft „beim Herren ruhen“ werde. Es ist Cardano klar, dass sich sein Leben unerwartet verlängert hat. Diese Entdeckung bringt ihn in eine euphorische Stimmung, die er mit einer Erleuchtung verbindet. Die Strahlungskraft, die er immer in sich fühlte, perfektioniert sich jetzt (Kap. 38). Cardano fühlt sich nunmehr Herr und Meister seines Lebens. Die okkulten Zeichen sind damit gewissermaßen gebannt, Cardano ist in eine neue Phase seiner Existenz eingetreten. In De vita propria will er seinen Erfolg in der Bemeisterung der okkulten Kräfte festschreiben, sich und andere davon vergewissern. Nicht nur die Aufhebung des Publikationsverbots und die Perfektionierung der Strahlungskraft beflügeln Cardano: Da sich nunmehr herausgestellt hat, dass der zweite Schlag des Zeichens in Bologna sich auf einen zweiten (günstig ausgefallenen) Urteilsspruch in Rom bezieht, kann er keine zweite Gefangennahme Cardanos bedeuten. Deswegen kann sich auch das Klirren der Fenster nicht auf eine kurz bevorstehende Hinrichtung beziehen. Auf diese Weise erleichtert konnte Cardanos Federkiel freier übers Papier fliegen: Der Autor brauchte nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, weil die von okkulten Kräften signalisierte Gefährdung durch die Inquisition beseitigt worden war. Cardanos ‚Leichtigkeit des Seins‘ lässt sich auf rationale Weise kaum nachvollziehen. De vita propria gehorcht einem idiosynkrati-
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schen Diskurs, dessen Spielregeln stets vom Okkulten bestimmt werden. Es geht um eine Formation der konkreten Wirklichkeit, die von okkulten Kräften gestaltet wird. Cardano hat durch seine paranormale Begabung vielfach Zeichen empfangen und Einblicke in die Zukunft bekommen, jedoch sind die Zeichen, egal ob es sich um Träume, Visionen, Tagträume oder Beobachtungen im Zustand des vollen Bewusstseins handelt, stets mit Unsicherheit verbunden: Wie soll man sie deuten? Ist eine bestimmte Deutung richtig? Wenn der Mensch sein Leben einigermaßen in den Griff bekommen will, muss er zuerst die okkulten Zeichen ordnen und verstehen, sonst ruht das Gebäude seines Lebens bzw. seiner Autobiographie auf tönernen Füßen. Mehrfach wurde Cardanos Autobiographie aus dem nüchternen Forschungstrieb des Arztes oder Naturforschers gedeutet, der nach objektiver Beobachtung strebt. Zum Beispiel bemerkte August Buck, der Cardanos Autobiographie als Produkt wissenschaftlichen Fortschritts wertete: „Der primäre Antrieb jedoch war die Neugier des Arztes und Naturforschers, die eigene Person als Phänomen aus dem Bereich der Natur zu beobachten und zu analysieren; vorurteilsfrei, wie es einem Wissenschaftler obliegt“.47 Anne van Galen hat De vita propria als Selbstdiagnose des Mediziners gedeutet: „In the first place, Cardano looks at his body and health just as a doctor examines his patient“,48 wobei sie sich Nancy Siraisi anschloss.49
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A. Buck, „Krisenbewußtsein und Fortschrittsgläubigkeit in Cardanos De vita propria“, in: E. Kessler (Hrsg.), Girolamo Cardano: Philosoph, Naturforscher, Arzt. Vorträge gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 8. bis 12. Oktober 1989 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 15), Wiesbaden 1994 (1–10), 2. Vgl. Ders., „Cardanus’ Wissenschaftsverständnis in seiner Autobiographie ‚De Vita propria‘“, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 60 (1976), 1–12; M. Cantor, „Hieronymus Cardanus, ein wissenschaftliches Lebensbild aus dem XVI. Jahrhundert“, in: Atti del Congresso internazionale di Scienze storiche, Roma 1–9 Aprile 1903. Volume XII. Atti della Sezione VIII: Storia delle scienze fisiche, matematiche, naturali e mediche, R. Accademia dei Lincei, Roma 1904, 31–43; W. F. Kümmel, „Aspekte ärztlichen Selbstverständnisses im Spiegel von Autobiographien des 16. Jahrhunderts“, in: Buck (Hrsg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance, 103–120. „Body and Self-Image in the Autobiography of Gerolamo Cardano“, 136. N. G. Siraisi, The Clock and the Mirror: Girolamo Cardano and Renaissance Medicine, Princeton, N. J., 1997.
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Während klar sein dürfte, dass Cardano in seiner Autobiographie medizinische Beschreibungsmodelle anwendete50, glaube ich nicht, dass die medizinische Selbstdiagnose den stärksten Teil seiner autobiographischen Motivation darstellt. Cardanos Autobiographie lässt sich nicht als Fortschrittsprodukt im Sinne moderner Naturwissenschaft und Medizin beziffern. Seine Art der Naturwissenschaft (und Medizin) ist völlig vom Okkulten durchzogen und überlagert.51 Cardanos primärer autobiographischer Antrieb ist auch nicht die moderne Empirik, sondern – wie bereits Anthony Grafton richtig erkannt hat – die richtige Deutung der okkulten Erfahrungen und astrologischen Phänomene52, und damit – über das festgeschriebene Wort – die Kontrolle über sie. Die Nüchternheit, mit der Cardano seine Beobachtungen präsentiert, bildet nur die äußere Hülle, in die er seine paranormalen Erfahrungen verpackt. Moderne esoterische Literatur geht oft auf ähnliche Weise vor. Die klare, wissenschaftliche Präsentation soll der Beglaubigung dienen. Damit soll nicht gesagt sein, dass Cardano ein Scharlatan oder Betrüger war.53 Es geht vielmehr um die Diskursregeln seiner Autobiographie, welche von der Festschreibung und Kontrolle des Okkulten bestimmt wurden. Die Kontrolle über das Okkulte war, wie die oben geschilderten Ängste zeigen, für Cardano lebenswichtig. Nicht allein, weil die okkulten Kräfte sich nur in verschleierter Form offenbaren, war es schwer, ihrer Herr zu werden. Ständig lag die Gefahr auf der Lauer, dass etwas Unvorhergesehenes, Schreckliches eintrat. Wie Cardano in De vita propria immer wieder betont, hat er in seinem Leben schon oft diese Erfahrung gemacht. In kürzester Zeit konnte sich alles ändern, stürzte er vom Gipfel des Glücks ins tiefste Unglück ab:
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Grafton verweist diesbezüglich auch zu Recht auf das Vorbild des Galenus: Cardano’s Cosmos, 182–183. Vgl. hierzu Grafton, Cardano’s Cosmos, passim und D. Bobory, „Being a Chosen One: Self-Consciousness and Self-Fashioning in the Works of Gerolamo Cardano“, in: Annual of Medieval Studies at CEU 9 (2003), 69–92. Ich schliesse mich diesbezüglich Anthony Grafton, Cardano’s Cosmos, 181, an: „Once and again, however, the art of astrology played a central role. Its methods provided the frame that organized Cardano’s account as a whole; its traditions helped to determine the topics he discussed and the details he included“; 185: „Astrology, however, did more than any other single discipline to fix the shape and style of Cardano’s most elaborate self-portrait“. Zu diesem Schluss gelangt auch Bobory, ebd., 91–92.
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[…] wie ein Schiff im Sturme verschwand ich bald in der tiefsten Wellenschlucht, bald schwebte ich auf dem höchsten Kamm der Woge, und zwar mein ganzes Leben hindurch. O wie oft habe ich bei mir selbst über dies jämmerliche Schicksal geweint, nicht bloß, weil stets alles schlecht ging und oft gar keine Hoffnung mehr auf Rettung sich zeigte, sondern weil ich nie, so sehr ich auch in reiflicher Überlegung meine Verhältnisse zu ordnen suchte, den gesuchten Ausweg fand. Ohne dass ich daran dachte und ohne dass ich das Geringste dazu tat, sah ich oft innerhalb zweier oder dreier Monate meine ganze Lage völlig verändert, sodass ich glauben musste, es gäbe stärkere Kräfte als den Willen und nur durch fremde Gewalt komme die Tat zustande. […] quales triremes in tempestate esse solent, modo ex imo ad suprema, modo ex supremis in vertices, idque tota vita. O quoties conditionem meam adeo miserabilem mecum deflevi? Non solum quod omnia pessum issent et omnis spes salutis sublata foret, sed quod neque res meas cogitatione disponenti, ut vellem, invenirem modum evadendi: cum nullo meo studio aut labore, intra duos aut tres menses, vidi omnia commutata; ut maiores effectus quam voluntatem et actum potestate fore crediderim (Kap. 38).54
Der Mensch muss sich gegen die okkulten Kräfte wappnen. Dies setzt voraus, dass man imstande ist, sie zu erkennen, zu analysieren und mittels des geschriebenen Wortes zu bannen. Dem geschriebenen Wort wohnt in dieser Hinsicht eine magische Wirkung inne. Die Buchstaben, die auf dem Papier stehen, sind fest, unverrückbar, und tragen zur Formation der Wirklichkeit bei. Ein Beispiel für den Akt des magischen Festschreibens: In Kap. 38 gibt Cardano einen Überblick über seine übernatürlichen Fähigkeiten – seinen sechsten Sinn für Gerede; seine Befähigung zum prophetischen Traum; seinen charismatischen Strahlenglanz; seine innere Stimme; seine Fähigkeit, in verzweifelten Lagen zu überleben. Dabei zeichnet er die chronologische Ausdehnung dieser Fähigkeiten möglichst genau auf: Die erste Fähigkeit besaß er von 1526–1568, die zweite von ca. 1534 – 1567 und die vierte von 1570–1573. Die Fähigkeit, die für ihn am wertvollsten ist, ist sein innerer Glanz: „Diese Eigenschaft lässt mich – im Gegensatz zu den anderen beiden obengenannten Phänomenen, die wieder von mir gewichen sind – nicht im Stich“. Wie kann Cardano das wissen? Vielleicht wird ihn der Glanz ebenso wie die übrigen übernatürlichen Fähigkeiten in Zukunft verlassen. Cardano ist hier kein neutraler Beobachter, sondern er schreibt das Erwünschte fest: Es ist so, weil es so sein soll: Die Fähigkeit soll mir für immer gehören, sie wird mir gehören. Worte als beschwörender, magischer Akt.
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De vita propria, Amsterdam 1654, 129; Übers. nach Hefele, 122.
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Paranormale Autobiographik: Cardanos De vita propria
4. Marc Aurels Ad se ipsum oder Autobiographie als Meditationshilfe zur Lebensbemeisterung Das Walten der Götter läßt überall die Vorsehung erkennen; das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne Verkettung und Verflechtung mit dem Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und die Wohlfahrt des ganzen Kosmos, von dem du ein Teil bist. Jedem Teile der Natur aber ist gut, was die Allnatur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Wandlungen der Elemente wie auch die der zusammengesetzten Körper […] (Meditationen II, 3).55 Zu jeder Stunde sei tapfer und darauf bedacht – als Römer und als Mann, das, was dir gerade obliegt, mit ernster und ungekünstelter Würde und Liebe zu deinen Mitmenschen, in hoher Gesinnung und Gerechtigkeit, zu tun und dir selber Frieden vor allen anderen Vorstellungen zu verschaffen. Das wird dir gelingen, wenn du alles, was du tust, mit dem Gedanken tust, dass es die letzte Handlung deines Lebens sein könnte: frei von jeder Ziellosigkeit und leidenschaftlichen Abkehr von dem Urteil der Vernunft und frei von Heuchelei und Selbstsucht und Murren über das dir vom Schicksal Verhängte. Du siehst, wie wenig es ist, was man zu meistern braucht, um ein glückliches und gottesfürchtiges Leben führen zu können. Denn auch die Götter fordern weiter nichts von dem, der diese Sätze befolgt (II, 5).56 Wenn du der rechten Vernunft folgst und die Forderung des Tages erfüllst, voll Ernst und Kraft, in guter Gesinnung, und nichts als nebensächlich behandelst, sondern deinen eigenen Dämon rein und lauter bewahrst, als wenn du ihn bereits zurückgeben müßtest – wenn du an diesem Grundsatz festhältst, ohne etwas zu erwarten oder zu fürchten, sondern dir genügen läßt an der gegenwärtigen naturgemäßen Betätigung und der heroischen Wahrhaftigkeit, in dem, was du sagst und äußerst, dann wirst du glücklich leben. Und niemand gibt es, der das verhindern könnte (III, 12).57
Mit diesen Sprüchen spornt sich der Römische Kaiser Marc Aurel an, um den Anforderungen, die das Leben – zuvorderst das schwere Amt des Kaisers – an ihn stellt, zu genügen. Es ist notwendig, diese Sprüche festzuschreiben: Es handelt sich nicht um deskriptiv-tagebuchartig hingeworfene Gedanken, die aus irgendeiner spezifischen Situation entstanden sind, sondern um Überzeugungen und Grundsätze, die sich der Kaiser in stoischer Gedankenübung erarbeitet hat. Diese Grundsätze wollen täglich wiederholt sein, sollen das Denken täglich lenken, in wohl55
56 57
Die Übersetzung aus Ad se ipsum stammt aus: Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, übers. mit einer Einleitung von W. Capelle, Stuttgart 1973, 13. Ebd., 14. Ebd., 29.
Autobiographie als Meditationshilfe: Marc Aurels Ad se ipsum
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temperierter, kontrollierter Meditation. Es ist etwas irreführend, dass Marc Aurels Meditationsbuch immer wieder als Autobiographie, als „Selbstbetrachtungen“ oder Ähnliches präsentiert wird:58 In dem Werk beschrieb Marcus nicht die äußeren Ereignisse oder die (inneren) Erlebnisse seines individuellen Lebens, sondern stellte Vorschriften auf, nach denen er sein Leben einrichten, oder genauer: nach denen jedermann sein Leben gestalten sollte. Von diesen Sprüchen geht eine starke Kraft aus: Ihr vornehmstes Merkmal ist, dass sie wirken. Anders als zuweilen angenommen wurde – unter anderen von August Buck –, ist der Diskurs von Marc Aurels Meditationsbuch für Cardanos Autobiographie von großer Bedeutung:59 Es ist neben dem Suetonischen und dem astrologischen Diskurs der dritte mächtige Strom, der durch die gesamte Schrift fließt. Cardanos De vita propria ist ein Werk der moralischen Lebensbemeisterung, nicht nur der astrologischen und okkulten. Cardano stellt für sich einen Leitfaden auf, wie er sein Leben unter Kontrolle bringen könne. Auf keinem Gebiete glaube ich Wertvolleres geleistet zu haben als in der Erwerbung guter Grundsätze, aufgrund der Länge meines Lebens und der Vielzahl der Gegenschläge, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. Meine erste Lebensregel, die die Kindergebete ablöste, sobald ich den Gebrauch über die Vernunft erlangte, war die feste Gewohnheit, Gott für alles zu danken: zunächst für die guten Dinge, die mir zuteil wurden. Denn Undankbarkeit über geleistete Wohltaten hielt ich immer für Schmach und Schande, sogar […] dem Vieh gegenüber. Missgeschicke leichterer Art fasste ich als eine Mahnung des Himmels auf, vorsichtig zu sein. Und wie oft habe ich dank dieser Ermahnung schwerere Unglücksfälle verhindern können! Jedoch auch für jedes nur einigermaßen erträgliche Unglück fühle ich mich dem Himmel gegenüber zu Dank verpflichtet, einmal, weil ich der Meinung bin, dass nichts schwer und drückend ist, was die Zeit wieder vergessen machen kann, und dann, weil ich überzeugt bin, dass jedes Unglück aus den Händen Gottes kommt. Und mag mir selber auch manches schlimm und widrig erscheinen, so zweifle ich doch nicht, dass es in der Ordnung des Alls gut und trefflich ist.60
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Z. B. lautet der Titel der deut. Übersetzung von Capelle Selbstbetrachtungen. Das Werk wird vielfach als Autobiographie bewertet, unter anderen von Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum (3. stark verm. Aufl., 1949 u. 1950). Buck, „Girolamo Cardano’s ‚De propria vita‘“; die Ansicht, dass Cardano Marc Aurels Meditationes als Vorbild ablehnte, auch bei Bobory, „Being a Chosen One“, 74. Jedoch hat Grafton, Cardano’s Cosmos, 195, die Bedeutung Marc Aurels für Cardanos Autobiographie richtig erkannt. Übers. nach Hefele, 60.
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Paranormale Autobiographik: Cardanos De vita propria
In diesem Sinn stellt Cardano im 23. Kapitel seiner Autobiographie eine Übersicht seiner 10 wichtigsten Lebensregeln zusammen, sozusagen seiner 10 Gebote. Er schließt hier besonders eng an Marc Aurels Meditationsbuch an, nicht nur der Form nach, sondern auch in Bezug auf den Inhalt. Sein erster Grundsatz wiederholt variierend den ersten oben zitierten des Marc Aurel: Da alle Ereignisse, die einem Menschen widerfahren können, mit der Allnatur verbunden sind, sind sie im Prinzip gut und gottgegeben. Der Mensch soll Gott für das, was ihm zuteil wird, danken. Diese Meditationsübung ist äußerst wertvoll, weil sie dem Menschen ermöglicht, alles, das über ihn hereinbricht, zu verarbeiten. Es bleibt nicht bei diesem einen Kapitel. In der ganzen Autobiographie setzt sich Cardano mit den Schicksalsschlägen und negativen Erfahrungen, die er machte, auseinander: mit der schlechten astrologischen Konstellation, unter der er geboren worden ist, mit unangenehmen Ereignissen seiner Kindheit, mit seinen Krankheiten, mit seinen charakterlichen Schwächen, mit seinen Feinden, mit Verleumdungen, falschen Anklagen, heimtückischen Anschlägen auf sein Leben, mit der zerrütteten Ehe seines ältesten Sohnes, mit dessen unwürdigem und tragischem Tod, mit dem üblen Charakter seines zweiten Sohnes, mit seiner Armut, mit seiner Inhaftierung, mit dem Verlust seiner Professur, mit seinen Unfällen, Nachstellungen, Entehrungen usw. Entscheidend ist dabei die Meditationsübung des Gottesvertrauens: Alles ist gut, weil es von Gott kommt. Alles hat seinen Sinn und Grund. Gerade dann, wenn die Lage aussichtslos erscheint, steht die Rettung nahe bevor. Interessanterweise verbindet Cardano diese Meditationsübung mit einer übernatürlichen Fähigkeit (seine fünfte): „Die fünfte Eigentümlichkeit ist mir zum häuslich vertrauten Besitz geworden, denn sie währt solang als mein ganzes Leben: Immer dann, wenn meine Sache am verzweifeltsten stand, konnte ich mich aufraffen, immer dann, wenn ich in frohem Glück schwamm, bin ich ins tiefste Unglück gestürzt. Mir ging es wie dem Schiff im Sturme“ (Kap. 38).61 Die übernatürliche Fähigkeit ist, dass Cardano den ständigen Wechsel von Glück und Unglück gleichsam unwiderstehlich anzieht: ein paranormales Agens, das ihn zum Schiff im Sturm macht. Diese Fähigkeit erfordert in verstärktem Masse die meditative stoische Daseinsbemeisterung. Dies gilt überhaupt sowohl für die okkulten Kräfte als auch für Cardanos paranormale Fähigkeiten der Wahrnehmung: Sie beschweren viel-
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Übers. nach Hefele, 121–122.
Autobiographie als Meditationshilfe: Marc Aurels Ad se ipsum
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fach seine Psyche, indem sie sie in eine neurotische, panische Unruhe versetzen, und verstärken dadurch das Bedürfnis nach stoischer meditativer Kontrolle. Dieser Zusammenhang tritt bereits im Dialog mit Fazio hervor. Dort wird Cardano von Vorzeichen und astrologischen Zukunftserwartungen gequält, die seinen nahen Tod verheißen. Cardano rät sich dort selbst (im Namen des Vaters) zu einer stoischen Meditation: „Sage dir, du habest schon dreieinhalb Jahre länger gelebt als man normalerweise erwarten kann. Das Vergangene ist in Sicherheit, und was die Zukunft bringt, kann gar nicht zum Verzweifeln sein. Dir bleiben drei Nachkommen, viele und mächtige Freunde, ein großer Name, das Wissen um viele Dinge. […] Du weißt viele Geheimnisse. […] Was die Dummen für ein Unglück halten, dein Alter von 74 Jahren, rechne als größten Gewinn. Denn was du Schlimmes erlitten hast, das liegt hinter dir. Das Gute hast du schon besessen und kann als gesichert gelten: Es bleiben erfreuliche Erinnerungen. […] Über den Ruhm, den die Bücher bringen, sagen wir mit Zeno: ‚Gerade als ich mit günstigem Winde segelte, habe ich Schiffbruch erlitten. Alle hätten zugrunde gehen müssen, wäre nicht ein Teil fromm gewesen‘“.62
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Übersetzung von Fierz, Girolamo Cardano, 127–128.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
XXIII. Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: François du Jons (Junius’) Vita (1575–1578; 1595) 1. Präzise Lesersteuerung eines autobiographischen Paktes: die diskursive Textverortung des Herausgebers Merula Der Erstdruck der Autobiographie des aus Bourges stammenden Hugenotten und Leidener Theologieprofessors Franciscus Junius,1 welche sein Kollege, der Geschichtsprofessor Paullus Merula, in einem ansprechenden Quartband besorgte, weist im Gegensatz zu den meisten bisher diskutierten Selbstbiographien eine Titelseite auf. Diese ist so eingerichtet, dass sie offensichtlich die bereits genannten und andere Tatsachen mit großer Präzision dokumentieren soll. Die Titelseite bestätigt nicht nur, dass eine Autobiographie vorliegt („ab ipso […] conscripta“), sondern weiter, wer ihr Herausgeber sei, welche Titel der Autor und der Herausgeber innehaben (Professor für Theologie2; „erster Professor der Leidener Universität“; Rechtsgelehrter [I. C.]; Historiker3), welche Fächer sie vertreten (Theologie; Geschichte), an welchem Ort sich der Autor und der Herausgeber zum Zeitpunkt des Druckes aufhalten (Leiden), welche historischen Ereignisse in dem Werk behandelt werden (der Niederländische Aufstand), weiter, an welchem Ort (Leiden), in welchem Verlagshaus (Raphelengius, Plantins Erbe) und in welchem Jahr (1595) das Werk gedruckt, sowie zusätzlich, wann es abgefasst wurde („vor kurzem“, „nuper“):
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Zu der Autobiographie des Junius vgl. die niederländische Vorstudie des Verf., „Hartstochtelijk op zoek naar God: de autobiografie van de Leidse Hoogleraar Franciscus Junius“, in: J. Hendriksen (Hrsg.), Hartstocht. Dieslezingen 1996, Leiden 1996, 16–26. Junius war 1592 zum Professor der Theologie ernannt worden. Merula war am 8. 2. 1592 zum professor extraordinarius in der Artistenfakultät ernannt, und am 19. 11. 1593 zum professor ordinarius in derselben Fakultät inauguriert worden. Vgl. S. P. Haak, Paullus Merula (1558–1607 ), Zutphen 1901, 48–49.
Lesersteuerung des Herausgebers Merula
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VITA Nobilis et eruditi viri FRANCISCI IUNII S[acrae] Theologiae Doctoris in Academia Lugdunensi Professoris dignissimi Ab ipso nuper conscripta In lucem vero edita AB Paullo G. F. P. N. MERULA I[URIS] C[ONSULTO], Historiarum ibidem enarratore. Praeter alia, commemorantur hic infinita notatu digna, quae Belgicorum tumultuum inciderunt in annos [MD]LXVI et sequentes. Lugduni Batavorum, apud Franciscum Raphelengium, 1595. Diese Titelseite legt alles fest, lässt mit ihrer perfekten Dokumentation keine Unsicherheiten aufkommen. Sie unterbreitet dem Leser eine Professorenautobiographie, womit ein neuer ‚Hoogleraar‘, eine international angesehene Koryphäe, welche vor kurzem in Leiden eingetroffen war, an der neuen Universität vorgestellt werden soll. Der Text ist von eminenter politischer und historischer Bedeutung, weil er den Ausbruch des Niederländischen Aufstandes beschreibt, und wird insofern nicht nur als autobiographisches, sondern zudem als historisches Werk präsentiert. Die Lesart als historiogaphischer Text hängt mit dem Publikationsort eng zusammen, da Leiden mit seiner aus dem Aufstand hervorgegangenen Universität als intellektuelles Zentrum der Revolte vorprogrammiert war. Die Strasse der Wirklichkeitsreferenz ist hier so fest betoniert und eingeebnet, dass der Hermeneutiker sozusagen auf einer Interpretationsautobahn unbehindert seinem Ziel entgegenrasen kann. Während bereits die Titelseite die Aufgabe der Lesersteuerung mit auffälliger Präzision erfüllt, setzte der Herausgeber noch ein Widmungsvorwort hinzu, in welchem er die bisherigen Angaben bestätigt, die Authentizität des Textes beglaubigt und die intendierten Verwendungszwecke des Werkes im Einzelnen benennt. Die Lesersteuerung wird hier so genau adjustiert, dass dem Leser ge-
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
wissermaßen keine andere Wahl bleibt, als den Text auf den vorgezeichneten Bahnen zu rezipieren. Die Autobiographie soll zunächst die Funktion eines Geschichtswerkes erfüllen, das den Leser über für das „Vaterland“ („patria“) wichtige Ereignisse aufklärt. Als Vaterland werden hier die niederländischen Provinzen verstanden, die sich in der Union von Utrecht vereinigt hatten und vom spanischen Souverän abgefallen waren. Der autobiographische Text soll über die Anfangstage des Aufstands (1566 ff.) informieren und behandelt in dieser Hinsicht in der Tat für „das Vaterland“ Grundlegendes. Junius’ Autobiographie stellt insofern einen besonders wertvollen Text dar, als sie einen Augenzeugenbericht liefert: Der Autor war bei den Ereignissen selbst zugegen, er hat selbst gesehen und gehört, was jeweils ablief. Was hier zu lesen ist, ist authentisch und wahr. Merula spricht der Autobiographie damit einen höheren Quellenwert zu als anderen historischen Dokumenten. Merula lokalisiert das Werk in einem Authentizitäts- und Augenzeugendiskurs, indem er es in den Kontext einer Augenzeugenbefragung setzt. Merula, der Historiker („historiarum enarrator“), berichtet in seinem Vorwort, dass er mit einem bedeutenden historischen Projekt, der Geschichte des Niederländischen Aufstandes,4 beschäftigt ist, in dessen Rahmen er systematisch Augenzeugen interviewte. In der Tat erstellte Merula zwischen 1592 und 1600 mit großer Akribie ein riesiges Archiv, das bereits im Jahre 1595, dem Publikationsjahr der Junius-Autobiographie, mehr als 7000 Dokumente (sic! ) zählte.5 Quellensammlung und Studium der „fontes“ war Merulas Triebfeder. Wenn Merula im Widmungsvorwort von der „ungeheuren Masse der Aufzeichnungen“ redet, die er gesammelt hat, so ist dies nichts als die Wahrheit. Im Zuge dieser Dokumentsammlung hat Merula auch Junius befragt, von dem er besonders autoritative Informationen erwartete: In horum numero (unter den autoritativen Augenzeugen der Anfangstage des Aufstandes; Anm.) facile princeps fuit V[ir] N[obilis] FRANCISCUS IUNIUS. Adstiterat enim hic – ut multi adfirmabant – ipsis turbarum fontibus, et accuratissime notarat, quantis tempestatibus, in quam magno et procelloso pelago iactata fuerit navis, qua tranquille iam et parum abest extra discrimen omne, vehimur […]. Adeo, compellor, precor, quantum memoria suppeditabat, nonnihil illorum exponeret. Quod quaerebam, haud difficulter ab humanissimo viro et docendis aliis vere nato, sum adsequutus. 4
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Zu dem Projekt, das auf tragische Weise mit dem Verlust der Manuskripte endete, vgl. Haak, Merula, 60–87. Haak, Merula, 62.
Lesersteuerung des Herausgebers Merula
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Unter den autoritativen Augenzeugen kam dem Edelmann FRANCISCUS JUNIUS ganz leicht die erste Stelle zu. Denn er war – wie viele wiederholt bestätigten – bei den Anfängen des Niederländischen Aufstandes selbst zugegen gewesen, und er hatte genau registriert, in welchen Stürmen, und auf welch einer riesigen und aufgewühlten See das Staatsschiff hin und her geworfen wurde, auf welchem wir jetzt ruhig und nahezu unbehelligt dahinfahren […]. Deshalb trat ich an ihn ( Junius; Anm.) heran, und ersuchte ihn dringlich, dass er mir diese Ereignisse, inwieweit er sie im Gedächtnis bewahrt hat, möglichst umfänglich darlege. Der sehr aufgeschlossene Mann, der zudem ein geborener Pädagoge ist, hat mir die Bitte umgehend erfüllt.
Im Diskurs seiner historischen Quellendokumentation durch Augenzeugenbefragung gelangte Merula bereits 1595 offensichtlich zu einer Hochschätzung der Autobiographie als historischer Quelle, welche sich in nächster Nähe zu Diltheys hermeneutischer Autobiographieinterpretation befindet. Er spricht der Autobiographie eine Authentizität zu, die durch nichts übertroffen werden kann. Geht man, von dem Historiker Merula gesteuert, an Junius’ Autobiographie, besonders an den Bericht des Niederländischen Aufstandes,6 heran, so stellt man überraschenderweise fest, dass dem Text diese historische Fokussierung abgeht. Junius präsentiert seine Autobiographie als religiöse Schrift mit einer ausgeprägten Verinnerlichungstendenz, die von den wunderbaren Wirkungen Gottes des Herren in seinem auserwählten Sohn Junius erzählt; als Lobgesang auf Gott, der als Psalm daherkommt und nicht zufällig mit einem Psalmenzitat eröffnet: „Domine, aperi labia mea, ut os meum enuntiet laudem tuam“ („Herr, öffne mir die Lippen, auf dass mein Mund dein Lob kündet“).7 Die Einleitung des Berichtes über den Niederländischen Aufstand zeigt dieselben Züge: Es ist Junius nicht darum zu tun, die historischen Ereignisse in memoirenhafter Breite zu schildern, sodass der Leser ein möglichst klares und genaues Bild von den Ursprüngen des Aufstandes erhält. Vielmehr beschränkt er sich auf die Wirkungen Gottes in seiner Person.8 Es ergeben sich also merkwürdige diskursive Diskrepanzen. Junius versteht sich zwar als Zeuge, aber nicht als historischer Augenzeuge im Sinne Merulas. Er berichtet zwar von historischen Ereignissen, aber niemals um ihrer selbst willen, sondern stets in religiösem Sinn.
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8
Junius, Vita, 39 ff. Junius, Vita, 1; Psalm G 50,17: „Domine, labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam“. Junius, Vita, 39.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
Neben dem Hauptzweck des authentischen Geschichtsberichts steuert der Herausgeber Merula die Rezeption des Lesers durch weitere Leseangebote. Die Autobiographie erfülle die Aufgabe eines Pastorenspiegels. „Wie in einem Spiegel“ („tamquam in speculo“) klärt das Werk den Leser über die Aufgaben, Pflichten, sowie die moralischen und praktischen Probleme des (reformierten) Pastorenberufs auf. Der Text erhält damit einen pädagogischen, leitfadenartigen Verwendungszweck, welcher durch die Verstehensfigur des Exempels bestimmt wird. Junius’ autobiographisch dargestelltes Leben wird als Lehrmittel und Demonstrationsmaterial aufgefasst, welches Kirchenmänner, z. B. Theologiestudenten, ausbildet, und welches aufgrund der äußerst schwierigen Umstände, unter denen Junius sein kirchliches Amt ausübte, für diese Aufgabe besonders geeignet ist: Videbunt animarum Pastores, quantis difficultatibus educentur Ecclesiae Ministri; videbunt, quanta discrimina, quantae miseriae, quantae calumniae comitentur cum omnem tum Ecclesiasticam gubernationem; videbunt hic tamquam in speculo praecipuam Ministrorum virtutem, Fidelitatem; huius quasi tres gemmas, veram Dei Agnitionem, quae virtutum omnium fons et norma, Constantiam et Diligentiam in munere exsequendo, haec omnia iuvari ab summo Divinae gloriae zelo et ardentissimo isti promovendae Desiderio. Die Pfarrer werden ersehen, in welch schwierigen Lagen die Diener der Kirche ausgebildet werden. Es wird ihnen klar werden, wie große Gefahren, welches Elend, wie viele Ränke jedes Amt, und ganz besonders das Kirchenamt mit sich bringt. Sie können in diesem Text wie in einem Spiegel die vornehmste Tugend der Kirchendiener, den Glauben, betrachten. Sie werden ersehen, dass sozusagen seine drei Knospen, die wahre Erkenntnis Gottes, welche die Quelle und Richtschnur aller Tugenden ist, sowie die Beständigkeit und der Eifer in der Ausübung des Amtes, von dem Streben, Gottes Ruhm zu erhöhen und von dem feurigen Verlangen, sich dafür einzusetzen, gespeist werden.
Dieses explizite Rezeptionsangebot, das der Herausgeber hier dem Leser macht, erzeugt bei einer Lektüre des Textes keinen offen hervorbrechenden Konflikt. Das rührt zum einen daher, dass exemplarische Textlektüre in der Frühen Neuzeit eine weit verbreitete Lesart darstellt, zum anderen daher, dass Junius einen prinzipiell religiösen Text vorlegt, der als Lob Gottes fungieren soll. Allerdings fällt auf, dass das Leseangebot des Pastorenspiegels im technischen Sinn nicht mit der Intention des Autors korrespondiert. Junius richtete sich, wie er im einleitenden Absatz mitteilt, an das viel breitere Publikum aller Rechtgläubigen („omnes pii“).9
9
Junius, Vita, 1.
Lesersteuerung des Herausgebers Merula
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Sodann erfüllt Junius’ Autobiographie nach Merula die Funktion eines Erziehungsspiegels, der für Eltern und Lehrer in gleicher Weise nützlich ist. Der religiösen Erziehung teilt Merula dabei die Hauptrolle zu („Intelligent parentes, quid sui officii in educandis liberis: eos veram Religionem esse docendos et ad divinum cultum ante omnia instruendos, ut et Religioni honorem habeant et de Deo verba facere a primis annis discant“). Auf eine gute religiöse Grundlage aufbauend sollen die Erzieher den Kindern moralisch einwandfreies Betragen vermitteln. Die Autobiographie zeige an, wie wichtig die Sorgfalt der Eltern in Erziehungssachen ist: Sie soll „sorgfältig“ („diligenter“) die Begabung des Kindes eruieren, um die richtige Ausbildung, den der Begabung angemessenen Lebensweg und die richtigen Lehrer zu wählen. Sie sollen das Kind nicht zwingen, etwas zu erlernen, wofür es nicht geeignet ist. Den Lehrern vermittelt die Autobiographie einen Spiegel ihrer Pflichten, praktischen Aufgaben sowie einer für den Beruf erforderlichen, wahrhaft pädagogischen Einstellung. Dabei ist ganz wichtig, dass sie von körperlichen Züchtigungen als Erziehungsmittel absehen und stattdessen pädagogisch sinnvollere, sanfte Methoden anwenden.10 Wie verträgt sich diese Lesersteuerung mit dem Textdiskurs? Inwiefern lässt sich Junius’ Autobiographie als Erziehungstraktat auffassen? Der Autobiograph vermittelt dem Leser in der Tat ein Bild seines Bildungsweges; jedoch ergibt sich bei der Lektüre überraschenderweise, dass er sich selbst dabei keineswegs als Musterprodukt einer nachahmenswerten Pädagogik darstellt: Aber auf der anderen Seite schreckte mich die unglaubliche Härte und maßlose Rohheit einiger Lehrer ab, deren Namen ich lieber nicht nennen will. Viele Male an ein und demselben Tag wurde mein Wille gebrochen und meine Liebe zur Wissenschaft zerstört, wenn man mich, ohne dass ich es verdiente, sieben oder acht Mal an einem einzigen Tag mit dem Riemen oder mit Stöcken schlug und ich mich wie ein Orientale entblößt auf den Erdboden legen musste. Wie oft musste ich mich zu einer Untat bekennen, die mir nie in den Sinn gekommen war, und wurde dann für meine Lüge bestraft, wobei dieser Orbilius dann mit Recht sagte, ich werde nicht deswegen geschlagen, weil ich Unrecht getan, sondern weil ich gelogen hätte? […] Zahllos waren die Lügen, um derentwillen ihm mein armer Körper als Spielball diente, an dem er (der Lehrer, Anm.) seine Kräfte austoben und an dessen Leiden er sich weiden konnte.11
Es ist hier nicht nur von pädagogischem Unverständnis, sondern von groben körperlichen Misshandlungen die Rede. Der arme Knabe ist an10 11
Merula, „Widmungsvorwort“. Junius, Vita, 14; Übersetzung Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, 45.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
scheinend einem Sadisten zum Opfer gefallen, der ihn sieben bis acht Mal pro Tag mit dem Riemen auspeitscht und ihn sich nackt auf den Boden legen lässt. Als Erziehungstraktat kann diese Autobiographie daher schwerlich fungieren. Abschließend präsentiert der Herausgeber den Junius als umfassendes Tugendexempel: Die Autobiographie soll als Tugendspiegel, als universaler ethischer Leitfaden, rezipiert werden: Kurz gesagt: Diesem Werk können wir alle Beispiele der vornehmsten und bedeutendsten Tugenden entnehmen: der Religiosität (pietas), der Gerechtigkeit (iustitia), des Fleißes (sedulitas), der moralisch ernsten Gesinnung (gravitas); der Bescheidenheit (modestia), der Dankbarkeit ( gratitudo), der Duldsamkeit ( patientia), der Couragiertheit ( fortitudo), der Aufrichtigkeit (candor), der Menschlichkeit (humanitas), der Keuschheit (castitas), der Schamhaftigkeit ( pudor), der Selbstbeherrschung (temperantia); der Zurückhaltung und Zügelung der Ausdrucksweise (moderatus linguae usus), der Zuvorkommenheit und Umgänglichkeit (comitas) sowie aller übrigen Tugenden.
Diese Leseanleitung des Herausgebers verortet Junius’ Autobiographie als Werk mit einem besonders stark ausgeprägten Referenzcharakter; als Werk, das als Ganzes und in seinen einzelnen Bestandteilen unauflöslich mit der Wirklichkeit verbunden ist; das nicht nur durch seinen historischen Wahrheitsgehalt die historische Wirklichkeit wiedergibt, sondern durch die vorbildlichen Inhalte, die es vermittelt, als ethisches Lehr- und Handbuch verwendbar ist. Bei einer Lektüre der Autobiographie stellt sich heraus, dass die von Merula kumulativ aufgelisteten ethisch evaluativen Begriffe in der Tat in verschiedener Weise vorkommen. Betrachten wir einen dieser Tugendbegriffe, die Schamhaftigkeit („pudor“), einmal näher: Damals (im Knabenalter, Anm.) haftete mir die ärgste Scheu und Gehemmtheit an, die mir bis auf den heutigen Tag so zu schaffen macht, dass man mich mit Recht in jeder Beziehung eher für einen ungehobelten und bäurischen denn für einen städtischen und gebildeten Menschen halten kann. Überall, in öffentlichen wie in privaten Angelegenheiten, sogar bei jenen, die nur im engsten Familienkreis stattfinden, ist meine Gehemmtheit mir und den anderen zur Last. […] Als Knabe wurde ich von dieser maßlosen Gehemmtheit so gequält, dass ich mich niemals gegenüber anderen Personen, nicht einmal gegenüber meiner Mutter, frei und ungezwungen betragen konnte. Im Gegenteil, meiner Mutter begegnete ich stets mit einer noch schamhafteren Zurückhaltung, die sie sehr kränkte. Nachdem sie versucht hatte, mich von meinem Verhalten zu kurieren, indem sie mir oft meine Brüder und Schwestern als Beispiel vorhielt, glaubte sie eine zeitlang sogar, ich liebe sie nicht. Schließlich erkannte sie bei unserem letzten Zusammentreffen, welches im Jahre 1567 stattfand, dass mein Verhalten durch meinen Charakter bedingt sei, und sie entschuldigte und vergab mir diese meine Schwäche, für die ich
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mich furchtbar schäme. […] Diese Verlegenheit bewirkte seit meinem Knabenalter, dass es mir stets an Selbstvertrauen fehlte; dass ich eher geneigt war, anderen zuzusehen und zuzuhören und aus ihren Taten und Worten meinen Nutzen zu ziehen; dass die Reden anderer mir größeren Nutzen brachten als ich ihnen mit meinen Reden; dass ich, wenn ich eine klare Absicht verfolgte, lange brauchte, um den Mund aufzumachen, es sei denn, eine plötzliche Gefühlsaufwallung riss mich fort […]. Pudor summus, qui me ad hanc usque aetatem sic pressit, ut rusticus magis ad omnia, quam urbanus merito haberi possim. Nam et publicis et privatis in rebus, etiam iis, quae inter familiareis exerceri solent familiarissime, pudor ille meus aeque mihi atque aliis molestus est; […] Hoc immoderato pudore ita sum affectus puer, ut numquam vel erga matrem familiaris esse potuerim, quin pudentiore quadam reverentia semper eam compellarem. Quod indignata mater, postquam saepius prolatis fratrum et sororis exemplis curare voluisset frustra, tandem eo adducta est, ut se a me non amari aliquandiu crediderit, donec postremo congressu meo (qui fuit anno MDLXVII) ita animadvertit esse naturam meam et infirmitatem istam meam (cuius me tam pudet quam alium quemquam) excusavit condonavitque. […] Ex pudore haec consequuta sunt inde a [9] puero quod mihi semper sim diffisus; quod aliorum factis audendis, sermonibus observandis, et advertendis in usum meum studierim; plus in audiendis aliis fructus perceperim quam in dicendo aliis attulerim; tardus ad loquendum certo consilio, nisi me inconsulta abriperet animi perturbatio […].12
Hier brechen erneut Diskontinuitäten auf. Es überrascht, dass das, was von Merula als Tugend affichiert wurde, von Junius als charakterliche Schwäche („infirmitas“) präsentiert wird, die ihm selbst und seinen Mitmenschen „zur Last ist“; die ihn sowohl in seinem öffentlichen Auftre12
Vita Nobilis et eruditi viri Francisci Iunii […], Leiden, Franciscus Raphelengius, 1595, 8–9. Der beste lateinische Text von Junius’ Autobiographie findet sich nach wie vor in dieser Ausgabe, nach der im Folgenden (mit Seitenangabe) zitiert wird. Die rezentere Ausgabe des lateinischen Textes von A. Kuyper in: D. Francisci Iunii Opuscula theologica selecta, Amsterdam 1882, 9–34, weist zahlreiche Fehler und unmotivierte Abweichungen gegenüber der Erstausgabe von 1595 auf. Einige Beispiele: S. 14, Z. 38 „et i ij“ statt „et ii et alii“; Z. 39 „cogitari“ statt „cogitare“; S. 15, Z.9 „collimarem“ statt „colliniarem“; S. 16, Z. 9 „vocant“ statt „ut vocant“; „promiscua“ statt „promiscue“; Z. 10 „alterurbis parte“ statt „altera urbis parte“; „Ararisita“ statt „Ararisque sita“; Z. 18 „allusisset“ statt „allisisset“ u.s.w. Benrath hat eine deutsche Übersetzung von Junius’ Autobiographie („Die Selbstbiographie von Franz Junius“) angefertigt. Sie ist gut lesbar, weist jedoch eine Reihe von Lücken und Übersetzungsmängeln auf. Benrath basierte seine Übersetzung offenbar entweder auf die Textausgabe Kuypers oder auf die Ausgabe in Junius’ Opera Theologica (1608); auf die Erstausgabe des Jahres 1595 weist er überraschenderweise nicht hin. Eine weitere lateinische Ausgabe von Junius’ Autobiographie findet sich in: D. Gerdes (Hrsg.), Scrinium Antiquarium sive Miscellanea Groningana nova ad historiam reformationis ecclesiasticam, Teil I, Bd. I, Groningen – Bremen s. d.
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ten als auch im Privatbereich behindert. Wer möchte schon „unzivilisiert und bäurisch“ wirken, wenn er eine Rede halten soll? Junius stellt sich hier, anders als der Vorspann des Merula erwarten ließ, nicht ohne weiteres als sittliches Vorbild dar. Dies gilt a fortiori, wenn der Text als Pastorenspiegel gelesen wird. Ein Pastor bzw. Prädikant muss vor allem entsprechend auftreten und wohltemperierte, wirkungsvolle Reden halten können. Junius’ übertriebener „pudor“ behindert ihn gerade dabei: Wie er selbst zugibt, fiel es ihm schwer, das Wort zu ergreifen („tardus ad loquendum“), ja war er im Grunde nicht einmal imstande, eine zusammenhängende Rede zu halten. Zu einer Rede vermag er sich nur durchzuringen, wenn sein Geist „verwirrt“ ist, einer „perturbatio“ anheimfällt. Bei der Lektüre der Autobiographie klafft somit eine aufrüttelnde Diskontinuität auf. Der Text vermag in wichtigen Punkten nicht einzulösen, was Merula im Vorwort versprochen hat. Nebenher treten einige Verhaltensweisen des Junius hervor, die nicht ohne weiteres mit der von Merula behaupteten Vorbildlichkeit korrespondieren. Zum Beispiel litt der Knabe unter einer bedenklichen Esssucht,13 die während des Studiums in der Schweiz in eine gefährliche Magersucht umschlug.14 Der Knabe nahm sich vor, „aus freien Stücken vier Monate lang (sic! ) zu fasten“. Dabei verweigerte er prinzipiell tagsüber die Nahrungsaufnahme: „Am Abend bestand mein Mahl zumeist aus zwei Eiern und einem mittleren Becher Wein. Infolge dieser dauernden Unterernährung befiel mich allmählich die Auszehrung. Sie verschlimmerte sich dermaßen, dass mein ausgemergelter Körper von allen Kräften verlassen war“.15 Auch diesbezüglich klafft eine überraschende Diskontinuität auf: Diesem Tugendhelden geht psychische Stabilität auf spektakuläre Weise ab. Es wird ein haltloser Mensch vorgeführt, der offensichtlich in einem gefährlichen Wechselspiel zwischen Fresssucht (Bulimie) und Magersucht (Anorexia nervosa) hin- und herschwankt. Bei alldem ist festzuhalten, dass das Bekenntnis von Schwächen und Mängeln, das – gegen die explizite Lesersteuerung des Herausgebers – auf aufrüttelnde Weise hervorbricht, den modernen Leser geradezu beruhigt. Das liegt zum einen daran, dass es ihm aufgrund seines Autobiographieverständnisses schwer fällt, das Leseangebot einer Autobiographie als Tugendspiegel anzunehmen. Der Fall, dass sich ein Autobiograph als leuchtendes Vorbild sittlich reinen Betragens darstellt, 13 14 15
Vita, 8; Übersetzung Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, 42. Übersetzung Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, 54. Ebd.
Lesersteuerung des Herausgebers Merula
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erscheint ihm als Verstehensfigur ein literarisches Monstrum, das einen unverdaulichen Text erzeugt. Zum anderen scheint der Text die psychologische Hermeneutik zu bestätigen, mit welcher zahlreiche moderne Leser an autobiographische Texte herangehen. Eine Autobiographie soll ein Text sein, der auf irgendeine Weise die psychischen Probleme, mit denen der Mensch kämpft, offenbart. Fresssucht, Magersucht und Kontaktstörungen geben prächtige Motive her, an denen sich die psychologische Beobachtungsgabe des modernen Lesers austoben kann.16 Die Offenlegung der psychischen Störungen korrespondiert mit der (modernen) Leseerwartung, dass eine Autobiographie ein Text sei, der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit als Schreibhaltung des Autors voraussetzt.17 Besonders ansprechend wirkt in dieser Beziehung, dass Junius seiner Kindheit offensichtlich großes Gewicht beimisst bzw. seine Probleme in der Kindheit verortet. Diese Tatsache scheint den Text sogar auf erstaunlich direkte Weise einer psychoanalytischen Hermeneutik zugänglich zu machen.18 Sowohl die Mutter-Kind- als die Vater-Kind-Beziehung spielten anscheinend eine prägende Rolle in der Formation von Junius’ Persönlichkeit. Die Mutter-Kind-Beziehung war so stark gestört, dass sie noch während des letzten Gesprächs mit der Mutter vor ihrem Tod angesprochen wurde; die Vater-Kind-Beziehung scheint ebenfalls problematisch gewesen zu sein, insofern die überzogene Autorität des Vaters dem Knaben einen so großen Erwartungsdruck auferlegte, dass er sich diesem durch Selbstzerstörung (Fasten bis an den Rand des Todes) zu entziehen versuchte. Wie stellt sich das Spannungsverhältnis zwischen Merulas Leseangebot des Tugendspiegels und dem Eingeständnis persönlicher Schwächen dem frühneuzeitlichen Leser dar? Zunächst einmal bereitet ihm das Leseangebot des Tugendspiegels als solches keine Schwierigkeiten. Er ist darauf vorbereitet, allerlei Arten von Texten moralistisch auszuwerten und mit seiner persönlichen Lebensgestaltung in Beziehung zu setzen. Wenn wir den – ziemlich wahrscheinlichen – Fall voraussetzen, dass der 16
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K. Nelson, „The Psychological and Social Origins of Autobiographical Memory“, in: Psychological Science 4 (1993), 7–15. Vgl. oben Kap. I, „Einleitung. Gegenstand und Methodik“. Vgl. J. Cremerius, W. Mauser, C. Pietzcker, F. Wyatt (Hrsg.), Über sich selber reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens, Würzburg 1992; S. Goldmann, „Leitgedanken zur psychoanalytischen Hermeutik autobiographischer Texte“, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 23 (1988), 242–260; C. Pietzcker, „Die Autobiographie aus psychoanalytischer Sicht“, in: Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien, 15–27.
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potentielle Leser ein Leidener Student ist, lässt sich daraus eine weitgehende Kontinuität zwischen seiner Lesehaltung und Merulas Angebot ableiten. Da der Autobiograph eine der herausragenden Leidener Koryphäen und zudem ein Professor der Theologie ist, wird der Leser umso geneigter sein, das Leseangebot anzunehmen. Der Herausgeber Merula, der auf der Titelseite prangt, bestätigt und verstärkt die moralische Autorität, die Junius ohnehin schon zukommt. Junius vermag als sittliche Ikone zu dienen, die sich der Student für seinen Studien- und Karriereweg zum Vorbild nimmt. Dass die Religiosität bei dieser sittlichen Ikone eine so große Rolle spielt, verstärkt ihre Verwendbarkeit. Das wird in noch höherem Maß der Fall sein, wenn der Leser dem reformierten Glauben anhängt. Das Eingeständnis persönlicher Schwächen und Probleme stellt sich ihm gegenüber in weitaus geringerem Maß als Gegensatz zur Tugendspiegel-Lektüre dar. Zum einen wirkt es sich positiv in Bezug auf das passende Autobiographen-Ethos aus, zum anderen stellt es diskursive Verortungen her, die den Text sowohl erkennbar als auch anwendbar machen. Bevor wir uns damit näher auseinandersetzen, ist ein Überblick über Junius’ Lebenslauf erforderlich.
2. Junius’ Lebenslauf Franciscus Junius (1545–1602)19 wurde am 20. Juli 1592 von den Magistraten der Stadt Leiden auf feierliche Weise empfangen. Er genoss damals als kalvinistischer Theologe nicht zuletzt aufgrund seiner lateinischen Übersetzung des Alten Testamentes europaweiten Ruhm.20 Die Magistrate hatten schon mehrmals versucht, ihn nach Leiden 19
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Zu Junius’ Lebenslauf vgl. F. W. Cuno, Franciscus Junius der Ältere, Professor der Theologie und Pastor (1545–1602 ). Sein Leben und Wirken, seine Schriften und Briefe, Amsterdam-Leipzig-Basel 1891; A. Davaine, François du Jon ( Junius). Pasteur et professeur en théologie 1545–1602. Étude historique, Paris 1882 (Neudruck Genf 1970); B. A. Venemans, Franciscus Junius en zijn Eirenicum de pace ecclesiae catholicae, Leiden 1977, 7–51; Ch. de Jonge, De irenische ecclesiologie van Franciscus Junius (1545–1602 ). Onderzoek naar de plaats van het geschrift „Le Paisible Chrestien“ (1593 ) in zijn theologisch denken, Nieuwkoop 1980, 4–34; NNBW 9, 481–483; G. A. Benrath, „Franciscus Junius (François du Jon) 1545–1602. Pfarrer in Schönau bei Heidelberg, Lambrecht und Otterberg, Professor der Theologie in Neustadt an der Haardt, in Heidelberg und in Leiden“, in: Pfälzer Lebensbilder 6 (Speyer 2001), 3–32. Testamenti Veteris Biblia sacra, sive Libri Canonici, priscae Judaeorum Ecclesiae a Deo traditi, Latine recens ex Hebraeo facti, brevibusque scholiis illustrati ab Immanuele Tremellio et Fr. Junio […], Frankfurt a. M. 1579. An der Bibelübersetzung arbeitete Junius seit 1573; vgl. Cuno, Franciscus Junius, 48–57; 263–264.
Junius’ Lebenslauf
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zu holen.21 Die Vorzeichen schienen jetzt günstig, da Junius sich offiziell von seiner Heidelberger Alma Mater verabschiedet hatte. Jedoch hatte er ein verlockendes Angebot des französischen Königs Heinrich IV. erhalten. Die Leidener machten das ehrenvolle Gegenangebot eines Salärs von 1200 Gulden und ersuchten den Gesandten Frankreichs in Den Haag, Paul Choart de Buzanval, vom französischen König zu erwirken, dass er Junius der Leidener Universität überließ – eine diplomatische Initiative, die erfolgreich war: Schon im Oktober desselben Jahres legte Junius vor den Bürgermeistern der Stadt und den Kuratoren der Universität den Amtseid ab.22 Als Junius seine Professur in Leiden antrat, hatte er ein bewegtes Leben hinter sich, das mit den religiösen und politischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts eng verknüpft war: mit dem Schicksal der französischen Hugenotten, der Reformierten in den südlichen Niederlanden, mit den Anfängen des niederländischen Befreiungskampfes und den politisch-religiösen Entwicklungen in der Pfalz.23 Junius wurde im Jahre 1545 in Bourges als Sohn des französischen Adeligen Dénys du Jon, der als königlicher Beamter dem Haus Navarra verbunden war, geboren. Der Vater, ein Jurist (Lizentiat der Rechte), bekannte sich zwar nicht offen zur Reformation, verkehrte jedoch in Kreisen, denen auffallend viele Evangelischgesinnte angehörten. Junius wuchs in einem Milieu auf, das entweder mit dem Protestantismus sympathisierte oder sich offen zu ihm bekannte, wie sein Lehrmeister, der Humanist Barthélemy Aneau. Der Vater vermittelte François eine gründliche Ausbildung, wobei er wohl beabsichtigte, dass sein Sohn einmal die Juristenlaufbahn einschlagen sollte. Schon früh zog er ihn zu Schreibarbeiten in der Kanzlei heran. Junius zeichnete sich durch eine frühe Reife aus: In ungewöhnlich jungem Alter (mit 13; 1558) durfte er Vorlesungen an der juristischen Fakultät in Bourges besuchen, unter anderen bei Hugues Doneau (Donellus). Sodann schickte ihn der Vater ans Collège de la Trinité in Lyon, wo Barthélemy Aneau die klassischen Sprachen unterrichtete (1560–1561). Kurz bevor der erste französische Religionskrieg ausbrach, begab sich Junius nach Genf (1562), um an der eben erst eröffneten reformierten Universität, an der Calvin und Beza lehrten, zu studieren. Indem sich Junius für Genf, Geisteswissenschaften und Theologie entschied, handelte er dem Willen des Vaters zuwider, der ihn zum Juristen ausbilden lassen wollte. Nach dem Tod des Vaters im Zuge der Religionswirren in Issoudun (1563), wo sich der Adelssitz der du Jon befand, konnte sich Junius in Genf ganz dem Studium der Theologie und der klassischen Sprachen, einschließlich des Hebräischen, widmen.
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Bereits im Jahre 1579 (Brief der Kuratoren und Bürgermeister vom 30. 10. d. J.; vgl. P. C. Molhuysen, Bronnen tot de geschiedenis der Leidsche Universiteit, Bd I. (Den Haag 1913), 13 und 76, Nr. 56); Junius hatte dieses Ansuchen im April 1580 offiziell ausgeschlagen (Molhuysen, a.a.O.; Ch. de Jonge, De irenische ecclesiologie, 20); weiter im Jahre 1591 (ein von Jan van Hout unterzeichneter Brief der Kuratoren der Universität und der Bürgermeister von Leiden vom 19. 8. d. J.; publiziert in Molhuysen, Bd. I, 181–182, Nr. 164; vgl. de Jonge, De irenische ecclesiologie, 251–252, Anm. 117 und 118). Witkam, DZLU, Bd. III, 18, Nr. 681. Siehe hierzu die Bibliographie 4.14.
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In Genf ergab sich der weitausholende Schritt in die südlichen Niederlande. Im April des Jahres 1565 traf ein Gesandter der reformierten wallonischen Gemeinde von Antwerpen in Genf ein, der die Universität ersuchte, der Stadt einen französischsprachigen Prädikanten zur Verfügung zu stellen. Man entschied sich für Junius. Anfang Mai desselben Jahres traf er in Antwerpen ein, wo er mit der Leitung der wallonischen Gemeinde beauftragt wurde. In der Folge beteiligte er sich am politischen Widerstand gegen Philipp II.: Im Herbst des Jahres 1565 eröffnete er in Brüssel die Versammlung der Adeligen, die sich der Einführung der Inquisition in den Niederlanden widersetzten. Graf Ludwig von Nassau beauftragte ihn mit der Abfassung einer Schrift, welche für die Abschaffung der Inquisition plädierte (Oratio […] pro libertate publica et abrogatione inquisitorii edicti).24 Die Vielzahl der Pamphlete, die er verfaßte, ließ ihn bald als eine der treibenden Kräfte des Widerstandes erscheinen. Als bekannt wurde, dass er der Autor eines offenen Briefes an den spanischen König war, der für die Abschaffung der Inquisition plädierte, wurde Junius offiziell gesucht. Im Jahre 1566 entwarf er ein französisches Glaubensbekenntnis der niederländischen Kirche,25 das er Beza nach Genf zur Begutachtung schickte. Junius lebte praktisch in seiner gesamten südniederländischen Zeit im Untergrund. Die Statthalterin Margarethe von Parma erklärte ihn für vogelfrei. Welche Mühe sie sich gab, seiner habhaft zu werden, wird aus der Tatsache ersichtlich, dass sie ihm einen Infiltranten auf den Hals hetzte. Sie beauftragte einen Maler aus Brüssel, sich bei Junius einzuschleichen, sein Vertrauen zu erwerben und ihn zu porträtieren.26 Da das Unternehmen gelang, gab es seit diesem Zeitpunkt ein polizeiliches Suchbild von Junius. Trotz der Verfolgung predigte Junius und verfaßte weiterhin subversive Flugschriften. Er gehörte zu den berüchtigtsten Untergrundpredigern des südniederländischen Raumes. Aufgrund der Verfolgung wechselte Junius ständig seinen Aufenthaltsort, lavierte zwischen den Flämischen Städten Antwerpen, Gent, Brügge und benachbarten Orten hin und her. Mehrmals entkam er mit knapper Not der Gefangennahme. Im Oktober des Jahres 1566 wich er nach Limburg aus. Im folgenden Jahr gerieten die Reformierten in den südlichen Niederlanden in immer größere Schwierigkeiten. Die statthalterliche Regierung erholte sich von der Verwirrung, die der offene Widerstand und der Bildersturm hervorgerufen hatten, und setzte alles daran, die alte Ordnung wiederherzustellen. Im März 1567 erlitten die Geusen bei Oosterweel eine empfindliche Niederlage. Im April schickte Margarethe von Parma Truppen nach Limburg, die die Prädikanten gefangen nehmen und die reformatorische Bewegung niederschlagen sollten. Junius wurde der Boden zu heiß. Er entzog sich der sicher scheinenden Gefangennahme durch Flucht in den deutschen Raum.
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Vgl. Cuno, Franciscus Junius, 19–20. „Sommaire de la confession de foy que doivent faire ceux qui desirent estre tenus pour membres de l’Eglise de Jesus Christ: Leu après la prédication publique faite près d’Anvers le XXVIII de Julet 1566“; Für den Text vgl. Cuno, Franciscus Junius, 27–30; A. A. van Schelven, „Het Scriptum de fide van Franciscus Junius (Juli 1566)“, in: Bijdragen en mededelingen van het historisch genootschap gevestigd te Utrecht 51 (1930), 104–114. Vgl. Cuno, Franciscus Junius, 20.
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Er flüchtete in die Pfalz, eines der wenigen Gebiete des Deutschen Reiches, in dem die reformierte Religion Staatsreligion geworden war.27 Dies war das Werk des Pfalzgrafen Friedrich III. (1559–1576), der seit 1560 den Kalvinismus eingeführt, die Heidelberger Universität mit kalvinistischen Professoren besetzt hatte und sich international für die Sache der reformierten Religion einsetzte. Zu den Niederlanden unterhielt Friedrich III. besonders enge Bande. Außerdem war die Pfalz durch die großzügige Flüchtlingspolitik Friederichs III. ein Asyl für verfolgte Reformierte geworden.28 In Heidelberg und auf den Gründen des aufgelassenen Zisterzienserklosters Schönau im Odenwald (ca. 10 km westlich von Heidelberg) entstanden wallonische und hugenottische Flüchtlingskolonien.29 Friederich III., dem Junius’ Talent als Prediger und Seelsorger bekannt waren, nahm ihn freundlich auf und ernannte ihn zum Prädikanten der wallonischen Flüchtlingskolonie von Schönau (Flüchtlinge aus dem Gebiet von Lüttich und Namur). Nachdem Junius kaum ein Jahr sein Seelsorgeamt in Schönau ausgeübt hatte, entsandte ihn Friedrich III. als Feldprediger für die französischen Soldaten im Heer Wilhelms von Oranien, der im Oktober 1568 einen Feldzug zur Befreiung der Niederlande unternahm. Alba, der geschickt der militärischen Konfrontation auswich, vermochte mit seiner Ermattungsstrategie Wilhelms Heer zu demoralisieren. Junius entfernte sich schließlich, ohne sich von Wilhelm zu verabschieden, wurde aber von Friederich III. wieder zurückgeschickt. Schließlich vermochte sich Junius der Verpflichtung zu entziehen. Daraufhin blieb er in Schönau und bekleidete dort das Prädikantenamt bis 1573, dem Jahr seiner Übersiedlung nach Heidelberg. Junius wirkte im Verband der hugenottischen Kirche Deutschlands, nahm u. a. an der Synode von Emden (1571) teil, welche die hugenottische Kirche am Niederrhein und in der Pfalz neu regelte. Schönau wurde gemäß der Beschlüsse dieses Konzils mit den Fremden-
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Vgl. W. Seelig, „Der sogenannte Kalvinismus in der Pfalz. Versuch einer Klärung, I. Teil“, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte 37/38 (1970/1971), 267–274; Ders., „Die Einführung der Reformation in der Pfalz“, in: Pfälzische Landeskunde 3 (1981); J. B. Götz, Die erste Einführung des Calvinismus in der Oberpfalz 1559–1576, Münster 1933; H. Rott, Friedrich III. von der Pfalz und die Reformation, Heidelberg 1904; V. Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619, Stuttgart 1970; H. Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter, 1525–1648, Stuttgart 1989; E. Meyer, Pfälzische Kirchengeschichte, Kaiserslautern 1939; P. Münch, Zucht und Ordnung. Reformierte Kirchenverfassungen im 16. und 17. Jahrhundert (Nassau-Dillenburg, Kurpfalz, Hessen-Kassel ), Stuttgart 1978; A. Kluckhohn, Friedrich der Fromme, Kurfürst von der Pfalz: der Schützer der reformierten Kirche 1559–1576, Nördlingen 1877/1879; Ders., Art. „Friedrich der Fromme“, in: ADB 7 (1878), 606–621; P. Fuchs, Art. „Friedrich III.“, in: NDB 5 (1961), 530–532; H. Erbe, Die Hugenotten in Deutschland, Essen 1937. Vgl. F. W. Cuno, „Die pfälzischen reformierten Fremdengemeinden“, in: Pfälzische Memorabile 14(1886); Kuhn, Pfalzgraf Johann Casimir, 90–101; H. Kimmel (Hrsg.), Hugenotten in der Pfalz, Obersickte-Braunschweig 1973; Th. Gümbel, „Die wallonischen und französischen Kolonien in der Pfalz aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert“, in: Pfälzisches Museum 12 (1895), 69ff. Kuhn, Pfalzgraf Johann Casimir, 90 (seit 1560).
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gemeinden von Frankenthal, Frankfurt und St. Lambrecht zu einer ‚Klasse‘ zusammengefügt. In die Jahre 1568–1573 fallen Junius’ erste theologische Schriften, wobei es sich vor allem um Bibelexegese handelt. Er brachte u. a. einen Psalmenkommentar, Methodus analytica in Psalmos, und einen Genesis-Kommentar, Commentarius in X. cap. Geneseos, heraus. Beide Werke sind verlorengegangen. Der Ruf, den sich Junius damit erwarb, führte dazu, dass Friedrich III. ihn mit der neuen lateinischen Bibelübersetzung beauftragte (1573–1578). Junius arbeitete an der Bibelübersetzung mit dem Hebraisten Immanuel Tremellius zusammen. Mit dem Unternehmen der Bibelübersetzung, das fast sieben Jahre in Anspruch nahm, und den darauffolgenden Professuren war Junius’ Existenz in ein ruhigeres Fahrwasser geraten. Der Machtwechsel in der Pfalz nach dem Tod Friedrichs III. änderte daran kaum etwas. Junius schloss sich dem jüngeren Sohn Friedrichs, Johann Casimir (1576–1592), an, der einen Teil der Pfalz übernahm und dort das reformatorische Werk seines Vaters fortsetzte,30 während der ältere Sohn, Ludwig (1576–1583), sich zum Lutheranismus bekannte und den größeren Teil der Pfalz entkalvinisierte. Der Machtwechsel wirkte sich für Junius günstig aus, da Johann Casimir wegen der Lutheranisierung der reformierten Universität Heidelberg die Neugründung einer kalvinistischen Bildungsanstalt als erforderlich erachtete (1578; Pädagogikum/Universität Neustadt [Casimiranum]).31 Durch die Gründung des Casimiranum entstanden neue Lehrstellen. 1578 unterrichtete Junius dort Hebräisch.32 Nebenher wurde er zum Pfarrer der Flüchtlingsgemeinde von St. Lambrecht (ca. 5 km östlich von Neustadt) ernannt, wo seit 1568 reformierte Wallonen aus der Gegend von Malmedy an-
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Vgl. V. Press, „Die ‚Zweite Reformation‘ in der Kurpfalz“, in: H. Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – das Problem der ‚Zweiten Reformation‘. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985, Gütersloh 1986, 104–129; M. Kuhn, Pfalzgraf Johann Casimir von PfalzLautern (1576–1583 ), Diss. Mainz 1959; M. Brandt, Johann Casimir und die pfälzische Politik in den Jahren 1588–1592, Diss. Heidelberg 1909; V. Press, Art. „Johann Casimir, Pfalzgraf bei Rhein“, in: NDB 10 (1974), 510–513; C. Bezold, Art. „Johann Casimir, Pfalzgraf am Rhein“, in: ADB 14, 307–314; Heppe, Geschichte des deutschen Protestantismus in den Jahren 1555–1581; L. Petry, „Pfalzgraf Johann Casimir (1543–1592)“, in: K. Baumann (Hrsg.), Pfälzer Lebensbilder, Speyer 1964, 43–66. Vgl. P. Moraw, Th. Karst, Die Universität Heidelberg und Neustadt an der Haardt, Speyer 1963; H. M. Sauer, Vor 375 Jahren Gründung der Neustadter Universität. Pfalzgraf Johann Casimir als Gründer der Neustadter Universität, Jubilaeumsschrift, Neustadt 1953; J. Leyser, Die Neustadter Hochschule (Collegium Casimiranum). Eine Festgabe zur 5. Säkularfeier der Ruperto-Carola, Neustadt a. d. Haardt 1886; Kuhn, Pfalzgraf Johann Casimir, 87–89; E. Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386–1803, Berlin-Heidelberg 1986; J. F. Hautz, K. A. von Reichlin-Meldegg, Geschichte der Universität Heidelberg, nach handschriftlichen Quellen nebst den wichtigsten Urkunden, 2 Bde., Mannheim 1862–1864. Benrath, „Franciscus Junius“ (2000), 14; Ders., „Das Casimiranum, die reformierte Hohe Schule in Neustadt an der Haardt (1578–1584)“, in: EbernburgHefte 24 (1990), 33–45; Cuno, Franciscus Junius, 69.
Diskursverdopplung: zu Abfassungszeit und -ort
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sässig waren.33 In der Folge nahm Junius die Pfarre in Otterberg (ca. 5 km nördlich von Kaiserslautern) unter seine Fittiche. Dort siedelte Johann Casimir die Wallonen aus Schönau an, die von dem Lutheraner Ludwig des Landes verwiesen worden waren. 1582 gab Junius am Casimiranum Vorlesungen über das Alte Testament. Als Ludwig verstarb (1583), vereinigte Johann Casimir als Alleinerbe Friedrichs III. die Pfalz unter seiner Herrschaft und führte die Universität Heidelberg wieder dem kalvinistischen Bekenntnis zu. Junius gehörte zu den Professoren, die er von der Universität Neustadt (die nunmehr überflüssig geworden war) nach Heidelberg versetzte. 1584 erhielt Junius einen Lehrstuhl für Altes Testament an der prestigeträchtigen Universität, für den er noch schnell seinen Doktorgrad nachholte (17. 12. d. J.). Er bekleidete diesen Lehrstuhl bis zu seinem Übertritt nach Leiden (1592) und machte sich einen Namen als Bibelexeget und Dogmatiker. An der Universität Leiden erhielt Junius die Stelle des ersten Professors und erfreute sich hohen Ansehens. Als Theologe gelangte er zu einer großen schriftstellerischen Produktivität. Mit seinem Eirenicum entwarf er eine Theologie der Versöhnung, die die katholischen und protestantischen Lehrmeinungen zu vereinigen suchte.34
3. Diskursverdopplung aus der Textgenese: zu Abfassungszeit, Abfassungsort und Publikation der Schrift Die Titelei gibt an, wann und wo Junius’ Autobiographie verfasst worden sei: „kurz“ („nuper“) vor dem Druckdatum (Anfang 1595), also mutmaßlich zur Zeit der Leidener Universitätsprofessur, welche 1592 angefangen hatte. Die Titulatur affichiert das Werk somit als Professorenautobiographie, mit welcher der „erste Professor“ der Universität an seiner neuen Wirkungsstätte vorgestellt werden sollte. Langeraad betrachtete diese Affichierung als Tatsache und ging davon aus, dass Junius die Autobiographie um 1593 in Leiden verfasst hatte.35 Er entdeckte in Junius’ Erzählung chronologische Unstimmigkeiten, die er damit er-
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Benrath, „Franciscus Junius“ (2000), 16; zu der Wallonengemeinde von St. Lambrecht vgl. weiter Kuhn, Pfalzgraf Johann Casimir, 97–98; Kimmel, Hugenotten in der Pfalz, 65–69. de Jonge, De irenische ecclesiologie van Franciscus Junius (1980). L. A. Langeraad, „Eenige opmerkingen en beschouwingen naar aanleiding van dat gedeelte van Junius’ autobiografie, omvattende het tijdperk, dat ligt tusschen de aanbieding van het verzoekschrift der edelen tot aan de beeldenstorm te Antwerpen (5 April – 21 Augustus 1566)“, in: Aanteekeningen van het verhandelde in de sectie voor letterkunde, wijsbegeerte en geschiedenis ter gelegenheid van de Algemeene Vergadering van het Provinciaal Utrechtsch Genootschap van kunsten en wetenschappen, Utrecht 1900 (32–76), 65; Haak, Merula, 147.
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klärte, dass sich der Autor ca. siebenundzwanzig Jahre nach den Ereignissen nicht mehr genau erinnern habe können.36 Haak, der Biograph des Herausgebers Merula, bekräftigte diese Ansicht.37 Diese Auffassung befindet sich jedoch mit den Angaben, die Merula selbst bezüglich der Textgeschichte in seinem Widmungsvorwort gemacht hat, in Widerspruch. Im Zuge der Quellensammlung zu einer Geschichte des Niederländischen Aufstandes (Historia tumultuum Belgicorum)38 interviewte er Junius. Dessen Erzählung fesselte ihn so, dass er nicht im Stande war, zur selben Zeit Notizen zu machen. Da fragte er bei Junius nach, ob er das Vorgetragene nicht in irgendeiner Form schriftlich festgehalten habe. Junius verneinte dies zunächst, erinnerte sich dann aber an „ein Gedenkschriftchen („commentariolum“) über sein Leben, das er […] früher einmal („quondam“) verfasst hatte“.39 Dieses Gedenkschriftchen ist die Autobiographie, die Merula ein paar Tage später erhielt und in der Folge veröffentlichte. Die Angabe „quondam“ („früher einmal“, „einst“) bezeichnet einen länger zurückliegenden Zeitraum. Deshalb darf man ausschließen, dass Junius seine Autobiographie „vor kurzem“, im Jahre 1593 oder 1594, verfasst hat. 36
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Langeraad, „Eenige opmerkingen“, 33: „dit neemt niet weg, dat we niet mogen voorbijzien dat hij zijn levensbeschrijving eerst in 1593 of daaromtrent heeft samengesteld, alzoo ongeveer 27 jaar, na de gebeurtenissen in 1566 voorgevallen. Hierop lettende rijst onwillekeurig de vraag op, of hij zich soms niet kan hebben vergist […]“ („Das nimmt nicht weg, dass wir nicht vergessen dürfen, dass er seinen Lebensbericht erst 1593 oder um diese Zeit zusammengestellt hat, also ungefähr 27 Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1566. Wenn man dies berücksichtigt, so ergibt sich unwillkürlich die Frage, ob ihm nicht vielleicht Irrtümer unterlaufen sind […]“; 65: „Dat dit zoo is, dat hij zich vergist heeft, verwondert ons evenwel niet al te zeer, wanneer we bedenken, dat hij pas vele jaren, nadat de gebeurtenissen van 1566 voorgevallen waren, ze heeft te boek gesteld“ („Dass dies der Fall ist, dass ihm Irrtümer unterlaufen sind, verwundert nicht besonders, wenn wir bedenken, dass er die Ereignisse erst viele Jahre, nachdem sie vorfielen, aufgezeichnet hat“). Haak, Merula, 147: „Ook met andere tijdsopgaven heeft Junius zich vergist, hetgeen ons niet behoeft te verwonderen, aangezien hij zoovele jaren later eerst zijne aantekeningen maakte“ („Junius hat sich auch bei anderen chronologischen Angaben geirrt, was uns nicht zu verwundern braucht, da er seine Aufzeichnung ja erst so viele Jahre später gemacht hat“). Vgl. Haak, Merula, 61–87. Merula, Vorwort: „Innuebat tamen nonnihil notatum in brevi quodam commentariolo, quod M. Aemilium Scaurum magnosque antiquioris aevi viros sequutus De vita sua quondam scipserat. Quum cognosceret meum eius videndi et inspiciendi obiter desiderium, qua est humanitate, protulit, prolati exordium ita placuit, ut illud in paucos dies rogatum impetrarim“.
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Diskursverdopplung: zu Abfassungszeit und -ort
Eine Analyse der Komposition der Autobiographie in Bezug auf das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit liefert einen Befund, der in dieselbe Richtung weist: 1. Abstammung und Elternhaus, sowie frühe Kindheit (5–6 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterricht und Erziehung bis zum Universitätsstudium (11 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Universitätsstudium (3 Jahre) . . . . . . . . . . . . . . 4. Prädikant in den südlichen Niederlanden (2 Jahre) . . 5. Flucht in die Pfalz; Prädikant in Schönau (1,6 Jahre) . . 6. Zweites niederländisches Abenteuer (einige Monate) . 7. Weiterer chronologischer Lebensabriss, vor allem der Zeit in der Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Reise nach Leiden, Amtsantritt in Leiden . . . . . . . 9. Familienangelegenheiten, Ehen, Kinder41 . . . . . . . 10. Werkverzeichnis42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Schlussgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 SS.40 20 11 25 1,5 1 1,7 0,5 1 2,5 0,1
In der chronologischen Erzählung weist Junius’ Leben bis zum 23. Lebensjahr (Jahreswechsel 1568/69) eine auffällig größere Darstellungsdichte auf als alle anderen Lebensabschnitte. Diesem Zeitraum widmet Junius 62 Seiten Erzählzeit, also ca. 93 % der Textmenge! Alles, was folgte – den größten Teil seines erfolgreichen Lebens als Erwachsener (1568/69 – 1594, ca. 25 Jahre erzählte Zeit) – drängt er auf wenige Seiten zusammen (nur 7 % der Erzählzeit!). Die Unterschiedlichkeit in Bezug auf die Darstellungsdichte wird durch die Unterschiedlichkeit der Darstellungsart verstärkt. Bei der Behandlung seines Lebens bis zum 23. Lebensjahr hat Junius die Ereignisse immer wieder dramatisiert und zu Szenen ausgebaut, während dies für den Hauptteil seines Lebens (1569–1594) nicht gilt. Der Stil ist dort nüchtern, sachlich und gerafft; auf Evidenz, szenische Gestaltung und Dramatisierung wird verzichtet. Wenn Junius die Autobiographie in der Tat um das Jahr 1593 in Leiden verfasst hätte, wären diese Unterschiede unverständlich. Die Annahme, dass er sowohl den Hauptteil seines Lebens als auch seine erfolgreiche akademische Laufbahn als wenig darstel40 41 42
Erzählzeit in Seiten nach der Ausgabe von 1595. Befindet sich außerhalb des Rahmens der chronologischen Erzählung. Befindet sich außerhalb des Rahmens der chronologischen Erzählung.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
lungswürdig betrachtet hätte, erscheint absurd: Weshalb hätte ein Professor, der sich an einer neuen Universität einführte, gerade seine wissenschaftliche Karriere stiefmütterlich behandeln wollen? Die registrierten Diskrepanzen müssen auf andere Weise erklärt werden: Junius hat seine Autobiographie zum überwiegenden Teil nicht um 1593, sondern viel früher verfasst. Welcher Zeitpunkt kommt dafür in Frage? Junius liefert uns hierzu im Text des Werkes selbst einen klaren Anhaltspunkt: Er vermeldet den Digestenkommentar des französischen Rechtsgelehrten Doneau (Donellus) und stattet diese Bemerkung mit der Datierung aus: „den dieser vor wenigen Jahren („ante paucos annos“) publiziert hat“.43 Doneaus Kommentar erschien im Jahre 1573.44 Junius hat die Autobiographie somit wenige Jahre nach 1573 verfasst, also wohl zwischen September 1575 und 1578. Die Formulierung „vor wenigen Jahren“ weist darauf hin, dass mindestens drei Jahre zwischen der Publikation des Digestenkommentars und der Abfassungszeit von Junius’ Autobiographie liegen, jedoch nicht mehr als fünf bis sechs Jahre. Mit dieser Datierung stimmt überein, dass Junius in seiner Autobiographie auf die Bartholomäusnacht (1572) anspielt.45 Doneau war eben in Folge der Bartholomäusnacht aus Frankreich nach Heidelberg geflüchtet (1572). Weiter hängt die Vermeldung der Publikation von Doneaus Schrift mit Junius’ Heidelberger Aufenthalt zusammen: Heidelberg war der Ort ihrer Drucklegung und Doneau selbst war zu diesem Zeitpunkt Professor der Jurisprudenz in Heidelberg (1572–1578).46 Der Prädikant Junius hielt sich in eben diesen Jahren in Heidelberg 43
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Vita, 15: „[…] quum vindemialibus feriis Hugo Donellus studiosae iuventutis caussa ex Institutionibus Iustinianeis titulum de actionibus interpretandum suscepisset: quem ante paucos annos in lucem edidit“. Hugo Donellus, Commentarius ad titulum Digestorum, de praescriptis verbis et in factum actionibus, Heidelberg 1573. Doneau widmete das Werk dem Rektor und dem Senat der Universität Heidelberg. Der Widmungsbrief „Magnific. D. Rectori amplissimoque Senatui Academiae Heidelbergiensi Hugo Donellus S. D.“ (f. A2r – A4v) trägt des Datum des 1. September 1573. Junius, Vita, 13: „Docebat prophetico ferme – ut nunc mihi quidem videtur – spiritu Galliam iniustitia confertam esse […] horrendas calamitates animo praevidebat“. Zu Doneaus Karriere vgl. NNBW, Bd. I, Sp. 729–733; Witkam, DZLU, Bd. II, 60–67. Doneau unterrichtete in Bourges, wo ihn Junius hörte, und nachher an der Heidelberger Universität (1572–1578). In Folge des Machtwechsels in der Pfalz wechselte er nach Leiden über, wo er von 1579 bis 1587 eine Professur in der Jurisprudenz innehatte.
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auf, wo er zwischen 1573 und 1578 an seiner lateinischen Bibelübersetzung arbeitete.47 Somit ist klar, dass Junius seine Autobiographie nicht 1593 oder 1594 in Leiden, sondern zwischen 1575 und 1578 in seiner Pfälzer Periode, während seines ersten Aufenthalts in Heidelberg, verfasst hat. Dazu passt der Befund, den wir aus der Analyse des Verhältnisses zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit erhielten. Junius erklärt, wie sich sein Lebensweg gestaltete, der ihn in die Pfalz führte. Dafür sind seine Jugendbildung, die ihn zur Theologie und zum Kalvinismus hinführte, und seine Tätigkeit als kalvinistischer Prädikant in den südlichen Niederlanden, die zur Flucht in die Pfalz führte, von entscheidender Bedeutung. Junius, der zum Zeitpunkt der Abfassung ein kalvinistischer Gottesmann, Prädikant und Bibelübersetzer ist, erläutert, wie er zu seiner jetzigen Existenz gekommen ist. Junius’ Autobiographie erschien damals allerdings nicht im Druck. Daraus darf man schließen, dass dem Werk nicht ein Renommiergestus, wie ihn eine Professorenautobiographie voraussetzt, zugrunde liegt. Offensichtlich stand Junius ein anderer Verwendungszweck vor Augen.48 Damit stimmt übrigens überein, dass er damals noch keine Professur bekleidete. Die Handschrift zirkulierte damals in eingeweihten, d.h. kalvinistischen Kreisen, zunächst wohl bei Leuten, die Junius – der zu dem Zeitpunkt noch nicht berühmt war – auf irgendeine Weise persönlich kannten.49 Der letzte Satz des chronologischen Lebensabrisses war in der ursprünglichen Fassung: „Sic me Deus ille Pater sapientissimus, praeter omnium opinionem et Principis illius voluntatem, Palatinatui vindicavit“ („Auf diese Weise rettete mich Gott, der weiseste Vater, gegen die Meinung aller und gegen den Willen jenes großen Fürsten [= Wilhelm von Oranien, Anm.] für die Pfalz“.50 47 48 49
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Vgl. oben Kap. XXIII. 2 „Junius’ Lebenslauf “. Siehe unten. Nach Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, 38, hat Junius die Autobiographie „ursprünglich nur für seine Familie und für seine Freunde bestimmt“. Benraths Definition des Publikums erscheint mir insofern nicht stimmig, als sie den Text in die Richtung einer „Familienautobiographie“ (Text fürs Familienarchiv) abdrängt. Gegen eine solche Verortung spricht sowohl die Diskursivik der Erbauungsschrift (s. unten) als auch Junius’ explizite Aussage bezüglich des von ihm intendierten Publikums in der Einleitung. Dort sagt er klar, dass die Schrift auch für „alle Rechtgläubigen“ („omnes pii“) bestimmt sei (Vita, 1). Junius, Vita, 66. „ad annum usque 1592“ ist ein späterer Zusatz des Junius, den er 1594 anbrachte, nachdem er Merula eine Weiterführung der Autobiographie versprochen hatte. Die definitive und emotionale Formulierung „vindicavit“ zeigt im Übrigen an, dass es sich bei „ad annum usque 1592“ um einen Zusatz handelt, da die zeitliche Beschränkung, die der Zusatz einbringt, zu ihr nicht richtig passt.
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Langeraads Beobachtungen der chronologischen Unstimmigkeiten, die in Bezug auf das Jahr 1566 auftreten, widersprechen nicht der hier eruierten Datierung der Schrift. Erstens muss man berücksichtigen, dass die Darstellungsdichte im Abschnitt, der den Niederländischen Aufstand behandelt, so groß ist, dass die Erzählung tageweise, manchmal gar stundenweise voranschreitet. Zweitens lagen zwischen der Abfassungszeit und den Ereignissen damals bereits zwischen 9 und 11 Jahre. Es wäre verständlich, wenn über einen so großen Zeitraum hinweg bezüglich der tageweisen zeitlichen Abfolge der Ereignisse Gedächtnislücken aufgetreten wären bzw. die erinnerten Datierungen an Präzision eingebüßt hätten. Drittens darf man nicht davon ausgehen, dass die lückenlose Erinnerung das Hauptziel des autobiographischen Schreibens ist. Man sollte nicht ausschließen, dass Junius sich eine ihm genehme chronologische Reihenfolge der Ereignisse zurechtgelegt hat.51 Als Junius 1592 den Ruf nach Leiden erhielt, nahm er die Handschrift mit der Autobiographie unter seinem übrigen Hausrat in die Niederlande mit. Nichts weist darauf hin, dass er, als er sein Leidener Amt antrat, darauf brannte, die alte Autobiographie herauszugeben. Als Professorenautobiographie war das Werk übrigens schon insofern unbefriedigend, als der Hauptteil des akademischen Lebens sowie ein Schriftenverzeichnis fehlte. Wie weit Junius von einem Publikationsvorhaben entfernt war, zeigt die Tatsache an, dass er, als ihn Merula bezüglich persönlicher Aufzeichnungen befragte, sich zunächst nicht einmal an den Text erinnern konnte. Er hatte ihn fast vergessen, bzw. – was die Sach51
Wie Langeraad zu Recht angibt, hat Junius die Ereignisse des Bildersturms (1566) nicht richtig datiert. Er behauptet, dass der Bildersturm im Juli angefangen habe (Vita, 48: „In Iulio […], quo tempore Iconoclastae nobis incogniti praeter sententiam nostram [sic ] […] in templa et signa templorum omnia irruebant“). In Wirklichkeit fand der Bildersturm jedoch vom 10. bis zum 24. August 1566 statt. Ich bezweifle, dass wir es in der Tat mit einer Erinnerungslücke zu tun haben. Junius versucht m. E. zu beweisen, dass er mit dem ‚wilden‘, nicht von der Obrigkeit geleiteten Bildersturm nichts zu tun hat. Deshalb verlegt er den Bildersturm vor die Synode in Antwerpen, die Ende Juli 1566 stattfand und auf der die Confessio angenommen wurde, welche Junius verfasst hatte. In der Pfalz wurde die Entfernung der Bilder von der Obrigkeit angeleitet. Der Initiator, Abraham Scultetus, war zugleich der Hofprediger des Pfalzgrafen. Vgl. H. Rott, „Kirchen- und Bildersturm bei der Einführung der Reformation in der Pfalz“, in: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg 6 (1905), 229–254; N. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996, 288–290.
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lage wohl präziser darstellt – der Text kam ihm im Diskurs des Interviews, das Fakten über den Niederländischen Aufstand zu Tage fördern sollte, nicht in den Sinn. Letztes weist darauf hin, dass Faktenvermittlung in Bezug auf den Niederländischen Aufstand ursprünglich nicht das Hauptanliegen der Autobiographie bildete. Nun hat Merula im Widmungsvorwort behauptet, er habe das Werk herausgegeben, ohne den Autor davon benachrichtigen („de editione ne verbum quidem communicans cum ipso suam vitam scribente“). Er habe befürchtet, Junius werde damit nicht einverstanden sein, wodurch der „Ecclesia Christiana“ ein wichtiges Werk entgangen wäre: „Über die Ausgabe habe ich freilich zum Autor selbst kein Wort gesagt, damit nicht die christliche Kirche, in deren besonderen Interesse es liegt, diesen Text zu lesen, für den Fall, dass der Autor mit der Publikation nicht einverstanden gewesen wäre, einen herben Verlust ertragen hätte müssen“. Ist diese Behauptung glaubwürdig? M. E. darf man Merulas Worte nicht ‚at face value‘ verstehen. Dass Junius von der Publikation der Autobiographie in der Tat nichts gewusst haben soll, ist schon deshalb nicht glaubhaft, da eine solche Tat einen groben Vertrauensmissbrauch einem Kollegen gegenüber bedeutet hätte. Die Autobiographie wurde obendrein in derselben Stadt, wohlgemerkt unter Merulas Namen publiziert. Junius hätte den nichtautorisierten Text schnell genug entdeckt. Wenn Merula insgeheim publizieren hätte wollen, hätte er wenigstens seinen Namen weglassen müssen. Wie wir gesehen haben, prangte dieser jedoch auf der Titelseite. Noch schwerwiegender wäre jedoch, dass Merula in diesem Fall dem armen Junius ein Spurium unterschoben hätte. Denn der Schlussteil der Autobiographie, mit dem Lebensabriss der Jahre 1573–1592, der akademischen Karriere, des Ehe- und Familienstandes und des Werkverzeichnisses des Junius (S. 66–72), war in der Handschrift, die der Theologe seinem Kollegen zeigte, noch nicht vorhanden. Wenn Merula die Edition ohne Mitwissen des Junius besorgt hätte, würde dies voraussetzten, dass den Schlussabschnitt der Autobiographie nicht der Autor, sondern der Herausgeber Merula verfasst hätte. Gegen eine solche Annahme spricht jedoch, dass auch der Schlussabschnitt typisch autobiographische Darstellungsstrategien, wie die Mitteilung persönlicher Gefühle, Erfahrungen und Überzeugungen, Bescheidenheits- und Loyalitätsbezeigungen, persönliche Wünsche und Beglaubigungen aufweist. Zum Beispiel stößt man auf die persönliche Notiz, dass der Autor an der Entfernung von seinen Kindern sehr gelit-
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ten habe („afficiebar plurimum“),52 ihn das Eheleben mit großer Freude erfüllt bzw. dass sich sein Vorurteil gegenüber Frauen im Laufe der Zeit verflüchtigt habe.53 Daneben sind Bescheidenheits- und Loyalitätsbezeigungen vorhanden, die nur Sinn ergeben, wenn sie aus Junius’ Feder stammen, zum Beispiel der Wunsch, der Leidener Universität „nach meinen geringfügigen Kräften“ („pro tenui facultate mea“) zu dienen,54 oder, dass er der Pfalz „alles Gute wünsche, so wahr mir Gott helfe“ („cui ut optime cupio, ita faciat Dominus optime“).55 Das gilt gleichermaßen für Beglaubigungen wie „ich gab dies zur Antwort, was mit der Wahrheit übereinstimmte“ („quod res erat respondi“),56 – Beglaubigungen, die nur für einen Autobiographen sinnvoll sind. Es liegt daher auf der Hand, dass Junius selbst den Schlussteil verfasst hat. Merula hat Junius also zweifellos von seinem Publikationsvorhaben unterrichtet. Er hat ihn gebeten, die fehlenden Teile der Autobiographie – die chronologische Erzählung für die Jahre 1573–1592 (Antritt der Leidener Professur), die Angaben bezüglich Ehe- und Familienstand sowie ein Werkverzeichnis – nachzuliefern. In Junius’ Text sind die letzteren Abschnitte in der Tat als Zusätze markiert, welche er auf die Bitte „einiger guten Leute“ hin verfasst hätte („Restat ut duo seorsim explicem, de coniugiis et de scriptis meis, quorum recensionem ex me aliquot boni petiverunt“).57 Wir dürfen davon ausgehen, dass sich hinter den „guten Leuten“ niemand anderer als Merula verbirgt. Indem Junius einwilligte und die Zusätze lieferte, stimmte er Merulas Absicht zu, den Text als Professoren(auto)biographie zu veröffentlichen. Übrigens war er nicht bereit, in das Publikationsvorhaben viel Energie zu investieren. Er war mit anderen Gegenständen beschäftigt und hatte weder Zeit noch Lust, eine detaillierte Selbstbiographie zu den Jahren 1573–1592 zu erstellen. Er beschränkte sich also auf das Nötigste. Er machte zu den fehlenden Jahren summarische Angaben im gerafften Stil eines Lebenslaufes und legte ein Schriftenverzeichnis bei. Dass er den Text nicht mehr genau redigierte, geht unter anderem aus der Tatsache hervor, dass er die für das Jahr 1594 nicht mehr stimmige Datierung des Digestenkommentar des Donellus, der „vor wenigen Jahren“ erschienen sei (1573), nicht adaptierte.
52 53 54 55 56 57
Vita, 66. Vita, 68. Vita, 67. Ebd. Ebd. Ebd.
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Offensichtlich hat er sich aber auch nicht gegen Merulas Behauptung, er publiziere den Text ohne Mitwissen des Autors, gewehrt. Wie ist dies zu verstehen? Dass Junius für die Publikation nicht selbst verantwortlich war, konnte ihm nur recht sein. Damit vermied er von vorneherein, dass man ihn der Ruhmredigkeit bezichtigen oder die Darstellung der „für das Vaterland“ wichtigen Ereignisse auf die Goldwaage legen würde. Vielleicht hat Junius sogar darauf bestanden, für die Ausgabe nicht selbst verantwortlich zu sein; es ist nicht auszuschließen, dass er Merula den Text nur unter dieser Bedingung überlassen hat. Die zweite Begründung, die Merula für sein ‚eigenmächtiges‘ Vorgehen gibt, weist in diese Richtung: „damit andererseits nicht, für den Fall, dass der Autor einer Publikation zugestimmt hätte, Neider dem hervorragenden Mann vorwerfen könnten, er hätte mit seiner Autobiographie seinem persönlichen Ruhm Vorschub leisten wollen“. Dieses Argument bezieht sich auf die vielfachen Schamschwellen, die sich – wie wir bereits mehrfach registrierten – der frühmodernen Autobiographik in den Weg stellten. Somit können wir festhalten, dass Junius’ Autobiographie anfänglich nicht als Professorenautobiographie konzipiert worden ist. Die akademische Laufbahn spielt in der Darstellung keine wesentliche Rolle und sie steuert auch nicht den autobiographischen Diskurs. Ein Schriftenverzeichnis war in der ursprünglichen Version nicht vorhanden. Es handelt sich dabei um einen – für eine Professorenbiographie obligatorischen – Zusatz des Jahres 1594. Weiter ist klar, dass sich die Affichierung der Schrift als Ehespiegel nicht mit ihrem tatsächlichen Inhalt deckt. 93 % der Erzählzeit behandeln überhaupt jene Periode, in der Junius noch ledig war (1542–1568). Über Junius’ Ehen finden sich nur kurze Bemerkungen in der Rubrik „Ehe- und Familienleben“,58 wobei es sich ebenfalls um einen Zusatz des Jahres 1594 handelt. Die Autobiographie wird in ihrem ursprünglichen Zustand von anderen Diskursregeln gesteuert.
58
Vita, 67–68. Zu Junius’ Ehen und Kindern vgl. Venemans, Franciscus Junius en zijn Eirenicum, 37–40.
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4. Diskontinuität der Werte. Statt römischer Triumph Triumph der Machtlosigkeit Wie die Titelseite ankündigt, liegt die Autobiographie eines erfolgreichen (des ersten Professors!) und gelehrten Mannes vor, der zudem adeliger Abkunft („nobilis“) ist. Die präzise Lesesteuerung, welche der Herausgeber Merula im Vorwort vornimmt, verstärkt den Eindruck des Erfolges: Junius hat beispielhaft gezeigt, auf welche Weise man das Amt des Prädikanten richtig, zielstrebig und gottgefällig ausübt. Er hat mit seiner Autobiographie einen grundlegenden Tugendspiegel vorgelegt, in seinem Leben die wesentlichen Tugenden in die Tat umgesetzt; eine „moralisch ernste Gesinnung“ („gravitas“), „Fleiß“ („sedulitas“), „Couragiertheit“ („fortitudo“), Gerechtigkeit („iustitia“) und Selbstbeherrschung („temperantia“). Auf diese Weise entsteht eine moralische Postur, die der eines römischen Staatsmannes, welcher von stoischen Prinzipien geleitet wird, ähnelt. Der römische Staatsmann besitzt „gravitas“, moralisches Gewicht, eine Eigenschaft, welche die Mitbürger zu ihm aufblicken lässt, und welche bewirkt, dass diese ihn als politischen Führer akzeptieren. Fleißig und couragiert verfolgt er seine Ziele, lässt sich durch nichts von ihnen abbringen. Aufgrund seines unbändigen persönlichen Einsatzes und seiner aktiven, problemlösungsorientierten Haltung erreicht er letzten Endes, was er sich vorgenommen hat. Tugend führt zu Erfolg. Diese diskursive Einordnung verstärkt Merula, indem er Junius’ Autobiographie in die Textgattung des antiken römischen politischen commentarius einreiht; jener Textgattung, der auch die Commentarii des Diktators Caesar mit den Aufzeichnungen der Erfolge des Gallischen Krieges angehören, welche in der Frühen Neuzeit mehrfach als Vorbild des autobiographischen Schreibens dienten, unter anderem für Papst Pius II.59 Nach Merula ist Junius’ Autobiographie ein „breve quoddam commentariolum“, „quod (Iunius) M. Aemilium Scaurum magnosque antiquioris aevi viros sequutus de sua vita scripsit“ („ein kurzer commentarius, welchen Junius in der Nachfolge des Marcus Aemilius Scaurus und anderer großer Männer der Antike über sein Leben geschrieben hat“). Marcus Aemilius Scaurus (* 163/162 v. Chr.) war in der Tat ein solcher erfolgreicher Staatsmann.60 Er bekleidete die höchsten Ämter im Römi59
60
Siehe oben Kap. XI, „Päpstliche Autobiographik: die Aufzeichnungen (Commentarii; bis 1464)“. Zu M. Aemilius Scaurus vgl. RE I (1894), Sp. 584,32–588,22 (s.v. „Aemilius“, Nr. 140); KP I, Sp. 93,50–94,9 (s.v. „Aemilius“, Nr. 28).
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schen Reich: Er war Praetor, Consul (115 v. Chr.), Censor und schließlich bis zu seinem Lebensende der „erste Senator“61 („princeps senatus“; wie Junius der „erste Professor“ der Leidener Universität war). Er zeichnete sich durch hervorragende militärische Leistungen aus, die ihm sogar einen Triumph, über die Ligurer und Gantisker, einbrachten. Der Triumph war überhaupt die höchste Auszeichnung, die einem römischen Staatsmann zuteil werden konnte. Außerdem war Scaurus einer der erfolgreichsten Prozessredner Roms.62 Cicero betrachtete ihn als einen jener republikanischen Helden, welche ihm und den Politikern seiner Zeit als Vorbild dienen sollten, ein wahrer „Vorkämpfer der Republik (des Staates)“ („propugnator rei publicae“):63 Aemilius Scaurus, der standhafte Senator, schlug alle Aufstände nieder: „Keine Gewaltanwendung, keine Drohungen, keine Abgunst brachte ihn je ins Wanken“ („quem nunquam ulla vis, ullae minae, ulla invidia labefecit“).64 Beseelt von Tugendhaftigkeit, verabschiedete er ein Gesetz gegen den Luxus („Lex Aemilia sumptuaria“). Er war fleißig („impiger“) und ehrgeizig („avidus potentiae, honoris“), wie sogar der ihm nicht wohlgesonnene Sallust zugeben musste.65 Beim Volke war er sehr angesehen.66 Sein Auftreten war würdevoll und selbstbewusst.67 Dabei hatte er alles aufgrund seiner persönlichen Leistung erreicht, nachdem sich weder sein Vater noch auch sein Großvater ausgezeichnet hatten.68 Zu Recht stolz auf seine herausragenden Leistungen, verfasste er einen Bericht über seine Taten, De vita sua libri tres.69 Wenn man an Junius’ Autobiographie mit der Lesererwartung von Scaurus’ Tatenbericht herangeht, entdeckt man überraschenderweise, dass zwischen der aktiven, selbstbewussten, tatenfreudigen und problemlösungsorientierten Haltung des römischen Politikers und jener des Mannes aus Bourges eine tiefe Kluft aufklafft. Junius zeichnet sein Leben vor allem als Aneinanderreihung elender, hoffnungsloser Situationen, in die er gerät, ohne dass er sich aus ihnen aus eigener Kraft befreien konnte. 61 62 63 64 65 66 67 68 69
RE I, Sp. 585, 4–15. Vgl. Cicero, Brutus 110–116. Cicero, Pro Sestio 101. Ebd. Sallust, Iugurtha 14,4. Cicero, Ad Atticum IV, 16,6. RE I, Sp. 587,8–9. RE I, Sp. 584,33–43. Die Fragmente dieses Werkes wurden von H. Peter, Historicorum Romanorum Reliquiae, Stuttgart 1967, 185–186, herausgegeben.
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Die Misere setzt gleich bei seiner Geburt ein: Die Mutter, die während der Schwangerschaft schwer erkrankte, brachte ein völlig entkräftetes, todkrankes Kind zur Welt („aegra matre aeger partus“).70 Man ging davon aus, dass es nicht am Leben bleiben werde und veranstaltete Hals über Kopf eine Nottaufe („Itaque statim ac tumultuarie de baptismo infantis […] moribundi actum“).71 Nachdem das Kind unerwartet am Leben blieb, fiel es schweren chronischen Krankheiten zum Opfer. Es litt an einem widerwärtigen, virulenten Hautausschlag, der von vielen, starken Juckreiz hervorrufenden Entzündungen gekennzeichnet war.72 Es gelang nicht, den Knaben von der ekelhaften Krankheit zu kurieren. Beim dritten Anfall verlor Junius sogar längere Zeit sein Gehör und Sehvermögen. Ratlosigkeit war die Folge. Als Junius wieder einmal einen Anfall bekam, trugen ihn die Mägde in die Kälte hinaus. Statt Erleichterung bewirkte diese Maßnahme einen Blutsturz am linken Bein, der sich abermals zu einem chronischen Leiden entwickelte. Junius bekommt ein Geschwür, das ein halbes Jahr nicht zuheilt. Monatelang verbringt der Knabe im Bett. Sein Leben ist von völliger Lustlosigkeit gekennzeichnet. Die Vergiftung des linken Beines bereitet ihm auch in der Folge ständig Schwierigkeiten. Junius spricht seiner Kränklichkeit eine programmatische Bedeutung in Bezug auf sein weiteres Leben zu: Sie habe sein Selbstvertrauen so gründlich unterminiert, dass er immer wieder der Verzweiflung nahe gewesen sei. Die Misere setzt sich in der Darstellung der Jugendzeit fort: Junius ist nunmehr seinen Lehrern hilflos ausgesetzt, wahren Henkersknechten, die sein Leben durch körperliche und geistige Misshandlungen zur Hölle machen: „Sieben bis achtmal pro Tag wurde mein Körper durch Peitschenhiebe aufgerissen“ („meum […] corpus conscindi flagris septies aut octies in dies singulos“), „mit Stöcken geschlagen“ („contundi baculis“), „auf die Art der Skythen nackt auf der Erde herumgeschleift“ („nudum in terra distrahi Scythico more“).73 Die Lehrer zwangen ihn, Missetaten, die er nicht begangen hatte, ja die er sich nicht einmal vorstellen konnte, zuzugeben; unter körperlicher Gewaltanwendung zwangen sie ihn zur Lüge. Dann musste er für die Missetaten, die er nicht begangen hatte, büßen. „Tag und Nacht“ war er der Willkür „dieser Henker“ ausgesetzt, Tag und Nacht war sein „armer Körper Spielball in den 70 71 72 73
Junius, Vita, 6. Ebd. Ebd., 7. Ebd., 14.
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Händen der Lehrer“ („miserum corpus meum fiebat ludus et pila homini“).74 Wichtig ist, dass sich Junius nicht aus eigener Kraft aus der misslichen Lage befreien konnte. Eine Möglichkeit wäre immerhin gewesen, den Eltern von den schweren Misshandlungen zu berichten. Junius unterlässt dies jedoch merkwürdigerweise.75 Am Scheideweg zum Erwachsenenalter verlagert sich die Misere aufs geistig-seelische Gebiet: Junius wird durch die Versuchungen des weiblichen Geschlechtes in die Enge getrieben.76 Prostituierte stellen dem jungen Mann um die Wette nach, setzen alles daran, ihn zu „verderben“. Dass diejenigen Leute, die ihn moralisch hätten unterstützen sollen, ihm zur Liebe rieten, machte die Sache nur noch schlimmer. Sie hielten ihm vor, dass er ohne Geschlechtsverkehr kein Mann von Welt werden könne. Abermals war Junius argen Gewaltanwendungen ausgesetzt, deren er sich nicht erwehren konnte, in der Gestalt eines schlauen, teuflischen Versuchers, der ihm das schleichende Gift des Atheismus („venenum serpens quod imbiberam“) einflößte. Junius beschreibt den hilflosen und entmachteten Zustand, in den er gerät: Vom Gift paralysiert fällt er in eine Art geistigen Dämmerschlaf („eo deferebar, ut meus animus in isto malo haerens occalesceret“).77 Körperliche Vergewaltigungen werden von seelischen abgelöst. Wie Dämonen begleiten die atheistischen Verwünschungen Junius bis in die Privatgemächer, schwirren in seinem Zimmer herum, dringen mit unaufhaltsamer Gewalt in seine Ohren. Von der geistigen fällt er in die materielle Misere. Seine Studienzeit in Genf steht im Zeichen der Armut.78 Sie überfällt Junius, ohne dass er sich dagegen wappnen konnte. Durch den Französischen Religionskrieg brach die Verbindung zum Elternhaus ab, wodurch seine Geldquelle versiegte. Im Oktober wurde es eiskalt in der Schweiz, während er sich keine passende Kleidung kaufen konnte. Er hatte nur mehr 17 Genueser Soldi, die er zur Beschaffung der notwendigsten Nahrung verwenden musste. Wichtig ist wiederum, dass Junius sich nicht aus eigener Kraft aus der misslichen Lage zu befreien vermochte: Er schämte sich, Bekannte um ein Darlehen zu ersuchen. Er betont die Misere des Schamgefühls, das den Edelmann erfüllte, als er den Verpflichtungen seines 74 75 76 77 78
Ebd. Ebd., 15. Ebd., 17–18. Ebd., 19. Ebd., 28 ff.
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Standes nicht mehr nachkommen konnte. Fast wäre Junius an Kälte und Auszehrung gestorben. In letzter Minute wird der Kontakt mit dem Elternhaus wiederhergestellt, der zu Junius’ Verzweiflung jedoch mit sich bringt, dass ihm der Vater die Fortsetzung des Theologiestudiums verbietet. Eine aussichtslose Lage! Als ihn der Vater kategorisch nach Hause beordert, scheint alles gelaufen zu sein. Junius muss das Studium, das er sich so sehr gewünscht hat, abbrechen. Er ist nicht imstande, seinen Willen durchzusetzen. Auf der textuellen Achterbahn der Gewalterfahrungen stürzt Junius erneut in die Tiefe. Den freien Fall vermag merkwürdigerweise nur eine neue Vergewaltigung abzuwenden. Der Vater wird ihm plötzlich entrissen, indem er von den Religionsfeinden in Issodun ermordet wird. Junius kann sein Theologiestudium zwar nunmehr fortsetzen, aber nur, weil er den Vater verloren hat. Der Aufenthalt in den südlichen Niederlanden steht gleich bei der Ankunft im Zeichen weiterer Gewaltanwendungen. Mit der Feststellung „Sobald ich in Antwerpen eintraf, empfingen mich die schlimmsten und verschiedenartigsten Mühseligkeiten“ leitet Junius diesen Lebensabschnitt ein.79 Er konstituiert sich als Objekt, das der Willkür der Obrigkeit ausgeliefert ist. Er wird das Opfer einer tragischen Verwechslung: Man hielt ihn für einen Spion.80 Junius spinnt die miseria-Konstituierung weiter, indem er den Fremdenhass hervorhebt, dem er ausgesetzt war. Mit dem Ausbruch des Aufstandes wird er gegen seinen Willen in die politischen Ereignisse verwickelt. Der Autor hebt die Verfolgungen hervor, denen er ausgesetzt war. Vor uns steht ein Mensch, der ständig auf der Flucht ist und jede Sekunde um sein Leben bangen muss. Junius’ „commentariolus“ ist somit etwas grundsätzlich anderes als der Tatenbericht eines römischen Politikers. Im Gegensatz zu der die commentarii de vita sua bestimmenden Grundhaltung vermag Junius aus eigener Kraft überhaupt nichts. Eigentlich werden hier gar keine Taten vermittelt. Vielmehr geht es um Ereignisse, die der Autobiograph erleidet, ohne auf sie Einfluss nehmen zu können. Seine Tugend (virtus) ist keine aktive, die ins Geschehen gestaltend eingreift. Sie scheint vielmehr darin zu bestehen, dass sie dasselbe erduldet. Wie ist dieses Erleiden und Erdulden zu verstehen? Handelt es sich vielleicht, wie bei Ovid, um eine Mitleidsrede, mit welcher der Autor er79 80
Ebd., 40. Ebd., 41–42.
Statt römischer Triumph Triumph der Machtlosigkeit
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reichen wollte, dass der Leser dazu beiträgt, ihn aus der misslichen Lage zu befreien? Das ist nicht der Fall. Die Stelle, an der Junius von der Verführung durch den heimtückischen Atheisten berichtet, liefert den Schlüssel: „Du hast dich meiner erinnert, Herr mein Gott, an deinen Diener, und hast mich, der ich im Begriff war, durch meine Missetat elend zugrunde zu gehen, gnädig errettet in deinem Erbarmen“ („Recordatus es, Domine meus, mi, servi tui, et pereuntem misere facto meo servasti gratiose misericordia tua“).81 Wenn ein Autobiograph sich als Person konstituiert, der Gottes Gnade zuteil geworden ist, hat er nicht die Absicht, das Mitleid seiner Leser zu erwecken. Er ist bereits errettet worden, und zwar von Gott. Der Beanspruchung der Gnade wohnt etwas Tröstliches, ja Triumphierendes inne. Der Beanspruchung des eigenen Lebens als Misere liegt eine theologische Konzeption zugrunde: Der Mensch vermag aus eigener Kraft nichts. Er ist von Gottes Vorsehung und seinem tätigen Eingreifen in der Welt völlig abhängig. Es ist die Hauptaufgabe des Autobiographen, diese Tatsache zu erkennen und hervorzuheben. In diesem Sinn lässt sich verstehen, weshalb Junius seine Kindheit und frühe Jugend ausführlich darstellt: Es handelt sich um jenen Lebensabschnitt, in dem man kaum Kontrolle über sein Leben hat, nicht befugt ist, selbst Entscheidungen zu treffen. In der Kindheit zeigt sich die Machtlosigkeit des Menschen in besonderem Maße: Schon durch die autobiographische Themenwahl arbeitet Junius auf sein theologisches Darstellungsziel hin. Junius ging jedoch weiter. Wir erinnern uns an die eingangs zitierte Textstelle, in der er seine Verklemmtheit und seine Unfähigkeit, das Wort zu ergreifen, beschreibt. Was auf den ersten Blick wie eine scharf getroffene Selbstpsychologisierung aussieht, erweist sich bei näherer Analyse als Beleg der theologischen Konzeption, als Beweis, dass der Mensch nicht imstande sei, sein Leben selbst zu bestimmen. Die ‚Charaktereigenschaft‘ führt geradewegs in den Diskurs der theologischen Pädagogik.
81
Ebd., 19.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
5. Die Prädestination der Erwählten: Autobiographie als Theologie Mit seiner zwischen 1575 und 1578 entstandenen Autobiographie verfasste Junius eine Erbauungsschrift, mit der er seine Glaubensbrüder, die „Rechtgläubigen“ („omnes pii“)82, d. h. die Kalvinisten, insbesondere wohl die hugenottischen Flüchtlinge und Kalvinisten in der Pfalz und am Niederrhein, in ihrem Glauben bestärken wollte. Sie sollten durch verinnerlichte Lektüre die richtige moralisch-spirituelle Lebenshaltung, den Glauben an die Prädestinationslehre Calvins – und damit an ihr Überleben – einüben. Die Ehre des souveränen Gottes und der Glaube an die Vorherbestimmung zum Heil sind Grundgedanken der Theologie Calvins.83 Damit hatte der Genfer Reformator einem radikalen theologischen Diskurs die Bahn geebnet. Durch die Prädestination bestimmt Gott „die einen zum Heil, die anderen zum Verderben“, verkündete Calvin in seiner systematischen Darstellung der Lehre, im dritten Buch der Institutiones Christianae Religionis:84 Gott, der keineswegs die Absicht hegt, alle Menschen zu erretten, wählt dazu gewisse Individuen aus. In seiner Auswahl verfährt er völlig autonom und willkürlich. Er berücksichtigt keine menschlichen Verdienste, Eigenschaften oder Haltungen. Das Erwählt-Sein kann man sich nicht erwerben oder erhandeln. Den Erwählten („electi“) lässt Gott seine Barmherzigkeit („misericordia“) angedeihen, die übrigen schickt er grausam in den Untergang. Die Erwählten besitzen keine Macht, sich dem Erwählt-Sein zu entziehen, vermögen Gottes Souveränität in keiner Weise zu beeinträchtigen. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Gläubigen dieses tiefste aller Geheimnisse erkennen; dass sie verstehen, dass ihr Heil von nichts anderem als Gottes Erwählung und Prädestination abhängt, welche sie unverdient empfangen. Junius hat sich die Prädestinationslehre Calvins zur Zeit seines Studiums in Genf (1562–1565) angeeignet. Er teilt in seiner Autobiographie mit, dass es vier Werke waren, mit denen er sich damals intensiv auseinandersetzte: 1. die Bibel; 2. Calvins Institutiones; 3. Beza’s kalvinistisches Glaubensbekenntnis (Confessio); 4. die Grammatik des Hebräi82 83
84
Ebd., 1. E. Iserloh, Geschichte und Theologie der Reformation im Grundriß, Paderborn 1985 (3. Aufl.), 144–145. Calvin, Institutiones Christianae Religionis III, 21 („De electione aeterna, qua Deus alios ad salutem, alios ad interitum praedestinavit“); weiter Kap. III, 22–24.
Prädestination: Autobiographie als Theologie
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schen.85 Calvins Instituitiones spielten die zentrale Rolle: Von ihr führten die Wege zu den anderen Büchern hin und zu ihr führte die Lektüre dieser Bücher wieder zurück. Es war eine meditative, stark verinnerlichende Lektüre, mit der sich Junius die Institutiones zu eigen machte. Er fertigte sogar zwei verschiedene Exzerpte der Institutiones an. Er wollte sich ihren Inhalt so einprägen, dass er ihn immerfort abrufen konnte. Beza’s Confessio verwendete er als einen weiteren Index („velut indicem“) zu Calvins Institutiones. Mit diesem Verinnerlichungsprozess hatte Junius solche Fortschritte gemacht, dass er seine Exzerptbücher in der Folge verschenkte (der kalvinistische Prädikant Michael Schwarz war der Begünstigte).86 Nun ist gerade die Prädestinationslehre, das vielleicht tiefste Geheimnis des kalvinistischen Glaubens, nicht leicht zu verstehen, da sich ihm die menschliche Ratio hartnäckig widersetzt. Calvin selbst war sich der Schwierigkeiten bewusst: „hic magnae et arduae protinus emergunt quaestiones […]“.87 Wenn man sich das Geheimnis aneignen will, bedarf es daher in besonderem Masse der Einübung und Verinnerlichung. Hier setzt Junius’ Religionspädagogik an. Die Wirkung der Prädestination soll anhand eines Beispiels demonstriert werden. Das beste Beispiel hierfür ist das eigene Leben, da es sowohl für den Leser leicht erkennbar ist als bei der Darstellung einen optimalen Informationsstand gewährleistet. Der Autobiograph kennt nicht nur die äußeren Ereignisse, sondern auch das jeweilige innere Bewusstsein. Aus der Kombination beider kann er die Wirkungen von Gottes Vorsehung am klarsten ablesen und nachzeichnen. Autobiographie wird auf diese Weise zur Theologie. Der Autobiograph vermag dem Leser begriffsnah ‚vor Augen zu führen‘, wie das zugeht, wenn Gott ein Individuum erwählt hat. Er kann ihm klar machen, dass missliche äußerliche Ereignisse keinen Beweis gegen die Erwählung oder gegen Gottes Wirkungskraft darstellen; dass sich Gottes Kraft gerade im tiefsten Elend erweist; dass die Hoffnung des Individuums, sich aus eigener Kraft zu befreien, eitel und hinfällig ist; dass Gottes Eingreifen manchmal lange auf sich warten lässt, letzten Endes aber bestimmt kommt; dass es oft gerade dann kommt, wenn man es am wenigsten erwartet; dass, wenn die Ereignisse auch paradox erscheinen, sie von Gottes Prädestination her dennoch stets sinnvoll und folgerichtig sind. Wenn man die politischen und religiösen Wirren jener Zeit berück85 86 87
Junius, Vita, 29; vgl. de Jonge, De irenische ecclesiologie van Franciscus Junius, 49. Junius, Vita, 29. Calvin, Institutiones Christianae Religionis, Kap. III, 21.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
sichtigt, die Unsicherheiten, die gravierenden Umschwünge, die täglich auftreten konnten, so versteht man, dass die spirituelle Haltung, die hier eingeübt werden sollte, geradezu eine Grundlage des Überlebens abgab. Ausgangspunkt ist, dass sich der Gläubige vergegenwärtigt, dass er einer der von Gott Erwählten ist. Junius vollzog diesen Akt in der Autobiographie, indem er in Bezug auf die schwierige Lage, in die er in seiner Jugend geschlittert war, behauptet: „dem anderen Übel erlag ich völlig, und ich siechte dahin, bis sich JENER HIMMLISCHE VATER meiner erbarmte, DER MICH VON ALLEM ANFANG AN GEMÄSS DEM GNÄDIGEN BESCHLUSS SEINES WILLENS IN CHRISTUS ERWÄHLT HAT“ („ILLE CAELESTIS PATER, QUI ME ELEGIT IN CHRISTO AB AETERNO SECUNDUM BENEPLACITUM VOLUNTATIS SUAE“).88 Dasselbe soll für den Leser gelten. Junius geht davon aus, dass sich die Leserschaft seiner Autobiographie aus Erwählten („electi“) zusammensetzt. Im Diskursrahmen der kalvinistischen Erbauungspädagogik funktioniert die autobiographische Erzählung als exemplarischer Beleg für Gottes Ehre, Größe, Allmacht sowie die universale Gültigkeit seiner Prädestination. Die Autobiographie versteht sich als Lobpreis Gottes, Verherrlichung des Herrn, Verkündung von Gottes Triumph. Diese laudative Diskursorientierung kündigt Junius im ersten Satz des Werkes programmatisch an: „Von den Erbarmungstaten Gottes des Herren will ich berichten, indem ich Rechenschaft ablege von meinem elenden Leben, AUF DASS DER HERR, der mich erschaffen hat, IN MIR VERHERRLICHT WERDE“ („Miserationes Domini narrabo, quum rationes narrabo miserae vitae meae, UT GLORIFICETUR DOMINUS IN ME, qui fecit me“).89 Bereits aus diesem Ansatz lässt sich ersehen, dass Autobiographie bei Junius immer zugleich Theographie ist: „Von mir rede ich, mein Gott, vor dir, JA VIELMEHR VON DIR REDE ICH, HERR, der Du in mir wirksam bist, und ich will die Wahrheit („veritatem“) verkünden, die Du mit deiner einzigartigen Führung („singulari gubernatione“) in meiner Person klar darlegen wolltest („voluisti explicatam“)“.90 88 89 90
Junius, Vita, 19. Ebd., 1. Ebd.
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Die Wahrheit, die der Autobiograph verkünden will, ist die Wahrheit von Gottes Prädestination, gezeigt am Leben des Individuums Junius. Junius’ theologische Historiographie auf Individualebene ist die Geschichte eines Triumphes. Gott triumphiert, indem er den von ihm Erwählten auf spirituellem Gebiet aus dem Dunkel des Unglaubens zum Licht der Wahrheit, und auf dem Gebiet der materiellen Wirklichkeit aus den düsteren Gefahren des Religionskonfliktes und Aufstandes zur strahlenden Ausübung des Seelsorgeamtes in einer kalvinistischen Gemeinde hinführt. Das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen wird durch das unausgesetzte Erbarmen Gottes gegenüber dem Erwählten gekennzeichnet. Daraus ergibt sich das oben gezeigte grundlegende Diskursregulativ, demzufolge sich Junius bei seiner Materialselektion und Interpretation stets bemüht, negative und hoffnungslos erscheinende Aspekte seines Lebens hervorzukehren. Junius will zeigen: Er hat es nicht aus eigener Kraft geschafft; was hier ablief, überstieg seine Kräfte. Junius führt die Misere jeweils dramatischen Höhepunkten zu, welche zunächst die Ausweglosigkeit der Situation zementieren. Dann erfolgt stets das Eingreifen Gottes, der den Erwählten „rettet“. Diese Diskursivität sei anhand zweier Beispiele verdeutlicht. Wir erwähnten bereits die „Vergiftung“ durch den Atheismus. Durch seinen Leichtsinn und aus eigener Schuld – „aufgrund meiner Missetat“ („facto meo“) – ging Junius einem Fremden auf den Leim. Daraufhin hängt er wie die betäubte Beute einer Spinne im Netz. Das Beutetier vermag gerade noch zu fühlen, dass es gelähmt wird, sich jedoch nicht mehr loszureißen. Die Inaktivität und Schwäche des Individuums Junius zeigt sich an dem paralyseähnlichen Dämmerzustand, in den er gefallen ist: Als ich ihm allmählich zustimmte, fühlte ich, wie das schleichende Gift, das ich getrunken hatte, sich in mir ausbreitete. Die Autorität des Menschen und der Scharfsinn seiner Worte brachten mich in Windeseile dahin, dass mein Geist, der in diesem Übel verharrte, sich verdunkelte und zur Gänze gefühllos wurde. Da hast du dich, Gott mein Herr, deines Dieners erinnert und mich, der ich im Begriff war, aufgrund meiner Missetat elend zugrunde zu gehen, gnädig errettet in deinem Erbarmen.91
Als zweites Beispiel möge die Beschreibung der Hugenottenverfolgung in Bourges dienen, bei der Junius’ Lehrer Aneau ermordet wurde. Die Ausweglosigkeit wird hier interessanterweise direkt verbildlicht: Junius schildert, wie die wütenden Katholiken das Gebäude, in dem er sich befindet, umzingeln. Er sitzt in der Falle, es scheint nur eine Frage der Zeit, 91
Ebd., 19.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
dass er getötet werden würde. Junius rennt im Text in panischer Angst von der Vorder- zur Hintertüre und wieder zurück (dreimal).92 Er hat nicht die geringste Idee, wie er entkommen soll. Er ist auch viel zu aufgeregt, um ruhig nachzudenken oder sich einen sinnvollen Fluchtplan zurechtzulegen. Da errettet ihn Gott durch die augenscheinlich einem Selbstmordversuch gleichkommende Aktion, einfach zur Vordertür hinauszugehen, ganz unverhofft, auf wundersame Weise. Das paradoxe, irrationale, ohnmächtige Handeln des Menschen ist hier von entscheidender Bedeutung. Er tut etwas, das rational betrachtet sinnwidrig ist. Deshalb ist der hermeneutische Hagiograph Cuno zu der irrigen Ansicht gelangt, dass Junius durch die Hintertür entkommen sei, wie es ja auf der Hand gelegen hätte.93 Junius entkam jedoch durch die Vordertür. Er unterstreicht damit das menschliche Versagen, um die Wirkungsmacht von Gottes Prädestination umso deutlicher zu demonstrieren. Auch Lutheraner schrieben der Autobiographik die Funktion von Erbauungstexten zu. Ähnlich wie der Kalvinist Junius wollten sie mit dem autobiographischen Bericht Gott verherrlichen und einen Beleg seiner Größe liefern. Einer der meistgelesenen volkssprachigen autobiographischen Texte der Frühen Neuzeit, Hans Stadens Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Menschenfressern Leuthen […], war diesem Darstellungsziel gewidmet.94 Staden schildert, wie er auf seiner zweiten Reise nach Brasilien (1549–1555) den menschenfressenden Tupinamba in die Hände fiel. Während seiner langen Gefangenschaft wurde er gemästet, um rituell verspeist zu werden, und schwebte fast neun Monate ständig in akuter Lebensgefahr. Staden stellt dem Leser in dem Bericht immer wieder die Grausamkeit der Menschenfresser und die Hoffnungslosigkeit seiner Lage in bildkräftiger Sprache vor Augen.95 Die Darstellung der extremen Notlage dient der religiösen Erbauung: Der Leser soll von Gottes Größe überzeugt werden, und dabei die heilsame Wirkung des Fideismus, des unbedingten Vertrauens auf Gottes Güte und Barmherzigkeit, erkennen. 92 93
94 95
Ebd., 20. Cuno, Franciscus Junius, 8: „Junius rettete sich vor den Verfolgern durch eine Hinterthüre“. Wie der Text, Vita, 20, klar zeigt, entkam Junius jedoch durch die Vordertür („antica porta“), nicht durch die Hintertür („postica porta“). Erstausgabe Marburg 1557; Faksimiledruck Frankfurt a. Main 1927. Vgl. W. Neuber, „Duitse reizigers in de Nieuwe Wereld“, in: K. A. E. Enenkel, P. A. W. van Heck, B. Westerweel (Hrsg.), Reizen en Reizigers in de Renaissance, Amsterdam 1998, (152–170), 159–164; W. Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont: zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991.
Prädestination: Autobiographie als Theologie
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Allerdings gibt es einen feinen Unterschied. Bei Hans Staden vermag auch der Mensch etwas zu seiner Rettung beizutragen, und zwar sowohl im spirituellen als auch im materiellen Bereich. Im spirituellen durch den Fideismus: Die tiefe Glaubensüberzeugung schafft eine Art Voraussetzung, von Gott belohnt zu werden. Weiter verträgt sich Gottes Eingreifen mit der Eigeninitiative des Individuums: Die List, die sich Staden ausdenkt, um die Indios davon abzuhalten, ihn zu schlachten – er vermag sie zu überzeugen, dass er besondere Bande mit der Mondgottheit hat96 – hilft ihm zu überleben und schließlich die Flucht zu ergreifen. Junius lässt für eine solche Eigeninitiative des Individuums keinen Platz. Er inszeniert Gottes Größe, indem er sein eigenes Versagen beweiskräftig und detailliert darlegt. Die Erläuterung der Prädestinationslehre war ein Hauptanliegen der kalvinistischen Theologie in den Dezennien von 1560–1580. Calvins Nachfolger als Professor für Theologie an der Universität Genf (1564), Theodor Beza, setzte dies ins Zentrum seiner Bemühungen. Beza, der die zweifache Prädestination lehrte, versuchte, sie zu erklären, indem er die Vorhersehung als „Dekrete“ („decreta“, also gewissermaßen als amtliche und rechtsgültige Beschlüsse) formulierte und zwischen diesen und der gesamten Heilsgeschichte einen lückenlosen, rational nachvollziehbaren Kausalzusammenhang herstellte.97 Er bekämpfte auf diese Weise die rationalen Einwände gegen die Prädestinationslehre durch rationale Widerlegungen im Rahmen einer reformierten Neuscholastik. Junius war mit Bezas Auseinandersetzung mit der Prädestination gut vertraut, nicht zuletzt, da er bei ihm in den nämlichen Jahren in Genf studiert hatte. Weiter hat Junius Bezas Schriften eine wichtige Rolle als Lesesteuerung von Calvins Werk zugeschrieben: Junius gab an, dass er Bezas Confessio wie einen Index zu Calvins Institutiones verwendete.98 Nachdem Junius in die Pfalz ausgewichen war, befand er sich wiederum in einem intellektuellen Milieu, in welchem die Erklärung der Prädestinationslehre im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Dort wirkte der Theologe Zacharias Ursinus (1534–1583), der für den Heidelberger Katechismus mitverantwortlich war. Obwohl ursprünglich Lutheraner, vertrat er in Sachen Prädestination den Standpunkt Calvins.99 In 96 97 98 99
Warhaftige Historia, Kapitel 35. Vgl. de Jonge, De irenische ecclesiologie van Franciscus Junius, 43. Junius, Vita, 29. Vgl. de Jonge, De irenische ecclesiologie van Franciscus Junius, 45.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
den Heidelberger Katechismus war die Prädestinationslehre ebenfalls aufgenommen worden.100 Hieronymus Zanchius, der seit 1568 Professor für Theologie an der Universität Heidelberg war, knüpfte in seiner Erklärung der Prädestinationslehre bei den Ausführungen Bezas an. Das Werk, in dem er die Prädestination als Struktur der Heilsgeschichte analysierte, De natura Dei (Heidelberg, 1577), entstand wohlgemerkt in derselben Periode wie Junius’ Autobiographie. Für den Theologen Junius war die Prädestinationslehre ein wichtiges Thema, mit dem er sich mehrfach auseinandersetzte.101 Er zeigt sich darin als ein radikaler Nachfolger Calvins und Bezas. Wie Beza lehrt er die doppelte Prädestination, d. h. sowohl die Erwählung der Gottessöhne („electio“) als auch die Verdammung der Nicht-Erwählten („reprobatio“).102 Für die Verdammung verwendet Junius sogar wörtlich den Begriff „Vor-Verdammung“ („praedamnatio“).103 Wie Beza definiert Junius die Prädestination als juristisch gültiges Dekret, gewissermaßen als Adoptionsurkunde, mit der Gott die Aufnahme seiner Söhne bestätigte („quo […] statuit [sc. Deus] gratiam adoptionis in filios“).104 Junius autorisiert die Prädestinationslehre mit den Kirchenvätern, z. B. Augustin,105 und der Bibel. Wie Calvin betrachtete er als den Sinn der Prädestination die „Darstellung der Ehre Gottes“.106 Der Mensch vermag durch sein Verhalten keinen wie immer gearteten Einfluss auf Gottes Haltung 100
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L. L. J. Visser, „Die Lehre von Gottes Vorsehung und Weltregiment“, in: L. Coenen (Hrsg.), Handbuch zum Heidelberger Katechismus, Neuenkirchen-Vluyn 1963, 105–112; L. Coenen, „Gottes Bund und Erwählung“, in: ebd., 128–134. Vgl. u. a. Franciscus Junius, Theses theologicae, „De aeterna Dei praedestinatione“, in: Ders., Opuscula theologica selecta (hrsg. von A. Kuyper, Amsterdam 1882), 132–138; „De divina praedestinatione“, ebd., 138–140; „De providentia Dei“, ebd., 157–160; „De peccato originali“, ebd., 166–167; „De peccato originali“, ebd., 168–170; „De libero arbitrio“, ebd., 170–179; „De providentia Dei“, ebd., 322–324; „De libero homines arbitrio, ante et post lapsus“, ebd., 324–327. Z.B. in den Abhandlungen „De aeterna Dei praedestinatione“ und „De divina praedestinatione“. In „De aeterna Dei praedestinatione“ handelt der mittlere Teil von der Erwählung (Opuscula theologica selecta, 134–137, Art. 19–48), der Schlussteil von der Verdammung („reprobatio“; ebd., 137–138, Art. 49–55); in „De divina praedestinatione“ der erste Abschnitt von der Erwählung (ebd., 138–140, Art. 3–8), der zweite Abschnitt von der Verdammung („reprobatio“; ebd., 140, Art. 9–10). „De aeterna Dei praedestinatione“, in: Opuscula theologica selecta, 138, Art. 55. Ebd., 132, Art. 4 und passim. In „De aeterna Dei praedestinatione“ verweist er auf Augustin, De civitate Dei XV, 1 (ebd., 132, Art. 2). „De aeterna Dei praedestinatione“, in: Opuscula theologica selecta, 133, Art. 7: „[causa] finalis, Dei gloriae illustratio“.
Prädestination: Autobiographie als Theologie
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zu ihm auszuüben. Die „adoptio in filios“ ist ,gratis‘ und hängt nicht von guten Werken ab.107 Auch die Erbsünde spielt diesbezüglich keine Rolle.108 Die Anzahl der Erwählten ist relativ gering („pauci“); die Mehrheit der Menschen ist „vor-verdammt“.109 Dass Junius der Darlegung der Prädestination eine kardinale Rolle in der Glaubensvermittlung zuschrieb und diese mit seiner Autobiographie illustrierte, wird somit gegen den Hintergrund sowohl des intellektuellen Milieus, in dem er operierte, als auch seines theologischen Schrifttums noch klarer verständlich. Die Tatsache, dass er die autobiographische Demonstration der Prädestination in lateinischer Sprache verfasste, bedeutet übrigens nicht, dass er damit nur die Bildungselite der Gelehrten hätte erreichen wollen. Er ging wahrscheinlich davon aus, dass seine Prädikanten-Kollegen und andere Lateinkundige das Prädestinationsexempel Junius dem ungebildeten Volk vermitteln würden. Auf diese Weise verfuhr er jedenfalls 1593, als er sich in Leiden erneut mit der Prädestination auseinandersetzte. Er schickte die lateinische Abhandlung „De praedestinatione et electione“ den in der Pfalz wirkenden Theologen Daniel Tossanus und Jacobus Kimedoncius sowie dem Pfarrer Winand Zonsius mit der ausdrücklichen Bitte, die Schrift einem breiteren Publikum zu vermitteln. Er erklärte: „diese Lehre darf nicht nur von gelehrten Leuten diskutiert, sondern muß auch den Gemeinden in der Predigt vermittelt werden, denn sie hat eine heilsame, fruchtbare und tröstliche Wirkung, weil sie uns einprägt, in wahrer Demut unser Heil allein Gott zuzuschreiben und alles zu tragen, was er uns schickt“.110 Dieselbe Auffassung verkündet Junius in der theologischen Abhandlung „De aeterna Dei praedestinatione“ (Artikel 56): „Die Lehre von der doppelten Prädestination, von der Erwählung und der Verdammung, […] soll man nicht nur den Gelehrten vorlegen, sondern auch dem Volk in Predigten vermitteln, und zwar indem man die Quellen der Lehre, die aus der Heiligen Schrift stammen, erläutert“ („Doctrina de electione et reprobatione […] non solum doctis proponenda, sed et populo etiam in concionibus, cum explicatione ex ipsis Sacrae Scripturae fontibus desumpta“).111 Dieses Vorgehen legitimiert Junius mit dem Hinweis auf Christus und die Apostel. Christus habe die Prädestinationslehre dem 107 108 109 110 111
Ebd., 136, Art. 40: „gratis et sine operibus“. Ebd., 133, Art. 12 ff. Ebd., 135, Art. 25. Benrath, „Franciscus Junius“ (2000), 26. Junius, Opuscula theologica selecta, 138, Art. 56.
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Autobiographie als kalvinistische Erbauungsschrift: Junius
Volk gepredigt;112 ähnlich hätten die Apostel ihre Sendbriefe (in welchen sie u. a. die Prädestinationslehre verkündeten) nicht nur für die Gelehrten, sondern für die gesamte Gemeinde bestimmt. Die Predigt der Prädestinationslehre ist gerade deswegen erforderlich, weil sie dem menschlichen Begriffsvermögen schwer zugänglich ist.
6. Einschreibung in eine Bekehrungsgeschichte: Junius’ Vita und Augustins Confessiones Der Mensch soll Zeugnis ablegen von Gottes Größe und Barmherzigkeit: Diese literarische und zugleich religiöse Tat, das Zeugnis-Ablegen, ist für Junius’ Autobiographie von großer Bedeutung. Dem Wort für ‚Zeugnis-Ablegen‘, ‚testari‘, begegnen wir nicht zufällig sofort in den ersten Zeilen des Werkes, in der programmatischen Einleitung („ut testatam faciam fidem et veritatem tuam“).113 In dieser ihrer strukturellen Verfasstheit geht Junius’ Erbauungsautobiographie auf Augustins Confessiones (Bekenntnisse) zurück.114 In seinem religionspädagogischen Werk lieferte Augustin, indem er Gottes Wirkung auf seinen Lebensweg aufzeigte, einen exemplarischen Beleg für Gottes Größe und Güte. Das Hauptthema der Confessiones bildet, wie schon im Kapitel über Giovanni Conversino da Ravenna dargelegt worden war, Augustins schwieriger und verschlungener Lebensweg, der ihn schließlich zum Christentum hinführte.115 Wie Augustin inszenierte Junius seine Bekehrung als Höheund Wendepunkt der Autobiographie. Man würde schwerlich das Richtige treffen, wenn man Junius’ Bekehrungsbericht einfach als authentische Wiedergabe der Wirklichkeit auffasste, wie dies z. B. Cuno und Benrath getan haben. Benrath attestiert die in der Autobiographie geschilderte Bekehrung als Tatsache: „Aus 112 113 114
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Evang. Joh. 6.43; 45. Junius, Vita, 1. Dass ein Zusammenhang mit Augustin vorliegt, ist bereits von anderen festgestellt worden, jedoch nur auf ungenaue Weise. Z. B. Benrath, „Franciscus Junius“ (2000), 3, sagt, dass Junius in seiner Autobiographie „seine religiöse ‚Sinnesart‘“ „in gewisser Anlehnung an Augustins Confessiones beschreibt“. Cuno, Franciscus Junius, passim, hat Junius’ Bekehrungsgeschichte als authentischen autobiographischen Bericht ausgewertet, ohne die Intertextualität mit Augustin in seine Interpretation mit einzubeziehen. Vgl. oben Kap. VI. 4, „Ein religiöses Erbauungsbuch? Conversino und Augustins Confessiones“.
Junius’ Vita und Augustins Confessiones
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den nagenden Zweifeln am christlichen Gottesglauben, die in Lyon durch die Lektüre der Schriften Ciceros und durch epikureische Gedanken und Versuchungen in dem Heranwachsenden geweckt worden waren, führte ihn zu Hause sein frommer Vater behutsam heraus und auf den Boden der Heiligen Schrift […]“.116 Ebenso Cuno: „Der unvorbereitet überfallene Jüngling suchte zwar mit Gegengründen zu kommen, aber in seiner Verwirrung kam er ins Schwanken und fiel allmählich dem Atheisten zu. Nur zu bald fühlte er das Gift in seiner verheerenden Wirkung an sich. Überall, bei Tische wie im Freien, tönten nun solche ruchlose Lehrsätze, für welche er vordem kein Organ hatte, an sein Ohr, dass er schliesslich für alles Ideale abgestumpft war und in seinem Inneren sich als eine Sandwüste fühlte“.117 Nach Cuno und Benrath befinden wir uns in einer schönen, tiefen, schaudergebietenden und vor allem naiv vorgetragenen Wirklichkeit. Jedoch liegt hier eine komplexe und vielgliedrige Intertextualität mit Augustins Werk vor, die zuerst geortet und als literarisches Konstrukt analysiert werden muss, wenn man Junius’ Selbstkonstituierung richtig verstehen will. Auch die steuernde Wirkung des theologischen Diskurses, insbesondere des Prädestinationsbeweises, muss mit einbezogen werden. Augustin hat in den Confessiones seiner eigentlichen Bekehrung ein ganzes Buch gewidmet (VIII). Ein hervorstechender Zug seiner Darstellung ist, dass sie die Bekehrung nicht als einmaliges Ereignis beschreibt, sondern in einzelne Phasen und Schritte zergliedert. Es liegen mindestens sieben Phasen/Schritte vor: 1. Augustins Besuch bei dem Weisen Simplicianus. Auswirkung: gesteigerter religiöser Eifer. 2. Zwischenphase: Augustin geht seinen gewohnten Tätigkeiten nach, besucht jedoch häufiger die Kirche. Nebenher vertieft er seine Freundschaft mit Alypius und Nebridius. 3. Augustin erhält Besuch von dem Christen Ponticianus. Auswirkung: Erschütterung, geistige Verwirrung. 4. Augustin zieht sich mit dem Freund Alypius in den Mailänder Garten zurück. Auswirkung: Zerknirschung, Willenszwiespalt. 5. Augustin erhält die Eingebung, alleine sein zu wollen. Der Freund bleibt zurück. Auswirkung: Gefühlsausbruch, heftiger Tränenfluss.
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Benrath, „Franciscus Junius“ (2000), 5. Cuno, Franciscus Junius, 8.
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6. Auftreten eines göttlichen Winks. Von irgendwo her tönt eine Kinderstimme „Tolle lege“ („Nimm und lies/lies auf“). Erkenntnis, dass Gott aus dem Mund des Kindes einen Befehl erteilt. 7. Aufschlagen der Bibel aufs Geratewohl. Auswirkung: Erleuchtung, Bekehrung. Weiter lässt sich erkennen, dass Augustin die einzelnen Phasen und Schritte der Bekehrung narrativ miteinander eng verbindet. Er beschreibt die Bekehrung wesentlich als Prozess. Diesen Aspekt verstärkt er, indem er für die einzelnen Bekehrungsschritte jeweils zwei Bewusstseinsebenen einführt: Augustin, das Objekt der Darstellung, dem die Ereignisse widerfahren, befindet sich auf einer anderen Bewusstseinsebene als der Autobiograph Augustin. Das Objekt der Darstellung Augustin versteht den Sinn der Bekehrungsschritte nicht, während der Autobiograph Augustin die ‚verborgenen‘ Absichten der Einzelereignisse erkannt hat. Hierbei spielt die Konzeption des Zufalls eine wichtige Rolle. Z.B. erhält Augustin zufällig Besuch von einem Fremden (Ponticianus). Das Darstellungsobjekt Augustin wird vom Zufall überfallen; es ist ihm unklar, was das Geschehen zu bedeuten hat. Der Autobiograph Augustin hat jedoch verstanden, dass Gott damit den Bekehrungsprozess vorantreiben wollte; dass Gott beabsichtigte, durch das Gespräch mit dem Fremden einen inneren Aufruhr zu verursachen, um Augustin für die weiteren Bekehrungsschritte empfänglich zu machen. Was dem Objekt der Autobiographie als Zufall erscheint, ist von der Warte des bekehrten Autobiographen aus betrachtet planvolles Geschehen. Reziprok funktioniert die Verstehensfigur des ‚Instruments‘. Der Autobiograph versteht, dass sich Gott gewisser Instrumente (Menschen, Ereignisse) bedient, um seine Absichten in die Tat umzusetzen, dem Darstellungsobjekt geht dieses Verständnis ab. Augustin geht es dabei nicht darum, die historischen Tatsachen möglichst genau festzulegen. Vielmehr hat das Spiel mit den zwei Bewusstseinsebenen den protreptischen, religionspädagogischen Zweck, den Leser in den Bekehrungsprozess hineinzuziehen und zu bewirken, dass dieser ihn innerlich nachvollzieht, bei der Lektüre sozusagen miterlebt. Die Bekehrung soll als geheimnisvoller, mysteriöser Akt rezipiert werden. Die Lektüre soll dazu beitragen, dass der Leser ebenfalls bekehrt wird. Sie soll ihn lehren, Geheimnisse in äußerliche Ereignisse ‚hineinzulesen‘, um zu bewirken, dass er sich dem Willen des großen Unergründlichen allseits öffnet. Junius hat sich mit seiner Autobiographie in den Bekehrungsdiskurs Augustins hineingeschrieben. Er gliederte seine Bekehrung in einzelne
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Phasen und Schritte, genauso, wie es der Text Augustins vorgab, wobei er sogar einzelne inhaltliche Elemente, die aus Augustins Bekehrungsgeschichte stammen, mit übernahm. Die erste Phase stellt bei Augustin der Besuch bei einem gläubigen Weisen (Simplicianus) dar (VIII, 2, 3). Simplicianus führt Augustin, der damals noch ein Anhänger Platons war, die Geschichte des Platonikers Victorinus vor Augen, der sich zum Christentum bekehrte. Der Weise spornte Augustin vor allem zur Demut an, der notwendigen geistig-seelischen Prädisposition zu einer Bekehrung. Von da her ist zu verstehen, dass Junius ebenfalls einem spirituell hochstehenden Menschen einen Besuch abstattete, der dasselbe in ihm bewirkte. Statt eines Gelehrten wählte Junius für diesen Zweck jedoch einen einfachen Bauern. Diese Anpassung ist durchaus sinnvoll: Es ging ja wesentlich um Demut! Diese kann ein einfacher Christ vielleicht besser vermitteln als ein Philosoph, der als solcher immer von Hochmut bedroht ist. Auch eignet sich der Bauer noch besser, das Geheimnis, Gottes verborgenen Plan, zu demonstrieren: Junius kannte ihn nämlich gar nicht, im Gegensatz zu Augustin, der jedenfalls einen Bekannten besuchte. Junius kehrte jedoch bei einem Wildfremden aufs Geratewohl ein. Dieser empfing ihn, als ob ein guter Freund zu Besuch gekommen wäre. Erstaunlicherweise befragte er Junius in Bezug auf seine religiösen Probleme ebenso intensiv und eindringlich wie Simplicianus den Augustin. Damit wird bei Junius ein gleichläufiges Zwischenresultat verbucht: „Sic effecit Deus admirabiliter, ut bonus rusticus sanctissimum zelum, quem habebat, operante Domino, mihi quasi instillaret“.118 Der Besuch bei dem unbekannten Bauern zeigt, dass Junius sein Vorbild Augustin in Bezug auf die Einbringung von Zufällen übertroffen hat: Er vermeldete eine größere Anzahl, erklärt detaillierter, in welcher Hinsicht es sich um Zufälle handelte und konstruiert wiederholt eine wahre Verkettung von Zufällen. Zum Beispiel war es – von Gottes Plan aus betrachtet – eine erste Voraussetzung der Bekehrung, dass Junius aus der atheistischen Umgebung, Lyon, entfernt wurde. Dies war jedoch nicht ohne weiteres möglich, da Junius dort seine feste Bleibe im Haus des Humanisten Aneau hatte, von dem er unterrichtet wurde. Also setzte Gott abermals ein ‚zufälliges‘, freilich sehr krasses Ereignis als Instrument ein: Aneau musste verschwinden. Gottes Instrument sind paradoxerweise die Katholiken, die den Humanisten ermorden.119 Der ‚Zufall‘ 118 119
Junius, Vita, 22. Ebd., 20.
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bewirkt, dass Junius aus Lyon flüchten muss. Dass er unterwegs zu dem Bauern gelangt, beruht auf einem weiteren ‚Zufall‘: nämlich dass die Bekannten, bei denen sich Junius verstecken wollte, unvorhersehbarerweise gerade verreist waren.120 Nach der vorbereitenden Phase, in der die seelisch-geistige Grundhaltung der Demut erzeugt wird, soll eine ruhigere Zwischenphase eintreten, in der der Seelenzustand konsolidiert wird. Im erzähltechnischen Bereich stellt sich diese Phase als narrative Retardation dar. Augustin erzeugt sie durch eine exkursartige Schilderung seiner Freundschaft mit Nebridius und Alypius; Junius durch eine Rückblende, in der er von einem Gespräch berichtet, das der Vater vor einigen Monaten auf der Reise nach Paris geführt hat.121 Zu dieser Phase gehört weiter ein gesteigertes Interesse an religiösen Dingen. Augustin verzeichnet mehrere Kirchenbesuche, Junius das Beiwohnen einer protestantischen Predigt, auf die er übrigens wiederum ‚zufällig‘ gestoßen sein will.122 Auch in dieser Phase hat Junius das Zufallselement im Vergleich zu Augustin verstärkt. Um die Hürden des Verstandes zu beseitigen, benutzt Gott Junius’ Vater als Instrument. Dem liegt ein weiterer ‚Zufall‘ zugrunde. Der nichtsvermutende Vater musste zufällig dahinterkommen, dass sein Sohn atheistische Gedanken hegte. Als Amtmann verfrachtete er einige Gefangene nach Paris. Er kam mit den Gefangenen ins Gespräch. Dabei stellte sich heraus, dass einer der Gefangenen Freunde des Sohnes kannte. Im zufällig sich entspinnenden Gespräch erwähnt der Gefangene, dass diese Leute Atheisten seien.123 Die Geschichte erweckt den Argwohn des Vaters. Bei einem Zusammentreffen verwickelt er den Sohn in eine Diskussion und bringt ihn dazu, seinen Atheismus zuzugeben. Daraufhin ergreift der Vater behutsam Gegenmaßnahmen: Einerseits gelingt es ihm, die atheistische Überzeugung des Sohnes abzuschwächen; andererseits legt er, gleichsam achtlos, auf seinem Arbeitspult eine Bibel bereit. Von Augustin hat Junius gelernt, dass die Bekehrung im Privatbereich, an einem zurückgezogenen Ort stattfinden soll. So ist zu verstehen, dass auch er sich an einen solchen zurückzieht, in seinem Fall in
120 121 122 123
Ebd., 21. Ebd., 22–23. Ebd., 24. Ebd., 22–23.
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das Lesezimmer des Vaters im Elternhaus in Bourges.124 Am einsamen Ort ist das Individuum imstande, sich dem inneren Kampf ohne Ablenkung hinzugeben. Dieser äußert sich in heftigen Gefühlsausbrüchen. Augustin beschreibt seine Zerknirschung am einsamen Ort, die zu einem Weinkrampf führte: Jetzt aber, da die grabende Selbstschau aus den verborgenen Tiefen mein ganzes Elend ans Licht meines Herzens gebracht hatte, da erhob sich in meinem Inneren ein Sturm und trieb einen gewaltigen Regenguss von Tränen heran. Um ihn ganz und mit lauter Stimme hervorbrechen zu lassen, entfernte ich mich von Alypius – denn der einsame Ort erschien mir dazu geeigneter – und zog mich so weit zurück, dass mich die Anwesenheit des Freundes nicht mehr beschwerte. So war mein Zustand, und er begriff ihn. Denn ich hatte wohl auch einiges gesagt – ich weiß nicht mehr, was – und der Ton meiner Stimme verriet die aufsteigenden Tränen. […] Ich aber warf mich, ich weiß nicht, wie es kam, unter einem Feigenbaum zur Erde, und ließ den Tränen freien Lauf. Sie flossen in Strömen aus meinen Augen […] und nicht mit denselben Worten, aber dem Sinne nach sprach ich zu Dir: „Ach Herr, wie lange noch, wie lange noch willst du mir zürnen? Gedenke nicht meiner früheren Missetaten!“ […] So sprach ich und weinte in der erbittertsten Zerknirschung meines Herzens.125
Junius wird ebenfalls ein Gefühlsausbruch zuteil. Die Lektüre des Neuen Testamentes emotionalisierte ihn heftig („commoveor“); er bekam Gänsehaut und fiel in einen stundenlangen Erstarrungszustand: „Horrebat corpus, stupebat animus et totum illum diem sic afficiebar, ut qui essem, ipse mihi incertus viderer esse“.126 Weiter soll es ein ganz spezifisches Zufallselement sein, das die eigentliche Bekehrung durchsetzt: das Aufschlagen des neuen Testamentes aufs Geratewohl. Augustin schlägt die Bibel im Garten des Mailänder Mietshauses auf: Da hörte ich aus dem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens im Singsang wiederholen: „Nimm es, lies es! Nimm es, lies es!“ […]. Ich wusste keine andere Deutung, als dass mir Gott befehle, das Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die ich zuerst träfe. Also ging ich eilends wieder an den Platz, wo Alypius saß, denn dort hatte ich den Kodex mit den Werken des Apostels hingelegt, als ich aufgestanden war. Ich ergriff den Kodex, schlug ihn auf und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel: „Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen […]“. Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter zu lesen war auch nicht nötig. Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewissheit wie ein Licht ins kummervolle Herz und alle Nacht des Zweifels verschwand.
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Ebd. Augustin, Confessiones VIII, 12, 28. Junius, Vita, 25.
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Et ecce audio vocem de vicina domo cum cantu dicentis et crebro repetentis quasi pueri an puellae, nescio: „Tolle, lege. Tolle, lege“. […] nihil aliud interpretans divinitus mihi iuberi, nisi ut aperirem codicem et legerem, quod primum caput invenissem. […] Itaque concitus redii in eum locum, ubi sedebat Alypius: ibi enim posueram codicem apostoli, cum inde surrexeram. Arripui, aperui et legi in silentio capitulum, quo primum coniecti sunt oculi mei: „non in comisationibus et ebrietatibus […]“. Nec ultra volui legere nec opus erat. Statim quippe cum fine huiusce sententiae quasi luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerant.127
Junius schlägt die Bibel im Arbeitszimmer des Vaters auf: Ich stieß unversehens auf das Neue Testament, in dem der Vater häufig las […]. Da schlug ich also jenes Neue Testament, das von göttlicher Hand gereicht wurde, auf: Mir, der ich mit ganz anderem beschäftigt war, bietet sich auf den ersten Blick das berühmte, erhabene Kapitel des Apostels Johannes an: „Am Anfang war das Wort […]“. Ich lese einen Teil des Kapitels und werde beim Lesen so ergriffen, dass ich plötzlich die Göttlichkeit des Inhalts und die Erhabenheit und Autorität des Schriftwortes erkenne. In novum Testamentum imprudens incido, quod pater legebat frequens […]. Hic ergo novum illud Testamentum divinitus oblatum aperio: aliud agenti exhibet se mihi aspectu primo augustissimum illud caput Ioannis Evangelistae et Apostoli: „In principio erat Verbum etc.“. Lego partem capitis et ita commoveor legens, ut repente divinitatem argumenti et scripti maiestatem auctoritatemque senserim […].128
Somit lässt sich klar ersehen, dass die Bekehrungsgeschichte kein spontaner, naiver Bericht ist, sondern in einem komplizierten, feinmaschigen intertextuellen Beziehungsgewebe konstruiert wird. Junius vollzieht darin Schritt für Schritt, Masche für Masche, die Bekehrung Augustins nach, wie dieser es sich übrigens von seinem idealen Leser erhofft hätte. Während Junius die Geschichte seiner Bekehrung schildert, schreibt er sich als neuer Augustin in die Herzen seiner Leser, der rechtgläubigen Kalvinisten. Durch die Bekehrungsgeschichte legitimiert er sich ultimativ als Prädikant und als Autor eines wirksamen Erbauungsbuches. Aufgrund dieser Sachlage ist zu erwarten, dass sich die Selbstkonstituierung im Bekehrungsdiskurs der Confessiones auch auf andere Teile von Junius’ Lebensbericht auswirkt. Merkwürdig ist z. B. die Art, in der Junius seinen Studienaufenthalt in Lyon schildert. Lyon zeichnet er als eine Stadt der Sünde, der Unzucht, der Prostitution („ut maxima est illius urbis et incredibilis plane licen127 128
Confessiones VIII, 12, 29. Junius, Vita, 24–25.
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tia“).129 Er wäre den ständigen Ansuchen der Prostituierten ausgesetzt gewesen, ja hätte sich ihrer kaum erwehren können. Das wäre dadurch verschlimmert worden, dass ihn Bekannte unter Druck setzten, jetzt endlich zur Tat zu schreiten und seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Ein Hermeneutiker könnte den Text als authentischen Lebensbericht und als zeitgenössische Schilderung der Sitten des damaligen Lyon interpretieren. Der hermeneutische Hagiograph Cuno ist in der Tat auf diese Weise verfahren: „Lyon war damals eine Stadt, wo zwar eine Bekennergemeinde evangelischen Glaubens im Verborgenen bestand, aber bei den Einwohnern eine große Zügellosigkeit herrschte (sic! ), von der auch einzelne Mitglieder jener wohl angesteckt waren. Denn gerade diejenigen, welchen Junius von seinem Vater anvertraut worden, versuchten denselben durch einige leichtsinnige Weiber und Mädchen zu Fall zu bringen. Es ist empörend zu hören, wie besonders ein blasierter Bekannter unseres Junius demselben täglich ohne alle Scham vorschwätzte, er würde als ungebildet in der Gesellschaft erscheinen, wenn er nicht mit Liebschaften sich abgäbe“.130 Gegen eine solche Interpretation spricht jedoch die schlichte Tatsache, dass Junius damals erst dreizehn (!) Jahre alt war. Das ist nicht das Alter, das den Erwartungsdruck erzeugt, dass man sich mit Liebschaften abgeben müsse. Dem seltsamen ‚Bericht‘ liegt die Tatsache zugrunde, dass sich Junius mit seiner Autobiographie in Augustins Confessiones hineinschrieb. Es ist nämlich Augustin, der die Periode seines Studiums (in Carthago, 370–373 n. Chr.) ins Zeichen der Unzucht, der libido, der Liebschaften und des Fleisches setzte. Der programmatische erste Satz, mit dem Augustin die Darstellung seiner Studienperiode einleitet, ist diesem Thema gewidmet: „Veni Carthaginem, et circumstrepebat me undique sartago flagitiosorum amorum. Nondum amabam et amare amabam […]“ („Ich kam nach Karthago und ein kochender Kessel schändlicher Liebschaften umbrodelte mich von allen Seiten. Ich hatte die Liebe noch nicht betrieben und ich fing an die Liebe zu lieben […]“).131 Freilich hatte Augustin mehr Grund, diesen Gegenstand in seiner autobiographischen Erbauungsschrift anzusprechen: Augustin war damals bereits siebzehn, also im Alter der sexuellen Reife. In der Tat 129 130 131
Ebd., 17–18. Cuno, Franciscus Junius, 7. Confessiones III, 1. Man beachte das prächtige lautmalerische Wortspiel „sartago“ („Kessel“) – „Karthago“. Karthago ist für Augustin, wie der Name schon sagt, ein „kochender Kessel“.
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fing Augustin damals sofort mit Liebschaften an: Mit siebzehn hatte er eine feste Freundin, mit achtzehn war er bereits Vater geworden. Das Söhnchen erhielt den Namen Adeodatus („Gottesgeschenk“).132 Junius hatte in dieser Beziehung jedoch nichts aufzuweisen. In Wirklichkeit gab es kein Problem. Er hatte keine Freundin und keinen Sex. Auch war sein Lehrer Aneau nicht der sittenlose Kerl, der den Knaben den Mädchen sozusagen in den Schoß geworfen hätte, als welchen ihn Cuno hinstellt („Leider hatte Annulus [sic ]133 nicht in gleicher Weise ein Verständnis für die sittlichen Gefahren, denen das Jünglingsalter in diesen Jahren durch Verführung von Aussen […] ausgesetzt ist“).134 In Wirklichkeit war Aneau ein ausgesprochener Frauenhasser,135 der seinen Schülern den Umgang mit dem anderen Geschlecht streng verbot, besonders vom Geschlechtsverkehr explizit abriet, u. a. in seinem pädagogischen Emblembuch (zuerst 1552 erschienen).136 Z. B. weist sein Emblem S. 88 (Danaiden-Mythos) folgende Moral auf, die sich seine Schüler einprägen sollten: Das perfide Geschlecht der Danaos-Töchter tötete in der Nacht Im Beischlaf ihre Ehemänner. […] Die Hure ist ein löchriges Gefäß, mit klaffenden Ritzen, Überall läuft die Flüssigkeit aus, also ist ihr Inhalt gleich Null. Bedenke weiter, dass das unersättliche Gefäß, die stets offen Klaffende Scheide, niemals ausgefüllt werden kann. […] Wenn also eine Frau eine unersättliche Wollust hat, Tötet sie den Mann im nächtlichen Geschlechtsverkehr, Wie die Erzählung zeigt. In coitu occidit proprios de nocte maritos, Natarum Danai perfida progenies […]. Pertusum meretrix vas est rimisque fathiscens. Perfluit hac illac: continet ergo nihil.
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Vgl. Flasch, Augustin, 242. Die richtige lateinische Form für den Namen „Aneau“ ist „Anulus“, nicht „Annulus“. Cuno, Franciscus Junius, 7. Vgl. A. Saunders, „The Influence of Ovid on a Sixteenth-Century Emblem Book: Bartélemy Aneau’s Imagination Poetique“, in: Nottingham French Studies 16 (1977), 15. Vgl. K. A. E. Enenkel „Ovid-Emblematik als Scherenschnitt und Montage: Aneaus Picta Poesis in Reusners Picta Poesis Ovidiana“, in: M. van Vaeck, H. Brems, G. H. M. Claassens (Hrsg.), The Stone of Alciato. Literature and Visual Culture in the Low Countries. Essays in Honor of Karel Porteman, Turnhout 2003, 729–749.
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Adde, quod expleri vas insatiabile, vulva, Semper hians nequeat […]. Ergo virum in coitu nocturno, ut fabula signat, Si qua libidinis est insatiata, necat.
Expliziter kann man schwerlich von Liebschaften und Geschlechtsverkehr abraten. Es ist eine handgreifliche Apotreptik, die die Schüler mit aller Gewalt aufklärt und ihnen das Weibliche höchst unappetitlich darstellt. Nach Aneaus Instruktionen wird sich der Schüler hüten, sich mit einer Prostituierten einzulassen, besonders, da ja der Geschlechtsverkehr – wie ihm Aneau drohend vorhersagt – mit dem Tod bestraft wird. In Junius’ literarischem Lyon lag jedoch der Geschlechtsverkehr auf der Lauer, weil er sein Lyon als Augustins Carthago konstituiert. Gleiches gilt mutatis mutandis für die Ungläubigkeit, den seltsamen Atheismus, dem der Student Junius in Lyon zum Opfer gefallen sein will. De Jonge hat zu Recht Zweifel an der Authentizität dieses Atheismus-Bekenntnisses angemeldet.137 Denn auch damit schreibt sich Junius in Augustins Confessiones. Junius will zum Atheismus gelangt sein, indem er Ciceros philosophische Werke (bsd. De legibus) las:138 Es war freilich Augustin, der in Karthago zur rücksichtlosen Wahrheitssuche der griechischen Philosophen gelangte, indem er Ciceros protreptischen Philosophietraktat Hortensius („exhortatio ad philosophiam“) entdeckte.139 Auch Augustin fällt dadurch in die Nacht des Unglaubens,140 da ihn diese Lektüre den Manichäern in die Hände treibt. Wie reimt sich Junius’ autobiographischer Prädestinationsbeweis mit Augustins Bekenntnisbuch? Augustins Confessiones erfüllen eine ähnliche Aufgabe wie Junius’ Erbauungsbuch. Augustin schrieb seine Confessiones (396–398 n. Chr.) bezeichnenderweise, kurz nachdem er seine neue, radikale Gnaden- und Erbsündelehre141 entworfen hatte. Diese besagte, dass der Mensch von sich aus böse, die Erbsünde bindend ist; dass sich der Mensch aufgrund seines Willens nicht von der Erbsünde befreien kann sowie, dass die Gnade ausschließlich von Gottes Willen abhängt. Der Mensch vermag von sich aus nichts. Er kann nur durch die reine, unabhängige, unergründliche Barmherzigkeit Gottes errettet wer-
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Ch. de Jonge, De irenische ecclesiologie van Franciscus Junius, 6. Junius, Vita, 18–19. Augustin, Confessiones III, 4, 7. Ebd., III, 11, 20: „Nam novem ferme anni secuti sunt, quibus ego in illo ‚limo profundi‘ (Ps. 68,3) ac tenebris falsitatis […] volutatus sum“. Vgl. dazu Flasch, Augustin, 201–226.
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den. In den Confessiones demonstriert Augustin die Gnadenlehre am Beispiel seines eigenen Lebens. Er zeigt exemplarisch, dass der freie Wille nur zur Sünde taugt, dass nur die unverdiente Gnade den Menschen zu befreien vermag.142 Die Confessiones beschreiben die Rückkehr der Seele zu Gott durch die Prädestination sowie die Erwählung vor aller Zeit. Das Lob Gottes steht im Vordergrund. Entscheidend ist dabei der Verzicht auf jegliche Selbstrechtfertigung des Menschen. Gerade daraus wird das höchste Lob Gottes hergestellt, dass er seine Auserwählten sogar gegen und durch deren Fehlentscheidungen heimführt.
7. Junius’ narrative Textorganisation: zeitdeckendes Erzählen als Meditationshilfe zur Einübung der Prädestinationslehre Der moderne Leser wird kaum überrascht sein, wenn er in einem autobiographischen Text zeitdeckendem Erzählen begegnet. In der neulateinischen Autobiographik bildet dies jedoch ein eher seltenes Wagnis, das Autoren nur unter bestimmten Umständen auf sich nehmen. Das liegt zum Teil daran, dass sich dem zeitdeckenden Erzählen schwer überwindliche Hemmschwellen in den Weg stellten. Einen so breiten Erzählraum in Anspruch zu nehmen, konnte leicht als Akt der Anmaßung erfahren werden, und lief stets Gefahr, den Akzeptanzbogen der Leserschaft zu überspannen sowie die Grenzen des literarischen und sozialen Dekorums zu überschreiten. Junius’ Autobiographie sticht jedoch gerade durch ihre beherzte Zuwendung zum zeitdeckenden Erzählen hervor. Hier meldet sich ein Autor zu Wort, der (abgesehen von den wenigen Seiten des späteren Zusatzes) stets einen entsprechenden Zeit/Raum für seine Autobiographie beansprucht, und zwar, obgleich der gesamte Text keine exorbitante Länge aufweist. Diesen Zeit/Raum sichert er sich, indem er sein Leben in einzelne Szenen aufgliedert. Sie werden jeweils mittels eines Mise-enscène eingeleitet: durch Beschreibung der Lokalität, des Zeitpunkts, der anwesenden Personen oder der Begleitumstände. In der szenischen Ausgestaltung baut Junius jeweils sorgfältig und geschickt einen Spannungsbogen auf, der sich mehrere Male in einem dramatischen Knalleffekt entlädt. Dabei wendet Junius öfters die Strategie 142
Ebd., 255 („Der theoretische Gehalt der Bekenntnisse“).
Zeitdeckendes Erzählen als Meditationshilfe
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an, das Endresultat von Ereignissen in einer kurzen Aussage vorwegzunehmen und dem Leser ein Rätsel bezüglich des Hergangs aufzugeben. Er kalkuliert mit großem narrativen Geschick mit der Ungeduld des Lesers, indem er entweder ausführlich einleitet oder Information zurückbehält, sowie Verzögerungselemente (z. B. Rückblenden) einschaltet. Einige Male gestaltet er den Höhepunkt einer Szene als dramatische Peripetie: Ein Ereignis entwickelt sich in eine unerwartete, gegenteilige Richtung. Ganz wichtig ist die Wiedergabe visuell oder auditiv wahrnehmbarer Einzelheiten, die Evidenz erzeugen: Die Ereignisse sollen dem Leser ‚vor Augen stehen‘, es soll ihm vorkommen, als ob er selbst an ihnen teilnimmt. Besonders an den Höhepunkten erscheint im Text jeweils etwas, das wie ein Bild vor den Augen des Lesers auftaucht oder sich in seinem Ohr festsetzt (direkte oder indirekte Rede). Junius schaltet an diesen Stellen gewissermaßen den Ton ein: Wir hören, was sich zuträgt. Als Beispiel für diese narrative Organisation möge die Szene mit der Ermordung Aneaus dienen.143 Junius redet vom Atheismus und beschreibt dessen schreckliche Auswirkungen. Sodann nimmt er das Resultat eines Ereignisses, das dem Leser noch unbekannt ist, vorweg: „Diesem furchtbaren Abgrund des Verderbens entriss mich Gott aber auf wunderbare Weise, nachdem ich mehr als ein Jahr in diesen verdorbensten Genüssen geschwelgt hatte“ („Ex isto autem immani perditionis barathro mirifice me eripuit Deus, postquam amplius annum his perditissimis luxuriassem deliciis“).144 Der Leser will natürlich wissen, wie es dazu kam. Die Spannung wird durch Junius’ Ankündigung, dass dies „auf wundersame Weise“ („mirifice“) vor sich gegangen sein soll, weiter erhöht. Nachdem er nachdrücklich das Interesse des Lesers geweckt hat, entwirft Junius ein Mise-en-scène: Denn als es in Lyon bei der Kirche des Heiligen Nicasius, an dem Festtag, den sie Fronleichnamstag oder Sakramentstag nennen, zu einem Aufruhr und in der Folge zu einem blutigen Gemetzel kam an verschiedenen Stellen im gegenüberliegenden Teil der Stadt, der sich zwischen den Flüssen der Rhône und der Saône befindet, fing die vor Wut außer sich geratene Menge an, einzelne Leute aus ihren Häusern zu schleppen und das Haus selbst, in dem ich mich damals aufhielt, von allen Seiten her zu umzingeln, aufgewiegelt von den Worten eines Heiligmachers145, der die Hostie getragen hatte […].
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Junius, Vita, 19–21. Ebd., 19. Junius verwendet für „Priester“ die abschätzige Bezeichnung „sacrificulus“, etwa „Heiligmacher“, weil Junius als Protestanten besonders die sakramentenspendende Funktion der katholischen Priester ein Dorn im Auge war.
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Nam quum excitato Lugduni tumultu ad S. Nicasii, die festo (ut146 vocant) Corporis Domini sive Sacramenti, strages passim atque promiscue147 in altera148 urbis parte, quae inter fluenta149 Rhodani Ararisque sita150 est, ederentur, coepit furibunda plebs hos illos etiam domo rapere et domum ipsam, in qua tum agebam, circumsidere arctissime, commota sacrificuli popanophorou verbis […].151
Wir erfahren, an welchem Ort (in Lyon; bei der Kirche des Hl. Nicasius; im Stadtteil zwischen den Flüssen Rhône und Saône; im Haus, in welchem sich Junius aufhält), zu welchem Zeitpunkt (am Fronleichnamsfest) und unter welchen Umständen (aufgewiegelte, wütende Menge) die Ereignisse stattfanden. Das Mise-en-scène bewirkt zunächst, dass der Leser dem Ereignis, das in Kürze geschildert werden wird, eine besondere Bedeutung zumisst. Man vergleiche hierzu die Topothesie der Landschaft um San Cipriano, mit der Sannazaro seine Autobiographie einleitet.152 Wie bei Sannazaro (Tal in einer gebirgigen Gegend) gestaltet sich auch bei Junius die Erwartung, auf welches Ereignis die Ortsschilderung hinauslaufen werde, zunächst ungenau: Hat es inhaltlich irgendetwas mit dem Fronleichnamsfest zu tun? Dadurch erhöht Junius die Spannung. Die nächstfolgende Mitteilung scheint die Frage zu beantworten: Es ist zu einem Gemetzel gekommen. Dazu wird dieses lokalisiert (im anderen Teil der Stadt). Jedoch ist noch stets kein klarer Zusammenhang ersichtlich. Was hat das Gemetzel mit dem Fronleichnamsfest zu tun? Was das Gemetzel mit Junius’ Atheismus? Da die Zusammenhänge rätselhaft sind, rezipiert der Leser das Gemetzel als proleptische Einstimmung. Die Mitteilung vermittelt ihm eine düstere Vorahnung: Könnte das Ereignis, das da kommen wird, eine Bluttat sein? Das Mise-en-scène strebt progressiv der Visualisierung zu: Der Leser sieht, wie einzelne Leute aus ihren Häusern gezerrt werden; er sieht den Priester, der die Hostie hält. Interessant ist, dass Junius bei seinem textuellen Mise-en-scène wie ein Cineast vorgeht, der in der Kameraführung von einer überblicksmäßigen Großaufnahme (Lyon; Stadtteil) auf ein Detailbild fokussiert. Das Detailbild zeigt den Ort des Ereignisses im engeren Sinn: das Haus, in dem Junius sich aufhält. Darauf lenkt Junius 146 147 148 149 150 151 152
Richtig in der Erstausgabe 1595; fehlt in der Ausgabe Kuypers (S. 16). In der Ausgabe Kuypers, ebd., steht zu Unrecht „promiscua“. In der Ausgabe Kuypers, ebd., steht zu Unrecht „alter“. In der Ausgabe Kuypers, ebd., steht zu Unrecht „interfluenta“. In der Ausgabe Kuypers, ebd., steht zu Unrecht „Ararissita“. Junius, Vita, 19–20. Vgl. oben Kap. XVIII. 3, „Die Verlandschaftung der Autobiographie 1: Topothesie, Ekphrasis“.
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die Aufmerksamkeit des Lesers. Dieser verbindet die Information mit der düsteren Vorahnung, die ihm im Vorhergehenden vermittelt wurde. Dieser Effekt wird durch die Mitteilung verstärkt, dass eine wütende Menge das Haus umzingelte. Da der Leser das umzingelte Haus vor Augen hat, will er dringend wissen, wie es weiter ging. Statt dem Ereignis selbst wendet sich Junius nun jedoch seiner Vorgeschichte zu: „Er (der Heiligmacher; Anm.) behauptete nämlich fälschlich, aus diesem Haus sei ein Mann gekommen, der ihm Gewalt angetan und das Ziborium zerbrochen hätte“. Junius wendet hier das erzähltechnische Stilmittel der Retardation an: Er geht ausführlich darauf ein, weshalb die Aussage des Priesters unrichtig sei. Die Verzögerung beendet er unvermittelt mit einem knalleffektartigen Resümee: „Diese Lüge kam Vielen teuer zu stehen: Aneau und einigen anderen nahm man das Leben; es fehlte nicht viel, und der Pöbel hätte auch Aneaus Frau in die Saône geworfen, wenn nicht der Reiterpräfekt […] Johannes Catharinus dazwischengekommen wäre“.153 Das vermeintliche Resümee erweist sich jedoch als weitere Vorwegnahme: Junius kehrt nun zum Ausgangspunkt zurück, dem Bild des umzingelten Hauses: „Unser Haus war von Bewaffneten umzingelt, wie im Krieg“ („Domus nostra armatis circumclusa et pressa, tamquam in hostico“).154 Es kommt zu einem erneuten Höhepunkt, der von Ton (indirekter Rede) und Bild zugleich gekennzeichnet wird: Von der Mauer herabschauend schleuderte mir ein Müller Drohungen entgegen. Er kenne mich, sagte er, und er drohte mir, ich werde seinen Händen nicht entkommen. Er stand oben auf der Mauer und versuchte, ob er seine Lanze nicht als Stütze verwenden könne, um in den Hof herabzuspringen. Er war in solcher Wut gegen mich entbrannt, dass er es nicht erwarten konnte, dass man ihm eine Leiter brachte. Prospectans quidam e muro molitor minatur mihi: me a se notum praedicat. Non effugiturum e suis manibus pronunciat. De summo pariete, cui instabat, contatur hasta, utrum commode in aream cum hastae suae fulmento insilire posset: ita exarsat in me, ut expectare non posset dum ad se apportarentur scalae.155
Der Leser sieht das äußerst bedrohliche Bild des auf der Mauer stehenden Müllers vor Augen. Die Spannung nähert sich dem Höhepunkt: Das Unabwendbare, der Mordanschlag auf Junius, scheint bevorzustehen. Junius bringt seine besinnungslose Angst durch das panische Hin153 154 155
Junius, Vita, 20. Ebd. Ebd.
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und Herrennen von der Vorder- zur Hintertüre zum Ausdruck. Da kommt es plötzlich zu einer peripetieähnlichen Auflösung: Gegen alle Logik verlässt Junius das Haus durch die Vordertüre und entkommt. Der Leser hat nun durch die zeitdeckende, szenische Erzählweise eine Episode aus Junius’ Leben sozusagen miterlebt. Das Ereignis selbst hat vielleicht zehn Minuten gedauert. Die Textlektüre erfordert ebenfalls lediglich einige Minuten. Welche Absicht verfolgt diese Darstellungsweise? Die narrative Inszenierung besticht den modernen Leser zunächst wohl durch ihren literarischen Reiz. Für Junius war dieser jedoch kein Selbstzweck. Vielmehr ging es ihm um die religionspädagogische Wirkung, die sich damit erzielen ließ. Das Werk sollte dem Leser die Richtigkeit der – rational schwer nachvollziehbaren – kalvinistischen Prädestinationslehre vermitteln. In diesem Sinn ist zu verstehen, dass Junius szenische Evidenz einsetzte: Was man mit Augen und Ohren wahrnehmen kann, dem schenkt man Glauben. Da die Evidenz emotionalisiert, vermag sie den Zugang zur Seele und zum Gefühlsleben des Lesers zu eröffnen. Dadurch schafft es Junius, dass der Leser die religiöse Botschaft in sein Gefühlsleben aufnimmt, sie verinnerlicht. Dies hat zugleich einen memorativen Sinn: Die Tatsache, dass die Nachricht ins Gefühlsleben eingedrungen ist, erleichtert nicht nur ihren einmaligen, sondern auch den wiederholten Nachvollzug, also das meditative Einüben der Glaubenswahrheit. Die visuelle und emotionale Besetzung wirkt sich insofern günstig aus, als sie die Gedächtnisleistung fördert. Der frühneuzeitliche Leser konnte, um zu der erwünschten Gedankenführung und -strukturierung zu kommen, auf diese Weise die einzelnen Szenen aus Junius’ Leben aus dem Gedächtnis abrufen.
8. Diskursumbruch: vom Augustinischen Bekenntnisdiskurs in den Diskurs der kalvinistischen Welteroberung Für den Diskurs von Augustins Confessiones, in welchen sich Junius mit seiner Autobiographie einschrieb, kommt dem ‚Bekennen‘ entscheidende Bedeutung zu. In den Confessiones will Augustin seine neue Gnaden- und Erbsündelehre wirkungsvoll vermitteln. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, dass der Autobiograph seine Sünden und Schwächen, sein Versagen, möglichst umfassend und eingehend herausarbeitet, sowie dass er auf Selbstrechtfer-
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tigung grundsätzlich verzichtet. Erst dadurch entsteht Gottes Lob in vollem Glanz, da die Errettung des Individuums einzig und allein von Gott abhängt, von seiner Gnade und Barmherzigkeit. In einer Predigt hat Augustin dieses Schema auf den Punkt gebracht: „Sive ergo nos accusemus, sive Deum laudemus, bis Deum laudamus“.156 Selbstanklage und Gotteslob sind identisch. Insofern ist der, der seine Schuld bekennt, vollkommener als der, der auf der Richtigkeit seines Tuns beharrt.157 Bei Augustin bezieht sich der gesamte Prozess des Bekennens auf den spirituellen Bereich. Es ist merkwürdig, dass Junius, während er seine Autobiographie bis S. 25 konsequent nach dieser Diskursformation einrichtet, sie ab seiner Reise nach Genf aus den Augen zu verlieren scheint. Junius bekennt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr seine Verfehlungen, sondern steht als moralisch einwandfreier Mensch da. Die Sünden haben sich seit der Bekehrung verflüchtigt. Die Rettungstaten Gottes beziehen sich nun nicht mehr auf das Innere des Menschen, sondern prinzipiell auf den äußerlichen Bereich. Statt des inneren Kampfes, den Augustin so eindringlich beschrieben hat, stellt Junius den Kampf des Kalvinisten in der Welt dar. Interessanterweise tritt dabei sogar die existentielle Schwäche des Menschen, von der Junius sonst überzeugt war, in den Hintergrund. Junius schildert, wie er klug und überlegt vorgeht; wie er Vorhersagen in Bezug auf die Zukunft machte und weiter, dass diese auch eintrafen. Z. B. hat er den wallonischen Kalvinisten aus der Gegend von Malmedy vorausgesagt, dass die Zusammenkunft einer großen Menschenmenge zu einer Predigt schwere Folgen haben werde. „Atque haec paulo post, prout eis praedixeram, ita omnino acciderunt“ („Und dies traf wenig später, genauso wie ich es vorhergesagt hatte, in der Tat ein“).158 Hier tritt ein selbstbewusster Mensch auf, der tatkräftig ist, konsequent handelt und auf irgendeine Weise Zugriff auf die Zukunft zu besitzen scheint. Sogar seine charakterbedingte Schüchternheit hat Junius offensichtlich überwunden. Er schildert sein erfolgreiches Auftreten als Prediger, der sogar im Stande ist, Leute, die gegen ihn voreingenommen sind, zu überzeugen. Z. B. musste er in Antwerpen die Seelsorge für eine Gemeinde übernehmen, die ihn für einen französischen Spion hielt. Junius beschreibt, wie er durch tugendhaftes Auftreten, „mit Geduld und Gottesvertrauen“ diese Schwierigkeiten „überwand“ („superare“).159 156 157 158 159
Augustin, Sermo LXVII, 2, 4. Vgl. Flasch, Augustin, 259. Junius, Vita, 39–40. Ebd., 41.
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Betrachtet man diesen Diskursumbruch, indem man ihn ins Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit setzt, so erhält man das überraschende Resultat, dass der ‚triumphierende‘ Teil den ‚bekennenden‘ übertrifft: Bekennender Teil: 20 Jahre (1542–1562) . . . . . . . . . . . . . 25 SS.). Triumphierender Teil: ca. 7 Jahre (1562–1568) . . . . . . . . . . 41 SS.). (davon Periode in den südl. Niederlanden ca. 2 Jahre, 1565– 1567) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 SS. Der triumphierende Teil weist eine ca. zehnmal (!) so große Erzähldichte auf wie der bekennende und erscheint dadurch entsprechend exponiert. In diesem Abschnitt greift Gott nachhaltig in die materielle Wirklichkeit ein. Er arbeitet der bewaffneten Obrigkeit entgegen und verhindert viele Male, dass die Häscher Junius ergreifen. Der Schutz Gottes in der Welt macht Junius sozusagen unantastbar. Einmal hatte der Präfekt Junius bei Brüssel in eine Falle gelockt. Er erwartete den Prädikanten, der zu Boot reiste, am Ufer mit einer Schar Bewaffneter. Junius berichtet, dass er keine Sekunde gebangt habe. Die Überlegenheit des kalvinistischen Gottes ist so groß, dass die Katholiken keine Chance haben: Wir fuhren bis hin zum Stadtgraben und steuerten auf das Viertel der Kartäuser zu. Inzwischen beobachtete uns der Präfekt in der Nähe des Stadttors von der Brücke aus, umgeben von zahlreichen Bewaffneten. Schon von weitem sah er uns und eilte uns am Ufer entgegen. Alle erschraken und flüsterten, was denn jetzt mit uns geschähe und was sie tun sollten. Ich aber vertraute auf Gottes Hilfe und hieß sie guten Mutes sein: Sie sollten tun, was man ihnen befehle und sich um mich nicht kümmern; keiner solle Rücksicht nehmen auf mich, sie müssten sich so verhalten, als sei ich gar nicht zugegen. Als wir nähergekommen waren, fragte der Präfekt mit lauter Stimme, ob wir denn nichts von dem Verbot gehört hätten und warum wir zu Schiff herführen. Er befahl uns, augenblicklich auszusteigen. Wir stiegen alle nacheinander aus, insgesamt etwa 25 Personen. Als die Reihe an mich kam, stieg auch ich aus, ging gleichsam mitten durch die Bewaffneten hindurch und grüßte den Präfekten […]. Vertrauet auf die Vorsehung des Herrn, die ihr dem Herrn dient […]. Denn der Herr ist getreu, der Hüter Israels!160
Die Unantastbarkeit des Kalvinisten, der in der Welt von seinem Herrn, dem „Hüter Israels“, beschützt wird, unterstreicht Junius durch die Erzähltechnik, die Verlagerung der Erzählperspektive auf den Präfekten und die Mitreisenden. Es ist der Präfekt, der die Bootreisenden heran160
Ebd., 51; Übers. von Benrath, Die Selbstbiographie von Franz Junius, 62 (mit leichten Änderungen).
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nahen sieht und Maßnahmen ergreift – jedoch trotz allem nichts ausrichtet. Die Reaktion der Mitreisenden (Erschrecken) dient als Kontrast zur Haltung des Kalvinisten, d. h. zu dem unbedingten Vertrauen auf den Rettergott, der den Untergang der Erwählten in der Welt bestimmt abwenden wird. In der Tatsache, dass Junius seinen Häscher beim Aussteigen auch noch freundlich grüßt, kommt geradezu eine Verspottung des Glaubensfeindes zum Ausdruck. Gott greift stets aktiv in den Lauf der Ereignisse in der Welt ein: Er drängt nicht nur die „Papisten“ („Pontificii“) zurück, sondern auch die Wiedertäufer, deren Anzahl, Bedeutung und Ansehen er verringert.161 Mit seiner weltlichen Anwendung der Prädestinationslehre ähnelt Junius seinem Lehrmeister Beza. Mit seiner illustrierten Reihenbiographie Icones, die 1580 erschien, verherrlichte Beza den geographischen Gebietsgewinn, welchen das Reich Gottes auf Erden im 16. Jahrhundert verbucht hatte.162 Er widmete das Werk nicht zufällig König Jakob VI. von Schottland, der mit seinem Schwert der Sache der Kalvinisten zum Sieg verholfen (Abb. 26) und das Reich Gottes im Norden Europas verwirklicht habe („cum Christi regnum […] apud Scotos tuos promoveas usque adeo, ut ad extremas usque terras huius tuae singularis pietatis fama permanarit“).163 Beza gliedert seine Reihenbiographie in geographische Gebiete, als ob er die Provinzen eines Weltreiches behandelte, welches sich der Kalvinismus auf seinem Siegeszug erobert habe. Die Intellektuellen, die Beza hier beschreibt, werden als ‚Instrumente Gottes‘ aufgefasst, die dieser bei seinem erfolgreichen Feldzug einsetzte. Als vornehmstes Instrument präsentiert er Calvin („selectissimum Dei Optimi Maximi organum“), der die Wiedereinsetzung der ‚wahren Religion‘ durchgesetzt habe.164 Junius selbst hat in seinen theologischen Werken zur Prädestinationslehre die weltliche Komponente der Erwählung explizit bestätigt. Z. B. stellt er fest, dass sie wirksam sei, während der Mensch noch auf Erden weile („pertinent [sc. effecta electionis] ad viam, per quam ambulare debemus in hoc mundo“).165 Die Prädestination bewirkte eine „Heiligung“ 161 162
163 164 165
Ebd., 61. Beza, Icones, id est Verae imagines virorum doctrina simul et pietate illustrium, quorum praecipue ministerio partim bonarum literarum studia sunt restituta, partim vera Religio in variis orbis Christiani regionibus […] fuit instaurata […], Genf 1580 (FaksimileAusgabe Glasgow 1971). Ebd., f. IIIv. Ebd., f. R IIIr. Junius, Opuscula theologica selecta, 136, Art. 36.
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Abb. 26: König Jakob VI. von Schottland. Aus: Theodor Beza, Icones, Genf 1580, f. *Iv.
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des Menschen („sanctificatio“), die ihn als „neuen Menschen“ formiere.166 Diese schönste Auswirkung der Erwählung wird allerdings nur dem Erwachsenen („adultus“) zu Teil.167 Diese theologische Definition erklärt mit, weshalb Junius seine Jugend bis zu seiner Bekehrung auf andere Weise als sein Leben als Erwachsener dargestellt hat.
166 167
Ebd., 146, Art. 41. Ebd.
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Autobiographie als Genealogie: Joseph Scaliger
XXIV. Autobiographie als Genealogie: Joseph Scaligers Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae (1594) 1. Lesersteuerung: der humanistische, historische Überlieferungspakt des Herausgebers Janus Dousa d. J. Ich war immer der Meinung, dass die Literatur und ihre Jünger vor allem damit Lob und Ehre verdienen, dass sie die Erinnerung an große Geister bewahren, damit die Nachwelt diese betrachten könne. Schande über ein Zeitalter, wenn durch seine Faulheit Männer untergehen, die in durchwachten Nächten mit literarischer Arbeit für ihre Unsterblichkeit gesorgt haben! Wo man sich doch an ihrem Fleiß ein Beispiel hätte nehmen sollen! Und in dieser Hinsicht, wegen der krassen Vernachlässigung tugendhafter Leute, scheint unser Zeitalter völlig versagt zu haben, insbesondere, da es so viele hervorragende und wahrhaft glänzende Männer hervorgebracht hat, die jedoch lange Zeit verborgen geblieben sind und wohl auf ewig totgeschwiegen worden wären, wenn nicht ihr Fleiß dem Vergessen den Kampf angesagt haben würde.
Auf diese Weise leitet Janus Dousa d. J. eine Publikation ein, welche 1594 – etwa anderthalb Jahre vor Junius’ Autobiographie – bei Raphelings Plantin-Presse erschien und welche unter anderem die Autobiographie des Leidener Starprofessors Josephus Justus Scaliger vorlegt (Abb. 27).1 Die Motivation, die Dousa für seine Herausgebertätigkeit anführt, stellt die am besten akzeptierte Rechtfertigung der humanistischen Historiographie dar: das Andenken an die Vergangenheit zu erhal-
1
Josephus Justus Scaliger, Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae, et Iulii Caesaris Scaligeri vita. Iulii Caesaris Scaligeri Oratio in luctu filioli Audecti. Item Testimonia de gente Scaligera et Iulio Caesare Scaligero, Leiden, Franciscus Raphelengius, 1594. Den Abschnitt des Werkes, der Josephus Scaligers Autobiographie enthält, hat Robinson herausgegeben und mit einer englischen Übersetzung versehen: G. W. Robinson (Hrsg.), Autobiography of Joseph Scaliger, with Autobiographical Selections from his Letters, his Testament and the Funeral Orations by Daniel Heinsius and Dominicus Baudius, Cambridge, Massachusetts 1927.
Lesersteuerung des Herausgebers Janus Dousa
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Abb. 27: Joseph Scaliger, Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae, Leiden, Franciscus Raphelengius 1594, Titelseite.
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ten, insbesondere an die Taten und intellektuellen Errungenschaften berühmter Männer. Die literarische Überlieferung funktioniert als das Hauptmedium des kollektiven Gedächtnisses, und die Humanisten präsentieren sich als die Verwalter desselben. Von dem historiographischen humanistischen Überlieferungsdiskurs, in welchem Dousa die von ihm publizierten Texte verortet, geht eine monumentalisierende und beglaubigende Wirkung aus. Es ist ein mächtiger, breiter und ruhig daherfließender Strom, der den Leser aufnimmt. Der Leser kann sich ihm schwerlich entziehen. Es geht hier um einen Grundwert nicht nur des Humanismus, sondern der frühneuzeitlichen Bildungskultur an sich. Der monumentalisierende Überlieferungsdiskurs, der hier angesprochen wird, duldet sozusagen keinen Widerspruch: Der Leser wird nicht nur eingeladen – er wird gezwungen, auf diesem Strom dahinzufahren. Wenn er wagt zu widersprechen, ist er ein Faulpelz, Versager, Ignorant und Kulturbarbar. Wer die Überlieferung vernachlässigt, hat seinen Zugangspass zur Bildungselite, der internationalen Respublica litteraria, verspielt. Janus Dousa gehört natürlich nicht zu den Faulpelzen und Kulturbarbaren. Seine gewissenhafte historiographische Überlieferungstätigkeit, die er in dem Widmungsvorwort an den Gesandten des französischen Königs bei den Generalstaaten2 festlegt, richtet sich zunächst auf den berühmten französischen Gelehrten, Arzt und Dichter Julius Caesar Scaliger (*1484),3 den Autor der grundlegenden Poetices libri septem,4 der systematischen lateinischen Grammatik De causis linguae Latinae und des naturphilosophischen Traktates Exotericae exercitationes,5 also eines Mannes, der 36 Jahre zuvor gestorben war. Das Andenken an einen solchen 2 3
4
5
An Paul Choart de Buzanval, f. *2r – !*5"r. Zu Julius Caesar Scaligers Biographie vgl. V. Hall Jr., „The Life of Julius Caesar Scaliger (1484–1558)“, in: Transactions of the American Philosophical Society n.s. 40 (1950), 85–170; M. Billanovich, „Benedetto Bordon e Giulio Cesare Scaligero“, in: Italia medioevale e umanistica 11 (1968), 187–256; A.Th. Grafton, Art. „Scaliger, Julius Caesar“, in: CE, Bd. III, 212–214; W. McGuaig, Art. „Scaliger, Julius Caesar“, in: ER 5, 412–413. Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem (Sieben Bücher über die Dichtkunst; Poetics in Seven Books), hrsg. von L. Deitz, G. Vogt-Spira und M. Fuhrmann, Stuttgart 1994; vgl. dazu K. Jensen, Rhetorical Philosophy and Philosophical Grammar: Julius Caesar Scaliger’s Theory of Language, München 1990 und R. M. Ferraro, Giudizi critici e criteri estetici nei Poetices libri septem (1561 ) di Giulio Cesare Scaligero, Chapel Hill 1971. Vgl. I. Maclean, „The Interpretation of Natural Signs: Cardano’s De subtilitate Versus Scaliger’s Exercitationes“, in: B. Vickers (Hrsg.), Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance, Cambridge 1984, 231–252.
Lesersteuerung des Herausgebers Janus Dousa
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Großen des Geistes darf nicht verloren gehen. Seine Werke müssen gesammelt und – mit biographischer Dokumentierung versehen – herausgegeben werden. Das Desiderat sei umso größer, als Julius Caesar Scaliger aufgrund seiner Bescheidenheit zu Lebzeiten kaum etwas publiziert habe.6 Der Neualexandriner Dousa hat, wie er im Vorwort mitteilt, ein seltenes Werk des Julius Caesar Scaliger wiederentdeckt, die lateinische Grabrede für den Sohn Audectus (Oratio in luctu filioli Audecti).7 Zumal diese Rede verdiene es, gelesen zu werden. Dousas publizistisches Vorhaben habe allerdings zunächst wenig Fortschritte gemacht, weil die Grabrede zu kurz sei (ca. 30 Seiten), um als separates Buch zu erscheinen. Dousa sagt, dass er erwogen habe, die Grabrede zusammen mit anderen Werken als Julius Caesars Seltenheiten bzw. Verstreute Schriften (Opuscula rariora) herauszugeben. Jedoch habe er den Plan wegen des allzu unterschiedlichen Inhalts derselben schließlich aufgegeben und auf eine andere Gelegenheit gewartet, die Grabrede für den Sohn Audectus zu edieren.8 Zufällig sei er auf eine Schrift Josephus Scaligers gestoßen, in dem dieser die Geschichte des Vaters und der Familie erläutert. Diese Schrift passe hervorragend zu der Grabrede, sodass Dousa nunmehr sein Publikationsvorhaben umsetzen könne. Dousas Vorgehensweise ist an humanistisch-historischer Gewissenhaftigkeit kaum zu übertreffen. Er erscheint hier als der Verwalter der Überlieferung par excellence. Die genaue Dokumentierung der Vergangenheit steht im Vordergrund, was an Veltens erstes Definitionskriterium der Autobiographie erinnert. Ganz im Stil der Alexandriner Gelehrten schickt Dousa gleich im Vorwort eine Kurzbiographie des Julius Caesar Scaliger voraus.9 6
7 8 9
F. *2v: „cuius (sc. Julii Caesaris Scaligeri, Anm.) tamen eximias virtutes quies ipsius et silentium diu occuluit et subtraxit famae“; f. *3v: „Ingenii quidem sui monimenta quam paucissima, dum viveret, nec nisi post exitum vitae in lucem prodire passus est“. F. *3v–*4r. F. *4r. F. *2v–*3v (2 Seiten): „Natus erat in familia illustrissima, sed e fastigio sui devoluta […]. Ab ineunte pueritia militaribus studiis innutritus […]. In literario exercitu non interiturae laudis stipendia mereret. Itaque amissae in maioribus suis magnitudinis spe amissa novae initium a sua fecit et scientiarum orbem universum, tamquam altera natura, […] complexus ostendit, quid in summo ingenio summa possit industria. […] Ingenii sui monimenta […]. Quae omnia maiorum ipsius claritudini par ingenium et supra hoc seculum doctrinam omnibus seculis loquentur“.
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Fraglich erscheint allerdings, weshalb Julius Caesars Grabrede für den Sohn Audectus 1594 ein Desiderat bilden soll, weshalb zumal dieses Werk es verdienen soll, gelesen zu werden. Es handelt sich um ein unbedeutendes Gelegenheitsschriftchen, das nach einer so großen Zeitspanne weder aktuell noch besonders brauchbar war. Außerdem stellte die Rede kein editorisches Novum dar, da sie, wie Dousa selbst zugibt, bereits früher erschienen war.10 Es ist also eine „editio iterata“, die hier vorgelegt wird. Es lässt sich schon deshalb schwer nachvollziehen, dass die Grabrede den Kern und Ansatzpunkt der Leidener Publikation des Jahres 1594 gebildet haben soll. Dass Julius Caesar Scaliger ein vernachlässigter Autor gewesen sein soll, lässt sich schwerlich behaupten: Zwischen 1573 und 1594 erschienen seine Werke mehrfach im Druck, bei bedeutenden Drukkern (Stephanus, Roville, Petrus Santandreanus, Wechels Erben) und in europäischen Zentren (Frankfurt, Paris, Lyon, Antwerpen, Genf). Ebensowenig stimmt die Behauptung, dass Julius Caesar Scaliger zu Lebzeiten kaum publiziert habe. U.a. erschienen seine heftige Invektive gegen Erasmus, Oratio pro Marco Tullio Cicerone contra Erasmum (Paris, G. Gourmont und P. Vidove, 1531), De causis Linguae latinae (Lyon, S. Gryphius, 1540), die Gedichtsammlung Heroes (Lyon, S. Gryphius, 1539) und das naturphilosophische Werk Exotericae exercitationes (Paris, S. Morel, 1557) im Druck. Diese Werke verursachten zum Teil großes Aufsehen und machten viel Wirbel in der internationalen Respublica litteraria. Bescheidenheit und Stillschweigen waren nicht unbedingt Julius Caesar Scaligers Sache. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, wirkt Dousas Plädoyer ein wenig fadenscheinig. Außerdem fällt auf, dass das Abfassungsdatum von Joseph Scaligers Schrift, die Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae, der 18. Mai 1594, und das Datum von Dousas Vorwort, der 22. Mai 1594, geradezu zusammenfallen. Das deutet darauf hin, dass das Hauptanliegen gegen den expliziten Wortlaut nicht darin zu suchen ist, Julius Caesars Grabrede für den Sohn Audectus zugänglich zu machen, sondern Joseph Scaligers Schrift Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae zu veröffentlichen, und weiter, dass die Initiative zu der Publikation wohl weniger bei Janus Dousa d. J., sondern vielmehr bei Joseph Scaliger selbst lag, der dies aber verschleiern wollte. 10
Ebd.: „oratio in Audecti filioli luctu habita qua infantis eius interceptam inter prima incunabula indolem deplorat, eam iampridem, tametsi olim typis excussam, cum non amplius inter manus dominum versari dolerem, iterata editione publici iuris facere pretium putavi […]“.
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2. Verunsicherungen: Selbstlob, Scheltrede, Hassrede und andere Inversionen des autobiographischen Diskurses Die Autobiographie Joseph Scaligers, die den dritten und letzten Teil der Epistola bildet (S. 54–64),11 fällt durch ein Autorsethos (Präsentationsbild) auf, das die Humanisten in ihrem autobiographischen Schreiben sonst peinlich vermieden haben. Joseph Scaliger sagt zum Beispiel: Ich bin bekannt bei Königen, Fürsten und Adeligen. Ich bin außerordentlich berühmt und sehr angesehen. Ich bin ein besonderer Liebhaber der Literatur und der Wissenschaften. Jede Ambition, jeder Neid liegt mir fern. Ich bin ein Todfeind der Lüge, sowohl aufgrund meines Charakters als aufgrund der Erziehung meines Vaters. Regibus, principibus et proceribus noti sumus. Clarissimi et illustrissimi sumus. Literarum amantissimi sumus. Ab omni ambitione et invidia remoti sumus. Mendacium tam a natura quam a patris instituto capitaliter odimus.12
Das kumulativ und apodiktisch vorgetragene, uneingeschränkte, megalomanische Selbstlob verkehrt die Diskursregelung der Autobiographik geradezu in ihr Gegenteil. Diese Darbietungsart passt auf die Darstellung des Anderen, nicht des Selbst. Sie wirkt abstoßend, deutet auf Irritationen des Autors hin und erzeugt dieselben auch beim Leser. Dabei handelt es sich nicht um einen einmaligen Ausrutscher. Die gesamte Autobiographie ist in diesem Autorsethos vorgetragen: Überall, wo ich bin, hinterlasse ich meine Duftmarke. Jeder Schurke, Wahnsinnige, jeder Feind der Tugend und der Schönen Wissenschaften nimmt meine Spur auf und verfolgt mich mit unsäglichem Hass. Und wahrlich! ich danke Gott dafür, dass meine Tugend mir Feinde, jedoch unvergleichlich mehr Freunde beschert hat. Denn so viele Männer aller Stände, ausgezeichnet hinsichtlich ihrer Abstammung, ihrer Sitten und ihrer wissenschaftlichen Bildung, lieben und verehren uns, so dass wir uns um diesen Abschaum des Menschengeschlechts wahrlich nicht zu kümmern brauchen. […] Was können mir meine Feinde vorwerfen, abgesehen von der Tugend, welche sie selbst nicht besitzen? […] In Bezug auf meine Sitten möchte ich sogar meine Feinde zu meinen Richtern machen. Ich bin mir keiner einzigen Handlung bewusst, derentwillen ich mich schämen müsste, keiner Handlung, die mir einen schlechten Ruf bei der Nachwelt beschert, keiner Handlung, die den Körper im Greisenalter geschwächt haben würde. Da doch meine mäßige Lebensführung 11
12
Die Genealogie bildet den ersten (S. 7–30), die Biographie des Vaters Julius Caesar den zweiten Teil (S. 30–54) der Epistola. Epistola, 62–63.
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mir bis in dieses hohe Alter einen so starken Körper und so starke Glieder verlieh, dass sich die Jungen keine besseren wünschen könnten. […] „Mögen die Neider zerplatzen“. Wir können nun einmal nicht jemand anderer sein als wir selbst: Alle unsere Feinde haben bisher nur unsere Tugend, niemals ein Laster verfolgt. Welche Glückseligkeit könnte dieser gleichen? Quocunque eo, mitto mei signa. Quisquis perditus est, insanus, virtutis et bonarum literarum hostis, vestigiis me meis colligit et capitali odio persequitur. Et profecto Deo optimo maximo gratias ago, quod virtus quidem mea inimicos mihi peperit, sed eadem longe plures amicos quaesivit. Tot enim egregii genere, moribus, literis omnium ordinum viri nos amant, ut horum generis humani retrimentorum ratio nobis habenda non sit. […] Quid mihi obiicere possunt praeter virtutem, quam non habent? […] De moribus etiam inimicos meos iudices fero. Nullius mihi conscius sum, cuius me apud homines pudere debeat, neque, quod aut existimationem sinistram posteritati aut corpus effoetum tradat senectuti, cum continentia anteactae vitae ad hanc usque aetatem eam artuum et membrorum firmitudinem mihi asseruerit, qua nec meliorem iuniores optare possunt. […] Rumpatur invidia. Non possumus esse dissimiles nostri. Omnes inimici nostri virtutem, non vitium in nobis hactenus insectati sunt. Ecquaequam felicitas huic par esse potest?13
Auf eine ziemliche Irritiertheit des Autors deutet hin, dass aus dem autobiographischen Text immer wieder Schimpfwörter hervorbrechen. Scaliger verwehrt sich gegen „Schurken“ („tenebriones“),14 „Wahnsinnige“ („furiosi“), „Verkommene“ („flagitiosi“), „Ignoranten“ („indocti“), „Pseudowissenschaftler“ („scioli“), „Tugendschwätzer“ („aretalogi“), „Sophisten“, „Kapitalverbrecher/Mörder“ („alastores“), „Elendlinge“ („miseri“), „Bettler“ bzw. „Hausierer“ („agyrtae“),15 „Alkoholiker“ („Corybantes“), „Frechdachse“, „Irre“, „Tagediebe“ („nebulones“), „Gaukler“ („aeruscatores“),16 „Sklavenseelen“, „Denunzianten“ („delatores“), „Rüpel“ („rupices“), „Bauerntrottels“ („Marrucini“),17 „Verdammte“ („perditi“), ja gegen die „Exkremente des Menschengeschlechtes“ („haec generis humani retrimenta“).18 Der Diskurs wird von der Schelt- und Hassrede beherrscht. Er wimmelt von Feinden und Wahnsinnigen, die es auf Scaliger abgesehen haben und die ihn von allen Seiten her angreifen. Der Autobiograph stellt sich als eine Art Wild dar, dessen Duftmarke die Tugend ist; die Feinde 13 14 15 16 17 18
Ebd. Ebd., 59. Ebd., 58. Ebd., 60. Ebd., 61. Ebd., 62.
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setzen sich, gleichsam eine Meute von Hunden, auf die Fährte des edlen Wildes. Im Text findet eine wilde Verfolgungsjagd statt, bei der Scaliger die Rollen mehrfach verkehrt. Dann ist Scaliger der Löwe, und seine Feinde werden zu harmlosen Mäusen oder Mücken.19 Mit der massiven Anwendung der Schelt- und Hassrede korrespondiert, dass auch die Komposition der Autobiographie außer Rand und Band gerät: Sie fängt wie ein Lebenslauf an, mit einer Darstellung der Geburt, Jugend und des Bildungswegs (S. 55–57), artet jedoch kurz darauf (ab dem Jahr 1563) in eine Aneinanderreihung wüster Beschuldigungen aus, bei der die chronologische Anordnung zerbröckelt und völlig aus dem Blickfeld verschwindet. Vom Lebensweg des erwachsenen Scaliger (1563–1594) können wir uns aufgrund der Autobiographie eigentlich gar kein Bild machen. Zwar ist, wie wir schon mehrfach feststellen konnten, eine möglichst umfängliche Informationsvermittlung in der Regel kein vornehmliches Darstellungsziel humanistischer Autobiographien. Jedoch weist Scaligers Autobiographie im Vergleich zu anderen humanistischen Autobiographien einen außerordentlichen Informationsmangel auf. Über fast 30 Jahre, also den Hauptteil seines Lebens, erfahren wir so gut wie nichts. Erst gegen Ende der Autobiographie findet sich der Bericht, dass er (irgendwann) seine väterlichen Besitzungen in Agen verloren und sich in die Niederlande begeben hat. Da diese Übersiedlung erst vor kurzem stattfand (1592), bedeutet dies, dass Scaliger 29 Jahre seines Lebens (1563– 1592) überhaupt nicht behandelt. Dieser Befund ist umso auffälliger, als man beileibe nicht behaupten kann, dass es für diese Jahre nichts zu berichten gegeben hätte.20 Scaliger verfasste in dieser Zeit seine Hauptwerke, mit denen er internationalen Ruhm erwarb, vor dem Hintergrund der ereignisreichen Zeit der Französischen Religionskriege, die den Hugenotten Scaliger wiederholt in ihren Strudel sogen. Z. B. kämpfte er 1569–1570 in den Reihen der Hugenotten. Außerdem hat Scaliger längere Reisen unternommen, unter anderen nach Italien und Britannien (1563–1566). 1570 reiste er nach Valence, wo er bei Jacques Cujas Jura studierte. Die Wirren der Bartholo-
19 20
Vgl. unten. Zu Scaligers Lebenslauf vgl. J. Bernays, Joseph Justus Scaliger, Osnabrück 1965 (Nachdr., urspr. Berlin-London 1855) und A. Th. Grafton, Joseph Scaliger. A Study in the History of Classical Scholarship, 2 Bde., Oxford 1983 und 1993 (Bd. 1 bsd. Kap. IV „Young Scaliger“, 101–133 und VIII „Scaliger at Thirty-nine“, 227–229; Bd. II bsd. Part 3.1 „From Preuilly to Leiden“, 361–393).
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mäusnacht zwangen ihn, in die Schweiz auszuweichen, wo er in Genf eine Professur für Philosophie bekleidete. 1574 kehrte er in ein Frankreich zurück, das sich in einer explosiven politischen Stimmung befand, die unter anderem zur Ermordung des Königs führte usw. Der Reichtum des Faktenmaterials lässt umso merkwürdiger erscheinen, dass Scaliger in seiner Autobiographie davon gar nichts mitteilt. Nicht einmal seine Tätigkeit als Wissenschaftler beleuchtet er auf angemessene Weise. Er behauptet sogar, dass er aufgrund seiner Bescheidenheit – abgesehen von einigen Werkausgaben antiker Autoren – nichts publiziert hätte,21 was nicht nur angesichts seines berühmten Hauptwerkes De emendatione temporum, das er zum ersten Mal 1583 in Paris herausbrachte,22 kurios ist. Scaliger hatte 1594 bereits eine sehr ansehnliche Reihe von Schriften in Druck gegeben.23 Bernays listet für die Zeit zwischen 1565 (Varro-Emendationen) und 1594 nicht weniger als 19 gedruckte Publikationen auf.24 Statt über seine Schriften oder über sein Leben zu berichten, widmet Scaliger den Hauptteil seiner Autobiographie groben Beschimpfungen und hasserfüllten Tiraden.
3. Das Netz der Invektiven oder wie Giulio Bordon sich in Julius Caesar Scaliger verwandelte Der moderne Leser wird von der Darbietungsart von Scaligers Autobiographie abgestoßen, vermag ihr kaum etwas abzugewinnen. Möglicherweise hängt mit der Kombination von Schelte und Faktenarmut die Tatsache zusammen, dass sich die Scaligerforschung bisher nur wenig um diesen Text gekümmert hat. Der moderne Leser erwartet nicht, dass in einem historischen bzw. (auto)biographischen Text – zumal wenn es sich um einen Universitätsprofessor handelt – Schimpfwörter (noch dazu in einer solchen Fülle) auftreten. Der Diskurs kognitiver Texte und die Verwendung von Schimpfwörtern scheinen einander auszuschließen, insbesondere, wenn es um wissenschaftliche Literatur geht. Der moderne 21 22
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Epistola, 57. Opus novum de emendatione temporum in octo libros tributum, Paris 1583; Opus de emendatione temporum, Leiden 1594. Siehe dazu Grafton, Joseph Scaliger, Bd. II, Part II „Historical Chronology“. Vgl. dazu Bernays, Joseph Scaliger, 269–307 „Verzeichnis der Schriften Scaligers“; Grafton, Joseph Scaliger, passim; vgl. Ders., H. J. de Jonge, Joseph Scaliger. A. Bibliography 1850–1993, Leiden 1993. Bernays, Joseph Scaliger, 269–285.
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Wissenschaftler verleiht sich a priori ein Ethos, das von Rationalität, Sachlichkeit und dem Streben nach Objektivität gekennzeichnet ist. Emotionalität, persönliche Anwürfe und aggressives Verhalten passen nicht in diesen Diskurs. Auch Scaligers humanistischen Lesern werden die Schimpfwörter aufgefallen sein. Sie gehörten nicht zum Repertoire historischer Texte, auch nicht zu dem biographischer und autobiographischer Schriften. Da sowohl die Familiengeschichte als auch die Autobiographie in dem Diskursrahmen der Historiographie verortet waren (wobei die Lesersteuerung des Herausgebers Janus Dousa d. J. diese Diskurszuschreibung verstärkt und bestätigt), erzeugt die Textlektüre Irritation und Verunsicherung. Dem Leser stellt sich die Frage, ob die mediale Verortung des Textes stimmig ist, bzw. ob der Text nicht eine andere Herangehensweise erfordert. Die Schimpfwörter, die Schelt- und Hassrede veranlassen den frühneuzeitlichen Leser, den Text in einem anderen Diskursrahmen zu verstehen. In dieser Hinsicht ist von Belang, dass Rationalität und Sachlichkeit den wissenschaftlichen Diskurs der Frühen Neuzeit nicht mit derselben Ausschließlichkeit und Bestimmtheit wie in den letzten hundert Jahren kennzeichneten. Bissige Polemiken, gehässige Invektiven gehörten seit den Anfangstagen zur humanistischen Philologie. Dabei war es nicht ungebräuchlich, die Gegner mit Schimpfwörtern einzudecken und Angriffe ad personam und unterhalb der Gürtellinie zu lancieren. „Dummkopf “, „Trottel“, „Ignorant“ – dies und ähnliches hat Scaligers Leser in diesem Diskursrahmen schwerlich schockiert. Im Gegenteil: Manche Schimpfwörter werden sie durch ihre Ausgefallenheit und ihre antike Patina amüsiert und fasziniert haben, z. B. „Marrucini“ („Bauerntrottels“) oder „aretalogi“ („Tugendschwätzer“). Der frühneuzeitliche Leser, der qualitate qua mit den Gepflogenheiten der Invektive vertraut war, ordnete Scaligers Autobiographie aufgrund der oben angeführten Textmarker dem Diskurs der Invektive zu. Zum Beispiel gehörte es zum Diskurs der Invektive, den Namen des Gegners zu verschweigen, die eigenen Beweggründe des Angriffs zu verschleiern, zu behaupten, der Gegner könne einem nicht das Wasser reichen, einen nicht ärgern, lasse einen überhaupt kalt etc. Alle diese Merkmale trifft man in Scaligers Autobiographie an: Er verschweigt den Namen seines Feindes, den er einen „verrückten Florentiner“ nennt.25 Es sei ihm egal, „was die Florentiner Alkoholiker lallen“ („quid delirent Corybantes in 25
Epistola, 58.
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urbe Florentia“).26 Er habe keine Zeit, sich mit seinen Feinden zu beschäftigen, und besonders nicht mit diesem Feind: Auf seine erste Invektive habe er gar nicht geantwortet, von der zweiten nur den Titel gelesen.27 Ob ihn „die Schurken“ loben oder tadeln, sei ihm einerlei („laudes enim et iniurias nebulonum in promiscuo habendum“).28 Seine Feinde seien höchstens lästige Mücken oder Mäuse, die den Löwen zwar aufwecken, aber nicht erschrecken usw.29 Für Scaligers Autobiographie ist somit die Verstehensfigur der Invektive entscheidend. Gegen wen richtet sie sich? Wer hatte Joseph Scaliger herausgefordert? In der Einleitung der Epistola teilt Scaliger folgenden Anlass mit: Ihm sei zu Ohren gekommen, dass ein neues italienisches Adelsbuch erschienen sei, Francesco Sansovinos Della origine et de’ fatti delle famiglie illustri d’Italia.30 Ihn habe (da er ja von Adel sei) ein brennendes Verlangen erfüllt, die Neuerscheinung zu lesen. Obwohl „in dieser Gegend hier“ („in his regionibus“, die nördlichen Niederlande) nur ein einziges Exemplar vorhanden war, hätten ihm seine Freunde dieses sofort zukommen lassen. Während er feststellen konnte, dass Sansovinos Adelsbuch sorgfältig und gründlich gearbeitet ist, sei er, als er bei dem uralten Geschlecht der Scaliger anlangte, unangenehm überrascht worden: Sansovino habe die Familie Scaliger nur kurz und nichtssagend gestreift, ja maliziös totgeschwiegen. Da der Autor alle übrigen Geschlechter so genau und ausführlich behandelt habe, könne man das auf nichts anderes als auf Abgunst und Neid zurückführen.31 Scaligers Erklärung des Anlasses wirkt auf den ersten Blick plausibel. Man kann sich vorstellen, dass der Edelmann gekränkt war, als er feststellen musste, dass seine Familie übergangen wurde. Jedoch ergeben sich bei näherem Zusehen einige Zweifel. Das Adelsbuch des Sansovino war bereits im Jahre 1582 erschienen, während Scaliger erst 1594, also wohlgemerkt zwölf Jahre später, reagierte. Es erscheint kaum glaublich, dass der Humanist erst zwölf Jahre nach dem Erscheinen von dem Buch gehört hat, insbesondere, wenn man seine Stellung in der Res publica
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Ebd., 60. Ebd., 59. Ebd., 60. Ebd. Venedig 1582; ich verwendete das Exemplar Leiden, Universitätsbibliothek 661 E 20, das aus der Bibliothek des Isaac Vossius stammt. Scaliger, Epistola, 1–2. Ebd.
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litteraria berücksichtigt. Scaliger führte mit zahlreichen Gelehrten aus ganz Europa einen regen Gedankenaustausch.32 Dadurch kamen ihm Neuerscheinungen immer sehr bald unter die Augen. Betrachtet man das Adelshandbuch des Sansovino näher, so stellen sich Scaligers Angaben als unstimmig heraus: Sansovino schwieg das Geschlecht der Scaliger keineswegs tot, noch behandelte er es stiefmütterlich, kurz oder maliziös. Die Della Scala kommen im Gegenteil gerade an markierter Stelle, gleich zu Anfang des Werkes, an die Reihe („Signori della Scala“)33 , als eine der ersten Adelsfamilien Italiens. Was Umfang, Faktenmaterial und Präsentationsweise betrifft, steht ihre Behandlung der der anderen Adelsgeschlechter in nichts nach. Es ergibt sich, dass es etwas anderes gewesen sein muss, das Joseph Scaliger so unangenehm berührte: Sansovino vermeldet nämlich (wie es übrigens den Fakten entspricht), dass die Familie Della Scala seit dem Tod des Ludovico Scaliger ausgestorben war. Obwohl man sich vorstellen kann, dass Scaliger, der sich als Spross der Della Scala betrachtete, darüber nicht erfreut war, ist es schwer glaublich, dass Sansovinos Adelsbuch zwölf Jahre nach seinem Erscheinen plötzlich zu einem solchen Wutausbruch geführt hat. Der Textteil, in dem sich Scaligers Autobiographie befindet, enthüllt, dass es tatsächlich ein anderer Autor war, der ihn jetzt in solchem Maß reizte: der „verrückte Florentiner“ („furiosus Florentinus“, S. 58). Dabei handelt es sich, wie man aus der Beschreibung des Konflikts ableiten kann, um den Florentiner Philologen Roberto Titi (Robertus Titius). Dieser hatte eine bissige Invektive gegen Scaliger verfasst, mit dem Titel Pro suis locis assertio, die einige Jahre zuvor in Florenz erschienen war.34 Die außer Rand und Band geratende Komposition von Scaligers Autobiographie hängt mit dieser Invektive zusammen. Der hasserfüllte Streit mit Titi bewegte Scaliger umso mehr, als er bereits mehr als ein Dezennium wütete. Die Feindschaft der beiden geht auf das Jahr 1583 zurück, als Titi in Florenz ein umfangreiches philologisches Werk Locorum controversorum libri decem veröffentlicht hatte, in wel-
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Vgl. dazu Grafton, Joseph Scaliger, passim; Bernays, Joseph Scaliger, passim, und D. van Miert, „Een profielschets van een scherp geleerde: Scaliger in zijn brieven“, in: Hoftijzer (Hrsg.), Adelaar in de wolken, 101–124. Sansovino, Della origine, 4–6. Roberto Titi, Pro suis locis controversis assertio adversus Ivonem quendam Villiomarum Italici nominis calumniatorem, ad Franciscum Mugghionium […], Florenz, Bartholomaeus Sermartellius, 1589.
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chem er Scaligers Konjekturen bekrittelte.35 Scaliger antwortete damals (1586) mit einem zweihundertseitigen Gegenangriff, der weitaus heftiger, bissiger und vernichtender war als alles, was Titi in seinen Locorum controversorum libri decem anzumerken hatte. Jedoch redete Scaliger nicht in eigener Person, sondern schob als Pseudonym den gallischen Edelmann „Yvo Villiomarus“ vor. Dass der Autor der Schrift Yvonis Villiomari Aremorici In locos controversos Roberti Titii animadversa36 Scaliger selbst war, blieb Titi nicht verborgen. Er antwortete mit einem umfassenden Gegenangriff, der bereits genannten Streitschrift Pro suis locis assertio. In dieser Schrift findet sich an exponierter Stelle, im Vorwort, folgende Attacke: Es gibt ja Leute, die bestätigen, du seiest ein ltalo-Gallier, ein gewisser nicht gerade adeliger Bordon aus der Gegend von Padua, sodass jede Angst unbegründet ist, die sehr gelehrten Männer, an denen Frankreich zu jeder Zeit, besonders aber jetzt, einen großen Reichtum aufweist, könnten auch nur ein kleines bisschen vor den Kopf gestoßen werden. Denn mit welcher Faser deines Körpers gehörst du überhaupt jener hohen Adelsgesellschaft zu? Da man dich ja mit Fug und Recht fragen könnte: „Wer bist du? Wo ist deine Vaterstadt und wer sind deine Eltern?“ Et sunt qui affirment Italogallum te esse Burdonem videlicet quempiam ex agro Patavino haud ita generosum, ut minime vereri oporteret, ne eruditissimos viros, quibus semper Gallia tum alias tum vero nunc maxime floreret, vel tantillum propterea infensiores mihi experirer; quota enim pars es tu nobilissimi istius corporis? Cum de te iure ac merito quaeri possit „Tis pothen eis andron? Pothi toi polis ede tokees?“.37
Dies ist die Herausforderung, auf die Scaliger mit seiner Epistola reagierte: Titi hatte ihm vorgeworfen, dass sein Adel auf bloßer Prätention beruhe, dass er in Wirklichkeit kein Nachfahre der Fürsten von Verona, sondern ein ordinärer Bordon aus Padua sei. In der Autobiographie behauptet Scaliger, dass Titi nur ein Knecht von Hintermännern sei, die eine Verschwörung gegen seine Person angezettelt hätten. Titi habe sein einziges Belegmaterial, die verleumderische, von einem gewissen Villanius erfundene Fabel, dass der Ahnherr der Familie Scaliger ein Leitermacher („scalarius“), also eine Art Schreiner gewesen sei, an Francesco Sansovino weitergereicht und diesen damit zur Verleumdung der Della Scala aufgestachelt.38 35
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Roberto Titi, Locorum controversorum libri decem, in quibus plurimi veterum scriptorum loci conferuntur, explicantur et emendantur multo aliter quam hactenus a quoquam factum sit […], Florenz, Bartholomaeus Sermartellius, 1583. Paris 1586. Roberto Titi, Assertio, 4; vgl. Bernays, Joseph Scaliger, 262–263. Scaliger, Epistola, 58–59.
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Dass Titi Sansovino aufgestachelt haben soll, ist kaum glaublich. Schon die Chronologie spricht dagegen. Sansovinos Adelsbuch war bereits im Jahre 1582 erschienen, während die Feindschaft Titis mit Scaliger erst 1583 entstanden ist und die „Aufstachelung“ in Bezug auf Scaligers Adelsanmaßung erst in Titis Invektive des Jahres 1589 aufscheint. Übrigens ist nichts davon bekannt, dass Titi und Sansovino in irgendeiner Weise miteinander in Kontakt standen. Außerdem haben sich weder Villanius (der deutsche Arzt Melchior Wieland) noch Titi mit der Geschichte vom „Leitermacher“ beschäftigt. Der „Beleg jenes Gauklers und Wahrsagers Wieland“ („testimonium argyrtae illius Villani“)39 handelte von anderem, für Scaliger weitaus Unangenehmerem: Wieland, dem Vorsteher des Hortus Botanicus der Universität Padua, den Joseph Scaliger in Bezug auf dessen Abhandlung zur Papyruspflanze heftig angegriffen hatte, war es gelungen, in den Paduaner Universitätsarchiven die Doktorbulle von Scaligers Vater Julius Caesar aufzuspüren. Dort entdeckte er zu seiner freudigen Überraschung, dass Giulio gar kein Della Scala war, sondern den bürgerlichen Namen Bordon trug. Giulio hatte sich den Adelstitel und die Zugehörigkeit zur Familie Della Scala in der Tat angemaßt. Bei seinen Überlegungen hat zweifellos der Umstand eine Rolle gespielt, dass die Familie ausgestorben war, dass es also niemanden gab, der ein direktes Interesse haben würde, ihm den Titel streitig zu machen. Myriam Billanovich hat in minuziöser Kleinarbeit die Belege von Giulio Bordons Existenz, bevor er ein Scaliger wurde, zusammengetragen.40 Die Adelsprätention war nach dem Fund des Melchior Wieland eine schwierige Erbschaft, die Giulio Bordon seinem Sohn hinterlassen hatte. Die Leidener Publikation des Jahres 1594 hat die Aufgabe, Scaligers Adel nachzuweisen (Abb. 28). Es ist daher verständlich, dass Scaliger seine Autobiographie in den Zusammenhang einer Familiengeschichte und besonders der Biographie des Vaters stellte. Eine generalisierende Erklärung, die auf die Bedeutung der Familie für die Identität des frühneuzeitlichen Individuums hinweist, reicht zur Erläuterung von Scaligers Autobiographie nicht aus. Die meisten humanistischen Autobiographien sind nicht in dieser Weise angelegt. Die Ausführlichkeit und der Umfang der Familiendarstellung erklären sich gerade durch die Tatsache, dass dem Autor die Familienzugehörigkeit streitig gemacht wurde. 39 40
Ebd., 58. Billanovich, „Benedetto Bordon e Giulio Cesare Scaligero“.
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Abb. 28: Wappen der Scaliger. Aus Josephus Scaliger, Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae, Leiden, Franciscus Raphelengius 1594, f. !*5"v.
Dokumentierungsrede und Beglaubigungsdiskurs
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Die Tatsache, dass der Vater Giulio der Urheber des Schwindels war, macht verständlich, dass seine Biographie in der Familiengeschichte Scaligers den Hauptteil der Erzählzeit beansprucht. Sein Leben war ja der erläuterungsbedürftige Teil par excellence. In diesem Sinn lässt sich die übrige inhaltliche Zusammensetzung der Leidener Publikation erklären: Es handelt sich um Texte, in welchen Julius Caesar als Fürst Scaliger aufscheint, entweder sich selbst als solcher präsentiert oder von anderen als solcher behandelt wird. Erst jetzt wird die Relevanz von Julius Caesars Grabrede für den Sohn Audectus ersichtlich: Es handelt sich um einen Text, in welchem sich Julius Caesar als Fürst Della Scala beträgt und genealogische Angaben macht, indem er die Heldentaten seiner vermeintlichen Vorfahren vorführt: des Mastino, des Cangrande della Scala, des Alberto, Niccolò und Benedetto della Scala. Das Layout verrät, worum es hier eigentlich ging: Die Namen aller dieser (unumstößlich echten) Della Scala werden mit Blockbuchstaben hervorgehoben. Der Abdruck von Giulio Cesares Gedicht De regnorum eversionibus hat nicht die Absicht, die Poesie des Humanisten zugänglich zu machen, sondern dient ausschließlich als Beleg für die Richtigkeit der Adelszuschreibung, wie schon aus der Überschrift hervorgeht: GLANZ UND ALTER DES GESCHLECHTS DER SCALIGER (CLARITAS ET VETUSTAS SCALIGERAE GENTIS). Dousas Widmungsvorwort hatte die Aufgabe, den Leser irrezuführen: Es ging nicht um die wünschenswerte Publikation vergessener Schriften des Julius Caesar Scaliger, sondern um den Nachweis von Josephs Adel.
4. Dokumentierungsrede und Beglaubigungsdiskurs In Scaligers autobiographischer Publikation kommt dem Dokumentieren und Beglaubigen ein wichtiger Stellenwert zu. Der Grund ist nicht, dass humanistische Autobiographien von ihrer Definition her nun einmal nach Wahrhaftigkeit und Nachprüfbarkeit ihrer Angaben strebten, wie Velten meinte,41 sondern dass hier etwas bewiesen werden sollte, das eben nicht wahr war und nicht mit den Quellen übereinstimmte. Um den Beweis seines angemaßten Adels anzutreten, führt Scaliger seitenweise Belege und Quellen (S. 97–113; S. 114–123), Textfragmente, ja sogar Inschriften auf: S. 111 die Grabinschrift für Beatrice della Scala sowie für
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Velten, Das selbstgeschriebene Leben, passim.
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Cangrande della Scala, S. 122 die Grabinschrift für Giulio Cesare Scaliger. Eine Reihe dieser Belege wird durch Überschrift und Kopftitel wörtlich als „Testimonia de Iulio Caesare Scaligero“ präsentiert. Diesen „Testimonien“ liegt die Beglaubigungsstrategie der Evidenzfülle zugrunde. Dadurch soll der Leser den Eindruck bekommen, dass, wer soviel Evidenzmaterial aufweisen kann, glaubwürdig ist. Von daher erklären sich der Detailreichtum und die Gründlichkeit der genealogischen Angaben, die – um sie im wörtlichen Sinn ‚sichtbar‘ zu machen – zusätzlich in der Form einer schematischen Graphik angeboten werden (Abb. 29), mit der beeindruckenden Überschrift: SERIES SCALIGERORUM, PRINCIPUM VERONENSIUM, A MASTINO PRIMO COMITE SCALENBURGI, CIVE VERONENSI, AD IULIUM CAESAREM A BURDEN, BENEDICTI FILIUM, IOSEPHI SCALIGERI PATREM.
In der Stammbaumgraphik befindet sich ein sorgfältig präpariertes Implantat, das auf Giulio zurückgeht. Dieser hatte im Stammbaum der Della Scala Vornamen ausfindig gemacht, die auch in der Familie Bordon vorkamen. Sodann tauschte er die Familienmitglieder aus. Zum Beispiel die Väter: Der wirkliche Name von Giulios Vater war Benedetto Bordon.42 Auch im Stammbaum der Della Scala gab es einen Benedetto (den Sohn des Niccolò della Scala). Es war ein wunderschöner Zufall, dass die Mütter des Benedetto della Scala und des Benedetto Bordon beide den Vornamen Bartolomea hatten. Die Namen anderer Familienmitglieder stimmten natürlich nicht überein. Z. B. hieß der Vater des Benedetto Bordon Baldassare, der des Benedetto della Scala Niccolò. Drei der Geschwister des Giulio Cesare konnten nicht transplantiert werden: Cinira, Faustina und Fabrizio. Jedoch implantierte Cesare seine Schwester Camilla, wobei er sie allerdings in eine Cousine verwandeln musste. Das umfangreiche Evidenzmaterial wird in Scaligers Autobiographie auffällig oft von der rudimentärsten Form der Beglaubigung, die es gibt, untermalt: der Beteuerung, dass man die Wahrheit rede. Fast auf jeder Seite – manchmal sogar mehrfach – behauptet Scaliger, dass es die Wahrheit und nichts als die Wahrheit („veritas“) sei, die ihn motiviere und leite. Diese basso-ostinato-artigen Wiederholungen sollen dem Leser Vertrauen einhämmern. Seine Wahrheitsliebe sei das einzige Motiv 42
Billanovich, „Benedetto Bordon e Giulio Cesare Scaligero“.
Abb. 29: Stammbaum der Scaliger, aus: Josephus Scaliger, Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae, Leiden, Franciscus Raphelengius 1594, f. !*5"v.
Dokumentierungsrede und Beglaubigungsdiskurs
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für die Abfassung der Biographie des Vaters. Der Versuch, das Andenken des Vaters hochzuhalten, beruhe nicht auf gesellschaftlichem Ehrgeiz, sondern lediglich auf dem vollsten Vertrauen auf die Wahrheit („quam [memoriam patris] quidem ab oblivione vindicare, non ambitio est, sed fiducia veritatis“).43 Eine weitere Beglaubigungsstrategie ist, seine Schrift an den prinzipiellen Wahrheitsanspruch der Gattung Historiographie anzubinden, welcher bereits in der griechisch-römischen Antike erhoben wurde. Dozierend trägt Scaliger vor, dass der Historiker sich nicht von Dankbarkeit, Ehrgeiz oder Neid beeinflussen lassen dürfe, sondern nichts als die Wahrheit reden solle.44 Das Präsentationsbild des unbefangenen historischen Wahrheitssuchers belegt Scaliger etwas krampfhaft mit seinem Charakter und seiner Erziehung: „Ich bin ein Todfeind der Lüge, sowohl aufgrund meines Charakters als aufgrund der Erziehung, die mir mein Vater zuteil werden ließ“ („Mendacium tam a natura, quam a patris instituto capitaliter odimus“).45 Der Sohn Josephus nahm sich den Vater zum Vorbild: Die Lüge verabscheute er ( Julius Caesar Scaliger, Anm.) in dem Maße, dass er bei der bloßen Erwähnung des Wortes erbleichte. Nichts war ihm bei unserer Erziehung wichtiger als Wahrheitsliebe und Frömmigkeit. Immer, wenn wir Knaben vor ihn traten, trug er uns zuerst auf „Nicht lügen!“. Wenn er jemanden erwischte, dass er ihn angelogen hatte, war er unversöhnlich; der Mann war für ihn erledigt. Mendacium ita aversabatur, ut et ad mentionem ipsam excandesceret et nihil prius veritate ac pietate in Deum nobis commendabat. Nunquam memini nos pueros coram eo sisti, quin primum illud praeceptum inculcaret: „Non mentiri!“. Si aliquem mentitum sibi deprehendisset, nunquam postea cum illo in gratiam redibat.46
Hier wird sogar noch die Beglaubigung beglaubigt, durch direkte Rede und mise-en-scène. Der Leser wird eingeladen, sich in den Knaben zu versetzen, der vor der kompromisslosen Wahrheitsliebe des Patriarchen Julius Caesar Scaliger erzittert. Welcher Leser würde es noch wagen, dieser geballten Evidenz der Wahrheitsliebe zu widersprechen? Das reziproke Gegenstück zu dem ständigen Wahrheitsanspruch bildet die oftmals wiederkehrende Behauptung, dass alle Gegner Scaligers Lügner seien. Zur Bekräftigung seiner Behauptungen deckt er stets aller43 44 45 46
Scaliger, Epistola, 4. Ebd., 2. Ebd., 63. Ebd., 49–50.
Virtus Scaligera: Tugendrede als Adelsbeleg
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lei Motivationen und ‚Hintergründe‘ der „Lügen“ auf: Neid, Hass, böswillige Verschwörungen gegen seine Person, Geldgier, Alkoholismus und geistig-seelische Labilität.47 Die Gegner sind allesamt Pseudowissenschaftler, die mit ihren schlecht fundierten Schriften vor allem etwas verdienen wollen. Roberto Titi sei ein „Gaukler“ („aeruscator“), der mit Betrügereien auf der Straße Geld macht.48 Das seltene, einprägsame Schimpfwort „aeruscator“ bezog Scaliger aus einem Essay des Polyhistors Aulus Gellius, in welchem dieser die römischen Wahrsager und Zukunftsdeuter (Chaldäer) angriff: Es handle sich um „Geldklopfer, die sich ihr Brot und Einkommen durch Lügen zu erwerben suchen“ („homines aeruscatores et cibum quaestumque ex mendaciis captantes“).49 Nicht zuletzt dient das Gattungsgefäß, das Scaliger für seine Schrift wählt, der Beglaubigung: Er präsentiert sie als Privatbrief, der für den Freund Janus Dousa bestimmt sei. Er gibt vor, den Brief überhaupt ausschließlich für den Privatbereich (in keiner Weise für das breitere Lesepublikum!) geschrieben zu haben. Indem er als auctoritas den Verfasser exemplarischer Privatbriefe, Plinius d. J., abruft, stellt er fest, dass es einen großen Unterschied mache, ob man lediglich für einen Freund oder für alle schreibe.50 Dabei betont er, dass die Schrift kein Geschichtswerk darstelle, obwohl eine Familiengeschichte und Biographie sonst gerade dieser Textgattung zuzurechnen ist. Damit, dass Scaliger sein Werk als Privatbrief darstellt, versucht er Wahrhaftigkeit zu suggerieren: Im intimen Freundeskreis haben Lüge und Verstellung keinen Sinn.
5. Virtus Scaligera: die autobiographische Tugendrede als Adelsbeleg Die meisten Humanisten konstruierten sich selbst mittels eines sorgfältig angefertigten, die Verhaltensnormen der Respublica litteraria respektierenden, Zurückhaltung und Bescheidenheit demonstrierenden Präsentationsbildes. Joseph Scaliger jedoch misst sich auf prahlerische Weise ausschließlich hervorragende Eigenschaften zu und kehrt überall seine 47 48 49 50
Ebd., 58–59 („furiosus“; „amentia“); 62 („insani“; „furiosi“). Ebd., 60. Aulus Gellius, Noctes Atticae XIV, 1, 2. Scaliger, Epistola, 53: „Habes, ut puto, mi Douza, quod postulabas: si non, quod satis fuerit. Epistolam enim, non historiam scribimus et, ut inquit Plinius Caecilius, aliud est amico, aliud omnibus scribere“.
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Autobiographie als Genealogie: Joseph Scaliger
außerordentliche Tugend hervor, die er außerdem als höchstpersönliche Eigenschaft affichiert („virtus mea“). Jegliche Nuancierung scheint dabei bewusst vermieden worden zu sein. Scaligers Persönlichkeit zeichnet sich nach seinen eigenen Angaben durch Friedfertigkeit, Mäßigung, Wissenschafts- und Wahrheitsliebe, eine rationale Einstellung, der Gefühlsausbrüche fremd sind; durch Unschuld, reines Gewissen, Stabilität und höchste Intelligenz aus. Seinem schönen Charakter schreibt er auch noch – was angesichts seiner autolaudativen Rede kurios wirkt – eine besondere Bescheidenheit bzw. einen ausgesprochenen Mangel an Ehrgeiz („ambitio“) zu. Er bringt dazu den merkwürdigen Beleg bei, dass seine Bescheidenheit ihn vom Publizieren abgehalten habe („Sed nostra edere, odium ambitionis, a qua semper alieni fuimus, prohibuit“).51 Nicht der geringste Teil seiner umfassenden Tugend ist eine ans Unglaubliche grenzende intellektuelle Leistungsfähigkeit. Scaliger präsentiert sich als Virtuose und genialer Autodidakt, der sich mit atemberaubender Geschwindigkeit die schwierigsten Gegenstände zueigen macht. Die Leistung seiner Lehrer hingegen verschweigt er bzw. reduziert sie auf Null. Giulio hatte seinen Sohn Joseph mit elf Jahren auf das angesehene Collège de Guienne in Bordeaux geschickt. Was er dort gelernt hat, beschränkt Scaliger in der Autobiographie jedoch auf die Elementargrammatik des Lateinischen („elementa Latinitatis“).52 Dies ist angesichts der zeitgenössischen Unterrichtspraxis kurios: Die Elementargrammatik lernte man geraume Zeit vor dem elften Lebensjahr. Auf einer Bildungsanstalt wie dem Collège de Guienne erhielten die Schüler dieser Altersklasse Unterricht in lateinischer Literatur, Rhetorik und Dialektik. Scaliger jedoch stellt sich als Autodidakt dar: Er will sich seine hervorragenden Kenntnisse der lateinischen Literatur, Sprache, Rhetorik usw. ausschließlich dadurch erworben haben, dass er, nachdem er das Collège (nach drei Jahren) verlassen hatte, jeden Tag einen lateinischen Aufsatz zu einem – wohlgemerkt – selbstgewählten Thema schrieb. Davon, dass der Vater die Aufsätze korrigierte oder ihm irgendwelche Anleitungen gab, ist nicht die Rede. Vielmehr soll der Vater von dem hohen rhetorischen und gedanklichen Niveau der Aufsätze so verblüfft gewesen sein, dass er Joseph eines Tages beiseite genommen und gefragt haben soll, wo er denn diese prächtigen Stil- und Gedankenfiguren herhabe. „Da antwortete ich – wie es der Wahrheit entsprach – dass sie von 51 52
Ebd., 57. Ebd., 55.
Virtus Scaligera: Tugendrede als Adelsbeleg
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mir stammten und dass ich sie selbst erfunden hatte“.53 Auch seine Bewunderung für Josephs Erstlingswerk, die Tragödie Oedipus, habe der Vater nicht verbergen können.54 Der Vater dient hier, wie auch an anderen Stellen, als Autorisierungsinstanz von Scaligers Tugend. Die Behauptung, dass Scaliger die rhetorischen Stil- und Gedankenfiguren seiner Aufsätze selbst erfunden hat, erscheint angesichts der Tatsache, dass es sich hierbei um Schulbuchwissen handelt, geradezu absurd. Kurios ist weiter, dass er vom Unterricht des Vaters, der immerhin ein berühmter Humanist war, nichts gelernt haben will. Einen kuriosen Eindruck macht übrigens auch das „Beiseitenehmen“ des Sohnes, wenn man bedenkt, dass Vater und Sohn jeden Tag stundenlang beieinander waren, da Giulio den Sohn als Schreiber beschäftigte. Als genialen Autodidakten konstituiert sich Scaliger auch im Hinblick auf das Erlernen des Griechischen. Er behauptet, dass er sich mit neunzehn Jahren, nach dem Tod des Vaters, zu diesem Zweck zu dem berühmten Humanisten Adrianus Turnebus nach Paris begeben habe (S. 56). Der Unterricht bei Turnebus soll aber nicht gefruchtet haben. Erst nachdem sich Scaliger in sein Autodidaktentum zurückzog, behauptet er, hat er das Griechische erlernt. Das Tempo, das er dabei an den Tag legte, war nach seinen eigenen Angaben atemberaubend: Als Anfänger will er in drei Wochen den gesamten Homer (!) gelesen haben, ein Lektürepensum, das selbst ein erfahrener Gräzist kaum bewältigen könnte. Gelehrte, die den Versuch unternahmen, es Scaliger gleichzutun, scheiterten: Bischof Petrus Daniel Huet etwa gelangte im Jahre 1724 zu der Schlussfolgerung, dass dies nicht stimmen könne;55 Gibbon benötigte zur Lektüre der Ilias nicht 21 Tage, sondern 21 Wochen.56 Scaliger erhöht die Virtuosität seines griechischen Husarenrittes noch einmal mit der Behauptung, er habe keine griechische Grammatik verwendet; er habe sich während des Lernprozesses (!) durch Analogiebeobachtungen selbst seine Grammatik zusammengestellt (!).57 Auf suggestive Weise bringt Scaliger das Erlernen des Griechischen mit dem Tod des Vaters in Zusammenhang. Man erhält fast den Eindruck, dass der Vater den Sohn davon abgehalten hat. Dies wäre außer53 54 55
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57
Ebd. Ebd., 55–56. Huetius, Petrus Daniel, Commentarius de rebus ad eum pertinentibus, Amsterdam 1718, 38. Bernays, Joseph Scaliger, 119, schenkt der Behauptung, Scaliger habe in drei Wochen den gesamten Homer gelesen, überraschenderweise Glauben. Epistola, 56.
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ordentlich seltsam, besonders wenn man bedenkt, dass Julius Caesar Scaliger ein außerordentlich guter Gräzist war. Überhaupt ist merkwürdig, dass Joseph Scaliger Griechisch erst so spät (nach seinem 19. Lebensjahr!) erlernt haben will. Diese Angabe kann kaum auf Wahrheit beruhen: Aus der Zeit, in der er – zwischen 11 und 13 Jahren – am Collège de Guienne Unterricht erhielt, sind Briefe der Tutoren erhalten, die Joseph damals betreuten.58 Die Tutoren berichteten dem Vater über die Fortschritte des Sohnes und baten um die Vergütung diverser Ausgaben. Laurens de Lamarque, einer der Tutoren, ersuchte den Vater um die Vergütung von 6 sols für den Kauf einer griechischen Grammatik.59 Weiter teilt Laurens de Lamarque mit, dass er mit Giulio Cesares Söhnen damals Aristoteles las. Joseph Scaliger hat also hier nicht die Wahrheit gesprochen: Er besaß sehr wohl eine Grammatik des Griechischen und er erlernte das Griechische bereits als Zwölf- bis Dreizehnjähriger. Auch in seinem weiteren Bildungsweg schreibt sich Scaliger unglaubliche Leistungen zu. In vier Monaten will er das gesamte Corpus der griechischen Dichter gelesen haben. Dies ist, schon aus rein zeitlichen Gründen, gänzlich unmöglich. Danach will er sich das Hebräische selbst beigebracht haben. Dabei will er sich abermals seine eigene Grammatik zusammengestellt haben. Sogar die Bedeutung der hebräischen Schriftzeichen hat er ohne jegliche Hilfe selbst eruiert. Die Lehrer und Gelehrten, die ihn in Paris stimulierten und förderten, verschweigt Scaliger. Wir hören nichts von Jean Dorat (Joannes Auratus), der Scaliger zur Lektüre der Orphica anregte; nichts von Guillaume Postel, der Scaliger zum Studium des Hebräischen stimulierte; auch von Turnebus will er nichts gelernt haben. Wie viel er diesem Lehrer jedoch zu verdanken hatte, geht aus seinem Erstlingswerk, den Coniectanea in Varronem, hervor. Turnebus hatte damals gerade einen Kommentar zu demselben Werk (Commentarius in Varronis opera) verfasst. Grafton bemerkt zu Recht: „Turnebe had fare more to do with Scaliger’s training than has generally been realized“.60 Die virtus, die Scaliger für sich beansprucht, vervollständigt er mit dem Selbstlob seiner körperlichen Beschaffenheit. Er brüstet sich, dass er zur Abfassungszeit (mit 54 Jahren) noch einen so gesunden und kräftigen Körper besitze, dass ihn selbst Jünglinge darum beneiden müssten. Diese prächtige Körperlichkeit führt er auf seine moralische Superiorität zurück. 58
59 60
Für den Text der Briefe vgl. J. de Bourousse de Laffore, Jules-César de Lescale, Agen 1860, 33–42. Vgl. Robinson, Autobiography of Joseph Scaliger, 29, Anm. 1. Grafton, Joseph Scaliger, Bd. I, 109.
Virtus Scaligera: Tugendrede als Adelsbeleg
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Seine Privatbriefe sowie die Aufzeichnungen anderer, etwa des befreundeten Arztes Franciscus Vertunianus, zeigen jedoch, dass diese Angaben in einem angespannten Verhältnis zur Wirklichkeit stehen.61 Scaliger litt seit seiner Jugend an chronischen Verdauungsstörungen (Verstopfungen), an immer wiederkehrenden Depressionen, Fieberanfällen und allgemeinem Unwohlsein, später zusätzlich an Rheuma, Gedächtnisausfällen und einer Reihe anderer Krankheiten und Gebrechen. Zur Abfassungszeit der Autobiographie hatte sich sein körperliches Unwohlsein nur verstärkt, da er das feuchte Klima in den Niederlanden nicht vertrug. Die Selbstkonstituierung als Virtuose und Tugendheld überrascht, sowohl weil Scaliger damit gegen die Diskursregeln des autobiographischen Schreibens verstößt als auch, weil sich darin zahlreiche krasse Unwahrheiten finden. Welchen Sinn hat diese Selbstkonstituierung? Sie ist sinnvoll in Bezug auf Scaligers Darstellungsziel: Die Schrift hatte die Aufgabe, den Nachweis von Scaligers Adel zu erbringen. Wie aus Obigem hervorgeht, war dies eine ausgesprochen schwierige Aufgabe. Deshalb zieht Scaliger zur Belegung die Darstellungsstrategie der ‚circumstantial evidence‘ hinzu. Er versucht klarzumachen, dass schon seine außergewöhnliche Tugend, seine schier übermenschliche Leistungsfähigkeit einen Beleg seines Sonder- und Adelsstatus bilden. Nebenher ergibt sich auch noch der Ausweg, durch die Selbstkonstituierung als Tugendmensch und Virtuose nachzuweisen, dass er sich den Adelsstatus (selbst wenn dieser nicht dokumentarisch belegbar wäre) wenigstens aufgrund seiner noblen Eigenschaften und außerordentlichen Fähigkeiten verdiene. Dabei ruft er den Diskurs der Adelsdiskussion ab, die seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert im italienischen Humanismus geführt wurde. In dieser Diskussion wurde, z. B. von nichtadeligen Humanisten wie Giovanni Conversino da Ravenna,62 Buonaccorso da Montemagno (De nobilitate)63 oder Poggio Bracciolini (De nobilitate)64 , ein neues Kriterium zur Definition des „wahren Adels“ („vera nobilitas“) erstellt: die Tugend („virtus“). Während Scaliger seine Abstammung als Adelskriterium natürlich nicht aufgibt, macht er die enthüllende Fest61 62
63
64
Scaligerana I, s. v. „Scaliger“; vgl. Bernays, Joseph Scaliger, 117, 8 „Personalien“. Vgl. oben Kap. VI. 6 „Apologie: Augustins Confessiones als Beglaubigungsmaschine“; Rubinstein, „A grammar teacher’s autobiography“, 155. Vgl. Buonaccorso da Montemagno, De nobilitate, in: Ders., Prose et rime, ed. G. B. Casotti, Florenz 1718. Poggio Bracciolini, De nobilitate, in: Ders., Opera, Basel 1513, f. 15r–32r; E. Walser, Poggius Florentinus. Leben und Werke, Leipzig-Berlin 1914 (photomech. Nachdruck Hildesheim-New York 1974), 210–216.
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Autobiographie als Genealogie: Joseph Scaliger
stellung, dass sein Adelsstatus, selbst wenn er sich nicht auf eine Vielzahl von Vorfahren berufen könnte, sehr wohl auch mit seinem Vater oder mit ihm selbst anfangen könne. Jeder sei der Urheber seines eigenen Adels. Wichtig sei nicht, von welchen Vorfahren man abstamme, sondern vor allem, was der einzelne aus sich selbst mache.
6. Scaliger, „ein alter Holländer“: Autobiographien als Quellen frühneuzeitlicher Identitätsgefühle? Scaligers Autobiographie endet mit einer expliziten Bestimmung seiner nationalen Identität.65 Dem Historiker, der sich für die nationale Identität frühneuzeitlicher Personen interessiert, mag die Stelle als eine willkommene Quelle erscheinen, erstens, weil hier so explizit über nationale Zugehörigkeit gesprochen wird, zweitens, weil Scaliger wegen der großräumigen Übersiedlungen seines Vaters und seiner selbst einen interessanten Fall darstellt: Der Vater Giulio Bordon, ein geborener Paduaner, Venezianer Untertan und italienischer Muttersprachler, war ins Königreich Frankreich übersiedelt und hatte sich in Aquitanien, in der Stadt Agen (ca. 100 km nordwestlich von Toulouse) niedergelassen (1524). Einige Jahre später wurde er offiziell Franzose und heiratete die Französin Andiette de la Roque Lobejac (1528).66 Das Französische beherrschte Giulio bald so gut, dass es dem Niveau eines französischen Muttersprachlers gleichgekommen sein soll. Obwohl neueingebürgerter Franzose, Neu-Bürger von Agen, Neu-Aquitanier und geborener Paduaner, präsentierte er sich dennoch vor allem als Veroneser, als Della Scala. Joseph Scaliger, geboren in Agen, Sohn eines neueingebürgerten Franzosen und einer gebürtigen Französin und französischer Muttersprachler, hatte sein ganzes Leben, abgesehen von einem italienischen (1565–1567) und einem schweizer Intermezzo (1572–1574), in Frankreich verbracht und erst vor kurzem eine Professur in den nördlichen Niederlanden angetreten. Die Autobiographie scheint eine wertvolle Quelle für die Frage abzugeben, welcher Nation, Stadt, Region usw. Joseph Scaliger seiner Ansicht nach zugehörte: Fühlte er sich in erster Linie Italiener oder Franzose? Paduaner, Veroneser, Venezianer, Bürger von Agen oder Aquitanier (Region)? 65 66
Scaliger, Epistola, 63–64. Vgl. Grafton, „Scaliger, Julius Caesar“, 212–213.
Scaliger, „ein alter Holländer“
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Schon aus der obigen Analyse geht hervor, dass eine hermeneutische Herangehensweise zum Verständnis von Josephs Scaligers Autobiographie nicht ausreicht. Die Familienidentität der Della Scala fußt auf einem äußerst kreativen, ja abenteuerlichen Identitätskonstrukt, das der Vater Giulio hergestellt hat. Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, die Grundpfeiler des hermeneutischen Autobiographieverständnisses, zerfallen bei einer näheren Analyse zu unbrauchbarem Bauschutt. Es ist durchaus fragwürdig, ob sich aus einem solchen Text sinnvolle Angaben zu Josephs Identitätsgefühlen ableiten lassen. Der Text hatte ja nicht die Aufgabe, derartiges zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich vielmehr um eine Kampfschrift, die die Adelsprätention, die auf tönernen Füßen ruhte, mit aller Macht aufrechterhalten sollte. Dabei entstehen bizarre Konstellationen, brüchig wie Glasfiguren und hinfällig wie Eisskulpturen, die in sich widersprüchlich sind, jedoch eines gemeinsam haben: Es sind unrealistische Konstrukte, die, wie Erasmus’ Selbstdokumentierungen, im Glaspalast der virtuellen Wirklichkeiten anzusiedeln sind. Diese Beschaffenheit soll anhand zweier ‚Figuren‘ verdeutlicht werden. Die herausragendste Identitätszuschreibung stellt zunächst die – konstruierte – Zugehörigkeit zur Veroneser Familie Della Scala dar. Im Text kann man beobachten, wie diese Zugehörigkeit in Formulierungen wie „unsere Familie“ bzw. „meine Familie“ („gens nostra“, „genus nostrum“, „familia nostra“) hervortritt.67 Aufgrund dieser Gegebenheit würde man erwarten, dass Joseph in sein Selbstbild etwas von dieser italienischen oder Veroneser Identität aufnimmt. Jedoch treten hier sogleich Brüche in der Glasfigur auf. Das ‚idem‘ der Identität, die eine gewisse Einheitlichkeit voraussetzt, zerreißt sofort in Stücke. Roberto Titi hat Joseph Scaliger vorgeworfen, er sei ein neiderfüllter Kritiker „der Italiener“ – ein Vorwurf, der programmatisch auf der Titelseite von Titis Invektive des Jahres 1589 prangt. Im Rahmen von Scaligers Identitätskonstrukt der Della-Scala-Zugehörigkeit wäre es ein Leichtes gewesen, den Vorwurf zurückzuweisen: „Das ist ein ausgemachter Blödsinn, den du da von dir gibst. Ich bin ja selbst ein Italiener. Weshalb sollte ich meine eigene Nation angreifen?“. Scaliger hingegen reagiert überraschend auf eine Weise, aus der hervorgeht, dass er sich als Franzose präsentiert: „Warum gerade die Italiener? Warum lieber sie als die Deutschen oder meine Franzosen? […] Wer hat je jenes Volk (nml. die Italiener, Anm.) mehr gelobt als ich?“ („Cur potius Italis quam Germanis aut Gallis meis? […] Quis effusior 67
Ebd., 3.
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Autobiographie als Genealogie: Joseph Scaliger
unquam in laudes eius gentis quam ego“).68 Die Italiener weist er dem Bereich der Alterität, die Franzosen dem der Identität zu. Seine Vorgehensweise ist umso verblüffender, als der genealogische Schwindel gerade die Affichierung einer italienischen oder Veroneser Identität erfordert hätte. Daraus muss man ableiten, dass es Scaliger nicht um eine einheitliche und durch ihre Einheitlichkeit überzeugende Identitätsdarstellung zu tun war. Er lässt sich hier einzig und allein vom Angriff Titis leiten, der an der nämlichen Stelle Scaliger eben die französische Zugehörigkeit abgesprochen hatte.69 Die Identitätszuschreibung entsteht durch eine Ad-hoc-Argumentation. Betrachten wir die zweite Figur, die französische Identität. Diese müsste an sich ein festgefügtes Haus sein. Joseph Scaliger war in Frankreich geboren, als Kind einer Französin und eines naturalisierten Franzosen, er war ein französischer Muttersprachler, hatte sich den größten Teil seines Lebens in Frankreich aufgehalten und trug einen französischen Namen (Joseph de Lescalle). Der Familiensitz befand sich ebenfalls in Frankreich (Agen, Aquitanien) und der Adel der Familie war durch die französische Krone verbrieft worden. Wie geht Joseph Scaliger aber in der Autobiographie vor? An markierter Stelle, am Ende der Autobiographie, lanciert er ein überraschendes Bekenntnis seiner nationalen Identität: Ich bekenne klipp und klar: Ich gehöre […] eher den Holländern zu […]. Denn ich stamme im siebenten Glied von Margarethe von Habsburg, der berühmten Gräfin von Holland, ab, während nicht einmal ein Großvater mütterlicherseits aus Agen kommt. Somit bin ich ein alter Holländer. Fateor sane: atque adeo ad Batavos […] me potius […] pertinere dico. Septimus enim sum ab illustrissima Batavorum comite Margareta, cum ne avus quidem maternus Nitiobrix fuerit. Ita antiquus sum Batavus.70
Scaliger bekennt, dass er sich als Holländer fühle, ein alter Bataver sei. Wie soll man dieses „Bekenntnis“ interpretieren? Hat sich Scaliger schon nach einem Jahr eine holländische Identität angeeignet? – Seine Briefe lassen im Gegenteil erkennen, dass er sich in Leiden stets als Fremder fühlte und die Holländer als die ‚Anderen‘ betrachtete – ein Volk mit seltsamen, zum Teil barbarischen Sitten und Gebräuchen. Scaliger bekennt also gar nichts. Es handelt sich abermals um ein Ad-hoc-Ar68 69 70
Ebd., 59. Vgl oben. Ebd., 63–64.
Scaliger, „ein alter Holländer“
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gument, das den Sinn hat, der Stadt Agen eins auszuwischen. Scaliger hatte damals nämlich seinen Familienbesitz verloren. Deshalb behauptet er: „Ich gehöre eher den Holländern zu […], dem gerechtesten und menschlichsten Volk, als den Nitiobrigen (den Einwohnern von Agen, Anm.)“.71 Sowohl die holländische Identität als auch die Stammbaumverbindung mit der Statthalterin Margarethe von Parma sind reine Konstrukte, wodurch Scaliger eine bestimmte, limitierte rhetorische Wirkung erzielen wollte. Was lässt sich daraus weiter ableiten? Von nationalen Identitäten geht in der autobiographischen Literatur der Frühen Neuzeit keine auf so beschaffenen Faktizitäten beruhende, automatismusartige Wirkung aus. Es treten kaum so starke Zugehörigkeitsgefühle auf, dass ihnen die Autobiographen gewissermaßen auf Gedeih und Verderben ausgeliefert gewesen wären. Eher liegt eine kreative Knetmasse vor, welche die Autobiographen nach ihrem Gutdünken formten, um bestimmte – nicht selten unterschiedliche und widersprüchliche – Ziele zu erreichen.
71
Ebd., 63.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
XXV. Dekonstruktion einer Autobiographie: Kaspar Schoppes kommentierte Neuauflage von Scaligers Epistola (1607) 1. Eine unerwartete Diskursverlagerung: der detaillierte Kommentar zu einer zeitgenössischen Autobiographie Scaligers genealogisch-autobiographische Schrift verfolgte, wie oben gezeigt wurde, einen klaren Zweck, indem sie gegenüber Zweifeln und invektivischen Angriffen einmalig einen schlüssigen Beleg der adeligen Herkunft des Autors liefern sollte. Aufgrund der ephemeren Zielsetzung war, wie sich unschwer verstehen lässt, keine zweite Auflage vorgesehen. Merkwürdigerweise erschien jedoch 1607 in Mainz eine Neuauflage, die der deutsche Humanist und Philologe Kaspar Schoppe besorgte: Scaliger Hypobolimaeus, hoc est Elenchus Epistolae Iosephi […] De vetustate et splendore gentis Scaligerae. Diese Ausgabe unternimmt etwas völlig Unerwartetes und Überraschendes: Sie erschließt der neulateinischen Autobiographie die erhabene Gattung des humanistischen, philologisch-historischen Kommentars. Diese Gattung war in der Regel nur für antike Autoren oder die Bibel bestimmt,1 für Texte, die sich sowohl durch ein hohes Alter als durch eine besondere Ehrwürdigkeit und Autorität auszeichnen; die als Grundlagen des Wissens und der Bildung betrachtet wurden; die so wertvoll sind, dass man jede Zeile, jedes Wort auf die Goldwaage der Interpretation legen muss; die (u. a. altersbedingte) sprachliche Schwierigkeiten enthalten, die Erklärungsbedarf erzeugen. Es ist klar, dass dies alles schwerlich für zeitgenössische Texte gelten konnte, schon gar nicht für eine ephemere, zweckorientierte Schrift wie Scaligers Epistola mit der Familiengeschichte und der Autobiographie 1
Vgl. A. Buck, „Einführung“, in: Ders., O. Herding, Der Kommentar in der Renaissance, Boppard 1975, 7–19.
Kommentar zu einer Autobiographie
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des Autors. Schoppes Text war also offensichtlich darauf angelegt, beim Leser einen aufrüttelnden, befremdenden und verunsichernden Eindruck hervorzurufen. Der Umfang, die typologische Organisation, die inhaltliche Beschaffenheit – all dies musste den Leser mit Staunen erfüllen. Schon die die Aufmachung der Schrift erzeugt eine bis zum Brechen und Zerreißen strapazierte Spannung, indem sie Scaligers Text wie den eines antiken Autors präsentiert: Dieser ‚antike‘ – jedoch rezente und inhaltlich geradezu triviale – Text wird wohlgemerkt zweimal abgedruckt, einmal im Ganzen, einmal in einzelne Abschnitte gegliedert, und mit einem unerhört umfänglichen Kommentar ausgestattet, der sich zum ‚Quellentext‘ in einem Verhältnis von ca. 19 : 1 (!) befindet und insgesamt mehr als 900 Seiten lang ist! Dabei wendet Schoppe die besonders intensive und eindringliche humanistisch-philologische Kommentierungsmethode des sog. „running commentary“ an. Der Kommentar wird in eine Vielzahl einzelner Lemmata gegliedert, in welchen der Text in allen seinen Einzelheiten erklärt und erschlossen wird. Die Kommentar-Lemmata sind durch römische Lettern typographisch vom Haupttext, der in Kursiven wiedergegeben wird, fein und säuberlich getrennt. Die Tatsache, dass der betreffende Abschnitt des Haupttextes vor den Kommentar-Lemmata – obwohl Scaligers Epistola auch als Ganzes gedruckt wird! – nochmals integral wiedergegeben wird, suggeriert eine besonders große Ehrerbietung des Kommentators gegenüber seinem ‚Quellentext‘.2 Präzision, Genauigkeit und Detailreichtum zeichnen den Kommentar in jeder Hinsicht aus. Der Kommentator will offensichtlich nichts auslassen: Kein Quadratzentimeter, kein Wort des ‚Quellentextes‘ soll unbeleuchtet bleiben! Seine Texterklärung stattet Schoppe zusätzlich mit einer ausführlichen Dokumentation aus. Zur Dokumentation werden nicht zuletzt graphische Mittel, Abbildungenen (Familienwappen) und Schemata (z. B. Stammbäume und Stemmasegmente), herangezogen. Die Funktion des Dokumentierens wird bereits im Titel angesprochen: Elenchus wird in der humanistischen Buchkultur als Begriff für „Verzeichnis“, „Nachschlagewerk“, „Index“ verwendet – es liegt also ein Werk vor, das so eingerichtet ist, dass es der Quellen- oder Materialsuche dient. Das Titelwort Elenchus suggeriert, dass eine möglichst benutzerfreundliche Erschließung des Textes Schoppes Hauptanliegen war. Darauf, dass es 2
Für die Lesersteuerung in der Frühen Neuzeit, die von der formalen typologischen Gestaltung des Buches ausgeht, vgl. K. A. E., Enenkel, W. Neuber (Hrsg.), Cognition and the Book. Typologies of Formal Organisation of Knowledge in the Printed Book of the Early Modern Period, Brill, Leiden-Boston 2005.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
anscheinend um die Texterschließung geht, weisen weiter die sorgfältige Nummerierung der Lemmata und die Hinzusetzung von Marginalien hin, die eine Indexfunktion besitzen: Mit ihrer Hilfe kann sich der Leser bequem bei der Lektüre des Textes orientieren. Es scheint, dass wir einen Fall vor uns haben, in dem das Dokumentieren für die Erklärung einer humanistischen Autobiographie die Hauptrolle spielt. Genauigkeit ist Schoppes oberstes Ziel.3 Der Philologe Schoppe erklärt schwierige Stellen, weist Quellen nach und versucht, Fehler und Irrtümer dingfest zu machen. Zum Beispiel eruiert Schoppe für Scaligers „Quocunque eo, mitto mei signa. Quisquis perditus est, insanus, virtutis et bonarum litterarum hostis, vestigiis me meis colligit“ als Quelle Senecas De tranquillitate animi 3,7: „Numquam obscura virtus latet, sed mittit sui signa. Quisquis dignus fuerit, vestigiis illam colligit“.4 Mittels der philologischen Methode der Kollation kontrolliert der Kommentator Scaligers Text. Dabei zeigt er auf, dass Scaliger beim Zitieren einen Fehler gemacht hat. Seneca schrieb nicht „colligit“, wie Scaliger den Text wiedergibt, sondern „colliget“. Zusätzlich erklärt Schoppe die Bedeutung des Wortes „colliget“ bei Seneca („pro ‚coniiciet‘“). Wenn Schoppe im Kommentar griechische Quellen zitiert, druckt er neben dem griechischen Text zum besseren Verständnis eine lateinische Übersetzung. Er will offensichtlich nichts dem Zufall überlassen. Nach Philologenart versucht er im Kommentar möglichst tief in den Text, den er erklären will, einzudringen. Er hat ihn sich durch oftmalige Lektüre völlig zueigen gemacht, er ist ihm „in Fleisch und Blut übergegangen“. Schon im Ansatz fordert Schoppe diese gewissenhafte, philologische Herangehensweise: Denn wenn man in oftmaliger und intensiver Lektüre einen Autor behandelt hat, sodass einem dieser in Fleisch und Blut übergegangen ist, ist man unschwer imstande, dessen undeutliche Stellen zu erklären und die Fehler im Text zu emendieren; wenn man andererseits unstet in chronologischer und stilistischer Hinsicht unterschiedliche Autoren durchstreift und sich keinen Autor gänzlich zueigen macht, so verfällt man unweigerlich in Fehler und setzt sich mit unrichtigen Interpretationen und Textänderungen dem Spott der Gelehrten aus.
Wenn man Schoppes Kommentarwerk näher betrachtet, stellt sich überraschenderweise heraus, dass die diskursive Zuordnung zum philologisch-
3
4
Für Schoppe als Philologen vgl. A. Grafton, „Kaspar Schoppe and the Art of Textual Criticism“, in: H. Jaumann (Hrsg.), Kaspar Schoppe (1576–1649 ), Philologe im Dienst der Gegenreformation. Beiträge zur Gelehrtenkultur des europäischen Späthumanismus, Frankfurt a. M. 1998, 231–243. Scaliger, Epistola, 62; Schoppe, Scaliger Hypobolimaeus, f. 265v.
Biographischer Kontext: Schoppes Lebenslauf
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historischen Kommentar, die von der Textorganisation und der typographischen Aufmachung suggeriert wird, einen krassen Gegensatz zum Inhalt bildet. Statt der ehrfürchtigen Erschließung und Auslegung eines Quellentextes soll das Werk dazu dienen, diesen zu widerlegen, zu zerlesen und zu vernichten. Mit geradezu satanischer Detailfreude deckt Schoppe die Unrichtigkeit von Scaligers Autobiographie auf: Er demonstriert auf 900 Seiten, dass Scaliger den Adelsanspruch zu Unrecht erhoben hat. Der Kommentar liefert eine umfassende Dekonstruktion von Scaligers Autobiographie. Mit Hilfe der historischen Quellenanalyse und -kritik sowie seiner Kenntnis der Diskursregeln des (auto)biographischen Schreibens zerlegt Schoppe Scaligers genealogisches Autobiographiegebäude in seine Einzelteile, zergliedert und zerpflückt es. Das Herauspräparieren der Unwahrheiten ist sein oberstes Ziel. Die „Lügen“ („mendacia“) Scaligers sind die Ergebnisse seiner Nachforschungen: Voll Stolz nummeriert er sie, wobei er die beeindruckende Gesamtanzahl von mehr als 500 Lügen aufdeckt. Die formale Textgestaltung ist so angelegt, dass sie die Aufmerksamkeit des Lesers stets auf diese Lügen lenkt: Die nummerierten MENDACIA selbst werden durch Marginalien am rechten und linken Blattrand indiziert. Der Leser wird eingeladen, sich bei der Lektüre des Riesenwerks anhand dieser Marginalen zu orientieren. Durch ihre Dekonstruktionsmethode stellt Schoppes Werk einen äusserst interessanten Fall dar: Es macht die autobiographische Konstruktion als umgekehrten Vorgang darstellbar. Es ermöglicht, im einzelnen nachzuvollziehen, wie ein kritischer zeitgenössischer Leser, der mit den Diskursregeln des (auto)biographischen Schreibens vertraut und mit dem Rüstzeug der humanistischen Philologie ausgestattet war, die Konstruktion einer Autobiographie entziffern, entlarven und zerlesen konnte.
2. Der biographische Kontext: Schoppes Lebenslauf Kaspar Schoppe (1576–1649) kam in Burgtreswitz bei Mosbach, einem Dorf in der Oberpfalz, als Sohn eines Beamten des Pfalzgrafen Johann Casimir zur Welt, stammte somit aus protestantischem Elternhaus.5 Sein Vater, der seine intellektuellen
5
Für Schoppes Leben und Werke vgl. D’Addio, Il pensiero politico di Gaspare Scioppio 1962, 7–253; F. R. Hausmann, Zwischen Autobiographie und Biographie. Jugend und Ausbildung des Fränkisch-Oberpfälzer Philologen und Kontroverstheologen Kaspar Schoppe (1576–1649 ), Würzburg 1995; R. Hoche, Art. „Scioppius“, in: ADB 33
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
Fähigkeiten früh erkannte, sorgte für eine hervorragende Ausbildung: Nachdem Schoppe Unterricht in der lateinischen Grammatik, Rhetorik, Dialektik, lateinischen Verslehre, sowie in der griechischen und hebräischen Grammatik erhalten hatte, studierte er an den protestantischen Universitäten von Heidelberg, Altdorf und Ingolstadt (1593–1597). Neben dem Jura-Studium ging er stets seinen humanistisch-philologischen Interessen nach. In dem berühmten Juristen und Philologen Konrad Rittershausen (1560–1613), der an der Universität Altdorf lehrte, gewann Schoppe einen geistigen Vater. Unter seiner Leitung entwickelte er sich zu einem hervorragenden Philologen. Schon als Zwanzigjähriger machte er sich mit seinen Verisimilium libri IV (Nürnberg, 1596),6 einer Sammlung von Textemendationen zu verschiedenen lateinischen Autoren, besonders zu Symmachus, Nepos, Properz und Petron, einen Namen als Textkritiker. In schneller Folge publizierte er philologische Arbeiten, unter anderen Verdächtige Lesarten (Suspectae lectiones),7 eine weitere Sammlung von Textemendationen, Von der Textkritik (De arte critica),8 Anmerkungen zu Tertullians Apologeticum (In Tertulliani Apologeticum et in librum adversus Judaeos lectiones variae)9 und Ährenlese zu Phaedrus (Spicilegium in Phaedri fabulas)10. Außerdem publizierte Schoppe als humanistischer Schriftsteller eine Sammlung lateinischer Gedichte. Nach Beendigung des Jura-Studiums (1598) trat der Zweiundzwanzigjährige in den Dienst des kaiserlichen Rates Johannes Matthaeus Wacker von Wackenfels. Im selben Jahr wechselte er zum katholischen Glauben über. Auf einer Italienreise, auf der er den kaiserlichen Rat begleitete, gelang es ihm, die Gunst des Papstes Clemens VIII. zu erwerben. Ab dem Jahreswechsel 1598/99 hielt er sich neun Jahre in Rom auf. Unterstützt vom Papst, der ihm eine Pension ausstellte, und von einer Reihe kirchlicher und weltlicher Würdenträger, entwickelte er sich zu einem schlagkräftigen Propagandisten der katholischen Sache und der gegenreformatorischen Theologie. Nebenher setzte er seine philologischen Studien fort (Lukrez, Petron, Apuleius). Seine gegenreformatorische Publizistik brachte ihm in der Folge zahlreiche diplomatische Aufträge ein. Schoppe wurde ein Reisender in Kirchensachen. Das hohe Maß an Polemik in seinen Werken ist dafür mitverantwortlich, dass sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als die Wertschätzung der Invektive abnahm, in Vergessenheit gerieten. Erst in jüngerer Zeit kam ein neues Interesse für Schoppes Schriften auf.
6 7 8 9 10
(1891), 479–484; H. H. Hofmann, Art. „Scioppius“, in: Biografisches Wörterbuch zur Deutschen Geschichte. Zweite, völlig neubearbeitete und stark erweiterte Auflage, München 1975, Bd. III, Sp. 2605–2606; Jaumann (Hrsg.), Kaspar Schoppe (1576–1649 ); Ders., Art. „Scioppius, Gaspar“, in: W. Killy (Hrsg.), LiteraturLexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, 15 Bde., Gütersloh 1988–1993, Bd. 10, 469–471; H. Kowallek, „Über Gaspar Schoppe“, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 11 (1871), 401–482; Jöcher, Allgemeines Gelehrtenlexicon, Bd. IV (1751), Sp. 421–425, M. L. Ch., Nisard, Les gladiateurs de la république des lettres aux XVe, XVIe et XVIIe siècles, 2 Bde., Paris 1860, Bd. II, 1–206. Vgl. Werkverzeichnis D’Addio, Il pensiero politico di Gaspare Scoppio, 593, Nr. 8. Ebd., Nr. 9. Ebd., Nr. 10. Ebd., Nr. 13. Ebd., Nr. 14.
Dekonstruktion: Zerlesen der Autobiographie
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3. Dekonstruktion: Zerlesen der Autobiographie in Argumentation und Typographie Eine Autobiographie kann ihre Überzeugungskraft nur in ihrem diskursiven Zusammenhang entfalten. Wenn man diese Zusammenhänge zerliest, gerät der Text aus den Fugen. Mit dem philologischen Running commentary fand Schoppe ein ideales Medium zum Zerlesen und Dekonstruieren, weil diese Kommentarsorte durch ihr Gliederungsprinzip in einzelne Lemmata das Zerlegen und Zerstückeln des Textes schon von ihrer äußeren Form her erleichtert. Es gelingt Schoppe auf diese Weise, den Zusammenhalt von Scaligers Text immer wieder zu zerstören, wobei die einzelnen Kommentarteile je neuen, unabhängigen Sinngebungen zustreben. Auf diese Weise reißt Schoppe das Autobiographieund Genealogie-Gebäude Scaligers gründlich ein, und er verwandelt es, mit Spaß und Ernst gleichermaßen, in eine große, ungestalte, ruinenhafte Baustelle. Schon in den ersten Kommentar-Lemmata zerliest Schoppe den Sinnzusammenhalt, den von Scaliger konstruierten Anlass der Schrift. Er desavouiert Scaligers kausale Rechtfertigung – Sansovinos angeblich „zu kurze“ Behandlung der Della Scala. Schoppe tut so, als ob Scaliger die Absicht des Autors Sansovino missverstanden hätte; als ob Scaliger die Meinung gehegt hätte, Sansovino hätte eine erschöpfende Monographie über die Della Scala verfassen wollen. Im Übrigen contrafakturiert Schoppe Scaligers Beschwerde: Scaliger selbst habe in seiner Epistola über die echten Della Scala von Mastino an (13. Jahrhundert) bis Gulielmo (16. Jahrhundert) „kaum drei Seiten“ an Information zusammengetragen, dabei jedoch die rekordverdächtige Anzahl von 25 Lügen erzielt.11 Schoppe tut so, als ob es Scaliger in seinem Werk um eine Art Lügenwettkampf ging, mit dem erklärten Ziel, auf möglichst geringem Raum möglichst viele Lügen unterzubringen. Scaliger habe hier also – im Gegensatz zu dem biederen Sansovino – eine reife Leistung an den Tag gelegt. Ernst und Spaß gehen in Schoppes subversivem Diskurs ständig ineinander über. Eher ernsthaftes Zerlesen findet dort statt, wo Schoppe die invektivischen Kontexte von Scaligers Epistola eruiert und auswertet. Z.B. weist er Roberto Titi als den eigentlichen Gegner Scaligers auf. Methodisch legt 11
Schoppe, Scaliger Hypobolimaeus, f. 4r.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
er hier seiner Beweisführung den philologischen Textvergleich zugrunde, also eines der gängigsten Instrumente aus der Werkzeugkiste des Humanismus. Schoppe hat die Werke des Roberto Titi gründlich gelesen und analysiert. Aufgrund dieser Kenntnisse vermag er Scaligers Angaben zu berichtigen. Im ‚Running commentary‘ gibt Schoppe jeweils die Stellen an, die Scaliger irritiert haben, wobei er regelmäßig Titis Text wörtlich zitiert. Auch enttarnt er den pseudonymen Autor der ersten Verteidigung gegen Titi, Yvo Villiomarus, als Scaliger, und straft dessen Behauptung, er kenne die Schrift Titis nur vom Hörensagen, Lügen. Weiter widerlegt er die Komplott-Theorie mit der Geschichte vom Leitermacher als Stammvater der Della Scala sowie die Angabe, dass diese Geschichte von Melchior Wieland stamme, der sie in böswilliger Absicht dem Sansovino übermittelt hätte. Durch seine gründliche Lektüre von Titis Schriften kann Schoppe mit der gesicherten Erkenntnis aufwarten, dass dort die Geschichte vom Leitermacher nicht einmal erwähnt wird. Nachdem Schoppe als eigentliches Problem von Scaligers Schrift die Beanspruchung des Adelstitels nachgewiesen hat, ist es ein Hauptanliegen seines Kommentars, die Unrechtmäßigkeit des Anspruchs im Einzelnen zu demonstrieren. Eine Vielzahl nummerierter „Lügen“-Lemmata ist diesem Vorhaben gewidmet. Schoppe contrafakturiert Scaligers ‚Belege‘ dabei jeweils mit einer viel größeren Anzahl von Gegenbelegen. Diese Tendenz setzt sich selbst bis in die graphischen Beweismittel fort. Zum Beispiel hatte Scaliger als Beweisstück eine Tabelle mit dem Stammbaum der Della Scala aufgenommen:12 Schoppe stellt dieser mehr als ein Dutzend (!) Stammbaumtabellen gegenüber. Besondere Aufmerksamkeit widmet Schoppe der Frage des Namens. Schon auf der Titelseite zerliest und entautorisiert er Scaligers Autorsnamen: Als Verfasser der Epistola scheint nicht mehr „Scaliger“, sondern „Josephus Burdo“ auf, was, um die Einprägsamkeit zu vergrößern, in Blockbuchstaben wiedergegeben und außerdem fettgedruckt ist. Burdo (Bordon), den wirklichen Familiennamen Scaligers, erhebt Schoppe überhaupt zum Leitmotiv seines Kommentars. Bei der Zerstückelung von Scaligers Genealogie in Einzel-Lemmata erhält der Epistola-Text jeweils die Autorsüberschrift Burdo in Kapitalen, welche durch Zentrierung, Punkt und Leerzeilen nochmals besonders hervorgehoben ist: Burdo fällt dem Leser daher viele Male ins Auge; bereits in der ersten Hälfte des Kommentars mehr als hundert Mal! Nur Mendacium („Lüge“) kehrt noch häufiger wieder als Burdo. Dem Namen Burdo 12
Scaliger, Epistola, f. !*5"v.
Dekonstruktion: Zerlesen der Autobiographie
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verleiht Schoppe eine uneigentliche, aber deshalb umso einprägsamere Ladung, indem er ihn mit dem ziemlich seltenen lateinischen Wort „burdo“ = „Maultier“ (Junges von Pferdehengst und Eselin) identifiziert. Mit dem Maultier gewinnt Schoppe ein Sinnbild für den Bastard, welches er, obwohl es die Sachlage strikt genommen nicht richtig wiedergibt (Scaliger ist kein Bastardsohn eines Della Scala, sondern überhaupt kein Blutsverwandter eines Della Scala), in seinem Kommentar immer wieder aktiviert. Damit, sowie durch das ständige Einhämmern von Burdo und Mendacium findet eine fortgesetzte Entautorisierung von Scaligers Autobiographie statt. Den von Sohn und Vater Scaliger sorgfältig konstruierten Stammbaum dekonstruiert Schoppe auf noch sorgfältigere Weise. In einer Reihe von Detailstammbaumtafeln zerlegt er den Stammbaum in einzelne Bestandteile. Scaligers unrichtige Angaben werden überhaupt stets in Einzelteile zergliedert und als separate Mendacia mit einer Nummer versehen. Zum Beispiel in dem Kommentar-Lemma, das der Stammbaumtafel auf f. 124v zugeordnet ist, macht Schoppe die Lügen Nr. 267 bis 277 dingfest (Abb. 30a+b). Wie schon die emblematische Identifizierung des Namens Bordon mit dem Maultier zeigt, ist Schoppes Argumentationsweise nicht auf Sachlichkeit und Rationalität eingeschränkt. Uneigentliche Auslegungen und Wortspiele kennzeichnen die Dekonstruktion von Scaligers Autobiographie. Auf diese Weise bezweckt Schoppe, dass das autobiographische Gebäude Scaligers aus den Fugen gerät. Ein Beispiel für diese Entregelung: In seiner Autobiographie teilt Scaliger mit, dass er das Griechische nicht bei seinem Lehrer Turnebus erlernt habe, sondern ausschließlich als Autodidakt, nachdem er sich an seinen „Musenort“ („Musaeum“) zurückgezogen habe, um sich dort in zäher Schwerarbeit, gewissermaßen in einer „Eselsmühle“, die griechische Grammatik eigen zu machen.13 „Eselsmühle“ („pistrinum“) verwendete Scaliger, wie der Leser bei einer „normalen“, dem Common sense folgenden Interpretation versteht, zur Versinnbildlichung seines Fleißes und seiner Ausdauer. Schoppe jedoch entregelt die Stelle, indem er sie so auffasst, als ob Scaliger angeben wollte, dass der Musenort und die Eselsmühle ein und dieselbe Sache seien: „Was muss ich jetzt von dir hören, Joseph? Der Musenort und die Eselsmühle scheinen dir ein und dieselbe Sache zu sein? Sieh dich vor, dass dies nicht wahrlich eine Maultier-Interpretation ist, Musen („Musas“) mit Maultieren („Mulas“) zu verwechseln. […] 13
Scaliger, Epistola, 56.
Abb. 30a+b: Kaspar Schoppe, Scaliger Hypobolimaeus, f. 124v und 125r. Im Kommentar-Lemma, das der Stammbaumtafel zugeordnet ist, macht Schoppe die Lügen Nr. 267 bis 277 dingfest.
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Du lädst in der Tat große Schande auf dich, egal ob du am Musenort Mehl mahlst („in Musaeo pinsis“) oder in der Mühle meditierst („in pistrino musinaris“)“.14 Schoppe führt Scaligers „Irrtum“ (Musenort = Eselsmühle) auf einen Lesefehler zurück, als ob Scaliger das Schriftbild des Wortes „Musas“ („Musen“) mit dem des Wortes „Mulas“ („Maultiere“) verwechselt habe. Das hochstehende „s“ ähnelte in der Schreibpraxis um 1600 in der Tat oft dem „l“. Das nette Maultier Scaliger/Burdo liest bei seiner Eselsmühlenlektüre zwangsläufig überall Artgenossen heraus.
4. Entvirtuosisierung: Dekonstruktion von Scaligers Tugend Indem sich Scaliger in seiner Autobiographie unglaubliche geistige Leistungen, geradezu übermenschliche Eigenschaften zuschrieb und dabei die Tugend bzw. Virtuosität als persönlich-individuelle Duftmarke („virtus mea“) konstituierte, lieferte er einen sekundären Adelsbeweis: Selbst wenn die Dokumente nicht ausreichten, würde er aufgrund seines virtuosen Wesens den Adel verdienen. Schoppe setzt alles daran, diesem sekundären Adelsbeweis den Boden zu entziehen: Er dekonstruiert alle Belege von Scaligers Virtuosität im Einzelnen, sogar geringfügige, nebensächliche und indirekte. Z. B. vermeldet Scaliger, dass bei seiner Geburt am 9. August 1540 eine unerhörte Hitzewelle aufgetreten sei.15 Schoppe interpretierte die Stelle als Manifestation des biographischen Topos des Vorzeichens, welches die Geburt eines bedeutenden Mannes ankündigt. Dieser Topos wurde in einigen Fällen auf die Autobiographie übertragen: Zum Beispiel behauptete Eobanus Hessus, dass bei seiner Geburt das Sternzeichen der Leier aufleuchtete, zur Ankündigung eines berühmten Dichters. Obwohl Schoppes Argwohn von daher gerechtfertigt sein mag, ist er dennoch insofern bemerkenswert, als Scaliger in der Autobiographie die Hitzewelle weder als Vorzeichen bezeichnete noch deutete. Auf die auf den ersten Blick weither geholte Uminterpretation kam Schoppe durch seine genaue Kenntnis von Scaligers Aussprüchen und übrigen 14
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Scaliger Hypobolimaeus, f. 202v–203r: „Quid ex te audio, Iosephe? […] Eadem tandem res tibi videtur Musaeum et pistrinum? Vide ne hoc nimis burdone dignum sit Musas facere Mulas […]. Sane magnum id tuum flagitium, sive in Musaeo pinsis, sive in pistrino musinaris“. Epistola, 55.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
Selbstaussagen. So wusste er, dass sich Scaliger eine besondere Affinität mit dem Element Feuer zudichtete: Namentlich seine virtuose Denkkraft führte Scaliger auf die außerordentliche Hitze seines Gehirns zurück. Er verband sie mit seiner körperlichen Konstitution, seiner Neigung zu Fieberanfällen und Verstopfungen. Da hakt Schoppe ein, um zu einer witzigen Dekonstruktion zu gelangen: In dem Kommentar-Lemma geht es um die Erklärung der „wunderbaren“ heißen Komplexion Scaligers. Was ist jedoch das Wunder? Nicht, dass Scaliger so gut denken konnte, sondern dass die Hitze seinen Stuhlgang verlangsame: 25 Tage habe Scaliger einmal keinen Stuhlgang gehabt, „natürlich wegen der ungeheuren Hitze seines Gehirnes“.16 Das ist das eigentliche Wunder: Wer 25 Tage nicht zur Toilette geht, muss tatsächlich „ein göttlicher Mann“ sein. In seiner Dekonstruktion verdreht Schoppe die kausale Wirkung, welches das Geistesfeuer auf das Körperliche ausüben soll: Das Körperliche affiziert den Geist. Also räsoniert Schoppe: Da Scaliger seine Fäkalien nicht loswird, wirken sie sich auf seinen Geist aus – sie wandern in seinen Geist: „Jetzt verstehe ich“, folgert Schoppe zynisch, „weshalb die Schriften Scaligers so voll von Scheiße sind“. Bei seinem Zerlesen von Scaligers Sinnzusammenhang wendet Schoppe immer wieder Etymologie und Wortspiel an, um neue, subversive Zusammenhänge herzustellen: Die hochsommerliche Hitzewelle assoziiert Schoppe mit den Hundstagen. Er tut so, als ob Scaliger unter dem Hundsstern („sub canicula“) geboren sei.17 Damit verbindet er den Topos des Hundes als Sinnbild für den Polemiker, der „kläfft“ und „beißt“. Natürlich: Weil Scaliger unter dem Hundsstern geboren ist, ist er so „bissig“ („mordax“) und „unverschämt“ („impudens“). Das Element des Feuers veranlasst Schoppe aufs neue, subversive Zusammenhänge zu kreieren: Was hat der Feuermensch Scaliger in dem Wasserland Holland zu suchen? Wird er dort jemals in seinem Element sein? Schoppe kann ihm da nur das Allerbeste wünschen. Sarkastisch rät er ihm, trotz seiner feurigen Natur seiner Wasserscheu nicht zuviel nachzugeben. Der lächerliche Feuerheros soll nur ruhig das Schiff besteigen und mit „seinen Argonauten, den Holländern, nach Amerika fahren, um der Seeräuberei nachzugehen“.18 16 17 18
Scaliger Hypobolimaeus, f. 196r. Ebd. Ebd., f. 195v: „Quare si me audis […] ‚Tune cede mari, sed contra audentior ito‘ liberoque ac soluto animo Argonautis tuis Batavis classe nunc Indiarum spolia praedatum euntibus socium te adiungito“.
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In der Autobiographie gründet Scaliger seine Tugend besonders auf sein geniales Autodidaktentum, das niemals Lehrer oder Schulgrammatiken brauchte. Schoppe dekonstruiert diesen Anspruch: Was? Drei volle Jahre willst du, ein bereits so alter Knabe, für die lateinische Elementargrammatik gebraucht haben? Dein Vater, der ja hochgebildet war, soll geduldet haben, dass du so viele Jahre in seinem Haus untätig herumsaßest oder nur mit deinem Steckenpferd spieltest? Hör auf, ich glaube, du machst Witze oder versuchst uns vielmehr einzureden, du wärst ein Spätreifer – natürlich um als umso größeres Wunder zu erscheinen, da du, nachdem du bis zu deinem vierzehnten Lebensjahr abgesehen von der Elementargrammatik noch nichts gelernt hattest, in den nachfolgenden zwei Jahren mit so viel Sentenzen, Stilfiguren, mit dem gesamten Wort- und Stilschmuck der Poesie sogar deinen Vater, wohlgemerkt einen so scharfen und mäkeligen Kritiker, zur Bewunderung zwangst. Geh! Vielleicht findest du einen Dummkopf, der sich das einreden lässt. Bei mir wird dir das nicht gelingen. Ich kenne dich ja, wie sehr du Lügen vermeidest. Außerdem kann ich mir von meiner eigenen Ausbildung her ein Bild davon machen, wie dein Unterricht ausgesehen hat. Hui! Totum triennium tu tam grandis iam pupus in discendis primis elementis consumpseris? Teque pater literatissimus tot annos domi suae otiosum desidere aut equitare in arundine longa passus fuerit? Abi, ludis nos, credo, aut pro opsimathei (* qui sero discere coepit, Anm. Schoppes) probare te nobis postulas, ut magis scilicet sis miraculo, qui cum quartodecimo aetatis anno nihil etiam praeter prima Latinitatis elementa didicisses, biennio uno post tot sententiis, coloribus, omnibus poetices ornamentis et verborum delectu, ipsi patri tuo tam acri et fastidioso censori admirationem expresseris. Sed inveneris tu, qui istaec sibi persuaderi patiatur. Ego quidem, qui et novi, quam nulla sit tibi mendacium dicere religio, et de me domi facio coniecturam, hic tibi ut credam induci nequeo.19
Die Dekonstruktion der Virtus Scaligerana bringt Schoppe auf prinzipielle Bemerkungen zur Poetik der (Auto)Biographie. Zu Recht beanstandet er, dass Scaliger mit dem dick aufgetragenen Selbstlob gegen die Diskursregeln des autobiographischen Schreibens verstoßen habe. Nur im Fall der Biographie wäre das Vorzeigen der Tugend akzeptabel gewesen: „Mir wäre lieber, andere hätten dich gepriesen, als dass du dich selbst lobst“ („Malim istuc aliis videatur quam uti tu te collaudes“).20 Scaligers nachdrückliche Beanspruchung der Tugend als persönlicher Duftmarke musste den zeitgenössischen Leser irritieren. Wahrscheinlich, weil sich Scaliger dieser Gefahr bewusst war, versucht er, den sonderbaren Anspruch mit sprichwörtlichem Material zu belegen: Er ruft dafür die Spruchweisheit von den Schweinen und dem 19 20
Ebd., f. 203r. Ebd., f. 203v.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
Majoran ab, die da lautete, dass Schweine, die als schmutzige und stinkende Tiere galten, den angenehmen, aromatischen Duft des Majorans nicht ertragen könnten.21 Scaliger identifizierte den Majoran mit seiner Tugend, die Schweine mit seinen Feinden: Diese könnten also den wunderbaren Duft Scaligers nicht aushalten. Schoppe dekonstruiert den Sprichwortbeleg auf subversive Weise, indem er sowohl den Sinn des Sprichworts verdreht als auch die Identifikation verlagert. Scaliger lebt in der Tat unter Schweinen: Das sind die Holländer, die ja von ihren frühneuzeitlichen Feinden oftmals als Volk gebrandmarkt wurden, das im Morast lebt. Unter diesen stinkenden Schweinen ist Scaligers Tugendduft wirklich sehr nützlich: Er bewirkt, dass Scaligers holländische Schweine den also virtuos Duftenden überall finden können.22 Bei der Destruktion von Scaligers Tugendgebäude wechseln sachliche Widerlegungen mit spielerischen Attacken ab. Zum Beispiel widerlegt Schoppe Scaligers Behauptung, dass ihn seine Bescheidenheit vom Publizieren abgehalten habe,23 mit einer trockenen Aufzählung der Werke, die dieser unter eigenem Namen herausgegeben hat.24 Weiter bringt Schoppe mit philologisch-fleißiger Präzision eine Reihe von Stellen bei, an welchen sich Scaliger brüstet, bestimmte Sachen als erster gefunden zu haben oder besser zu verstehen als seine Vorgänger.25 An Stellen wie diesen trägt Schoppe pedantisch und verbissen ab, was Scaliger aufgebaut hat. Scaligers Virtuosität beruht hauptsächlich auf seinen textkritischen Leistungen, eine Tatsache, die er auch in seiner Autobiographie betonte. Jedoch hat er nach eigener Aussage mit seinen Konjekturen und Textverbesserungen niemals seine Scharfsinnigkeit unter Beweis stellen, sondern ausschließlich den antiken Autoren einen Dienst erweisen wollen. Diesbezüglich zerstückelt Schoppe Scaligers Tugendtext, indem er sich dessen Textemendationen einzeln vorknöpft. Wie wichtig Schoppe diesen Punkt nimmt, zeigt die Tatsache, dass er dem Kommentar-Lemma nicht weniger als 20 Seiten widmet! Dabei geht es ihm nicht nur darum, aufzuzeigen, dass Scaligers Konjekturen nichts taugen: Er unterminiert vor allem die beanspruchte textkritische Triebfeder, indem er stets im 21 22 23 24 25
Epistola, 62. Scaliger Hypobolimaeus, f. 265r. Epistola, 57. Scaliger Hypobolimaeus, f. 269v–270r. Ebd., f. 205r–208v.
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einzelnen offen legt, dass die jeweiligen Verbesserungen nicht auf tatsächlich vorhandene Textprobleme zurückgehen, sondern ausschließlich von Ruhmstreben und Geltungsdrang eingegeben worden sind: Ich wollte, du hättest mir auseinandergesetzt, weshalb du die Art der Textkritik, die nur einem Autor gewidmet ist, für weniger ambitiös hältst als diejenige, die sich abwechselnd, ebenso wie die Literaturgattung der Satire mit verschiedenen Gegenständen, mit verschiedenen Autoren beschäftigt. Denn wenn wir die Ambition, wie oben, als Streben nach Ruhm definieren, bei dem man für seine intellektuelle Leistung Applaus einzuheimsen versucht, dann hast du keinen Grund, dieser Art der Textkritik eine größere Ambition zuzuschreiben als jener. Jeder sieht ja leicht ein, dass der, der sich einen einzigen antiken Autor zum Gegenstand genommen hat […], dies lediglich deshalb getan hat, um die Frucht seiner Intelligenz umso leichter verkaufen zu können.26
Das Konstrukt der Bescheidenheit zerfällt damit in Ruhmstreben und Gewinnsucht, ebenso wie der gesamte Virtuositätsanspruch in Schoppes Dekonstruktion entautorisiert wird.
5. Netzwerk und Netzwerkspaltung: Sinn und Hintergrund der autobiographischen Dekonstruktion Der riesige Umfang der autobiographischen Dekonstruktion (mehr als 900 Seiten), ihre Heftigkeit und verbissene Dokumentationswut werfen die Frage nach ihrem Hintergrund auf. Weshalb dieser außerordentliche Aufwand an Zeit und Energie? Was wollte Schoppe damit erreichen? Die Frage wird umso dringender, als ein direkter Sachbezug fehlt. Weder Schoppe noch einer seiner Förderer und Mäzene hatten materielle Belange in Bezug auf Scaligers Adelsprätention. Es sollten weder Besitz-, noch Erbschafts- noch Herrschaftsansprüche geltend gemacht werden. Handelte es sich um eine Philologenfehde? Hatte sich Scaliger, der mit seinen Humanistenkollegen oft nicht sehr freundlich verkehrte, wieder einmal jemanden zum Feind gemacht? Hatte er die textkritischen Betrachtungen des Newcomers Schoppe verspottet? Kurioserweise ist offensichtlich das Gegenteil der Fall. Schoppe gehörte zum Scaliger-Netzwerk: Zwischen Schoppe und Scaliger herrschte seit dem Eintritt des erstgenannten in die Respublica litteraria ein von Aner26
Ebd., f. 208v–209r.
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kennung gekennzeichnetes Verhältnis. Konrad Rittershausen, Schoppes Lehrmeister und ein Freund Scaligers, führte seinen Schüler in das Scaliger-Netzwerk ein. Dazu gehört, dass er bei Scaliger um die Approbation von Schoppes Erstlingswerk Verisimilia ansuchte, indem er ihm im September 1596 ein Exemplar schickte: Kaspar Schoppe ist ein talentierter und scharfsinniger junger Mann, der in diesem Sommer ein neues textkritisches Werk mit dem Titel Verisimilia herausgegeben hat. Dieses Buch sende ich Dir, erlauchter Scaliger, in seinem Namen […]. Ich ersuche Deine Magnifizenz, dass auch Du der aufblühenden Begabung dieses Mannes gewogen sein mögest, den ich als den größten Bewunderer Deiner Tugend und Deiner unvergleichlichen Gelehrsamkeit kennengelernt habe und der mit allen seinen Kräften dem Lob der Tugend und dem literarischen Ruhm zustrebt. Gaspar Schoppius est adolescens ingeniosus et acutus, qui hac aestate novum opusculum criticum edidit titulo Verisimilium. Eum librum tibi, Illustris Scaliger, ipsius nomine mitto. […] Rogo autem tuam praestantiam, ut efflorescenti hominis indoli tu quoque favere velis, quem ego cognovi admiratorem virtutis et eruditionis tuae et qui ad omnem virtutis laudem decusque literarium ex summis opibus connititur.27
Scaliger gab dem Ansuchen statt. Er ließ dem jungen Gelehrten einen Anerkennungsbrief zukommen, wodurch er dessen Aufnahme in die Respublica litteraria besiegelte. Schoppe bewahrte diesen Aufnahmebrief, gewissermaßen seinen Gelehrtenpass, wie einen Schatz auf. In der Folge operierte er von dieser Netzwerkverbindung aus: Er widmete Scaliger Teile seines philologischen Werks und berief sich in seinen Schriften auch sonst häufig auf ihn. Bereits in seinem nächstfolgenden Werk, den Suspectae lectiones (Verdächtige Lesarten, 1597), bindet Schoppe seine Leistungen an Scaliger an. In diesem textkritischen Werk, in dem der junge Gelehrte mehr als zweihundert Textemendationen in der Form von Briefen an berühmte zeitgenössische Philologen präsentiert, scheint Scaliger nachdrücklich auf. Ihm ist das fünfte Buch gewidmet. Schoppe autorisiert dort seine Textemendationen mit Scaliger, dem „unvergleichlichen Mann“ („vir incomparabilis“) und philologischen Heros.28 Die Textautorisierung,
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Petrus Burmannus, Sylloges epistolarum a viris illustribus scriptarum, to. II, quo Justi Lipsii et aliorum eruditorum multae etiam mutuae epistolae continentur, Leiden 1725, 327. Suspectarum lectionum libri V. In centum et quatuordecim epistulas ad celebrrimos quosque aevi nostri viros aliosque amicos facti. In quibus amplius ducentis locis Plautus, plurimis Apuleius, Diomedes Grammaticus, alii corriguntur, notantur, supplentur, illustrantur (urspr. Nürnberg 1597), Amsterdam, Jodocus Pluymer, 1664, 237.
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die von einer geradezu religiösen Verehrung Scaligers ausgeht,29 setzt sich in Schoppes Monographie zur Textkritik De arte critica (Altdorf, 1597) fort. Die Werke Scaligers bezeichnet er dort als „goldene Gottesgeschenke“.30 Sie gleichen dem göttlichen Schild, der in Rom während der Regierung des Königs Numa Pompilius vom Himmel gefallen war und als Staatsheiligtum aufbewahrt wurde.31 Dem Gottessohn Scaliger ist es gelungen, schwierige und entlegene Autoren wie Varro (De lingua Latina), Vergil (Catalecta), Manilius, Catull, Tibull, Properz, Festus und Ausonius so gut zu erklären, dass sie nunmehr sogar Knaben verstehen können. Die enge Anbindung an Scaliger lässt erwarten, dass Schoppe auch dessen Autobiographie Epistola de vetustate et splendore gentis Scaligerae, die damals erst vor kurzem erschienen war, kannte. Dies lässt sich anhand von De arte critica belegen, wo Schoppe eine wörtliche Anspielung auf den Titel der Scaliger-Autobiographie macht.32 Es fällt auf, dass 29
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Ebd.: „Veniam dabis, vir incomparabilis, quod non satis habens iam semel te meis iuvenilibus nugis studiis longe gravioribus occupatissimum interpellasse, eo etiam audaciae processerim, ut reliquarum in Menaechmos emendationum vel variarum verius lectionum reliquias divino ingenio tuo pensandas et arbitrandas offeram […]. Imputabis non nihil, si quid heic aliquanto, quam oportuit, sequius a me commissum est, excellenti illi humanitati, quam in te Raphelengius filius aliique ex summo studio mihi praedicarunt et de qua vel tacentibus omnibus unae illae litterae tuae ad Kotteritium olim nostrum perscriptae mihique in thesauri locum carae, satis restari queant. Eas ego quo saepius relego, eo me facilius me impetraturum confido, ut mihi, qui in felicitatis parte putavero, si meis libellis tanti herois manibus tractari contingat, iteratae iam compellationis gratiam facias“. De arte critica, Amsterdam, Jodocus Pluymer, 1662, 11: „Si tamen Iosephum Scaligerum, divi Iulii Caesaris (ut eum Muretus recte appellabat) Filium, ulli mortalium componi par est; cuius scripta aurea, tamquam ancylia caelo delapsa, cum horrore et religione quadam omnes eruditi tractare solent: sive ille temporum rationes nove, sed incredibili arte et dexteritate, componit; sive Catalecta Virgilii et veterum poetarum; sive Catullum, Tibullum et Propertium; sive Manilii Astronomica; sive Varronis opera; sive Festi De verborum significatione libros; sive Ausonii denique Poemata; omnia ante corruptissima et nemini homini nato intellecta; admirabili et prorsus divino iudicio et ingenio adeo restituit et illustrat, ut nunc vel pueris legi illa intelligique possint. Atque hunc et generis splendore ac vetustate omnibus omnino Regibus et Principibus superiorem et omnium divinarum et humanarum rerum scientia cum nullo omnino homine comparandum, quum nominari audiunt, quicumque huius studii critici vituperationem gloriam suam existimant; non eos perversitatis in iudicando suae poenitet? Non illi nomen Scaligerum, quod et in criticis familiam ducit, protinus reformidant? O tempora, o mores!“ RE, Bd. I (1894), Sp. 2112–2113, Art. „Ancile“. De arte critica, Amsterdam, Jodocus Pluymer, 1662, 11: „generis splendore ac vetustate“.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
Schoppe damals Scaligers Adel voll anerkannte, ja sogar zustimmend bekräftigte. Schoppes Affirmation von Scaligers Adel geht weiter aus einer Trauer-Ode hervor, die er für Janus Dousa d. J. Ende 1596 oder Anfang 1597 verfaßte.33 In Hinblick auf die Gattung des Trauergedichts (epicedium) ist durchaus auffällig, dass das Gedicht zu einem Gutteil gar nicht von dem Verstorbenen handelt, sondern ein Loblied auf Joseph Scaliger und dessen vermeintliche Vorfahren darstellt. Das deutet darauf hin, dass sich Schoppe damals mit dem Adel Scaligers auseinandersetzte. Welchen Sinn ergibt Schoppes Affirmation von Scaligers Adel? Schoppe reagierte hier offensichtlich auf die Angriffe auf Scaligers Adel. Scaligers Autorität autorisierte im Netzwerk der Respublica litteraria Schoppes wissenschaftliche Werke. Schoppe konnte deshalb nicht zulassen, dass Scaliger als Schwindler und Parvenü entlarvt wurde. Deshalb schreit er in De arte critica hinaus, dass Scaligers Adel „überhaupt dem aller Könige und Fürsten überlegen“ sei.34 Der Scaliger Hypobolimaeus des Jahres 1607 zeigt eine gegensätzliche Welt. Was war geschehen? Schnitt sich Schoppe ins eigene Fleisch? Die Tatsache, dass er den Adel Scaligers vernichtend angriff, bedeutet jedenfalls, dass er nunmehr auf eine Autorisierung seiner Schriften mittels Scaliger verzichtete. Wie ist es zu der Änderung seiner Haltung gekommen?
6. Schoppes autobiographische Dekonstruktion als jesuitisches Komplott? Bernays betrachtete den Scaliger Hypobolimaeus als pro-jesuitische Stellungnahme: Schoppe habe darin vor allem den Jesuitenfeind Scaliger angegriffen und für dessen Anfeindungen der Jesuiten Rache nehmen wollen.35 In der Tat sind Reibereien zwischen Scaliger und den Jesuiten 33
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Melos ad Vir !um" Claris!simum" Paullum Merulam Iurisc !onsultum" et Historiarum professorem in celeberrima Academia Leydana modulatum super obitu Nobilis et Eruditi Jani Douzae filii acerbo et praematuro Veronae, Nürnberg 1597. De arte critica, Amsterdam, Jodocus Pluymer, 1662, 11. Bernays, Joseph Scaliger, 212–213: „Der zweite Vers 1 Reg. 17 […] soll dem Leser gleich an der Schwelle sagen, daß der philologische Riese hauptsächlich als Ketzer und Jesuitenfeind angegriffen wird […] Ebenso deutlich wird Scaligers Schrift gegen Serarius (S. J.) als die eigentliche Veranlassung der Scioppius’-schen angegeben“; vgl. ebd., 85: „Eine bessere Feder als die ins Fleisch schneidende des Scioppius hätten sich die Jesuiten nicht wünschen können zur Redaction des reichen Schmähstoffes, der aus allen Collegienhäusern Italiens und Deutschland war herbeigeschafft worden“.
Autobiographiedekonstruktion als jesuitisches Komplott?
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zu verzeichnen: Sie gehen auf einen Hebraisten-Streit über die Bedeutung des Begriffs „Assidaioi“ und der jüdischen Sekten zurück, der zwischen dem Franeker Theologieprofessor Joannes Drusius und dem Mainzer Theologieprofessor Nicolaus Serarius S. J. (1555–1609) aufgeflammt war.36 Nach Drusius sind mit „Assidaioi“ die Pharisäer gemeint, nach Serarius die mönchisch-asketischen Essener.37 Den Hintergrund des Streits bildete eine unterschiedliche Bewertung des Mönchtums, das der protestantische Gelehrte Drusius als legitime christliche Lebensform ablehnte, der Ordensmann Serarius jedoch verteidigte. Auf Drusius’ Schrift De Hasideis (Franeker, 1603) reagierte Serarius mit dem Traktat Trihaeresium (Mainz, 1604). 1605 mengte sich Scaliger in den Streit, indem er Drusius beipflichtete und Serarius’ Auffassung in seinem Elenchus Trihaeresii (Franeker, 1605) zu vernichten trachtete.38 Bernays fasste Schoppes Scaliger Hypobolimaeus als Rache für Scaligers Elenchus Trihaeresii auf. Scaliger selbst scheint Bernays’ Ansicht zu bekräftigen, indem er in seiner Korrespondenz immer wieder behauptet, dass die bösartigen Loiolitae (=Anhänger des Ignatius von Loyola) gegen ihn ein Komplott geschmiedet hätten und dass Schoppe mit den Jesuiten gemeinsame Sache machte. In einem Brief vom September 1607 (an Eilhardus Lubinus) behauptet Scaliger außerdem, dass die Jesuiten einen direkten Anteil an der Abfassung des Scaliger Hypobolimaeus gehabt hätten.39 Seiner Meinung nach war es kein Zufall, dass die Schrift in Mainz, einer Jesuitenhofburg, gedruckt worden ist. Während der Drucklegung hätten sie dem Werk „aus den Giftkästchen der hochheiligen Gesellschaft“ stets neues Material hinzugefügt. Deshalb habe die Drucklegung auch so lange gedauert. Täglich sei die Schrift auf diese Weise angewachsen, bis sie, durch die Zutaten der Loiolitae, monströse Formen angenommen habe. Das Bild, das Scaliger entwirft, mag auf den ersten Blick durch die Angabe konkreter Details überzeugen. Jedoch hält es einer näheren Prü36
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Für Serarius vgl. Dictionnaire de théologie catholique XIV (1939), Sp. 1912–1913; Koch, Jesuitenlexicon, Paderborn 1934, Sp. 1642–1643. Serarius war 1573 in den Orden eingetreten und lehrte in der Folge über zwanzig Jahre lang Theologie in Würzburg und Mainz. Zu dem Streit vgl. J. C. H. Lebram, „De Hasidaeis. Over Joodse studiën in het oude Leiden“, in: A. A. H. Kassenaar, u. a. (Hrsg.), Voordrachten Faculteitendag 1980, Rijksuniversiteit Leiden, Leiden 1981, 21–31. Johannes Drusius, Responsio ad Serarium de III sectis Judaeorum (seu apologia libri de Hasidaeis). Accessit Josephi Scaligeri Elenchus trihaeresii Nic !olai " Serarii […], Franeker 1605; zu Scaligers Elenchus Serarii vgl. Bernays, Joseph Scaliger, 206–211. Vgl. Epistola Nr. 380, Frankfurt 1628, 664.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
fung nicht stand. Zunächst ist die Behauptung, dass Schoppes Druckort Mainz von den Jesuiten (insbesondere von Serarius) eingegeben worden sei, nicht stichhaltig: Schoppe hatte bereits andere Werke – die nichts mit den Jesuiten oder mit Scaliger zu tun haben – in Mainz drucken lassen, zum Beispiel erst ein Jahr zuvor seine Elementa philosophiae Stoicae moralis.40 Weiter betreute er eine Neuauflage seiner Symmachus-Ausgabe in Mainz. Weder in Bezug auf die Elementa noch in Bezug auf die Symmachus-Ausgabe arbeitete er mit den Jesuiten zusammen. Auch lässt sich nicht nachweisen, dass er damals Sympathien für die Gesellschaft besaß oder ihr verbunden war. Vielmehr trat er als Gegner der Societas Jesu auf, die er in heftigen Polemiken bekämpfte. Noch im Jahre 1603 hatte er die bissige, satirische Streitschrift Satyricon […] et examen disciplinae Jesuiticae 41 gegen die Jesuiten abgefeuert. Die Tatsache, dass Schoppe gegen die Jesuiten polemisierte, war Scaliger selbstverständlich bekannt.42 Es muss ihm daher klar gewesen sein, dass seine Theorie von der Verschwörung Schoppes mit den Jesuiten kaum stimmen konnte. Vielleicht deswegen schwächte er in dem oben zitierten Brief an Lubinus seine Komplotttheorie etwas ab, indem er meinte, die Jesuiten hätten dem Werk ihr Gift ohne Mitwissen Schoppes beigemengt. Da die Jesuiten nicht den Ausschlag gegeben haben, was sonst veranlasste Schoppe zu dem vernichtenden Schlag gegen Scaliger?
7. Der protestantische Humanist nach Rom: Neukonstituierung des Netzwerkes Mäzene waren für Humanisten von entscheidender Bedeutung, nicht nur für ihren Lebensweg und ihre Karriere, sondern auch für ihr geistiges Umfeld, für das, was sie täglich beschäftigte, für den Inhalt, die Tendenz ihrer Schriften sowie ihre politischen und religiösen Stellungnahmen. 1597 machte Schoppe in Prag mit dem Kaiserlichen Rat Johannes Matthaeus Wacker von Wackenfels Bekanntschaft. Wacker von Wackenfels, der sich seit seiner Bekehrung zum Katholizismus mit Feuereifer für die katholische Sache einsetzte, nahm den jungen Gelehrten bei sich auf.
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Vgl. Werkverzeichnis in: D’Addio, Il pensiero politico di Gaspare Scoppio, 594, Nr. 39. Ebd., Nr. 28. Vgl. Z. B. Epistola Nr. 359, Frankfurt 1628, 633.
Der protestantische Humanist nach Rom
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Aufgrund des Einflusses seines Mäzens trat Schoppe 1598 zum katholischen Glauben über.43 Dies ist das entscheidende Ereignis, das Schoppes Vernichtungsschlag gegen Scaliger ursächlich bedingte. Schoppe stand jetzt auf der anderen Seite. Der unternehmungslustige junge Gelehrte gestaltete seine Karriere über katholische Netzwerke. Zu diesem Zweck begab er sich ins Zentrum der katholischen Macht, nach Rom (Dezember 1598), wo er einen noch mächtigeren und einflussreicheren Mäzen fand: Kardinal Cesare Baronio (1538–1607), den Vordenker der Gegenreformation und engen Vertrauten des Papstes Clemens VIII. (1592–1605). Baronio bestimmte fortan den Inhalt und die Tendenz von Schoppes Schriften und seiner politischen und religiösen Stellungnahmen. Schoppe konstituierte sich in einem neuen gelehrten, religiösen und politischen Netzwerk. Neben Baronio war er unter anderen mit Kardinal Ludovico Madruzzo, mit Cinzio Aldobrandini, dem Nepoten des Papstes Clemens VIII., mit Kardinal Franz von Dietrichstein und mit dem Altertumswissenschaftler Fulvio Orsini verbunden. Die Konstituierung in diesem Netzwerk erforderte, dass Schoppe den alten protestantischen Verbindungen abschwor. Die Gelehrten, die ihn ehemals in die Respublica litteraria aufgenommen hatten, allen voran Scaliger, waren als Autorisierungsquellen nunmehr abzuschreiben. Dies konnte nicht deutlich genug geschehen. Sogar von seinem geistigen Vater Rittershausen kehrte sich Schoppe höchst offiziell ab, indem er gegen ihn die Streitschrift De variis fidei Catholicae dogmatibus (Ingolstadt, 1599) abfeuerte.44 Hinzu kam, dass Schoppe zum propagandistischen Sprachrohr des Kardinals Baronio avancierte und kirchenpolitische Schriften im Sinn der Gegenreformation verfasste, in denen er sich als Vorkämpfer des katholischen Glaubens neukonstituierte. Für das Gelingen der Gegenreformation war es von vorrangiger Bedeutung, die Bugbilder der protestantischen Respublica litteraria zu zerstören: Leute wie Scaliger, Du Thou, Casaubon. Mit Scaliger nahm Schoppe gleich den prominentesten protestantischen Gelehrten aufs Korn. Baronio erwartete sich viel von Schoppes vernichtendem Angriff. Schoppe würde auf besondere Gnaden zählen können. Zu Schoppes Leidwesen starb der Kardinal jedoch, 43
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Vgl. Epistola de veritate […] cum considerationibus aliquot de Pseudoprophetis nostri temporis et Epistola ad Cardinalem Baronium, Rom 1599; Neuauflage mit dem Titel Epistola de sua ad Orthodoxos migratione, Ingolstadt 1600; Werkverzeichnis in: D’Addio, Il pensiero politico di Gaspare Scoppio, 593, Nr. 17. Ebd., Nr. 21.
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Dekonstruktion: Schoppes Scaliger Hypobolimaeus
bevor sein Scaliger Hypobolimaeus im Druck erschien (1607). Wie gut das Thema jedoch gewählt war, zeigt der Umstand, dass der Scaliger Hypobolimaeus Schoppe wesentlich bei der weiteren Gestaltung seiner Karriere half. Er widmete die Schrift einem anderen Architekten der Gegenreformation, Erzherzog Ferdinand und erlangte damit noch im Erscheinungsjahr eine Stelle am Hof desselben als erzherzoglicher Rat. In der Folge entwickelte er sich im Dienst Ferdinands zu einem sehr erfolgreichen Gesandten, der unter anderem die Katholische Liga vorbereitete. Schoppe bekämpfte in Scaliger, wie er in einer autobiographischen Notiz mitteilt, den Protestanten und Häretiker. Er berichtet, dass im Februar des Jahres 1605 junge Edelleute aus Sachsen-Anhalt in Rom eintrafen.45 In Diskussionen versuchten sie nachzuweisen, dass der Apostel Petrus Rom nie betreten habe. Die Implikationen eines solchen Nachweises, bei dem sich die Edelleute auf Scaliger beriefen, hätte sich für die katholische Sache schlimm ausgewirkt: Das Papsttum hätte seine Legitimation verloren. Dieses Ereignis betrachtete Schoppe als Indikation, dass Scaliger ein höchst gefährlicher Ketzer sei, dem man den Mund stopfen müsse. Der Scaliger Hypobolimaeus gehört, wie Schoppe angibt, in eine Reihe mit drei kirchenpolitischen Polemiken, der Excitatio Protestantium, der Relatio de auctoritate Lutheri und dem Syntagma de cultu et religione. Sein Kommentar funktioniert somit im Diskurs der contrareformatorischen Polemik. Schoppe hatte dabei Scaligers Autobiographie zum literarischen Schlachtfeld gemacht.
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Ebd., 26.
Autobiographie in den Diskurs der Privatkorrespondenz
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XXVI. Odysseus auf der Rückreise ins Vaterland oder Chamäleontik als autobiographische Methode: Justus Lipsius (1600) 1. Einstieg: Autobiographie in den Diskurs der Privatkorrespondenz Briefe sind der geeignete Ort für private Mitteilungen. In ihnen kann man Freunden oder Familienmitgliedern anvertrauen, was in einem vorgeht; man kann seine persönlichen Gedanken, Gefühle, Befürchtungen, Wünsche und Absichten zum Ausdruck bringen. Auf diese Weise charakterisierte der Philologe, Altertumswissenschaftler und Philosoph Justus Lipsius (1547–1606) – selbst Verfasser von mehr als dreitausend lateinischen Briefen – in seinem Briefsteller, Epistolica institutio, den Diskurs des Briefes.1 Der Verfasser eines Briefes sollte dem Adressaten ehrlich und aufrichtig gegenübertreten, ihm gegenüber „die Ungeschminktheit einer ungezwungenen Geisteshaltung“ zeigen.2 Lipsius verfasste seine Autobiographie im
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Für den Text der Epistolica institutio siehe die Ausgabe R. V. Young, M. Th. Hester (Hrsg.), Principals of Letter-Writing. A Bilingual Text of Justi Lipsi Epistolica Institutio, Carbondale, Illinois 1996. Im zweiten Kapitel definiert Lipsius den Brief als „animi nuntius“ – „Bericht vom Geistes- und Seelenzustand [des Absenders]“. Der wesentliche Sinn des Briefes ist nach Lipsius, dass er entweder die Gefühle des Absenders „bezeuge“ oder eine Mitteilung überbringe (Epistolica institutio, 8). Komposition und Stil sollen möglichst natürlich und einfach sein, eine Vorschrift, die Lipsius mit der erwünschten Geisteshaltung der Aufrichtigkeit verband (Epistolica institutio, 30). Zu Lipsius’ Briefsteller vgl. E. Dunn, „Lipsius and the Art of Letter-Writing“, in: Studies in the Renaissance 3 (1956), 145–156; M. Fumaroli, „Genèse de l’épistolographie classique: rhétorique humaniste de la lettre, de Pétrarque à Juste Lipse“, in: Revue d’histoire littéraire de la France 78 (1978), 886–900. Für den Topos des Briefes als Spiegel der Seele W. G. Müller, „Der Brief als Spiegel der Seele: Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zur Samuel Richardson“, in: Antike und Abendland 26 (1980), 138–157. Epistolica institutio, 30.
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Chamäleontik als autobiographische Methode: Lipsius
Diskurs des Privatbriefes.3 Der Adressat des Briefes ist in der Tat ein Vertrauter, der aus Antwerpen stammende Schüler und Freund Joannes Woverius (Jan van de Wouwer), der einige Jahre in Lipsius’ Haus in Löwen gelebt hatte.4 In der Autobiographie teilt Lipsius in einfacher, direkter, ungezwungen und natürlich wirkender Form seine Wünsche, Gedanken und Absichten mit. Für diese Eigenschaften der Briefautobiographie, welche das Datum des 1. Oktober 1600 trägt, scheint folgende Stelle bezeichnend: Der bessere Teil meines Charakters brachte mich wieder auf den rechten Weg und ich entfernte mich durch eine kleine Reise: Ich beschloss, nach Wien, an den kaiserlichen Hof zu reisen, machte mich auf den Weg und vollendete die Reise, nicht ohne vorher Dole besichtigt zu haben. Dort raffte mich ein furchtbares Fieber fast dahin, das ich mir bei einer Rede, die ich zu Ehren meines Freunde Giselinus zu Mittag hielt, und bei dem anschließenden Gastmahl zugezogen hatte. Ich kam mit dem Leben davon und gelangte nach Wien. Dort machte ich mit Augerius Busbecquius, Joannes Sambucus, Joannes Crato und Stephanus Pighius Bekanntschaft. Diese Männer versuchten mich durch mancherlei Entgegenkommen dort zu behalten. Jedoch vergeblich. Denn ich sehnte mich nach meinem Vaterland und machte mich in der Absicht, zurückzukehren, auf den Weg, durch Böhmen, Meißen, Thüringen und diese Gegenden. Da trafen Boten mit der bitteren Nachricht ein, dass unser Belgien von einem neuen Krieg in Mitleidenschaft gezogen
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Lipsius, Epistolarum Selectarum Centuria tertia miscellanea, Antwerpen 1601, Epistola 87. Für die relevante kritische Ausgabe des lateinischen Textes (mit Kommentar) siehe ILE XIII, 00 10 01 (J. Papy). Eine früher vielfach verwendete Ausgabe mit französischer Übersetzung und Realienkommentar stammt von P. Bergmans („L’autobiographie de J. Lipse“, in: Messager des sciences historiques de Belgique 63 (1889), 133–157). Im Untenstehenden wird der Text nach ILE (mit Zeilenangabe) zitiert. Zu der Briefautobiographie hat der Verf. eine Vorarbeit erstellt: K. A. E. Enenkel, „Humanismus, Primat des Privaten, Patriotismus und Niederländischer Aufstand: Selbstbildformung in Lipsius’ Autobiographie“, in: Ders., Ch. L. Heesakkers (Hrsg.), Lipsius in Leiden. Studies in the Life and Works of a Great Humanist on the Occasion of his 450th Anniversary, Voorthuizen 1997, 13–45. Obwohl einige wesentliche Resultate dieser Vorarbeit in dieses Kapitel eingearbeitet wurden, unterscheiden sich die Ausführungen desselben von der Vorarbeit schon in Bezug auf den methodischen Ansatz. Zu der Briefautobiographie vgl. auch G. Oestreich, „Justus Lipsius in sua re“, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 80–100 (ursprünglich in: G. Reichenkron, E. Haase [Hrsg.], Formen der Selbstdarstellung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstportraits. Festgabe für Fritz Neubert, 291–311). Für das gemeinsame Leben des Lipsius mit seinen Schülern („contubernium“) vgl. M. P. O. Morford, Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius, Princeton, New Jersey 1991, passim. Woverius hielt sich ab ca. 1595 bis zum Sommer des Jahres 1599 in Lipsius’ Haus auf; vgl. Morford, Stoics and Neostoics, 42. Zu Woverius vgl. BB, Bd. V, Sp. 872–74; BN 27, S. 408–10; Bergmans, „L’autobiographie de J. Lipse“, 134–137; und Papys Kommentar zu ILE XIII, 00 05 09.
Autobiographie in den Diskurs der Privatkorrespondenz
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und unser väterlicher Besitz durch Kriegshandlungen beschädigt worden sei. Auf diese Nachricht hin machte ich an jenen Orten Halt. In Jena blieb ich ein wenig länger als ein Jahr; ich lehrte dort, und dies war der Anfang meiner Professorenlaufbahn. Aber als sich die militärische Lage bald ein wenig beruhigte, wendete ich mich wieder den Meinen und meinen Besitzungen zu und begab mich nach Köln. Ich heiratete dort eine Frau, die mehr meinem Geschmack als den Ratschlägen meiner Freunde entsprach. […] In Köln machte ich neun Monate Halt, gab dort Tacitus zum ersten Mal heraus sowie die Anmerkungen zu Tacitus und verfasste weiter die Antiquae lectiones (Alte Lesarten). Dann reiste ich auf mein Landgut bei Overijse, in der Absicht, ein Landleben zu führen und das Zelt meines Lebens an jenem ruhigen Ort aufzuschlagen. Doch der Krieg verhinderte es und verjagte mich nach Löwen, wo ich mich (auf Anraten meiner Freunde) mit größerem Ernst dem Jura-Studium widmete. In einer offiziellen Inauguration wurde mir sogar der Titel des Rechtsgelehrten verliehen. […] Dann brachen wieder heftigere Gewitter und Stürme los, die nichts eher bewirkten, als dass sie das Schiff der Niederlande zum Sinken brachten. Die Wellen warfen uns, wie viele andere, in Holland an Land. Dort ließen wir uns nieder, freilich in der Absicht, dass uns das Land ein Zwischenhalt, jedoch kein Hafen sei. Aus den Stürmen gingen jedoch neue Stürme hervor; sie verboten uns, zurückzukehren und hielten uns dort dreizehn Jahre lang fest. Weshalb sollte ich es leugnen? Ich traf dort Leute an, die mir wohlgesinnt waren und mir Wohltaten zukommen ließen, aber die Religion und mein Ruf, beides wichtige Motivationsgründe, zwangen mich, sie zu verlassen. Natura melior me reduxit atque ego me subduxi peregrinatiuncula, quam Viennam Austriae et in Caesaris aulam decrevi, suscepi, perfeci, prius tamen et obiter Dola Sequanorum lustrata. Ibi accerrima febris me paenissime sustulit, quam contraxeram oratiuncula in honore et titulo Giselini mei dicta meridie et convivio mox secuto. Evasi, Viennam perrexi atque ibi Augerio Busbequio, Ioanni Sambuco, Ioanni Cratoni, Stephano Pighio innotui atque ii retinere me et illigare in iis locis non una conditione conati. Frustra. Nam patriam respectabam et animo redeundi per Bohemiam, Misniam, Thuringiam et ea loca iter institui, cum acerbi nuncii de afflicta nobis bellis nostra Belgica, patrimonio vi militum attrito, me pedem figere in iis locis adegerunt. Ienae paullo plus annum mansi, docui et illa primordia mihi ad professorium hoc munus fuere. Sed rebus paullum modo tranquillatis, oculos iterum ad meos et mea flexi. Coloniam Ubiorum veni, uxorem duxi, mei magis animi quam amicorum impulsu. […] Coloniae novem menses subititi, Tacitum primo correctum et Notas ad eum dedi, ibidem Antiquas lectiones conscripsi. Inde in Iscanum meum migravi, animo destinato ruri agere et tabernaculum vitae in quiete illa collocare. Bella vetuerunt, Lovanium compulerunt atque ibi (hoc tamen ex amicorum consilio) iuris studiis paullo magis serio me dedi et titulum etiam Iuris Consulti publica inauguratione sumpsi. […] Tum acriores procellae iterum et venti, quibus nihil propius factum quam ut mergerentur Belgicae haec navis. Fluctu, cum pluribus, eiecti sumus in Bataviam terram, insedimus, sed !ea" mente, ut stationem eam haberemus, non portum. Turbae tamen e turbis mutare vetuerunt et tredecim ipsos annos tenuerunt. Cur autem negem? Homines benignos et beneficos repperi, sed relinquere eos Religio et Fama (acre utrumque telum) adegerunt.5 5
ILE XIII, 00 10 01, 101–130.
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Chamäleontik als autobiographische Methode: Lipsius
Dieser Abschnitt, der den Kern von Lipsius’ Lebenslauf (1572–1591) betrifft, hat trotz seiner gerafften und zusammenfassenden Erzählweise etwas Fesselndes, das den Leser – auf ganz andere Art als Junius mit seiner szenischen, dramatischen Textorganisation – mitten in das autobiographische Geschehen hineinzieht. Lipsius erreicht dies, indem er uns in einen Gedankenprozess verwickelt, der seine jeweiligen Absichten und Wünsche wiedergibt. Dadurch macht er uns gewissermaßen zu Mitwissern und Komplizen seines Lebensplanes. Diese Strategie, ebenso wie die offensichtliche Bereitschaft, das Scheitern seiner Absichten zuzugeben, scheint in die moderne Autobiographik, die von Rousseau eingeleitet wird, hinüberzuführen. Lipsius konstituiert seinen Lebenslauf als eine Kette letztlich misslungener Vorhaben. Schon die durch den einfachen Satzbau und die einfache Wortwahl gekennzeichnete Darbietungsweise lässt Lipsius’ Selbstkonstituierung glaubhaft und aufrichtig erscheinen. Der Leser erhält den Eindruck, dass Lipsius sich einem Freund anvertraut, ihm die Geheimnisse seines Lebens zuflüstert. Es schmeichelt dem Leser irgendwie, auf diese Weise behandelt zu werden. Ein wichtiges Geheimnis stellt offensichtlich das Scheitern der persönlichen Wunschvorstellungen dar. Der Leser vermutet, dass die Niederlagen den Verfasser mit Scham erfüllten. Vor dem Leser ersteht ein Mann, der von einer glühenden Vaterlandsliebe beseelt wird und dessen Tragik es ist, dass die politisch-militärische Lage die Erfüllung dieser sehnsüchtigen Liebe stets vereitelte. Es fällt auf, dass dieser Lebenslauf im Unterschied zu anderen neulateinischen (Auto)Biographien von einer seelischen Disposition her bestimmt wird: Die heiße Heimatliebe ist der Kausalfaden, der die Ereignisse des Lebenslaufes miteinander verknüpft. Die Tragik dieses Mannes erscheint umso größer, wenn man sich vor Augen hält, wie lange er durch den Krieg gezwungen war, von seinem Vaterland fern zu leben: fast zwanzig Jahre! Man kann sich ausmalen, wie groß sein Schmerz gewesen sein muss, wie groß sein Verlangen. Das Leben des Lipsius bildet, so betrachtet, eine nicht enden wollende Misere. Er gehörte offensichtlich zu denen, die durch die Religionskriege aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Man könnte erwarten, dass er, in diesem Punkt ein Schicksalsgefährte des Junius, sein Leben ähnlich wie jener darstellen werde: als exemplarischen Beleg der Machtlosigkeit des Menschen. Lipsius’ Autobiographie fügt sich jedoch nicht in diese theologische Konzeption: Lipsius betont nämlich explizit seine Entscheidungsfähigkeit. Dass die äußeren Ereignisse nicht mitspielten, ist etwas anderes. Wesentlich ist, dass Lipsius seine Handlungen rational nachvollziehbar
Autobiographie in den Diskurs der Privatkorrespondenz
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darstellt. Seine Entscheidungen erscheinen jeweils folgerichtig und zweckbestimmt und werden stets im Kausalitätsmodus präsentiert: Weil ihn Vaterlandsliebe beseelt, will Lipsius von Wien in die Niederlande zurückkehren. In dieser Beziehung erscheint folgerichtig, dass er die Angebote seiner Freunde, in der Donaustadt sesshaft zu werden, ablehnt. Weil ihn unterwegs die Nachricht vom Ausbruch des Niederländischen Aufstandes erreicht, wird er zur Änderung seines Plans veranlasst. Es erscheint nachvollziehbar, dass er sich nicht in das Chaos eines Krisenge bietes begeben will, zumal sein väterliches Gut durch die Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Es ist einsichtig, dass Lipsius zuwartete, Risiken vermied. Nicht weniger verständlich ist, dass er in der Folge vermied, irgendwo auf Dauer zu bleiben: Sein eigentlicher Wunsch war ja, ins Vaterland zurückzukehren. Ebenfalls folgerichtig ist, dass er, als die militärische Lage sich besserte, sich zur Rückkehr ins Vaterland entschloss; gleichermaßen, dass er, einmal dort angekommen, für immer dort bleiben wollte. Weil die militärische Lage es erforderte, tauschte er seinen Heimatort jedoch gegen eine, größere Sicherheit gewährende Stadt (Löwen) ein. Folgerichtig ist weiter, dass er, als die militärischen Probleme in den südlichen Niederlanden Überhand nahmen, in den Norden auswich usw. Mit seiner rational nachvollziehbaren Selbstkonstituierung unterscheidet sich Lipsius von dem Kalvinisten Junius, der in der Überzeugung seiner existentiellen Hilflosigkeit auf Gottes Erbarmungstaten angewiesen zu sein meinte. Lipsius fühlte sich in seiner Selbstdarstellung sogar imstande, schwierigen Situationen die Stirne zu bieten. Der kluge Lipsius ähnelt dem griechischen Helden Odysseus, der sich mit seiner sprichwörtlichen Schlauheit aus den gefährlichsten Lagen zu befreien wusste. Auch Odysseus handelt rational nachvollziehbar. Auch Odysseus will in sein Vaterland zurückkehren, ein Ziel, das er unbeirrbar verfolgt. Er überwindet die Magierin Kirke und die trügerischen Sirenen, die seine Rückkehr vereiteln wollen. Lipsius’ Sirenen sind die Humanistenfreunde Busbecquius, Sambucus, Crato und Pighius, die ihn mit Versprechungen in Wien, oder die Holländer, die ihn mit Wohltaten in Leiden festhalten wollen. Wie Odysseus nimmt auch der schlaue Lipsius Umwege in Kauf, um letztlich sein Ziel zu erreichen. Das vertrauliche Mithören der Gedankenprozesse, die Lipsius’ Lebensentscheidungen zugrunde liegen, beansprucht die Aufmerksamkeit des Lesers so stark, dass er nicht auf den Gedanken kommt, die Gesamtargumentation einer Kontrolle zu unterziehen. Gleichwohl gibt es einige
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Chamäleontik als autobiographische Methode: Lipsius
Punkte, die den Leser stutzig machen. Wenn Lipsius von einer so großen Heimatliebe beseelt war, wie er angibt, so muss er einen triftigen Grund gehabt haben, sein Vaterland zu verlassen. Ein solcher geht jedoch aus der Autobiographie nicht hervor. Lipsius behauptet, er habe in Löwen ein freizügiges Leben mit Wein, Weib und Gesang geführt; weil er sich dem entziehen wollte, sei er nach Wien gereist. Dies ist nicht ohne weiteres einsichtig: Wozu bedarf es, um Wein, Weib und Gesang zu vermeiden, einer mehr als tausend Kilometer langen Reise? Merkwürdig ist auch, dass er diese als „Spritztour“ bzw. „Abstecher“ („peregrinatiuncula“) bezeichnet, besonders, wenn man die Gegebenheiten des 16. Jahrhunderts berücksichtigt, die mit sich bringen, dass eine solche Reise normalerweise immerhin zwei bis vier Wochen beanspruchte? Wieso überhaupt Wien? Was suchte Lipsius dort? Die Briefautobiographie gibt keine überzeugende Antwort auf diese Fragen. Der Text könnte vermuten lassen, dass Lipsius nach Wien gereist sei, um Freundschaften zu schließen, zum Beispiel mit Busbecquius und Sambucus. Es bleibt jedoch rätselhaft, wieso der Niederländer zur Erlangung von Freundschaften so große Strapazen auf sich genommen haben sollte, um sich übrigens von den neuen Freunden gleich wieder zu verabschieden. Merkwürdig ist weiter folgendes: Als sich die Lage gebessert habe, sagt Lipsius, habe er sich von Jena aus zurück in die Heimat begeben. Er landete aber in Köln, wo er neun Monate blieb. Weshalb ein so langer Aufenthalt, wenn er in die Heimat zurückreisen wollte? Im Text gibt Lipsius an, dass er sich in Köln verheiratete – benötigte er den längeren Aufenthalt etwa für die Brautwerbung? Merkwürdig ist weiter, dass Lipsius’ akademische Karriere in der Autobiographie äußerst vage bleibt: Wir vernehmen, dass er am Kölner Jesuitenkolleg Unterricht in der Rhetorik und der Philosophie erhielt, jedoch hören wir nichts von einem Studienabschluss oder der Erlangung eines akademischen Grades; weiter geht aus der Autobiographie hervor, dass Lipsius in Löwen offenbar ein Jahr Altertumswissenschaft studiert hat und, kurz bevor er diese Universität mit ca. 18 Jahren wieder verließ, mit dem Jura-Studium angefangen habe. In der Folge vermeldet der Text, dass Lipsius einige Zeit später in Löwen „in einer offiziellen Inauguration sogar der Titel des Rechtsgelehrten verliehen wurde“. Damit betont er das Erlangen des Titels auf merkwürdige Weise. Was hat es damit auf sich? Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, sind einige Angaben zu Lipsius’ Lebenslauf erforderlich.
Lipsius’ Lebenslauf
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2. Lipsius’ Lebenslauf 6 Justus Lipsius (Jodocus Lips) wurde am 18. 10. 1547 in Overijse, einer Ortschaft zwischen Brüssel und Löwen, geboren, als Sohn des Bürgers Gillis Lips und der Patriziertochter Elisabeth du Rieu. In Overijse verbrachte er seine ersten Lebensjahre. Sein Vater bekleidete in dieser Zeit das Amt des Meiers von Overijse (seit 1549). Die Familie übersiedelte bald nach Brüssel, wo der Vater eine Beamtenstelle innehatte. Dort erhielt Justus seinen ersten Schulunterricht, in der Kapelleschool (Pfarrschule; 1553–1557). In der Folge schickte Gillis Lips seinen Sohn auf die Lateinschule von Ath, wo er von Petrus Torrentinus und Joannes Festuca unterrichtet wurde. Die hohe Begabung des Knaben trat dort sogleich hervor: Er absolvierte die Lateinschule im Fluge und mit Auszeichnung. 1559, mit zwölf Jahren, fing Lipsius mit dem Studium an, am Jesuitenkolleg Bursa Nova Tricoronata7 in Köln. Er genoss den gründlichen und inspirierenden Unterricht an diesem Kolleg (1559–1564), vor allem in der Rhetorik und Philosophie. Der Vorzugsschüler schlug die kirchliche Laufbahn ein: Am 29. 9. 1562 wurde er als Novize im Jesuitenorden aufgenommen.8 Am 19. Juni 1564 erlangte Lipsius den Titel des Baccalaureus artium. Jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt war er Mitglied des Jesuiten-Ordens. Nach den Sommerferien dieses Jahres, die er bei seinen Eltern verbrachte, kehrte nicht mehr nach Köln zurück, sondern immatrikulierte an der Universität Löwen. Er studierte dort Jura (1564–1568) und erhielt nebenher von Cornelius Valerius (1512–1578), dem Ordinarius für lateinische Philologie am Collegium trilingue, Unterricht in der lateinischen Sprache. In Löwen verlangsamte sich das Lerntempo des Vorzugsschülers jedoch zusehends. Fast vier Jahre studierte er ohne greifbaren Erfolg, ohne das Baccalaureat utriusque iuris zu erreichen. Seit 1566 widmete sich Lipsius statt des Jura-Studiums hauptsächlich der Philologie. Die Frucht dieser Bestrebungen bildete das textkritische Werk Textvarianten (Variarum lectionum libri IV ),9 das er 1568 vollendete und
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Trotz zahlreicher Studien zu Lipsius’ Leben (siehe hierfür die Bibliographie 4.16) ist eine gründliche, umfassende Biographie noch ein Desideratum. Die materialreichste Arbeit zu Lipsius’ Jugend hat Vervliet geliefert: H. D. L. Vervliet, „Lipsius’ jeugd, 1547–1578. Analecta voor een kritische biografie“, in: Mededeelingen van de Koninklijke Vlaamsche Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schoone Kunsten van België, Klasse der Letteren 31 (1969), 7. Zur Bursa Nova Tricoronata vgl. J. Kluckhoff, Geschichte des Gymnasium Tricoronatum, Köln 1931; G.-R. Tewes, Die Bursen der Kölner Artisten-Fakultät bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Köln-Weimar-Wien 1993; H. Mennen, „Justus Lipsius auf der Bursa nova Tricoronata zu Köln“, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik 17 (1913), 416–421; J. Kluyskens, „Les années passées par Juste Lipse chez les Jésuites à Cologne: étude critique“, in: Archivum historicum Societatis Iesu 42 (1973), 312–321. Kluyskens, „Les années passées par Juste Lipse chez les Jésuites à Cologne“. Lipsius, Variarum lectionum libri IV, Antwerpen 1569; vgl G. Tournoy, J. Papy, J. de Landtsheer (Hrsg.), Lipsius en Leuven. Catalogus van de tentoonstelling in
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Chamäleontik als autobiographische Methode: Lipsius
Kardinal Granvelle widmete, dem früheren Berater der Statthalterin Margarethe von Parma. Im August 1568 brach Lipsius ohne Studienabschluss nach Italien auf. In seiner Autobiographie teilt er uns mit, dass der Zweck der Reise das Studium des Klassischen Altertums gewesen sei. Während des Italienaufenthalts,10 der anderthalb Jahre dauerte, machte er Bekanntschaft mit einer Reihe wichtiger Humanisten, unter anderen Marc-Antoine Muret, Fulvio Orsini, Paolo Manuzio, Guglielmo Sirleto und Plauto Benci. In Rom angekommen bewarb er sich bei Kardinal Granvelle. Erst nach einigen Monaten nahm ihn Granvelle als Sekretär an. Im Frühjahr 1570 kehrte Lipsius nach Löwen zurück, wo er sein Jura-Studium wiederaufnahm. Am 23. 10. 1571 erlangte er, mit ziemlicher Verspätung, das Baccalaureat in der Juristen-Fakultät. In der Folge bewarb er sich am Wiener Kaiserhof. Während er bereits im Dezember 1571 aus Löwen abreiste, traf er (wegen einer schweren Krankheit, die ihn in Dole ans Bett fesselte) erst im Juni 1572 in Wien ein. Dann folgt die Sequenz der Ereignisse, die Lipsius in der eingangs zitierten Stelle seiner Autobiographie beschreibt. In Leiden, wo er eine Professur für Römisches Recht und Geschichte annahm, hielt Lipsius sich von 1578 bis 1591 auf.11 Er leistete einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau der Leidener Universität (1575 gegründet). Während seiner vier Rektorate legte er das Fundament zu einer effizienten Verwaltung und zu einem ansprechenden Unterrichtsprogramm.12 In Leiden verfaßte Lipsius einen Grossteil seiner Werke, auf den Gebieten der Philologie, der Kulturgeschichte und der Philosophie. Das neostoische Manifest Von der Standhaftigkeit (De constantia; 1584), und das politische Lehrbuch Politica (1589) brachten ihm europaweiten Ruhm ein. Jedoch erregte auch seine kulturhistorische Monographie Saturnales sermones (1582), über die Gladiatorenspiele der Antike, viel Aufsehen.
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de Centrale Bibliotheek te Leuven, 18 september–17 oktober 1997 (Supplementa Humanistica Lovaniensia 13), Leuven 1997, 55–58; M. Colesanti, „La data di composizione delle ‚Variae lectiones‘ di Giusto Lipse“, in: De Gulden Passer 30 (1952), 24–37. Für Lipsius’ Rom-Aufenthalt siehe J. Ruysschaert, „Le séjour de Juste Lipse à Rome (1568–1570) d’après ses Antiquae lectiones et sa correspondence“, in: Bulletin de l’Institut Historique Belge de Rome 24 (1947/48), 139–192. Für Lipsius’ Leidener Periode siehe K. A. E., Enenkel, Ch. L. Heesakkers, (Hrsg.), Lipsius in Leiden. Studies in the Life and Works of a Great Humanist on the Occasion of his 450th Anniversary, Voorthuizen 1997; M. E. H. N. Mout, „Heilige Lipsius, bid voor ons“, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 97 (1984), 195–206; Dies., „In het schip: Justus Lipsius en de Nederlandse Opstand tot 1591“, in: S. Groenveld, Dies., I. Schöffer (Hrsg.), Bestuurders en geleerden. Opstellen over onderwerpen uit de Nederlandse geschiedenis van de zestiende, zeventiende en achttiende eeuw, aangeboden aan Prof. Dr. J. J. Woltjer bij zijn afscheid als hoogleraar van de Rijksuniversiteit te Leiden, Amsterdam-Dieren 1985, 55–64; Dies., „Justus Lipsius at Leiden University 1578–1591“, in: C. Mouchel (Hrsg.), Juste Lipse (1547–1606 ) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg, 1994. R.-J. van den Hoorn, „On Course for Quality: Justus Lipsius and Leiden University“, in: Enenkel, Heesakkers (Hrsg.), Lipsius in Leiden, 73–92.
Selbstkonstituierung in der Respublica litteraria
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1591 reiste Lipsius, wie er angab, zum Zweck einer Kur nach Spa, kehrte jedoch nie wieder nach Leiden zurück.13 Seit dieser Zeit vertrat er wieder offiziell den katholischen Glauben. Bei seiner ‚Bekehrung‘ spielten offenbar die Jesuiten eine wichtige Rolle, zunächst die Jesuiten in Mainz, dann Martin Antonio Delrio.14 Die Universität Löwen bot ihm Lehrstühle für Geschichte und für Latein an, die er annahm und vierzehn Jahre bekleidete (1592–1606).15 In Löwen verfaßte er eine Reihe kulturhistorischer Werke, unter anderen über den antiken Brauch der Kreuzigung De cruce (1594), Von der Kriegsführung der Römer (Poliorceticon, 1596), Erstaunliches oder von der Größe der Römer (Admiranda sive de magnitudine Romana, 1597) oder Von Bibliotheken (De bibliothecis syntagma, 1602). 1595 wurde ihm der ehrvolle Titel des Hofhistoriographen des spanischen Königs (Philipps II.) verliehen.
3. Selbstkonstituierung in der Respublica litteraria In den ersten Zeilen seiner Autobiographie bezeichnet Lipsius das autobiographische Unternehmen als Dummheit eines Verliebten: „Stimmt es nicht? Dass Liebende sich sogar zu Unsinn und Dummheiten hinreißen lassen? Das erfahre ich, mein Woverius, in meiner Freundschaft zu dir […]“.16 Die Autobiographie erklärt sich mithin nur als Liebesgabe, während sie sachlich betrachtet eine undankbare und sinnlose Aufgabe darstellt. Wen – abgesehen von Freunden – könnte der private Lebensablauf schon interessieren? Was könnte Lipsius einem breiteren Publi-
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Für Lipsius’ Rückkehr nach Löwen vgl. J. de Landtsheer, „Le retour de Juste Lipse de Leyden à Louvain selon sa correspondance (1591–1594)“, in: Juste Lipse (1547–1606 ) en son temps. 347–368; F. de Nave, „De polemiek tussen Justus Lipsius en Dirck Volckertz. Coornhert (1590): hoofdoorzaak van Lipsius’ vertrek uit Leiden“, in: De Gulden Passer 48 (1970), 1–36; H. T. Oberman, „Van Leiden naar Leuven: de overgang van Justus Lipsius naar eene Roomsche Universiteit“, in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis, NS. 5 (1908), 68–111; 191–227; 269–304. W. Thomas, „Martin Antonio Delrío and Justus Lipsius“, in: M. Laureys, Ch. Bräunl, S. Mertens, R. Seibert-Kemp (Hrsg.), The World of Justus Lipsius: A Contribution towards his Intellectual Biography. Proceedings of a Colloquium Held under the Auspices of the Belgian Historical Institute in Rome (Rome, 22–24 May 1997 ), Brüssel-Rom 1998, 345–365. Für Lipsius’ Löwener Jahre vgl. G. Tournoy, J. Papy, J. de Landtsheer (Hrsg.), Lipsius en Leuven. Catalogus van de tentoonstelling in de Centrale Bibliotheek te Leuven, 18 september–17 oktober 1997 (Supplementa Humanistica Lovaniensia 13), Leuven 1997. ILE XIII 00 10 01, Z. 2: „Estne? Amantes ad ineptias etiam labi? In te experior (ignosce), mi Woveri, […]“. Für die Freundschaft zwischen Lipsius und Woverius vgl. Morford, Stoics and Neostoics, 41–51.
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Chamäleontik als autobiographische Methode: Lipsius
kum denn bieten? Er kann weder militärische Heldentaten noch berühmte Vorfahren vorweisen. Sein Leben ist einförmig und langweilig: Lesen, lehren, schreiben, lesen, schreiben, lehren, jeden Tag dasselbe. Nur dem Freunde zuliebe ist er also bereit, sich über die gegen die Autobiographie vorgebrachten rationalen Einwände hinwegzusetzen. In einer Art Ringkomposition bringt Lipsius die Autobiographie mit einer Anspielung auf die „autobiographische Dummheit“ zuende: „Ich mache jetzt einen Punkt, denn, wie Euripides sagt, ‚Wir sollen zusammen weise, nicht verrückt sein‘“.17 Lipsius verortet damit seine Autobiographie im Freundschaftskult der humanistischen Respublica litteraria. In der Vielzahl von Briefen, welche die Humanisten verfassten, sticht immer wieder die besondere Intensität und Gefühlsbetontheit hervor, mit der sie ihre Freundschaft zum Ausdruck bringen, eine Gefühlsbetontheit, die den Begriff brieflicher Freundschaftlichkeit, den man in der westlichen Welt heute hat, bei weitem übersteigt. Die Humanisten reden einander in der Sprache der Verliebten an: Sie sehnen sich nach einander, sie wollen einander körperlich nahe sein, sich in den Händen halten, umarmen, umschlingen. Nicht selten ist die Liebesbeziehung selbst das Hauptthema der Briefe. Das Vorbild für die besondere Gefühlsbetontheit der Freundschaft fanden die Humanisten seit Petrarca in der römischen Antike, zum Beispiel in den Briefen Ciceros, Senecas und Plinius’ des Jüngeren. Jedoch verlieh die Art ihrer intellektuellen Betätigung der emotionalen Diskursivität ihrer Freundschaft eine besondere Dimension. Da sie eine einem entlegenen Gegenstand (Antike) gewidmete Interessensgemeinschaft bildeten, auf die sie ihre Identität gründeten, hing diese gewissermaßen von ihrem Verhältnis zueinander ab: Nur gemeinsam und fest verbunden konnten sie sich in der Gegenwelt des Unzeitgemäßen aufhalten. Liebe und Zuneigung waren wesentlich: Die Existenz des Humanisten war von der Aufnahme und Akzeptanz in der Respublica litteraria abhängig, und diese sicherte man sich durch Freundschaftsbezeigungen. Wenn man korrespondierte, bestätigte man sich stets seine Liebe und Zuneigung. Dem fleißigen Briefschreiber Lipsius ging diese Freundschaftskultur in Fleisch und Blut über. Die humanistische Freundschaftssprache war für ihn ein beliebig abrufbarer Automatismus. Damit stimmt über-
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ILE XIII 10 01, Z. 177–180. Das Zitat stammt aus Euripides, Iphigenie in Aulis, Vers 407.
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ein, dass er in seinem Briefsteller die Äußerung der Zuneigung als wesentliches Thema des humanistischen Briefes bezeichnete.18 In der Autobiographie konstituiert sich Lipsius nicht nur in Bezug auf den Adressaten Woverius im humanistischen Freundschaftskult. Lipsius stellt sich betont als Mitglied der Respublica litteraria dar, indem er jeweils auf die Humanistenfreundschaften, die ihn auf seinem Lebensweg begleiteten, eingeht.19 Die konstituierende Macht dieser Darstellungsprozedur ist von Anfang an sichtbar, da Lipsius gleich seine früheste Ausbildung, als Sechsjähriger in der Grammatikschule, ins Zeichen einer Humanistenfreundschaft (mit Denys de Villers) stellt, die er mit dem gefühlsbetonten Ausruf „Denys de Villers, oh seitdem lieber Name!“ hervorhebt.20 In der Autobiographie geht es Lipsius keinesfalls um eine historische Rekonstruktion der damaligen Kindheitsbeziehung. Er hat sogleich Villers’ spätere Rolle als Humanist im Auge, wie sie auch in einem späteren Brief (1601) hervortritt: Zur Entspannung machte ich eine Spritztour nach Tournai und umarmte meinen Villers, oh, diesen nach allen Regeln der Eleganz und der Umgänglichkeit vollendeten Mann! In seinem Haus verblieb ich einige Tage, ich vermag gar nicht auszudrücken, wie süß, wie angenehm, wie humorvoll dieses Zusammensein war! Und ich weidete nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist und meine Augen an der Betrachtung seines Gazophylaciums (so möchte ich es nennen) [Schatzkammer; Antiquitätensammlung, Anm.], das mit allen Arten von Antiquitäten und Kostbarkeiten versehen ist. Also, ich wiederhole mich, ich weidete mich an einer solchen Gastlichkeit, noch ganz abgesehen von der treuen und feurigen Liebe, die er mir seit der Kindheit entgegenbrachte!21
Auf ähnliche Weise stellt Lipsius seine Studienzeit in der Autobiographie ins Zeichen des freundschaftlichen Verkehrs: Dort zog mich das Studium der Literatur und des Altertums an […]. In Löwen hatte ich Gleichgestimmte und Kameraden bei diesem Studium: Ludovico Carrio, Franciscus Martinius, Arnoldus Deinius. Unser Anführer und sozusagen Chorführer war Cornelius Valerius. […] Bald kamen Martin Delrio, Victor Giselinus, Janus Lernutius und Andreas Schottus hinzu, meine Busenfreunde […].
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Epistolica institutio, 8. Für den humanistischen Freundschaftsgedanken in der Briefautobiographie vgl. die Vorarbeit des Verf. „Humanismus, Primat des Privaten, Patriotismus und Niederländischer Aufstand“, 27–30. ILE XIII, 00 10 01, Z. 45–46: „Dionysius Villerius […], o carum mihi exinde nomen!“. Zu Denys de Villers vgl. ILE XIII, 00 09 25 M mit Kommentar ad loc. und Bergmans, „L’autobiographie“, 321–323. Epistolarum Centuria II ad Belgas, Nr. 4.
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Ibi litterarum et antiquitatis haec studia ad se traxerunt […]. Sed Lovanii compares mihi comitesque in iisdem studiis Ludovicus Carrio, Franciscus Martinius, Arnoldus Deinius, ductore omnium nostrum Cornelio Valerio quasi chorago. […] Accessere mox Martinus Delrius, Victor Giselinus, Ianus Lernutius, Andreas Schottus, interiores et ex asse amici […].22
Es handelt sich hierbei nicht um beliebige Leute, sondern sämtlich um Mitglieder der Gelehrtenrepublik. Lipsius geht davon aus, dass diese Personen dem Leser namentlich bekannt sind. Ihren Namen kommt daher in der Autobiographie eine identitätsstiftende Funktion zu. Der Vernetzung in der Respublica litteraria kann weiter eine gruppenhierarchische Komponente beigemischt sein, etwa wenn ein Humanist zur Definition seiner Person gerade bestimmte berühmte Gelehrtengestalten wählt. Dieser Darstellungsprozess lässt sich in Lipsius’ Autobiographie in Bezug auf die Italienreise erkennen: Ich machte Bekanntschaft mit Paulo Manuzio, Fulvio Orsini, Latino Latini, Girolamo Mercuriale und Marc-Antoine Muret. Mit Plauto Benci war ich eng befreundet […]; Pietro Vettori und Carlo Sigonio besuchte ich auf der Durchreise: Ich erwies ihnen die Ehre, und sie zeigten mir ihre Zuneigung.23
Lipsius’ Stolz auf seine Freundschaft mit den älteren, berühmten italienischen Mitgliedern der Gelehrtenrepublik wird hier klar ersichtlich. Im Fall des Pietro Vettori und des Carlo Sigonio betont er, dass sie ihm ihre Zuneigung zeigten, im Fall des Plauto Benci sogar, dass es sich um eine enge Freundschaft gehandelt habe. Ähnlich verfährt Lipsius im Hinblick auf die Wiener Mitglieder der Respublica litteraria, Crato, Sambucus, Pighius und Busbecquius.24 Er erachtet es für wichtig, festzuhalten, dass sie ihn liebten und dass sie es waren, die ihn mit aller Macht zu überreden versuchten, bei ihnen zu bleiben. Übrigens muss man feststellen, dass Lipsius keineswegs das gesamte Netzwerk seiner humanistischen Beziehungen vorführt, sondern sich auf die Vermeldung jener beschränkt, deren Anwesenheit ihm in Bezug auf seine augenblickliche Lage sinnvoll erscheint. Zum Beispiel verschweigt er – da er sich zur Abfassungszeit der Autobiographie im katholischen Gebiet aufhält – seine nordniederländischen protestantischen Humanistenfreunde. Die Anbindung an berühmte Mitglieder der Respublica litteraria nimmt dort besonders signifikante Gestalt an, wo keine persönlichen Be22 23
24
ILE XIII, 00 10 01, Z. 66–74. ILE XIII, 00 10 01, Z. 92–96; für die genannten Personen vgl. Papys Kommentar ad loc. ILE XIII, 00 01 10, Z. 106–108.
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ziehungen vorlagen: in den Fällen des Petrus Nannius und des Erasmus. Seinen Studienort Löwen wertet Lipsius kunstfertig durch die Verknüpfung mit dem berühmten Nannius auf, wobei er sich einer feierlich-gehobenen humanistischen Formelsprache bedient: Nannius sei derjenige gewesen, „der dort [in Löwen; Anm.] die ehrvolle Fackel des Humanismus als erster entzündet hatte“ („qui primus honestum ibi ignem accenderat“).25 Die Vernetzung mit Erasmus erscheint insofern problematisch, als Lipsius erst elf Jahre nach dem Tod des berühmten Rotterdammers das Licht der Welt erblickte. Dazu musste Lipsius’ Onkel Martin herhalten: Dieser sei ein Freund des Erasmus gewesen.26 Dass sich Lipsius als Mitglied der Respublica litteraria konstituiert, zeigt sich weiter in der Art, in der er seinen Bildungsweg darstellt. Die humanistische Identität hängt von dem Talent für die studia humanitatis, von ihrer (schulischen) Einübung sowie von den praktischen Gegebenheiten, welche die Voraussetzung zu ihrer Ausübung bilden, ab. Lipsius hebt in der Autobiographie alles, was dieser Art der Identitätsstiftung dient, hervor: Er unterstreicht sein Talent und seine geistige Leistungsfähigkeit schon als Schüler, indem er vermeldet (sogar zweimal), er sei Klassenbester gewesen. Er erachtet es sogar für angebracht, diese Aussage mit einer Beglaubigungsformel zu bestätigen („das sage ich nicht, um mich zu brüsten“ [sondern weil es schlicht der Wahrheit entspricht]).27 Zur Stiftung der humanistischen Identität trägt weiter die Bemerkung bei, dass der herkömmliche Unterricht in der lateinischen Grammatik nicht getaugt habe. Es handelt sich hierbei um eines der humanistischen Paradedogmen, welche seit Petrarca wirksam waren. Damit stimmt überein, dass Lipsius den Grammatikunterricht kritisiert, den er in Ath erhielt.28 Der Selbstkonstituierung als Mitglied der Respublica litteraria entspricht, dass Lipsius seinen Lebensweg als stets intensivere Hinwen-
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ILE XIII, 00 10 01, Z. 71–72. ILE XIII, 00 10 01, Z. 22–23; zu Martin Lips vgl. Papys Kommentar ad loc. Die Tatsache, dass sich Lipsius an dieser Stelle mit Erasmus assoziierte, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass er seine Autobiographie nicht für die spanische Inquisition verfasste: Der Erasmianismus wurde von der Inquisition bekämpft, wobei Bewunderer des Erasmus, wie El Brocense, um 1600 verfolgt und mundtot gemacht wurden (gegen G. Oestreich, „Justus Lipsius in sua re“, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 80–100). Vgl. M. Bataillon, Erasme et l’Espagne, Paris 1937 passim; Morford, Stoics and Neostoics, 101. ILE XIII, 00 10 01, Z. 63–64: „non per iactantiam dico“. ILE XIII, 00 10 01, Z. 59–61.
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dung zu den humanistischen Studien darstellt, auch oder gerade, wenn dies nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten korrespondiert. Zum Beispiel erscheint Lipsius’ Studium in Löwen – ein Studium, das der Altertumswissenschaft gewidmet gewesen sei – als organische Fortsetzung seiner Ausbildung bei den Kölner Jesuiten. Auch seine Italienreise motivierte Lipsius mit diesem Interesse: „Mich faszinierte die Altertumswissenschaft stets mehr, und aus Liebe zur Antike wollte ich nach Italien reisen“.29 Die Sekretärsstelle bei Kardinal Granvelle scheint so gut wie keine anderen Aufgaben mit sich gebracht zu haben, als humanistischen Liebhabereien nachzugehen. Bei der Darstellung der jeweiligen Lebensabschnitte nennt Lipsius gerne zuerst die schriftstellerischen Werke, die er verfasste. Dadurch erzielt er den Effekt, dass die jeweiligen Abschnitte vorrangig den humanistischen Studien gewidmet erscheinen.30 Woverius, der Empfänger der Autobiographie, muss über die Liebesgabe des Lipsius entzückt gewesen sein. Dass ihn sein Lehrmeister nicht nur als vollwertiges Mitglied der Gelehrtenrepublik, sondern sogar als engen Freund präsentierte, war mehr als schmeichelhaft. Die besonders ehrvolle Stellung, die ihm Lipsius durch das Geschenk der Autobiographie zuwies, entsprach jener in Rubens’ Porträt des Justus Lipsius mit seinen Schülern, wo Woverius (vom Betrachter aus) gleich rechts neben Lipsius – sozusagen als dessen Lieblingsschüler – abgebildet wurde (Abb. 31).31
4. Thematische Verortung der Autobiographie im Privatbereich Lipsius, der sicher sein konnte, dass seine Selbstbeschreibung vom Adressaten jubelnd empfangen werden würde, konstruiert seine Autobiographie in der Atmosphäre des Vertrauens und der Sicherheit, die der
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ILE XIII, 00 10 01, Z. 82–83: „Sed magis magisque Musa vetus me capere et eius amore Italiam cogitare“. Das Selbstbild, das Lipsius konstruiert, ist mithin vorrangig das eines Humanisten. Der Humanismus bildet das bestimmende Identitätsfeld. Oestreichs These („Justus Lipsius in sua re“), dass sich Lipsius in der Autobiographie als unhumanistische, religiöse Person nach dem Vorbild spanischer Spätscholastiker dargestellt habe, erweist sich als unhaltbar. Heute im Palazzo Pitti in Florenz. Vgl. z. B. Enenkel, Heesakkers, Lipsius in Leiden, 12.
Thematische Verortung im Privatbereich
Abb. 31: Peter Paul Rubens, Justus Lipsius (2. von rechts) und seine Schüler. Ganz rechts: Joannes Woverius. Um 1615. Öl auf Holz, 167 × 143 cm. Florenz, Galleria Pitti.
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Gattungsrahmen des Privatbriefes ermöglicht, als Sequenz von Einblikken in sein Privatleben.32 Gleich zu Anfang der Autobiographie zieht Lipsius den Leser visuell in den Privatbereich hinein, indem er den verfallenen Zustand seines Elternhauses vermeldet.33 Die Verortung der Autobiographie im Privatbereich war ihm offensichtlich so wichtig, dass er bereit war, sich hart an die Schamschwellen des sozialen Dekorums zu begeben. Am privaten Ort finden Missgeschicke und Unfälle statt. Lipsius verortet seine Autobiographie verstärkt in dieser Diskursivität, indem er gleich von drei Unfällen berichtet:34 Wie er als Kind mit dem Gesicht voran in einen Schneehaufen fiel und fast erstickt wäre; wie er auf ein Baugerüst kletterte und fünfzehn Fuß in die Tiefe fiel wie er mit Freunden insgeheim in ein Boot stieg, ins Wasser fiel, und von einem Müller gerettet wurde. In Bezug auf die Mitteilung der Kindheitserlebnisse ähnelt die Autobiographie dem freundschaftlichen Gespräch. Man vergleiche damit die Beschreibung von Lipsius’ Besuch bei dem Freund Villers, bei dem die beiden alten Männer ihre Kindheitserlebnisse ins Gedächtnis zurückriefen. Die Einschreibung in den Privatbereich erweckt den Eindruck der Vertraulichkeit und Aufrichtigkeit. Zuweilen unterstreicht Lipsius die Vertraulichkeit mit expliziten Textmarkern („dir gegenüber kann ich aufrichtig sein“), etwa bei der Darstellung des Studentenlebens: Dann kehrte ich nach Löwen zurück, brachte dort ein Jahr zu, in der Blüte meiner Jugend […] und ich lebte – dir gegenüber will ich aufrichtig sein – nicht gerade nach der Norm des alten Cato. Ich war ja frei, hatte keine Eltern und Erzieher mehr und so gönnte ich meiner Jugend Spaß und Spiel, mit Tanz, Umtrunk und Scherzen. Lovanium inde redii, annum unum egi, in AKMHI ipsa adolescentiae […], et egi (simpliciter apud te dicam) haud usquequaque ad prisci Catonis normam. Liber eram, parentum et tutorum expers atque ita choreis, sodalitiis, nugis, ludum et libentiam aliquam aetati dedi.35
Auffällig ist, dass Lipsius in der Autobiographie sein gesamtes Leben als Privatleben präsentiert, wohlgemerkt mit der als Gegenargument gegen 32
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Für diesen Aspekt vgl. die Vorarbeit des Verf. „Humanismus, Primat des Privaten, Patriotismus und Niederländischer Aufstand“, 30–37. ILE XIII, 00 10 01, Z. 17–18: „Vidisti ipse me ducente (quid describam?) et locum adeo domumque nunc semirutam, in qua sum natus“. ILE XIII, 00 10 01, 34–41; 48–59. ILE XIII, 00 10 01, Z. 96–101.
Thematische Verortung im Privatbereich
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das autobiographische Schreiben herausgestellten langweiligen Gleichförmigkeit des „Lesens, Lehrens und Schreibens“, während es in Wirklichkeit von den Stürmen dramatischer geschichtlicher Ereignisse aufgewühlt worden war, zuvorderst des Niederländischen Aufstandes, und somit reichlich mit Gewalttätigkeiten und Umwälzungen, wie sie etwa Junius in seiner Autobiographie festgehalten hat, verbunden war. Es ist durchaus merkwürdig, dass Lipsius in seiner Autobiographie den Eindruck erweckt, als hätten ihn jene Ereignisse kaum berührt. Überhaupt hat Lipsius die vita activa des öffentlichen Lebens in der Briefautobiographie heruntergespielt. Das gilt zum Beispiel für das Jura-Studium, das sich immerhin über mehr als zehn Jahre seines Lebens hinzog (1564–1576). Dieses Studium sollte Lipsius offensichtlich auf eine Karriere im aktiven Leben vorbereiten. In seiner Autobiographie vertuscht er es jedoch, oder erwähnt es lediglich als Nebensache. Zu Unrecht entsteht dadurch der Eindruck, dass Lipsius in den Jahren von 1564 bis 1568 nur Latein und Altertumswissenschaft studiert habe, während er am Jura-Studium „nur genippt“ habe.36 Die Wiederaufnahme seines Jura-Studiums nach der Rückkehr aus Italien verschweigt er gänzlich, ebenso wie die Erlangung des Baccalaureats in der Rechtswissenschaft (23. 10. 1571). In Italien war Lipsius Sekretär eines Kardinals, ein Amt, das dem aktiven Leben zuzurechnen ist. Er präsentiert diese Zeit jedoch als vita contemplativa und otium, als dem Studium der Altertumswissenschaft gewidmete Freizeit.37 Die humanistische Sinecura, die sich Lipsius hier zuschreibt, steht im Widerspruch zu seiner tatsächlichen Stelle. Ähnlich verfährt Lipsius bei der Darstellung der Leidener Periode (1578–1591): Er präsentiert sie als „tiefes (d.h. ungestörtes, ungetrübtes; Anm.) otium“. Dies entspricht weder den tatsächlichen Gegebenheiten noch seinen eigenen Angaben, die er in dieser Zeit in seiner Briefkorrespondenz machte. Zum Beispiel beklagte sich Lipsius damals über die vielen Verwaltungsaufgaben, die er während seiner (wohlgemerkt vier!) Rektorate zu erfüllen hatte. Auch wurde das Universitätsleben immer wieder von den Bürgerkriegsunruhen in Mitleidenschaft gezogen; die Fakultät der Theologie war immer wieder von heftigen Streitigkeiten gekennzeichnet, die Lipsius als Rektor beilegen musste. In den Briefen aus der 36 37
ILE XIII, 00 10 01, Z. 75. ILE XIII, 00 10 01, Z. 85–92, bsd. 88–90: „Eram a Latinis epistolis, sed otium et omne liberum tempus dabam inspectioni lapidum, locorum veterum et si quid visendum noscendumque in urbe aut circa esset“.
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Leidener Periode jammert Lipsius regelmäßig, dass ihm die vielen Aufgaben und Probleme keine Zeit zur wissenschaftlichen Arbeit ließen: Im Februar 1580 bringt er seine Verzweiflung darüber zum Ausdruck, dass ihn die Generalstaaten zum zweiten Mal zum Rektor ernannten.38 Im Oktober desselben Jahres vermerkt er, es grenze an ein Wunder, dass er „trotz der vielfältigen und beschwerlichen Verpflichtungen“ seine zweite Tacitus-Ausgabe druckfertig gemacht habe.39 Hinzu kam, dass Universitätsprofessoren damals enger mit der Politik verbunden waren als dies heute normalerweise der Fall ist. Zum Beispiel mussten sie politische Gesandtschaften auf sich nehmen. Eine solche Mission führte Lipsius im Januar 1581 nach Delft. Im selben Monat klagt er erneut, dass ihm keine Zeit für seine Studien bleibe.40 Wie ist es zu erklären, dass diese brieflichen Selbstentwürfe sich nicht mit der Autobiographie decken?
5. Autobiographie als Vorlage für ein literarisches Monument Trotz der vertraulichen Aufmachung und der thematischen Verortung im Privatbereich ist Lipsius’ Autobiographie keine Schrift, deren Wirkung – schon von der Intention des Verfassers und des Adressaten her – auf den Privatbereich beschränkt bleiben sollte. Woverius’ Interesse an Lipsius’ Lebenslauf war keineswegs ausschließlich privater Art. Die Autobiographie ist eine verhüllte Repräsentationsbiographie, auf zweifache Weise: zuerst als ein vom Verfasser selbst publizierter Text, in dem er der Mit- und Nachwelt ein Selbstbild vermitteln wollte, das er für vorteilhaft hielt. Zweitens kam Woverius als Vertrautem und Lieblingsschüler eine besondere Aufgabe zu: Er war zum Testamentsvollstrecker41 und literarischen Nachlaßverwalter42 ausersehen worden. Ungefähr ein Jahr vor der Abfassung der Autobiographie (August 1599) unternahm Woverius seine peregrinatio Academica (akademische Reise). Lipsius gab ihm ein lobendes Zeugnis mit auf dem Weg:
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ILE I, 80 02 08, Z. 5–8. ILE I, 81 00 00 P: „variae molestaeque occupationes“. ILE I, 81 01 24. Gemeinsam mit Nicolas Oudaert und Willem Wargnier. Vgl. Morford, Stoics and Neostoics, 44.
Vorlage für ein literarisches Monument
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Hiermit erkläre ich in aller Aufrichtigkeit, wenn es irgend Aufrichtigkeit gibt, dass dieser Mann, Joannes Woverius, in meinem Haus und unter meiner Anleitung erzogen wurde; dass er mein Liebling war, aber auch der Liebling der Bescheidenheit und der Musen. Diese hat er stets verehrt; sein Leben richtete er nach den besten (philosophischen) Vorschriften ein; seinen Geist bildete er in den Künsten und Wissenschaften aus. Ich befehle ihn allen, denen die Künste und Wissenschaften lieb sind, sehr an. […] Seid ihm günstig gesinnt, ihr, die ihr dieses Schreiben lest. Betrachtet dies als kurze, aber vertrauenswürdige Empfehlung […] Löwen, Idus Sext. 1599.43
Woverius begab sich auf eine sehr weitläufige Bildungsreise, die insgesamt drei Jahre dauern und ihn nach Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland führen sollte. Von Paris reiste er Richtung Südwesten, um auf dem Seeweg nach Spanien zu gelangen. Dabei erlitt er Schiffbruch, wie man aus einem Brief Joseph Scaligers vom 20. März 1600 und Lipsius’ Brief an Woverius vom 9. Mai entnehmen kann.44 Im Juni erkrankte Lipsius schwer; er fürchtete, dass er Woverius nicht mehr wiedersehen werde. Er schrieb ihm am 11. Juni: „Wann wird es uns erlaubt sein, uns wiederzusehen und unter vier Augen zu reden? Ich lasse diese Hoffnung schon fast fahren, wenn ich meine Gesundheit betrachte, die am Ende ist. Dementsprechend habe ich die Hoffnung auf das Erscheinen meiner Seneca-Ausgabe so gut wie aufgegeben.“45 Dieser Bericht alarmierte den literarischen Nachlassverwalter Woverius. In Spanien konnte er für die Drucklegung von Lipsius’ Werken schwerlich Sorge tragen. Weiter fehlte zur Publikation des Gesamtwerkes noch die obligatorische Repräsentationsbiographie. Woverius war bereit, diese Aufgabe auf sich nehmen, jedoch besaß er nicht die nötige Information für die Zeit von 1547 bis 1592. Vielleicht mit bangem Vorgefühl hatte er Lipsius bereits vor seiner Abreise gebeten, einen autobiographischen Abriss zu verfassen. Jetzt drängte die Zeit (was dadurch verschlimmert wurde, dass ein Brief von Löwen nach Spanien und zurück wochenlang unterwegs war)! Woverius bat Lipsius jetzt inständig, die versprochene Autobiographie endlich zu schreiben. Wie aus der Datierung abzulesen ist, erfüllte ihm Lipsius die Bitte im Laufe des Septembers. Am 1. Oktober schickte er den autobiographischen Abriss nach Sevilla, Woverius’ Standort. Die Aufgabe, die sich Lipsius in seiner Autobiographie stellte, war somit, das sachliche Fundament für eine Repräsentationsbiographie zu 43 44 45
Für den lateinischen Text s. Bergmans, „L’autobiographie“, 135. ILE XIII, 00 05 09 mit Kommentar von Jan Papy. ILE XIII, 00 06 11 W, Z. 10–12.
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schaffen. Da Woverius für die Zeit ab 1592 selbst unterrichtet war, brauchte Lipsius sein Leben nur bis zu diesem Zeitpunkt zu behandeln. In der Tat finden sich für die Jahre 1592–1600 so gut wie keine Angaben. Dass Lipsius den Abschnitt aus einem anderen Grund gestrichen hätte, ist nicht einsichtig. Er erfreute sich in dieser Periode hohen gesellschaftlichen Ansehens, war Inhaber zweier Lehrstühle, offizieller Historiograph des spanischen Königs und wurde weiter von den Erzherzögen außerordentlich gefördert. Wissenschaftlich stand sein Ruhm im Zenit. Fast täglich erhielt er Briefe von akademischen Bewunderern aus allen Teilen Europas. Somit gibt es keinen sachlichen Grund, dass er in einer Repräsentationsbiographie gerade die Jahre 1592–1600 hätte übergehen wollen. Auf die Funktion der Autobiographie als Vorlage für die geplante Biographie des Woverius weist weiter hin, dass Lipsius auch sonst Information einspart, die dem designierten Biographen bekannt war. Zum Beispiel bezeichnet er eine Beschreibung seines Geburtsorts und seines Geburtshauses als überflüssig, weil Woverius ja selbst dort gewesen sei: „Du hast ja selbst in meiner Begleitung den Ort und das […] Haus, in dem ich geboren wurde, gesehen – wozu soll ich sie beschreiben?“.46 Es ist klar, dass Lipsius Woverius selbst als Autor der offiziellen Biographie ausersah.47 Seine Vorgehensweise ähnelt jener des Erasmus, der, als er sich todkrank wähnte, seinem Freund und Nachlassverwalter Conrad Goclen einen Lebensabriss (Compendium vitae) als Grundlage für eine Repräsentationsbiographie schickte. Ebenso wie Erasmus gesundete auch Lipsius wieder, bevor das Vorhaben der Repräsentationsbiographie verwirklicht wurde. In einem Brief vom 3. Dezember 1600 berichtete Lipsius Woverius von seiner Besserung.48 Durch diese günstige Wendung wurde die geplante Biographie auf die lange Bank geschoben. Woverius setzte, ohne sich eifrig ans Werk machen zu müssen, seine akademische Reise beruhigt fort. Im Jahr 1601, während Woverius noch stets auf Reisen war, beschloss Lipsius, den autobiographischen Abriss selbst zu publizieren, in den Vermischten Briefen, Teil drei. Als Woverius 1602 nach Brabant zurückkehrte, brauchte er als literarischer Nachlassverwalter noch stets nichts zu unter46 47
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ILE XIII 00 10 01, Z. 17–18. Dies hat bereits Morford richtig erkannt: „Lipsius sent his epitaph to him, as his designated biographer, as well as the autobiographical letter which was to be the raw material of the biography“ (Stoics and Neostoics, 44). ILE XIII, 00 12 03 W, Z. 2: „Valere me nuntio“.
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nehmen: Lipsius gab seine Werke nach wie vor selbst heraus. Freilich hinterließ ihm Lipsius für den Fall seines Ablebens klare Instruktionen, zum Beispiel: „Jetzt bereits habe ich eine Zenturie von ausgewählten Briefen zur Publikation vorbereitet; du wirst sie in meinem Safe finden. Du sollst sie herausgeben und dem Durchlauchtigsten Prochnicius widmen“.49 1604 verfasste Lipsius selbst sein Epitaph und schickte es Woverius.50 Erst 1605 wurde Woverius tätig: Er ließ nach dem von Abraham Jansen gemalten Porträt des Lipsius einen Stich bei dem Antwerpener Kupferstecher Pieter de Jode anfertigen (Abb. 32),51 den er mit einer laudatio seines Lehrmeisters versah.52 1606, nach Lipsius’ Tod, nahm Woverius in der Tat die geplante Repräsentationsbiographie in Angriff.53 Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Gewissenhaftigkeit kam er damit nicht zu Rande. Dennoch ereilte Lipsius’ Vorlage-Autobiographie nicht dasselbe Schicksal wie die des Erasmus. Ein anderer Lipsius-Schüler, Aubertus Miraeus, stellte auf ihrer Basis die Repräsentationsbiographie her.54 Eine Analyse dieser Biographie kann hier unterbleiben, da sie an anderer Stelle geliefert wurde.55
6. Autobiographische Chamäleontik als Methode Es ist somit klar, dass Lipsius mit dem autobiographischen Aufriss sein Bild bei der Mit- und Nachwelt nachhaltig beeinflussen wollte. Aus diesem Grund sind Zweifel gegenüber der intimen Aufrichtigkeit angebracht, mit der er vorgeblich seine Lebensgeheimnisse dem Freund zu-
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Lipsius, Epistulae miscellaneae III, 86. Brief des Lipsius vom 11. 2. 1604. Zu diesem Porträt vgl. Tournoy, Papy, de Landtsheer, Lipsius en Leuven, Nr. 119, 358–360. In dieser laudatio wird vorausgesetzt, dass Lipsius noch lebt. Vgl. unten. Dies geht aus einem Brief des Moretus an Philipp Rubens hervor; siehe M. Rooses, C. Ruelens (Hrsg.), Correspondance de Rubens et documents epistolaires concernant sa vie et ses oeuvres, Antwerpen 1887–1909, Bd. I, 351 (Brief Nr. 87); Morford, Stoics and Neostoics, 45, Anm. 115. Vita sive Elogium Iusti Lipsii, Sapientiae et Litterarum Antistitis […], Antwerpen, David Martins, 1609. K. A. E. Enenkel, „Lipsius als Modellgelehrter: Die Lipsius-Biographie des Miraeus“, in: Tournoy, de Landtsheer, Papy (Hrsg.), Justus Lipsius Europae lumen et columen, 47–66.
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Abb. 32: Justus Lipsius, Porträt. Kupferstich des Pieter de Jode, 1605.
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flüstert. Odysseus, Lipsius’ Vorbild,56 ist nicht nur für seine Reisen und seinen Erfindungsreichtum berühmt, sondern auch für seine Fähigkeit zur Täuschung. Wenn die Autobiographie unsere einzige Quelle für Lipsius’ Leben wäre, würden wir wohl kaum weiter kommen, als dass wir einige Ungereimtheiten konstatierten. Jedoch hat Lipsius in seiner umfangreichen Korrespondenz zahlreiche andere Selbstentwürfe hinterlassen, die eine vergleichende Betrachtung ermöglichen. Auf eingefleischte Lipsius-Liebhaber mag der folgende Abschnitt wie eine Sammlung belastenden Materials wirken. Jedoch wird hier nicht beabsichtigt, eine Person zu belasten, zu beurteilen oder zu verurteilen, sondern lediglich, die Methode der Autobiographik des Lipsius klarer zu verstehen. Gleich eingangs muss bemerkt werden, dass Lipsius’ Briefautobiographie, was ihre Methode betrifft, viel, was ihren Inhalt betrifft, wenig mit seinen übrigen Selbstdarstellungen gemein hat. Denn der Odysseus aus Overijse hat sein Leben durchaus vielförmig dargestellt. Je nach Publikum tritt ein anderer Lipsius hervor. Lipsius betrachtete es offensichtlich als Hauptaufgabe seiner Selbstkonstituierungen, seinen Lebenslauf den jeweiligen Umständen anzupassen. Dabei werden in einem Ausmaß, welches das Herkömmliche übersteigt, Spuren verwischt, Lebensfakten gestrichen, Beweggründe geändert und nicht wenige Lebensfakten einfach erfunden. Lipsius entpuppt sich als chamäleonartiger Tarnungskünstler, der seine Farbe jeweils der Umgebung anpasst. Wie gestaltet sich diese autobiographische Chamäleontik, was sind die Strategien von Lipsius’ Vorgehensweise? Ein vorrangiges strategisches Prinzip der Briefautobiographie ist, dass ihre inventio jeweils biographische Klischees abruft. Die Lebensereignisse werden so präsentiert, dass sie auf der Hand liegend, „normal“ und ordnungsgemäß erscheinen. Die Klischees verbuchen eine Tarnungswirkung, der sich der zeitgenössische Leser wohl kaum entziehen konnte. Die Bestätigung der vorhandenen Erwartungsmuster stellt jeweils eine Art Selbsterfüllung her, die ein Hinterfragen des Textes von vorneherein hemmt. Die Darstellung ist von Kürze, simpler Syntax und einfacher Wortwahl gekennzeichnet. Mit Details wird bewusst gespart. Einfachheit wirkt glaubwürdig. Die Kürze entspricht Lipsius’ Darstellungsökonomik: Entscheidend ist nicht, dass der Leser über die tatsächlichen Ereignisse möglichst genau, umfänglich und bis in die Einzelheiten informiert wird, sondern dass bei der Rezeption das jeweils erwünschte Klischee abgerufen wird. Wenn das geschehen ist, hat Lipsius sein Ziel erreicht. 56
Vgl. dazu J. Papy, „The Ulysses Theme in Justus Lipsius’s Correspondence“, in: Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), 183–198.
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Nehmen wir als Beispiel gleich die Konstituierung der Jugendjahre (vom 12. bis zum 17. Jahr). Der Jüngling Lipsius hat das Jesuitengymnasium in Köln besucht. Der Autobiograph Lipsius vermittelt dem Leser nicht, wie das Unterrichtsprogramm beschaffen war, wie sich der Unterricht im Einzelnen gestaltete oder was er von den jeweiligen Lehrern gelernt hat. Das erwünschte Klischee ist: Jünglinge neigen zu Enthusiasmus und sind leicht entflammbar. Diesem Klischeebild entspricht, dass der Jüngling Lipsius von den Jesuiten begeistert war und in ihren Orden eintreten wollte. Das Klischeebild der Eltern ist, dass sie den Enthusiasmus der Jünglinge drosseln und deren Lebensweg durch Verbote in die von ihnen gewünschten Bahnen lenken. Diesem Klischeebild entspricht, dass Lipsius’ Eltern den Eintritt in den Orden untersagt haben sollen. Also liest man: „Um diese Zeit streifte die Frömmigkeit meine Brust und ich wollte in den Jesuitenorden eintreten. Jedoch kamen die Eltern dahinter und holten mich von dort weg“ („Sub idem tempus pietas pectus meum tangere et Patribus ipsis velle accersi; parentes sciverunt, abduxerunt“).57 Detailangaben, wie dies zuging und was sich im Einzelnen abspielte, fehlen. Die einfache, klare und von den Klischees motivierte Darstellung verbietet sozusagen ein weiteres Hinterfragen. In Wirklichkeit war der historische Lipsius jedoch tatsächlich in den Jesuitenorden eingetreten (am 29. 9. 1562) und hatte ihm in der Folge zwei Jahre lang angehört. Außerdem war das sehr wohl mit Zustimmung der Eltern geschehen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass ein genaues, kontrollierbares Dokumentieren nicht in Lipsius’ Interesse lag. Im Gegenteil: Er ging in dem Maße davon aus, dass Kontrolle unterbleiben werde, dass er die Lebensfakten einfach fälschte. Wozu Wahrhaftigkeit? Lipsius erachtete sie nicht nur für überflüssig, sondern sogar für schädlich. Lebensfakten waren für ihn nichts weiter als argumentative Elemente, die man sich, wie es die jeweiligen rhetorischen Ziele erforderten, frei und nach Belieben zusammenbasteln konnte. Wenn die Ziele wechselten, waren die Lebensfakten beliebig austauschbar. Der Zweck heiligt die Mittel. Somit betrachtete Lipsius die autobiographische Fälschung ohne weiteres als erlaubt. Das Kriterium der „Lebensfakten“ ist die ‚utilitas‘, die sich aus der jeweiligen rhetorischen Absicht ergibt. Wenn sie erreicht wird, ist die autobiographische Darstellung gelungen. Welche ‚utilitas‘ liegt der obigen Fälschung der Fakten zu Grunde? Wie unter anderem der Fall des Erasmus gezeigt hat, war es biographisch 57
ILE XIII, 00 10 01, Z. 64–66.
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keine vorzeigbare Karte, als entlaufener Ordensmann hervorzutreten. Weiter musste Lipsius auf die Jesuiten Rücksicht nehmen, mit denen er sich seit seiner Rückkehr zum Katholizismus und in die südlichen Niederlande (1591/2) nachhaltig assoziierte. Sein Berater und Mentor war der Jesuit Delrio,58 und die Rechtgläubigkeitszeugnisse, die man ihm ausstellte, stammen von den Jesuiten Joannes Oranus59 und Joannes a Campis.60 Natürlich wollte Lipsius nicht als Verräter des Ordens erscheinen. Sein Verhältnis zu den Jesuiten erklärt sowohl, dass er nicht als Ordensflüchtling dastehen wollte als auch, dass es für ihn sinnvoll war, in der Autobiographie zu attestieren, dass er sich von dem Orden in seiner Jugend stark angezogen gefühlt hatte. Die autobiographische Darstellung des unmittelbar folgenden Bildungs- und Lebensweges stellte an Lipsius’ Erfindungskraft hohe Anforderungen, da er ausgesprochen bunt war: Nach vierjährigem erfolglosen Jura-Studium reiste der entlaufene Jesuit ohne Studienabschluss nach Italien, wo er als Sekretär einem Kardinal diente, und zwar demjenigen, der sich als Gouverneur in den Niederlanden verhasst gemacht hatte, um nachher im Lutherischen Jena eine Professur zu bekleiden und die Lutherische Konfession zu vertreten. Zur Normalisierung dieses sowohl bunten als auch holprigen Lebensweges bringt Lipsius erneut Klischees an, welche er mit gefälschten ‚Fakten‘ anreichert. Zunächst stauchte er die vier Jahre des erfolglosen Studiums kunstfertig auf ungefähr ein Jahr zusammen, indem er behauptet, er sei beim Antritt der Italienreise „ungefähr“ 18 Jahre alt gewesen. Durch den simplen Datierungsschwindel erscheint das Studium des Lipsius mit einem Schlage ordnungsgemäß und klischeehaft. Nach nur einem Studienjahr konnte man natürlich noch keinen Studienabschluss erwarten. Der historische Lipsius war jedoch zu diesem Zeitpunkt fast 21 Jahre alt. Zur ‚Normalisierung‘ des Italienaufenthalts wendet Lipsius das Klischee der herkömmlichen akademischen Bildungsreise (peregrinatio Academica) an. Nach ungefähr einjährigem kurzem Studium in Löwen, so scheint es, hat Lipsius eine akademische Bildungsreise unternommen, deren Hauptziel es war, die Monumente des klassischen Altertums zu studieren. Durch die Aufzählung der Gelehrten, die er damals auf der Reise besucht hat, beglaubigt er diesen Charakter der Reise. Durch die 58 59 60
Vgl. Thomas, „Martin Antonio Delrio and Justus Lipsius“. ILE 91 05 03. ILE 91 07 07.
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Anwendung des Klischees verschleiert er, dass sein wahres Reiseziel von Anfang an Kardinal Granvelle war. Was Lipsius dringend suchte, war eine angesehene und möglichst gut bezahlte Stelle. Die Eltern waren einige Jahre zuvor gestorben; das ererbte Vermögen neigte sich nach dem vierjährigen Studentenleben dem Ende zu. In Löwen waren die Aussichten aufgrund des erfolglosen Studiums wohl nicht besonders günstig. Offenbar erwartete Lipsius auch nicht, dass er in nächster Zeit einen Grad in der Rechtswissenschaft erlangen könnte. Da Weiterstudieren Geld kostete, jedoch in absehbarer Zeit keines einbrachte, entschied er sich für die Laufbahn als Sekretär im Dienst eines (Kirchen)Fürsten. Die erhoffte Beziehung zu Kardinal Granvelle bereitete der historische Lipsius sorgfältig vor, durch die Publikation und Übersendung seines Erstlingswerks an den Kardinal einige Wochen vor der Abreise. Warum tarnte Lipsius in der Autobiographie die Übersiedlung nach Italien als akademische Bildungsreise? Aus drei Gründen: Zum einen sollte der tatsächliche Verlauf seines Studiums, zum anderen seine damalige, letztlich unerfüllte gesellschaftliche Ambition verschleiert werden. Drittens war es Lipsius um den inneren Zusammenhalt seines autobiographischen Gebäudes zu tun, in welchem er sein Leben als eine von Heimatliebe eingegebene Rückreise ins Vaterland konstruierte. Wenn er zugegeben hätte, dass er damals bereit gewesen war, wohlgemerkt wegen der ungewissen Aussicht auf eine Sekretärsstelle, seine Heimat zu verlassen, hätte das dem Bild des Heimatliebenden gleich von Anfang an entgegengewirkt. Auf die autobiographische Idee, den Italienaufenthalt auf das Klischee der akademischen Bildungsreise zu reduzieren, war Lipsius bereits zu einem früheren Zeitpunkt gekommen, wenngleich er damals eine andere ‚utilitas‘ vor Augen hatte. Als er in Jena seine Professur antrat, leitete er die Inaugurationsrede mit einem längeren autobiographischen Aufriss ein, um sich den Kollegen und Studenten vorzustellen. Im protestantischen Jena war es nicht opportun, als Kardinalsdiener in der Papststadt, als Jesuit oder Jesuitenzögling hervorzutreten. Also strich Lipsius kurzerhand sowohl den Aufenthalt am Kölner Jesuitenkolleg, immerhin seine wichtigste Bildungsstätte, als auch seine Sekretärsstelle am Hof Granvelles. Den Italienaufenthalt übertünchte er mit dem Klischee der Bildungsreise. Allerdings waren in Jena diesbezüglich ‚Modifikationen‘ erwünscht. Das eigentliche Ziel der Bildungsreise sollte für einen rechten Lutheraner lieber nicht Italien sein – und Lipsius präsentierte sich nunmehr als solcher. Also erweckte er den Eindruck, seine Bildungsreise habe vor-
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nehmlich Deutschland und Frankreich gegolten. Italien scheint nur mehr als eine entlegene, nebengeordnete Reisestation auf, gewissermaßen als Begleiterscheinung der weitschweifigen Gründlichkeit seiner Reise. Zur weiteren Absicherung müssen die Eltern herhalten: Lipsius behauptet in der Jenaer Rede, dass die Bildungsreise „auf Wunsch der Eltern“ zustandegekommen sei. Er erzählt die rührende Geschichte, dass er ihnen den Wunsch erfüllte, als sie im Sterben lagen. Das Klischee ist: Einem Sterbenden kann man den letzten Wunsch nicht abschlagen. Lipsius handelte ordnungsgemäß: Er erfüllte den Eltern ihren letzten Wunsch. Wie steht es diesbezüglich mit der Dokumentation? Lipsius ging zu Recht davon aus, dass niemand in Jena seine Angaben kontrollieren konnte. Die Eltern konnten ja ohnehin nicht mehr befragt werden, und welcher Jenaer wäre imstande gewesen, die Todesdaten der Eltern des Lipsius im Kirchenregister von Overijse nachzuschlagen? In Wirklichkeit kam die Reise weder auf Wunsch der Eltern zustande noch lagen sie damals im Sterben (sie waren bereits einige Jahre vorher gestorben, der Vater im Jahre 1565, die Mutter 1566). Wozu ein solcher Aufwand an Lügen zur Rechtfertigung einer Reise? Wäre es nicht, wenn es in Jena gegen diese Reise so starke Vorbehalte gab, vernünftiger gewesen, die Reise gar nicht zu erwähnen? Lipsius war die Selbstkonstituierung als Italienreisender jedoch aus zwei Gründen wertvoll: Erstens qualifizierte ihn der Aufenthalt in Rom als Altertumswissenschaftler; zweitens hatte er gerade dort wichtige Vorarbeiten zu seiner Tacitus-Ausgabe geleistet, die er den Jenaern als Gegenleistung für die Verleihung einer Professur versprochen hatte. Doch darüber sogleich mehr. Dennoch: Wie mag ein rechtgesinnter Lutheraner Rom erfahren? Wohl zuvorderst als Hort des Bösen, des Antichristen, als Sündenpfuhl. Chamäleonartig passt sich Lipsius diesem Erwartungsmuster seiner lutherischen Gastherren an: Er habe damals Rom als „Sündenpfuhl“, als Ort, an dem „die päpstliche Bestie“ ihre „furchtbaren Verbrechen“ begehe, erfahren. Jedoch habe gerade die Konfrontation mit dem Bösen etwas Gutes bewirkt: Sie, ja sie sei es gewesen, die Lipsius zum lutherischen Glaubensbekenntnis bekehrt habe! Als er „die furchtbaren Verbrechen der päpstlichen Bestie“ aus nächster Nähe miterleben musste, sei er zur Einsicht gekommen. Da in dieser Zeit sein Vaterland „anfing, sich der wahren Religion zuzuwenden“, seien die Umstände für eine Rückkehr günstig gewesen. Als er jedoch im Vaterland eingetroffen war, habe er zu seiner Bestürzung feststellen müssen, dass sich das Land in einem schrecklichen Aufruhr
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befand. Schließlich sei auch noch der grausame Katholik Alba in die Niederlande gekommen, was Verhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen zur Folge gehabt habe. Aufgrund seines lutherischen Glaubensbekenntnisses sei Lipsius in ein schier unauflösliches moralisches Dilemma geschlittert. Seine Vaterlandsliebe drängte ihn, zu bleiben, sein lutherisches Glaubensbekenntnis, das Vaterland zu verlassen. Lipsius’ Erfindungsgabe zeigt sich hier in schillerndem Gewand. Er knüpft eine Lüge an die andere: Weder bekehrte er sich in Rom zum Lutheraner noch trat er die Rückreise an, als in den Niederlanden der Protestantismus aufkam (das war geraume Zeit vor 1570 der Fall), noch wurde er bei der Rückkehr aus Italien von der Ankunft Albas überrascht: Alba hatte bereits 1567 sein Amt als Gouverneur der Niederlande angetreten, also geraume Zeit, bevor Lipsius überhaupt nach Italien aufgebrochen war! In der Jenaer Autobiographik sieht Lipsius’ glitzernder Lügenpalast wie folgt aus: Meine Herren Studenten! Ich bin in den Niederlanden geboren, von nicht geringer Abstammung, und habe mich durch Gottes und meiner Eltern Wohltat von Kindheit an mit den Geisteswissenschaften beschäftigt. Dann habe ich mit großem Aufwand fast ganz Frankreich bereist, sodann Deutschland, und habe mich sogar nach Italien begeben, einerseits, um die Altertümer zu studieren, andererseits, um dem brennenden Verlangen meiner Eltern, die damals gerade im Sterben lagen, Folge zu leisten. Als ich mich dort (in Rom, Anm.) aufhielt, sah ich mit eigenen Augen so große und grässliche Verbrechen jener päpstlichen Bestie, so viele Spuren ihrer Schandtaten, dass ich in aller Wahrheit bekennen muss, dass ich, obwohl ich schon früher zur wahren Religion neigte, damals aus diesem einen Grund vom Dunkel ans Licht, vom trügerischen Schein zur Wahrheit geführt, vom Tod zum Leben erweckt worden bin: In diesem Sündenpfuhl, in diesem Morast aller Schandtaten habe ich mit Gottes Hilfe zuerst das Licht des Evangeliums geschaut, und vom Anblick so vieler Schandtaten habe ich gelernt, was wahre Tugend sei. Als ich ins Vaterland zurückkehrte, das sich bereits anschickte, die Augen zu öffnen und das Licht der Wahrheit zu erblicken, um den Rest meines Lebens in der Verehrung Gottes und in aller Seelenruhe bei den Meinen zu verbringen, – siehe da! da tritt mir völlig unerwartet jede Art von Tumult und Aufruhr entgegen: Der Fürst entzweite sich vom Volk, das Volk von der Regierung. […] In diesem Aufruhr wurde die Belgische Kirche, die schon fast den Hafen erreicht zu haben schien, wie ein Schiff, das in einen Sturm gerät und den Steuermann verliert, hin- und hergeschleudert, auf verschiedene Weise von den Wellen hin- und hergetrieben; schließlich wurden nach der Ankunft des Herzogs von Alba, des grausamsten Menschen seit der Erschaffung der Menschheit und des verbrecherischsten Mannes, alle Leute, auf die der Verdacht fiel, einer anderen Konfession anzugehören, mit Gefängnis, Auspeitschung und Tod bestraft.61 61
Lipsius, Orationes octo, Jenae potissimum habitae, Darmstadt 1607, 27–28.
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Zurück zur Briefautobiographie des Jahres 1600. Nach dem Aufenthalt in Löwen war eine Reise nach Wien zu verzeichnen. Was ihre Motivation betrifft, musste der Vaterlandsliebende erneut autobiographische Erklärungsarbeit leisten. Wieder bemühte Lipsius ein Klischee zur Leserlenkung, diesmal das Klischee von der Freizügigkeit der Jugend und des Studentenlebens. Was Wunder, wenn Lipsius’ Leben diesem Klischee entsprach? Alles war normal und vertretbar und entsprach den Erwartungen. Das gilt weiter für das Klischee, dass man sich nach der Beendigung des Studentenlebens vom Genussleben lossagen sollte. In seiner inventio verband Lipsius die Wienreise mit diesem Klischee: Er machte die Reise, um sich vom studentischen Genussleben zu verabschieden. Es ist freilich etwas merkwürdig, dass man sich zu diesem Zweck mehr als tausend Kilometer von der Heimat entfernen müsse. In Wirklichkeit reiste Lipsius in anderer Absicht nach Wien. Wie aus der Korrespondenz des Sambucus hervorgeht, hatte Lipsius ein Gesuch verfasst, das er über seinen Freund Plantin dem Wiener Höfling Crato zukommen ließ.62 Crato von Krafftheim (1519–1585), der Leibarzt Kaiser Maximilians II., war ein einflussreicher Mann am Kaiserhof. In dem Schreiben bat Lipsius Crato, für ihn eine Audienz beim Kaiser zu erwirken. Lipsius erstrebte eine Karriere am Wiener Kaiserhof. Parallelen zur Romreise werden ersichtlich: Lipsius war in Wirklichkeit auf Stellensuche. Das Klischee der Abkehr vom Genussleben der Jugend soll das Reisemotiv der Stellensuche übertünchen. Welchen autobiographischen Sinn hat dies? Es war ja als solches kaum etwas dagegen einzuwenden, wenn ein junger Mann eine Stelle suchte. Lipsius hatte jedoch zwei triftige Gründe: Erstens wäre, wie schon in Bezug auf die Stellensuche in Rom, Lipsius’ Selbstkonstituierung als Heimatliebender unglaubwürdig geworden. Wenn er den wahren Reisegrund zugegeben hätte, wäre klar ersichtlich gewesen, dass er seinem Vaterland langfristig den Rücken zukehren wollte. Damit hängt zusammen, dass er die mehr als tausend Kilometer lange Reise als „Spritztour“ („peregrinatiuncula“) tarnte: Er verniedlichte sie also. Zweitens war die Stellenbewerbung ein Fehlschlag. Lipsius vertuscht sie unter anderem mit der krassen Behauptung, man habe mit allen Mitteln versucht, ihn in Wien zu halten. Hinter dem unscheinbaren Klischee vom freizügigen Studentenleben verbergen sich übrigens Lebensfakten, die der Leser nicht erahnen kann. 62
Vgl. H. Gerstinger, Die Briefe des Johannes Sambucus (Zsámboky) 1554–1584 (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 255), Wien 1968, 127; Vervliet, „Lipsius’ jeugd“, 31.
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Der Student Lipsius hatte ein Verhältnis mit der Ehefrau seines Löwener Gastherrn, des Tuchhändlers Lottin. Das hat zweifellos zu Problemen geführt. Der Tuchhändler wird Lipsius, als er das Verhältnis bemerkte, wohl aus dem Haus geworfen haben. Lipsius hatte von daher einen zusätzlichen Grund, außerhalb Löwens nach einer Stelle zu suchen. Zwei Jahre später, nachdem der Tuchhändler gestorben war, heiratete Lipsius seine frühere Geliebte in Köln. Diese Lebensfakten stehen mit dem Anliegen der Repräsentationsbiographie, wie sich denken lässt, in einem angespannten Verhältnis. Es ist nachvollziehbar, dass Lipsius sie in der Briefautobiographie verschweigt. Er entwirft dort folgendes Bild: Als er in Jena die Nachricht erhalten habe, dass sich die Zustände in den Niederlanden gebessert hätten, habe er sich auf die Rückreise ins Vaterland gemacht, sei „zufällig“ in Köln abgestiegen und habe sich dort verheiratet. Der Leser, der mit dem wirklichen Sachverhalt nicht vertraut ist, muss davon ausgehen, dass Lipsius eine Kölnerin heiratete, während es sich tatsächlich um seine frühere Geliebte aus Löwen handelte. Wie behandelt Lipsius die Reise nach Wien in der Jenaer Autobiographik? Das Reiseziel Wien brachte in Jena keinen Vorteil, wurde daher abgeschrieben. Wichtig war jetzt vielmehr die Motivation der Ausreise aus den Niederlanden als Religionsflüchtling. Statt des Klischees vom ausschweifenden Studentenleben ruft Lipsius hier den Topos der Tyrannei der Spanier ab, ein Topos, der den Lutheranern willkommen sein musste. Lipsius schildert in düsteren Tönen das grausame Regime Herzog Albas: Mord, Totschlag, Gefängnis, Folterungen, Raub, Sadismus und so weiter. Das habe er, als er aus Rom zurückkehrte, in seiner Heimat angetroffen. Lipsius konstituiert sich als Lutheraner in Gewissensnot : Wenn er geblieben wäre, wäre sein lutherischer Glaube sicherlich in Bedrängnis gekommen. Als nach einem misslungenen Angriff Wilhelms von Oranien sich die Tyrannei Albas nochmals verschlimmerte, sei die Emigration unerlässlich geworden: Damals hüllten sich schwarze Wolken um mein Haupt, und ich, noch ein Jüngling, wurde von dem heftigen Zweifel befallen, ob ich von meinem Vaterland, meinen Freunden und allen meinen Besitzungen Abschied nehmen sollte. Dieser Verlust erschien allzu grausam. Sollte ich also bleiben? Selbst wenn ich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr geschwebt hätte – obwohl dies sehr wohl der Fall war –, würde dies mein Gewissen besudelt haben. Zu guter Letzt blieb ich mit einigen wenigen Freunden im Vaterland, teils weil jener blutige Tyrann noch nicht alle seine Stacheln aufgerichtet hatte, teils, damit ich den letzten Akt der Tragödie mit eigenen Augen mitansähe.
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Übrigens wehte damals ein Wind der Hoffnung vom Heer des Fürsten Wilhelm von Oranien her, das dieser zur Befreiung des Vaterlandes mit Hilfe der deutschen Fürsten aufgestellt hatte. Aber als, da Gott zeigen wollte, dass seine Kirche menschlicher Kräfte nicht bedürfe, sich jenes hervorragende Heer […] durch den offensichtlichen Verrat gewisser Leute auflöste: O unsterblicher Gott, welche Missetaten, welch unerhörte Grausamkeiten taten die Spanier nicht den armen Niederländern an? Denn die Spanier waren, nachdem sie jede Furcht abgelegt hatten, zu allem imstande, was ihnen erlaubt war; und ihnen war alles erlaubt, außer was die Gesetzgebung oder das Naturrecht verbot. […] Welcher Morde versündigten sie sich nicht, und an welch vornehmen Leuten! Wie viele Seelen unschuldiger Menschen opferten sie nicht mit ihrem schändlichen Schwert am Altar der Inquisition! Noch stets stehen mir Egmont und Hoorn vor Augen und die Bilder so vieler Toter. Ich sehe von Blut triefende Fluren und im Bürgerblut ertrinkende Städte. Denn welcher Räuber war je so gottlos, welcher Pirat so barbarisch, welcher Skythe je so unmenschlich, dass er auch nur einen Teil der Grausamkeiten der Spanier begangen hätte? […] In diesem Zusammenbruch Belgiens, als es keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft gab und die Inquisitoren Privathäuser durchsuchten, Privatgespräche abhörten, Privatbesuche unter die Lupe nahmen, den Leuten wie Jagdhunde nachspürten, da reiste ich ab, ich bekenne das, wider meinen Willen, insofern ich mein Vaterland verließ, jedoch gerne, insofern ich mich von einer Tyrannei entfernte, die mir nicht nur die Augen der Zuschauer, sondern auch die Ohren der Zuhörer zu besudeln schien.
Hier spricht ein überzeugter Lutheraner in Gewissensnot! Wieder hüpft Lipsius im glitzernden Glaspalast seiner virtuellen Wirklichkeiten von einem Lügenzimmer ins andere. Auf eventuelle Nachprüfbarkeit der geschichtlichen Fakten nimmt er keine Rücksicht. Er ging einfach davon aus, dass sein Jenaer Publikum nicht im Bilde war. Zum Beispiel behauptet er, dass ihn der Angriff Wilhelms von Oranien bis auf weiteres von der Abreise aus der Heimat abgehalten habe. Der fand jedoch statt, als Lipsius in Italien war! Die Hinrichtungen Egmonts und Hoorns hatten wohlgemerkt bereits stattgefunden (Mai 1568), bevor Lipsius überhaupt nach Rom abreiste. Man muss vielmehr die Frage stellen, weshalb Lipsius aus Rom in die Heimat zurückkehrte, wenn er aufgrund der Hinrichtungen von Albas Blutrat überzeugt gewesen wäre, dass er in diesem Land nicht mehr leben könnte. Wenden wir uns wieder der Briefautobiographie von 1600 zu. Ihre virtuelle Wirklichkeit ist anders aufgebaut als der Jenaer Glaspalast. In der Briefautobiographie behauptet er, er habe Wien, obwohl man ihn dort halten wollte, aus Patriotismus verlassen, um in die Heimat zurückzukehren. Unterwegs habe er jedoch die Nachricht bekommen, dass in seiner Heimat Unruhen ausgebrochen seien. Diese Erfindung hat mit den Tatsachen so gut wie nichts gemein: Weder machte man ihm in Wien Versprechungen, um ihn zum Bleiben zu überreden, noch kann
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ihn die Nachricht von den Unruhen in den Niederlanden erst nach der Abreise aus Wien erreicht haben.63 Weder reiste er überhaupt in Richtung Niederlande, noch landete er, wie er behauptet, zufällig in Jena. Betrachten wir auch hier die Fakten: Im August 1572 besuchte der Herzog von Sachsen-Weimar, Johann Wilhelm, begleitet vom Rektor der Universität Jena, Tilman Hesshusen (1527–1588), einem militanten Lutheraner, den Wiener Kaiserhof. Die diplomatische Mission ging mit der Suche nach einem geeigneten Kandidaten für den Lehrstuhl für Geschichte einher. Dieser Lehrstuhl war seit dem Tod des Joannes Rosa am 21. Dezember 1571 bis zu diesem Zeitpunkt fast acht Monate unbesetzt geblieben. Dies kam Lipsius zu Ohren und er bewarb sich. Mit welchen Papieren sollte er sich bewerben? Wie das Interesse der Weimarer erwecken? Da Lipsius keinen akademischen Grad, der ihn zur Professur berechtigte, vorweisen konnte, hätte es auf der Hand gelegen, der Delegation zum Nachweis seiner wissenschaftlichen Qualifikation sein Erstlingswerk Variae lectiones zu zeigen. Zu Lipsius’ Leidwesen konnte dies jedoch nicht in Betracht kommen: Denn auf der Titelseite prangte der Name des den Protestanten verhassten Kardinals Granvelle, dem er die Schrift gewidmet hatte: „An den Durchlauchtigsten und Hochwürdigsten Antoine Perrenot, Kardinal der Heiligen Römischen Kirche“.64 Dann folgte der kompromittierende Widmungsbrief. Das Buch wäre somit für eine lutherische Universität so etwas eine negative Empfehlung gewesen. Deshalb griff Lipsius zu einer weiteren Lüge: Er setzte der Delegation auseinander, er sei bis vor kurzem ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität von Dole (Burgund) gewesen.65 In Dole war er in Wirklichkeit lediglich eingeladen worden, um der Promotion seines Freundes Victor Giselinus beizuwohnen. Weiter wies Lipsius auf seine bahnbrechenden Tacitus-Studien hin und stellte der Delegation die baldige Publikation des Tacitus-Textes66 in Aussicht. Lipsius’ Selbstpräsentation 63
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Der Niederländische Aufstand war im Frühjahr 1572 ausgebrochen; Lipsius verließ Wien kurz vor dem 10. September. Es ist ausgeschlossen, dass man zu diesem Zeitpunkt am Wiener Kaiserhof – wohlgemerkt einem der diplomatischen Zentren Europas – vom Ausbruch des Aufstandes noch nicht benachrichtigt worden wäre. M. Colesanti, „La data di composizione delle ‚Variae lectiones‘ di Giusto Lipse“, in: De Gulden Passer 30 (1952), 24–37. Vgl. ILE 72 09 15 J, Z. 18–19; 72 10 15, Z. 10–11. Zu Lipsius’ Tacitus-Ausgabe vgl. C. Brink, „Justus Lipsius and the Text of Tacitus“, in: Journal of Roman Studies 41 (1951), 32–51.
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hatte Erfolg: Die Delegation ersuchte ihn, sich baldigst in Jena um den Lehrstuhl zu bewerben. Lipsius reiste also zielstrebig nach Jena. Auch war bereits in Wien abgemacht, bei Joachim Camerarius d. J. vorzusprechen, dem humanistischen Gelehrten, auf dessen Urteil die Universität Jena großen Wert legte. Da Lipsius dem Protestanten Camerarius die Variae lectiones ebenfalls nicht vorlegen konnte, erzählte er ihm eine ähnliche Geschichte wie den Weimarern in Wien. Offensichtlich suggerierte er, dass seine Tacitus-Ausgabe nur noch auf die Drucklegung warte. Es gelang Lipsius, Camerarius zu beeindrucken, und er erhielt den begehrten Empfehlungsbrief. Camerarius konnte die in Aussicht gestellte Publikation eines derartig interessanten Werkes nicht mehr erwarten. Im Oktober desselben Jahres fragte er bei Lipsius nach, wie es denn mit der Drucklegung stehe. Lipsius konnte nichts Positives berichten. Stattdessen hören wir eine neue autobiographische Darstellung: Seine Tacitus-Ausgabe sei zwar vollendet, jedoch wären die Buchdrucker vor Ort nicht vertrauenswürdig. Camerarius ging Lipsius von nun an fast zwei Jahre mit seinem Nachfragen auf die Nerven. Lipsius musste ihn ebenso wie die Kollegen in Jena stets enttäuschen: Während seiner gesamten Jenaer Zeit publizierte er weder die „fertige“ Tacitus-Ausgabe noch sonst etwas. Lipsius war kurz vor dem 10. September aus Wien abgereist und traf kurz vor dem 20. September in Jena ein, wo er dem Senat der Universität sein offizielles Bewerbungsschreiben überreichte.67 Ein Bestandteil des Bewerbungsschreibens ist ein autobiographischer Aufriss. Darin stellt er sich als ordentlicher Professor für Geschichte in Dole und als Religionsflüchtling dar. „Aufgrund der gemeinsamen Religion“ ersucht er den Senat, ihn in die Universität aufzunehmen.68 Über mich selbst etwas zu behaupten, könnte arrogant wirken. Jedoch will ich so viel sagen, dass ich in Dole ordentlicher Professor für Geschichte gewesen bin; was meine Kenntnis der humanistischen Studien, der Beredsamkeit, der Poesie, ja sogar der französischen und italienischen Sprache betrifft, hoffe ich mit Gottes Hilfe Euch und die Studenten zufrieden stellen zu können. Ich bitte Euch, kümmert euch nicht um mein jugendliches Alter, sondern – ihr verliert damit ja nichts – gebt mir eine Stelle, damit Ihr erproben könnt, was ich vermag. Dies schrieb ich nur ungern von mir selbst und – ich rufe Gott zu meinem Zeugen an, wie ungern ich Euch zur Last bin.69
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ILE I, 72 09 15 J. ILE I, 72 09 15 J, Z. 14–15: „Peto a vobis per societatem religionis, quae inter nos est […]“. ILE I, 72 9 15 J, Z. 17–24.
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Der Vergleich der verschiedenen autobiographischen Entwürfe hat ein chamäleonartiges Farbenspiel zu Tage gefördert: Lipsius reiste nach Jena, A. weil er sich aus Patriotismus auf der Rückreise ins Vaterland befand (Autobiographie von 1600); B. weil er wegen seiner lutherischen Konfession aus seinem Vaterland vertrieben worden war (Brief an den Senat, 1572); C. weil er als ehemaliger Professor von Dole eine neue Stelle suchte (Brief an den Senat, 1572). In einem Brief an Herzog Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar treten neue Farben hervor. Was will ein Fürst hören? Er will gepriesen werden und seinen Ruhm bestätigt wissen. Dem passt Lipsius seine Reisemotivation an. Er wird vom Ruhm eines mächtigen Fürsten herbeigelockt (D); die Schönheit des Ortes und die Reinheit seiner Religion veranlassen ihn, dort sesshaft zu werden (E). Da der Mensch für sein tägliches Brot etwas leisten soll, sieht sich Lipsius nach den Möglichkeiten an seinem neuen Standort um. Und siehe da, es gibt eine Universität! In schillerndem Farbenspiel werden hier Ursache und Wirkung vertauscht: Denn, nachdem ich seit ungefähr einem Monat nach Jena gekommen war, angezogen vom Ruhm Deines Durchlauchtigsten Namens, der sich herumgesprochen hatte, und, nachdem mir dieser Ort aufgrund der Reinheit der Religion und seiner Bildung ausgezeichnet gefiel, habe ich mich entschlossen, hier sesshaft zu werden und, um nicht müßig herumzusitzen, nach meinen Kräften einen Beitrag zum Bildungswesen zu leisten.70
Im glitzernden Glaspalast der virtuellen Wirklichkeit ist alles machbar, was rhetorisch wirksam ist. Die rhetorische Wirkung ist die einzige Verbindung mit der Realität, die für Lipsius’ Autobiographik zählt. In der Eleganz der Erfindung zeigt sich der Meister der Täuschungskunst. Elegant ist zum Beispiel, dass Lipsius seine Lebenserklärung durch den Austausch eines einzigen Buchstabens tiefgreifend ändert: In dem Brief an den Herzog meldet er, dass er sich entschlossen habe in Jena „sedem figere“ („seßhaft zu werden“, „seinen Wohnsitz zu gründen“); in der Briefautobiographie von 1600 ersetzt er das ‚s‘ mit einem ‚p‘: Lipsius wollte in Jena lediglich „pedem figere“ („Halt machen“). Abgesehen von dem positiven Bericht, nunmehr eine neue Heimat gefunden zu haben, konstituiert Lipsius im Brief an den Herzog sein Leben als mitleiderweckende Misere eines Religionsflüchtlings: Er ist „seiner väterlichen Besitzungen beraubt worden“, ins Ausland verbannt 70
ILE I, 72 10 15, Z. 5–8.
Autobiographische Chamäleontik
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worden, „entbehrt der Geldmittel, um sein Leben zu fristen“, gleicht „einem Schiffbrüchigen“, „entbehrt Besitz und Freunde“ usw.71 Lipsius geht es hier nicht darum, die kalvinistische Erbauungsbotschaft von Gottes Erbarmungstaten zu verkünden, sondern vom Herzog Geld zu bekommen. Der Zweck heiligt die Mittel und der Erfolg die Anpassungsautobiographik. Der Herzog bewilligte das Bittgesuch. Lipsius hatte durch den Einsatz seiner flexiblen Anpassungsautobiographik eine Professur und ein Startkapital zur Gründung eines Haushalts ergattert. Dabei ging er stets davon aus, dass man seine Angaben nicht nachprüfen werde. Jedoch war seine Anpassungsautobiographik auch insofern extrem, als er sogar Fakten fälschte, die im 16. Jahrhundert dem Bereich des Kontrollierbaren zugezählt wurden, wie akademische Titel. So hatte sich Lipsius eine Professur erfunden und den Magister-artiumTitel, der für eine Professur vorausgesetzt wurde (den er jedoch nicht innehatte), beansprucht. Man konnte ihn ersuchen, das Magister-artiumDiplom vorzulegen. So geschah es auch. Lipsius zog sich zunächst mit der Ausrede, er sei als Flüchtling und Heimatvertriebener im Augenblick nicht im Besitz desselben, aus der Affäre; er werde es in einem halben Jahr nachliefern. Er ging davon aus, dass nach einiger Zeit Gras über die Sache wachsen werde, dass sich nach einem halben Jahr niemand mehr für sein Magister-artium-Diplom interessieren werde. Damit hatte er sich jedoch verrechnet. Als der Rektor Hesshusen Lipius für das folgende Jahr zum Dekan ernennen wollte, kam es bei den Kollegen zu einem Sturm der Entrüstung. Man forderte, dass Lipsius jetzt endlich sein Magister-artium-Diplom vorlege. Dies führte zu einem neuen autobiographischen Entwurf, in einem neuerlichen Brief an den Herzog:72 Nunmehr behauptet Lipsius, er habe an der Universität von Köln (!) studiert und dort den Magister-artium-Titel erlangt (!). Zu dieser Zeit sei es aber zu einem Krieg gekommen. Deswegen konnte er, obwohl er alle notwendigen Prüfungen abgelegt hatte, den Titel nicht in Empfang nehmen. Der letzte Selbstentwurf beruht auf reiner Erfindung. Dieser Hintergrund erhellt noch klarer, weshalb es für Lipsius sehr sinnvoll war, in seiner Briefautobiographie den tatsächlichen Verlauf seiner Studien zu verschleiern. Genaue, chronologisch und sachlich richtige Eintragungen hätten diverse frühere Unwahrheiten auf unangenehme Weise sichtbar gemacht. In Lipsius’ Lebenslauf kam es zu neuen Verschlingungen, die seine Erfindungskraft herausforderten, sowohl in der materiellen Wirklichkeit 71 72
ILE I, 72 10 15, Z. 13–14; 17–18. ILE I, 73 02 26 J.
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als auch in der virtuellen Welt seiner Autobiographik. Nach seiner Briefautobiographie habe sich Lipsius, als sich nach „ungefähr einem Jahr“ der Zustand des Vaterlandes gebessert habe, aus Heimatliebe zurück in die Niederlande begeben, habe er in Köln Halt gemacht und sich verheiratet. Was geschah tatsächlich? Nachdem Lipsius in Jena sesshaft geworden war und als Lutheraner auftrat, starb der Tuchhändler Lottin. Bald stellte die junge Witwe den Kontakt zu ihrem früheren Geliebten wieder her. Die alte Liebe flammte auch bei Lipsius wieder auf; jedoch ergab sich jetzt ein mehrgliedriges Problem: Als Professor einer lutherischen Universität konnte Lipsius nicht mehr einfach nach Löwen, in die Spanischen Niederlande, zurückkehren. Es war zu befürchten, dass er in die Hände der Inquisition fallen würde. Aber auch der Universität Jena gegenüber war eine Einreise in die Spanischen Niederlande nicht vertretbar. Um diesem Dilemma auszuweichen, entschlossen sich die beiden, an einem „neutralen“ Ort zu heiraten. Die Wahl fiel auf Köln. Dorthin konnte die Witwe Lottin reisen, ohne Verdacht zu erwecken. Die Heirat fand während der Semesterferien im Sommer 1573 statt. Der Zweck von Lipsius’ Reise nach Köln war also einzig und allein die Heirat mit Anna: Er beabsichtigte keinesfalls, die Jenaer Professur aufzugeben. Nach den Sommerferien kehrte er planmäßig nach Jena zurück. Er ging davon aus, dass seine Gattin in Kürze nachkommen würde. Hierin allerdings irrte sich Lipsius. Die Katholikin Anna hatte keine Lust, im protestantischen Jena ihr Leben zu fristen. Sie blieb in Köln und wartete ihrerseits, dass ihr Mann zu ihr kommen würde. Diese Kraftprobe wurde von Frau Lipsius gewonnen. Nach einem halben Jahr sah Lipsius ein, dass Anna nicht kommen würde. Schweren Herzens gab er im März 1574 die mit soviel Mühe ergatterte Professur auf und reiste zu seiner Frau nach Köln. Den Protestanten gegenüber war jetzt eine Rechtfertigungsautobiographik erforderlich. In einem Brief an den Protestanten Andreas Ellinger aus dem Jahre 1574 entwirft Lipsius folgendes Selbstbild: Wahrlich hat mich nicht mein eigener Wille (aus Jena, Anm.) weggeführt, sondern das Schicksal […]. Wie hätte ich dagegen ankämpfen sollen? Ich bin besiegt und gefesselt, mein Ellinger (um nicht allzu lange zu verhüllen, was doch einmal herauskommen muss), und, was ich dir beim Abschied aus einer gewissen Scham in verhüllter Form gesagt habe, bekenne ich jetzt offen: Juno hat mich gefesselt. Ich habe mich verheiratet. Und ich bringe meine Frau mit keiner Gewalt und mit keiner Überzeugungskraft dazu, sich in diese fernen Regionen (sc. Jena) zu begeben.73
73
ILE I, 74 04 01, Z. 17–22.
Autobiographische Chamäleontik
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Lipsius zieht hier das Gewand des autobiographischen Bekenners an, der etwas Unvorteilhaftes zugibt. Dennoch verhüllt diese Darstellung wesentliche Elemente. Zum Beispiel führt Lipsius als Grund für seine überraschende Kehrtwendung die große geographische Entfernung ins Treffen, die seine Frau, die anscheinend an Heimweh litt, nicht verwinden konnte. Damit übertüncht Lipsius den wahren Grund, den katholischen Glauben seiner Frau. Außerdem suggeriert er, dass er sich eben erst verheiratet habe, während die Heirat bereits im vorhergehenden Jahr stattgefunden hatte. In dem brieflichen Selbstentwurf des Jahres 1574 kontaminiert Lipsius weiter die Köln-Aufenthalte des Jahres 1573 und 1574. Ebenso verfährt er in der Autobiographie des Jahres 1600, wobei er diesmal allerdings Ursache und Wirkung vertauscht. Als Hauptgrund gibt er seine Heimreise in die Niederlande aus Vaterlandsliebe an, während er den tatsächlichen Grund zu einer zufälligen Begleiterscheinung macht. Die chamäleonartigen Farbenwechsel von Lipsius’ Anpassungsautobiographik könnte man vielfältig weiterverfolgen. Das kann jedoch unterbleiben, weil die Vorgehensweise klar ist. Zum Verständnis seiner Methode muss man sich vergegenwärtigen, dass das Anbringen unwahrer Angaben keine seltene Ausnahme bedeutete. Auch andere Leute verfolgten planmäßig ähnliche Absichten: eine entsprechende Stelle an einem Fürstenhof, in einer Stadt, an einer Universität usw. zu ergattern. Auch diesen Leuten ging es nicht darum, ein möglichst wahrhaftiges Selbstbild zu erstellen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts die Situation innerhalb der Respublica litteraria erheblich erschwert hat: Die Konfession tritt nunmehr als bestimmender Parameter der Lebensgestaltung und -darstellung hervor. Es stellte sich immer wieder die Frage, wie man sich auf diesem schwierigen und gefährlichen Terrain fortbewegen sollte. Man kann sich vorstellen, dass nicht Wenige zu ‚Notlügen‘ griffen. Dennoch sticht Lipsius’ Anpassungsautobiographik durch ihren extremen, chamäleonartigen Charakter hervor. Sie lässt sich nicht einfach auf den gemeinsamen Nenner der ‚Notlüge‘ bringen. Dazu sind seine Selbsterfindungen zu ausführlich, zu komplex und zu vielfältig. Lipsius legt einen bemerkenswerten Einfallsreichtum an den Tag. Man erhält den Eindruck, als ob er eine bestimmte Vorliebe für Unwahrheiten habe. Lipsius liebt die gut erfundene Lüge, der chamäleonartige Farbenwechsel bereitet ihm Freude. Er entwirft jeweils unterschiedliche virtuelle Welten auch dort, wo es möglich oder vielleicht zweckdienlicher gewe-
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sen wäre, zu schweigen. Die Lüge scheint bei Lipsius mit einer bestimmten autobiographischen Ethik einherzugehen. Was stets hervortritt, ist die Ungezwungenheit, mit der er in die virtuelle Welt abgleitet und zur Lüge greift. Er scheint sich zu seiner Vorgehensweise irgendwie berechtigt zu fühlen.
7. Der „Neue Mensch“: das Haus der Liebe als ethischer Rückhalt der autobiographischen Chamäleontik Um das Jahr 1584 war der Theologe Adrian Saravia bei Lipsius in Leiden zu Gast. Plötzlich traf ein alter Mann ein, dessen Art sich zu bewegen und dessen äußere Erscheinung darauf hinwiesen, dass er bedeutend war; er wurde von vier oder fünf Männern begleitet. Ich selbst war diesem Mann einmal in Antwerpen begegnet, mit ähnlicher Begleitung, und er war mir damals aufgefallen, so dass ich ihn wiedererkannte; besonders, da mich die Brüder und Freunde darauf hinwiesen, dass er der Patriarch des Hauses der Liebe sei und der Nachfolger des H. N. Dieser Mann umarmte Lipsius mit einem ungewöhnlichen Begrüßungsritual: Auf dieselbe Weise umarmten den Lipsius die Begleiter des Mannes.
Dies berichtet Saravia in einem Brief an Richard Bancroft, Erzbischof von Canterbury.74 Lipsius war, wie unter anderem aus dieser Quelle hervorgeht, höchstwahrscheinlich ein Mitglied der Sekte Haus der Liebe.75 74
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Der Brief vom 20. Oktober 1608 wurde von van Crombruggen publiziert: H. van Crombruggen, „Een brief van Adriaan Saravia over Lipsius en ‚Het Huis der Liefde‘“, in: De Gulden Passer 28 (1950), 114. Man lese übrigens nicht „mihi amici et fratres iudicassent“ („urteilten mir[?] die Freunde und Brüder“; van Crombruggen), sondern „mihi amici et fratres indicassent“ („zeigten mir die Freunde und Brüder an“). Für das ‚Haus der Liebe‘ siehe M. E. H. N. Mout, „The Family of Love (Huis der Liefde) and the Dutch Revolt“, in: A. C. Duke, C. A. Tamse (Hrsg.), Church and State since the Reformation. Papers delivered to the Seventh Anglo-Dutch Historical Conference (Britain and the Netherlands 7), Den Haag 1981, 77–93; B. Rekers, Benito Arias Montano 1527–1598. Studie over een groep spiritualistische humanisten in Spanje en de Nederlanden, op grond van hun briefwisseling, Groningen 1961 (englische Übersetzung: Benito Arias Montano (1527–1598 ) (Studies of the Warburg Institute 33), London 1972); H. Nippold, „Heinrich Niclaes und das Haus der Liebe“, in: Zeitschrift für die Historische Theologie 32 (1862), 323–394, 473–563; H. de la Fontaine Verwey, „The Family of Love“, in: Quaerendo 6 (1976), 219–271; A. Hamilton, „Hiël and the Hiëlist. The doctrine and followers of Hendrik Jansen van Barrefelt“, in: Quaerendo 7 (1977), 276–277; Ders., The Family of Love, Cambridge 1981.
Das Haus der Liebe und die Chamäleontik
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Obengenannter H. N. ist Hendrik Niclaes, der Sektengründer, auf Niederländisch „Hillige natuur“ („Heiliges Wesen“) beziehungsweise, auf Lateinisch, Homo Novus („NEUER MENSCH“), wie er sich selbst nannte. Der Mann, der Lipsius besuchte, war Hendrik Jansen van Barrefelt, der Nachfolger des H. N. oder Hendrik Niclaes. Die in den 1540er Jahren gegründete Sekte stellte eine Reaktion auf die Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts dar. Der Sektenanführer Niclaes verstand sich als Messias, als „Neuer Mensch“; der „Neue Mensch“ verkündete den bevorstehenden Weltuntergang. Das Haus der Liebe bildete eine radikal-spiritualistische Sekte, die nur den innerlichen Glauben anerkannte. Alle dogmatischen und rituellen Unterschiede zwischen den Konfessionen, die gesamte ‚sichtbare Kirche‘, erklärte sie zu bedeutungslosen Äußerlichkeiten. Somit konnte sie sowohl Protestanten als auch Katholiken als Mitglieder aufnehmen. Was die Haltung des Individuums gegenüber der Obrigkeit betrifft, schrieben Niclaes und Van Barrefelt vor allem Gehorsam vor: Das Individuum sollte sich dem Machthaber unterordnen und, im äußeren Leben, den Vorschriften der jeweiligen Staatsreligion entsprechend handeln. Weiter hatte das Haus der Liebe den Charakter eines Geheimbundes und ist insofern den Freimaurern und Rosenkreuzern vergleichbar. Mit diesen hatte sie auch die elitäre Ausrichtung gemein: Die Sektenmitglieder fühlten sich über das gewöhnliche Volk erhaben; Konfessionen sowie die gesamte ‚sichtbare Kirche‘ erachteten sie nur für das uneingeweihte Volk für relevant; die Eingeweihten brauchten diesen lächerlichen Firlefanz nicht. Sie waren überzeugt, dass die spirituelle Wahrheit im Menschen selbst und sonst nirgends zu finden ist. Saravia berichtet im nämlichen Brief von einem Gespräch, das er während eines Spazierganges mit Lipsius und Christoffel Plantin, einem anderen Mitglied der Sekte, in Leiden führte: Plantin sagte: „Es gibt und gab immer viele verschiedene Religionen, die untereinander verfeindet sind. Denn jede Religion birgt viel Täuschung und Trug in sich. Wegen ihres Nutzens im Hinblick auf die schwachen Geister soll man sie dennoch nicht völlig verachten, solange sie sich keines Verbrechens schuldig machen. Das gewöhnliche Volk braucht solche groben Erziehungsmittel, sonst könnte es das Göttliche und Himmlische überhaupt nicht verstehen. In Wahrheit gibt es nur eine Frömmigkeit, und diese ist einfach und birgt keine Täuschung in sich. Es gab auf der Welt immer viele religiöse Menschen, jedoch wahrlich nur wenige wahrhaft Fromme“.76
76
Brief an Bancroft, vgl. Mout, „The Family of Love“.
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Zugleich funktionierte diese Sekte auch insofern als elitärer Geheimbund, als ihre Mitglieder einander im praktischen Leben politisch, finanziell und anderwärtig unterstützten. Seit Niclaes zahlreiche Antwerpener Kaufleute für die Sekte gewonnen hatte, stellte sie eine beachtliche finanzielle Macht dar. Mit Plantin verfügte sie über einen mächtigen publizistischen Arm: Die Errichtung von Plantins Presse wurde von ihr mitfinanziert, sie druckte und verbreitete die Werke des Niclaes. Macht und Einfluss, dies spielte im täglichen Leben der Sekte eine bedeutende Rolle. Zeitweilig bestimmte sie die Ereignisse des Niederländischen Aufstandes mit.77 Der sehnlichste Wunsch der Sekte war, einen politischen Vergleich zustande zu bringen, den Frieden wiederherzustellen und Religionsfreiheit zu gewährleisten. Durch ihre Haltung in konfessionellen Fragen stellte sie ein geeignetes Ambiente für ein Überleben während der Glaubenskriege dar. Durch loyale gegenseitige Unterstützung schafften es die Sektenmitglieder, in politisch, religiös und militärisch schwierigen Zeiten zu florieren. Es lässt sich nachvollziehen, weshalb sich Lipsius von der Sekte angezogen fühlte. Sie bot ihm das ethische Fundament zu seiner Lebensweise, der optimalen Anpassung an die jeweiligen (konfessionellen) Gegebenheiten, sowie zu der dazugehörigen chamäleonartigen Anpassungsautobiographik. Die Sekte bildete ein wirkungsmächtiges, karriereförderndes Antriebsmittel, da mit ihrer Hilfe jegliche zweckdienliche Schwindelei sanktioniert werden konnte. Sogar grobe Lügen wurden nicht als verwerflich betrachtet, da sie nur dem Bereich der Äußerlichkeiten zugehörten und also vergänglich und unbedeutend waren. Was zählte, war das Innerliche des Menschen. Dieser im „Acker des Inneren“ verborgene „Schatz“, wie ihn Van Barrefelt nannte, konnte von keinerlei Äußerlichkeiten affiziert werden. Diese Mentalität vergrößerte den Handlungsspielraum des eingeweihten Individuums außerordentlich. Von dieser Warte aus betrachtet war nichts dagegen einzuwenden, dass Lipsius den Jenaern vorschwindelte, er habe in Dole eine Professur bekleidet. Was machte das schon aus? Lipsius’ Inneres war und blieb gut; auch war ohne weiteres ethisch vertretbar, dass ein Mensch, der das Licht der spirituellen Wahrheit erkannt hatte, seine Selbstverwirklichung vorantrieb. An diesem Zweck gemessen war das Mittel der verbalen Unaufrichtigkeit ohne weiteres entschuldbar, besonders, wenn die Lügen mit konfessionellen Problemen zusammenhingen. Lipsius handelte nach der Doktrin der Sekte, 77
Ebd.
Das Haus der Liebe und die Chamäleontik
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wenn er sich in Jena als Lutheraner präsentierte und auch, wenn er dies später verschwieg oder leugnete; wenn er in Jena sein Sekretärsstelle bei Kardinal Granvelle als Bildungsreise durch Europa tarnte; wenn er in Leiden behauptete, dass er wegen militärischer Übergriffe aus Löwen geflüchtet sei, während die Lage in Wirklichkeit ruhig war,78 usw. Außerdem erwies sich die Sekte durch das Beziehungsnetz, das sie errichtet hatte, als karrierefördernd. Es ist umstritten, zu welchem Zeitpunkt Lipsius Mitglied des Hauses der Liebe wurde: entweder während seiner Leidener Periode (1578–1591) oder schon zuvor. Ein unwiderlegbarer Beweis lässt sich nicht erbringen. Einen Hinweis könnte Folgendes bieten: Bei der Betrachtung von Lipsius’ Karriereweg zwischen 1568 und 1574 fällt auf, dass er sich größtenteils über das Beziehungsnetz des Hauses der Liebe gestaltete. Plantin, Priester des Hauses der Liebe, vermittelte Lipsius an Granvelle und an Pighius. Das Sektenmitglied Pighius war von 1555 bis 1567 der Sekretär Granvelles gewesen. Es wäre keine Überraschung, wenn sich auch Pighius für Lipsius eingesetzt hätte. 1571 begab sich Lipsius nach Wien. Abermals vermittelte ihn der Sektenpriester Plantin. Es ist kein Zufall, dass er ihn an Sambucus und Crato weiterreichte: Beide waren Sektenmitglieder. Und ist es Zufall, dass das Sektenmitglied Pighius sich im selben Jahr, in dem Lipsius nach Wien aufbrach, dorthin begeben hatte? Weiter ist es annehmlich, dass einer der vier Wiener „Freunde“ (von denen drei Sektenmitglieder waren!), vielleicht Crato, Lipsius mit der Weimarer Gesandtschaft in Kontakt brachte, dass Lipsius also auch die Jenaer Professur vom Haus der Liebe vermittelt wurde. Nachdem Lipsius seine Jenaer Professur verlassen hatte, begab er sich nach Köln. Ist es Zufall, dass er sich dort bei seinen Versuchen, karrieremäßig voranzukommen, jeweils an Mitglieder des Hauses der Liebe wandte – an Sambucus (in Wien) und an Thomas Rhediger (in Köln)? Köln war übrigens zu diesem Zeitpunkt Hauptstandort der Sekte: Niclaes, Van Barrefelt, die Apostel und Seraphim der Sekte hielten sich dort auf. Von dieser Warte aus betrachtet hat es den Anschein, dass Lipsius schon damals Mitglied des Hauses der Liebe war. Jedenfalls darf man konstatieren, dass er bereits zu diesem frühen Zeitpunkt so weit ins Beziehungsnetzwerk der Sekte aufgenommen worden war, dass sich seine Karriere über sie gestaltete.
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Thomas, „Martin Antonio Delrio and Justus Lipsius“, 352–353.
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8. Das Humanistenporträt als Andachtsbild: Joannes Woverius’ Publikation des Lipsius-Porträts (1606) Woverius besaß ein Porträtgemälde des Lipsius von der Hand des Antwerpener Malers Abraham Janssen. Noch zu Lebzeiten des Lipsius ließ er von Pieter de Jode einen Kupferstich anfertigen, den er bei Plantin herausgab (Abb. 32). Unter dem Porträt befindet sich die Unterschrift: JUSTUS LIPSIUS GEWIDMET, DEM IN DER LITERATUR UND IN DEN WISSENSCHAFTEN GLÄNZENDSTEN UND IN DEN KÜNSTEN DER WEISHEIT UNSTERBLICHEN MANN, VON JOANNES WOVERIUS AUS ANTWERPEN. GERNE UND DESSEN VERDIENSTEN ENTSPRECHEND TRUG ER AUF SEINE KOSTEN SORGE, DASS DIESE ALLEREHRWÜRDIGSTEN GESICHTSZÜGE IN REALISTISCHER WIEDERGABE IN EWIGES ERZ EINGRAVIERT WURDEN, ALS EWIGWÄHRENDES SYMBOL DER VEREHRUNG UND ZUNEIGUNG. ANTWERPEN 1606. Abraham Jansen malte es, Pieter de Jode verfertigte den Stich. IUSTO LIPSIO LITTERARUM STUDIIS FLORENTISSIMO SAPIENTIAE ARTIBUS IMMORTALI VIRO, IOANNES WOVERIUS ANTVERPIENSIS. HANC DIGNISSIMI VULTUS VERITATEM PERENNI AERI SUO AERE ET AMORE INSCRIPTAM CULTUS ET OBSERVANTIAE AETERNUM SYMBOLUM L. M. CURABAT. ANTVERPIAE MDCV. Abrh. Ians. Pinxit P. de Iode sculpsit.
Was war die Funktion dieses Druckes? Handelt es sich vornehmlich um eine der Freundschaftsgaben, die in höheren Kreisen gebräuchlich waren? War es die Absicht des Woverius, Lipsius eine Reproduktion des Ölporträts zu schenken? Man kann dies nicht ausschließen. Jedoch war es für die bloße Freundschaftsgabe eines Porträts nicht erforderlich, dass dieses publiziert würde. Auch darf man die Frage stellen, ob ein Stich Woverius’ Großzügigkeit optimal zum Ausdruck gebracht haben würde: Woverius war ein reicher Mann; wenn er Lipsius ein Porträt hätte schenken wollen, hätte es auf der Hand gelegen, ein Ölgemälde in Auftrag zu geben. Die Publikation hatte offenbar einen Sinn, der den des bloßen Freundschaftsgeschenks überstieg. Woverius legte dem Stich einen Begleittext bei, der sich an die Betrachter richtete:
Das Humanistenporträt als Andachtsbild: Woverius
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An den Betrachter. Ihr seht hier ein BILD seiner Gesichtszüge, das mit seiner Lebensweise, aber noch mehr mit seinem Geist übereinstimmt: das will sagen, es drückt Seelenruhe und eine Aufgeräumtheit des Geistes aus, wie sie sonst nur den Alten eignete, und eine Strenge, die zugleich liebenswert ist – mit einem Wort – eine WEISHEIT, die man in diesem Zeitalter sonst vergeblich sucht. Aus dem feurigen Blick der Augen lässt sich die Kraft seines Geistes ablesen, aus den Gesichtszügen die Aufrichtigkeit seines Inneren. Und obwohl die reine und aufrichtige Stirne einen großen Teil seines Inneren eröffnet, so verschweigt sie dennoch einen noch größeren Teil und verhüllt die glänzendsten Tugenden, die sie als solche nicht leugnet, mit dem Schleier der Bescheidenheit. Aber mit welch einem hauchdünnen und durchsichtigen Schleier! Dieser bewirkt – sogar mehr als jede Lichtquelle – dass die (von ihm verhüllte; Anm.) Tugend nur noch größer erscheint und in hellstem Glanz erstrahlt. Denn wer sich selbst geringer achtet als alle anderen, die ihn beurteilen, der gewinnt gerade dadurch an Wert: Es ist die höchste Art des Lobes, Lob verachtet zu haben. Daraus entsteht jener Ruhm, der sich selbst überlebt und gewissermaßen zu seinem eigenen Erben wird; der alles hinter sich lässt, so dass die Ewigkeit, jenseits aller Vergänglichkeit, erstrahlt. Kündet nicht der ganze Erdkreis, auf ihm die gesamte Menschheit im Chor, dass weder die Größe seines Geistes noch sein Streben nach WEISHEIT, GEMÄSS DER SITTLICHKEIT DER ALTEN und gemäß aller Grundsätze der Humanität, übertroffen werden könne? Sogar seine Konkurrenten loben ihn in diesem Sinn; und die, die ihn zu hassen versuchen, sind schließlich gezwungen, ihn zu lieben. Denn der ist wahrlich über jeden Hass erhaben, dem so viele Freundschaften angeboten werden, dass er kaum imstande ist, sie alle zu beantworten. Denn zu dir, O ERHABENSTER ALLER MÄNNER, strömen gerade die Besten hin; und trotz der großen Verschiedenheit nicht nur der Individuen, sondern der Nationen, entlässt du keinen einzigen Gast von einer Audienz bei dir mit einem unzufriedenen Gefühl, damit alle wissen mögen – weil sie es ja aus eigener Erfahrung erleben, dass dir zuteil wurde, was in früheren Zeiten sogar den Römischen Kaiser mit Neid erfüllte. Dieser Erfahrungstatsache fehlt auch keineswegs ein adäquates rationales Argument: An ein und demselben erlesenen Edelstein lobt der eine die Farbe, der andere den Glanz und den Wert; aber nur der Fachmann ist imstande, seine energetische Ausstrahlung und seinen wahren Wert zu erkennen. So schätzt das gemeine Volk die verschwenderische Wohltätigkeit bzw. die auf den ersten Blick ersichtliche Humanität, weil sie ihm nützt; andere bewundern die kultivierte Gelehrsamkeit und den Eifer des blühenden Geistes; aber nur wenige, die in dieselben Studien eingeweiht sind, schätzen den Ernst deines Strebens nach Weisheit und loben dich dafür, dass du ein solches Niveau erreicht hast, dass du hinsichtlich aller dieser Aspekte mit den Alten verglichen werden kannst. Es ist ein seltenes Lob, so vielen zu gefallen, den erhabensten und den niedrigsten der Menschen; nicht durch Nach-Dem-Munde-Reden seine Integrität gegenüber den Höherstehenden verdorben zu haben, und nicht durch Geltungssucht die Niedrigerstehenden verletzt zu haben. Siehe da, das Bild des Äußeren hat uns zu einer Betrachtung der erhabensten Tugenden geführt, und der Anblick dieses vergänglichen und hinfälligen Hauses hat uns die Unsterblichkeit seines zugewanderten Bewohners, der Seele, eher vor den Geist denn vor Augen geführt. Wir grüßen dich also, o Weisheit und SO-
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CRATES unseres Zeitalters, o universale Gelehrsamkeit und VARRO unseres Zeitalters! Fahre fort, den Geistern, die gute Ratschläge begehren, die Ratschlüsse der besten Ratgeber einzuflößen! So dass sie daraus lernen, mit welcher maßvollen Lenkung deine seelenruhige Lebensweise erreicht werden kann, deine Bescheidenheit des Geistes, deine milde Strenge, deine stille Standhaftigkeit: und schließlich, auf welche Weise sie durch die Verachtung der Eitelkeit so großer Dinge in den Genuss eines festen und seelenruhigen Urteils gelangen können. Dies schrieb IOANNES WOVERIUS aus Antwerpen mit der ganzen Hingabe seines Geistes.
Quisquis spectator. SIMULACRUM vultus vides; vitae, sed magis animo suo congruum, hoc est, tranquillum et cui hilaritas prisca et amoena severitas insunt, unoque verbo, non huius aevi SAPIENTIA. Animi vigorem oculi scintillant, pectoris honestatem os loquitur et quamvis innocens puraque frons magna reseret, maiora tamen reticet fulgidissimasque virtutes, quas non abscondit, tamen inumbrat modestiae velum. Sed o tenue rarumque velum! Quo nullo magis velut lumine virtus crescit et inclarescit. Nam qui omnium aestimationibus apud se minor, is melior est summumque praeconii genus, sprevisse laudem. Tunc illa oritur sibi superstes et quasi heres fama; omnibusque relictis aeternitas sine mortalitate splendet. Nonne, neque huius ingenii magnitudinem augeri neque SAPIENTIAE studium, MORIBUS ANTIQUIS, totaque humanitate magis componi potuisse, orbis et in eo humanae gentis consensus clamat? Vel ipsi qui aemulantur, sic laudant et qui odisse conantur, amant. Odiis sane omnibus maior, qui amicitiis non sufficit. Ad te enim, O PRIMA VIRORUM, affluit optimus quisque et in tanta non hominum, sed gentium varietate neminem a conspectu tuo tristem dimittis. Ut tibi, illud olim etiam Romano Principi invidendum, contigisse omnes sciant, quia sentiunt. Nec veritati huic par argumentum deest. Etenim unius, sed nobilioris gemmae hic colorem laudat, ille splendorem et pretium. At nisi peritus vires videt aestimatque virtutem. Sic benignitatem effusam obviamque humanitatem etiam infima plebs amat, quia utitur; alii doctrinae cultum politamque efflorescentis ingenii industriam admirantur, verum pauci et nisi eorumdem studiorum symmystae seria sapientiae tuae studia perpendunt et his omnibus in antiquorum ingeniorum comparationem te evectum praedicant. Rara laus placuisse tam multis, summis, imis. Nec assentatione corrupisse integritatem erga maiores nec ambitione offendisse minores. Ecce in contemplationem maximarum virtutum nos figura corporis misit et huius labilis fugacisque domicilii adspectus inquilinae animae immortalitatem animis magis quam oculis inseruit. Salve igitur tui seculi sapientia SOCRATES, omnimoda doctrina VARRO et perge bonorum avidis animis inserere optimorum decreta consultorum. Unde discant, qua moderatione obtineri queat tua ista vitae tranquillitas, animi modestia, mitis austeritas placidaque constantia: denique qua ratione tantarum rerum spreta vanitudine solidis serenisque iudiciis perfruantur. Ioannes Woverius Antverpiensis tota animi adfectione scripsit.
Das Humanistenporträt als Andachtsbild: Woverius
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In Woverius’ Betrachterlenkung fällt auf, dass sie Lipsius Eigenschaften zuschreibt, die sich nicht unmittelbar aus dem visuell Wahrnehmbaren ergeben. Zum Beispiel sollen wir uns seinen „feurigen Blick“ und seine „Heiterkeit des Geistes“ vergegenwärtigen, während es manchem Betrachter vorkommen möchte, als ob ein müder, desillusionierter oder vielleicht kranker Mann betrübt vor sich hin starrt. Das gilt in gleichem Maße für die Tugenden, die Woverius vermeldet: Sie lassen sich nicht auf einfache Weise aus den Gesichtszügen des Porträtierten ablesen. Damit eröffnet sich eine fesselnde Welt jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren, eine stärkere, tiefere, wirkungsmächtigere Innenwelt, die teilweise verschleiert ist und der Entschlüsselung und Interpretation durch den Begleittext bedarf. Es hat den Anschein, dass Woverius eine Art Geheimnis lüftet, den Leser ‚einweiht‘. ‚Weihe‘, das ist vielleicht der zweite vorherrschende Eindruck, den die Bildbeschreibung vermittelt. Die Person des Lipsius wird auf hymnische Weise präsentiert. Der Diskurs des Hymnus lässt auf eine Art Heiligenverehrung schließen: Der Humanist erscheint als Heiliger, der bestimmte Aspekte und Wirkungskräfte aufweist. Welche Leute setzt der Begleittext als Betrachter voraus? Die sprachliche und inhaltliche Verfasstheit setzt voraus, dass es sich dabei um Mitglieder der Respublica litteraria handelt. Dabei scheint dem Begleittext eine gewisse Ausdifferenzierung vorzuschweben, die er mit einem stufenartigen Verständnis von Lipsius’ Persönlichkeit verbindet: ‚Einfachere‘ Betrachter sollen Lipsius’ Humanität/Menschlichkeit verherrlichen. Dazu ist keine besondere fach- oder inhaltsbezogene Qualifikation erforderlich. Humanität/Menschlichkeit ist daher die allgemeinste, äußerste Schale von Lipsius’ Persönlichkeit. Eine Stufe höher steht die großartige Gelehrsamkeit des Lipsius, die nur von den wahrlich Gebildeten, also den humanistischen Gelehrten, verstanden werden kann. Die höchste Stufe bildet Lipsius’ Philosophie. Diese ist nur wenigen Mitgliedern der Respublica litteraria zugänglich, den „Eingeweihten“ (Symmystae), als welche sie Woverius bezeichnet. Dieser Begriff deutet auf eine Art religiöser Verehrung hin, wie sie etwa in einer Sekte stattfindet. Das Haus der Liebe? Woverius hat hier etwas anders, jedoch bis zu einem gewissen Grad Vergleichbares vor Augen: den humanistischen Zirkel. Die Gruppe der Eingeweihten, die Woverius hier im Besonderen anspricht, stellt der Kreis von Lipsius und seinen Schülern dar, wie sie Rubens auf dem Porträt der vier Philosophen im Palazzo Pitti gemalt hat (Abb. 31). Eine kleine Zahl von Schülern bildete mit Lipsius eine Lebensgemeinschaft. Diese für das 16. Jahrhundert gebräuchliche Unterrichts-
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Chamäleontik als autobiographische Methode: Lipsius
form wies in Bezug auf Lipsius’ Hausunterricht insofern eine Besonderheit auf, als sie mit Philosophie verbunden war. Woverius konstituiert Lipsius als Weisen, als Sokrates seines Zeitalters. Lipsius’ Philosophie hatte einen distinkten Charakter. Woverius hebt hier als Wirkungseigenschaft die „Seelenruhe“ (tranquillitas) und „Standhaftigkeit“ (constantia) hervor, die Paradeeigenschaften des stoischen Weisen. Durch die Nennung der Tugend der „constantia“ spielt er auf Lipsius’ neostoisches Handbuch Von der Standhaftigkeit, De constantia, an.79 Welche Funktion kommt somit dem Porträt zu? Es handelt sich um ein Andachtsbild zum Zweck der Meditation. Woverius war aus eigener Erfahrung geläufig, wie ein solches Bild wirkte. In seinem Studierzimmer hing das Ölgemälde mit Lipsius’ Porträt. Wenn Woverius sich ans Studieren machte, blickte er ritualartig zuerst zu seinem Lehrmeister auf. Durch die Betrachtung des Meisters rief er jene Lehrziele, -inhalte und -methoden ab, die er sich während seiner Lehrzeit angeeignet hatte: die Ideale des Humanismus und der stoischen Philosophie, sowie die Methodik des Philologen und des stoischen Philosophen. Möglicherweise lief dieser Verinnerlichungsprozess gestuft ab, etwa indem die Andacht vom Äußeren zum Inneren, vom Untergeordneten zum Übergeordneten, von der Philologie zum stoischen summum bonum wanderte. Das tägliche Studium fing also mit einer Andachtsübung an. Der Studierende ordnete seine Gedanken und trat planmäßig in eine Sonderwelt ein, in der man die Niederungen des täglichen Lebens hinter sich ließ. Die Publikation des Porträtstichs machte die segnende Wirkung dieses Andachtsbildes einem größeren Kreis von Humanisten zugänglich. Sie konnten (statt des Ölgemäldes) den Stich in ihrem Studierzimmer aufhängen. In dem Begleittext formulierte Woverius eine Modellandacht: die humanistischen und stoischen Ideale, die sich die Benutzer des Porträts vergegenwärtigen sollten. Der heilige Humanist vervielfachte seine Wirkungsmacht, die den nunmehr zahlreichen Mitgliedern der Respublica litteraria zu jedem gewünschten Zeitpunkt den optimalen Einstieg in die intellektuelle Betätigung ermöglichte.
79
Zu Lipsius’ De constantia vgl. K. Beuth, Weisheit und Geistesstärke. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur „Constantia“ des Justus Lipsius (Europäische Hochschulschriften. Reihe 20, Philosophie 297), Frankfurt am Main-Bern-New York-Paris 1989; A. M. van de Bilt, Lipsius’ De constantia en Seneca, Nijmegen-Utrecht 1946.
Rückblick, Überblick, Ausblick
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XXVII. Rückblick, Überblick, Ausblick. Theoretische Weiterentwicklung der gewonnenen Ergebnisse Es wäre nicht adäquat, dieses Buch mit einem homogenen synthetischen Gesamtbild abschließen zu wollen. Es war ja das erklärte Ziel dieser Arbeit, die Autobiographik des Humanismus nicht als Gattungsmonolithen, sondern in ihrer divergenten medialen Verfasstheit und jeweils auf Einzelfälle und -ereignisse bezogenen literarischen Prozess zu beschreiben. Ein homogenes Gesamtbild soll deshalb auch nicht dargeboten werden. Jedoch ist es sinnvoll, in der Form eines Rück-, Über- und Ausblicks die Frage zu stellen, welche Resultate auf der Ebene der übergeordneten Textformation mit Hilfe der angewendeten Herangehensweise, deren Methodik in der Einleitung dargelegt worden war, gewonnen werden konnten und inwiefern sich aus den Ergebnissen, welche in den einzelnen Kapiteln dieses Buches zu Tage gefördert wurden, im weiteren Sinn gültige Tendenzen, Strategien und Formationsprozesse der humanistischen Selbstkonstituierung ableiten lassen. Zunächst ging aus allen Einzelanalysen hervor, dass sich die humanistischen Autobiographien von hermeneutischen Autobiographieansätzen her, welche von Authentizitäts-, Wahrheits- bzw. Wahrhaftigkeitserwartungen ausgehen, nicht richtig verstehen lassen. Beim analytischen Austesten zeigte sich jeweils, dass diese Ansätze zu ungereimten und paradoxen Befunden führten. Die Rekonstruktion des literarischen und historischen Kontextes ist ein wichtiges Mittel, zu zeigen, dass die Hermeneutik die Interpretation in Sackgassen abdrängt. Die humanistischen autobiographischen Texte stellten sich in keinem Fall als einfache, mehr oder weniger subjektive, jedoch authentische Festlegungen von Erlebnissen heraus, die sich durch einen existentiellen Wirklichkeitscharakter auszeichnen. In den Einzelanalysen konnte nachgewiesen werden, dass weder das realistische ‚Abbilden‘ von Lebenswirklichkeiten noch die archivarische, verifizierbare Dokumentierung biographischer Fakten sinnvolle und belegbare Strategien der humanistischen Autobiographik bilden. Die Strategien, die dingfest gemacht werden konnten,
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sind in den meisten Fällen auf spezifische Diskurseinschreibungen zurückführen bzw. hängen mit diesen zusammen. Die Konstatierung, dass nicht ein einziger autobiographischer Diskurs vorliegt, sondern eine Vielzahl von Diskurseinschreibungen, ist für das Verständnis der neulateinischen Autobiographik von essentieller Bedeutung. Mit Hilfe der einzelnen Analysen konnte ein breites Spektrum erstellt werden. Folgerichtig wurde ein Gutteil des Buches der analytischen Beschreibung dieses Spektrums sowie der Funktionsweise der betreffenden Diskurseinschreibungen gewidmet. Wir werden sogleich auf die Resultate und Schlussfolgerungen, die sich daraus ergaben, zu sprechen kommen. Ein wichtiges Ergebnis dieses Buches ist weiter, dass die humanistischen Autobiographien – anders als in der traditionellen geisteswissenschaftlichen Forschung zumeist angenommen wurde – weder von der Konzeption einer einfachen Identitätsfestlegung noch von einem klar definierbaren Individualitätsbegriff ausgehen. Die Analysen der Autobiographien Francesco Petrarcas, Giovanni Conversinos, Giannantonio Campanos, Michael Marules’, Eobanus Hessus’, Desiderius Erasmus’, Sigmund von Herbersteins, Joannes Fabricius’, Jacques de Sluperes, Joseph Scaligers, Justus Lipsius’ usw. ergaben, dass diese keine festen (Individual)Identitäten abbilden, die sich in der realen Wirklichkeit außerhalb der Texte orten lassen. Es konnte gezeigt werden, dass die Verfasser vielmehr davon ausgingen, dass ihr (literarisches) Selbstbild sowohl machbar als auch variabel und verschiedenartig sei, und dass dieses zudem in sich widersprüchliche Elemente aufweisen dürfe oder Elemente, die sich zu anderen Selbstbildern des nämlichen Verfassers im Widerspruch befinden. Wie wenig ihre selbstkonstruierte ‚Identität‘ den Identitätskonzeptionen der frühneuzeitlichen realen Wirklichkeit verpflichtet ist, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass die Humanisten ihre Identität grundsätzlich durch harsche Diskontinuitätsansagen bzw. durch profunde Alteritätsansprüche konstituierten. Diese Diskontinuitätsansagen lassen sich vor allem als Antikenrezeption erfassen. Die Humanisten entdeckten die literarischen Diskurse und Materialien der Antike als hervorragend geeignete autobiographische Knetmasse, die mit größter Kreativität bearbeitet werden konnte und die die Herausbildung unterschiedlichster autobiographischer Formationen ermöglichte. Wenn man die autobiographische Antikenrezeption nach den ihr zugrundeliegenden Strategien befragt, so ergibt sich, dass sie nicht in einem festen Abbildungsverhältnis zur Wirklichkeit steht. Die Tatsache beispielsweise, dass sich Eobanus Hessus in den Diskurs von Ovids Dichterautobiographie einschreibt, bezieht sich nicht auf eine (wie im-
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mer geartete) tatsächliche Gleichläufigkeit zu Ovids Lebenswirklichkeit, welche eine Identifikation mit Ovids Lebenslauf nahegelegt hätte. Ovid war zur Abfassungszeit seiner Autobiographie ein renommierter Dichter, der auf ein langes Leben und ein riesiges Oeuvre zurückblicken konnte und tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt in der Verbannung darbte; Eoban lebte jedoch weder in der Verbannung noch war er ein renommierter Dichter, sondern ein Jüngling, der noch kaum ansprechende dichterische Leistungen vorzuweisen hatte. Die Strategie der Autorisierung ist nicht von deckungsgleichen oder ähnlichen Lebensfakten abhängig. Die Identität, die Eobanus durch die Einschreibung in den Diskurs von Ovids Autobiographie erstellt, ist daher grundsätzlich ein Konstrukt der literarischen Erfindungskraft. Seine inventio ist dergestalt eingerichtet, dass sie bestimmte literarische und rhetorische Aufgaben erfüllt. Die Strategie, die Eoban mit Hilfe des Ovidischen Identitätskonstruktes verfolgt, ist darauf ausgerichtet, dass sich Eoban einen Mitgliedspass für die frühneuzeitliche Respublica litteraria ausstellt und sich als Humanist und lateinischer Dichter legitimiert. Die Einzelanalysen haben ergeben, dass in nicht wenigen Fällen spektakuläre Diskontinuitäten zwischen den Identitätskonstrukten und den jeweiligen außertextlichen Identitäten vorhanden sind. Michael Marules etwa konstruiert in seinem autobiographischen Gedicht De exilio suo eine Identität als nunmehr im Exil lebender Bürger und Patrizier Konstantinopels, der sich zum Zeitpunkt der Eroberung der Stadt durch die Türken dort aufhielt, aus der Stadt vertrieben wurde und nach einer abenteuerlichen Flucht zur Abfassungszeit des Textes unter einem barbarischen Herrscher des Ostens dienen musste. In Wirklichkeit hatte Marules, als Konstantinopel erobert wurde, noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt, noch hatte er es überhaupt je betreten, geschweige denn, dass er Bürger dieser Stadt gewesen wäre, noch war er zur Abfassungszeit auf der Flucht, noch diente er damals einem orientalischen Tyrannen. Er verfasste die Autobiographie mehr als vierzig Jahre nach der Eroberung Konstantinopels als erwachsener Mann und berühmter lateinischer Dichter in Norditalien, als der französische König einen Kreuzzug gegen die Türken vorbereitete. Joseph Scaliger konstruiert in seinem autobiographischen Lebensabriss eine Identität als Edelmann, indem er sich in den Stammbaum der Della Scala, der Fürsten von Verona, einschreibt. In Wirklichkeit stammte er jedoch von einfachen, in Padua ansässigen Handwerkern ab. Eobanus Hessus konstituiert sich als Städter, der als geborener Musensohn in der hessischen Stadt Frankenberg das Licht der Welt erblickte. In Wirklichkeit war er der Sohn eines leibeige-
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nen Bauern, der in einem Dörfchen zur Welt kam und seine Bildung nur einem günstigen Zufall zu verdanken hatte. Aus diesen und anderen Beispielen ging hervor, dass man humanistische Autobiographien nicht einfach als Quellen frühneuzeitlicher Identitätsgefühle verwenden kann. Die humanistischen Selbstkonstituierungen zeichnen sich durch verschiedene, divergente Merkmale aus, die aufs engste mit den Textdiskursen verbunden sind, in welchen sie hervorgebracht wurden. Diese Selbstkonstituierungen sind nicht in erster Linie Zeugen einer innerlichen, genuinen Selbsterforschung, sondern sind so eingerichtet, dass sie vor allem der Kommunikation mit dem Lesepublikum dienen. Das Lesepublikum ist an den Selbstkonstituierungen stets aktiv beteiligt. Es vermochte die kreativen Formationen und die rhetorisch-literarischen Prozesse, welche sie erzeugten, zu goutieren, während es nicht erwartete, dass es die Aufgabe autobiographischer Texte sei, feste, außertextliche Identitäten aufzuzeichnen. Als besonders aussagekräftig für die These von der unfesten Identität erwiesen sich Fälle, in denen ein Autor mehrere Autobiographien hinterlassen hat. Dies gilt unter anderen für Francesco Petrarca, Giannantonio Campano, Desiderius Erasmus, Joannes Fabricius, Sigmund von Herberstein und Justus Lipsius. Bereits der Fall des ‚ersten Erfinders‘ der humanistischen Autobiographik, Francesco Petrarcas, zeigt, in welch unterschiedlichen Diskursen sich ein und derselbe Mensch konstituierte und besonders, dass alle diese Entwürfe auf Konstruktionsprozessen beruhen, die sich in einem auffälligen Spannungsverhältnis zu der Lebenswirklichkeit des Autors befinden. Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um Erfindungen, und zwar um äußerst gewagte Erfindungen, in welchen Petrarca seine einprägsame, horror und divina voluptas erzeugende Diskontinuitätsansage an seine eigene Zeit zum Ausdruck bringt. Von Sigmund von Herberstein besitzen wir nicht weniger als sechs Autobiographien. Die Analyse dieser Texte hat ergeben, dass sich ihre Diversität nicht aus einer wie immer gearteten, linearen ‚Entwicklung‘ der Persönlichkeit des Autors oder einer chronologischen ‚Genese‘ der Texte erklären lässt, sondern dass prinzipiell unterschiedliche Selbstkonstituierungen vorliegen, die auf unterschiedlichen Diskurseinschreibungen beruhen und mit denen der Verfasser unterschiedliche Segmente der Leserschaft bedient. Besonders illustrativ sind die Unterschiede zwischen den lateinischen und den volkssprachlichen Autobiographien: Die unterschiedlichen Sprachen und die unterschiedlichen Leserschaften bedingen jeweils andere Selbstkonstituierungen. Ähnlich spektakuläre Identitätsdivergenzen ergaben sich im Fall des
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Joannes Fabricius, der eine Autobiographie in Versen und eine in Prosa hinterlassen hat, die im selben Jahr verfasst wurden. Aus der metrischen Autobiographie geht ein trauriger und deprimierter Mann hervor, der an seiner von Schicksalsschlägen gezeichneten irdischen Existenz verzweifelt, aus der Prosaautobiographie ein Optimist, der die Bildungsmöglichkeiten, die sich ihm boten, optimal benutzte, eine wohlgeordnete Existenz aufbaute und in der protestantischen Gelehrtenlandschaft der Schweiz ein angenehmes Zuhause gefunden hat. Aus den Analysen der Autobiographik des Erasmus und des Lipsius ging hervor, dass der Begriff der festen Identität sich nicht mit den dort feststellbaren Selbstkonstituierungsprozessen verträgt. Es gibt hier überhaupt nichts Greifbar-Konsistentes mehr, nicht einmal als Konstrukt. Während beide Autoren massiv belegen und beweisen, sind ihre Beweise und Argumente ausschließlich von den jeweiligen persuasiven Zielsetzungen ad hoc eingegeben. Die Selbstkonstituierungen passen sich diesen Zielsetzungen jeweils chamäleontisch an. Lipsius hat sogar eine genuine Ästhetik der chamäleontischen Autobiographik entwickelt. Den ‚guten‘, weil überzeugenden Farbwechsel wendet er selbst dort, wo keine unmittelbare rhetorische Notwendigkeit vorliegt, geradezu lustvoll als autobiographische Darstellungsmethode an. Mit diesem Befund hängt zusammen, dass sich der wirkungsmächtige Begriff des Individuums, der in zahlreichen grundlegenden Werken zu Humanismus und Renaissance von Burckhardt bis Burke eine zentrale Rolle spielt, in dem vorliegenden Buch nicht als brauchbares Arbeitsinstrument erwiesen hat. Die Individualpoetik, die berühmten humanistischen Autobiographien, wie Enea Silvios Commentarii, Leon Battista Albertis Vita oder Cardanos De propria vita vielfach zugeschrieben wurde, hält eingehenden Analysen nicht stand. Es stellte sich heraus, dass die scheinbar individuellen Züge auf Diskurseinschreibungen bzw. auf literarisch-rhetorische Prozesse zurückzuführen sind, also vielmehr topische bzw. supraindividuelle Merkmale und Eigenschaften darstellen. Es konnte gezeigt werden, dass die Zuschreibung topischer Züge für die humanistische Autobiographik ganz wesentlich ist: Erst dadurch gelingt es den humanistischen Autobiographen, Akzeptanz zu erzeugen. En passant ergab sich, dass autoritative Konzepte, gewissermaßen Emanationen der Individualpoetik, wie Burckhardts „Entdeckung der Welt und des Menschen“ und das „uomo-universale-Ideal“ des Renaissancemenschen, mit verfehlten Interpretationen humanistischer Autobiographien zusammenhängen. Beispielsweise hat die Diskursanalyse von Leon Battista Albertis Vita ergeben, dass sie im Gegensatz zu Burck-
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hardts Annahme kein Manifest des ‚uomo universale‘ ist, sondern den enigmatischen Intellektuellen Alberti im Diskurs von Diogenes Laërtius’ antiken Philosophen konstituiert. Aus der Diskursanalyse von Enea Silvios Commentarii ging hervor, dass das Werk nicht als Sammlung authentischer Landschaftsbeschreibungen bzw. Deskriptionen authentischer Erlebnisse interpretiert werden darf, sondern einen Kraftakt der rhetorischen Weltbemeisterung darstellt, welcher von den strategischen Zielsetzungen von Enea Silvios Papsttum, vor allem von der persuasiven Rechtfertigung und Vorbereitung des Kreuzzugs gegen die Türken, bestimmt wird. Diese beiden Beispiele zeigen nebenher, dass die Methode der Verunsicherung, die in diesem Buch angewendet wurde, kein Selbstzweck ist. Sie soll vielmehr zu einer möglichst eingehenden kritischen Analytik anregen, die, indem sie die historischen und literarischen Kontexte umfassend erhellt, zu präziseren Interpretationen führt. Grundlage dieser Interpretationen sind genaue Analysen der Diskurse, in welchen die einzelnen Autobiographien funktionieren, eine möglichst genaue Erfassung der jeweiligen Diskursvorgaben und -regeln sowie der medialen Verfasstheit der einzelnen Autobiographien, ihres historischen und biographischen Kontextes sowie des intertextuellen Gewebes, in welchem die betreffenden Autobiographien ihre Wirkung entfalten. Die vielen Einzelergebnisse, welche die Analysen zu Tage gefördert haben, können hier selbstverständlich nicht aufgelistet werden. Jedoch sind einige übergeordnete Fragen sinnvoll, anhand derer allgemeinere Interpretations- und Verständnislinien hervorgehoben werden können. In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, was die Diskurseinschreibungen leisten, bzw. welche Schlussfolgerungen aus der medialen Verfasstheit der Autobiographien gezogen werden können. Zunächst hat sich herausgestellt, dass den Diskurseinschreibungen bei der ‚Erfindung des Menschen‘ eine ganz wesentliche Rolle zukommt. Sie stellen sozusagen Initialzündungen des autobiographischen Prozesses dar: Ohne sie wäre die humanistische Autobiographik undenkbar. In dieser Beziehung konnte festgestellt werden, dass die Diskurseinschreibungen der Autorisierung und Legitimation des autobiographischen Autors, ja des humanistischen Autors überhaupt dienen. Mit Hilfe der Diskurseinschreibungen stellen sich die Humanisten – wie sich mehrfach zeigen ließ – Bescheinigungen zur Berechtigung ihrer Teilnahme am literarischen Prozess bzw. Zugangspässe zur Respublica litteraria aus, der sie angehören wollen. Indem sich beispielsweise Campano mit seinem (unvollendeten) autobiographischen Gedicht in den Diskurs von Ovids
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Dichterautobiographie Tristia IV, 10 einschreibt, autorisiert er sich sowohl als lateinischer elegischer Dichter als auch als Verfasser einer Dichterautobiographie. Indem sich Giovanni Conversino in den Beichtdiskurs von Augustins Confessiones einschreibt, legitimiert er sich zunächst als autobiographischer Autor; indem er seine Autobiographie weiter an die Diskurse von Senecas philosophischer Buchhaltung der Epistulae ad Lucilium und von Petrarcas vita solitaria anbindet, autorisiert er sich als Partizipant an der humanistischen Respublica litteraria. Indem sich Enea Silvio/Pius II. in seinen Commentarii in den Diskurs von Caesars Feldherrnberichten einschreibt, autorisiert er sich als Verfasser einer politischen und feldherrlichen Autobiographie. Weiter dienen die Diskurseinschreibungen der Lesersteuerung, d. h. der prinzipiellen Regulierung des Per- und Rezeptions- sowie des Interpretationsprozesses. Die Diskurseinschreibungen bilden also die eigenzeitliche Verständnisgrundlage dieser Texte, die condicio sine qua non der literarischen Kommunikation, die relevante Erkenntnisstruktur. Die Diskurseinschreibungen hängen eng mit der intertextuellen Verankerung der betreffenden autobiographischen Schriften zusammen. Erst ihre Situierung im intertextuellen Gewebe ermöglicht ein adäquates Verständnis. Das intertextuelle Gewebe bildet die Erkenntnisgrundlage, welche die Verfasser der Autobiographien mit ihrer Leserschaft verbindet. Von den Lesern wurde erwartet, dass sie die Verbindungslinien des Gewebes erkannten, die Texte daran festmachten und auf dieses Weise ihren Sinn orteten. Als Musterbeispiel für das Funktionieren dieses Prozesses kann der Ruderwettkampf auf dem See von Bolsena dienen, den Pius II. in seinen Commentarii dargestellt hat. Es ist eine spezifische Diskurseinschreibung, die die Interpretation dieses sportlichen Wettkampfes steuert. Ein Leser, der die Diskurseinschreibung nicht zu orten vermag, ist nicht imstande, den autobiographischen Text richtig zu deuten. Ein solcher Leser würde die Beschreibung z. B. als Darstellung eines harmlosen, beiläufigen Freizeiterlebnisses Pius’ II. interpretieren. Das wäre jedoch weit gefehlt. Die intertextuellen Verbindungslinien zeigen dem Leser an, dass der Text im epischen Diskurs von Vergils Aeneis funktioniert. Dies steuert den weiteren Rezeptions- und Interpretationsprozess: Indem der Leser das dargestellte Ereignis als epische Szene zu orten vermag, versteht er, dass sich Pius II. als Vorsitzender und Zuschauer des Wettkampfes in die Rolle des epischen Helden Aeneas hineinmanövriert. Er versteht weiter, dass sich Pius II. auf diese Weise als legitimer römischer Machthaber präsentiert. Der Leser wird also den Text in dem Sinn interpretieren, dass sich der Papst auch als oberste weltliche Machtinstanz Roms
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autorisiert – als legitimer Nachfahre der Römischen Kaiser, die ihre Macht bekanntlich auf Aeneas zurückführten – und er erkennt, dass Pius II. hier den weltlichen Machtanspruch seines Papsttums (er verstand sich in der Tat als Oberhaupt eines weltlichen Territorialstaates) zum Ausdruck bringt. Die Diskurseinschreibung leistet also einen wesentlich Beitrag, die Leserinterpretation der autobiographischen Angaben zu steuern. Auf diese Weise gelingt es dem Autobiographen, den autobiographischen Text bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren, d. h. bis zu einem gewissen Grad Macht auf den Leser auszuüben. Aufgrund der Diskurseinschreibung wird der gebildete Leser gewissermaßen gezwungen, den autobiographischen Text auf eine bestimmte Weise zu rezipieren. Es fällt ihm schwer, den Text ‚gegen den Strich‘ zu lesen, ihn gegenläufig, gegen den Willen des Autors zu lesen, ihn zu zerlesen. Unmöglich ist dies freilich nicht, aber es bedarf schon eines intellektuellen Kraftaktes, der von einer besonderen Mutwilligkeit und subversiven Energie eingegeben sein muss, wie im Fall von Kaspar Schoppes Scaliger Hypobolimaeus, in welchem er Joseph Scaligers Autobiographie zerliest. Darüber hinaus zeitigen die Diskurseinschreibungen einen starken Beglaubigungseffekt, der sowohl in die Breite als auch in die Tiefe wirkt und sich auf die verschiedensten Bereiche erstreckt. Die Diskurseinschreibungen vermögen ‚Fakten‘, Bilder, Zusammenhänge und Interpretationen zu beglaubigen. Die grundlegende und in dieser Hinsicht stärkste Beglaubigungswirkung der Diskurseinschreibungen beruht auf der Tatsache, dass sie den Leser zu Bekanntem hinleiten, einen Rezeptionsprozess initiieren, der bereits Eingeübtes aus dem Langzeitgedächtnis abruft und zu einem Erkenntnisprozess führt, bei dem wesentlich die Erinnerungsstruktur des Lesers angesprochen und manipuliert wird. Die Erinnerungsstruktur der frühneuzeitlichen Respublica litteraria war von der Tatsache gekennzeichnet, dass ihre Teilnehmer die antike Literatur, vor allem die lateinische, in einem Umfang und mit einer Festigkeit in ihrem Gedächtnis gespeichert hatten, welche heute kaum nachvollzogen werden können. Die frühneuzeitlichen Leser hatten eine große Textmenge der antiken Literatur vorrätig, welche durch diszipliniertes Training stets abrufbereit war. Es ist diese Tatsache, welche sich die Verfasser der Autobiographen zunutze machten und welche den autobiographischen Darstellungsprozess wesentlich steuert. Die neulateinischen Autobiographen stellten ihr Leben dergestalt dar, dass es die Leser aus dem Gedächtnisvorrat der antiken lateinischen Literatur abrufen konnten. Mit anderen Worten: Sie fordern die Leserschaft auf,
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ihre jeweiligen Autobiographien aus der Erinnerung an die antike Literatur herauszulesen. Diese Darstellungsstrategie mag den modernen Leser befremden; Voraussetzung zu ihrem Verständnis ist, dass man sich die Literatur-, Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Respublica litteraria vergegenwärtigt, in der die Teilnehmer mit einer relativ eng begrenzten, jedoch äußerst gut eingeübten und schriftlich festgelegten Informationsmenge operierten. Diese Situation bedingte, dass man viel schneller und häufiger, als dies heute der Fall ist, auf Bekanntes rekurrierte, ja geradezu magnetisch zu ihm hingezogen wurde. Hinzu tritt, dass man den geschriebenen Texten einen Wahrheitsgehalt zuschrieb, der den der empirischen Wahrnehmung weit überstieg. Die Schriftlichkeit als solche autorisierte und bestätigte, während der empirischen Wahrnehmung das Odium der Unsicherheit und Hinfälligkeit alles Sinnlichen anhaftete. Das führte dazu, dass die literarischen und wissenschaftlichen Diskurse von der stetigen Vergewisserung, dem stetigen Abrufen und der stetigen Einübung bestimmter, bekannter Texte gekennzeichnet waren. Wenn man sich dies vergegenwärtigt hat, ergibt sich die Frage, worin der spezifische Vorteil der Strategie liegt, den Leser aufzufordern, die Autobiographien aus der Erinnerung an die antike Literatur herauszulesen. Ein wichtiger Grund liegt zunächst wohl in der Tatsache, dass die Autobiographik ein unsicheres und schwer zugängliches Gelände darstellte, ein literatur- und ideengeschichtliches Niemandsland, das gerade im christlichen Denken bis ins Hochmittelalter tabuisiert war. Das bedeutet nicht nur, dass eine starke Autorisierung der Autobiographik notwendig war, sondern auch, dass diese Autorisierung auf eine Periode rekurrieren musste, die jenseits des Früh- und Hochmittelalters lag. Schon diesbezüglich lag also der Rückgriff auf die Antike auf der Hand. Hinzu kam, dass die antiken Texte, die im Wissenschafts- und Literatursystem auch im Mittelalter eine wichtige Rolle beanspruchten, im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (1350–1600) spektakulär an Bedeutung gewannen. Es kam zu einer umfassenden Operation, in deren Rahmen das gesamte Wissenschafts- und Literatursystem durch eine verstärkte Zuwendung zur Antike neu autorisiert wurde. Mehrere Segmente der Respublica litteraria beteiligten sich an diesem Prozess, an dem der neulateinische Humanismus naturgemäß einen besonders großen Anteil hatte. Der Rückgriff auf die Antike war in bezug auf die Autobiographik umso fruchtbarer, als in der antiken Literatur ein reicheres, vielfältigeres und alternatives Angebot der Personendarstellung vorlag. Daraus
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erhellt, dass ein Autobiograph, der die Strategie des Herauslesens der Autobiographie aus der Antike anwendete, einen reicheren Fundus der Personendarstellung als im Mittelalter zur Verfügung hatte, welcher zudem den Vorteil hatte, dass das Gütesiegel der Autorisierung gleich mitgeliefert wurde. Für neulateinische Humanisten war dieser Fundus umso attraktiver, als sie ihr geistiges und zum Teil sogar materielles Leben als solches wesentlich durch die Nachahmung der Antike gestalteten. Die literarische Selbstgestaltung durch Einschreibung in die Antike passte somit nicht nur besonders gut zu dieser spezifischen Lebensorganisation, sondern man kann, was die Gestaltungsprozesse betrifft, bis zu einem gewissen Grad sogar von einer merkwürdigen Gleichläufigkeit von Lebensgestaltung und literarischer Selbstkonstituierung sprechen. Somit lässt sich verstehen, dass es sinnvoll war, die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen neulateinischen Lebensbeschreibungen aus der antiken Literatur herauszulesen. Es war für Petrarca sinnvoll, sich in der Autobiographik seiner Epistole metrice als neuen Horaz und seiner Rerum familiarium libri als neuen Cicero, Odysseus, Seneca und Vergil zu präsentieren; für Giovanni Conversino und Franciscus Junius, ihre Autobiographien im Diskurs von Augustins Confessiones darzustellen; für Boccaccio, Petrarcas Leben im Diskurs der antiken Ruhmesreligion, wie sie sich bei Ovid, Properz, Horaz und Cicero findet, zu gestalten; für Lapo da Castiglionchio, Leon Battista Albertis Leben im Diskurs von Diogenes Laërtius’ antiken Philosophen darzustellen; für Giannantonio Campano, Eobanus Hessus und Joannes Fabricius, sich als neuen Ovid zu konstituieren; für Michael Marules, sich als antiken spartanischen Todeskämpfer zu präsentieren; für Eobanus Hessus, sich als Ovidischer Held um die Gunst der Nachwelt zu bewerben; für Sannazaro und De Slupere, ihr Leben im Diskurs der Vergilischen Hirtendichtung zu gestalten usw. Aus jedem einzelnen Kapitel dieses Buches ging hervor, welch große Rolle das Nachleben der antiken Literatur (vor allem der lateinischen) für die Autobiographik des Humanismus spielt. Diese Rolle ist so groß, dass die neulateinische Autobiographik ohne genaue Kenntnis der antiken Literatur überhaupt nicht verstanden werden könnte. Diese bildet also einen unverzichtbaren Schlüssel zu ihrem Verständnis. Wesentlich ist, dass das Nachleben der antiken Literatur nicht nur auf der Ebene der Diskurse stattfindet; es setzt sich bis in die einzelnen Ereignisse, bis in die Details der Lebensgeschichten hinein fort. Es ist klar, dass die vielen Einzelergebnisse, die in diesem Buch erarbeitet wurden, an dieser Stelle nicht aufgelistet werden können. Es sei dafür auf die einzelnen Kapitel
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verwiesen. Die ungeheuer große Rolle, die das Nachleben der Antike spielt, bringt mit sich, dass sich dem Neulateiner ein riesiges Forschungsfeld eröffnet. Der Verfasser ist sich bewusst, dass auf diesem riesigen Gebiet in nur einem Buch nicht alles gesagt und geleistet werden konnte. Es ist ihm ein Anliegen, dass das vorliegende Buch zu weiterer Forschung anregen möge. Das Nachleben der Antike besitzt für die neulateinische Autobiographik eine so große Bedeutung, dass es sogar Bereiche, die der moderne Leser nahezu selbstverständlich der historischen Wirklichkeit zuordnet, überlagert. Zum Beispiel ging aus den Einzelanalysen als eine wesentliche Erkenntnis der vorliegenden Arbeit hervor, dass das Nachleben der Antike – und zwar sowohl auf der Ebene der Diskurseinschreibungen als auch auf der Ebene der Detailangaben – eine ungleich stärkere beglaubigende Wirkung zeitigt als die historische Dokumentation biographischer Daten oder die logisch-rationale Folgerichtigkeit von Fakten- und Datenzusammenhängen. Es ist ein den modernen Leser befremdender Befund, dass die frühneuzeitlichen humanistischen Autobiographen auf eine gründliche, nach modernem Standard glaubwürdige Sammlung biographischer Daten prinzipiell verzichteten; ja dass sie belegbaren Daten und Fakten eine merkwürdige Gleichgültigkeit entgegenbrachten. Dies zeigt sich sogar in extremis, zum Beispiel dort, wo aufgrund des Buchdrucks publiziertes Material sowohl festgelegt und datiert war als auch in einer beträchtlichen Menge von Textzeugen vorlag. Zum Beispiel war Eobanus Hessus’ Erstlingswerk 1506 im Druck erschienen, als sein Autor achtzehn Jahre alt war. In seiner Autobiographie, in der er sein Geburtsjahr expressis verbis auf 1488 datiert, teilt er jedoch mit, dass er, als sein Erstlingswerk im Druck erschien, gerade erst fünfzehn Jahre alt gewesen sei, womit er das Werk auf 1503 datiert. Der moderne Leser, der die Bedeutung der Antikenrezeption für die humanistische Autobiographik nicht erkennt, vermag dies nur als Irrtum oder Fehler zu verstehen. Es handelt sich jedoch um eine bewusste, wirksame Selbstkonstituierung durch Einschreibung in die Antike, die sich sowohl auf den Detailbereich als auch auf die Diskursivität bezieht: Eoban schrieb sich mit seinem Brief an die Nachwelt in den Diskurs von Ovids Dichterautobiographie ein. Dazu passt die Frühreife, das jugendliche Alter zum Zeitpunkt des Erscheinens des ersten Dichtwerkes. Wenn Eoban dies für sich selbst in Anspruch nahm, verringerte er nicht, sondern steigerte er die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung. Für die inventio ist grundlegend, das sich Eoban mit Ovid ein autobiographisches Duell lieferte: Im konkreten Fall spiegelt und überbie-
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tet er Ovids Detailangabe, dass er seine ersten Gedichte öffentlich vorgelesen habe, als ihm gerade der erste Bart wuchs. Wie sich aus vorliegender Studie ergeben hat, findet die humanistische Autobiographik in einer Vielzahl von meist auf die Antike zurückgehenden Diskursen statt. An dieser Stelle ist die Frage angebracht, ob die angewendeten Diskurse mehr oder weniger gleichberechtigt sind oder ob es bestimmte Diskurse gibt, die erfolgreicher als andere waren. In der Tat lassen sich bestimmte Diskurseinschreibungen hervorheben, die sich als besonders erfolgreich erwiesen. Es handelt sich dabei um die Einschreibung in den Diskurs des lateinischen Privatbriefes (1), in den Beichtdiskurs von Augustins Confessiones (2), in den Verbannungsdiskurs von Ovids Trauergedichten (3), in den Dokumentierungsdiskurs der antiken forensischen Rhetorik (4) sowie in den Diskurs der historischen Evidenzrede (5). Welchen Vorteil brachten diese Diskurse? In welcher Beziehung erwiesen sie sich geeigneter als andere? Der Vorteil dieser Diskurse liegt vor allem darin, dass man mit ihrer Hilfe spezifische, besonders starke Beglaubigungswirkungen erzielen konnte. Der Darstellungsmodus, Autobiographik im Diskursrahmen des lateinischen Privatbriefes zu vermitteln (1), zieht sich, nachdem ihn bereits Petrarca (ab ca. 1345) entwickelt hatte, durch den gesamten Humanismus bis ins 17. Jahrhundert. Der Privatbrief stellte sich überhaupt als eines der wirkungsmächtigsten autobiographischen Medien heraus. Sein strategischer Vorteil beruhte darauf, dass von der Adressierung an Freunde und Familienmitglieder eine starke Suggestion von Vertraulichkeit und Aufrichtigkeit ausging, die als solche geeignet war, den Inhalt zu beglaubigen. Die Anrede der Vertrauten scheint Verstellung und Lüge schon im Vorfeld auszuschließen. Die Einschreibung in den Bekenntnisdiskurs von Augustins Confessiones brachte eine ähnliche Wirkung hervor (2). Die Diskursregelung setzt voraus, dass sich der Bekennende Gott zuwendet, um Zeugnis abzulegen. Die Anrede an den allwissenden Gott suggeriert, dass der Autobiograph uneingeschränkt die Wahrheit sprechen werde. Unter anderen Giovanni Conversino da Ravenna und Franciscus Junius haben diese Strategie angewendet, um die ‚Fakten‘ ihrer jeweiligen Lebensabrisse zu beglaubigen. Wichtige strategische Vorteile brachte weiter der Ovidische Verbannungsdiskurs (3). Diese sind darauf zurückzuführen, dass der Mensch dort in einer Extremsituation vorgeführt wird, in der er isoliert ist und auf sich selbst zurückgeworfen wird. Diese Situierung suggeriert bedingungslose Aufrichtigkeit. Unter anderen Giannantonio Campano, Michael Marules und Joannes Fabricius haben sich diese Strategie zunutze gemacht.
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Im Dokumentierungsdiskurs der antiken forensischen Rhetorik, der spezifisch für den Redeteil der narratio entwickelt worden war, lag ein komplexes Regelwerk vor, mit dessen Hilfe die Glaubwürdigkeit von Faktendarstellungen optimalisiert werden konnte (4). Zum Beispiel Erasmus und Lipsius haben in ihren autobiographischen Darstellungen eine virtuose Beherrschung der rhetorischen Dokumentierungsrede an den Tag gelegt. Die historische Evidenzrede ist eine ebenso komplexe Beglaubigungsstrategie (5), deren Regelwerk in der langen Tradition der antiken Geschichtsschreibung sorgfältig entwickelt worden war. Fakten werden in dieser Diskursivität durch Schilderungen der Örtlichkeiten, bestimmter sinnlich wahrnehmbarer Einzelheiten und Begleitumstände regelrecht ‚vor Augen geführt‘. Unter anderen Pius II., Junius und Conversino erwiesen sich als Meister in der Anwendung dieser Darstellungsstrategie. Eine besonders wichtige Erkenntnis dieses Buches ist, dass die Humanisten die betreffenden Diskurse niemals als unwandelbare Entitäten betrachteten, deren Regelwerk quasi automatische Anwendungsweisen voraussetzen würde. Vielmehr erwies sich der Diskurs selbst als Teil des kreativen Prozesses: Er kann nach Bedarf adaptiert, variiert, mit anderen Diskursen kombiniert oder durch Umbrüche sogar radikal geändert werden. Das bedeutet, dass die humanistische Diskursanwendung von vorneherein Diskontinuitäten in bezug auf die antiken Ausgangspunkte einkalkulierte. Aufgrund der immer wieder auftretenden Änderungen, die in dieser Studie festgestellt werden konnten, darf man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Verfasser und ihr Publikum davon ausgingen, dass der besondere Reiz der Diskursanwendungen gerade in den Variationen und Kombinationen lag. Die Humanisten treten dabei als virtuose Gattungskünstler hervor, die für ein Publikum schreiben, das derartige Kunststücke zu schätzen weiß. Wenn beispielsweise Eobanus Hessus sein Leben in den Diskurs von Ovids Dichterautobiographie (Tristia IV, 10) einschreibt, kombiniert er diesen Diskurs mit dem der Heroninenrhetorik, die pikanterweise ebenfalls auf Ovid zurückgeht (Heroides). Das führt zu einem spannenden Autobiographieduell mit dem römischen Dichter, welches unter anderem bewirkt, dass der Diskurs der Mitleidsrede aus der Dichterautobiographie der Tristia in sein Gegenteil verkehrt wird. Statt des traurigen und deprimierten Verbannten ersteht ein zuversichtlicher junger DichterAmator, der um die Liebe seines Publikums, welches als Heroine personifiziert erscheint, wirbt. Ähnlich hat auch Michael Marules den Diskurs der Mitleids- und Verbannungsrede aus Ovids Dichterautobiographie durch eine Diskurskombination abgeändert, jedoch in einem völlig
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anderen Sinn. Er kombinierte ihn sowohl mit dem Diskurs der epischen Rede, wie er in Vergils Aeneis auftritt, als auch mit dem epigrammatischen Brevitas-Diskurs, der zu einem vignetteartigen persönlichen Statement führt. Das bewirkt eine auffällige Inversion der resignierenden Mitleidsrede zu einer dezidierten Zornrede (indignatio), welche den entschlossenen Kampfeswillen des Verfassers, der zeigt, dass er den Tod nicht scheut, demonstrieren soll. Unter anderem aus diesen beiden Beispielen geht hervor, dass die Diskursänderungen, -kombinationen und -umbrüche weitaus mehr als lediglich die Zurschaustellung der literarischen Virtuosität leisten: Ihn ihnen wird die wesentliche Aussage des betreffenden Werkes in nuce bzw. in prägnanter Form ersichtlich. Eoban ist es darum zu tun, als frühreifer lateinischer Dichter von seinem Publikum angenommen zu werden, Marules darum, sich mit der überzeugenden Zornrede in den von König Charles VIII. geplanten Kreuzzug gegen die Türken einzuschreiben. Die Variations- und Kombinationsmöglichkeiten der Diskurse beschränken sich nicht auf die von der Antike tradierten Textgattungen. Es werden auch Diskurse herangezogen, die anderen Bereichen oder Perioden zugehören. Die Texte erhalten dadurch eine prickelnde Spannung, welche die Aufnahmebereitschaft der Leser anregt. Joannes Fabricius etwa kombiniert den Diskurs der Verbannungs- und Mitleidsrede von Ovids Dichterautobiographie mit dem Diskurs der kalvinistischen Prädestinationslehre. Franciscus Junius kombiniert den Augustinischen Bekenntnisdiskurs mit dem Diskurs der kalvinistischen Welteroberung. Pius II. kombiniert Caesars Feldherrndiskurs mit den Diskursen der päpstlichen Weltbeherrschung und des christlichen Kreuzzugsgedankens. Micyllus nimmt einen Diskursumbruch von Eobans Heroinenrhetorik in den ritualisierten Trauerdiskurs der zeitgenössischen Respublica litteraria vor, welche durch den Tod eines ihrer Vorkämpfer in eine Krise zu schlittern scheint; Sigmund von Herberstein vollzieht in seiner zweiten Autobiographie einen Diskursumbruch vom diplomatischen Rechenschaftsbericht zum spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Adelsbuch und in seiner dritten Autobiographie vom spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Adelsbuch zum Posteritas-Diskurs der lateinischen Antike. Schon aus diesen wenigen Beispielen erhellt, dass die Variations- und Kombinationsmöglichkeiten sehr vielfältig sind. Die Humanisten ließen ihre kreative Erfindungskraft voll zur Entfaltung kommen: Sie mischten antike Diskursregulative mit neueren sowie zeitgenössische mit anderen zeitgenössischen und stellten dadurch anspruchsvolle und aussagekräftige Textkombinate her.
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Der strategische Sinn der Diskursvariation und -kombination führt über die Verstärkung der Prägnanz der Aussage und der Aufnahmebereitschaft der Leser hinaus: Die Diskurskombinationen verstärken nämlich zugleich den Beglaubigungseffekt und die Textautorisierung. Dahinter steht die relativ einfach fassliche Wirkungsweise nach dem Prinzip der Verdopplung: Zwei Diskurseinschreibungen bewirken mehr als eine einzige. Die Wirkungsweise von Diskursvariationen und -umbrüchen ist komplizierter. Zunächst ließ sich feststellen, dass die Verfasser offensichtlich nicht befürchten, ein Diskursumbruch werde die Beglaubigungswirkung zunichte machen; dass sie das Wagnis gerne, ja geradezu begeistert auf sich nahmen. Diese Vorgehensweise könnte darauf hindeuten, dass die Verfasser bewusst oder unbewusst davon ausgingen, ihr freizügiger und kreativer Umgang mit Diskursregeln werde ihrer Autorisierung als Textautor zugute kommen. Denn auch antike Autoren wie Vergil, Ovid, Caesar oder Augustin nahmen sich das Recht heraus, Diskursregulative zu ändern. Indem sich der moderne Autor dieselbe Berechtigung zuschreibt, erweist er sich als gleichberechtigt und auch in diesem Sinn als würdiger Fortsetzer der antiken Autoren. Weiter ist aus vorliegender Studie hervorgegangen, in welcher Weise die humanistische Autobiographik der Kommunikation in der internationalen Respublica litteraria dient. Die diskursiven Einschreibungen in der antiken Literatur, die kreativen Diskursänderungen sowie die vielfältigen intertextuellen Anbindungen an antike lateinische Texte, die in diesem Buch dingfest gemacht werden konnten, erwiesen sich für diese Art der Kommunikation hervorragend geeignet. Mit der Funktion der Kommunikation korrespondiert besonders die auffällige rhetorische Organisation, welche die meisten autobiographischen Texte der Humanisten auszeichnet. Es handelt sich prinzipiell um persuasive Texte, in denen vielgestaltige Überredungsprozesse stattfinden und verschiedenartige Überredungsstrategien angewendet werden. Während die selbständige Rede (oratio) als Textgattung in der frühen Neuzeit keinen autobiographischen Ort darstellt, griffen die Humanisten verschiedene von der antiken Literatur angebotene Möglichkeiten auf, Reden in andere Textgattungen und Diskurse einzugliedern. Den wohl auffälligsten Versuch in dieser Beziehung hat Pius II. unternommen, der in seine Commentarii eine beachtliche Anzahl seiner Reden, literarisch gestaltete Wiedergaben seiner tatsächlich gehaltenen Reden, besonders seiner Papstreden, eingefügt hat. Mit Hilfe dieser Reden, die vom Diskursregulativ der Textgattung Historiographie autorisiert werden, vermag sich der religiöse Amtsträger der internationalen Respublica
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litteraria gegenüber zugleich als humanistischer Orator zu präsentieren. Weitere Möglichkeiten für die literarische Eingliederung von Reden eröffnen der humanistische Privatbrief, wie ihn Petrarca entworfen hat, die Bekenntnis- und Erbauungsschrift, die auf Augustins Confessiones zurückgeht, und der Dialog. Franciscus Junius hat in seine Autobiographie, die als kalvinistische Erbauungsschrift konzipiert ist, in literarisch kondensierter Form Reden wiedergegeben, die er als Prädikant in den südlichen Niederlanden gehalten hat. Einige Privatbriefe Petrarcas, die an politische und religiöse Amtsträger gerichtet sind, lesen sich wie Gesandtschaftsreden, von denen man sich vorstellen könnte, dass sie ein diplomatisch tätiger Humanist wie Petrarca den in den Briefadressen angegebenen Würdenträgern hätte vortragen können. Petrarcas autobiographischer Dialog Secretum lässt sich als breit angelegter Überredungsprozess verstehen, in dem – auf der Oberfläche – die Dialogperson Augustin den Humanisten Franciscus zu der richtigen Orientierung seiner Studien überredet, andererseits – in einer tieferen Schicht – der Autobiograph Petrarca (aus dem Mund Augustins) sein Lesepublikum von der Legitimität der Richtungsänderung, die er als Autor vorzunehmen beabsichtigt, überzeugt. Die Dialogteile, in denen Augustin das Wort führt, zeichnen sich durch eine Textorganisation aus, in der die Darstellungsmittel der rhetorischen argumentatio, besonders ihres widerlegenden Teils, der confutatio, angewendet werden. Die rhetorische Ausrichtung der autobiographischen Texte beschränkt sich im Übrigen keineswegs auf die Eingliederung von Reden in diverse Gattungen und Diskurse. Sie bezieht sich auf eine Textorganisation, die nicht nur prinzipiell auf vielfältige Überredungsprozesse ausgerichtet, sondern zudem so eingerichtet ist, dass in ihr nahezu das gesamte Regelwerk, welches in den aus der Antike überlieferten Rhetorikleitfäden vorrätig war, zur Anwendung kommt. Diese Vorgänge umfassend und bis in die Einzelheiten zu beschreiben, konnte freilich nicht Ziel dieser Studie sein. Dies hat hauptsächlich seinen Grund darin, dass die Anwendung der Rhetorik ein universales Literaturphänomen des Humanismus und kein Spezifikum der Autobiographik darstellt. Die Analyse wurde bewusst auf Fälle beschränkt, in denen spezifische Zusammenhänge hergestellt werden konnten. Diese betreffen unter anderem die topische inventio des rhetorischen Personenlobes (Boccaccios Petrarca-Biographie; Petrarcas Brief an die Nachwelt; Campanos und Platinas Pius-Biographie; Eobanus Hessus’ Brief an Posteritas), die Darstellungsmechanismen der forensischen narratio (Erasmus; Lipsius) und der Invektive (Joseph Scaliger, Schoppe).
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Von welchen Inhalten versuchten die Humanisten ihr Lesepublikum zu überzeugen? Diesbezüglich ließen sich einige Schwerpunkte dingfest machen. In einer Reihe von Fällen konnte festgestellt werden, dass sie sich mit den autobiographischen Texten Zugangspässe zur spezifisch humanistischen Respublica litteraria ausstellten. Das gilt unter anderen für Giannantonio Campano, einen Teil von Enea Silvio Piccolominis Briefautobiographik, Eobanus Hessus, Jacques de Slupere und Joannes Fabricius. Die Verfasser legitimieren sich als lateinische Dichter durch Nachahmungen der Dichterautobiographie Ovids (Campano, Eobanus Hessus, Fabricius, De Slupere), durch Selbstkonstituierungen als neuen Horaz (Petrarca in seinen metrischen Briefen; Enea Silvio in gewissen Prosabriefen) oder neuen Vergil (Petrarca, Campano, Sannazaro). Weiter stellt sich heraus, dass sich Humanisten in ihren autobiographischen Schriften durch bestimmte Diskurseinschreibungen bzw. intertextuelle Anbindungen als Mitglieder der humanistischen Respublica litteraria bestätigen (z. B. in den Fällen des Giovanni Conversino, des Sannazaro oder des Michael Marules). Auf dieses Ziel ist auch die bemerkenswerte Überredungsstrategie ausgerichtet, die sich aus der allegorischen Diskursivität der Bukolik ergibt: Die Hirtenwelt wurde als verschlüsselte Wiedergabe humanistischer Akademien und Zirkel verwendet, und dementsprechend stellen Selbstdarstellungen in der Hirtenwelt Selbstbestätigungen als Mitglieder der Respublica litteraria dar (Sannazaro). Auch das ‚Lob des Landlebens‘ wurde als Legitimation der humanistischen Existenz eingesetzt (u. a. von Petrarca, Enea Silvio Piccolomini, Lipsius). Als wirkungsvolle Überredungsmittel werden weiter die antike Dichterweihe, wie sie z. B. Properz dargestellt hat (Sannazaro), sowie die Dichterkrönungen, die seit dem 14. Jahrhundert wieder auftreten, eingesetzt (Petrarca, Enea Silvio Piccolomini). Mit Hilfe dieser Überredungsstrategien und -mittel autorisieren sich die Verfasser als lateinische Autoren, als Leute, die das Sagen haben. Die Eroberung des autobiographischen Raumes geht weiter mit einer Welteroberung einher, in derem Zuge sich die Humanisten in der historischen Wirklichkeit Nischen erkämpften, in denen sie sich festsetzten und von denen aus sie ihre humanistischen Zielsetzungen verfolgen konnten. Die Inhalte, von denen die Humanisten ihre Leser in den Autobiographien zu überzeugen versuchen, beschränken sich freilich keineswegs auf ihre Selbstlegitimation als Mitglieder der humanistischen Interessensgemeinschaft. Sie beziehen sich unter anderem auf die politische und religiöse Selbstrechtfertigung (z.B. Enea Silvio Piccolomini, Michael Marules,
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Franciscus Junius, Jacques de Slupere, Justus Lipsius), die kirchenrechtliche (z. B. Enea Silvio, Erasmus, Cardano) und privatrechtliche Selbstverteidigung (z. B. Giovanni Conversino, Cardano), die soziale Legitimation (Gionvanni Conversino, Campano, Marules, Erasmus, Eobanus Hessus, Sigmund von Herberstein), die nationale Selbstrechtfertigung (z. B. Petrarca, Marules, Eobanus Hessus), die genealogische Selbstverteidigung (Marules, Joseph Scaliger) und adelige Selbstdarstellung (Sigmund von Herberstein). Die humanistische Autobiographik funktioniert diesbezüglich nicht nur als Kommunikationsmedium, sondern spezifisch als Kampfmittel, das eingesetzt wird, um bestimmte Ziele, die in der historischen, sozialen und politischen Wirklichkeit liegen, zu erreichen. Sowohl aus ihrer rhetorischen Organisation als auch aus den hier angeführten Inhalten geht hervor, dass die humanistische Autobiographik keineswegs in einem phantasiebestimmten Niemandsland anzusiedeln ist, sondern in den jeweiligen historischen Kontexten eng verankert ist. Das bedeutet nicht, dass man die autobiographischen Texte im hermeneutischen Sinn vor allem als Belege historischer und biographischer Fakten verwenden sollte, sondern, dass die betreffenden Selbstkonstituierungen in ihrem historischen Beziehungsnetz verstanden werden sollten. Die Texte stellen jeweils spezifische und durch ihre literarische Diskursivität bestimmte Reaktionen auf die historische Wirklichkeit dar. Dafür ist bezeichnend, dass wir bei den Analysen, die auf diesem Rundgang durch die humanistische Autobiographik zwischen 1330 und 1610 unternommen wurden, viele wesentliche historische Ereignisse und Entwicklungen Revue passieren ließen. So kann man die Commentarii Pius’ II. nur im Kontext des Konziliarismus, der Neukonzipierung des Papsttums als weltlichen Machtstaat, der politischen Auseinandersetzungen in Italien und Europa, der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und des Kreuzzugs, den der Papst in der Folge organisierte, verstehen. Für Campanos und Platinas Pius-Biographik ist der Streit um die Orientierung der päpstlichen Politik unter Paul II. sowie die Verschwörung gegen den Papst, deren man die Römische Akademie bezichtigte, von grundlegender Bedeutung. Für die Interpretation von Marules’ Autobiographie sind der Fall Konstantinopels und seine Folgen, der Winterfeldzug Mathias Corvinus’ auf dem Balkan, die Geiselung Djems (des Bruders des Sultans), sowie der Kreuzzug, den der französische König Charles VIII. vorbereitete, entscheidend. Joannes Fabricius’ Autobiographien sind gegen den Hintergrund des Schmalkaldischen Krieges sowie der Kalvinisierung der Schweiz zu verstehen. Jacques de Sluperes, Franciscus Junius’ und Lipsius’ Autobiographien kann man nur im Kontext
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des Aufstandes der Niederlande adäquat interpretieren. Für Junius’ Autobiographie sind weiter die französischen Religionskämpfe, die Unterdrückung der Hugenotten, der Auswanderung der hugenottischen Flüchtlinge in die Pfalz sowie der Religionskampf in der Pfalz zwischen Lutheranern und Kalvinisten entscheidend. Aus diesen kurzen Angaben lässt sich ablesen, wie eng die humanistische Autobiographik mit der historischen Wirklichkeit kontextuell verflochten ist. Die Autobiographien sind vielfach als aktionistische Texte zu verstehen, in denen die Verfasser für ihre Position im historischen Kräftespiel werben. Ihre Werbewirkung versuchen sie zumeist nicht durch eine möglichst genaue oder objektivierende Darstellung des politischen, militärischen oder religiösen Status Quo zu erzielen. Vielmehr entfalten sich in der Regel rhetorische Zerrbilder, polemische Kontraste und ideologische Wunschwelten, die nicht ohne weiteres nach dem Maßstab der politischen Realisierbarkeit gestaltet wurden. Einen besonderen Stellenwert erhält die (Auto)Biographik im Rahmen der Religionskämpfe und der Konfessionalisierung des 16. Jahrhunderts. Es kommt zu wahren (auto)biographischen Schlachten, deren Feld das Leben bekannter Mitglieder der Respublica litteraria ist (z. B. des Joseph Scaliger oder des Lipsius). Im Zuge der Konfessionalisierung spaltet sich die internationale Respublica litteraria. Das Leben der Bugbilder der eigenen Reihen wird vehement verteidigt (z. B. Heinsius’ Apologien Scaligers; Miraeus’ Lipsius-Biographie), das der Bugbilder der Religionsfeinde in bitterbösen biographischen Polemiken angegriffen. Zum Beispiel hat Kaspar Schoppe alles darangesetzt, um mit einem ausführlichen Kommentar zu Scaligers genealogischer Autobiographie Scaligers Leben zu vernichten (Scaliger Hypobolimaeus). Daniel Heinsius antwortete mit einer ebenso giftigen Attacke auf Schoppes Leben (Scioppius Hypobolimaeus). Die in diese Kämpfe verwickelten Autobiographien (Joseph Scaliger, Lipsius) versuchen etwaigen Angriffen zuvorzukommen oder diese abzuwehren. Die Kommunikationsweise der Schriften wird von diesen Zielsetzungen her bestimmt. Die Periode, in der diese autobiographischen Schlachten am heftigsten wüten (1580–1610), wurde hier als Endpunkt der Darstellung gewählt. In dem Spannungsfeld zwischen äußerster Verunsicherungen und verbissener Vergewisserungsversuche werden die Formationsprozesse der humanistischen (Auto)Biographik, die in diesem Buch zu Tage gefördert wurden, noch einmal verstärkt sichtbar.
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Joannes Fabricius
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Ders., In obitum viri illustr. Josephi Scaligeri Julii Caesaris a Burden filii, eruditorum principis, orationes duae, acc !edunt" Epicedia eiusdem et aliorum, effigies et monumentum Scaligeri et principum Veronensium, Leiden, Franciscus Raphelengius, 1609 (Robinson, G. W. [Hrsg.], „Daniel Heinsius: Oration on the Scaliger Monument“, in: Ders., Cinnus. Literary and Historical Miscellanies, Cambridge, Massachusetts 1938, 40–44). Ders., Panegyrici II Josepho Scaligero dicti, Leiden 1608. Ders., Vita et parentes Gasparis Schoppii a Germano quodam contubernali conscripta, in: Ders., Hercules tuam fidem […], 123–138. Ders., Orationes, editio nova auctior, Leiden, officina Elzeviriana, 1620. Meursius, Joannes, Athenae Batavae, sive De urbe Leidensi et Academia virisque claris, qui utramque ingenio suo atque scriptis illustrarunt, libri duo, Leiden, Andreas Cloucquius und Elzevir, 1625 (photomechanischer Nachdruck, Brookfield 1970). Ders., Icones, Elogia ac vitae Professorum Lugdunensium apud Batavos, quibus addita sunt omnia Academiae ornamenta summo artificio aeri incisa, Leiden, Andreas Cloucquius, 1617. Ders., Illustris Academia Lugduno-Batava: id est Virorum Clarissimorum Icones, Elogia ac vitae, quae eam scriptis suis illustrarunt, Leiden, Andreas Cloucquius, 1613. Rutgersius, Janus, Vita et parentes Gasparis Scioppii, in: Heinsius, Satirae duae Hercules tuam fidem, Leiden 1617. Sansovino, Francesco, Della origine et de’ fatti delle famiglie illustri d’Italia, Venedig 1582. Schoppe, Kaspar, De vita sua, in: Addio, M. d’, Il pensiero politico di Gaspare Scioppio e il macchiavellismo del seicento, 671–684. Ders., Heinsius sycotomus, hoc est tumentes mariscae in Danielis Heinsii animo verbi caelestis ferro et igne percuratae una cum epilogo diaetetico de diaeta sive apta victus ratione ad salutem animae Heinsio necessaria. Accessit Agryxia Heinsiana, unpubliziert (das Autograph befindet sich in der Schoppe-Sammlung der Biblioteca Medicea Laurenziana, cod. S. 231, f. 1r–118r). Ders., Philotheca Scioppiana sive Gasparis Scioppii, Comitis a Claravalle, Narratio annis distincta de benefactoribus, amicis et familiaribus suis, quos in omni vita habuit quidque apud illos, per illos ac propter illos in Dei gloriam et utilitatem publicam inter annos quinquaginta molitus et emolitus fuerit, in Auszügen gedruckt in: Addio, M. d’, Il pensiero politico di Gaspare Scioppio e il macchiavellismo del seicento, 609–670. Ders., Scaliger Hypobolimaeus, hoc est elenchus epistolae Josephi Burdonis Pseudoscaligeri de vetustate et splendore gentis Scaligerae. Quo praeter crimen falsi et corruptarum litterarum Regiarum quod Thrasoni isti impingitur, instar quingenta eiudem mendacia detegentur et coarguuntur, Mainz, Joannes Albinus, 1607. Ders., Suspectarum lectionum libri V in CXIV epistolas ad cel. viros aliosque amicos facti, Amsterdam, Judocus Pluymer, 1664. Titius, Robertus, Locorum controversorum libri decem, in quibus plurimi veterum scriptorum loci conferuntur, explicantur et emendantur multo aliter quam hactenus a quoquam factum sit […], Florenz, Bartholomaeus Sermartellius, 1583. Ders., Pro suis locis controversis assertio adversus Ivonem quemdam Villiomarum italici nominis calumniatorem, ad Franciscum Mugghionium […], Florenz, Bartholomaeus Sermartellius, 1589.
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Personenverzeichnis
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Personenverzeichnis Achates 299 Achilles 418 Adeodatus, Sohn des Augustin 133; 716 Aeneas 124; 262–263; 299; 319–329; 364; 377–379; 436; 529–530; 612; 829–830 Aerschot siehe Croy Agostini, Gian Paolo de 422–423 Aich, Johannes de siehe Eich Alba, Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von Alba 636–638; 640; 683; 804; 806–807 Albanzani, Donato 150; 164; 180 Albergati, Niccolò, Kardinal 273; 276; 345 Albergati, Vianesio 338 Alberti, Familie 194–195 Alberti, Leon Battista 189–228; 827–828; 832 Albertis Mutter, Bianchina Fieschi di Carlo 194 Albertis Vater, Lorenzo 194 Albizzi, Familie 218 Aldobrandini, Cinzio 775 Alessandro del Casentino 150 D’Alessio, Nicoletto 149 Alexander III., Papst (Orlando Bandinelli) 319 Alexander VI., Papst (Rodrigo de Borja) 422 Alfons I. von Aragon, König von Neapel 227; 239; 254 Alfons II. von Aragon, König von Neapel (vordem Herzog von Kalabrien) 521 Alkinous 452; 461–462 Alypius 709; 712–714 Amadeus VIII., Graf von Savoyen 273 Ambrosius 94–95
Ammannati, Jacopo AmmannatiPiccolomini, Kardinal 333–334; 337; 348; 353; 363–364 Ammonio, Andrea (Lambertus Grunnius) 469–505 Anaxagoras 212–213 Anchises 364; 378; 612 Androgeus (Androgeo), Pseudonym für Antonio Beccadelli 515–516; 533–535 Andromache 543 Aneau, Barthélemy (Anulus) 681; 703; 711; 716–717; 719–722 Antiphates, König der Laistrygonen 452; 461–462; 464 Antisthenes Antonius der Eremit 160 Apicius 80; 82; 117; Apoll (Phoebus; Delius) 101; 231; 245; 466; 515–516; 519; 524; 526; 537–538; 541; 544; 609; 613; 640 Apuleius 760; 770 Aquino, Thomas von 508 Aragon, Haus 543–544 Argyropulos, Joannes 385; 427 Aristophanes 213 Aristoteles 750 Artaxerxes 219 Äsop (Aisopos) 68 Atticus, Titus Pomponius 73; 75 Augustin, Aurelius Augustinus, Hl. 41; 129–130; 134–135; 158–175; 229; 258; 470; 508; 648–649; 703; 708–718; 722–723; 751; 829; 834; 836–838 Augustin, Dialogperson Petrarcas 127–145 Augustus, Röm. Kaiser 41; 80; 82; 86; 91; 93; 117; 169; 243–244; 246; 298; 348–349; 351–353; 355; 358; 448–449; 559; 637–638; 651–658
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Personenverzeichnis
Auratus, Joannes siehe Dorat Aurel siehe Marc Aurelius, Cornelius (Cornelius von Gouda) 469–510 Ausonius, Decimus Magnus 771 Autonoe 360 Bacchus 232; 234 Baglioni, Familie 240–242; 255–256; 610 Baglioni, Braccio 241; 255–256; 258–260; 263 Baglioni, Nello 240 Baglioni, Pandolfo 240 Bajaschid II., osm. Sultan 421–422 Balbi, Gerolamo 503 Bancroft, Richard, Erzbischof von Canterbury 814–815 Bandini-Piccolomini, Francesco siehe Piccolomini Barbaro, Francesco 194 Barbaro, Niccolò 417 Barbato da Sulmona siehe Sulmona Barbo, Pietro siehe Paul II. (Papst) Baronio, Cesare, Kardinal 775 Barrefelt, Hendrik Jansen van 814–817 Barzizza, Gasparino da 194 Bassus 603 Beatrice von Aragon 396 Beccadelli, Antonio (il Panormita) 195; 521 Beckenloer, Johann, Primas 397 Beckh, Marx Beckh von Leopoldsdorff 557 Bellerophon 539 Bellerus, Joannes 639 Bembo, Pietro, Kardinal 524; 540; 627 Benci, Plauto 788 Benedikt, Hl. 470 Benedikt XII., Papst (Jacques Fournier) 90 Bessarion, Kardinal 427 Beza, Theodorus 681–682; 700–701; 705–706; 725–726 Boccaccio, Giovanni (Iohannes de Certaldo) 87–107; 109–113; 121; 201; 342; 346–347; 352; 429–431; 537; 651; 832; 838
Boccaccios Vater, Boccaccio (Boccaccino di Chelino) 88–89 Boetius, Anicius Manlius Severinus 361 Bonemilch, Johann (Lasphe, Joannes) 433–434 Bordon, Baldassare 744 Bordon, Bartolomea 744 Bordon, Benedetto 744 Bordon, Camilla 744 Bordon, Cinira 744 Bordon, Fabrizio 744 Bordon, Faustina 744 Bordon, Giulio (= Julius Caesar Scaliger) 736–743; 761–765 Borgo San Sepolcro, Dionigi da siehe Dionigi Bottarda, Francesco di Pietro della 259 Botticelli, Alessandro 368; 411; 425 Braccio Baglioni siehe Baglioni Braccio da Montone siehe Montone Bracciolini, Poggio 278; 751 Brigitta von Schweden 470 Brunelleschi, Filippo 197 Bruni, Leonardo 197; 278 Bucer, Martin 584; 603 Bullinger, Heinrich 617 Buonaccorsi, Filippo 336–337 Buonaccorso da Montemagno 751 Buonarotti, Michelangelo siehe Michelangelo Büren, Maximilian Graf von 591 Burmannus, Petrus 770 Busbecquius, Augerius 778–779; 781–782; 788 Buzanval, Paul Choart de 681; 730 Caesar, Gaius Iulius, Diktator 69; 73; 107; 203; 215; 268–269; 298; 312–319; 350; 694; 829; 836–837 Calixtus III., Papst (Alonso de Borja) 195; 309 Callimachus (Mitglied der Röm. Akademie) 360 Calvin, Jean 681; 700–703; 705–708; 722–727; 836 Camerarius, Joachim d.Ä. 432; 434; 456–457; 466; 584; 593 Camerarius, Joachim d.J. 809
Personenverzeichnis Camilla, Tochter des Metabus 1–2; 7–9; 21; 28; 31; 33 Camillus 298 Campano, Antonio Settimuleio 336; 360–361 Campano, Giannantonio (Giovanni Antonio de’ Teolis) 18; 24; 35; 229–265; 271; 319; 325–326; 330–367; 521; 545; 578; 598; 602; 607; 609–610; 824; 826; 828; 832; 834; 838–840 Campanos Mutter, Giovanna (Ioviana) 230; 233; 235; 237; 239 Campanos Vater, Puccio de’ Teolis 230; 233; 236–237; 239; 245–246; 249 Campis, Joannes a 801 Cantelius, Pseudonym für Aurelius, Cornelius 474–510 Capistrano, Giovanni 309 Capponi, Tommaso 359 Capranica, Domenico, Kardinal 272; 278–288; 290–291; 319–323; 344 Cardano, Gerolamo 15; 26; 118; 443; 641–669; 827; 840 Cardanos Vater, Fazio 658–665 Cardillus, Casparus 582 Carrara, Familie 70; 149; 168; 172; 181 Carrara, Francesco d.Ä. 149; 151 Carrara, Francesco (d.J.) Novello 149; 151 Carrio, Ludovico 787–788 Carvajal, Juan, Kardinal 288 Casaubon, Isaac 775 Cassandra 543 Cassandra, Freundin Sannazaros siehe Marchese Castiglionchio, Lapo da, d.J. 218–226; 832 Catharinus, Johannes 721 Catilina, Lucius Sergius 215 Cato d.Ä., Marcus Porcius Cato 69; 792 Catullus, Gaius Valerius 398; 771 Cellini, Benvenuto 645 Certaldo, Iohannes de siehe Boccaccio Chalkondyles, Demetrios 427 Champagney siehe Perrenot Charles VIII., franz. König 422; 521–522; 825; 836; 840
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Christus 80; 281; 308–309; 422; 513; 522; 528; 618; 707 Chrysolaras, Manuel 427 Cicero, Marcus Tullius 12; 42–43; 45; 61–62; 66; 68–69; 73–76; 107; 133; 142; 158; 169; 176; 180; 215; 218; 228–229; 695; 709; 717; 732; 786; 832 Claudii, Familie 365 Clemens VI., Papst (Pierre Roger de Beaufort) 90 Clemens VII., Papst (Giulio de’ Medici) 524 Clemens VIII., Papst (Ippolito Aldobrandini) 760; 775 Cloucquius, Andreas 20 Cocles, Horatius 298 Collin, Agatha, Joannes Fabricius’ zweite Frau 581–582; 596; 599; 607; 617–618 Collinus, Rudolphus (Collin) 581; 596; 617–618 Colonna, Familie 68–70; 74; 121 Colonna, Agapito 69 Colonna Giovanni, Kardinal 54; 69–71; 77; 99; 279 Colonna, Jacopo 66; 68–69 Colonna, Oddone siehe Martin V. (Papst) Colonna, Pietro, fälschlich für Colonna, Giovanni 99 Columbus 282 Condulmer, Glauco 336–337 Convenevole da Prato 101 Conversino, Giovanni C. da Ravenna 147–188; 580; 708; 751; 824; 829; 832; 834–835; 840 Conversinos Vater, Giovanni Conversino 150 Coornhert, Dirck Volckertz. 785 Cornarius, Janus (Haynpul) 584 Cornelius Aurelius siehe Aurelius Correggio, Familie 90 Correggio, Simone da, Stadtherr Parmas 74 Cortesi, Giacomo, O.F.M. 150 Corvinus, Antonius 457 Corvinus, Mathias 394–397; 840
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Personenverzeichnis
Crato, Joannes C. von Krafftheim 778–779; 781; 788; 817 Creusa 164; 379 Crotus Rubianus, Joannes (Venatorius, Joannes) siehe Jäger, Johann Croy, Philippe de, Herzog von Aerschot 637 Cruciger, Caspar 591 Cujas, Jacques 735 Curtarolo, Niccolò 171 Dante, Alighieri 101 Dantiscus, Joannes 434; 564 Daphnis 628 Deinius, Arnoldus 787–788 Delrio, Martin Antonio S.J. 785; 787–788; 801 Demetrios Palaiologos, Despot von Morea 384–387; 404; 406 Demosthenes 169 Diana 519; 531; 535–536 Diana, Pseudonym für Margherita da Montesperello 241; 255–265 Dido, Königin Karthagos 263; 321; 436; 530 Dietmar, Abt von Haina 432 Dietrichstein, Kardinal Franz von 775 Diogenes Laërtius 206–214; 217; 220–221; 225–226; 228; 828; 832 Diomedes Grammaticus 770 Dionigi da Borgo San Sepolcro, O.S.A. 89; 129–130; 135 Djem (Bruder des osm. Sultans Bajaschid II.) 421–422; 840 Dobeneck, Hiob von, Bischof von Prabuty (Riesenburg) 434 Dominicus, Hl. 470 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi) 197; 227 Donatus, Aelius 540 Doneau, Hugues (Donellus, Hugo) 681; 688; 692 Donellus siehe Doneau Dorat, Jean (Auratus) 750 Dousa, Janus d.J. 728–732; 737; 747; 772 Drach, Johann 457–459 Draconites, Joannes siehe Drach Drusius, Joannes 773–774
Dryander, Joannes (Eichmann) 584 Dukas, Michael 418–419; 424 Eberbach, Peter (Petreius) 433 Eglinus, Raphael 582 Egmont, Lamoral, Graf von 807 Eich, Johann von (Aich, Johannes de) 276 Eichmann, Johann siehe Dryander Eletta siehe Petrarcas Mutter Ellinger, Andreas 812–813 Enea Silvio siehe Piccolomini, Enea Silvio Ennius 538 Eobanus Hessus, Helius (Eoban Koch) 17–18; 22; 24; 246; 429–466; 494; 564; 578; 598; 602; 604; 607; 609–610; 765; 824–825; 832–833; 835–836; 838–839 Erasmus, Desiderius (Gerard Gerardz.) 19–20; 456; 467–512; 520; 564; 570; 621; 732; 789; 796; 800; 824; 826– 827; 835; 838; 840 Erasmus’ Bruder, Pieter Gerardz. 469–511 Erasmus’ Mutter, Margareta 19; 506–511 Erasmus’ Vater, Gerard Helye 19; 506–511 Ergasto, Pseudonym für Jacopo Sannazaro 533–534 D’Este, Familie 216 D’Este, Borso, Herzog von Ferrara 326 D’Este, Niccolò II., Herzog von Ferrara 150 D’Este, Niccolò III., Herzog von Ferrara 216 Eugen IV., Papst (Gabriele Condulmer) 195; 197; 272–276; 283; 344–345 Euklides 208 Euripides 786 Euryalus 379; 420 Eurydike 392–394 Euterpe 297–298 Eversus von Anguillara 325 Eyck, Jan van 227 Fabius Maximus Cunctator, Quintus 219 Fabriano, Gentile da siehe Gentile
Personenverzeichnis Fabricius Montanus, Joannes (Hans Schmid) 18; 575–618; 824; 826–827; 832; 834; 836; 839–840 Fabricius’ Bruder, Jakob 579; 580; 607; 613–614 Fabricius’ Bruder, Lorenz 579; 607; 613–614 Fabricius’ erste Ehefrau, Katharina Stutz 581; 595–596; 607 Fabricius’ zweite Ehefrau, Agatha Collin 581–582; 596 Fabricius’ Mutter 577; 580–581; 599; 607; 611; 613–614 Fabricius’ Onkel siehe Jud, Leo Fabricius’ Vater, Jakob Schmid 576; 581; 599; 613–614 Facio, Bartolomeo 226–228; 521 Faunus 519; 531 Fazino, Lucido Fosforo 336 Federico da Montefeltro siehe Montefeltro Federigo III. von Aragon, König von Neapel 522; 543–544 Felix V., Gegenpapst (Graf Amadeus von Savoyen) 273; 276 Ferdinand, röm.-dt. Kaiser (vordem Erzherzog) 555; 568; 776 Ferdinando II., König von Neapel siehe Ferrandino Ferno, Michele 241; 252; 334 Ferrandino, Sohn Alfons II., König von Neapel (Ferdinando II.) 521 Ferrante I., König von Neapel 422; 521 Festuca, Joannes 783 Festus, Sextus Pompeius 771 Fieschi, Toderina, Ehefrau des Braccio Baglioni 259 Filelfo, Francesco 194 Filippino da Lugo siehe Lugo Florentius, Pseudonym für Erasmus 469–512 Florus, Freund des Horaz 57 Fontidonius, Petrus 582 Forteguerri, Vittoria siehe Piccolomini, Enea Silvios Mutter Franciscus, Hl. 470
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Friedrich III., röm.-dt. Kaiser (vordem König Friedrich IV.) 273–276; 291–299; 553 Friedrich III. von der Pfalz (der Fromme), Pfalzgraf, Kurfürst 683–685 Frignano, Tommaso da, O.F.M., Onkel des Giovanni Conversino 150–151; 156; 162; 175 Frisius, Joannes 595 Froben, Johannes 456 Furlan, Margerita, erste Frau Giovanni Conversinos 151; 156 Galen (Galenos) 169; 659 Gallus, Gaius Cornelius 603 Gaza, Theodorus 427–428 Gazzaia, Tommaso della, Podestà von Piombino 278–279; 282–288 Geldenhauer, Gerard 480 Gellius, Aulus 747 Gentile da Fabriano 227 Gheeraerdts, Andreas siehe Hyperius Gigli, Silvestro, Bischof von Worcester 486 Giovio, Paolo 228; 425–428 Giselinus, Victor 778–779; 787–788; 808 Giustiniani, Marco 151 Giustiniani-Longo, Giovanni 417–418 Gobellinus siehe Goebel Goclen, Conrad (Goclenius) 477; 490; 796 Goebel, Johann (Gobellinus) 300–304 Goethe, Johann Wolfgang von 2; 42; 44; 49–50; 645 Gonsalvo de Cordoba, Vizekönig von Neapel 522 Gonzaga, Francesco, Kardinal 337–339 Gordianus d. Ä., Marcus Antonius, Röm. Kaiser 405–406 Gradivus 414–415; 420 Granvelle, Antoine Perrenot de, Kardinal 784; 802–803; 808; 817 Grasso, Lucio 520 Gregor XIII., Papst (Ugo Boncompagni) 301–303; 658–659; 661–662 Grunnius, Corocotta 485
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Personenverzeichnis
Grunnius, Lambertus Pseudonym für Ammonio, Andrea 469–505 Guarino Veronese 278 Habackuk 582 Hadrian, Röm. Kaiser 41 Haynpul, Johann siehe Cornarius Hecuba 543 Heinrich IV., franz. König 681 Heinrich VII., röm.-dt. König 29 Heinrich VIII., engl. König 477 Heinsius, Daniel 841 Herberstein, Familie 553–555; 559–562; 571 Herberstein, Sigmund von 546–574; 824; 826; 836; 840 Herbersteins Bruder, Hans 559; 561–562 Herbersteins Vater, Leonhard 547; 553 Herder, Johann Gottfried 16–17 Herkules 344; 466 Herold, Joannes 46; 48 Hesiod 538 Hesshusen, Tilman 808; 811 Hessus, Eobanus siehe Eobanus Hieronymus 162; 485 Hiob von Dobeneck, Bischof von Prabuty (Riesenburg) siehe Dobeneck Hippokrates 169; 661 Hippolytus 436 Hispanus, Petrus 470 Hofhalter, Raphael 551; 565; 570–571 Holbein, Hans d.J. 477–481 Homer 7; 10; 27; 29–31; 94–96; 169; 324; 329; 459–466; 543; 749 Hoorn siehe Philippe II. von Montmorency Horaz, Quintus Horatius Flaccus 46; 52–67; 78; 86; 107; 138; 234; 291–299; 439; 573–574; 585; 588; 596; 598; 603; 616; 832; 839 Horle, Jakob (Horlaeus) 433 Huet, Petrus Daniel (Huetus) 749 Hugwald, Huldrych siehe Mutz, Huldrych Hunyadi, Johannes 309 Hutten, Ulrich von 433; 446; 456 Hyperius, Andreas (Gheeraerdts) 584
Ignatius von Loyola 773–774 Inachos 386 Innozenz VIII., Papst (Giovanni Battista Cibo) 421–422 Isabella von Neapel 522 (Ps.-)Isidor von Sevilla 153 Isidoros, Kardinal, Patriarch von Konstantinopel 385 Jacopo da Udine 166–167 Jäger, Johann (Joannes Crotus Rubianus; Joannes Venatorius) 433; 456 Jakob I. (James I.), König von Schottland 273 Jakob VI. (James VI.), König von Schottland 725–726 Jansen, Abraham 797–798; 817 Jason 597 Jode, Pieter de 797–798; 817 Johann Friedrich von Sachsen, Kurfürst 594 Johann Kasimir, Pfalzgraf 683–685; 759 Johann Wilhelm, Herzog von SachsenWeimar 808; 810–811 Johannes, Apostel 714 Jon, François du siehe Junius, Franciscus Juan, Don Juan de la Cerda, Herzog von Medina Celi 636–637 Jud, Leo 577–583; 586–587; 603; 607–608; 611; 613–615 Judas, Apostel 473 Junius, Franciscus d.Ä. (François du Jon) 35; 565; 670–727; 780–781; 794; 832; 834–836; 838–839 Junius’ Mutter 676–677; 679 Junius’ Vater, Dénys du Jon 681; 712–714 Jupiter 231; 234; 376; 419 Jurischitz, Niklas 557 Juvenal, Decimus Iunius Iuvenalis 537 Kallimachos 538 Kalliope 515–516; 539; 587; 616 Karl V., röm.-dt. Kaiser 555; 566; 587; 589–592; 594; 613 Keysere, Witwe de 456 Kimedoncius, Jacobus 707 Kirke 781 Klio 415; 420
Personenverzeichnis Koch, Eoban siehe Eobanus Hessus Konstantin d. Gr. 309 Konstantin XI. Palaiologos, byz. Kaiser 309; 385; 416–419 Laërtius siehe Diogenes Laetus siehe Leto Lamarque, Laurens de 750 Landino, Cristoforo 252 Lapo da Castiglionchio d.J. siehe Castiglionchio Lascaris, Joannes 427 Lasphe, Joannes siehe Bonemilch Latini, Latino 788 Latinus, König von Latium 325 Laura de Sade 12; 80; 122; 139; 141 Lauterbach, Johann 291–293 Lavinia 364; 414 Leo X., Papst (Giovanni de’ Medici) 487; 510–511; 522 Leonardo von Chios, Erzbischof von Lesbos 417 Leonidas 406–407 Lernutius, Janus 787–788 Leto, Pomponio 335–337; 360; 433; 521 Lipsius, Justus (Jodocus Lips) 460; 777–822; 824; 827; 835; 838–839; 841 Lipsius’ Ehefrau, Anna 779; 812–814 Lipsius’ Mutter, Elisabeth du Rieu 803 Lipsius’ Onkel, Martin Lips 789 Lipsius’ Vater, Gillis Lips 783; 803 Livius, Titus 231–232; 234 Lodewijk Heyliger van Beringen 27; 32 Lolli, Bartolomea 271 Lolli, Gregorio 363 Lolli, Niccolò 271 Louis XII., franz. König 522 Lotichius, Petrus Lotichius Secundus 582; 584–587; 589; 591; 603; 605; 615–616 Lubinus, Eilhardus 773–774 Lucilius, Senecas Freund 62; 73; 143; 184; 829 Ludwig von der Pfalz 684–685 Ludwig I. der Große (Nagy Lajos), König von Ungarn 150
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Ludwig II., König von Ungarn und Böhmen 560 Lugo, Filippino da 155–156; 164–165 Lukian 218–219 Lukrez, Titus Lucretius Carus 760 Luther 464; 524; 776 Macer, Gaius Licinius Macer Calvus 603 Madruzzo, Ludovico, Kardinal 775 Maecenas, C. Cilnius 54; 78; 297–299 Maecius Marullus siehe Marullus Maffei, Agostino 326 Maio, Giuniano 520 Malatesta, Sigismondo 198 Manetti, Gianozzo 197 Manilius, Marcus 771 Manuzio, Paolo 784; 788 Marc Aurel, Röm. Kaiser 41; 666–669 Marchese, Cassandra 514; 522; 543 Margarethe von Parma 682; 754–755; 784 Mars 411–412; 414–415; 420; 440; 452; 461–463; 587; 616 Marsuppini, Carlo 197 Martial, Marcus Valerius Martialis 233–234; 335; 348; 537 Martin V., Papst (Oddone Colonna) 272 Martinius, Franciscus 787–788 Martins, David 797 Marules, Familie 383–394; 405–409 Marules, Basilios, Protonotarios 405 Marules, Iannos (Marullos Bruder) 388; 392–394 Marules, Michael siehe Marullo Marules, Philippos (Marullos Bruder) 405; 409 Marules, Theodoros (Marullos Bruder) 405; 409 Marullo, Michele (Marules, Michael) 22; 24; 368–428; 824–825; 832; 834–836; 839–840 Marullos Großvater mütterl., Michael Tarchaneiotes 386–387; 406–407; 409 Marullos Mutter, Euphrosyne Tarchaneiotes 385–388; 407–409 Marullos Vater, Manilios Marules 385–388; 404–410
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Personenverzeichnis
Marullus, Maecius (Gordianus d. Ä.) 405–406 Massa, Antonio da O.F.M., Ordensgeneral 208–209 Mathias Corvinus siehe Corvinus Matte, Sebastian 630 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 423; 440; 555; 559–560 Maximilian II., röm.-dt. Kaiser 805 Mebes, Johann 432–433 Medea 597 Medici, Familie 198; 218 Medici, Cosimo de’ 209; 215 Medici, Giovanni de’ siehe Leo X. (Papst) Medici, Giulio de’ siehe Clemens VII. (Papst) Medici, Lapo de’ 150 Medici, Lorenzo de’ 422–423 Mehmed II. der Eroberer, osm. Sultan 309; 381; 386–387; 404; 416–419 Mehus, Lorenzo 198; 227 Melanchthon, Philipp 590; 593; 608; 612; 616–617 Meliboeus 533; 635–636 Meliseus, Pseudonym für Giovanni Pontano 515–516; 533; 535 Meneghini, Antonio 172 Mercuriale, Girolamo 788 Merula, Paullus 670–680; 685–686; 689; 691–694; 772 Meursius, Joannes 20; 35; 565 Metabus, König der Volsker 1–2; 7–9; 21; 28–29 Meyere, Anton de 626 Michelangelo Buonarotti 221 Micyllus, Jacobus (Molsheym) 450–466; 836 Miechow, Maciej 463 Minerva 524; 526 Miraeus, Aubertus 35; 797; 841 Moglio, Pietro da 150; 177–178; 180 Molin, Biagio, Patriarch von Grado 195 Molsheym, Jakob siehe Micyllus Montefeltro, Federico (II.) da, Herzog von Urbino 198; 229; 232; 328–329 Montemagno, Buonaccorso da siehe Buonaccorso
Montesperello, Margherita da (Diana) 241; 255–265 Montmorency, Philippe II. von (Hoorn) 807 Montone, Braccio da 240; 331 More, Thomas 485 Moritz, Herzog von Sachsen 591 Müller, Johann Georg 16–17 Muret, Marc-Antoine 784; 788 Musius, Cornelius (Muys) 632; 634 Mussato, Albertino 101 Musurus, Marcus 427 Mut, Conrad 431; 433 Mutianus Rufus siehe Mut, Conrad Mutius, Huldricus siehe Mutz Mutz, Huldrych (Huldrych Hugwald) 581; 584 Muys, Cornelis siehe Musius Nannius, Petrus 789 Narcisso de Verduno siehe Verduno Nassau, Graf Ludwig von 682 Naudé, Gabriel 652 Neaera, Geliebte Marullos 392–394; 406 Nebridius 709; 712 Nepos, Cornelius 760 Neptun 535–536 Nero, Röm. Kaiser 184–185 Niccoli, Niccolò 209 Niclaes, Hendrik (H.N.) 814–817 Nicola Rainaldi da Sulmona siehe Sulmona Nikolaus V., Papst (Tommaso Parentucelli) 195; 273; 276; 309 Nisus 379 Numa Pompilius 771 Odysseus 1–2; 21–22; 30–31; 33; 94–95; 436; 452; 461–466; 577–621 (bsd. 781; 795); 832 Oldendorp, Johann 584 Oldrardus, Stadtherr Genuas 279–280 Omar Pascha 386 Opisander, Heinrich 589 Opizinus, Kommissär des Herzogs von Mailand 279–280 Oporinus, Joannes 582
Personenverzeichnis Oranien, Wilhelm von 632; 683; 689; 806–807 Oranus, Joannes 801 Orbilius 675 Orpheus 392–394 Orsini, Fulvio 775; 784; 788 Oudaert, Nicolas 794 Ovid, Publius Ovidius Naso 18; 23; 35; 46; 107; 229–251; 258–259; 374; 380; 382–383; 419–425; 429–449; 459; 529; 537; 545; 575–618; 627; 698–699; 716; 825; 828; 832–837 Paeon 595; 617 Paganus, Petrus 570 Palaiologoi, Familie 384–387 Palaiologos, Konstantin XI. siehe Konstantin Palaiologos, Demetrios siehe Demetrios Palaiologos, Thomas siehe Thomas Pallas 231; 233 (Tritonia); 245; 609 Pan 535–536; 539 Pandoni, Familie, Stadtherren von Venafro 231; 234 Pandoni, Carlo 239 Parentucelli, Tommaso siehe Nikolaus V. Parma, Margarethe von siehe Margarethe Pastrengo, Guglielmo da 46–48; 50–52; 54; 59; 74; 144 Patrizi, Agostino 346 Paul II., Papst (Pietro Barbo) 195; 330–367; 840 Paul III., Papst (Alessandro Farnese) 589 Paulus, Apostel 160; 176; 713–714 Pellican, Conrad 582; 596; 613; 617 Penelope 436 Perikles 219 Perna, Petrus 228; 425–426 Perrenot, Antoine siehe Granvelle Perrenot, Frederic, Baron von Champagney 637 Petraccho, Ser 1–2; 9; 21–22; 28–29; 67–68; 80; 82; 100; 121–122 Petrarca, Francesco 1–3; 6–12; 17–18; 21–33; 35; 37; 40–145; 151; 169; 175–182; 186–188; 195; 201; 229; 260; 262; 273; 275–277; 279; 282;
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340; 342; 344; 346–347; 352; 429–431; 443; 537; 545; 556; 570; 580; 651–653; 786; 789; 824; 826; 829; 832; 834; 838–839 Petrarcas Großvater (väterl.), Parenzo 28 Petrarcas Mutter, Eletta 1–2; 21–22; 28; 67–68, 122 Petrarcas Sohn Giovanni 122 Petrarcas Tochter Francesca 122 Petrarcas Vater siehe Petraccho, Ser Petreius siehe Eberbach Petri, Henrichus 46 Petronius, Arbiter 760 Petrucci, Andreozio 280–281; 288–290 Petrus, Apostel 776 Peucer, Kaspar 577; 616 Phaedra 436 Phaedrus 760 Philetas 539 Philipp II., König von Spanien 632; 636–638; 682; 785; 796 Philipp, Landgraf von Hessen 589–592 Piccinino, Niccolò, Condottiere 311 Piccolomini, Familie 270–271; 341–343; 364–365 Piccolomini, Enea Silvio 19–20; 22; 195–196; 229; 240; 257; 266–367; 431; 521; 537; 694; 827–830; 836–837; 839–840 Enea Silvios Mutter, Vittoria Forteguerri 270–271; 365–366 Enea Silvios Vater, Silvio Piccolomini 270–271; 341; 364–367 Piccolomini, Francesco Toschini-Piccolomini, Kardinal, Papst Pius III. 284; 286; 362 Piccolomini, Francesco BandiniPiccolomini, Kardinal 301–304; 308 Piero di Cosimo 411–412 Pighius, Stephanus 778–779; 781; 788; 817 Pinturicchio, Bernardo il 284; 286; 294–295 Pisanello (Antonio Pisano) 227 Pistorius, Philippus 457 Pius II., Papst, siehe Piccolomini, Enea Silvio
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Personenverzeichnis
Pius III., Papst (Francesco ToschiniPiccolomini) 284; 286; 362 Plantin, Christoffel 805; 815–817; 818 Platina, Bartolomeo (Sacchi) 335–338; 355; 357–367; 430–431; 433; 521; 838; 840 Plato 94–95; 573; 711 Plautus, Titus Maccius 275; 770 Plinius d.J., Gaius Plinius Caecilius Secundus 54; 747; 786 Plutarch 219 Pluymer, Jodocus 770–772 Pollius, Joannes 457 Polyhymnia 297–298 Pompeius, Cnaeus P. Magnus 73 Pontano, Giovanni (Gioviano) 399; 422; 433; 521–522; 533; 535 Pontanos Frau, Arianna Sassone 535 Ponticianus 160; 709–710 Ponticus 603 Pontisella, Joannes 595 Postel, Guillaume 750 Priamus 420 Prometheus 466 Properz, Sextus Propertius 46; 107; 259; 436; 537–542; 603; 760; 771; 832 Prosper von Aquitanien 68 Pulci, Luigi 651 Pythagoras 103 Quinctius, Freund des Horaz 53; 64 Quintilian, Marcus Fabius Quintilianus 97–98; 100–101; 361; 491–493 Raffael, Raffaello Sanzio 284; 287 Raphelengius, Franciscus 670–671; 628–629; 742 Requesens, Don Luis de Zuinga y Requesens 637 Rhallus, Manilius 373 Rhediger, Thomas 817 Rittershausen, Konrad 760; 770; 775 Robert von Anjou, König von Neapel 90 Rogerus, Servatius siehe Rotger Roggendorff, Wilhelm von 556–557 Romulus, Röm. König 140; 219 Rosa, Joannes 808 Rotger, Servaas, Abt von Steyn 486; 499
Rousseau, Jacques 2; 42; 44; 147; 780 Roverella, Bartolomeo, Kardinal 337 Rubens, Peter Paul 780–781 Rubens, Philipp 797 Rucellai, Familie 198 Rucellai, Bernardo 196 Rudolphi, Caspar 457 Rugolo, Paolo 173; 178 Sacchi, Bartolomeo siehe Platina Sallust, Gaius Sallustius Crispus 695 Salm, Niklas von 557; 560 Sambucus, Joannes (Számboky) 778–779; 781–782; 788; 817 Sánchez de Arévalo, Rodrigo, Bischof von Calahorra 338; 359–360 Sannazari dei Burgundi, Familie 520 Sannazaro, Jacopo 18; 24; 51; 246; 384; 386–387; 404; 513–545; 627–629; 832; 839 Sannazaros Großvater, Niccolò 520 Sannazaros Mutter, Tomasella di Santo Mango 514; 516; 520–521; 528; 537 Sannazaros Vater, Nicola Sannazaro 520–521 Sannazaros Urgroßvater, Giacomo 520 Sansovino, Francesco, Künstler 534 Sansovino, Francesco, Schriftsteller 738–741; 761–762 Santacroce, Girolamo 536 Santomango, Tomasella di siehe Sannazaros Mutter Sanzio siehe Raffael Saravia, Adrian 814–815 Sassone, Arianna 535 Scala, della, Familie 51; 739–745; 752–754; 761–762; 825 Scala, Alberto della 743; 745 Scala, Bartolomea della 744–745 Scala, Beatrice della 743 Scala, Benedetto della 743–745 Scala, Cangrande della 743–744 Scala, Guglielmo della 761 Scala, Ludovico della 739 Scala, Mastino della 743; 745; 761 Scala, Niccolò della 743–745 Scala, Nicodemo della, Bischof von Freising 273
Personenverzeichnis Scaliger, Julius Caesar 730–754 Scaliger, Josephus Justus 20; 520; 565; 728–776; 795; 824–825; 830; 838; 841 Joseph Scaligers Mutter, Andiette de la Roque Lobejac 752 Joseph Scaligers Vater siehe Scaliger, Julius Caesar Scaurus, Marcus Aemilius 694–695 Schlick, Kaspar 275; 291; 296–299 Schmid, Hans siehe Fabricius Montanus Schmid, Jakob, siehe Fabricius’ Bruder Schmid, Lorenz siehe Fabricius’ Bruder Schoppe, Kaspar 565; 756–776; 830; 838; 841 Schottus, Andreas 787–788 Schrader, L. 388; 404–405; 409 Schwarz, Michael 701 Schwenninger, Karl 589 Scipio Africanus d.Ä. 124–125; 141; 574 Scultetus, Abraham 690 Secundus, Petrus Lotichius siehe Lotichius Seneca, Lucius Annaeus 62; 66; 73; 75–76; 142–143; 169; 182–188; 758; 786; 795; 829; 832 Serarius, Nicolaus S.J. 772–774 Servius, Maurus Servius Honoratus 529–530 Seybold, David Christoph 16–17 Sforza, Familie Sforza, Anastasia 259 Sibylle 360 Sidonius Apollinaris 41 Sigismund von Luxemburg, röm.-dt. Kaiser 275 Sigmund I. Jagiellon, König von Polen 463; 560 Sigonio, Carlo 788 Silenus 538 Silvestre, Rudolfo 660; 662 Silvio, Enea siehe Piccolomini, Enea Silvio Silvio Piccolomini siehe Piccolomini, Enea Silvios Vater Silvius, Sohn des Aeneas 364 Simonides 407; 414 Simplicianus 160; 709; 711
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Sincerus, Actius siehe Sannazaro Sirleto, Guglielmo 784 Sixtus IV., Papst (Francesco della Rovere) 239 Slupere, Jacques de (Sluperius; Slupper) 35; 619–640; 824; 832; 839 De Sluperes Vater, Jacques Slupper 626; 632 Socrates (Petrarcas Freund) siehe Lodewijk Heyliger Sokrates (Philosoph) 210–214; 226; 819–820; 822 Solon 219 Spalatin, Georg 433 Staden, Hans 704–705 Statius, Publius Papinius 101; 529; 537 Stephan cel Mare, Herr Moldawiens 390–391; 394 Stimmer, Tobias 425–426 Stürmer, W. 446 Stutz, Katharina, Joannes Fabricius’ erste Frau 581; 595–596; 607 Stutz, Ulrich 581 Sueton, Gaius Suetonius Tranquillus 35–36; 86–87; 91–104; 116–118; 184; 206–207; 345–355; 358; 365; 540; 651–658 Süleyman II. der Prächtige, osm. Sultan 548–549; 557; 563; 566–568 Sulmona, Barbato da 65; 89 Sulmona, Nicola Rainaldi da 239 Sybotus, Wolfgang 584; 593 Sylvia, Campanos Geliebte 252–265 Symmachus, Quintus Aurelius 760; 774 Tacitus, P. Cornelius 779; 794; 808–809 Tarcagnota, Giovanni siehe Tarchaneiotes, Iannos Tarchaneiotai, Familie 386–388; 404–409 Tarchaneiotes, Demetrios (Sohn des Michael Tarchaneiotes) 406–407 Tarchaneiotes, Euphrosyne siehe Marullos Mutter Tarchaneiotes, Iannos (Sohn des Paulos Tarchaneiotes) 387–388; 407
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Personenverzeichnis
Tarchaneiotes, Michael (Marullos Großvater) 386–387; 406–407; 409 Tarchaneiotes, Paulos (Sohn des Demetrios Tarchaneiotes) 406–407 Tarchaniota, Michael siehe Marullo, Michele bsd. 403–409 Tarquinii, Familie 365 Tedeschi, Antonio 275 Teolis, Giovanni Antonio de’ siehe Campano, Giannantonio Teolis, Puccio de’ siehe Campanos Vater Terek, Valentin 563 Terenz, Publius Terentius Afer 503 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 760 Thales 220 Thell, Wilhelm 582 Themistokles 219 Theokrit 532; 539 Theorici, Viventius 480 Theseus 436 Thomas Palaiologos, Despot 385–387; 404; 407 Thou, Auguste du 775 Tiberius, Röm. Kaiser 350–351; 358; 658 Tibull, Albius Tibullus 46; 259; 577; 585; 588; 596; 598; 603; 616; 771 Titi, Roberto (Titius) 739–741; 747; 753–754; 761–762 Titus, Röm. Kaiser 140 Tityrus 532; 638 Todeschini-Piccolomini, Francesco siehe Piccolomini Tolomei, Jacopo 337 Tomacelli, Marino 422 Tommaso da Frignano O.F.M. siehe Frignano Torrentinus, Petrus 783 Toscanelli, Paolo 214 Tossanus, Daniel 707 Trapezuntius, Georgius 427 Traversari, Ambrogio, O.S.B.Cam. 209–213; 217; 219–220 Trebelius, Hermann 433 Tremellius, Immanuel 684 Turnebus, Adrianus 749–750; 763 Turnus 325; 419
Urban V., Papst (Guillaume de Grimoard) 115 Ursinus, Zacharias 705 Valerius, Cornelius 783; 787–788 Valla, Lorenzo 570 Varro, Marcus Terentius 736; 750; 771; 820 Venatorius, Joannes (Joannes Crotus Rubianus) siehe Jäger, Johann Venus 376; 378; 411–412; 419–421; 423; 539 Verduno, Narcisso de 336 Vergerio, Pier Paolo 35; 149 Vergil, Publius Vergilius Maro 8–10; 27–28; 69–70; 79; 86; 103–105; 112–113; 124–125; 141–142; 164; 169; 229; 231; 233; 244; 262–264; 299; 319–329; 348; 364; 376–379; 392–394; 419–421; 423; 433; 513; 515–516; 522; 524; 529–535; 540–542; 573–574; 585–586; 588; 596; 598; 603; 611–612; 616; 619–640; 771; 829–830; 832; 837; 839 Veronese, Guarino siehe Guarino Vertunianus, Franciscus 751 Vettori, Pietro 788 Victorinus, Gaius Marius 160; 711 Villanius, Melchior siehe Wieland Villers, Denys de 787; 792 Villiomarus, Yvo, Pseudonym für Joseph Scaliger 762 Vinci, Leonardo da 221 Visconti, Familie 70; 172 Visconti, Bartolomeo, Bischof von Novara 273; 345 Visconti, Filippo Maria, Herzog von Mailand 279; 366–367 Visconti, Giovanni, Kardinal 63 Vossius, Isaac 738 Vulcanius, Bonaventura 503 Wacker von Wackenfels, Johannes Matthaeus 760; 774–775 Wargnier, Willem 794 Warham, William, Erzbischof von Canterbury 477–481
Personenverzeichnis Wassilij, Großfürst von Moskau 548; 560; 566; 569 Weltzer, Wilhelm, Probst von Gurck 562 Weyden, Rogier van der 227 Wieland, Melchior (Villanius) 741; 762 Wilhelm von Oranien siehe Oranien Winckel, Pieter, Vogt des Erasmus, 480–481; 497; 499 Winckeli, Johann Heinrich 581; 584 Withagen, Joannes 626 Wladislaw II., König von Ungarn und Böhmen 559
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Woverius, Joannes (Jan van de Wouwer) 778; 785–787; 780; 794–797; 818–822 Wouwer, Jan van de siehe Woverius Xanthippe 208; 210 Zanchius, Hieronymus 706 Zenari, Giovanni Bonaventura degli 157 Zeno 669 Zonsius, Winand 707 Zwingli, Ulrich 581