Gerald Gatterer (Hrsg.)
Multiprofessionelle Altenbetreuung Ein praxisbezogenes Handbuch Zweite, aktualisierte und erweiterte Aufl flage
SpringerWienNewYork
Dr. Gerald Gatterer (Hrsg.) Geriatriezentrum am Wienerwald, Wien, Österreich
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Mit 27 Abbildungen
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ISBN 978-3-211-25220-7 SpringerWienNewYork ISBN 978-3-211-83812-0 1. Aufl flage SpringerWienNewYork
Der Weg einer Angehörigen im Betreuungssystem Es begann mit einem Nierenstein, oder früher mit zu wenig, nicht beachteter Flüssigkeitsaufnahme? Der Nierenstein wurde zertrümmert, das Gehirn durch einen Schlaganfall zerstört, das Sprachzentrum betroffen, der Wille gebrochen. Es kam kein Wille mehr auf, wieder sprechen zu lernen. Es gab keine Lähmungen, nur eine vorübergehende Inkontinenz durch zwei Monate Dauerkatheder verursacht. Nach vier Wochen hatten wir es überwunden. Fünf Jahre war ich noch ganztägig berufstätig, zu Mittag aß er ein Brot und Wurst, selbständig hergerichtet, und danach holte er mich vom Büro ab und wir machten einen Stadtbummel. Auch seine damals noch lebende Mutter hat er regelmäßig besucht, allein, ohne Hilfe, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Dann ging ich in Pension und der Kampf gegen das „Sich-fallen-Lassen“ begann. Ich hatte verloren, denn er wollte nur mehr betreut werden, klammerte sich wie ein Kleinkind an mich. Trotzdem kann und will ich ihn stundenweise zu Hause alleine lassen, damit er eine gewisse Selbständigkeit behält. Dazu kommt das Gefühl, dass mein Mann gar nicht so krank ist, sondern auch ein guter Schauspieler, der die Aufmerksamkeit des „Publikums – das bin ich“ erregen will. Ein Beispiel ist der Waschtag am Montag. Ich pendle zwischen 6. Stock und Waschküche, er fi findet das Bad nicht, keine Unterwäsche, kein Taschentuch, usw. Ich soll ihm alles bringen, ihn überall hinführen, nur ihn wichtig nehmen. Das andere Problem ist nach wie vor die Flüssigkeitsaufnahme. Er hat keinen Durst, soll aber mindestens 2 Liter am Tag zu sich nehmen. Versuchen Sie einem Menschen, der kein Durstgefühl hat, diese Menge einzuflößen. fl Beim Erinnern daran reagiert er brummig und unwirsch, aber er trinkt ein „Schlückchen“. Es belastet mich, dass er keine Einsicht zeigt oder zeigen kann, dass meine Ratschläge und Aufforderungen nur dazu dienen, ihn vor einem zweiten Schlaganfall zu bewahren. Natürlich könnte ich ihn mit Rotwein und Sekt, seinen Lieblingsgetränken, zum Trinken bringen, aber das kann es ja auch nicht sein. Fehlsteuerungen des Gehirns würden dadurch sicher verstärkt, wie z.B. die Botschaft des Gehirns: „Du musst aufs WC.“ Obwohl die Blase leer ist. Dagegen kann man harmlose Nerventropfen geben. Aber man muss erst auf diese Tatsache daraufkommen, und das kostet schlafl flose Nächte.
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Dabei ist er sanft und friedlich, sehr zärtlichkeitsbedürftig, will mich ständig in der Nähe haben, meine Hand halten. Manchmal behauptet er, großen Hunger zu haben, ein Nachtmahl zu wünschen, dann isst er nur ein Stück Käse. Bosheit? Der Wunsch, mich in seiner Nähe zu beschäftigen? Doch dann schläft er am Nachmittag stundenlang und ich würde gerne mit ihm spazieren gehen. Doch seine Mobilität sinkt und er zeigt auch keine Bereitschaft für körperliche Bewegung. Nach meiner Pensionierung begann ich den ersten Mobilisierungsversuch. Kontaktaufnahmen mit diversen Ärzten begannen, bis ich nach Lainz ins Geriatriezentrum am Wienerwald zu Dr. Gatterer kam. Er schlug mir vor, meinem Mann einmal die Woche in ein Tageszentrum zu bringen. Die Angebote seien so vielfältig, dass für meinen Mann sicher etwas dabei wäre, das ihn interessieren könnte. Fehlanzeige! Mein Mann geht, nach einem Jahr ohne Protest, in der Früh brav hin, sitzt den ganzen Tag mit finsterem Gesicht herum und wartet nur auf den Nachmittag, wenn das fi Gemeinschaftstaxi ihn wieder nach Hause bringt. Die Medikamente teile ich ein, um zu verhindern, dass er alle zugleich nimmt, die Augentropfen (Glaukom) werden auch von mir verabreicht. Manchmal wird es mir zuviel, an alles denken zu müssen, für alles verantwortlich zu sein, allein die Sorge um die Gesundheit oder was davon noch übrig ist zu tragen. Mein Leben hat sich stark verändert. Leider! Ich bin wahrscheinlich zu gewissenhaft, die Verantwortung und die Liebe und Zuneigung fressen mich auf. Aber anderseits kann ich nach fast vierzig Jahren nicht sagen: „Ich will Dich nicht mehr!“ Wir haben eine glückliche Zeit miteinander verbracht, natürlich gab es auch Probleme, aber er war immer lieb und zärtlich zu mir. Ich werde die Hoffnung auf ein Wunder nicht aufgeben, obwohl es unmöglich ist, dass sich sein Zustand ändert. Wenn ein geliebter Mensch plötzlich stirbt, reißt eine tiefe Wunde das Herz auf, der Schmerz ist groß. Nach einiger Zeit tut es nicht mehr so weh, die Wunde verheilt, die Narbe schmerzt von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr weniger, die Erinnerung bleibt, verklärt sich. Doch in meinem Fall muss ich zusehen, wie ein geliebter, hochintelligenter, gebildeter Mann mehr oder weniger von Tag zu Tag geistig stirbt, der Körper bleibt gesund, die Seele geht. Täglich eine Wunde mehr im Herzen, Stich für Stich, die Wunden werden mehr, der Schmerz steigt. „Why me?“ Die Seele beginnt zu weinen, die Antriebskraft lässt nach. Dann gehe ich heimlich weinen, denn wenn er mich sieht, fragt er „Warum” und begreift nicht, dass seine Krankheit der Grund ist. Dann kommt ein zärtlicher Händedruck, ein Kuss, ein lieber Blick – und ich hoffe wieder, ich habe wieder Mut. Wie lange halte ich es noch aus? Auch die Liebe kann durch die Krankheit zu Grunde gehen. Bringt meine Liebe mich um? Meine Konzentrationsfähigkeit lässt nach, ich beginne Fehler zu machen, vergesse auf Tabletten und Augentropfen. Der Arzt sagt, ich wäre nur überlastet. Ich hoffe, dass ich gesund bleibe und keine beginnende Krankheit übersehen wird. Wer schaut auf mich? Mein Drang mit Leuten zu reden ist so groß, dass ich mit fremden Leuten im Supermarkt plaudere, bei Familienfesten ununterbrochen rede. Sicher
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nervt das alle anderen, anderseits vergesse ich beim Arzt nach Dingen zu fragen, die ich für die Betreuung bräuchte. Unkonzentriert! Oft denke ich, es könnte auch bei mir der Beginn einer Krankheit sein und muss mich hüten, zum Hypochonder zu werden. Der Abbau beginnt irgendwann schleichend, ganz harmlos, überdeckt durch Überlastung. Dazu kommt das Wissen, dass meine Verwandten sich bestätigt sehen in ihrer Warnung vor einem Leben mit einem Mann, der mein Vater sein könnte. Aber welcher junge Mensch will hören, akzeptiert Warnungen, Ratschläge; fühlt sich bevormundet und rebelliert? Jeder will oder muss seine Erfahrungen machen. Ich habe nie bereut, mich für ihn entschieden zu haben – wie lange noch? Ich habe ihn auch mit meinem Temperament und meinem oft überschäumenden Optimismus jahrelang jung gehalten, jetzt macht er mich alt und müde. Zeit meines Lebens habe ich keine Medikamente genommen, nun ist es so weit. Mit dem Stress und der manchmal vorhandenen Trauer steigt auch der Bluthochdruck, und das kann auf Dauer gefährlich werden. flegen. Seit Ich versuche, mich abzulenken und andere Interessen zu pfl einem Jahr besuche ich einen Diskussionskurs in Englisch, ab diesem Jahr lerne ich Spanisch. Außerdem habe ich ein Keyboard, Musik entspannt. Leider ist mein Mann nicht interessiert selbst zu spielen, obwohl er auch einmal Klavier spielen gelernt hat, so wie ich. Doch zu viel Stress und auch Ärger machen mich müde, und ich höre und genieße klassische Musik auf CD, anstelle selbst aktiv zu sein. Mir wurde schon die Frage gestellt, was ich tun würde, wenn er eines Tages nicht mehr da wäre? Ich hatte bisher nicht darüber nachgedacht. Ich kann mir doch nicht seinen Tod wünschen! Aber ein Leben, vielleicht nach einem neuen Anfall oder Verschlechterung der Demenz, ans Bett gefesselt, unfähig sich zu bewegen, möchte ich mir für ihn gar nicht vorstellen. Wir beide würden unendlich leiden, sein Blick wäre dann so traurig oder die Augen erloschen? Ich will es mir gar nicht vorstellen. Allein wäre mein Leben sicher ruhiger und leichter, aber arm an Liebe (und er liebt mich doch noch immer) und Wärme, die er ausstrahlt. Er würde mir fehlen, und die Sehnsucht wäre sehr groß. Ich liebe ihn noch immer, auch nach fast vierzig Jahren. Wie lange kann ich es noch?
Ergänzung zur zweiten Auflage fl Die Krankheit aber schritt immer weiter fort. Er wurde so pfl flegebedürftig, dass ich ihn zur stationären Betreuung in ein Heim geben musste. Ich besuchte ihn zwar täglich, aber dieser Abschied war besonders schwer. Er fühlte sich dort, wenn ich nicht da war, wohl, wurde aber traurig, wenn ich gekommen und wieder gegangen bin. Ich schaffte es aber zu Hause nicht mehr, ihn zu betreuen. Ich war körperlich und seelisch überfordert. Im Heim war er gut aufgehoben und durch seine freundliche Art beliebt. Aber dann kamen neue Probleme auf mich zu. Er wurde so schwach, dass er nicht mehr essen konnte, bekam eine Lungenentzündung. Entschei-
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dungen standen an. Soll er künstlich ernährt werden? Wie lange soll er „am Leben erhalten werden“? Gespräche mit dem behandelnden Arzt halfen hier. Er schlief sanft hinüber. Ich musste lernen loszulassen. Das Begräbnis war die nächste Hürde. Wer ist zu verständigen? Geht sich alles aus? Aufgaben über Aufgaben! Nun aber habe ich „alle Aufgaben erfüllt“! Ich denke noch immer oft an ihn. Er fehlt mir! Aber jetzt muss ich lernen, alleine zurecht zu kommen. Das heißt aber nicht, dass ich ihn vergessen werde. Die Zeit war zu lange und trotz der Krankheit zu schön. Ingrid Rippel
Geleitwort Die Menschen auf der Erde werden immer älter. Dies gilt insbesondere für die Bevölkerung der westlichen Industrienationen. In den kommenden Jahrzehnten wird – bei stagnierender Geburtenrate und einer steigenden Lebenserwartung älterer Menschen – der Anteil Jüngerer an der Gesamtbevölkerung deutlich zurückgehen. Gleichzeitig wächst der Anteil Älterer. Das Zahlenverhältnis der Generationen wird sich dadurch stark verändern: Während heute auf einhundert Menschen im Alter zwischen 20 und 59 Jahren vierzig 60-Jährige und Ältere kommen, werden dies im Jahr 2050 über achtzig sein. Der demographische Wandel stellt unsere Gesellschaft vor große Aufgaben. Hierbei ist neben Fragen der wirtschaftlichen Alterssicherung vor allem an die Zunahme alterstypischer und pflegeintensiver fl Erkrankungen wie z. B. der Demenzen zu denken. Diesen Herausforderungen müssen sich aber nicht nur die Sozial- und Finanzpolitiker, sondern vor allem auch die Alternsforscher in allen ihren Disziplinen stellen. Es liegt auf der Hand, dass weder Geriatrie, Gerontopsychologie oder Gerontosoziologie als Einzeldisziplinen allein Konzepte und Lösungsmöglichkeiten entwickeln können. Vielmehr gilt es, in interdisziplinärer Zusammenarbeit aller an der Alternsforschung beteiligten Experten und Wissenschaftsbereiche an der Beantwortung dieser Fragen zu arbeiten. Ein besonders gelungenes Beispiel für diese notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Alternsforschung ist das von Gerald Gatterer herausgegebene „Handbuch multiprofessionelle Altenbetreuung“. Aus unterschiedlicher Perspektive werden einzelne Aspekte der Altenbetreuung dargestellt, dabei aber immer nach multidisziplinären Lösungsmöglichkeiten gesucht. Das Spektrum reicht beispielsweise vom Thema „Qualitätssicherung in der Altenbetreuung“ über alternative Behandlungsmethoden (z. B. Kunst- und Humortherapie) bis hin zur multidisziplinären Betreuung Schwerstkranker und Sterbender. Als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), die sich ebenfalls die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Alternsforscher auf ihre Fahnen geschrieben hat, freue ich mich besonders über das vorliegende Werk und wünsche dem Herausgeber und den Autoren eine große Leserschaft. Prof. Dr. Wolf D. Oswald Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG)
Vorwort Das Altern ist der wichtigste Bevölkerungswandel, der sich gegenwärtig vollzieht und jeden Menschen, jede Gesellschaft, ihre Wirtschaft, ihre Sozialstruktur und das Gesundheitsversorgungssystem berührt. Dieses historisch neue Phänomen verlangt nach Ideen, Programmen und finden, gesellschaftMaßnahmen, die ein Altern in Gesundheit und Wohlbefi lich akzeptiert, sowie wirtschaftlich kompetent, ermöglichen. In den letzten Jahrzehnten haben wir quantitativ relativ viel an Lebenserwartung gewonnen, aber wir haben größtenteils diese gewonnenen Jahre qualitativ noch nicht zu gestalten vermocht, daher sind chronische fl eine enorme Herausforderung für GeKrankheiten und Pflegebedürftigkeit rontologie und Geriatrie, sowie für die Gesundheits- und Sozialpolitik. Das Alter und das Altern weisen innerhalb einer Altersgruppe und zwischen den Altersgruppen beträchtliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede deuten darauf hin, dass der Alterungsprozess selbst unterschiedlich verläuft, dass es sich um verschiedene Konstellationen und Wechselwirkungen handelt. Beim gegenwärtigen Stand der Altersforschung wissen wir noch immer sehr wenig über das Potenzial des Einzelnen und das der Gesellschaft, sich den mit dem Alter und einem wachsenden Altenanteil an der Bevölkerung verbundenen Veränderungen anzupassen. Im Vergleich mit anderen Lebensstufen, etwa der Kindheit oder der Jugend, ist das Alter eine in der menschlichen Zivilisation noch relativ wenig ausdifferenzierte Lebensphase. Altern ist auch kein rein somatisch-biologischer Prozess, sondern umfasst sowohl Veränderungen des menschlichen Erlebens und Verhaltens im seelisch-geistigen Bereich als auch Veränderungen in den Umweltbedingungen. Die Erfassung des Alternsvorganges – so postuliert Lehr – verlangt zweifelsohne eine Zusammenarbeit über die Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen hinweg, verlangt einen mehrdimensionalen Einsatz der Forschung, in dem somatische, psychische und soziale Aspekte des Geschehens zu berücksichtigen sind. Bereits vor 60 Jahren hat von Weizsäcker gefordert, die Gesamtsituation des älteren Menschen mitzuerfassen und sich nicht nur auf Teile von ihm, das heißt auf einzelne Krankheiten zu beziehen. Die Notwendigkeit ist zwar allen einsichtig, weniger aber ihre Verwirklichung durchsetzbar. Gerald Gatterer hat in seinem Handbuch diese inter- und transdisziplinäre Betrachtungsweise und die Multiprofessionelle Betreuung praxisorientiert dargestellt und auch damit sehr anwenderfreundlich gestaltet.
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Vorwort
Dieses aktuelle Thema, verbunden mit dem profunden Wissen und der langjährigen Erfahrung von Gerald Gatterer lassen diese Buch zum Standardwerk der „Multiprofessionellen Altenbetreuung“ werden. Prim. Prof. Dr. Franz Böhmer Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG)
Einleitung Die multiprofessionelle Betreuung älterer Menschen wird in den nächsten Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitspolitik werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse der verschiedenen Fachdisziplinen (Medizin, Pfl flege, Psychologie, Wirtschaft, ...) zeigen, dass das Problem „Altern“ nur gemeinsam gelöst werden kann. Gerade diese Kooperation der einzelnen Fachdisziplinen schafft jedoch oft Probleme, die unter den Aspekten der Wichtigkeit für den Patienten, der Dringlichkeit der Maßnahme, des zeitlichen Aufwandes und der Effizifi enz diskutiert werden. Weiters werden auch bei verschiedenen Krankheitsformen unterschiedliche therapeutische Konzepte als besonders wesentlich herausgestellt. Dazu kommen konkurrierende Anbieter im stationären und ambulanten Bereich mit eher psychosozialer oder medizinischer Ausrichtung, die für sich in Anspruch nehmen, die Probleme älterer Menschen „optimal“ zu meistern. Dabei wird oft auf den älteren Menschen als primär Beteiligten vergessen. Ausgehend von Diskussionen bei verschiedenen Tagungen und angeregt durch die Motivation von Herrn Prof. Dr. H. G. Zapotoczky sowie die Bereitschaft des Springer-Verlages, hier vor allem Frau Mag. Renate Eichberger, ist dieses Buch entstanden. Es versteht sich als Praktikerhandbuch für alle, die sich entweder dafür entschieden haben, mit älteren Menschen zu arbeiten oder die selbst etwas präventiv für das eigene Altern tun möchten. Es wurde versucht, die einzelnen Fachdisziplinen als gleichwertig darzustellen, da in jedem Altersabschnitt oder bei unterschiedlichen Erkrankungen verschiedene Konzepte zum Tragen kommen. Infolge der Komplexität der Thematik ist es mir als Herausgeber jedoch bewusst, diesem Versuch nicht optimal entsprechen zu können. Insofern sind Lücken nicht als Abwertung einer therapeutischen Maßnahme oder Fachdisziplin zu werten, sondern ergeben sich durch die Begrenztheit eines Buches. Die Auswahl der Autoren erfolgte ebenfalls nach den Gesichtspunkt der Praxisrelevanz, sodass die angeführten Beispiele auch tatsächliche Hilfen bei der Planung bzw. Umsetzung therapeutischer Maßnahmen im Alter sein können. Insofern wurden nicht nur „theoretische“ Fachleute zur Verfassung von Beiträgen gebeten, sondern auch Personen, die alltäglich diese Probleme meistern müssen. Die einzelnen Beiträge des Buches beschäftigen sich mit prinzipiellen Überlegungen zur multiprofessionellen Betreuung älterer Menschen, spezifischen fi organisatorischen und strukturellen Veränderungen in den Be-
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Einleitung
treuungsstrukturen, gezielten therapeutischen Maßnahmen bei verschiedenen Krankheitsbildern und alternativen Behandlungsverfahren. Sie wurden von den Autoren bewusst praxisrelevant und mit vielen Beispielen gestaltet ohne die Erkenntnisse der aktuellen Alternsforschung zu vernachlässigen. Im Sinne der modernen „Kundenorientierung“ wurde diesem Bereich ein besonderer Stellenwert zugewiesen. Er spiegelt auch die Sichtweise der Autoren, die den älteren Menschen mit und ohne Gebrechen im Mittelpunkt ihres „Serviceangebotes“ sehen. Diese nicht unproblematische Sichtweise wird in einigen Beiträgen sichtbar werden. Nicht vergessen wurde auch auf die Angehörigen und professionellen Betreuer, die oft unter schwierigen Bedingungen versuchen, für ältere Menschen eine möglichst hohe Lebensqualität zu erreichen. So steht „der Weg einer Angehörigen“ am Anfang dieses Buches um dieser oft ungedankten und doch 90% der Betreuung leistenden Gruppe Anerkennung für ihre Leistung zu zollen. Zwei kurze Bemerkungen zur Sprachregelung: Männliche grammatikalische Geschlechtsformen stehen im Sinne einer sprachlichen Vereinfachung für einen geschlechtsneutralen Gebrauch. Der Herausgeber ist sich der Problematik dieser Vereinfachung vor allem hinsichtlich des höheren Anteils von Frauen in der Gruppe der älteren Menschen bewusst. Fachbegriffe wurden soweit möglich vereinfacht, was jedoch bei medizinischen Begriffen leider nicht immer möglich war. Für die Herausgabe des Buches möchte ich mich als Herausgeber herzlich bei allen bedanken, die mit ihren Ideen zum Gelingen des Buches beigetragen haben. Hier vor allem meinen Kollegen der psychologischpsychotherapeutischen Ambulanz und der Abteilung für Psychosoziale Rehabilitation, den Patienten und Angehörigen, aber auch dem anderen Personal des Geriatriezentrums am Wienerwald, welches durch die produktive, inspirierende Atmosphäre und den guten Teamgeist, aber auch durch viele tägliche Fragen viel zur Gestaltung des Buches beigetragen hat. Danken möchte ich auch den Autoren, die die konzeptionellen Inhalte mit Leben und Praxis erfüllt haben. Mein Dank gilt auch Frau Mag. Renate Eichberger und Herrn Mag. Wolfgang Dollhäubl vom Springer-Verlag, die das Buchprojekt sachkundig begleitet und lektoriert haben. Dank gilt aber auch meiner Familie, die gerade in der Zeit der Fertigstellung viel Rücksicht genommen hat. Widmen möchte ich dieses Buch allen älteren Menschen und ihren Betreuungspersonen, die jeden Tag das bewältigen müssen, wovon Fachleute in Büchern schreiben. Vielleicht widmen sich auch einige Politiker dieser Lektüre und greifen die angeführten Erkenntnisse auch für gesundheits- und altenpolitische Überlegungen auf, denn eines sollten wir nicht vergessen: „Alt werden wir alle“! Wien, im Jänner 2003
Gerald Gatterer
Zur zweiten Auflage fl Die zweite Aufl flage des Buches soll auf die zukünftige Altenpolitik in den deutschsprachigen Ländern noch mehr Rücksicht nehmen. Deshalb wurden auch zwei Artikel zur Situation in Deutschland und der Schweiz ergänzt. Einige Bereiche des Buches wurden überarbeitet und neue Erkenntnisse integriert. Auch wurde der Aufbau neu gestaltet. Nun ist der erste Teil mehr den theoretischen Aspekten, ergänzt mit praktischen Beispielen, gewidmet, der zweite Teil stellt einige gut funktionierende Modelle der Altenhilfe dar. Wesentliche Aussagen sind farblich abgehoben. Damit soll die Lesbarkeit und Verständlichkeit erleichtert werden. Ich möchte mich bei allen AutorInnen für die Überarbeitung bzw. Neugestaltung der Beiträge bedanken und hoffe, dass auch die zweite Auflage fl großes Interesse bei den LeserInnen findet. Wir Wissenschaftler reden immer von der Problematik des Alterns im Jahr 2030, dem Anstieg dementieller Erkrankungen und den damit verbundenen Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Nur die wenigsten von uns bedenken jedoch, welche Menschen zu diesem Zeitpunkt dieser Gruppe angehören werden. Es sind die derzeit 40–50-Jährigen, also wir, die sich damit schon jetzt Gedanken über unser späteres Altern machen sollten. Altern beginnt nicht erst mit der Pensionierung mit 60 oder 65 Jahren, sondern ist ein ständiger Prozess in unserem Leben. Insofern ist „Leben lernen“ gleich „Altern lernen“ und sollte unter dem Motto „Leben, lieben, laufen, lernen und lachen!“ stehen. Denn Altern ist kein Schicksal, sondern eine Herausforderung, der man sich positiv stellen sollte. Wien, im Mai 2007
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Inhaltsverzeichnis I. Konzepte und Strukturen der Altenbetreuung Gerald Gatterer Der alte Mensch im System der Altenbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Charlotte Staudinger, Angelika Rosenberger-Spitzy, Gerald Gatterer Organisationsstrukturen der Altenbetreuung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Strukturen der Altenbetreuung in Europa Gerald Gatterer A. Strukturen der Altenbetreuung in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Martha Meyer B. Betreuung älterer Menschen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Peter Bäurle C. Multiprofessionelle Altenbetreuung in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Gerald Gatterer Qualitätssicherung in der Altenbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Ulrike Sommeregger Geriatrisches Assessment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
G. Gatterer, K. Kaufmann Psychosoziale Rehabilitation im Geriatriezentrum am Wienerwald . . . . . . . . . . . . . 121 Marina Kojer, Martina Schmidl, Michaela Zsifkovics Die multidisziplinäre Betreuung schwerstkranker und sterbender alter Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Krankheitsbilder im Alter Thomas Frühwald A. Krankheiten im Alter – Einige Aspekte der Geriatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Hans Georg Zapotoczky B. Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und deren multiprofessionelle Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Gerald Gatterer, Antonia Croy Kommunikation und Interaktion im Rahmen der Altenbetreuung . . . . . . . . . . . . . . 177
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Inhaltsverzeichnis
Gerald Gatterer Die Aufgaben des Psychologen im multiprofessionellen Team . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Gerald Gatterer, Antonia Croy Psychotherapie im Alter – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Martina Anditsch „Medikamentenmix“ beim alten Patienten: Richtige Auswahl zur Vermeidung von gefährlichen Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Gabriela Neubauer, Gerald Gatterer Pflegerische fl Aspekte bei der Betreuung alter Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Gabriela Neubauer, Gerald Gatterer Pflegende fl Angehörige in stationären Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Bernhard Zeller, Gabriela Neubauer, Gerald Gatterer Beratung, Betreuung und Pflege fl älterer Menschen außerhalb von Ballungszentren. Ein Praxisbericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Bernhard Zeller Heimaufenthaltsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 II. Models of Good Practice Multiprofessionelles Demenzmanagement Gerald Gatterer A. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Michael Rainer, Christine Krüger-Rainer B. Allgemeine Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Georg Psota, Asita Sepandj Das gerontopsychiatrische Zentrum des PSD Wien – Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 G. Gatterer, A. Reda, W. Adamcyk, B. Dittrich, F. Müller, N. Sterba Freiraum für Patienten mit Demenz – die Demenzstation im Geriatriezentrum am Wienerwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Johann Donis, Cornelia Laussegger, Elisabeth Purth Geriatrische Neurorehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Katharina Pils Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Marina Kojer, Ursula Gutenthaler, Martina Schmidl Validation nach Naomi Feil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Evelyne Langsteiner, Gerald Gatterer Alternative Behandlungsmöglichkeiten – Pflanzen, fl Farben und Musik bei der Betreuung älterer Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Fritz Neuhauser Garten, Therapie und Pflege fl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Inhaltsverzeichnis
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Werner Goltz Wunderdroge Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Eva Fuchswans Tierunterstützte Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Gerald Gatterer Die Rolle des älteren Menschen in der Zukunft: Herausforderung oder Resignation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
I. Konzepte und Strukturen der Altenbetreuung
Der alte Mensch im System der Altenbetreuung Gerald Gatterer
Altern ist ein multifaktorielles Geschehen und erfordert deshalb die Kooperation verschiedenster Fachbereiche wie Medizin, Pfl flege, Psychologie, Sozialarbeit und vieler anderer, vor allem der Angehörigen. Alle diese professionellen und nicht professionellen Betreuer haben ihre eigenen Sichtweisen und Ziele hinsichtlich des betroffenen alten Menschen. Jeder möchte ihm helfen, und insofern ist er oft zwischen verschiedenen, teilweise diametralen Zielen und Maßnahmen hin- und hergerissen. Der folgende Beitrag soll die Problematik der Altenbetreuung unter diesem Aspekt darstellen und damit eine „patientenorientierte“ Sicht ermöglichen.
1 Veränderung der Lebenserwartung in unserer heutigen Zeit Das 21. Jahrhundert ist durch eine ständige Zunahme der Lebenserwartung charakterisiert, die vor allem auf eine bessere Ernährung sowie auf die Fortschritte in Hygiene und Medizin zurückzuführen ist. Obwohl die Lebensdauer nicht unendlich verlängert werden kann, gewisse Autoren sprechen von einer maximalen Lebensspanne von 116 bis 120 Jahren, dürfte dieser Trend jedoch bis zum Jahre 2050 anhalten. Die Wahrscheinlichkeit, alt zu werden, ist somit für uns größer als je zuvor. Beträgt der Anteil an über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung derzeit etwa 20 Prozent, so wird er sich bis zum Jahr 2050 auf etwa 37 Prozent erhöhen (BMS 2000). Gleichzeitig ist jedoch auch eine deutliche Abnahme von Geburten zu verzeichnen, sodass der prozentuelle Anteil älterer Menschen über 65 Jahre in der Gesamtbevölkerung drastisch zunimmt. Andererseits haben wir jedoch noch nicht gelernt, die biografi fische Phase Alter angemessen in unser Lebenskonzept einzubeziehen. In den Massenmedien werden noch immer entweder Bilder von alten Menschen im Kreis ihrer Familie als romantische Verzerrung der Realität oder als geistig und körperlich abgebaut sowie in sozialer Not lebend dar-
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gestellt. Beide Sichtweisen können die Realität Alter nicht abbilden, wie die Ergebnisse verschiedenster Forschergruppen (Lehr 1996; Oswald 1991, 2006) belegen. Altern ist kein rein kalendarisches Geschehen (das Alter in Jahren), sondern vielmehr handelt es sich beim Phänomen Altern um einen multidimensionalen Prozess, der sowohl organische, psychische, soziale und ökologische Faktoren beinhaltet. Organische Faktoren (Gehirn, Nerven, Muskeln, …) stellen sozusagen die Grundlage unseres Lebens dar und werden im Rahmen biologischer Alternstheorien diskutiert. Generell geht es hierbei um die Frage, wie gesund ist jemand und inwieweit sind sein Körper und seine Organe gealtert. Sie basieren auf genetischen Faktoren, krankheitsauslösenden Prozessen (z. B. Stoffwechsel, Umweltgifte, …) und verschiedensten anderen Überlegungen. Sie allein sind jedoch nicht in der Lage, den Prozess des Alterns zu erklären. So kann man prinzipiell nicht davon ausgehen, dass ältere Menschen generell kränker sein müssen als jüngere, obwohl natürlich Krankheiten im Alter zunehmen. Psychische Faktoren beziehen sich auf die subjektive Sicht des Alterns. Hierbei geht es um die persönliche Sicht des Betroffenen, wie alt sich dieser fühlt. Wie man aus verschiedensten Untersuchungen der Gerontopsychologie sieht, hängt dies nicht unbedingt mit dem kalendarischen Alter zusammen. Viele Menschen kommen bereits in einem Lebensabschnitt in die „Alternskrise“, der bei weitem nicht als „alt“ zu bezeichnen ist. Weiters spielen auch soziale Faktoren (die Rolle des älteren Menschen in der Gesellschaft) und ökologisch/kontextuelle Bereiche (Umweltfaktoren, Lebensbereich, Hilfen, …) bei der Bewältigung und dem Verlauf des Alterns eine wesentliche Rolle. Diese werden im Rahmen psychologischer Alternstheorien diskutiert. Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist in Abb. 1 dargestellt (Gatterer 1994). Obwohl in der Zukunft die Mehrzahl der Betagten in verhältnismäßig guter geistiger und körperlicher Verfassung leben wird, erleidet doch ein
Abb. 1. Zusammenhänge zwischen organischen, sozialen, ökologischen und psychischen Faktoren im Rahmen des Alterungsprozesses
Der alte Mensch im System der Altenbetreuung
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beträchtlicher Anteil physischen und/oder psychischen Zerfall. Leider scheint die Verlängerung der Lebenserwartung das Eintreten von geistiger und/oder körperlicher Invalidität wohl hinauszuschieben, nicht jedoch zu verhindern oder die Dauer der terminalen Abhängigkeit zu verkürzen. Die Bedeutung einer lebenslangen geistigen Aktivität in Kombination mit psychomotorischem Training (leichte körperliche Übungen, Wahrnehmungstraining, etc.) wird etwa von Oswald (Oswald et al. 2002) im Rahmen des SIMA-Projektes betont. Die Tabellen 1–4 zeigen die häufi figsten Krankheiten und Beschwerden, unter denen Menschen in den Altersgruppen 45–59 und 60 Jahre und älter leiden (Quelle: Österr. Seniorenbericht 2000). Aus diesen Statistiken ist ersichtlich, dass ältere Menschen unter verschiedensten Krankheiten und Beschwerden leiden, wobei hier Krankheiten des Kreislaufsystems, des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes, der Atmungsorgane und der Verdauungsorgane im Vordergrund stehen. Weiters ist auch eine starke Multimorbidität (das gleichzeitige Auftreten verschiedener Erkrankungen) gegeben. Welchen Stellenwert rehabilitative Maßnahmen bei dieser Personengruppe deshalb haben müssten, ist etwa aus einer Studie von Thomas (Thomas et al. 1986) abzuleiten. Von den von ihm untersuchten 262 zu Beginn der Untersuchung klinisch gesunden 65bis 89-Jährigen wiesen nach 5-jähriger Beobachtungszeit 22,1% Herzerkrankungen, 6,8% maligne Erkrankungen, 2,7% cerebrovaskuläre Erkrankungen und 1,9% eine Demenz auf.
Tabelle 1. Die 10 häufigsten fi Krankheiten zum Zeitpunkt der Befragung (45- bis 59Jährige, 1995, self-reported, Angaben in Prozent, jeweils bezogen auf alle befragten Frauen bzw. Männer)
Schäden an der Wirbelsäule Fieber Erhöhter Blutdruck Erkrankung der Hüft-, Beingelenke Erkrankung der Schulter-, Armgelenke Nervenentzündung Herzkrankheiten HNO-Beschwerden Erkältungskrankheiten Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür fi Magenleiden exkl. Geschwür Niedriger Blutdruck Gynäkologische Erkrankungen Zuckerkrankheit Venenentzündung, Krampfadern
Männer
Frauen
Gesamt
9,4 9,4 6,9 6,6 5,5 2,4 2,5 2,0 2,0 1,7 * * * * *
9,4 9,4 8,0 7,0 5,8 * * * * * 2,5 6,0 2,8 2,2 5,4
9,4 9,4 7,5 6,8 5,6 2,3 * * 2,0 * 2,0 3,8 * * 3,5
* Zählt nicht zu den häufigsten fi momentanen Krankheiten der jeweiligen Befragungsgruppe. Quelle: SERMO-Studie, 1997
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Tabelle 2. Die 10 häufi figsten Beschwerden zum Zeitpunkt der Befragung (45- bis 59Jährige, 1995, self-reported, Angaben in Prozent, jeweils bezogen auf alle befragten Frauen bzw. Männer)
Rücken-, Kreuzschmerzen Schwäche, Müdigkeit Schnupfen Schlafstörungen Schmerzen in Hüfte oder Bein Kopfschmerzen, Migräne Wetterempfi findlichkeit Husten Schmerzen in Schulter oder Arm Beinleiden Kreislaufstörungen Nervosität
Männer
Frauen
Gesamt
13,7 5,6 5,6 5,2 5,2 5,1 4,9 4,8 4,8 3,9 * *
12,2 5,8 * 9,6 9,6 9,0 10,7 * 5,7 5,2 8,2 5,3
13,0 5,7 5,4 7,4 7,4 7,0 7,8 * 5,2 4,5 4,1 *
* Zählt nicht zu den häufi figsten momentanen Beschwerden der jeweiligen Befragungsgruppe. Quelle: SERMO-Studie, 1997
Tabelle 3. Die 10 häufigsten fi Krankheiten zum Zeitpunkt der Befragung (60+-Jährige, 1995, self-reported, Angaben in Prozent, jeweils bezogen auf alle befragten Frauen bzw. Männer)
Schäden an der Wirbelsäule Fieber Erhöhter Blutdruck Erkrankung der Hüft-, Beingelenke Erkrankung der Schulter-, Armgelenke Herzkrankheiten HNO-Beschwerden Magenleiden exkl. Geschwür Niedriger Blutdruck Zuckerkrankheit Venenentzündung, Krampfadern Augenkrankheiten
Männer
Frauen
Gesamt
9,1 9,1 19,3 12,1 7,4 6,0 4,1 4,5 * 4,7 4,5 *
11,8 11,8 21,6 17,8 8,8 8,6 * * 6,3 8,4 13,5 5,4
10,8 10,8 20,7 12,9 8,3 7,6 * * 5,0 7,0 10,0 4,3
* Zählt nicht zu den häufigsten fi momentanen Krankheiten der jeweiligen Befragungsgruppe. Quelle: SERMO-Studie, 1997
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Tabelle 4. Die 10 häufi figsten Beschwerden zum Zeitpunkt der Befragung (60+-Jährige, 1995, self-reported, Angaben in Prozent, jeweils bezogen auf alle befragten Frauen bzw. Männer)
Rücken-, Kreuzschmerzen Schwäche, Müdigkeit Schnupfen Schlafstörungen Schmerzen in Hüfte oder Bein Kopfschmerzen, Migräne Wetterempfindlichkeit fi Husten Schmerzen in Schulter oder Arm Beinleiden Kreislaufstörungen g Magenbeschwerden Herzbeschwerden
Männer
Frauen
Gesamt
12,5 8,5 * 12,2 9,6 * 12,9 * 7,1 6,1 5,6 5,5 5,3
17,0 12,0 * 19,2 15,5 9,8 18,9 * 10,0 11,4 11,3 * 7,6
15,3 10,7 * 16,6 13,3 8,0 16,6 * 8,9 9,5 9,2 * 6,8
* Zählt nicht zu den häufi figsten momentanen Beschwerden der jeweiligen Befragungsgruppe. Quelle: SERMO-Studie, 1997
Auch bei psychiatrischen und neurologischen Krankheitsbildern ist im höheren Lebensalter mit einem deutlichen Anstieg zu rechnen (Zapotoczky und Fischhof 1996). Studien (vgl. Cooper 1989) gehen von einem Anteil von etwa 25% psychischer Erkrankungen bei über 60-Jährigen aus. Im Vordergrund stehen hierbei demenzielle Erkrankungen, Depressionen und neurotische Störungen. So beträgt etwa der Anteil schwerer depressiver Erkrankungen in dieser Gruppe 13 Prozent. Als auslösende Faktoren werden hierbei endogene (Veränderungen in den Neurotransmittern), somatogene (körperlich bedingt) und psychogene/reaktive (umweltbedingte) Faktoren diskutiert, wobei vor allem psychogene Auslöser infolge körperlicher Erkrankungen stark zunehmen (Haupt et al. 1990; Gatterer und Croy 2005). Demenzielle Erkrankungen zeigen einen besonders starken Altersanstieg. Mittelschwere und schwere Formen demenzieller Erkrankungen treten bei etwa 3% bis 8% auf (Weis und Weber 1997). Bei über 80-Jährigen fi finden sich bei 25–30% Zeichen einer Demenz. Die Demenz vom Alzheimertyp stellt hierbei mit einem Anteil von ca. 60% die größte Gruppe dar. Trotzdem gibt es jedoch auch in der Gruppe der über 100-Jährigen noch immer Personen ohne eine Demenz (Gatterer et al. 2002). Über die Häufi figkeit „neurotischer“ und psychosomatischer Störungen liegen nur globale Schätzungen vor (Radebold 1992; Peters et al. 2002). Als typisch für diese Störungsbilder in der Geriatrie gelten die Neigung zu depressiver Verarbeitung und die Entwicklung diffuser Angst, teils mit hypochondrischer Ausprägung (Meyer 1990, zit. nach Radebold 1992; Heuft et al. 2000). „Das Charakteristikum ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach me-
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dizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Sind aber irgendwelche körperlichen Symptome vorhanden, dann erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome und das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten“ (Dilling et al. 1991). Eine Abgrenzung zu organisch bedingten Störungsbildern, wie etwa einer Demenz, ist oft schwierig, und insofern sind angegebene Prävalenzzahlen nur als grobe Richtwerte für die Notwendigkeit einer weiteren Beschäftigung mit dieser Thematik anzusehen. In epidemiologischen Studien (Cooper 1983, 1992; Kanowsky 1996) werden sie oft mit neurotischen und Persönlichkeitsstörungen zusammengefasst oder unter dem Begriff „nicht psychotische und demente Krankheiten“, subsumiert. Trotzdem stellen diese Erkrankungen sicher eine große, wenn nicht sogar die größte Teilgruppe psychischer Störungen im höheren Lebensalter dar. Hinweise darauf sind etwa die oft festgestellte Zunahme von Arztbesuchen nach der Pensionierung sowie die im hohen Umfang durch niedergelassene Ärzte verordneten Psychopharmaka. So erhielten die über 65-Jährigen, das sind 15,5% der Bevölkerung, in der BRD 40% der Schlafund Beruhigungsmittel, 37% der Tranquilizer, 31% der Neuroleptika, 37% der Antidepressiva und 24% der Schmerzmittel verordnet (Sichrovsky 1984, zit. nach Radebold 1989). Sicher sind viele der erfolgten Behandlungen durch die im Alter gegebene Multimorbidität bedingt, andererseits spiegelt sich darin jedoch auch die starke somatische Fixierung des älteren Menschen. Einen weiteren Faktor, der im Rahmen der Betreuung nicht vernachlässigt werden sollte, stellt das Problem „Einsamkeit“ dar. So berichtet etwa die Bonner Arbeitsgruppe Alternsforschung (1971), dass Frauen häufiger fi über Einsamkeit klagen als Männer und weiters Personen über 75 Jahre und solche mit schlechtem gesundheitlichem Zustand sich ebenfalls öfter einsam fühlen. Aus diesem Grund wird die Zahl hilfsbedürftiger und/oder psychisch kranker, älterer Menschen dramatisch zunehmen und die Gesellschaft vor neue Probleme stellen. Wesentlich für die Bewältigung dieses gesellschaftlichen Problems ist deshalb, wie in Zukunft die Tatsache der „Überalterung“ unserer Gesellschaft und die Rolle des älteren Menschen inklusive seiner Betreuung in gesundheitspolitische Überlegungen mit einbezogen wird. Das erfordert neben einer Verbesserung der rehabilitatorischen Maßnahmen für ältere Menschen auch eine entsprechende Geroprophylaxe und ein Management für funktionale Restzustände (nicht korrigierbare Krankheitsbilder). Hierbei kommt gerade der Zusammenarbeit verschiedenster Institutionen und Berufsgruppen eine wesentliche Bedeutung zu. Da Altern ein multifaktorielles, mehrdimensionales Geschehen ist, kann dem Anspruch einer adäquaten, patientenbezogenen Behandlung und Betreuung auch nur multiprofessionell entsprochen werden.
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Altern bringt viele Veränderungen für die Betroffenen im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich, aber auch im Hinblick auf die Wohnumwelt. Insofern müssen alle diese Bereiche in Konzepten zum positiven Altern berücksichtigt werden. Gerade präventiven Aspekten muss im Hinblick auf eine Überalterung der Gesellschaft mehr Bedeutung beigemessen werden.
2 Gesundheit und Krankheit im Alter Gesundheit und Krankheit sind bei jüngeren Menschen meist leicht voneinander zu trennen. Die WHO (1968) definiert fi Gesundheit mit „Health means more than freedom from disease, freedom from pains, freedom from untimely death. It means optimum physical, mental and social efficiency fi and wellbeing“. Insofern handelt es sich bei diesen Begriffen um sehr dynamische, komplexe Faktoren, die Bereiche wie Lebenszufriedenheit, Körperlichkeit, Anpassungsfähigkeit etc. beinhalten. Die Bereiche schließen einander jedoch nicht immer absolut aus, sondern weisen wechselseitige Überschneidungen auf (Kanowski 1991). Medizinisch gesehen wird Gesundheit oft mit dem Fehlen von Krankheiten, durch Symptome, Symptomgruppen oder Syndrome, über Normwerte (z. B. Blutzucker) und das Kriterium der „Funktionsfähigkeit“ definiert. fi Damit verbunden sind aber verschiedenste Probleme, wie etwa die Problematik von „altersbedingten Veränderungen“, die Definition fi „krankheitswertiger Veränderungen“ (z. B. Gedächtnisstörungen treten im Alter vermehrt auf; Gedächtnisstörungen sind jedoch auch das erste Anzeichen für eine Demenz) und das Fehlen von Normwerten für „gesunde“ alte Menschen. Insofern können auch statistische Kennzahlen keine adäquate Auskunft über die „Gesundheit“ geben. Zusätzlich tritt das Problem der „subjektiven“ Sicht (Thomae 1988) von Gesundheit und Krankheit im Alter auf. Sind körperliche Beschwerden, die objektiv medizinisch nicht verifi fizierbar sind, nicht vorhanden, und ist der Betroffene deshalb psychisch krank? Sind andererseits Abweichungen „von der Norm“ ohne „Krankheitswertigkeit“ zu therapieren oder nicht? Wie verhält es sich mit Veränderungen, die viele ältere Menschen betreffen? Sind etwa Demenz, Depression und Suizid im Alter ein Schicksal und „altersgegeben“? Diese Fragen sind vor allem für den niedergelassenen Arzt in freier Praxis oft Diskussionsthemen mit älteren Menschen. Damit verbunden ergibt sich auch die Frage, wer der richtige Ansprechpartner für den älteren Menschen ist. Ist es der Hausarzt, der ihn bereits lange kennt, mit ihm eventuell bereits sein gesamtes Leben miterlebt hat? Ist es der Internist, da interne Krankheiten im Alter vermehrt auftreten? Ist es der Neurologe oder Psychiater, da eine Demenz im Alter gehäuft auftritt? Oder sind es die Angehörigen, die die meiste Zeit mit dem Betroffenen verbringen und die Hauptlast der Betreuung tragen? Diese Liste könnte noch auf viele Gruppen ausgedehnt werden, bis hin zur Gesundheitspolitik. So defi finiert etwa die WHO Altern unter dem Aspekt des „active and productive aging“.
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Durch diese unterschiedlichen Personengruppen ergeben sich jedoch auch andere Sichtweisen hinsichtlich der Wertigkeit von Veränderungen. Leichte kognitive Defizite fi im Alter sind möglicherweise für den Hausarzt „normal“, für den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie aber bereits ein Warnzeichen für eine beginnende Demenz. Eine leichte Unruhe ist möglicherweise für Betreuungspersonen einer Demenzstation akzeptabel, für Angehörige jedoch schwer zu ertragen. Diese Problematik ergibt sich aus der unterschiedlichen Sichtweise von Problemen, nämlich Q der subjektiven Sicht: Darunter versteht man die individuelle Sichtweise des Beurteilers und auch des Betroffenen. Damit verbunden sind unterschiedliche Normen und Werte hinsichtlich „Normalität“ und „Krankheit“. Oft spielen auch eigene Verhaltensweisen bei der Beurteilung eines Verhaltens bzw. eines Problems eine Rolle. So kann es etwa vorkommen, dass ein Betreuer aus der Tatsache heraus, dass er selbst raucht, Rauchen im Alter als weniger problematisch sieht. Q der professionellen Sicht: Hier werden nur „harte Tatsachen“ als Faktoren zur Beurteilung herangezogen. Abweichungen von der oft statistischen „Norm“ sind zu korrigieren. Q der fachbezogenen Sicht: Jede Fachdisziplin beurteilt Veränderungen in ihrem eigenen Bereich oft als relevanter als in anderen. So kann es etwa vorkommen, dass internistische Probleme und Krankheiten als wesentlicher bewertet werden als psychiatrische, oder auch umgekehrt. Q der systemischen Sicht: Hier wird das Problem und seine Auswirkung auf den gesamten Lebensraum des Betroffenen betrachtet. Q der patientenorientierten Sicht: Hier werden der Patient und die Konsequenzen für ihn in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Alle diese Sichtweisen haben ihre Berechtigung und ermöglichen es uns, Probleme zu lösen. Im Bereich der multidisziplinären Sicht des Alterns können sich daraus jedoch Probleme für die Betreuung älterer Menschen ergeben. Insofern erfordert die multifaktorielle Sicht des Alterns und seiner Probleme auch eine ständige multidisziplinäre Sichtweise und Diskussion der damit verbundenen Maßnahmen. Folgende Fragestellungen sollten hierbei offen diskutiert werden: Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Was ist das konkrete Problem? Für wen ist es ein Problem? Wer aller ist betroffen? Welche Rolle hat der Betroffene im System (Hilfesuchender, Beschützter, Kranker, …)? flusst es die Lebensqualität des Betroffenen? Wie beeinfl Welche Maßnahmen stehen zur Lösung zur Verfügung (multidisziplinär)? Was ist das Ziel der Maßnahmen? Welche Auswirkungen hat dies für den Betroffenen (körperlich, psychisch, sozial, persönlich)? Wie beeinfl flussen die Maßnahmen die Lebensqualität des Betroffenen?
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Gesundheit und Krankheit haben im Alter oft eine unterschiedliche Bedeutung im Vergleich zu jungen Menschen. Auch die Wertigkeit von Krankheiten und deren optimale Therapie sind unter dem Aspekt des Alterns zu diskutieren, wobei jedoch ein therapeutischer Nihilismus infolge des Alters abzulehnen ist. Besonders differenziert müssen die Bereiche „Betreuung von Menschen mit schwerer Demenz“ und „Palliativbetreuung“ gesehen werden, da hier oft das Konzept der „Lebensqualität“ vor der „Lebenserhaltung“ steht. Diese kann jedoch nur unter Einbeziehung ethischer Aspekte im multiprofessionellen Team erfolgen.
3 Rehabilitation im Alter: Eine interdisziplinäre Aufgabe von Angehörigen, Medizin, Pfl flege, Psychologie, Soziologie und anderen Fachgebieten Abbauerscheinungen im Alter lassen sich teilweise durch Training körperlicher, geistiger und sozialer Fertigkeiten verhindern oder zumindest verlangsamen. Bereits eingetretene Abbauerscheinungen können durch solche Maßnahmen auch in relativ großem Umfang wieder rückgängig gemacht werden, sie sind also nicht irreversibel. Sicher gibt es hierbei auch Grenzen, jedoch scheinen diese nicht so eng gesteckt, wie man aufgrund verschiedenster biologischer und psychologischer Alternstheorien annehmen könnte. Vielmehr ergeben sich Probleme vor allem durch Q eine negative Einstellung der Bevölkerung (Defi fizitmodell) Q eine negative, fatalistische Einstellung der Betroffenen sowie eine daraus resultierende passive Lebenseinstellung Q die im Alter bestehende Multimorbidität Q die starken psychischen und physischen Belastungen für die Helfer Q den Mangel an entsprechenden Einrichtungen zur Altersrehabilitation Q die fehlenden Ausbildungen der Helfer im Bereich der Geriatrie. Insofern erfordern Maßnahmen für ein gesundes Altern und die Ausnützung von Ressourcen und Potenzialen des älteren Menschen Interventionen auf verschiedensten Altersstufen (Lehr 1996, modifiziert): fi Q im Kindes- und Jugendalter durch eine Optimierung der Entwicklungschancen Q im Erwachsenenalter durch eine entsprechende Geroprophylaxe im körperlichen, seelischen und sozialen Bereich Q im Alter durch eine entsprechende optimale Therapie und Rehabilitation Q bei chronischem Leiden durch ein Anpassungstraining an Behinderungen und verbliebenen Möglichkeiten. Nach Gatterer (1994, 1996a, b) können psychosoziale Maßnahmen im höheren Lebensalter folgendermaßen zusammengefasst werden:
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l. Gesellschaftspolitik: Korrektur des negativen Altersbildes in der Gesellschaft, Verbesserung der Stellung älterer Menschen in der Gesellschaft und Bearbeitung des Generationenkonfl fliktes. 2. Geroprophylaxe: Vorbeugung eines vorzeitigen Altersabbaues durch Q Beratung des älteren Menschen über biologische, psychologische, soziale und ökologische Faktoren, die ein gesundes Altern ermöglichen Q Training körperlicher, geistiger und sozialer Funktionen Q rechtzeitige Alternsvorbereitung und medizinische Vorsorge Q Veränderung von Risikoverhalten (Rauchen, Alkohol, …) Q Aktivitätstraining und Förderung sozialer Kontakte Q Haustiere zur Prävention von Vereinsamung und zur Aktivitätsförderung 3. Rehabilitation, Behandlung, Restauration und Korrektur von Störungen, von bereits eingetretenen Schäden und Abbauerscheinungen: Q Aufbau von Kompetenz in verschiedenen Lebensbereichen durch Aufdecken von Ressourcen und Fähigkeiten Q medizinisch/therapeutische Maßnahmen entsprechend letzter wissenschaftlicher Erkenntnisse Q klinisch-psychologische, problemorientierte Gespräche zur Bearbeitung von Krisen bzw. einer negativen Alternssicht Q Verarbeitung von psychischem Stress bei der Krankheitsbewältigung Q Psychotherapie Q Soziotherapie Q Paartherapie Q Tiere als Therapie Q Reaktivierung körperlicher, geistiger und sozialer Fertigkeiten durch gezieltes Neueinüben Q Vorbereitung auf die Reintegration in der ursprünglichen Umgebung nach einem Krankenhausaufenthalt (Entlassungsvorbereitung) 4. Management funktioneller Restzustände: Zurechtkommen mit irreversiblen Problemsituationen bzw. Krankheiten Q multiprofessionelles Demenzmanagement Q Remotivationsprogramme Q Aktivierungs- und Beschäftigungsprogramme Q Validation Q Erarbeitung von Copingstrategien bei Restzuständen (Insult) und schweren Erkrankungen (Diabetes, Krebs, …) Q Bewältigung des Sterbeprozesses 5. Hilfe für die Angehörigen der Betroffenen Q Angehörigengruppen (Informationen über Krankheiten, Aussprachemöglichkeiten, soziale Kontakte, Erarbeiten einer realistischen Sicht, …) Q Psychotherapie Q psychische und soziale Unterstützung Q Trauerarbeit
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6. Hilfe für die professionellen Helfer Q gezielte Aus- und Weiterbildung in Geriatrie, Gerontopsychologie und Sozialgerontologie Q Supervisionsgruppen Q Stressbewältigung Q Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten, Vorurteilen, Erwartungen Q Konfliktlösungen fl Q Teamentwicklungsseminare, Kommunikation Q Sterbeseminare Q strukturelle Verbesserungen, z. B. in Organisationen.
4 Zusammenfassung Aus all diesen Daten ist die Notwendigkeit einer multidimensionalen und multiprofessionellen Betreuung von älteren Menschen ersichtlich, die ein enges Kooperieren von Patient, Angehörigen, Medizin, Pflege, fl Sozialarbeit, Psychologen, Therapie etc. erfordert. Um aber alle Möglichkeiten unserer modernen Gesellschaft auch für die Betreuung älterer Menschen nützen zu können, ist es jedoch notwendig, mit ihm gemeinsam (soweit möglich) bzw. seinen primären Betreuungspersonen alle diese Möglichkeiten zu diskutieren. Weiters erscheint es wichtig, dass die einzelnen Fachdisziplinen im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes auch über die eigenen Grenzen hinaussehen und eine gemeinsame, auch für den Betroffenen verständliche Sprache entwickeln. Dadurch können Fehlplatzierungen von älteren Menschen in Langzeitpfl flegeabteilungen bzw. auch das zu lange Verbleiben und eine „Verwahrlosung“ zu Hause infolge unbegründeter Angst vor einem Pfl flegeheim vermieden werden. Wichtig erscheint bei der Durchführung solcher Behandlungsprogramme jedoch die individuelle Situation des Betroffenen und die Sicht des gesamten Systems. Oft ist etwa infolge eines optimalen sozialen Betreuungssystems und des Ausnützens aller Hilfsdienste auch der Verbleib eines Patienten mit einer schweren Demenz zu Hause möglich. Zu vermeiden sind „Patentrezepte“ sowie die willkürliche Defi finition von „Auffälligkeiten“ des Patienten und dessen Therapie, anstelle z. B. der Veränderung der Einstellung des Personals oder der Schaffung adäquater Betreuungsstrukturen. Das System unserer Altenbetreuung ist sehr komplex. Insofern benötigt ein älterer Mensch hier oft Unterstützung und Beratung, die über das Aufzählen der Möglichkeiten hinausgeht. Die Schaffung solcher Strukturen ist sicher eine Herausforderung für unsere Gesellschaft, um dem älteren Menschen eine optimale Lebensqualität in der für ihn geeigneten Umgebung zu ermöglichen.
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G. Gatterer
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Strukturen der Altenbetreuung in Europa A. Strukturen der Altenbetreuung in Österreich Gerald Gatterer
1 Organisationsstruktur Die Strukturen der Altenbetreuung in Österreich können global in stationär/ambulant (extramural) bzw. eher psychosozial versus medizinisch orientiert unterteilt werden. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die derzeit in Österreich vorhandenen Strukturen und deren Zuordnung. Die Betreuung des älteren Menschen im extramuralen (ambulanten) Bereich erfolgt primär durch Angehörige und Nachbarn, die etwa 80–90% der Hilfe leisten. Professionelle Dienste sollen primär zu einer Entlastung der Angehörigen beitragen und eine stationäre Aufnahme vermeiden bzw. ein Verbleiben des älteren Menschen zu Hause mit hoher Lebensqualität ermöglichen. Diese erstrecken sich auf den Kernbereich der Hauskrankenpfl flege, die Unterstützung durch Alten- und Pfl flegehelfer sowie durch die Heimhilfe. Ergänzt werden diese Maßnahmen durch zusätzliche soziale Dienste, wie Essen auf Rädern, Besuchsdienst, Transportdienst, Reinigungsdienst und diverse Unterstützungsmaßnahmen. Teilstationäre Maßnahmen sollen ebenfalls den Verbleib des älteren Menschen zu Hause erleichtern und bestehen aus Tageszentren (primär Tagesbetreuung inklusive Essen und Beschäftigung) und Tageskliniken (mit mehr medizinischer Ausrichtung). Sie stellen gemeinsam mit im extramuralen und intramuralen Bereich angesiedelten Versorgungsstrukturen Nahtstellen zur Prävention einer allzu frühzeitigen vollstationären Langzeitbetreuung als auch einer Unterversorgung und Gefährdung der Patienten in ihrer eigenen Wohnung dar. Insofern kommt gerade diesen Naht-
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G. Gatterer
Abb. 1. Versorgungsstrukturen für ältere Menschen in Österreich
stellen eine spezifische fi Funktion bei der Aufgabe der Optimalversorgung älterer Menschen mit verschiedensten Erkrankungen zu. Stationäre Betreuungsformen sind Krankenanstalten, die neu eingerichteten Akutgeriatrien, Geriatriezentren, Alten- und Pfl flegeheime (64.800 Heimplätze in Österreich), Pensionistenheime sowie betreutes Wohnen und Wohngemeinschaften. An speziellen Angeboten gibt es Kurzzeitpflege, fl Rehabilitationsabteilungen und Spezialabteilungen für besondere Krankheitsbilder, z. B. Personen mit einer Demenz. Stationäre Betreuungsformen sind deshalb einerseits auf den Bereich der Rehabilitation bzw. auf die Pfl flege und Betreuung schwer pflegebedürftiger fl älterer Menschen ausgerichtet. Schematisch wäre deshalb die psychosoziale Versorgung älterer Menschen als System von adäquaten extramuralen und intramuralen Versorgungsstrukturen mit Schwerpunktbildung im primär medizinischen oder sozialen Bereich darzustellen. Optimale Versorgung bedeutet nach diesem System einerseits, dem Patienten alle jene Betreuungsmaßnahmen angedeihen zu lassen, die zu einer guten Lebensqualität notwendig sind, andererseits jedoch auch eine Überversorgung (z. B. vollstationäre Betreuung) infolge verschiedenster Faktoren zu vermeiden. Insofern benötigt dies eine enge Kooperation und Kommunikation der einzelnen Systeme. Die Verteilung der einzelnen Angebote in den einzelnen Regionen und die Zugänglichkeit für den älteren Menschen sind jedoch sehr unterschiedlich. So sind verschiedenste Strukturen, z. B. Wohngemeinschaften, primär im städtischen Bereich angesiedelt und auch nur hier effizient. fi Im ländlicheren Bereich wird eher der Ausbau ambulanter Dienste forciert. Insofern ist der Zugang zu den einzelnen Betreuungsstrukturen von vielen Faktoren abhängig und oft für den älteren Menschen, seine Bezugspersonen, aber auch professionelle Helfer nicht immer transparent.
Strukturen der Altenbetreuung in Österreich
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Im folgenden Abschnitt wird versucht, die wichtigsten Bereiche der psychosozialen Versorgung älterer Menschen in ihrer Komplexität und hinsichtlich ihrer Abfolge für den Betroffenen schematisch darzustellen.
Ambulante Strukturen Im extramuralen Bereich stehen folgende unterstützende Institutionen zur Verfügung, die meist über den Hausarzt oder Gesundheitszentren angefordert werden können: Q Die Angehörigen sind in den meisten Fällen die Personen, die den älteren Menschen bei diversen Krankheiten und Problemen unterstützen. Im ländlichen Bereich sind auch Nachbarn in diesen Prozess stärker eingebunden. Diese Personen beurteilen als Erste (neben dem Betroffenen selbst) die Krankheitswertigkeit und Behandlungsbedürftigkeit. Über sie erfolgt in vielen Fällen auch die Kontaktaufnahme mit professionellen Hilfen. Gerade im Bereich der Betreuung von älteren Menschen mit einer Demenz kommt dieser Personengruppe eine wesentliche Bedeutung zu, da sie oft über die Notwendigkeit eines stationären Aufenthaltes entscheidet. Q Der Hausarzt (Facharzt für Allgemeinmedizin) ist in vielen Fällen die erste und wichtigste Ansprechperson im Krisenfall. Er ist auch eine zentrale Stelle für die Anforderung verschiedenster anderer diagnostischer Maßnahmen, die Zuweisung zu Fachärzten und (psycho-)sozialen Diensten. Über ihn erfolgt auch (in Kooperation mit den Angehörigen) die Anforderung des Pfl flegegeldes bzw. die Beurteilung der Notwendigkeit stationärer Hilfen. Im ländlichen Bereich werden von ihm meist mehr Bereiche abgedeckt als in der Stadt, die eher auf eine „Spezialversorgung“ ausgerichtet ist. fl Diese erfolgt durch eine mobile diplomierte GeQ Hauskrankenpflege: sundheits- und Krankenpflegeperson fl und bietet medizinische Fachpflege fl (z. B. Wundversorgung, Injektionen, …), Betreuungspfl flege, Beratung und Unterweisung, die Organisation weiterer Dienste und stellt in dieser Hinsicht ein Bindeglied zum Hausarzt dar. Nicht diplomierte Pflefl gehelfer ergänzen das Angebot. Q Heimhelfer, -innen unterstützen bei der Haushaltsführung, der Körperfl der Besorgung von Medikamenten und sonstigen nicht medizipflege, nischen Maßnahmen. Q Essen auf Räder bietet die Möglichkeit, ein Mittagessen zugestellt zu bekommen, wobei auch eine Auswahl zwischen verschiedenen Kostformen besteht. Q Besuchsdienste dienen der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte, für Einkäufe, Begleitungsdienste etc. Q Weiters bieten verschiedenste Institutionen noch Wäschedienst, Reinigungsdienst, Reparaturdienste, Fahrtendienste, Hausnotruf, Vorlesedienste, etc. an.
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Q Bei psychischen Krisen steht in vielen Regionen ein psychosozialer Dienst zur Verfügung: Dieser bietet einerseits die Möglichkeit einer fachärztlichen Behandlung und psychosozialen Betreuung durch einen Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und durch Fachpfl flegepersonal als auch die Möglichkeit einer Tagesbetreuung und Angehörigenberatung. Ambulante (extramurale) Strukturen der Altenbetreuung sollen einen möglichst langen Verbleib zu Hause ermöglichen und Defizite fi des alten Menschen ausgleichen und Ressourcen nützen. Sie werden in Österreich derzeit forciert, da dies von vielen älteren Menschen gewünscht wird und auch hinsichtlich der Finanzierung günstiger erscheint.
Teilstationäre Strukturen Teilstationäre Einrichtungen ergänzen das Angebot der sozialen Dienste und sind dort notwendig, wo die Versorgung zu Hause durch ambulante Dienste nicht mehr ausreicht. Hierzu zählen Q Geriatrische Tageskliniken: Diese dienen der Aufnahme und Behandlung älterer Menschen während der Tagesstunden über einen begrenzten Zeitraum. Wichtigster Bestandteil des tagesklinischen Behandlungskonzeptes ist die medizinische Behandlung, meist im Sinne von Rehabilitation. Sie sind einem Krankenhaus angegliedert und verfügen deshalb über die dort vorhandenen medizinischen und apparativen Möglichkeiten. Tageskliniken sind jedoch nur in wenigen Gegenden gut ausgebaut. Q Geriatrische Tageszentren: Hier steht die psychisch und physisch ganzheitliche Betreuung älterer Menschen mit verschiedensten Gebrechen während des Tages im Vordergrund. Ziel ist das möglichst lange Verbleiben in der eigenen Wohnung. Die Leistungsangebote von Tageszentren umfassen den Transport ins Tageszentrum, die Bereitstellung von Mahlzeiten, persönliche Assistenz bei Aktivitäten des täglichen Lebens sowie verschiedenste sozialtherapeutische und ergotherapeutische Maßnahmen. Diese Betreuungsform wird derzeit ausgebaut, ist jedoch infolge der notwendigen Transporte eher im städtischen Bereich angesiedelt. Q Tagespflegeheime fl stellen eine neue Form der teilstationären Betreuung für bereits stärker pflegebedürftige fl Menschen während des Tages dar, während diese abends und am Wochenende meist von der Familie versorgt werden. Auch dadurch wird ein längerer Verbleib zu Hause ermöglicht. Q Kurzzeitpfl flegeplätze bieten eine vorübergehende und zeitlich befristete Versorgung und Betreuung pfl flegebedürftiger Menschen in einer stationären Altenhilfeeinrichtung. Dadurch können pflegende fl Angehörige, z. B. im Falle einer eigenen Erkrankung oder eines Urlaubs, zeitweise
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entlastet werden. In einigen Heimen werden auch so genannte „Urlaubsbetten“ angeboten, die ein ähnliches Konzept verfolgen. Q Ebenfalls relativ neue Betreuungsstrukturen sind Wohngemeinschaften bzw. Hausgemeinschaften für ältere Menschen, die sich jedoch infolge der Umgewöhnung für an einer Demenz erkrankte Personen nicht so eignen. Sie sind nach dem Normalitätsprinzip konzipiert und bieten die Möglichkeit des „miteinander Wohnens und Lebens“. Teilstationäre Strukturen stellen gewissermaßen eine Nahtstelle zwischen ambulanten und vollstationären Bereichen dar. Sie sollen ebenfalls den Verbleib zu Hause erleichtern, jedoch tagsüber oder auch in der Nacht (derzeit vermehrt geplant) eine Betreuung oder die Tagesstrukturierung ermöglichen. Stationäre Strukturen Oft reichen jedoch alle extramuralen und teilstationären Betreuungsmöglichkeiten nicht aus, um einen Menschen z. B. mit einer schweren Demenz gut zu versorgen. Dann werden stationäre Versorgungsstrukturen benötigt, vor denen viele Menschen Angst haben, da sie mit dem Begriff der „Endstation“ gleichgesetzt werden. Die Verlegung in ein Krankenhaus bzw. Pfl flegeheim stellt oft auch eine massive psychische Belastung für die Betroffenen dar. Viele reagieren mit Verwirrtheitszuständen und Unruhe, weshalb eine solche, wenn möglich, gut vorbereitet erfolgen sollte. Intramurale (vollstationäre) Strukturen der Versorgung älterer Menschen erfolgen bei akuten Erkrankungen in Krankenanstalten. Die Aufenthaltsdauer in diesen ist jedoch begrenzt, weshalb bei anhaltender Pflegefl bedürftigkeit nach einiger Zeit oft die Verlegung in ein Pflegeheim fl erfolgt. Diese waren bis vor einigen Jahren primär auf eine gute pflegerische fl und somatische Betreuung ausgerichtet. Die Betreuung psychiatrischer Patienten erfolgt zumeist in psychiatrischen Krankenanstalten (gerontopsychiatrische Abteilungen). In den letzten Jahren sind jedoch vermehrt innovative Bestrebungen einer differenzierteren und rehabilitativeren Sichtweise in den Mittelpunkt der Betreuung gerückt. So entwickelten sich vermehrt geriatrische Krankenanstalten, Geriatriezentren und teilstationäre Versorgungsstrukturen mit eher medizinischer (Tagesklinik) oder sozialer (Tageszentren) Ausrichtung. Psychosozialen, psychologischen und psychotherapeutischen Betreuungsansätzen kommt hierbei zusätzlich zu pflegerischen fl und medizinischen Aspekten eine wichtige Position zu. Derzeit werden in Österreich so genannte „akutgeriatrische Abteilungen“ in Krankenanstalten eingerichtet, die auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Erkrankungen des höheren Lebensalters ausgerichtet sind. Intramurale Versorgungsstrukturen sind somit ein wesentlicher Bestandteil des Gesamtkonzeptes „psychosoziale Betreuung“ älterer Menschen, wobei hier die Bereiche
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Q Betreuung schwer dementer und pflegebedürftiger fl Menschen, Q differenzierte diagnostische und therapeutische Sichtweise der einzelnen Patienten, Q Ausnützung der rehabilitativen Möglichkeiten, Q Kooperation mit extramuralen Versorgungsstrukturen im Vordergrund stehen. Dies wird in modernen Geriatiezentren (vgl. Geriatriezentrum am Wienerwald; Gatterer 2005) durch die Schaffung von Aufnahmestationen („geriatrisches Assessment“), Rehabilitationsabteilungen für physikalische oder psychosoziale Rehabilitation, einer „Palliativstation“ und verschiedener Demenzstationen bereits umgesetzt bzw. sind verschiedenste innovative Organisationsstrukturen in Erprobung. Änderungen ergaben sich hier vor allem durch das neue Heimaufenthaltsgesetz, welches seit 1. 7. 2005 in Österreich in Kraft getreten ist. Einerseits wird dadurch der Aufenthalt durch einen Heimvertrag zwischen den Bewohnern und dem Betreiber der Institution geregelt, andererseits ist auch die Problematik der „Sicherheit“ der Bewohner durch „freiheitsbeschränkende Maßnahmen“ durch dieses Gesetz geregelt. Intramurale (stationäre) Strukturen sind vor allem für die Betreuung von schwer pflegebedürftigen fl oder an schwerer Demenz erkrankten Menschen notwendig. Gerade in diesem Bereich sind in den nächsten Jahren innovative Ideen gefordert, die einerseits die Freiheit der betroffenen pfl flegebedürftigen Menschen berücksichtigen, aber auch zu deren Sicherheit beitragen. Neben einer Verbesserung der „Hotelqualität“ ist vor allem die Notwendigkeit des Ausbaues von gezielten, patientenorientierten Strukturen (z. B. Demenzstationen) und des Abbaus von Vorurteilen gegenüber Heimen als „letzter Station vor dem Tod“ gegeben. Ebenso müssen die durch die veränderte Gesetzeslage notwendigen Maßnahmen zur Sicherheit der Bewohner in Heimen reflektiert fl werden. Gerade dabei ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen der Altenhilfe mit den Bewohnervertretern notwendig.
2 Rechtliche Rahmenbedingungen Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Österreich werden primär durch das Wohn- und Pfl flegeheimgesetz, das Heimaufenthaltsgesetz, das Sachwalterschaftsgesetz, die Patientenverfügung und die Vorsorgevollmacht definiert. fi Wohn- und Pfl flegeheimgesetz Der Aufenthalt in einem Wohn- bzw. Pfl flegeheim wird durch das Wohn- und Pfl flegeheimgesetz geregelt. Die Betreiber einer solchen Institution müssen
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danach die von ihnen angebotenen Leistungen klar defi finieren und in einem Heimvertrag festhalten. Dadurch ist eine bessere Transparenz der Leistungen sichtbar, die dem Kunden beim Vergleich zwischen den Organisationen helfen kann. Insbesondere regelt dieses Gesetz Q die Gewährleistung der angemessenen Betreuung und im Bedarfsfall der angemessenen Pflege fl der in Wohn- und Pfl flegeheimen aufgenommenen Personen (Bewohner); Q die Wahrung der Menschenwürde, Privatsphäre, Individualität, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung der Bewohner; Q den Schutz vor Beeinträchtigung der persönlichen, physischen, psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen und Bedürfnisse der Bewohner; Q die Sicherstellung der personellen und ausstattungsmäßigen Strukturen der Heime; Q die Berücksichtigung der spezifi fischen Anforderungen älterer Frauen und älterer Männer. Das Gesetz betrifft nicht die Pfl flege zu Hause bzw. das selbstständige Wohnen. Heimaufenthaltsgesetz/Freiheitsbeschränkende Maßnahmen Ziel dieses Gesetzes ist es, für unerlässliche Eingriffe in die Freiheit von Menschen in Alten- und Pfl flegeheimen oder anderen vergleichbaren Institutionen so genannte „freiheitsbeschränkende Maßnahmen“, klare rechtliche Regelungen zu schaffen, ob und wann diese Eingriffe zulässig sind. Damit wird nicht nur (Rechts-)Sicherheit im pflegerischen fl Alltag geschaffen, sondern gleichzeitig deutlich, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen lediglich als letztes Mittel, unter genau geregelten Voraussetzungen, erlaubt werden. Der Anwendungsbereich des Gesetzes umfasst vorwiegend Q Alten- und Pflegeheime, fl Q Behindertenheime, Q andere Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepfl flegt werden können, z. B. Krankenanstalten (mit Ausnahme psychiatrischer Anstalten oder Abteilungen), Pflegeanstalten fl für chronisch Kranke, Spitalsabteilungen in Pfl flegeheimen. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen im Sinne dieses Gesetzes sind solche, durch die es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern. Die Mittel, um diese Freiheitsbeschränkung herbeizuführen, sind psychische, mechanische, elektronische und medikamentöse. Von einer Freiheitsbeschränkung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn ein Bewohner der Unterbindung der Ortsver-
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änderung ernstlich sowie frei von Zwang und Irrtum zugestimmt hat. Dies sollte jedoch dokumentiert sein. Eine Freiheitsbeschränkung ist zulässig, wenn Q der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und er in diesem Zusammenhang die Gesundheit und das Leben von sich oder anderen ernstlich gefährdet; Q die Freiheitsbeschränkung zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie die Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist; Q diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen abgewendet werden kann. Eine Freiheitsbeschränkung darf nur auf Anordnung einer dazu befugten Person (Arzt, Leitung der Institution) erfolgen. Die Dokumentation des Grundes, der Art, des Beginns und der Dauer der Freiheitsbeschränkung hat schriftlich zu erfolgen und ist dem Bewohner auf geeignete, seinem Zustand entsprechende Weise mitzuteilen. Gleichzeitig ist auch der Leiter der Einrichtung oder dessen Vertreter vom Beginn bzw. vom Ende der freiheitsbeschränkenden Maßnahme in Kenntnis zu setzen. Der Leiter der Einrichtung hat wiederum den/die Vertreter der/des Bewohner(s) unverzüglich zu verständigen. Die Vertretung des Bewohners wird in zweifacher Form möglich sein, nämlich einerseits durch einen vom Bewohner selbst gewählten Vertreter und unabhängig davon durch einen so genannten „Bewohnervertreter“, der durch den Verein für Sachwalter- und Patientenanwaltschaft beim örtlich zuständigen Bezirksgericht namhaft zu machen ist. Die gerichtliche Überprüfung erfolgt durch das örtlich und sachlich zuständige Bezirksgericht, jedoch nur auf Antrag der dazu berechtigten Person. Pfl flegegeldgesetz Das Bundespfl flegegeldgesetz (BPGG) und die entsprechenden Landespfl flegegesetze sehen eine Kombination von Geld- und Sachleistungen vor. Das Pflegegeld fl wird gewährt, wenn Pfl flegebedürftigkeit vorliegt und der ständige Betreuungs- und Pfl flegeaufwand voraussichtlich mindestens 6 Monate andauern wird. Es soll die Möglichkeit der Betroffenen verbessern, das Leben selbst zu gestalten (zum Beispiel, in der gewohnten häuslichen Umgebung zu bleiben). Voraussetzungen sind weiters der Besitz der Österreichischen Staatsbürgerschaft bzw. eine EU-Staatsbürgerschaft und Hauptwohnsitz in Österreich. Die Höhe des Pfl flegegeldes hängt vom Betreuungsaufwand ab und wird in sieben Stufen eingeteilt, wobei durch ein ärztliches Sachverständigengutachten (Greifeneder und Liebhart 2004) der zeitliche Aufwand der Unterstützung bei Aufgaben des täglichen Lebens (Motorik, Ausscheidung,
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Ernährung, Anziehen, …) erfasst wird. Voraussetzung sind mindestens 50 Stunden Pfl flegebedarf pro Monat (Stufe 1). Pfl flegestufe 7 erhalten Personen mit mehr als 180 Stunden Pfl flegebedarf (Unmöglichkeit zielgerichteter Bewegungen aller vier Extremitäten oder ein gleich zu achtender Zustand, z. B. wenn noch eine gewisse Mobilität vorhanden ist, diese aber nicht nutzbar ist, weil zur Aufrechterhaltung einer lebenswichtigen Funktion technische Hilfe erforderlich ist). Für blinde und taubblinde Personen sowie für Menschen, die überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sind, wurden Mindesteinstufungen beschlossen. Bei Menschen mit Demenzerkrankung kann es manchmal zu geringeren Einstufungen kommen. Hier empfiehlt fi sich die Beilage zusätzlicher Befunde eines Facharztes für Neurologie/Psychiatrie sowie psychologische Testbefunde zur Einstufung der Demenz und des Betreuungsbedarfs.
Sachwalterschaft Für Menschen, die aufgrund psychischer Krankheit oder geistiger Behinderung bei der Erledigung ihrer Angelegenheiten auf fremde Hilfe angewiesen sind und daher eine rechtliche Vertretung benötigen, kann vom Gericht ein Sachwalter bestellt werden. Dieser wird vom Gericht mit verschiedenen Aufgabengebieten betraut: also z. B. Unterstützung bei der Regelung finanzieller Angelegenheiten, bei Kontakten mit Ämtern und Behörden, bei der Sicherstellung einer angemessenen Wohnsituation. Je mehr ein Sachwalter über die Lebensgeschichte und aktuelle Situation des/der Betroffenen weiß, desto individueller kann die Unterstützung aussehen. Die Einreichung erfolgt über das zuständige Gericht und nach einem fachärztlichen Gutachten. Trotzdem bedeutet eine Sachwalterschaft immer einen Eingriff in höchstpersönliche Rechte und bewirkt ein Stück Entmündigung. Es ist daher regelmäßig zu überprüfen, ob es nicht eine Alternative zur Sachwalterschaft gibt. Genauere Informationen und auch eine Broschüre zum Thema findet man beim Verein für Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft und Bewohnervertretung (www.vsp.at).
Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht Jede Therapie bedarf der Zustimmung des Patienten. Eine vom Patienten errichtete Patientenverfügung soll für den Fall vorsorgen, dass diese Zustimmung nicht gegeben werden kann, weil der Patient z. B. bewusstlos oder nicht einsichtsfähig ist. In einer Patientenverfügung kann somit vorausschauend festgehalten werden, welche Maßnahmen in einem solchen Fall durchgeführt werden oder unterlassen werden sollten. Das mit 1. 6. 2006 in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz regelt, wie eine für den behandelnden Arzt verbindliche Patientenverfügung auszusehen hat. Ein Arzt muss den Patienten eingehend beraten. Die Krank-
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heitssituation und die abgelehnte Behandlung müssen konkret umschrieben werden, z. B.: „Bei wahrscheinlicher schwerer Dauerschädigung meines Gehirns lehne ich eine Intensivtherapie oder eine Wiederbelebung ab.“ Auch die Beratung durch einen Notar, Rechtsanwalt oder Patientenanwalt ist notwendig. Für die ärztliche und rechtsanwaltliche oder notarielle Beratung sind Kosten zu begleichen. Die Arbeit des Patientenanwalts wird kostenfrei erbracht. Ärzte, die in Österreich eine Beratung und Bestätigung für eine verbindliche Patientenverfügung gegen Honorar in Wien durchführen, fi findet man auf der Homepage der Ärztekammer. Mit der Vorsorgevollmacht bestimmt jeder selbst, wer in speziellen Angelegenheiten, z. B. Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung, entscheidet, wenn man dazu selbst nicht (mehr) in der Lage ist. Sowohl eine Patientenverfügung als auch eine Vorsorgevollmacht muss gut überlegt werden und kann nicht im Schnellverfahren errichtet werden. Die Patientenverfügung oder auch die Vorsorgevollmacht sollte sowohl mit Experten als auch mit den nahestehenden Menschen besprochen werden. Für Fragen steht etwa der Wiener Patientenanwalt zur Verfügung. Auf der Homepage kann man auch eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht herunterladen: www.wien.gv.at/patanw/patientenverfuegung.htm.
3 Zusammenfassung Die unterschiedlichen Bedürfnisse in der Altenbetreuung in Österreich erfordern ein breites Angebot an unterschiedlichen Strukturen und eine regelmäßige Anpassung an Veränderungen. Es gibt jedoch große Unterschiede in den Philosophien und regionale Bedürfnisse. Generell sind die Strukturen derzeit einem starken Wandel von stationären Einrichtungen hin zu mehr ambulanten Organisationsformen unterworfen. Im stationären Bereich ist eine Spezialisierung auf schwer pflegebedürftige fl Menschen und solche mit Demenzerkrankung feststellbar. Ebenso werden neue Kooperationen zwischen privaten und öffentlichen Anbietern versucht. Die Finanzierung dieser Strukturen stellt oft ein großes Problem dar, da die Leistungen meist vom Betroffenen bzw. seinen Angehörigen und über das Pfl flegegeld finanziert werden müssen. Dies ist jedoch aufgrund des zu geringen Einkommens bei stark pflegebedürftigen fl Menschen nicht möglich. Aktuell ist eine intensive Diskussion über die Beschäftigung auslänflegekräfte im Gange. discher Pfl Das neue Heimaufenthaltsgesetz hat ein Jahr Bewährungsprobe hinter sich, und in manchen Bereichen gibt es Diskussionen über die Umsetzung. So ist der Bereich der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen nicht immer eindeutig zu defi finieren. Eine enge Kooperation mit den Bewohnervertretern ist hier notwendig. Neue Erkenntnisse werden sich auch bei der Umsetzung der Patientenverfügung ergeben. Zusammenfassend ist die Betreuungslandschaft in Österreich derzeit im Umbruch. Es werden viele neue Ideen versucht, deren Umsetzbarkeit sich
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erst zeigen muss. Vor allem muss jedoch das Problem der Finanzierung geklärt werden. Hier werden derzeit private Versicherungsmodelle erprobt.
Literatur Greifeneder M, Liebhart G (2004) Pflegegeld. fl Grundsätze, Einstufung und Verfahren für die Praxis. Manz, Wien ÖBIG für Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (1999) Dienste und Einrichtungen für pfl flegebedürftige Menschen in Österreich. BMAGS, Wien Pflegerl fl J (2003) Vereinbarkeitsmaßnahmen von Familie und Beruf im Pfl flegebereich. Quellenrecherche. Österr. Institut für Familienforschung, Wien
B. Betreuung älterer Menschen in Deutschland Martha Meyer
Die Betreuung älterer Menschen in Deutschland ist ebenfalls durch eine sehr hitzige Diskussion der Finanzierung geprägt. Damit verbunden sind auch verschiedenste Überlegungen zur Umstrukturierung der Betreuungsstrukturen. Ziel ist die Gewährleistung eines selbstbestimmten Alterns in Würde bis zum Lebensende.
1 Einführung Die weitreichenden formellen und informellen Betreuungsstrukturen des Altenhilfesystems in Deutschland unterliegen der Dynamik gesellschaftlichen Wandels und stehen in einem Spannungsfeld zwischen familiärer und gesellschaftlicher Verpfl flichtung. Sie verlangen vielfältige Handlungserfordernisse in Politik und Gesellschaft, die älteren Menschen den Anspruch und das Recht garantieren, ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in Würde bis an ihr Lebensende zu leben. Insbesondere die Sicherung der Lebenssituation von Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder einer Behinderung auf Hilfe oder Pflege fl angewiesen sind, bildet nach wie vor eine wichtige sozial- und gesundheitspolitische Aufgabenstellung in Deutschland. Das Subsidiaritätsprinzip, mit der Leitvorstellung einer normativ geregelten Aufgabenteilung und Verantwortlichkeiten zwischen dem Staat und der Familie, sieht in erster Linie in der Familie den Garanten für die Sicherstellung von Betreuung und Sorgearbeit älterer Menschen (Theobald 2004). Erst wenn die Familie diese Betreuungsaufgaben nicht mehr gewährleisten kann, treten staatlich subventionierte Organisationen auf den Plan und übernehmen die Sorgearbeit, z. B. in Form von institutioneller Unterbringung, wozu die Familie unter bestimmten Voraussetzungen einen fi finanziellen Beitrag zu leisten hat. Die umfassende und ausgewogene Deutung und Einschätzung wissenschaftlicher Daten zu Alter und Hilfe- und Pflegebedürftigkeit fl ist im Rahmen konzeptioneller Überlegungen bedeutsam, denn in den Köpfen der
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unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure der Altenhilfe sind diese Daten mit Bildern verknüpft. Sie beeinfl flussen Planungsprozesse, Entscheidungen, Handlungen, Erlebensweisen und die Bewertung von kurz- und langfristigen Folgen und Wirkungen von Verhalten (BMFSFJ 2005). Konzeptionelle Überlegungen zur Betreuung älterer Menschen sind deshalb auch nicht losgelöst von Alters- und Menschenbildern im Altenhilfebefi getönte Altersbilder der 60er- und 70erreich. Obwohl sich „defizitär“ Jahre gewandelt haben und durch ein positiv und stärker differenziertes Altersbild abgelöst wurden, „scheinen sich in den ‚Tiefenstrukturen‘ der langfristig verankerten kulturellen Kodierungen unserer Gesellschaft negative Altersbilder weiterhin hartnäckig zu halten“ (BMFSFJ 2005, 18). So hält sich auch noch die Analogie von Alter = pfl flege- und hilfebedürftig und verkennt, dass nur ein geringer Teil der älteren Menschen in den entsprechenden Alterskohorten abhängig ist von fremden Hilfen und professioneller Betreuung.
2 Sozialstruktureller Kontext Demografi fische Rahmenbedingungen Die „demografische fi Entwicklung ist eines der am besten prognostizierbaren ökonomischen Phänomene überhaupt“ (Raffelhüschen in Zimmermann 2004), da sich grundlegende Parameter wie die Geburtenzahl (Fertilität), die Sterbefälle (Mortalität) und die Außenwanderung nur graduell verändern. Wie alle Länder Europas sieht sich auch Deutschland mit dem Phänomen einer immer älter werdenden Gesellschaft konfrontiert; daher spielen demografische fi Veränderungen bei sozial- und gesundheitspolitischen Reformen in Bezug auf die zukünftige Allokation angemessener Betreuungsstrukturen für ältere Menschen eine wesentliche Rolle. Derzeit leben 3,2 Mio. über 80-jährige Menschen in Deutschland. Dies entspricht einer Proportion von 3,9% an der Gesamtbevölkerung. Mit steigender Le-
Tabelle 1. Bevölkerung der über 65-jährigen älteren Menschen in Deutschland nach Altersgruppe und Geschlecht (%), 2002 Altersgruppen von … bis
Gesamtbevölkerung N = 82,440.309 (%)
Männlich
Weiblich
65–69
4,378.060 (5,3)
2,072.547
2,305.486
70–74
3,604.682 (4,3)
1,584.122
2,020.560
75–79
2,838.177 (3,4)
982.712
1,855.465
80–84
1,704.711 (2,1)
503.089
1,201.622
85–89
989.385 (1,2)
245.188
744.197
90+
550.707 (0,7)
123.082
427.625
Quelle: Eurostat 2003
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benserwartung wird dieser Anteil beträchtlich ansteigen, und es wird erwartet, dass im Jahre 2050 etwa 9,1 Mio. Menschen oder 12% der Gesamtbevölkerung älter als 80 Jahre alt sein werden (Statistisches Bundesamt 2003c). Tabelle 1 zeigt die Anteile der über 65-jährigen Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2002.
Wohlfahrtsstaatliche Regulierung Die Wechselwirkungen zwischen familiärer Betreuung für ältere Menschen und staatlichen Unterstützungsleistungen sind zurückzuführen auf Familienkulturen mit Traditionen und Normen, deren Wurzeln vor die Entstehung des Wohlfahrtsstaates zurückreichen. Einstellungen zur Verantwortung von Familie und Wohlfahrtsstaat sowie auch die persönlichen Präferenzen älterer Menschen weisen zwischen den unterschiedlichen Wohlfahrtsregimes in Europa erhebliche Differenzen auf, die mit der Tradition der Familie und des Wohlfahrtsstaates in diesen Gesellschaften kongruent sind. In vorwiegend familialistisch ausgerichteten Wohlfahrtsstaaten, wie z. B. Deutschland oder Spanien, sind auch die Einstellungen und Präferenzen eher familienorientiert, im Gegensatz zu stärker individualistisch orientierten Traditionen, die eindeutig öffentliche Dienstleistungen präferieren, z. B. in Norwegen (Daatland et al. 2003). Während die Norweger entsprechend ihrer Einstellung gegenüber dem figer die Verantwortung für die Betreuung Wohlfahrtsstaat zehnmal häufi älterer Menschen in die Hände des Staates legen, halten die Deutschen die Verantwortung des Wohlfahrtsstaates für deutlich begrenzter. Etwa 10% der Norweger schreiben eine Hauptverantwortung für die Betreuung älterer Menschen der Familie zu, während es bei den Deutschen 25–30% sind (Daatland et al. 2003, 2). Unabhängig vom Wohlfahrtsregime steht eine Mehrheit der älteren Menschen allgemein der Verantwortung des Wohlfahrtsstaates positiv gegenüber, und nur wenige meinen, dass die Verantwortung allein bei der Familie liegen sollte. In Deutschland wird die Verantwortung vor allem in Bezug auf die Sicherung der finanziellen Ressourcen und weniger mit Blick auf die Bereitstellung von pflegerischen fl Leistungen gesehen, was durchaus im Einklang steht mit der bestehenden Sozialgesetzgebung und der Betonung des Subsidiaritätsprinzips.
3 Sozialrechtliche Rahmenbedingungen Mit der zunehmenden Zahl alter Menschen steigen die Anforderungen an die Bereitstellung angemessener Betreuungs- und Versorgungsstrukturen deutlich an, und es existiert mittlerweile eine große Bandbreite an Versorgungsdiensten für ältere Menschen; aber die Strukturen der Bereitstellung sind durch eine starke Desintegration gekennzeichnet, da sie sich aus unterschiedlichen Quellen fi finanzieren: aus Sozialversicherungsbeiträgen, öffentlichen Geldern und privaten Hilfsfonds.
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Um die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen zu illustrieren, wird ein kurzer Überblick über das System der sozialen Sicherung sowie dessen Konsequenzen für den Pflegefl und Gesundheitsmarkt gegeben. Das deutsche Sozialversicherungssystem fußt auf sechs Säulen: Q Rentenversicherung (19,5% des Brutto-Einkommens), Q Arbeitslosenversicherung (6,5% des Brutto-Einkommens), Q Krankenversicherung (abhängig von der jeweiligen gesetzlichen Krankenkasse, aber durchschnittlich etwa 13,5% vom Brutto-Einkommen), Q Unfallversicherung, Q Pflegeversicherung fl (1,7% des Brutto-Einkommens), Q Sozialhilfe (Steuern), überführt in das Sozialgesetzbuch XII. Eine der Hauptschwierigkeiten, sich im deutschen „Dienstleistungsdschungel“ zurechtzufi finden, ist diesen unterschiedlichen Finanzierungsquellen zuzuschreiben. Daraus resultieren auch immer noch viele Defi fizite in der Bereitstellung einer effektiven und umfassenden Versorgung. Aufgrund koordinatorischer Mängel ist das System der Dienste und seiner Leistungen sowohl für die Nutzer, -innen als auch für die Anbieter, -innen nur schwierig zu durchschauen. Sowohl die historisch bedingte institutionelle und finanzielle Trennung zwischen dem Gesundheits- und Sozialsektor als auch die Trennung von ambulant und stationär wurde durch die Einführung der Pflegeversichefl rung weiter tief zementiert (Roth und Reichert 2002), denn die Übergänge zwischen medizinischem Behandlungsbedarf und rehabilitativ-pflegerifl scher Betreuung sind oftmals fl fließend, und das System der Pfl flege- und Gesundheitsdienste verharrt in einem Zustand der Intransparenz und Desintegration (Schmidt 2002). Mit der Einführung der Pflegeversicherung fl und allgemeinen Marktprinzipien entstand ein offener Markt ambulanter pflegerischer fl Dienstleistungen, der getragen wird von öffentlichen, gemeinnützigen und privaten kommerziellen Anbietern, wodurch die Verantwortung der Kommunen für die Bereitstellung sozialer und pflegerischer fl Dienstleistungen in den Hintergrund gedrängt wurde. Diese quantitative Expansion an Diensten mit unterschiedlicher regionaler Versorgungsdichte sowie einer finanziellen Orientierung am „klassischen Pflegeversicherungspatienten“ fl führte nicht automatisch zu qualitativen und strukturellen Verbesserungen (Schaeffer 1999).
Die Strukturen des Altenhilfesystems erschweren die Betreuung älterer Menschen Der oben beschriebene Sachverhalt erschwert es sowohl für die unterstützungsbedürftigen älteren Menschen als auch für die pfl flegenden Angehörigen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Dienstleistungen zu finden. Seit den frühen Achtzigerjahren wird der Mangel an Transparenz, fi
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Koordination und Effizienz fi bei den Pfl flege- und Gesundheitsdienstleistungen beklagt, einhergehend mit Lücken an den Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Um diese „Schnittstellenprobleme“ lösen zu können, sind sowohl Qualitätskriterien erforderlich als auch die weitreichende Implementation von Care- und Case-ManagementStrukturen sowie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperation zwischen den Leistungsanbietern.
4 Pfl flegebedürftigkeit in Deutschland Statistiken zur Pflegebedürftigkeit fl Im Dezember 2003 waren 2,08 Mio. Menschen pfl flegebedürftig im Sinne des Pfl flegeversicherungsgesetzes (SGB XI), in der Mehrheit (68%) Frauen. Etwa 81% der Pflegebedürftigen fl waren 65 Jahre und älter, 32% sind 85 Jahre und älter. Mehr als zwei Drittel (69% bzw. 1,44 Mio.) der Pfl flegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Etwa 987.000 Menschen erhalten ausschließlich Pfl flegegeld und werden in aller Regel zu Hause und ausschließlich von den Angehörigen betreut und gepfl flegt. Weitere 450.000 pfl flegebedürftige, in Privathaushalten lebende ältere Menschen werden vollständig von ambulanten Pfl flegediensten versorgt, und 31% der Pfl flegebedürftigen (640.000) befinden fi sich in stationärer Langzeitpfl flege und -betreuung. Gegenüber 2001 ist die Zahl der Pfl flegebedürftigen um insgesamt 1,8% angestiegen. Insgesamt weisen die Daten einen Trend hin zur professionellen Pfl flege durch Pfl flegeheime und professionelle Pfl flegedienste aus: So ist die Anzahl der durch ambulante Dienste Betreuten um 3,6% und die in Heimen Versorgten um 5,9% gestiegen, während die Zahl der Pflegegeldfl empfänger im gleichen Zeitraum um 1,4% abnahm. Somit sank auch die Zahl der zu Hause Betreuten von 70,4% auf 69,2% (vgl. dazu Tabelle 2).
Tabelle 2. Eckdaten zur Pflegestatistik fl in Deutschland 2,08 Millionen Pfl flegedürftige insgesamt Zu Hause versorgt: 1,44 Mio. (69%)
In Heimen versorgt: 640.000 (31%)
Ausschließlich Angehörige: 987.000 Pflegebedür fl ftige
Durch 10.600 Pfl flegedienste: 450.000 Pflegebedürftige fl
Pfl flegeheime 9.700
Nach Pfl flegestufen
Nach Pfl flegestufen
Nach Pfl flegestufen
I: 59,6% II: 31,8% III: 8,6%
I: 49,9% II: 37,2% III: 12,8%
I: 33,8% II: 44,2% III: 20,9% 1,2% ohne bisherige Zuordnung
Quelle: Stat. Bundesamt 2005
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Die Pfl flegefallwahrscheinlichkeit steigt mit zunehmendem Alter an: Während bei den 70- bis unter 75-Jährigen „nur“ jeder 20. pflegebedürftig fl ist, wurde bei den 90- bis unter 95-jährigen älteren Menschen die höchste Pfl flegequote ermittelt: Der Anteil der Pfl flegebedürftigen an allen Menschen dieser Altersgruppe beträgt 60%. Dabei fällt auf, dass das Risiko, pflegefl bedürftig zu werden, bei den Frauen ab dem 80. Lebensjahr deutlich höher ist als bei den Männern (sie beträgt für die Frauen 65%, bei den Männern „nur“ 44%) (Stat. Bundesamt 2005).
Die Soziale Pflegeversicherung fl (SGB XI) Die sozialrechtliche Definition fi von Pfl flegebedarf, in Verbindung mit dem Rechtsanspruch auf Leistungen, wurde mit der Einführung der Pflegeverfl sicherung im Jahre 1995 im Sozialrecht festgeschrieben. Damit wurden erstmals die Risiken abgedeckt, die mit einer Pfl flegebedürftigkeit einhergehen. Die politischen Ziele waren: eine Stabilisierung häuslicher Pflegefl arrangements, die Senkung individueller Armut und der öffentlichen Ausgaben sowie eine Erweiterung der Infrastruktur und Verbesserung der Qualität sozialer Dienstleistungen (Tesch-Römer 2001). Die Bereitstellung und der Rechtsanspruch von Pflegeleistungen fl für diejenigen, die unterstützungsbedürftig sind, wird als Verantwortung der Gesellschaft als Ganzes zum Ausdruck gebracht (§ 8 SGB XI). Pflegebedarf fl wird im SGB XI wie folgt definiert: fi „Pfl flegebedürftig […] sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen […] des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen“ (§ 14 (1) SGB XI). Die Leistungen umfassen medizinische und andere Leistungen, die zur Rehabilitation erforderlich sind, um den „Eintritt von Pflefl gebedürftigkeit zu vermeiden […].“ Es soll darauf hingewirkt werden, „[…] die Pflegebedürftigkeit fl zu überwinden, zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern“ (§ 5 (2) SGB XI). Die Definition fi ist altersunabhängig. Die Definition fi von „Pfl flegebedarf“ im SGB XI umfasste aber ausschließlich die handwerklichen Aspekte von Pfl flege und berücksichtigte nicht den Zeitaufwand, den kognitiv beeinträchtigte Personen im Hinblick auf psycho-soziale Betreuung und Begleitung benötigen. Eine Erweiterung des leistungsanspruchsberechtigten Personenkreises war unumgänglich geworden, um den Bedürfnissen älterer Menschen mit „erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf“ (§ 45a SGB XI) und ihren Familien durch die Entwicklung von Dienstleistungsstrukturen mit niedrig-schwelligen Angeboten gerecht zu werden. Dazu gehört u. a. die Schulung von Ehrenamtlichen, um die Familien stundenweise von der Betreuung zu entlasten, die weitere Entwicklung von Betreuungsgruppen mit Demenzkranken, Tagespfl flege sowie ein verbessertes Beratungsangebot für pfl flegende Angehörige von Demenzkranken (§ 45c (3) PflEG fl 2001).
Betreuung älterer Menschen in Deutschland
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Die Pflegeversicherung fl zahlt nur für Dienstleistungen im Rahmen der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL), wie Assistenz bei der persönlichen Hygiene und den Mahlzeiten, Mobilisation und Haushaltshilfe. Dies ist einer der Gründe dafür, dass neben dem regulären Pflegemarkt fl ein zweiter, privater und unregulierter Pflegemarkt fl entstanden ist, da die Pfl flegeversicherung nicht die umfassenden Bedürfnisse von pfl flegenden Angehörigen und unterstützungsbedürftigen älteren Menschen erfüllen kann. Wichtige komplementäre Dienstleistungen, wie etwa Besuchsdienste, Begleitung, psychosoziale Unterstützung, Gartenarbeiten, Reinigungs- und Hausarbeiten, werden nur spärlich durch professionelle Dienste angeboten, obwohl sie erkannt haben, dass es eine große Nachfrage nach diesen Dienstleistungen gibt. Diese komplementären Angebote müssen in der Regel durch die Familie oder die Unterstützungsbedürftigen privat bezahlt werden, nur unter besonderen Umständen werden die Kosten von der Sozialhilfe übernommen. Der individuelle Pflegebedarf fl wird vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen durch Gutachten erfasst. Aufgrund dieser Einschätzung wird der Pfl flegebedarf in drei Pfl flegestufen zugeordnet. Es gibt eine Härtefallregelung, flegebedarf die Pfl flegestufe 3 in sehr erheblichem Umfang rund wenn der Pfl um die Uhr übersteigt. Um einen Anspruch auf Pflegeleistungen fl geltend machen zu können, muss Pflegebedarf fl bei mindestens zwei basalen und zusätzlich instrumentellen Aktivitäten (ADLs) des täglichen Lebens für voraussichtlich 6 Monate vorliegen. Pflegebedürftige fl Menschen können wählen entweder zwischen Sach-, Geld- oder Kombinationsleistungen. Etwa 71% aller Pfl flegebedürftigen beziehen Geldleistungen anstelle von Sachleistungen und organisieren ihre Pfl flegehilfe selbst; etwa 12% beziehen
Tabelle 3. Leistungen der Pflegeversicherung fl nach Pfl flegestufen in Euro und Pfl flegeleistungen (SGB XI) Pflegefl Umfang stufe der Pfl flegeleistung
Ambulante Pfl flege
Ambulante Pfl flege
Monatliche Sachleistungen in € (professionelle Pfl flege)
Monatliche Geldleistungen in € (häusliche Pfl flege)
Stationäre Langzeitpflege fl Sachleistungen in € (professionelle Pflege) fl
1
Mindestens 90 Minuten pro Tag
384
205
1.023
2
Mindestens 3 Std. pro Tag
921
410
1.279
3
Mindestens 5 Std. pro Tag und Pfl flegebedarf rund um die Uhr
1.432
665
1.432 (Härtefall: 1.687)
Quelle: Pfl flegeversicherung (SGB XI, §§ 15, 36, 37)
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Sachleistungen und machen Gebrauch von professionellen Pflegediensten, fl etwa 15% beziehen Kombinationsleistungen (Infratest Sozialforschung 2003). Die Prävalenz der Pflegebedürftigkeit fl Für die weitere Entwicklung der sozialen Pfl flegeversicherung in Deutschland ist die Prävalenz der Pfl flegefälle von entscheidender Bedeutung (Zimmermann 2004). Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird sich die Anzahl der Pflegebedürftigen fl in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung von 1999 bis 2020 um 52% erhöhen (Zimmermann 2004). Als Hauptursache für die Zunahme der Wahrscheinlichkeit einer Pfl flegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter ist die Kumulation von Erkrankungen über den gesamten Lebenslauf, die dann schließlich zu Multimorbidität führen. Hier werden in erster Linie die chronischen Erkrankungen genannt, die zu einer wachsenden Einschränkung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens führen, beginnend mit kleineren hauswirtschaftlichen Unterstützungsleistungen bis hin zu Abhängigkeit von Pfl flege und Betreuung. Kritisch anzumerken ist hier, dass allein aus demografischen fi Gründen eine Zunahme der Ausgaben der Pfl flegeversicherung angenommen wird, denn die demografischen fi Indikatoren lassen sich besser berechnen als etwa ein sich veränderndes Freizeitverhalten in der Bevölkerung. Das Phänomen, dass auch immer mehr ältere Menschen aufgrund der besseren fi finanziellen Ausstattung, sich verändernder Lebensstile und stärkerer Differenzierung der Lebenslagen sowie eines sich auch wandelnden Gesundheitsbewusstseins „gesünder und fi fitter“ altern, lässt sich in seinen Auswirkungen bisher schwer einschätzen. Die pflegefl und gesundheitswissenschaftliche Reformdebatte im Hinblick auf die weitere Finanzierung der Pflegeversicherung fl setzt auf einen Paradigmenwechsel innerhalb der Pfl flegeversicherung hin zu einer deutlicheren Betonung pfl flegepräventiver und rehabilitativer Ansätze, um schon im Vorfeld der Pflegebedürftigkeit fl tätig zu werden. Diese Aspekte bleiben bei den demografischen fi Berechnungen unberücksichtigt.
5 Die Bedeutung der familiären Solidarität und flichtung im Hinblick auf die Betreuung moralischen Verpfl älterer Menschen Bis zum Beginn der 90er-Jahre war es allgemein üblich, dass Ehefrauen, Töchter oder Schwiegertöchter die Sorge um die Betreuung älterer Familienangehörigen übernahmen. Wachsende physische und psychische Belastungen der Familien ohne finanzielle Absicherung sowie eine zunehmende Abhängigkeit der Pfl fi flegebedürftigen von Sozialhilfe mit steigendem fi finanziellem Druck auf die ört-
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lichen Sozialhilfeträger rückten seit der Mitte der 90er-Jahre die – zum Teil unwürdige – Betreuungssituation älterer Menschen verschärft in den Mittelpunkt der sozialpolitischen Debatte. Im Jahre 1991 beanspruchten die Ausgaben für die Pfl flege etwa ein Drittel aller Sozialhilfeleistungen (Theobald 2004, 18), und die Kosten für die Kommunen erwiesen sich als der entscheidende Faktor, im Jahre 1995 – nach einer fast 20-jährigen politischen Diskussion – die Soziale Pfl flegeversicherung als 5. Säule in das System der sozialen Sicherung (SGB XI) in zwei Stufen einzuführen. Zusätzlicher Druck auf die sozialen Sicherungssysteme entstand durch die demografischen fi Veränderungen, das veränderte Erwerbsbeteiligungsverhalten von Frauen, die Veränderungen in den Haushaltsstrukturen mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Lebensstile und Lebenslagen, denen eine wachsende Zahl von Pflegebedürftigen fl und immer älter werdenden Menschen gegenübersteht. In Deutschland genießt die häusliche Pflege fl generell höhere Priorität als der stationäre Sektor, ebenso wie medizinische Rehabilitation vor Pflege. fl Das Motto der Pflegeversi fl cherung „ambulant vor stationär“ drückt die Zielsetzungen der Legislative aus, die Bereitschaft zur Übernahme der häuslichen Betreuung und Pfl flege zu fördern. Wie schon im Abschnitt über die wohlfahrtsstaatliche Regulierung beschrieben, refl flektiert dies die Haltung des deutschen Wohlfahrtsstaates, immer noch auf die Stabilität familiärer Netzwerke sowie informeller Hilfen zu setzen (Daatland et al. 2003). Die Pflegeversicherung fl steht derzeit aufgrund steigender Defi fizite durch sinkende Einnahmen und steigende Ausgaben wieder in der Reformdiskussion. Repräsentative Daten (Runde et al. 1999, 2002) zu den Auswirkungen der Pfl flegeversicherung auf den Bereich der häuslichen Pfl flege zeigten, dass zwei Drittel aller Befragten (N = 2.130) Einstellungen im Hinblick auf häusliche Pflege fl hatten, die durch sozial-normative Erwartungen beeinfl flusst waren. Die Ergebnisse bestätigen auch die Hypothese, dass Intergenerationensolidarität – im Sinne der Übernahme von häuslichen Pflegeleistungen fl als Pfl flichtaufgabe von Angehörigen – als gesellschaftliche Norm abgebaut wird. Es wird sich eine zweckrationale, leistungsbezogene und an individuellen Präferenzen orientierte Norm zur Pfl flege durchsetzen, die Intergenerationensolidarität bleibt als kulturelles Leitbild erhalten. „Die damit verbundene normative Selbstverständlichkeit der Pfl flegeübernahme durch Angehörige wird jedoch reflexiv fl gebrochen“ (Runde et al. 2002, 183). Mehr als zwei Drittel aller Befragten waren der Meinung, dass Familienmitglieder moralisch verpfl flichtet sind, sich umeinander zu kümmern. Nur etwa 5% aller Befragten haben eindeutige Einstellungen, die darauf hindeuten, dass sie einzig auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren. Nahezu jede/r zweite Befragte (42%) gab an, dass eine sozial-normative Verpfl flichtung zur Übernahme der häuslichen Pfl flege nicht völlig frei ist von utilitaristischen Überlegungen und die Entscheidung daher nicht einzig flichtung und finanzielle Erwäund allein altruistisch ist. Moralische Verpfl gungen müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, denn diejenigen, die sich moralisch verpfl flichtet fühlten, übernahmen selbstverständlich die Pfl fle-
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geaufgaben; aber fi finanzielle Kompensation wurde als eine Art Unterstützung für die Anstrengungen der/des pfl flegenden Angehörigen gesehen. Ein Vergleich der Generationen von 30- bis 49-Jährigen, 50- bis 70-Jährigen und über 70-Jährigen zeigte, dass ältere Menschen (über 70-Jährige) öfter die Meinung vertraten (67,5%) als die Altersgruppe der 30- bis 49Jährigen (58%), dass Angehörige eine moralische Verpflichtung fl haben, die Pflege fl von Angehörigen zu übernehmen. Keine signifikanten fi Unterschiede zeigten sich in den sozial-normativen Einstellungen in Bezug auf die Pflege fl von Angehörigen beim Vergleich verschiedener berufl flicher und sozialer Milieus. Der hohe Stellenwert der moralischen Verpflichtung fl findet sich als eine generelle Einstellung und ist unabhängig von sozialen Milieus. Der Anteil derjenigen, die sich moralisch flichtet fühlen und gleichzeitig eine finanzielle Kompensation erwarverpfl ten, liegt in Arbeiterhaushalten um 10% höher als in Akademikerhaushalten (Runde et al. 2002). Die Bereitschaft zur Übernahme der häuslichen Pflege fl steht in „Unterschichtmilieus“ im Vordergrund, wohingegen stationäre Langzeitpflege fl kaum Akzeptanz findet. In „Mittelklasse-Milieus“, unter Personen mit einem hohen Sozialstatus, ist die Bereitschaft zur Überfl minimal ausgeprägt, wohingegen stationäre nahme der häuslichen Pflege Langzeitpfl flege weitgehend akzeptiert wird (Klie und Blaumeister 2002). Mit Blick auf die Ergebnisse der vergleichenden Studien (Runde et al. 2002) aus den Jahren 1997 und 2002 vermuten die Autorinnen und Autoren (vgl. Tabelle 4), dass die Bereitschaft zur Übernahme der häuslichen Pflege fl abnimmt. Bemerkenswert ist, dass nur 45% aller im Jahr 2002 Befragten der Meinung waren, dass die Eltern einen Anspruch darauf haben, durch ihre Kinder gepfl flegt zu werden. Seit 1997 ist dies eine Abnahme um 10%. Auffällig ist auch die Abnahme der Bereitschaft, den/die Ehepartner/in zu fl Sie sank von 71,1% im Jahr 1997 auf 62,3% im Jahr 2002. pflegen: Immer weniger Menschen sehen in der Pfl flegeversicherung eine Maßnahme, um die Intergenerationensolidarität zu fördern und die Menschen darin zu bestärken, die Pflege fl von Angehörigen zu übernehmen. „Da es
Tabelle 4. Veränderungen in der Bereitschaft, die häusliche Pflege fl eines Angehörigen zu übernehmen, als zugeschriebener Effekt der Pflegeversicherung fl in % Moralische Einstellungen in Pfl flegehaushalten
Jahr der Datenerhebung 1997
2002
Moralische Verpflichtung, fl die häusliche Pflege fl zu übernehmen**
58.7 (N = 1.060)
52.1 (N = 1.189)
Eltern haben einen Anspruch darauf, von ihren Kindern gepfl flegt zu werden
55
45
Anspruch gegenseitiger Pflege fl durch den Ehepartner
71.1 (N = 1.041)
62.3 (N = 1.176)
Die Pfl flegeversicherung fördert die Solidarität zwischen den Generationen*
49
46.3 (N = 1.142)
(N = 1.057)
(N = 1.036)
Quelle: Runde et al. 2002, 9, 13; * p = 0.05; ** p = 0.001
(N = 1.187)
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SGB XI nicht gelingt, die sozialen Restriktionen entscheidend zu verändern, zugleich aber mit den fi finanziellen Zuwendungen neue Pfl flegeorganisationsalternativen ermöglicht, ist von einem weiteren Abbau der selbstverständlichen Pflegeübernahme fl durch Angehörige […] auszugehen“ (Runde et al. flegeversicherung hat den Typus des wahlrationalen Ent2002, 178). Die Pfl scheiders (Runde et al. 2002, 177) geschaffen und neue Werte an die Stelle handlungsregulierender Normen treten lassen.
6 Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) Im Jahr 2001 waren in Deutschland 6,7 Mio. Menschen erheblich beeinträchtigt, und die Quote der Behinderung steigt mit zunehmendem Alter an: 2001 waren zwei Drittel aller erheblich behinderten Personen älter als 60 Jahre, und in über 90% der Fälle war die Ursache für die Behinderung eine Krankheit (Hoffmann 2003). Deutschland hat die „International Classificafi tion on Disability, Functioning and Health“ der WHO (2001) in das neunte Sozialgesetzbuch über die ‚Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen‘ aufgenommen (SGB IX 2001). Der Begriff der Behinderung orientiert sich dabei nicht an Defiziten, fi sondern vielmehr an den Möglichkeiten und Begrenzungen einer selbstständigen Teilhabe am öffentlichen Leben. Das politische Ziel des Gesetzes im Hinblick auf (nicht nur ältere) Behinderte oder den von Behinderung bedrohten Menschen ist es, die „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligung zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“ (SGB IX 2001 § 2). Die gesellschaftliche Teilhabe soll mit medizinischen, berufsbezogenen und finanziellen Leistungen garantiert werden. Die Defi finition im SGB IX besagt, dass eine Person behindert ist, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensjahr typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“ (SGB IX 2001 § 2). Leistungen für die medizinische Rehabilitation (§ 26) und Prävention (§ 3) sind dazu gedacht, um das Auftreten von chronischen Krankheiten zu verhüten. Diese haben Priorität vor den Leistungen der Pfl flegeversicherung „Rehabilitation vor Pfl flege“ (§ 8 (3) SGB IX). Dazu zählen u. a.: Q Medizinische, psychologische und pädagogische Behandlung und Unterstützung, Q Heilmittel einschl. physikalischer, Sprach- und Beschäftigungstherapie, Q Vermittlung von Kontakten zu örtlichen Selbsthilfe- und Beratungsmöglichkeiten, Q die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen,
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Q Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, Q das Training lebenspraktischer Fähigkeiten, Q Hilfen zur seelischen Stabilisierung und zur Förderung der sozialen Kompetenz sowie Q Hilfen zur Unterstützung bei der Krankheits- und Behinderungsverarbeitung.
Zivilrechtliche Regelungen der Betreuung Menschen, die im täglichen Leben aufgrund von physischen oder psychischen Behinderungen psycho-soziale Unterstützung benötigen und nicht mehr allein in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln, stehen unter dem Schutz des Betreuungsrechtes, um ihre staatsbürgerlichen Rechte zu sichern (BtÄnG 1998). Eine steigende Anzahl älterer Menschen, die kognitiv beeinträchtigt sind, benötigen eine amtliche Betreuung auf der Grundlage des Betreuungsrechtes. Dieses Recht trat in Kraft, um den betroffenen Menschen ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Integration zu erlauben, ein unabhängiges Leben zu fördern oder ihnen zu helfen, ihre Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Basierend auf den länderspezifischen fi Gesetzgebungen wendet sich dieses Gesetz (nicht nur) älteren Menschen zu, die psycho-soziale Unterstützung benötigen, sondern schließt alle über 21-jährigen Menschen ein. Im Rahmen der Psychiatriereform wurden gemeindenahe sozial-psychiatrische Dienste erweitert, um die höhere Priorität der ambulanten vor der stationären Behandlung herauszustreichen. Neben beratenden und präventiven Aufgaben haben die sozial-psychiatrischen Dienste die Verantwortung für die psycho-soziale Versorgung und Betreuung der betroffenen Personen sowie in Teilen auch für die medizinische Behandlung. Weiterhin können sie auch von dem Recht Gebrauch machen, psychisch kranke Menschen in ein Krankenhaus einzuweisen. Es besteht immer noch ein großes Defi fizit an diesen Diensten, und ihre Verfügbarkeit ist lokal und regional ungleich verteilt (Bäcker et al. 2000). Eine psycho-soziale Unterstützung durch entsprechende Dienste tritt dann in Kraft, wenn der Betreuungsbedarf augenscheinlich ist und eine der im Gesetz aufgelisteten Krankheiten oder Behinderungen vorliegt. Darunter fallen psychiatrische Krankheiten, physische oder kognitive Behinderungen, wie z. B. Demenz oder andere Formen von „altersbedingtem“ geistigem Abbau. Die Krankheit oder Behinderung an sich macht die betroffenen Menschen nicht automatisch schutzwürdig durch das Gesetz (BtÄnG 1998). Der Unterstützungsbedarf muss von „Amts wegen“ festgestellt werden. Eine dritte Person, welche die Angelegenheiten für die betroffene Person regelt, kann nur als Betreuer/in bestellt werden, wenn die zu betreuende Person teilweise oder völlig unfähig ist, die persönlichen Angelegenheiten aufgrund von Krankheit oder Behinderung zu regeln. In einem medizinischen Bericht müssen Umfang und vermutliche Dauer der Behinderung
Betreuung älterer Menschen in Deutschland
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sowie genauer Umfang der psycho-sozialen Unterstützung festgehalten werden. In die Rechtsposition der zu betreuenden Person wird nur eingegriffen, wenn es absolut erforderlich ist, und der/die Betreuer/in bekommt flussmöglichkeiten in einem fest umschriebenen Bereich zugestannur Einfl den, z. B. die Regelung der finanziellen Angelegenheiten, die Bestimmung des Aufenthaltsortes oder die Erteilung der Zustimmung zu erforderlichen medizinischen Behandlungen usw. Unter bestimmten Umständen können ältere Menschen, die ihren täglichen Lebensunterhalt nicht aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten können, soziale Unterstützung aus öffentlichen Mitteln und so genannte „Hilfen zum Lebensunterhalt“ (§ 27 SGB XII) und einen Mehrbedarf ab dem 65. Lebensjahr beantragen (§ 30). Die Hilfen im SGB XII unterliegen keiner Altersbegrenzung. Dem Sozialrecht liegt das Subsidiaritätsprinzip zugrunde, welches besagt, dass erst dann öffentliche Mittel beantragt werden können, wenn keine anderen Ressourcen innerhalb der Familie zur Verfügung stehen. Es ist bekannt, dass ältere Menschen in weit geringerem Umfang Sozialhilfe beantragen, als ihnen zustehen würde, da sie befürchten, dass ihre Kinder dann zu Leistungen herangezogen werden. Im Zuge der Rentenreform trat am 1. Januar 2003 ein Gesetz zur sozialen Grundsicherung in Kraft, um ältere Menschen vor drohender Altersarmut zu bewahren und sie nicht der als beschämend empfundenen Tatsache auszusetzen, den Staat um Hilfen bitten zu müssen (GSiG 2002).
7 Schlussbetrachtung: Sozialpolitische Herausforderungen und zukünftige Bedarfe für eine umfassende Betreuung älterer unterstützungsbedürftiger Menschen Die Sachverständigenkommission für die Erstellung des 4. Altenberichts hat zu Recht festgestellt, dass politische und gesellschaftliche Interventionen notwendig sind, um eine möglichst weitgehende selbstständige Lebensführung im Alter zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu verfolgen, erprobte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Modellprogramms „Altenhilfestrukturen der Zukunft“ Projekte, welche in unterschiedlicher Weise Strukturen der Altenhilfe im Sinne der selbstständigen Lebensführung alter Menschen nutzen und gestalten (BMFSFJ 2002, 23). Viele dieser Modellprojekte sind als „Best Practice“ ausgezeichnet worden und haben sich verstetigt, andere gute Modelle in der Betreuung älterer Menschen sind mangels finanzieller Ressourcen wieder „eingeschlafen“. In Deutschland ist die Familie immer noch die wichtigste Institution in der Bereitstellung von Betreuungs- und Pflegeleistungen fl für ältere Menschen; aber aufgrund demografi fischer Entwicklungen und sozialer Verschiebungen in der Gesellschaft werden die zukünftigen Generationen weit weniger in familiäre Pfl flege eingebunden sein als zum gegenwärtigen Zeit-
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punkt. Das traditionelle Vertrauen in die – meist weibliche – Pfl flegeressource innerhalb der Familie wird im „kulturellen“ Empfinden fi mehr und mehr an Relevanz verlieren und die moralische Orientierung in Bezug auf die Übernahme der Rolle des/der pflegenden fl Angehörigen ebenso an Bedeutung verlieren, da die Opportunitätskosten in diesem Entscheidungsprozess eine zentrale Rolle zu spielen beginnen. Als Folge der Rekrutierungsproblematik und eines generellen Pflegefl kräftemangels wird der professionelle Pflegesektor fl allein weder die Verantwortung für die Bereitstellung häuslicher Betreuungs- und Pflegeleisfl tungen tragen, noch zukünftige Lücken in der Versorgung kompensieren können. Die Bedarfsdeckung und Bereitstellung familiärer Betreuungs- und Pflefl geleistungen wird zukünftig nur in der Implementierung eines „WelfareMix“ erfolgreich sein, und sowohl professionelle als auch informelle Pflegefl und Betreuungsnetzwerke werden mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, um die häusliche Pflege fl managen zu können. Professionelle Anbieter von gesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen sollten im Rahmen „gemischter Pfl flegearrangements“ ihre eigene Rolle re-defi finieren, um pfl flegende Angehörige stärker als Partner wahrzunehmen, und es ist dringend erforderlich, neue Case- und Care-Management-Strukturen zu entwickeln. Die Einführung der Pfl flegeversicherung brachte für viele Familien eine ökonomische Entlastung. Obwohl pflegende fl Angehörige und unterstützungsbedürftige ältere Menschen allgemein mit den Leistungen der Pflefl geversicherung sehr zufrieden sind, weil sie die häusliche Pflegesituation fl stabilisiert haben, hat sie nicht die Erwartungen in Bezug auf mehr systematische Unterstützung, Beratung, Anleitung und Organisation der häuslichen Pflege fl erfüllt. Begrenzte ökonomische Ressourcen erfordern es, sich stärker auf die Organisationsstrukturen der Dienstleistungen zu konzentrieren und verstärkte Anstrengungen im Hinblick auf ihre Koordination und Kooperation zu unternehmen, um lokale Netzwerke im Dienstleistungsangebot zu entwickeln, die den Bedürfnissen der pfl flegenden Angehörigen und der unterstützungsbedürftigen älteren Menschen Rechnung tragen. Gegenwärtig ist sowohl ein Trend hin zu einer stärkeren Inanspruchnahme institutioneller Langzeitpfl flege zu verzeichnen als auch ein Sinken der Geldleistungen bei gleichzeitigem Anstieg der Sachleistungswahl in der häuslichen Pflege. fl Obwohl es eine ausreichende Versorgung mit „klassischen“ Sachleistungsangeboten gibt, öffnen sich deutlich sichtbare Versorgungslücken im Netzwerk niedrig-schwelliger Angebote und ehrenamtlicher Dienste, wie z. B. Besuchsdienste. Die derzeitigen Diskussionen, Anstrengungen und Empfehlungen beziehen sich auf folgende Aspekte: Q eine Verbesserung und Differenzierung von Diensten hin zu mehr komplementären Angeboten, flege- und ManageQ die Entwicklung und Bereitstellung integrierter Pfl mentkonzeptionen in einer Art „Gesundheitszentrum“ – oder multidisziplinären Service-Netzwerken mit einem umfassenden Angebot an
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Q Q
Q Q
Q
Q
Q
Q Q
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Diensten, um die Angebotspalette in der Betreuung transparenter und effektiver zu gestalten, die Qualifi fikation und Einstellung professioneller Care- und Case-Manager, die Beseitigung von Versorgungslücken an den Schnittstellen zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor durch ein systematisches Entlassungsmanagement in Kooperation mit den Krankenhausärzten, flegenden anderen professionellen Diensten, den Hausärzten sowie den pfl Angehörigen, um einen Qualitätsverlust in der pfl flegerischen Versorgungskette für ältere Menschen zu verhindern und keine Informationen zu verlieren1, die Weiterbildung von professionellen Pflegekräften fl in geronto-psychiatrischer und geriatrischer Pflege, fl die Einführung von „präventiven Hausbesuchen“ – welche sich in Deutschland noch im Stadium des Modellversuchs befi finden und bisher nicht zu den professionellen Aufgaben zählen –, um die Situation von pflegenden fl Angehörigen und der unterstützungsbedürftigen älteren Menschen umfassend einschätzen zu können, die Mobilisierung neuer Versorgungs- und Selbsthilfepotenziale einschließlich Trainingskonzepten für Ehrenamtliche („Tagesmütter“) sowie die Einrichtung von Freiwilligen-Agenturen als inhärentem Bestandteil eines umfassenden Dienstleistungsnetzwerks, die Entwicklung von Diensten, die insbesondere auf die Bedürfnisse ethnischer Minderheiten abgestimmt sind2; bisher sind in Deutschland nur wenige Versuche unternommen worden, um auch aus den Erfahrungen anderer Länder zu lernen, einen weiteren Ausbau von Tagespfl flegezentren insbesondere im ländlichen Raum, um die Betreuung von Demenzkranken zu optimieren und fl Angehörige zu entlasten3, pflegende einen weiteren Ausbau von Kurzzeitpfl flegeplätzen, die Weiterentwicklung und Konturierung der Palliativpfl flegeeinrichtungen und Hospize mit gemischten Pfl flegearrangements, bestehend aus Ehrenamtlichen, pflegenden fl Angehörigen und professionellen Pfl flegekräften4,
1 Mit Blick auf die Einführung von Diagnosis Related Groups – DRGs – in deutschen Krankenhäusern, welche u. a. die Krankenhausverweildauer reduzieren sollen, bekommt diese Frage eine hohe Priorität auf der Agenda: Ältere Menschen werden mit einem höheren Bedarf an Unterstützung und Pflege fl aus dem Krankenhaus entweder in ihre häusliche Umgebung oder in stationäre Langzeitpfl flege entlassen. 2 Diese Frage wird in Deutschland nahezu vernachlässigt, und bis auf vereinzelte gerontologische und pfl flegewissenschaftliche Projekte und kommunale Aktivitäten besteht hier ein Mangel an umfassenden Versorgungskonzepten. 3 Dieses schließt auch die Entwicklung neuer Wohnformen jenseits der Dichotomie ambulant-stationär für Demenzkranke ein. 4 Dieser Bereich benötigt verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit, um dadurch auch die pflegenden fl Angehörigen zu entlasten, denn nur etwa 6% der 850.000 unheilbar Kranken oder Sterbenden in Deutschland werden in einer der 1310 ambulanten Hospizeinrichtungen, in 116 stationären Hospizen oder auf einer der 92 Palliativstationen, die es derzeit (2004) in Deutschland gibt, betreut.
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Q die Forschung zur Frage der Gewalt gegen ältere Menschen in Privathaushalten und stationären Pflegeeinrichtungen fl zu fördern (Meyer 2004).
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C. Multiprofessionelle Altenbetreuung in der Schweiz Peter Bäurle
Es freut mich, dass Herr Dr. Gatterer in der neuesten Ausgabe seines Handbuches das deutschsprachige Europa mit einbezieht. Inzwischen ist Altersforschung ein wichtiges Thema geworden, und doch sind noch viele Probleme ungelöst. Neben der Koordination der verschiedenen bereits vorhandenen Angebote bedarf es spezifischer fi Aus-, Fort- und Weiterbildung für alle im Altersbereich tätigen Disziplinen. In diesem Zusammenhang wird der Zusammenarbeit im deutschsprachigen europäischen Raum und darüber hinaus weltweit eine wichtige Rolle zukommen, um aus den Problemen alternder Gesellschaften echte Chancen für alte Menschen zu machen.
1 Einführung Am 1. Juli 2006 wurde in der Schweiz der Schwerpunkt Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie eingeführt. Damit gibt es erstmalig im deutschsprachigen Raum eine anerkannte Qualifi fikation für Psychiater, für Psychiatrie und Psychotherapie, die mit älteren Menschen arbeitet. Wir sehen dies als einen wichtigen Beitrag für die fachliche Entwicklung. Bei der Zusammenstellung der Angebote in der Schweiz war es unsere Aufgabe, auf einer begrenzten Seitenzahl die Situation möglichst umfassend darzustellen. Dafür mussten wir einige Darstellungen kürzen. Einige Angebote konnten nur exemplarisch dargestellt werden, und einige konnten wir gar nicht aufnehmen. Wir bitten alle betroffenen Institutionen um ihr Verständnis. Ich danke Frau cand. psych. Liliane Michlig und Frau cand. psych. Sandra Rötlisberger für ihre Mithilfe bei den Recherchen. Wir hoffen, dass diese Zusammenstellung für alte Menschen hilfreich ist. Die Anzahl älterer Menschen in der Schweiz nimmt laufend zu. Dementsprechend vielfältig sind die Bedürfnisse von Seniorinnen und Senioren.
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Im folgenden Kapitel erfahren Sie mehr zu den Fragen: Q Welche psychotherapeutischen Möglichkeiten für ältere Menschen gibt es? Q Welche Wohnmöglichkeiten gibt es für ältere Menschen? Q Wie sieht die finanzielle Unterstützung für Seniorinnen und Senioren aus? Q Welches sind die Anlaufstellen bei rechtlichen Fragen? Q Wie kann Freiwilligenarbeit zugunsten älterer Menschen geleistet werden? Q Welche Angebote gibt es im Bereich Gesundheit? Q Welche Möglichkeiten der Bildung stehen Seniorinnen und Senioren zur Verfügung? Q Wie sieht es aus mit Sport und Freizeit im Alter? Q Welche Möglichkeiten der fachlichen Fort- und Weiterbildung gibt es für Fachpersonen? Q Welche Angebote für ehemalige Psychotherapie-Patienten gibt es? Im Anschluss daran werden exemplarisch in der schweizerischen Altenbetreuung tätige Organisationen, namentlich die Pro Senectute, die Schweizerische Alzheimervereinigung, die Vereinigung aktiver Senioren- und Selbsthilfe-Organisationen der Schweiz (VASOS), die Schweizerische Stiftung Pro Mente Sana, die Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG), die Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie (SGAP) und die Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG-SSG), porträtiert. Ein genaues Verzeichnis der in diesem Beitrag erwähnten Organisationen einschließlich zusätzlicher Anlaufstellen findet sich am Schluss dieses Kapitels.
2 Verschiedene Lebensbereiche und deren Angebote Die stationäre Psychotherapie mit älteren Menschen in der Schweiz Am 1. 7. 1996 wurde mit der Station K1 der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen die erste Psychotherapiestation für ältere Menschen in der Schweiz eingerichtet. Zwischenzeitlich gibt es einige andere Kliniken, wie z. B. die Psychiatrischen Kliniken Littenheid, Schlössli und Münsingen, die über Psychotherapiestationen verfügen bzw. diese planen. Nach unseren Erfahrungen hat sich die stationäre Psychotherapie mit älteren Menschen als sinnvoll, notwendig und erfolgreich erwiesen. Alle der 12 Ärzte und Psychologen, die im Laufe der Jahre auf dieser Psychotherapiestation K1 tätig waren, haben ihre Vorstellungen dahingehend korrigiert, dass die alten Menschen viel mehr von Psychotherapie profi fitieren, als sie es sich vor Beginn ihrer Tätigkeit vorgestellt haben. Dies bedeutet, dass immer noch eine Reihe von Vorurteilen im Kollegenkreis überwunden werden muss. Bei den Patienten konnten wir feststellen, dass es äußerst selten zu Therapieabbrüchen kam; 98% haben ihre Therapie abgeschlossen. Der Anteil von Frauen
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und Männern hat sich im Laufe der Jahre geändert. Während zu Beginn Frauen die große Mehrheit waren, ist inzwischen der Anteil von Männern deutlich angestiegen. Eine wichtige Erfahrung war auch die Spezialisierung der einzelnen Stationen in der Alterspsychiatrie in Psychotherapiestation, Akutaufnahmestation mit Schwerpunkt Sucht und Memory Klinik, die zu einer wesentlichen Verbesserung der Situation unserer Patienten geführt hat.
Wohnmöglichkeiten für ältere Menschen Älteren Menschen stehen zahlreiche Wohnformen offen. Die meisten Seniorinnen und Senioren wohnen in Häusern oder Wohnungen, die sie entweder besitzen oder mieten. Ermöglicht wird dies durch die Hilfen zu Hause, die von öffentlichen oder privaten Institutionen (Spitex, Pro Senectute, Schweizerisches Rotes Kreuz) angeboten werden, durch die Unterstützung durch Angehörige, das Angebot an Tageszentren sowie die Freiwilligenarbeit. Wird die Betreuung einer älteren Person zu Hause schwierig, stellt sich die Frage, ob sie in eine spezialisierte Einrichtung eintreten soll (Heim, Pfl flegewohnung). Es gibt für ältere Menschen aber auch noch andere Wohnformen, die aus öffentlichen oder privaten Initiativen hervorgegangen sind, wie das Wohnen in kleinen Gemeinschaften und in Alterssiedlungen (Alterswohnungen mit Hotel- und Pfl flegeleistungen).
Finanzielle Unterstützungen Das Einkommen von älteren Menschen setzt sich aus verschiedenen Quellen zusammen: Q Renten der AHV und der Pensionskasse (berufl fliche Vorsorge, 2. Säule), Q Ergänzungsleistungen (EL): Sie können von AHV-Renten-Bezügerinnen und -Bezügern beantragt werden, wenn das restliche Einkommen nicht ausreicht, um die Existenzbedürfnisse zu decken, flosenentschädigung der AHV: Diese Entschädigung ist eine ErQ Hilfl gänzung zur AHV-Rente für Personen, die infolge gesundheitlicher Probleme Schwierigkeiten haben, die Verrichtungen des täglichen Lebens zu bewältigen (Aufstehen, Waschen, Essen, …), Q andere Renten: 3. Säule, Ersparnisse, etc., Q Sozialhilfe: Diese Hilfe kann von Personen beantragt werden, die sich in einer Notlage befi finden. Bevor die Sozialhilfe eingreift, sind die Familienmitglieder grundsätzlich verpflichtet, fl ihren bedürftigen Angehörigen zu helfen; sie können verpfl flichtet werden, für den Unterhalt dieser Personen aufzukommen, Q Finanzhilfe der Pro Senectute: Diese Stiftung bietet bedürftigen Personen punktuell eine Finanzhilfe.
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Die Kosten für die Pflege und Hilfe zu Hause sowie die Kosten für die Altersflegewohnungen) werden zum Teil von der Person einrichtungen (Heime, Pfl selbst, zum Teil von der Krankenkasse vergütet. Verschiedene öffentliche und private Institutionen bieten ebenfalls punktuelle Unterstützung. Ältere Menschen erhalten ausführlichere Informationen über die verschiedenen Arten der Finanzhilfen von den Pro-Senectute-Beratungsstellen in ihrem Kanton. Diese Stellen sind in der Lage, sie zu beraten und mit ihnen die Schritte zu besprechen, die sie unternehmen müssen. Die AHVGemeindezweigstelle erteilt Auskünfte über die AHV und das Anrecht auf Ergänzungsleistungen und Hilfl flosenentschädigung.
Rechtliche Fragen Der Rechtsbereich ist ein komplexes Feld. Je nach Fragestellung und Problem müssen unterschiedliche Rechtsgrundlagen beachtet werden. Eine unabhängige professionelle Beratung ist daher in den meisten Fällen sinnvoll. Rechtsberatungsdienste fi finden sich beispielsweise bei der schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana oder der Krebsliga Schweiz. Einige Kantone haben im Falle von Streitigkeiten Mediationsstellen (Ombudsstellen) geschaffen, an die man sich wenden kann, um sich bei allfälligen Problemen in Zusammenhang mit einem Alters- und Pflegeheim fl oder mit den Organisationen Spitex oder Pro Senectute beraten zu lassen. Nach dem Tod einer Person müssen die Angehörigen eine Reihe administrativer Aufgaben (Todesanzeige, Beerdigung, Nachlassverfahren) erledigen. Das Vermögen der verstorbenen Person wird auf ihre Erbinnen und Erben übertragen nach dem Willen, den sie zu Lebzeiten in einem Testament oder in einem Erbvertrag bekundet hat, und gemäß den Nachlassbestimmungen im Gesetz.
Freiwilligenarbeit Die Freiwilligenarbeit ist eine freiwillig erbrachte, gemeinnützige Arbeit, oft auch ehrenamtliche Arbeit genannt. Sie wird im Allgemeinen nicht bezahlt und von Einzelpersonen oder Personengruppen erbracht. Dieses soziale Engagement kann auf verschiedene Weise (Hausbesuche, administrative Unterstützung, Haushaltshilfen, manuelle Arbeiten, Unterricht, etc.) und in verschiedenen Bereichen (Gesellschaft, Religion, Umwelt, Sport, etc.) erfolgen. Ihre Gemeinde informiert Sie über die Freiwilligenarbeit und die verschiedenen Freizeitvereine in Ihrer Region, die Ihre ehrenamtliche Unterstützung gern in Anspruch nehmen. Die Pro Senectute, das Rote Kreuz und die verschiedenen Freiwilligenvereinigungen bieten oft spezifische Ratschläge und Ausbildungen für Personen an, die einer Freiwillifi genarbeit zugunsten von Seniorinnen und Senioren nachgehen. Der Sozialzeitausweis wurde mit dem Ziel geschaffen, die verschiedenen Formen der Freiwilligenarbeit einer Person zu bescheinigen. Dabei handelt es sich
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um eine Bescheinigung für nicht entlöhnte Arbeit, die – wie die Bescheinigung für entlöhnte Arbeit – eine Auflistung fl und ein Nachweis der Fähigkeiten und Fachkenntnisse ist, die eine Person während ihrer Freiwilligenarbeit unter Beweis gestellt hat. Beispielsweise betreibt der Verein Mensch und Spital in Münsterlingen (TG) seit 2003 eine Koordinationsstelle für Freiwilligendienst in den Spitälern von Münsterlingen. Es wurde ein Begleitdienst entwickelt, der das Pfl flegepersonal bei der Betreuung von Patienten unterstützt, wenn deren Familien nicht verfügbar sein können. Im Falle von dementen Patienten werden Freiwillige u. a. für Spaziergänge, Einkäufe, Besuche im Spitalrestaurant und Sitzwache oder Beschäftigung im Patientenzimmer eingesetzt. Diese Dienste werden von den betroffenen Patienten und dem Personal dankbar entgegengenommen und geschätzt.
Gesundheit im Alter Gesundheit und Prävention haben im Alter einen hohen Stellenwert. Präventive Maßnahmen können das Selbstvertrauen älterer Personen stärken und sie vor unliebsamen Erfahrungen im Alltag schützen. Verschiedene Institutionen engagieren sich stark in der Prävention. Von Bedeutung im Alter ist auch eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte Krankenversicherung. Bei den Spitex-Zentren ihrer Region, welche in der ganzen Schweiz ein Netz an Stützpunkten für Hilfe und Pflege fl zu Hause unterhalten, erhalten die älteren Leute Informationen über das System der Pflege fl und Hilfen zu Hause. Unter anderem setzt sich das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) dafür ein, die Gesundheit der Menschen zu erhalten, zu fördern oder wiederherzustellen. Zu diesem Zweck hat das SRK einen praxisorientierten Ratgeber „Selbstständig bleiben im Alter“ mit praktischen Tipps zu den Themen Schlaf, Gehör und Sehkraft, Blase und Darm, Umgang mit Schmerzen und Medikamenten etc. herausgegeben. In verschiedenen Publikationen hat das Nationale Sekretariat der Rotkreuz-Kantonalverbände zusätzliche wertvolle Ratschläge für Menschen zusammengestellt, die vor der Pensionierung stehen oder sich bereits im Ruhestand befi finden.
Bildung im Alter Viele ältere Menschen haben das Bedürfnis, sich auch nach der Pensionierung aktiv weiterzubilden. Verschiedene Institutionen bieten Ihnen eine breite Palette an Kursen, Vorlesungen und Vorträgen an. Die Mehrzahl der Schweizer Universitäten führt nebst den ordentlichen Fakultäten auch eine separate Seniorenuniversität. In deren Rahmen werden regelmäßig Veranstaltungen für Seniorinnen und Senioren organisiert. Die Dozentinnen und Dozenten rekrutieren sich oftmals aus dem Personal der entsprechenden Hochschule. Für die Teilnahmebedingungen und das genaue Kursangebot
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wenden Sie sich direkt an die entsprechenden Institute. Auf der Internetseite der Berner Seniorenuniversität finden sich die Kontaktadressen sämtlicher Schweizer Seniorenuniversitäten. Mit einem breiten Angebot für ältere Menschen im Bereich Bildung warten Pro Senectute sowie weitere Organisationen auf: Die Geschäftsstelle in Ihrem Kanton gibt Auskunft über die verschiedenen Kurse. Das Kompetenzzentrum für Gerontologie der Universität Zürich (ZfG) strebt die interdisziplinäre Vernetzung von Forschung und Lehre auf allen Gebieten der Alterswissenschaften an der Universität Zürich, der ETH Zürich und universitären Institutionen im In- und Ausland an. Darüber hinaus ist es Ziel des Zentrums, zwischen den Interessen von praktischer Altersarbeit, älteren Menschen, an den Alterswissenschaften Interessierten, Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit zu vermitteln. Es veranstaltet jedes Semester eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe zu wechselnden Themen des Alter(n)s, die sich an Studierende aller Fächer, Fachleute der praktischen Altersarbeit und die allgemeine Öffentlichkeit richtet.
Sport und Freizeit Durch regelmäßige Bewegung werden körperliche Beschwerden oft vermindert oder sogar beseitigt. Das Risiko von Herzkreislauf-Krankheiten wird dadurch erheblich gemindert. Zudem fördert angemessene körperliche Aktivität die geistige Fitness und eröffnet Kontakte zu Mitmenschen. Deshalb besteht im Bereich Seniorensport ein vielfältiges Angebot. Der Seniorensport in der Schweiz ist charakterisiert durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der öffentlich-rechtlichen Seite (Bund und Kantone) und Interessierten der privatrechtlichen Seite (Swiss Olympic, Verbände und Dachverbände im Sport, Pro Senectute, Kommerzielle, Private usw.). Magglingen (ESSM am Bundesamt für Sport) engagiert sich im Seniorensport Schweiz in der Ausbildung der Seniorensport-Leiter/innen und -Expert/innen. Die konkreten Angebote werden durch Vereine, Klubs, Interessengemeinschaften, Pro Senectute etc. zur Verfügung gestellt. Im Internet finden Sie unter www.seniorweb.ch das sozial- und gesellschaftspolitische Portal für die Generation 50+. Diese Internetplattform bietet Informationen zu wichtigen Themen, wie u. a. Politik, Partnerschaftssuche, Freizeitgestaltung sowie auch allgemeine Hilfe und Rat im Alter. Es gibt zudem einen Seniorclub und Foren, wo ältere Menschen miteinander in Kontakt treten und sich austauschen können.
Alterspsychotherapeutische Fort- und Weiterbildung Seit 1995 fi finden in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen alle zwei Jahre mehrtägige Symposien zur Alternspsychotherapie statt. Der Vormittag ist spezifi fischen Themen aus der Alternspsychotherapie gewidmet. Am Nachmittag werden Workshops zu wichtigen Themen aus dem Bereich der
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Alterspsychiatrie angeboten. Die Veranstaltung richtet sich an alle Disziplinen, die im Altersbereich tätig sind. Dies wird dadurch möglich, dass nachmittags 30 bis 50 Workshops angeboten werden, die von verschiedenen Fachdisziplinen geleitet werden. Die aktuellen Informationen zu diesen Symposien finden Sie im Internet unter www.alter-nativen.ch. Neben dieser Veranstaltung finden in Zusammenarbeit mit dem Lehrinstitut für Alternspsychotherapie in Kassel (Leitung: Prof. Dr. med. Radebold) Kurse in Alternspsychotherapie statt. Der Umfang dieser Kurse umfasst zirka 100 Stunden mit einem Selbstrefl flexionsteil zum Thema Altern im Umfang von zirka 25 Stunden.
Angebote für ehemalige Patienten Aus der Erfahrung, dass Menschen, die im Alter psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe bedürfen, oft über wenig soziale Kontaktmöglichkeiten verfügen, entstand auf der Psychotherapiestation für ältere Menschen K1 der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen die Idee für die Organisation von Ehemaligentreffen. Inzwischen hat sich der Club K1 gut etabliert. Es finden zirka viermal im Jahr Treffen von ehemaligen Patienten statt, die von ihnen flegefachfrau organisiert werden. Neben den eheselbst mit Hilfe einer Pfl maligen Patienten laden wir zu diesen Treffen auch unsere aktuellen Patienten ein. Für sie bietet der Club K1 die Möglichkeit, Menschen kennenzulernen, die in einer ähnlichen Situation wie sie selbst waren und ihre Krise überwunden haben, d. h. eine Möglichkeit, am Modell zu lernen. Für die ehemaligen Patienten ist der Club K1 eine wichtige soziale Kontaktmöglichkeit. Es sind auch zahlreiche persönliche Freundschaften entstanden, die über die Club-Treffen hinausgehen und intensiv gepfl flegt werden. Die Perspektive auf kommende Veranstaltungen gibt auch ein neues Ziel. Ein Großteil unserer ehemaligen Patienten kommt regelmäßig. Die Treffen erfreuen sich hoher Beliebtheit und steigender Teilnehmerzahlen. Für die Organisationsgruppe ist dies eine wichtige Aufgabe, die neben sinnvoller Tätigkeit für andere auch Anerkennung und Wertschätzung bietet. Inzwischen wurde das Modell Club K1 auch von anderen Kliniken übernommen, die ähnliche positive Erfahrungen machen konnten. Aktuelle Informationen finden Sie unter www.club-k1.ch. fi
3 Schweizerische Organisationen im Altersbereich Pro Senectute Schweiz Kurzportät Pro Senectute berät ältere Menschen und deren Angehörige unentgeltlich finanzielle Schwierigkeiten und diskret, unterstützt ältere Menschen, die fi haben, vermittelt Dienstleistungen für das Leben im eigenen Zuhause bis ins hohe Alter, verfügt über ein umfangreiches Angebot an Bildungskursen,
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Sportmöglichkeiten, Treffpunkten und Veranstaltungen und unterstützt damit auch den Kontakt zwischen den älteren Menschen und setzt sich im Bereich der Politik für gute Lösungen zugunsten der älteren Menschen ein. Wir sind für Sie da Das Alter hat viele Gesichter. Viele ältere Menschen möchten den neuen Lebensabschnitt aktiv gestalten. Andere brauchen einen Rat, eine Handreichung oder einen fi finanziellen Zustupf. Und die allermeisten schätzen gute mitmenschliche Kontakte. Weil das Alter viele Gesichter und Facetten hat, ist das Angebot von Pro Senectute äußerst vielfältig. Service nach Maß Pro Senectute verfügt über eine ganze Reihe von Dienstleistungen, die das Leben im eigenen Zuhause erleichtern. Einige Beispiele für den Service, den wir Ihnen bieten können: Wir bringen Mahlzeiten ins Haus, sorgen für die Erledigung der monatlichen Zahlungen und das Ausfüllen von Steuererklärungen, helfen bei der Reinigung, machen Mobilität möglich, unterstützen beim Wohnungswechsel – und sorgen für Besuche, die Abwechslung und Anregung in den Alltag bringen. Beratung und Unterstützung Auf einmal weiß man nicht mehr weiter, … oder plötzlich spürt man: Ich schaff’s nicht allein. Oder als Angehöriger erlebt man, wie man Verantwortung übernehmen muss für die eigenen alten Eltern – und kennt sich bei den Angeboten und Einrichtungen fürs Alter viel zu wenig aus. Für alle diese Fälle – und noch für viele mehr – verfügt Pro Senectute in der ganzen Schweiz über rund 120 Beratungsstellen. Die Stiftung berät unentgeltlich und kompetent bei persönlichen und finanziellen Fragen und Problemen. Sie kann Menschen in finanzieller fi Bedrängnis rasch und unkompliziert Unterstützung gewähren. Die volle Diskretion ist jederzeit gewährleistet. Die Pro-Senectute-Beratungsstellen sind da für die älteren Menschen selbst, aber auch für deren Angehörige. Fitness für Geist und Körper Älter werden ist ein Chance – auch eine Chance zur persönlichen Weiterentwicklung: Es lässt sich Neues entdecken. Für manches, das man in langen Berufs- und Familienjahren zurückgestellt hat, ist nun Zeit. Zeit, um sich selber mehr Aufmerksamkeit zu schenken, sich etwas zu gönnen, sich mehr zu bewegen. Zeit auch für andere, für Gespräche, für freiwilliges Engagement. Darum hält Pro Senectute ein vielfältiges Angebot an Bildungskursen, Sportmöglichkeiten, Treffpunkten und Veranstaltungen für Sie bereit. Und ist dankbar, wenn Sie sich freiwillig engagieren.
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Leistungsbereiche Der Leistungsvertrag, den Pro Senectute mit dem Bund abgeschlossen hat, weist den Kantonalen Pro-Senectute-Organisationen fünf Leistungsbereiche zu: Soziale Arbeit (Beratung und Unterstützung) Dazu gehören: Beratung von Einzelnen und deren Angehörigen bei allen Fragen der Lebensgestaltung im Alter, individuelle Finanzhilfe, Gemeinwesenarbeit. Sozialberatung Zur sozialen Arbeit gehören bei Pro Senectute insbesondere die Beratung von Einzelnen und deren Angehörigen – und zwar bei allen Fragen der Lebensgestaltung im Alter. Die Kantonalen Pro-Senectute-Organisationen verfügen insgesamt über ein Netz von gut 120 Beratungsstellen. Im Vordergrund der Beratungstätigkeit stehen die Bereiche Finanzen, Gesundheit, Wohnen, Recht und allgemeine Lebensgestaltung. Darüber hinaus werden von den Beratungsstellen Sach- und Dienstleistungen, die in den konkreten Lebenssituationen hilfreich sind, vermittelt. Ziel aller Beratungsarbeit ist die Unterstützung und Förderung der Fähigkeiten der Rat suchenden Person, das Leben eigenständig zu meistern. Sozialberatung mit Gruppen Neben der Sozialberatung mit Einzelnen gehört auch die Sozialberatung mit Gruppen zu den Angeboten im Bereich „soziale Arbeit“. Sie dient der gemeinsamen Problemlösung. Beispiele sind die Neuorientierung nach dem Verlust der Partnerin oder des Partners, die Auseinandersetzung mit der Demenzerkrankung eines oder einer nahen Angehörigen oder das Auffangen der psychischen Belastung als Folge intensiver Betreuungsaufgaben zu Hause. Hilfen zu Hause Dazu gehören: Haushilfedienst, Mahlzeitendienst, Treuhänderdienst, Besuchsdienst. Bildung Dazu gehören: Kurse zur Förderung geistiger, musischer und handwerklicher Fähigkeiten, Begegnungsmöglichkeiten, Ferienangebote. Sport und Bewegung Dazu gehören: auf die Bedürfnisse älterer Menschen abgestimmte Sportangebote wie Turnen, Schwimmen/Wassergymnastik, Langlauf.
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Information Dazu gehören: Medienarbeit sowie Mitarbeit und Präsenz an Veranstaltungen, die mit den Themen „Alter“ und „Altern“ in Verbindung stehen.
Schweizerische Alzheimervereinigung Kurzporträt In der Schweiz leiden rund 90.000 Menschen an einer unaufhaltsam fortschreitenden Hirnleistungsschwäche. Deren häufi figste Form ist die Alzheimerkrankheit. 1988 ist die Schweizerische Alzheimervereinigung gegründet worden. Ihr Ziel ist es, die Interessen von Alzheimer- und anderen Demenzkranken zu vertreten sowie Angehörige und Betreuende bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Sie tut das durch Information, Beratung und Vermittlung, durch Hilfe zur Selbsthilfe, durch den Aufbau von Angehörigengruppen, durch Entlastungsangebote sowie durch andere Dienstleistungen. Ferner informiert die Vereinigung Fachpersonen, Betroffene und die Öffentlichkeit. Sie hilft, optimale Betreuungsformen zu entwickeln und durchzusetzen. Die Schweizerische Alzheimervereinigung ist eine unabhängige, konfessionell und politisch neutrale, gemeinnützige Organisation mit Sitz in Yverdon-les-Bains. Sie umfasst rund 6.400 Mitglieder und über 125.000 Freunde und Gönner. Fast 500 Personen, darunter viele Freiwillige, Ehrenamtliche und Angehörige, setzen sich für die Vereinigung ein. Sie sind als Gruppenleiterin, Mitglied einer Kommission oder eines Vorstands tätig, arbeiten im Zentralsekretariat oder bei einer Sektion oder kümmern sich als Besucher oder Spazierbegleiterin um Kranke. Die Schweizerische Alzheimervereinigung Q setzt sich dafür ein, dass Bedingungen geschaffen werden, damit Menschen mit einer Demenz medizinisch und menschlich optimal betreut und ihre Angehörigen bei ihrer Arbeit (Einsatz in der Pfl flege und Betreuung) unterstützt und begleitet werden können; Q leistet Hilfe zur Selbsthilfe und fördert die Kompetenzen von Menschen mit einer Demenz, Angehörigen und professionellen Betreuern durch Information, Beratung und Unterstützung und Bildungsangebote; Q informiert und sensibilisiert die breite Öffentlichkeit und trägt zur Integration und Akzeptanz von Menschen mit einer Demenz und ihren Angehörigen in der Gesellschaft bei; Q engagiert sich für die Rechte von Menschen mit einer Demenz und ihren Angehörigen; Q ist politisch aktiv und nimmt Stellung, insbesondere zu sozial- und gesundheitspolitischen Fragen; Q fördert und vernetzt die interdisziplinären Beziehungen auf nationaler und internationaler Ebene; Q unterstützt und fördert Forschungsprojekte im Bereich Demenz (insbesondere Sozial- und Pfl flegeforschung).
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Beratung und Vermittlung Die Schweizerische Alzheimervereinigung ist in erster Linie für Menschen mit einer Demenz, für ihre Angehörigen und andere Betreuende da. Deshalb steht die Information und Beratung dieser Personen im Vordergrund. Hier finden Sie kompetente Hilfe: sei es am Alzheimer-Telefon (024 426 06 06), durch eine Anfrage per E-Mail (
[email protected]) oder durch die Broschüren, die die Alzheimervereinigung herausgibt. Alle Anfragen werden von Menschen beantwortet, die selbst viel Erfahrung in der Betreuung von Demenzkranken mitbringen.
Vereinigung aktiver Senioren- und Selbsthilfe-Organisationen der Schweiz (VASOS) Kurzportät Die VASOS (Vereinigung aktiver Senioren- und Selbsthilfe-Organisationen der Schweiz) wurde 1990 anlässlich der Seniorenmesse in Zürich als nationale Dachorganisation mit koordinativen Aufgaben für Seniorenorganisationen und Gruppierungen gegründet. Struktur der VASOS Der VASOS gehören 26 Organisationen in der ganzen Schweiz an (Stand 2004). Sie ist demokratisch organisiert. Alle Mitglieder-Organisationen ernennen Delegierte gemäß ihrer Mitgliederzahl. Schweizerischer Seniorenrat (SSR) Gemeinsam mit dem Schweizerischen Senioren- und Rentnerverband veranlasste die VASOS die Schaffung des Schweizerischen Seniorenrates (SSR) als von der älteren Generation selber gewähltes Beratungsorgan für Bundesrat und Parlament. Der Seniorenrat hat sich zum Ziel gesetzt, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen sowie die Autonomie und die Würde der älteren Menschen zu wahren. Als beratendes Organ des Bundesrats in Altersfragen setzt sich der SSR bei Gesetzesentwürfen und -änderungen ein, die ältere Menschen betreffen. Leitbild VASOS Die VASOS ist eine nationale Dachorganisation von Gruppierungen aktiver Seniorinnen und Senioren. Sie ist politisch unabhängig und konfessionell neutral. Die VASOS verfolgt namentlich folgende Ziele: Q die Verbesserung der sozialen Stellung der älteren Generation, Q den Schutz vor Diskriminierung gemäß Art. 8 der Bundesverfassung; die VASOS lehnt jede Ausgrenzung in politischen und wirtschaftlichen Organisationen, Behörden und Gremien aufgrund des Alters ab,
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Q die angemessene Vertretung der älteren Generation in Gremien aller Art, in denen über ihre Interessen entschieden wird, sowie die Schaffung einer Vertretung der älteren Menschen (z. B. Seniorenrat), die als anerkannter Partner zwischen den Bundesbehörden und den Senioren, -innen und ihren Organisationen wirkt. Partizipation in der Gesellschaft Die VASOS setzt sich für die gesellschaftliche Stellung und die Integration der Senioren, -innen in der Gesellschaft ein. Sie fördert die Selbsthilfe und die Selbstorganisation der Senioren, -innen, den Austausch von Erfahrungen und den Dialog zwischen den Generationen. Sie versteht sich als Forum, das den Senioren, -innen die gemeinsame Diskussion und die öffentliche Vertretung ihrer Anliegen ermöglicht. Sozialpolitische Ziele Die VASOS setzt sich für existenzsichernde Sozialwerke, insbesondere bei den AHV/IV-Renten, ein. Solange zur Erreichung dieses Zieles Ergänzungsleistungen notwendig sind, muss dafür ein klarer Rechtsanspruch und eine Informationspfl flicht der Behörden gegenüber den Berechtigten bestehen. Im Gesundheitswesen setzt sich die VASOS für die umfassende Information und die Selbstbestimmung der Patienten auch im Alter ein. Insbesondere wendet sie sich entschieden gegen jede Verweigerung medizinischer Leistungen oder von Therapien, die der Rehabilitation dienen, allein aufgrund des Alters.
Schweizerische Stiftung Pro Mente Sana Pro Mente Sana kämpft für gesicherte Rechte sowie die soziale und berufliche Integration der psychisch kranken und behinderten Menschen. Die Stiftung bietet Beratung, vielfältige Informationen und Möglichkeiten zur Diskussion zwischen betroffenen Personen, Angehörigen und Fachleuten an. Sie wirbt in der Öffentlichkeit um Verständnis für die Betroffenen.
Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG) Kurzvorstellung Diese ist seit dem 1. 1. 2000 eine Standesorganisation der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), die sich als medizinische Sektion in der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie SGG-SSG formieren konnte und sich heute als deren Schwestergesellschaft bezeichnet. Die SFGG hat zum Zweck, ein Ort der Begegnung und ein Diskussionsforum für Geriater/Geriaterinnen und die anderen in der Schweiz im Be-
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reiche der Geriatrie tätigen Ärztinnen und Ärzte zu sein; die Aufgaben im Bereich der Weiterbildungs- und der Fortbildungsordnung der FMH für das Schwerpunktgebiet Geriatrie in Zusammenarbeit mit der SGAM (Schweizerische Gesellschaft für Allgemeinmedizin) und der SGIM (Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin) wahrzunehmen; sich für eine qualitativ hochstehende Geriatrie einzusetzen und zur Sicherung deren Qualität beizutragen; die Zusammenarbeit mit den anderen Berufen und Personenkreisen, die sich mit den körperlichen, psychischen und sozialen Vorgängen im Laufe des Alterns befassen, zu pflegen; fl die Forschung und Entwicklung im Gebiete der Geriatrie anzuregen und zu unterstützen und den akademischen Nachwuchs zu fördern; die Erkenntnisse in der Geriatrie und Gerontologie der Ärzteschaft zugänglich zu machen; das Verständnis für die Geriatrie und die Gerontologie bei allen Partnern im Gesundheitswesen und in der Öffentlichkeit zu fördern; für die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder unter Berücksichtigung der Anliegen der ganzen Ärzteschaft einzutreten; sich als ein aktiver und anerkannter Partner der ihr verwandten nationalen und internationalen Organisationen zu betätigen. Im Vorstand arbeiten neun gewählte Personen zusammen, die alle die Weiterbildung in Geriatrie abgeschlossen haben. Fünf davon sind die Leitenden der ständigen Kommissionen, und vier werden im Zweijahresrhythmus gewählt, was bedeutet, dass auch das Präsidium alle zwei Jahre weitergegeben wird. Dr. med. Daniel Grob, Klinik für Akutgeriatrie, Stadtspital Waid, Zürich, ist zurzeit Präsident; er wird 2007 von Dr. med. Regula Schmitt-Mannhart, leitender Ärztin, Tilia Pflegezentren, fl Ittigen, abgelöst werden.
Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie (SGAP) Die SGAP ist ein ärztlicher Fachverband von Psychiater, -innen und Psychotherapeuten, -innen, welche sich speziell mit psychischen Erkrankungen alter Menschen befassen. Die Alterspsychiatrie ist Teil der Psychiatrie. Die SGAP ist eine Tochtergesellschaft der SGPP (Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie). Die SGAP ist konfessionell und politisch unabhängig. Sie vertritt ein biopsychosoziales Modell mit spezieller Berücksichtigung von ethischen Aspekten.
Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG-SSG) Die SGG-SSG ist ein Verein im Sinne von Art. 60 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. Als Fachorganisation vernetzt sie Personen und Institutionen, die an der Erforschung von Alterungsvorgängen engagiert und in der praktischen Altersarbeit und -pfl flege tätig sind. Die SGG-SSG wurde
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1953 gegründet und ist, gemessen an der Schweizer Bevölkerungszahl, weltweit eine der größten gerontologischen Gesellschaften. Die SGG-SSG zählt über 1100 Mitglieder (Einzelmitglieder 90%, Kollektivmitglieder 10%). Die SGG-SSG ist durch die „International Association of Gerontology IAG“ weltweit mit allen nationalen gerontologischen Gesellschaften verbunden. Tagungen Die SGG-SSG führt regelmäßig wissenschaftliche Tagungen, Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen durch. Als Dachorganisation steht die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Vordergrund. Die fachspezifi fische Bildung inner- und außerhalb der SGG-SSG wird hauptsächlich von den Fachgruppen und -gesellschaften organisiert und angeboten. Finanzen Die SGG-SSG ist eine Non-Profi fit-Organisation. Ihre Ausgaben werden über die Beiträge der Mitglieder, freiwillige Zuwendungen, Tagungseinnahmen und einen Beitrag des Bundes gedeckt. Gerontologie Unter diesem Begriff werden alle Disziplinen zusammengefasst, die sich in Forschung und Praxis mit den körperlichen, psychischen und sozialen Vorgängen im Laufe des Alterns befassen.
4 Adressenverzeichnis Adlatus, Vereinigung erfahrener Führungskräfte, Geschäftsstelle, Postfach, CH-4603 Olten, Tel. 062 206 06 18, Fax 062 206 06 07; www.adlatus.ch; E-Mail:
[email protected] Allez-Hop, Programm des Bundesamtes für Sport, Swiss Olympic u.a., Schweizerhaus, Alpenstrasse 25, CH-2532 Magglingen, Tel. 032 327 61 90, Fax 032 327 61 98; www. allez-hop.ch E-Mail:
[email protected] Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Budgetberatungsstellen (ASB), Sekretariat, Hashubelweg 7, CH-5014 Gretzenbach, Tel. 062 84942 45, Fax 062 84942 45; www. asbbudget.ch Benevol Schweiz, Verein Fach- und Vermittlungsstelle für Freiwilligenarbeit, Schwarztorstrasse 20, CH-3007 Bern, Tel. 031 39840 85, Fax 031 39840 86; www.benevol.ch; E-Mail:
[email protected] Bundesamt für Gesundheit, Strahlenschutz, CH-3003 Bern, Tel. 031 322 21 11, Fax 031 322 95 07; www.bag.admin.ch; E-Mail:
[email protected] (Anfrage betreffend Strahlenschutz)
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Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) (Beratung, Merkblätter Rentenvorausberechnung, AHV/IV, Ergänzungsleistungen, Betreuungsgutschriften, Hilflosenentfl schädigung), Effi fingerstrasse 20, CH-3003 Bern, Tel. 031 322 90 11, Fax 031 322 78 80; www.bsv.admin.ch oder www.ahv.ch oder kantonale/regionale/kommunale Ausgleichskassen der AHV/IV Call Center Handicap, CH-3900 Brig (Broschüre, Reservation Begleitservice für Rollstuhlfahrende, andere Behinderte beim Umsteigen in Bahnhöfen), Schweizerische Bundesbahnen (SBB), Tel. 0800 007 102 Caritas Schweiz (Patientenverfügung, Sterbebegleitung), Löwenstrasse 3, Postfach, CH-6002 Luzern, Tel. 041 419 22 22, Fax 041 419 24 24; www.caritas.ch; E-Mail:
[email protected] Compagna: SOS-Bahnhofhilfe in größeren Bahnhöfen und Reisebegleitung; Zentralsekretariat, Reckenbühlstrasse 21, CH-6005 Luzern, Tel. 041 312 11 73, Fax 041 312 11 74; www.compagna.ch; E-Mail:
[email protected] oder
[email protected] oder
[email protected] Curaviva, Verband Heime und Institutionen Schweiz (Adressen Heime), Lindenstrasse 38, CH-8008 Zürich, Tel. 044 385 91, Fax 044 385 91 99; www.curaviva.ch; E-Mail:
[email protected] Dachverband Schweizerischer PatientensteIlen (DVSP) (Patientenverfügung, Broschüren, Merkblätter, diverse Ausweise); Hofwiesenstrasse 3, Postfach, CH-8042 Zürich, Tel. 044 361 92 56, Fax 044 361 94 34; www.patientenstelle.ch; E-Mail:
[email protected] Dargebotene Hand: Tel. 143 oder www.143.ch (Online-Beratung) Dialog Ethik (Patientenverfügung), Sonneggstrasse 88, CH-8006 Zürich, Tel. 044 252 42 01, Fax 044 252 42 13; www.dialog-ethik.ch; E-Mail:
[email protected] donna mobile, Arbeitsgemeinschaft Osteoporose Schweiz (diverse Broschüren zum Thema, Risikotests), Postfach 270, CH-3000 Bern 7, Tel. 031 3124555, Fax 031 3124556; Osteoporose helpline 0848 80 50 88; www.donna.ch; E-Mail: donnamobile@donna. ch Förderverein für den Spitalstandort Münsterlingen, Freiwilligenarbeit, Postfach 149, CH-8596 Münsterlingen, Tel. 071 686 26 50, Fax 071 686 26 77; www.mensch-undspital.ch Herzstiftung Schweiz (Informationen, Broschüren); Schwarztorstrasse 18, Postfach, CH-3000 Bern 14, Tel. 031 388 80 80; Herz-Telefon: 0848443278 (Beratung deutsch, Niedertarif), Fax 031 388 80 88; www.swissheart.ch; E-Mail:
[email protected]; Kantonale Ärztegesellschaften (Anfrage Ombudsstellen): siehe Telefonverzeichnisse Kantonale unabhängige Beschwerdestellen für das Alter: siehe Telefonverzeichnisse oder bei den regionalen Pro-Senectute-Stellen Krebsliga Schweiz (Dolometer Schmerz, Schmerztagebuch, Broschüre), Postfach 8219, CH-3001 Bern, Tel. 031 38991 00, Fax 031 38991 60; www.krebsliga.ch; E-Mail:
[email protected]; Krebstelefon: 0800 55 88 38 oder
[email protected]; regionale Krebsligen: siehe Telefonverzeichnisse
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Ombudsman der sozialen Krankenversicherung (Beratung Krankenversicherung), Morgartenstrasse 9, CH-6003 Luzern; Tel. 041 226 10 10, Fax 041 226 10 13; www. ombudsman-kv.ch; E-Mail:
[email protected] Pro audito schweiz, vormals Bund Schweizerischer Schwerhörigenvereine (BSSV) (Beratung, Kurse, Ferien, Broschüren), Schaffhauserstr. 7, Postfach, CH-8042 Zürich; Tel. 044 363 12 00, Fax 044 363 13 03; www.pro-audito.ch; E-Mail: info@pro-audito. ch und Hörmittelzentralen: siehe Telefonverzeichnis Pro Senectute Schweiz (PS), Geschäfts- und Fachstelle (Freiwilligenarbeit, Kursangebote, Sportangebote, Beratungen, Betreuungsvertrag, Dienstleistungen, Ferienangebote, Wohnberatung), Lavaterstrasse 60, CH-8027 Zürich, Tel. 044 283 89 89, Fax 044 283 89 80; www.pro-senectute.ch; E-Mail:
[email protected] Retina Suisse, Fachstelle und Selbsthilfeorganisation für Menschen mit degenerativen Netzhauterkrankungen (Info, Beratung, Broschüren), Ausstellungsstrasse 36, CH-8005 Zürich, Tel. 01 444 10 77, Fax 01 444 10 70; www.retina.ch; E-Mail: info@ retina.ch Rheumaliga Schweiz (Beratungen, Kurse, Broschüren/Merkblätter), Renggerstrasse 71, CH-8038 Zürich, Tel. 044 4874000, Fax 044 487 40 19; www.rheumaliga.ch; E-Mail:
[email protected] SAHB Hilfsmittelberatung für Behinderte, Geschäftsstelle, Industrie Süd, Dünnernstrasse 32, 4702 Oensingen, Tel. 062 388 20 20, Fax 062 388 20 40; www.sahb.ch; E-Mail:
[email protected]; und Exma Hilfsmittel-Ausstellung Oensingen; E-Mail:
[email protected] Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften; diverse medizinischethische Richtlinien und Empfehlungen; Petersplatz 13, CH-4051 Basel, Tel. 061 2699030, Fax 061 2699039; www.samw.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerische Alzheimervereinigung (Beratung, Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen, Ferien), Rue des Pecheurs 8, CH-1400 Yverdon-Ies Bains, Tel. 024 426 20 00, Fax 024 426 21 67; www.alz.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerische Diabetesgesellschaft (Beratung, Diabetesausweis), Rütistrasse 3A, CH-5400 Baden, Tel. 056 200 17 90, Fax 056 200 17 95; www.diabetesgesellschaft.ch; E-Mail:
[email protected] oder Regionalsteilen: siehe Telefonverzeichnisse Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG), Geschäftsstelle: Pia GrafVögeli, Spital Bern-Zigler, CH-3001 Bern, Tel. 031 970 77 98, Fax 031 970 78 05; www.sgg-ssg.ch Schweizerische Fachstelle für Alkohol und andere Drogenprobleme (SFA), Avenue Louis-Ruchonnet 14, Case postale 870, CH-1001 Lausanne, Tel. 021321 2911, Fax 021321 2940; www.sfa-ispa.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie (SGAP) Präsidentin: Frau Dr. med. Eva Krebs-Roubicek, Psychiatrische Universitätsklinik Basel, Postfach, CH-4025 Basel, Tel. 061 325 53 55, Fax 061 325 55 85; www.sgap-sppa.ch. Schweizerische Gesellschaft für Blasenschwäche (Beratung, Broschüren, Merkblätter), Gewerbestr. 12, CH–8132 Egg, Tel. 044 994 74 30, Fax 044 994 74 31; www.inkontinex.ch; E-Mail:
[email protected]
Multiprofessionelle Altenbetreuung in der Schweiz
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Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE) (Beratung, Info, Broschüren), Effinfi gerstrasse 2, Postfach 8333, CH-3001 Bern, Tel. 031 385 0000, Fax 031 385 0005; Beratungstelefon 032 385 00 08; www.sge-ssn.ch; E-Mail:
[email protected] oder Beratungsmail:
[email protected] Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG-SSG) Geschäftsstelle, Spital Bern Ziegler, Morillonstrasse 75, CH-3007 Bern; www.sgg-ssg.ch Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pfl flege und Begleitung (Broschüre, Info über Beratungsstellen, Institutionen), F. Stiefel, Prof. Dr. med., Service de Psychiatrie de Liaison-CHUV, CH-1011 Lausanne, Tel. 021 314 1090, Fax 021 314 1098; www.palliative.ch; regionale Sektionen: siehe Telefonverzeichnisse Schweizerische Parkinsonvereinigung, Gewerbestrasse 12a, Postfach 123, CH-8132 Egg, Tel. 044 984 01 69, Fax 044 984 03 93; www.parkinson.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerischer Podologen-Verband (Adressen ausgebildeter Podologen); Tribschenstrasse 7, Postfach 3045, CH-6002 Luzern; Tel. 041 368 58 00; Fax 041 368 58 59; www.podologen.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerisches Rotes Kreuz (SRK), Zentralsekretariat (Freiwilligenarbeit, Kursangebote, Dienstleistungen wie Rotkreuzfahrdienst, Notruf, Infobroschüren), Rainmattstrasse 10, CH-3001 Bern, Tel. 031 38771 11, Fax 031 38771 22; www.redcross.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerischer Samariterbund (SSB) (Freiwilligenarbeit, Kursangebote, Dienstleistungen FSH), Martin-Disteli-Strasse 27, CH-4601 Olten, Tel. 062 286 02 00, Fax 062 286 02 02; www.samariter.ch; E-Mail: offi fi
[email protected] Schweizerischer Seniorenrat (SSR) (politische Tätigkeit), do Pro Senectute Region Bern, Muristrasse 12, Postfach, CH-3000 Bern 32, Tel. 031 359 03; www.ssr-csa.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerischer Senioren- und Rentner-Verband (SSRV), Zentralsekretariat (politische Tätigkeit, Vorsorgevollmacht), Ziegelbrückstrasse 31, CH-8872 Weesen, Tel. 055 616 51 04; www.ssrv.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerische Stiftung pro mente sana (u.a. Rechtsberatung, Merkblätter), Hardturmstrasse 261, CH-8031 Zürich, Tel. 044 563 86 00, Fax 044 563 86 17; Beratungstelefon 0848 800 858 (gebührenpfl flichtig); www.promentesana.ch; E-Mail: kontakt@ promentesana.ch Schweizerische Vereinigung der Fahrlehrerverbände (SVFV) (Fahrtest mit Fahrlehrer für Senioren), Sieberstrasse 5, CH-8055 Zürich, Tel. 044 454 30 03, Fax 044 454 30 09; www.fahrlehrer.ch; E-Mail:
[email protected] Schweizerische Vereinigung gegen Misshandlung im Alter (Alter «Ego»), (Broschüre, vorläufi fig nur französisch); Pro Senectute Suisse, Secretariat romande, Rue du Simplon 23, CH-1800 Vevey, Tel. 021 925 70 10 Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen (SZB), Dachorganisation von Organisationen / Institutionen im Sehbehindertenwesen auch taubblinder und hörsehbehinderter Menschen (Broschüren, Bibliothek, Auskunft über regionale Beratungsangebote, Selbsthilfegruppen), Schützengasse 4, CH-9000 St. Gallen,
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P. Bäurle: Multiprofessionelle Altenbetreuung in der Schweiz Tel. 071 223 36 36, Fax 071 222 73 18; www.szb.ch; E-Mail:
[email protected]; und Beratungsstellen für Sehbehinderte und Blinde: siehe Telefonverzeichnisse
Seniorweb Verein, Geschäftsstelle: Rosenbergstrasse 8, CH-8353 Elgg;
[email protected]; www.Seniorweb.ch Spitex Verband Schweiz (Hilfe und Pflege fl zu Hause), Belpstrasse 24, Postfach 329, CH-3000 Bern 14, Tel. 031 381 22 81, Fax 031 381 22 28; www.spitexch.ch; E-Mail:
[email protected]; regionale, lokale Spitexvereine: siehe Telefonverzeichnisse Stiftung Kreatives Alter (Preisausschreiben für hervorragende und originelle Leistungen in den Bereichen Romane, Hörspiele; Theateraufführungen von Laiengruppen, musikalische Kompositionen von Einzelpersonen oder Personengruppen über 65 Jahre und nicht mehr berufstätig), Postfach 2999, CH-8022 Zürich, Tel. 044 283 50 05; Fax 044 283 50 06; www.creatrixsenectus.ch; E-Mail:
[email protected] Touring Club Schweiz (TCS) (Fahrtest, -kurse für Senioren), Chemin de Blandonnet 4, CH-1214 Vernier, Tel. 022 417 20 30, Fax 022 417 20 20; www.tcs.ch; E-Mail:
[email protected] oder Sektionen: siehe Telefonverzeichnisse Toxikologisches Informationszentrum, Freiestrasse 16, Postfach, CH-8028 Zürich, Tel. 044 634 10 20, Fax 044 252 88 33, Notfallnummer (24 h): 145; nicht dringende Fälle: 044 251 66 66; www.toxi.ch; E-Mail:
[email protected] Unabhängige Beschwerdestellen für das Alter (Beratungen, Anlaufstelle für Misshandelte und Misshandelnde aus der ganzen Schweiz); Malzstrasse 10, CH-8045 Zürich, Tel. 044 463 00 11; E-Mail:
[email protected] Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) (Patientenverfügung), Generalsekretariat, Elfenstrasse 18, CH-3000 Bern 16, Tel. 031 359 11 11, Fax 031 359 11 12; www.fmh.ch; E-Mail:
[email protected] Vereinigung aktiver Senioren- und Selbsthilfe-Organisationen der Schweiz (VASOS) (politisches Engagement), Postfach, CH-8027 Zürich, Tel. 044 283 89 95, Fax 044 283 89 80; www.vasos.ch; E-Mail:
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Qualitätssicherung in der Altenbetreuung Gerald Gatterer
Qualitätssichernde Maßnahmen sind gerade bei der Betreuung älterer Menschen besonders wichtig. Dazu zählen einerseits strukturelle Maßnahmen, die baulichen Verhältnisse, das Personal, aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen. Besonders wichtig ist die Refl flexion der Ziele und wie der Kunde bei der Zielerreichung, auch bei Krankheiten wie etwa einer Demenz, mit einbezogen werden kann. Unsere Zeit ist durch einen Wechsel von Bedürfnissen und Angeboten charakterisiert. Im Bereich der Altenbetreuung ist es insofern besonders wichtig, sich auf diese Veränderungen rechtzeitig einzustellen.
1 Einleitung Maßnahmen zur Sicherstellung und Verbesserung der Qualität der Versorgung und Behandlung von älteren Menschen mit körperlichen und/oder psychischen Erkrankungen werden gerade in letzter Zeit vermehrt in den Mittelpunkt von Reformstrategien im Gesundheitswesen gestellt (Hauke 1994; Laireiter 1997). Dieser Trend wird sich in Hinkunft, vor allem auch aus Gründen der Ressourcenknappheit, des größeren Konkurrenzdruckes durch private Anbieter und eines immer mündiger werdenden Patienten, noch verstärken. So werden etwa im Wiener Krankenanstaltenverbund vermehrt Bestrebungen in dieser Richtung bei der Neu- bzw. Umstrukturierung von Krankenanstalten, Pflegeheimen fl und Geriatriezentren unternommen (Naegler 1995; Grün 1998; Grün und Sommeregger 1998). Neben allgemeinen und spezifischen fi strukturellen Verbesserungen, wie etwa einer verbesserten Hotelqualität, kommt gerade der Sicherstellung und Verbesserung der Behandlungsleistungen eines Arztes, einer Pflegefl person, aber auch eines Psychologen oder Psychotherapeuten eine wesentliche Bedeutung zu. Ziel der Maßnahmen der Qualitätssicherung muss es sein, vorhandene fizite in der Qualität sichtbar und erkennbar zu machen und einen VerDefi änderungsprozess auszulösen. Die einzelnen Bereiche dürfen sich nicht mit vorhandenen Mängeln abfi finden bzw. resignieren. In Krankenanstalten
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kommt deshalb insbesondere den Führungskräften eine neue Aufgabe zu, nämlich für gute Qualität zu sorgen. Die vorliegende Arbeit versucht deshalb, neben einer Einführung in die Begriffe des Qualitätsmanagements, deren Übertragbarkeit auf den Bereich der extramuralen und intramuralen Betreuung älterer Menschen zu diskutieren. Hinsichtlich weiterführender Literatur in Bezug auf Qualitätsmanagement sei auf Juran (1993), Kaltenbach (1993) und Grossmann (1997) verwiesen.
2 Begriffsdefi finitionen Qualität Was ist Qualität? In der Alltagssprache hat Qualität viele verschiedene Bedeutungen. Sie reichen von der Beschaffenheit von Gütern oder Dienstleistungen, über den Wert eines Objektes, bis hin zu Sinneseindrücken. Oft sind diese Qualitätsbegriffe für sich nicht unmittelbar mit dem Eindruck von positiv oder negativ verbunden (z. B. süß oder sauer) und erhalten erst fi oder individuelle Bewertungen eine Bedeutung durch situationsspezifische für den Betroffenen. Im Allgemeinen hängt also die Bedeutung des Begriffs „Qualität“ vom jeweiligen Verwender eines Gutes oder dem Empfänger einer Dienstleistung ab. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass ein Vergleich zwischen den Zielen und dem Grad der Zielerreichung hergestellt wird. Als Qualität bezeichnet man demnach „die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes, eines Prozesses oder einer Dienstleistung, die sie zur Erfüllung vorgegebener Erfordernisse geeignet machen“ (Hauke 1994, 7). Aus dieser Defi finition können für den Bereich des Gesundheitswesens zwei zentrale Qualitätsbegriffe in Abhängigkeit von den spezifischen fi Kunden der Leistung abgeleitet werden, nämlich Qualität aus einer fachlich leistungsbezogenen Sicht (Organisation/Arzt/Pfl flegeperson/Psychologe/ Krankenkasse/Krankenhaus/…) oder aus der Sicht des Kunden (Patienten/ Klienten). Ersterer bezieht sich darauf, inwieweit diese Dienstleistung gut organisiert ist, die nötigen Mittel zur Verfügung stehen bzw. sie fachlich richtig erbracht wurde. Sie beruht auf der Struktur der Organisation, dem Ablauf der entsprechenden Betreuung, Versorgungsprozessen, der Ausbildung der Mitarbeiter, deren Fachkompetenz, notwendigen Zusatzausbildungen u. dgl. Insofern kommt zur Wahrung von Qualität auch gesetzlichen Bestimmungen (Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, fl Pfl flegeheimgesetz, …) eine wesentliche Bedeutung zu. Qualität aus der Sicht des Patienten wird durch seine subjektive Wahrnehmung bestimmt. Dabei werden individuelle Qualitätskriterien, je nach fi Anspruchs- bzw. Erwartungsniveau, festgelegt. dem spezifischen Da am Zustandekommen von Leistungen im Gesundheitssystem unterschiedliche Ebenen (Dimensionen) im Spiel sind, die in unterschiedlichem Abstand zum tatsächlichen Leistungsprozess (Diagnostik, Behandlung) ste-
Qualitätssicherung in der Altenbetreuung
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hen, wird der Qualitätsbegriff in Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (Donabedian 1966) unterteilt. Donabedian versteht diese Zuordnung jedoch finition, sondern als einen Ansatz zur Qualitätsmessung. nicht als Defi Unter Strukturqualität werden im Gesundheitssystem die im Zeitablauf relativ konstanten Charakteristika des Leistungserbringers selbst, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen und die physische und organisatorische Umgebung, in der er arbeitet, verstanden. Dazu zählen auch die menschlichen, technischen und finanziellen Voraussetzungen seiner Arbeit. In Anlehnung an Gutzwiller (1982) lässt sich Strukturqualität auf folgende Elemente zurückführen: Q persönliche Elemente: dazu gehören die Art und Anzahl des Personals, dessen Ausbildung, sowie dessen fachliche (und auch persönliche) Qualifi fikationen; Q materielle Elemente: diese beinhalten die Art und den Umfang der materiellen Ausstattung sowie die zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen; Q organisatorische Elemente: sie beziehen sich auf den Aufbau der Organisation sowie die Kooperation mit Unterorganisationen (z. B. Primärprozess: Behandlung eines Patienten / Sekundärprozesse: Anmeldung, Sekretariat, …); Q Systemelemente: hier steht das Gesundheitswesen als Gesamtheit im Mittelpunkt, d. h. seine Struktur, die vorhandenen Mittel, die Finanzierung und externe Regulationen. Prozessqualität gilt als eine der wichtigsten Kategorien im System Donabedians. Sie umfasst alle Maßnahmen, die im Laufe einer Intervention (Aufnahme, Diagnostik, Behandlung, Nachbetreuung, …) unter Berücksichtigung der jeweils spezifi fischen Situation und individuellen Krankheitsmerkmale des Patienten ergriffen – oder nicht ergriffen – worden sind. Sie geht davon aus, dass die Ergebnisse dieser Maßnahmen dann am besten sind, wenn die Maßnahme selbst nach nachvollziehbaren bzw. nachprüfbaren Regeln erfolgt, die den Stand des Wissens der entsprechenden mefl psychologischen oder sonstigen Intervention dizinischen, pflegerischen, widerspiegeln. Grundlage sind deshalb professionell anerkannte Standards, an denen sich die Maßnahme orientieren kann. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass die Prozessqualität lediglich ein indirektes Maß für die Qualität einer Behandlung darstellt. Auch eine noch so perfekte Durchführung garantiert noch nicht ein optimales Ergebnis, und umgekehrt muss eine schlechte Durchführung noch lange nicht heißen, dass auch das Ergebnis schlecht ist. Das Ergebnis (Ergebnisqualität) einer Maßnahme stellt die eindeutigste Bezugsbasis für eine Qualitätsbeurteilung dar. Jede Maßnahme wird letztlich daran gemessen, ob sie zu einer Ergebnisverbesserung beigetragen hat oder nicht. Im Gesundheitswesen unterliegt diese Variable nicht nur den Einflüssen fl des tatsächlichen Leistungserbringers, sondern auch einer Vielzahl anderer Faktoren. So ist die Messung der Ergebnisqualität vom Zeit-
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punkt der Erhebung abhängig. Je länger nach Durchführung einer Maßnahme gemessen wird, umso geringer ist der tatsächliche Bezug zu dieser. Andererseits sind manche Ergebnisse erst nach langer Zeit messbar und beurteilbar. Das Ergebnis (outcome) umfasst sehr verschiedene Facetten der Behandlung von der rein medizinischen Änderung des Gesundheitszustands, fl der sozialen und psychologischen Funktionen des über die Beeinflussung Patienten, bis hin zu gesundheitsbezogenen Bewusstseins-, Wissens- und Verhaltensänderungen und der Patientenzufriedenheit (Donabedian 1982). Brook et al. (1977) defi finieren vier Klassen von Outcome-Kriterien: physisch (alltägliche Aktivität), physiologisch (Morbidität, Mortalität), psychologisch (z. B. Rollenverhalten) und allgemein (Stress, Anspannung). Starfield fi (1974) schlug sieben Outcome-Klassen vor: resilience, achievement, disease, satisfaction, comfort, activity und longevity. Daraus ist ersichtlich, dass Ergebnisqualität nicht nur die „objektive“ Seite des „Erfolges“ einer Maßnahme (Diagnose, Behandlungserfolg, Heilung, Remission, …) beinhaltet, fig auch Parameter wie Lebensqualität oder Patientenzusondern sehr häufi friedenheit eine wesentliche Rolle spielen. Zusätzlich zu diesen Parametern defi finiert Laireiter (1997) drei weitere Ebenen der Qualität und Qualitätssicherung, und zwar Q Versorgungsqualität: Sie bezieht sich auf die psychosoziale und Gesundheitsversorgung eines Staates, Landes, Bezirks oder einer Gemeinde. Q Einrichtungsqualität: Diese beschreibt die Rahmenbedingungen, Prozesse und Ergebnisse der Versorgung leistenden Institutionen (Krankenhaus, Abteilung, Praxis, …). Q Behandlungsqualität: Darunter versteht man die Qualität und Qualitätssicherung der individuellen Behandlung eines Patienten. Insofern ergeben sich für den Bereich der Altenbetreuung folgende praktische Überlegungen zur Qualitätssicherung: Q Kundenorientierung: Der Kunde „älterer Mensch“ steht im Mittelpunkt. Q Bedarfsorientierung: Leistungen müssen hinsichtlich ihrer Notwendigkeit und Adäquatheit überprüft werden. Q Ressourcenorientierung: Auch der Einsatz von Mitteln sollte entsprechend der Notwendigkeit und des Bedarfs erfolgen. Q Mitarbeiterorientierung: Mitarbeiter sind als primäre Leistungserbringer das „höchste Gut“ eines Unternehmens. Q Prozessorientierung: Die Leistungen sollten hinsichtlich ihrer Durchführung an Prozessen orientiert sein, deren Schnitt- bzw. Nahtstellen genau defi finiert sind. Q Qualitätsorientierung: Standards, Kriterien und klare Vorgaben sollen die Qualität der Leistungen defi finieren, die sowohl für den Leistungserbringer als auch seine Kunden transparent ist. fi Regelmäßige Messungen sollen überprüfen, inQ Effizienzorientierung: wieweit diese Kriterien erreicht wurden bzw. neu zu definieren fi wären.
Qualitätssicherung in der Altenbetreuung
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Qualitätssicherung umfasst die Bereiche Struktur, Prozess- und Ergebnisqualität. Diese können jedoch nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, sondern bauen aufeinander auf. Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement, Kriterien und Standards Der Terminus „Qualitätssicherung“ umfasst alle Konzepte und Methoden, welche eine maximale Annäherung der Ist-Werte an die durch Kriterien fi Sollwerte ermöglichen. Qualitätssicherung ist und Standards definierten also der Prozess, um die Qualität zu bestimmen, auszuführen und zu überprüfen (Korn 1994). Ziel der Qualitätssicherung ist es, Unzulänglichkeiten in der Versorgung und deren Ursachen zu erkennen, geeignete Maßnahmen zu deren Abhilfe zu bestimmen und sie auch durchzuführen. Qualitätssicherung ist der Prozess des Beschreibens von Zielen oder einer Aufgabe, das Festlegen von Kriterien und Standards und die Evaluation des Erreichens dieser Standards. Insofern ist es also kein statisches, sondern ein dynamisches Konzept, welches die kontinuierliche Anhebung der Qualität einer Tätigkeit zum Ziel hat. Es beinhaltet also neben einer reinen Erhebung von Ist und Soll auch einen Bewusstseinsprozess, Qualitätsverbesserungen als Ziel anzustreben. Erweitert wird dieser Begriff durch das Konzept des „Qualitätsmanagements“, welches neben der Qualitätssicherung auch den Prozess der Qualitätsverbesserung“ und darüber hinaus auch Zukunftsperspektiven wie „Qualitätsplanung“ und „Qualitätslenkung“ beinhaltet. In der Industrie und im Dienstleistungsbereich hat sich der Begriff „Total Quality Management“ (Stauss und Friege 1996) eingebürgert. Dieser beinhaltet neben einer Übertragung des Qualitätsgedankens auf alle Bereiche eines Betriebes oder des Gesundheitswesens auch eine spezifi fische Qualitätsphilosophie und vor allem die Kundenorientierung als zentrales Konzept. Danach sollen die Nutzer eines Bereiches des Gesundheitswesens nicht mehr als Klienten oder Patienten gesehen werden, sondern als Kunden, die sich in einem Dienstleistungsaustausch mit den Behandlern befinfi den. Hinsichtlich der Formen der Qualitätssicherung wird zwischen interner und externer Qualitätssicherung unterschieden. Erstere bezieht sich auf Maßnahmen zur Überprüfung und Verbesserung der Qualität durch den Anbieter der Leistung selbst, Letztere durch eine externe Institution. Im Mittelpunkt aller Untersuchungen zur Qualität der erbrachten Leistung steht das Beurteilungsinstrument. Mit seiner Hilfe kann man zwischen guter und schlechter Qualität der erbrachten Leistungen unterscheiden. Die Hauptinstrumente, um Leistungen überhaupt beurteilen zu können, sind Kriterien und Standards. Kriterien, auch Indikatoren genannt, bilden den Maßstab, an dem Qualität gemessen werden soll. Die Kriterien müssen konkret messbar, relevant für den zu analysierenden Bereich und das Ziel und für Dritte verständlich sein. Beispiele für Kriterien sind z. B. Zeitspanne bis zur Durchführung einer Maßnahme oder Dauer der Befundung.
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Ein Standard ist das Ausprägungsmerkmal eines Kriteriums, z. B. wie lange es von der Durchführung eines psychologischen Tests bis zur Befunderstellung dauern darf. Der Standard gibt an, welches Ziel man für erreichbar hält und auch erreichen will bzw. welches Ziel vorgegeben wird. Er soll verhaltensmäßig bedingt, also veränderbar sein. Für die Implantierung von Qualitätssicherung in die Praxis werden verschiedene Vorgehensweisen vorgeschlagen. So beschreibt Selbmann (1989) ein Flussdiagramm von der Beobachtung, der Ursachenanalyse und Problemdefinition, fi der Entwicklung von Lösungsalternativen, der Alternativenauswahl und -realisation über die Kontrolle bis zur erreichten Lösung (Rückkopplung). Korn und Helm-Kerkhoff (in: Korn 1994) hingegen beschreiben für die psychiatrische Krankenpfl flege folgendes zehnstufi fige Schema: Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Problemformulierung, Problemsammlung, Prioritätensetzung Formulierung der allgemeinen Ziele Diskussion (Problemanalyse) und Festlegung der Problemdefinition fi Zusammensetzung der Projektgruppe Zielbeschreibung, Kriterien, Standards Erhebungstechniken in der Qualitätssicherung (Methodik), Erhebung des Ist-Zustandes Präsentation der Ergebnisse Problemlösung, Durchführung der erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten Überprüfung der Ergebnisse (Evaluation) Manöverkritik.
Hauke (1994) stellt ein sehr praxisorientiertes Vorgehen mit folgenden Schritten dar: Q Problemauswahl bzw. Schwerpunktsetzung unter Beachtung der Kosten-Nutzen-Überlegungen Q Ermittlung von Kriterien Q Aufstellen von Standards Q Methodische Vorgehensweise und Dokumentation der erzielten Qualitätsausprägung Q Analyse der Ergebnisse des Soll-Ist-Vergleiches Q Erarbeitung von Vorschlägen (gegebenenfalls von Alternativen) und deren Bewertung Q Setzen konkreter Maßnahmen, um die Qualitätsmängel zu beheben Q Überwachung des Erfolges der Maßnahmen Q Kontinuierliche Qualitätsverbesserung Q Qualitätsbericht. In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, die Begriffe der Qualitätssicherung praxisrelevant auf den Bereich der Altenbetreuung zu übertragen.
Qualitätssicherung in der Altenbetreuung
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3 Der alte Mensch als Kunde im Gesundheitswesen Altern wurde bislang immer mit einem Prozess des Verlustes körperlicher, geistiger und sozialer Fähigkeiten gleichgesetzt. Insofern waren viele Modelle der Altenbetreuung primär auf Behandlung und Versorgung ausgerichtet. Altern ist jedoch ein sehr komplexes Geschehen auf organischer (Altern des Körpers), psychologischer (subjektives Altern), sozialer (Altern in der Gesellschaft) und kontextueller (Versorgungsstrukturen, Hilfen, …) Ebene. Weiters weist der ältere Mensch eine Reihe von spezifi fischen Veränderungen auf, die berücksichtigt werden müssen, dazu gehören: Q eine Zunahme körperlicher Gebrechen im Rahmen des Alterungsprozesses, Q ein vermehrtes Auftreten kognitiver Abbauerscheinungen (Demenzen) bzw. eine auch im Rahmen des normalen Alterungsprozesses gegebene Verminderung der geistigen Flexibilität, der Gedächtnisleistungen und der Geschwindigkeit der Denkabläufe, Q eine erhöhte Gefährdung für psychische Erkrankungen (Depressionen, Ängste, etc.), Q eine große Altersvariabilität hinsichtlich der körperlichen, geistigen und sozialen Funktionalität, Q eine vermehrte Individualität und spezifi fische Bedürfnisse aus der Biografie fi des Betroffenen, Q ein erhöhtes Risiko für das gleichzeitige Auftreten von Erkrankungen (Multimorbidität), Q ein vermehrter Anteil an so genannten „neuen Alten“ (gebildeter, vermögender, mobiler, längere Lebenserwartung, 3. Lebensphase) fordern ihre Rechte. Diese veränderten Bedingungen müssen qualitätsorientierte Strukturen der Altenbetreuung berücksichtigen, um den Anforderungen der Kunden gerecht werden zu können. Dies zeigt sich auch daraus, dass im Rahmen der Altenbetreuung unterschiedlichste Konzepte im stationären und ambulanten Bereich diskutiert werden. Diese reichen von der Ansicht einer möglichst langen Betreuung zu Hause, über primär medizinische Behandlungsansätze, eher psychosoziale Strukturen, bis zu Spezialabteilungen für Personen mit besonderen Betreuungsbedürfnissen (Demenzstationen). Darüber hinaus gibt es auch die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Fachdisziplinen, die alle aus ihrer persönlichen Sicht das „Beste“ für den älteren Menschen wollen. Oft sind Entscheidungen für eine bestimmte Betreuungsform deshalb weniger an den Bedürfnissen der Kunden, sondern an Betreuungsphilosophien oder vorhandenen Strukturen, die aufgefüllt werden müssen, orientiert. Übergänge in andere Betreuungsformen sind oft nur schwer möglich bzw. unterliegen anderen Finanzierungsformen. Das Angebotsspektrum für ältere Menschen nimmt ständig zur. Täglich gibt es neue Modelle, die vorgeben, alle Bedürfnisse abzudecken. So ist derzeit ein Trend zu extramuraler Betreuung (zu Hause, Mehrgeneratio-
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nenhäuser, betreutes Wohnen) festzustellen. Gute Betreuung wird hierbei durch Kriterien wie „Freiheit, Geborgenheit, Zu-Hause-Sein“ definiert. fi Andererseits steigt jedoch der Anteil von Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind. Diese Menschen benötigen oft Spezialabteilungen und vermehrte medizinische und pfl flegerische Betreuung. Nicht zu vergessen ist auch der Kostenfaktor, da gerade Pfl flege zu Hause für viele schwer pfl flegebedürftige Menschen oft nicht leistbar ist. Konzepte, die dies abdecken, wie etwa „Böhmische Schwestern“, befi finden sich oft in einer Grauzone der Legalität, obwohl durch sie obige Qualitätskriterien erreicht werden. Insofern erfordert eine kundenorientierte Sicht ein Umdenken in vielen Bereichen. Die im Folgenden für alle Bereiche der Altenbetreuung dargestellten qualitätssichernden Überlegungen orientieren sich einerseits an wirtschaftlichen bzw. kundenorientierten Aspekten (Grün 1998; Gatterer und Rosenberger-Spitzy 2002) und eigenen praktischen Erfahrungen im Gesundheitsbereich. Überblicksmäßig sind sie in Abb. 1 (angelehnt an Grün 1998) dargestellt. Jede Organisation im ambulanten oder stationären Bereich der Altenbetreuung muss sich im Rahmen einer Neuorientierung für die Zukunft mit den Megatrends Kundenorientierung, Konzentration auf die Kernkompetenzen und die klare Definition fi und Strukturierung der Prozesse auseinandersetzen. Kundenorientierung bezieht sich dabei auf folgende Bereiche: Q Klare Defi finition der Zielgruppe hinsichtlich – deren medizinischer Versorgung flegerischer Betreuung – deren pfl – deren therapeutischer Betreuung – der geforderten Hotelqualität – der Struktur der Betreuung – sozialer Faktoren – individueller Bedürfnisse
Abb. 1
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Q Multifaktorielle Erfassung und Definition fi der Bedürfnisse dieser Zielgruppe in Abhängigkeit von Krankheit, Bildung, Biografi fie, Geschlecht, Alter, regionaler Herkunft und Selbstständigkeit Q Möglichkeit der Mitgestaltung und des Sicheinbringens im Alltag im Heim Q Förderung und Nützen vorhandener Ressourcen Q Größtmögliches Maß an Freiheit und Selbstorganisation Q Bedürfnisorientierte Betreuungsformen (Basisversorgung mit optionalen Betreuungsmodulen). Die Bezugnahme auf die Kernkompetenzen ermöglicht es ambulanten Anbietern bzw. Heimen, ihre Leistungen klar defi finiert an den Kunden heranzubringen. Was können wir als Organisation besonders gut? Eine Institution kann nicht alles anbieten, d. h. die Besinnung auf das Wesentliche ermöglicht es, Kundenwünsche besser zu erfüllen. Als Beispiele für Kernkompetenzen können etwa die medizinische, pflegerische fl und therapeutische Betreuung bei Rehabilitationsabteilungen, das Wohnen bei selbstständigen Patienten oder Übergangswohnungen für die Entlassungsvorbereitung angeführt werden. Im ambulanten Bereich wären Heimhilfe, Essen auf Räfl etc. zu nennen. Gerade bei kleinen Organisadern, mobile Pflegedienste, tionen kann das Erkennen von Nischen in den Angeboten anderer Anbieter zu einer Verbesserung der Wettbewerbssituation führen. In Großinstitutionen empfi fiehlt es sich, kleinere flexiblere Segmente mit klaren Angeboten zu defi finieren. Die Defi finition von Kernkompetenzen, ersichtlich im Leitbild einer Institution, ist eine bedeutsame strategische Entscheidung. Derzeit ist ein starker Bedarf an Betreuungsstrukturen für demenzkranke ältere Menschen gegeben. Zusätzlich ist durch eine klare Definition fi der auf die Bedürfnisse der Kunden ausgerichteten Prozesse einerseits eine Steigerung der Qualität als auch eine Verbesserung der Struktur möglich. Insbesondere kommt der Berücksichtigung von Nahtstellen besondere Bedeutung zu. Alle diese Prozesse sollten für den Kunden transparent und klar definiert fi sein. Die wesentlichsten Prozesse einer Organisation sind Q die Anwerbung, Information, Anmeldung, Auswahl und Aufnahme (administrativ) der Bewohner, Q die Erfassung der Bedürfnisse im Rahmen eines geriatrischen Assessments, die Zielplanung und Zuweisung zur Zielabteilung bzw. die Auswahl der Betreuungsangebote im ambulanten Sektor, flegerisch, therapeutisch, Q die ganzheitliche Versorgung (medizinisch, pfl psychologisch, psychosozial, Ernährung, Wäsche, Wohnen, …) in Abhängigkeit vom Versorgungsbedarf, Q das Ausscheiden aus der Betreuung, Q die Betreuung der Angehörigen, Q die Beschaffung/der Vertrieb inklusive der Betreuung der Kooperationspartner (andere Institutionen, Hausärzte, mobile Dienste, …), Q zusätzlich sind unterstützende Prozesse wie Informationssysteme, Personalplanung und -entwicklung, Personalmanagement, etc. notwendig.
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Die Megatrends defi finieren die Struktur einer Institution und die damit verbundenen Ressourcen. Im folgenden Abschnitt soll auf die wesentlichsten Merkmale der Strukturanpassung von Organisationen an sich verändernde Bedingungen eingegangen werden. Q Aufbauend auf den Überlegungen zu den Kernkompetenzen einer Organisation stellt „Outsourcing“ die Möglichkeit dar, nicht primäre Angebote und Dienstleistungen der Organisation extern günstiger einzukaufen. Dazu zählen z. B. Reinigung, Wäscherei, Küche, medizinische/ therapeutische Leistungen und diverse Spezialleistungen. Vor allem in letzter Zeit wird vermehrt auch auf die Eigenkompetenz der älteren Menschen bzw. deren Angehörige zurückgegriffen. Solche Konzepte der Selbstversorgung betreffen etwa die Ernährung durch eine Patientenküche, die gegenseitige Unterstützung, kleine Tätigkeiten im Alltag (z. B. Blumengießen), aber auch kleinere Pfl flegeleistungen (vgl. Gatterer und Rosenberger-Spitzy 2002). Diese ermöglichen nicht nur eine Kostensenkung, sondern erhöhen primär die Lebensqualität des älteren Menschen durch mehr Eigenkompetenz und ein damit verbundenes besseres Service. Bei zu geringer Auslastung eigener Bereiche stellt „Insourcing“ die Möglichkeit dar, diese auch anderen Anbietern zu öffnen. Q Eine über dieses Konzept hinausgehende Alternative sind gut kooperierende Netzwerke verschiedenster Anbieter von unterschiedlichen, aber teilweise auch überlappenden Dienstleistungen. Diese wären z. B. zwischen Krankenhäusern und Pfl flegeheimen, ambulanten und stationären Diensten, Hotels und Pfl flegeinstitutionen und primär auf Wohnen bzw. medizinisch/therapeutische Versorgung ausgerichteten Organisationen möglich. Die Anzahl der Kooperationspartner sollte aber überschaubar bleiben. Q Um Kundenwünschen entsprechend und überschaubar entgegenkommen zu können, erscheint es zielführend, das Gesamtangebot in Teilprodukte aufzuspalten. Hier wäre z. B. eine Trennung zwischen Wohnen, Pfl flege, medizinischer Versorgung, Therapie, Verpfl flegung und Freizeitangeboten möglich, die auch einzeln gebucht werden. Personen mit geringem Pfl flegebedarf könnten somit im Extremfall nur die Unterkunft einkaufen und zusätzliche Leistungen nur bei Bedarf anfordern. Q Case-Management soll im Gegensatz zu übergeordneten hierarchischen Strukturen dem Bewohner bzw. Kunden helfen, möglichst rasch eine bestimmte Leistung zu erhalten. Case-Manager sollten in dieser Hinsicht nicht die Interessen eines Berufsstandes (Arzt, Pfl flege, …) vertreten, sondern primär problem- und lösungsorientiert agieren. Case-Management würde sich insofern bei allen übergreifenden Maßnahmen (z. B. Demenzmanagement, Aufnahme in eine Versorgungsstruktur, Assessment) bewähren. Case-Management ist auch bei der Verbesserung von Schnittund Nahtstellen (ambulant, stationär, Hausärzte, Versicherungen, …) zielführend, da hier die Strukturen und Angebote für die betroffenen älteren Menschen bzw. deren Angehörige nicht transparent sind.
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Q Flexibilisierung ist die Voraussetzung, sich möglichst rasch an verändernde Bedingungen anzupassen. Betroffene Bereiche sind hierbei das Personal (Allroundqualifikationen), fi die Angebotspalette, die Raumstrukturen (rasch für andere Kunden adaptierbar, Multifunktionsräume), die Arbeitszeit und die Förderung von multiprofessionellen Teams. Q Durch Prozessmanagement und Qualitätssicherung sollen klare Qualitätskriterien für die einzelnen Bereiche defi finiert werden. Dies ist infolge von oft sehr subjektiven Standards und der kritisch zu hinterfragenden Defi finition von „guter Betreuung“ nicht so einfach. Als wichtigste Kriterien wären die Kundenzufriedenheit, die Auslastung sowie externe Qualitätskriterien (z. B. positive Pressemeldungen) zu nennen. Dazu kommen natürlich wirtschaftliche Kriterien, die Rahmenbedingungen defifi nieren. Als weitere Elemente, die sich in Zukunft in der Altenbetreuung ergeben werden, sind ein vermehrter Wettbewerb, das Eingehen von Vereinbarungen (Contracting) mit den Kunden (angebotene Leistungen, Ziele, Kosten, …), mit anderen Partnern, mit den Mitarbeitern (Zielvereinbarungen), aber auch politischen Entscheidungsträgern (politische Rahmenbedingungen) und das Fördern der Eigenkompetenz der Mitarbeiter (Empowerment). Dadurch wird auch eine neue Form des Führens von Organisationen (Leitbilder, strategische Entscheidungen vs. operationales Handeln, Mitarbeiterorientierung, Zielvereinbarungen, etc.) wichtig. Einen modernen Ansatz stellen in dieser Hinsicht EFQM-Modelle (European Foundation for Quality Management 1998) dar. Als Grundvoraussetzungen gelten: Q Q Q Q
Die gesamte Organisation ist betroffen. Die „Kultur“ wird in Richtung „Exzellenz“ entwickelt. Das Modell agiert nach einem ganzheitlichen Ansatz. Es werden alle Interessenspartner (Kunden, Mitarbeiter, Eigentümer, Lieferanten, Gesellschaft, Politik) eingebunden. Q Durch eine ständige konsistente Überprüfung der Prozesse und Regelkreise soll eine kontinuierliche Verbesserung erzielt werden. Q Der Faktor für die Kontrolle ist das Ergebnis, wobei eine Konzentration auf das Wesentliche erfolgt. Q Dies führt einerseits zu einer Verbesserung der Qualität, einem besseren Einsatz der Ressourcen, einer Kostentransparenz (teilweise verbunden mit Kostensenkung) und verbesserter Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit. Dieses Modell ist exemplarisch in Abb. 2 dargestellt. Auf der Inputseite (Befähiger) sind alle jene Bereiche angeführt, die als wesentlichste Faktoren für optimale Ergebnisse anzusehen sind. Die Outputseite defi finiert die Kriterien, an denen Qualität gemessen wird. Ad Führung: Die Führung wird als wesentlicher Faktor für Qualitätsorientierung in allen Bereichen einer Organisation angesehen. Hier stehen die Vorbildfunktion, aber auch die Defi finition von Maßnahmen und die Unterstützung bei deren Umsetzung im Vordergrund.
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Abb. 2
Ad Mitarbeiterorientierung: Diese beinhaltet die Personalauswahl, den Personaleinsatz, die Personalentwicklung, das Führungskonzept und den Führungsstil. Dazu gehört im Bereich der Altenbetreuung auch die kontinuierliche Weiterbildung und die Kooperation und Kommunikation im Team. Ad Politik und Strategie: Hierunter fallen die Unternehmensphilosophie, das Leitbild, die Wertsysteme und die strategische Ausrichtung des Unternehmens. Auch die Mitarbeiter sollten nach diesem Modell in diesen Bereichen informiert sein. Ad Ressourcen: Ressourcen beziehen sich hierbei u. a. auf personelle, finanzielle, räumliche und apparative Ausstattungen. Weiters werden auch fi Informationsressourcen, z. B. EDV-Ausstattung, hinzugezählt. Ad Prozesse: Wie in anderen QM-Strukturen stehen auch hier bewohnerorientierte Kernprozesse und Abläufe sowie deren Schnittstellen im Mittelpunkt der Analyse und Verbesserung. Ad Ergebnisse: Die Ergebnisse werden im EFQM-Modell sowohl anhand von Kundenzufriedenheit (Befragungen, indirekte Analysen, z. B. Zahl der Beschwerden, …), Mitarbeiterzufriedenheit (Aufstiegsmöglichkeiten, Teamarbeit, Anstellungsbedingungen, Mitsprachemöglichkeit, …), dem Image (Bewertung im Sozialsystem der Region, Presseberichte, Umfragen, …) als auch dem Geschäftsergebnis (fi finanziell, pfl flegerische Leistungen, z. B. Dekubitusrate, medizinische Leistungen, z. B. Entlassungsquote nach Rehabilitation, und therapeutische Leistung) analysiert. Insofern stellt dies ein sehr umfassendes System dar. Konzepte der Altenbetreuung der Zukunft müssen sich an den Bedürfnissen der Kunden orientieren und zukunftsorientiert gestaltet sein. Dazu
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ist es notwendig, diese Bedürfnisse möglichst objektiv zu erfassen und spezifische fi Angebote für unterschiedliche Zielgruppen zu entwickeln.
4 Zusammenfassung Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement bzw. Total-Quality-Management sind Begriffe, die primär mit modernen Unternehmen assoziiert werden. Gerade in Zeiten mit begrenzten Ressourcen kann eine solche Unternehmensphilosophie mit dem „Kunden“ als Mittelpunkt für das Überleben oder Scheitern eines Betriebes verantwortlich sein. Können solche technischen Begriffe und die daraus resultierenden Konsequenzen jedoch auch auf den Bereich der Altenbetreuung übertragen werden? Die vorliegende Arbeit versucht, von Erfahrungen mit Qualitätsmanagement im Krankenhaus ausgehend, diesen Bereich hinsichtlich seiner Möglichkeiten, aber auch Grenzen für die Bereiche der multiprofessionellen Altenbetreuung im extramuralen und intramuralen Bereich zu betrachten. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die klare Defi finition der Prozesse und deren Schnitt-/Nahtstellen gelegt.
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Geriatrisches Assessment Ulrike Sommeregger
Das geriatrische Assessment stellt die Basis für eine gezielte Behandlung älterer Menschen mit oft multifaktoriell bedingten Defiziten fi dar. Dazu ist die Kooperation verschiedenster Fachdisziplinen notwendig, die gemeinsam eine Therapieplanung erstellen. Wesentlich ist die Erfassung von Defiziten fi und Ressourcen im körperlichen, kognitiven, psychischen, aber auch sozialen Bereich.
Das Zusammentreffen physiologischer Altersveränderungen mit meist mehreren, nebeneinander bestehenden, chronischen Erkrankungen bringt für alte Menschen oft Probleme in der selbstständigen Bewältigung des Alltags mit sich. Unabhängige Lebensführung setzt ausreichende Ressourcen in drei Bereichen voraus: Q körperliche Fähigkeiten – u. U. durch Hilfsmittel unterstützt, Q kognitive Fähigkeiten zur richtigen Einschätzung der jeweiligen Situation, Q den psychischen Antrieb zur Durchführung der nötigen Handlungen. Ist einer dieser drei Punkte nicht ausreichend gegeben, muss Unterstützung von außen – sei es durch das eigene soziale Umfeld oder öffentliche Sozialdienste – erfolgen. Die Entwicklung in Richtung Hilfsbedürftigkeit verläuft häufi fig schleichend über Monate bis Jahre, die Selbsteinschätzung alter Menschen in Bezug auf ihre Alltagskompetenz stimmt oft nicht mit der aktuellen Realität überein, und Angehörige können das nötige Ausmaß an Unterstützung sowohl über- als auch unterschätzen. Da auch erfahrenen Untersuchern ohne Anwendung eines geeigneten fi Fehlbeurteilungen unterlaufen, wurde das geriaInstrumentariums häufig trische Assessment entwickelt.
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1 Defi finition Es handelt sich dabei um einen multidimensionalen – normalerweise interdisziplinären – diagnostischen Prozess mit dem Ziel, sämtliche medizinischen, psychosozialen und funktionalen Probleme und Ressourcen eines alten Menschen zu erfassen. Erfasst werden müssen physische, kognitive, emotionale, aber auch soziale und ökonomische Faktoren, und zwar in standardisierter Form, um den Einfl fluss von Untersucherfaktoren wie persönliche Werthaltungen und persönliche Vorerfahrungen seitens des Untersuchers möglichst gering zu halten. Darüber hinaus wird der Prozess durch den Einsatz standardisierter Assessment-Instrumente nachvollziehbar. Das kann bei starker Uneinigkeit innerhalb von Familien von Bedeutung sein. Abgeleitet vom Ergebnis dieses diagnostischen Prozesses, kann man dann einen an die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Patienten angepassten Behandlungs- und Betreuungsplan erstellen.
2 Ziele und Fragestellungen Die Durchführung eines geriatrischen Assessments bringt in folgenden Situationen einen wesentlichen Vorteil für die betroffenen Patienten: Q In der Hausarztpraxis geht es vor allem um Prävention von Pflegebedürftigkeit. Q Im Akutspital müssen allfällige Entlassungsprobleme rechtzeitig erfl kannt und durch entsprechende Gestaltung der Therapie- und Pflegeplanung möglichst vermieden werden. Q Vor Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung sollte die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer stationären Pflege fl überprüft werden. Zusätzlich sollte man versuchen, über die voraussichtlich nötige Dauer derselben Aufschluss zu gewinnen. Q Bei Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung zur adäquaten Therapie- und Betreuungsplanung.
3 Zielgruppen Aus Effizienzgründen fi sollte man sich in Hausarztpraxen und im Akutspital auf jene Patientengruppe konzentrieren, die nachweislich den größten Nutzen lukriert. Dies sind jene älteren Patienten, bei denen beginnende Gebrechlichkeit vermutet werden kann – in der angloamerikanischen Literatur fl als „frail elderly persons“ bezeichnet. Bei bereits höhergradig pflegebedürftigen Patienten und bei Personen, die trotz hohen Alters noch völlig autonom sind, lohnt der Zugewinn an Information den Aufwand meist nicht. Gelegentlich ist bei solchen Personen auch die Akzeptanz für PerformanceTests eher gering. Eine Ausnahme stellen sehr hochaltrige, selbstbewusst
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und autonom wirkende Patienten dar, die eine oder mehrere Krankenhausaufnahmen hinter sich haben, ohne dass es dafür einen klaren nichtgeriatrischen Grund gibt. Da kann ein geriatrisches Assessment doch oft fizite aufdecken und durch bedürfnisgerechte Maßnahmen zur StabiliDefi sierung beitragen. Im Vorfeld der Pflegeheimeinweisung bzw. bei Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung sollte das Assessment bei jedem Einzelnen zur Feststellung und Dokumentation seiner Fähigkeiten, Funktionen, Ressourcen und Defifi zite durchgeführt werden, da eine bedürfnisgerechte Pflege- und Therapieplanung anders nicht erreichbar ist.
Zusammenfassung Zielgruppen Q „Frail elderly persons“, Q Sturz in den letzten 3 Monaten, Q Patient war innerhalb der letzten 3 Monate schon einmal im Krankenhaus, Q Patient gehört zu den „ältesten Alten“ lt. WHO = über 85-Jährige, flegeheimeinweisung. Q drohende oder erfolgte Pfl
4 Was führt zu Pflegeabhängigkeit? fl Als härteste Daten sollen hier die Einweisungsgründe in das größte Pflegefl heim Europas dienen. Das sind – gereiht nach der Häufi figkeit: 1. demenzieller Abbau mit und ohne nicht-kognitiven Symptomen, 2. Immobilität bzw. hochgradige Mobilitätseinschränkung, 3. Stürze mit: – Schwierigkeiten/Unfähigkeit, wieder aufzustehen, – Verletzungen und -folgen (Frakturen, Schädel-Hirn-Trauma), – psychischer Traumatisierung – Post-Fall-Syndrom, 4. Depression und Angsterkrankungen, 5. hochgradige Funktionseinschränkung im Bereich der oberen Extremitäten, 6. Erblindung. Andere Faktoren wie Inkontinenz, Selbstfürsorgedefizite bei Körperpflege und An-/Auskleiden oder regelmäßig nötige medizinische Maßnahmen wie Verbände, Insulin- oder andere Medikamentenverabreichung sind meist nur im Zusammenhang mit fortschreitendem kognitivem Abbau ein Problem, das nicht in der häuslichen Umgebung handhabbar ist. Auch die Notwendigkeit häufiger fi ärztlicher Interventionen entsteht meist durch mangelnde Fähigkeit zu adäquatem Verhalten (u. a. Hilfe annehmen können) bzw. nicht ausreichende Medikamentencompliance (kognitive Defi fizite oder psychopathologische Veränderungen wie fehlende Krankheitseinsicht, paranoide Ideen, Angst, Dysthymie, Depression).
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Diese oben genannten Krankheitsbilder sind somit auch jene, nach deren Vor- und Frühstadien gefahndet werden muss. Dementsprechend muss ein geriatrisches Assessment einerseits das Vorliegen eines dieser o. g. Punkte entweder ausschließen oder das Ausmaß des vorliegenden Problems mit der funktionellen Auswirkung auf das tägliche Leben beschreiben. Besonders wichtig ist es, Frühstadien zu diagnostizieren und einer Behandlung zuzuführen.
5 Wonach man immer extra fragen muss Einige negative Entwicklungen verlaufen relativ langsam, sodass sie von den Betroffenen selbst und ihrer Umgebung kaum registriert oder für „normal“ gehalten werden. Deshalb wird nie einem Arzt davon berichtet fl zu werden, steigt trotz laufender werden, und das Risiko, pflegebedürftig hausärztlicher Betreuung unbemerkt. Diese am häufi figsten übersehenen Risikofaktoren sind: Mangelernährung – kalorisch ebenso wie qualitativ (Eiweiß, Vitamine, Spurenelemente) Zur Beurteilung dient einerseits der Ernährungszustand und die anamnestisch zu erhebende Gewichtsentwicklung in den letzten Wochen und Monaten. Als Maß für den Ernährungszustand wird heute als Standard der Body-Mass-Index (Gewicht / Größe² in m) herangezogen. Die Normalwerte sind im Alter deutlich höher anzusetzen als bei jungen Erwachsenen, nämlich mit 22–29 statt 19–24. Personen mit diesen Werten wiesen in einschlägigen Untersuchungen die längsten Überlebenszeiten auf. Als zweite Säule der Beurteilung dient eine Reihe von Laborwerten, wobei dem Serumalbumin (Halbwertszeit 2–3 Wochen) die größte Bedeutung zukommt. Ergänzend muss das CRP bestimmt werden, um den Albuminmangel bei entzündlichen Prozessen differenzieren zu können. Weiters kommen noch folgende Parameter in Betracht: der sog. „Katabolie-Index“ (BUN/Serumkreatinin – Normalwert < 15), Hämoglobin, Transferrin (HWZ 8–10 Tage, reagiert schneller auf Veränderungen), Cholinesterase als Parameter für die Syntheseleistung der Leber, Lymphozytenzahl (< 2000 leichte, < 1200 mittlere, < 800 schwere Malnutrition), Cholesterin (160 mg/dl). Immer sind natürlich Veränderungen aus anderer Ursache auszuschließen. Die Folgen der Mangelernährung sind: Q Q Q Q Q Q
Muskelabbau – dadurch erhöhte Sturzgefahr, Knochenabbau, verringerte körperliche Belastbarkeit, herabgesetzte Infektabwehr, schlechtere Wundheilung, kognitiver Abbau.
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Begünstigende Umstände sind: Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Einsamkeit, Inappetenz im Rahmen einer Depression, schlechte Mobilität, chronische Schmerzen, Verarmungsideen oder tatsächliche wirtschaftliche Notlage, schlechter Zahnstatus, Schluckstörungen, gastrointestinale Erkrankungen, andere Erkrankungen, die zu einer katabolen Stoffwechsellage führen, Demenz – durch nicht-kognitive Symptome wie paranoide Ideen oder hochgradige motorische Unruhe/Wandertrieb, – durch kognitives Defizit fi bei weit fortgeschrittenen Stadien.
Harninkontinenz Dieses Symptom wird von den allermeisten Betroffenen aus Scham verschwiegen, obwohl es nicht nur subjektiv als äußerst belastend erlebt wird, sondern auch objektiv nicht ungefährlich ist, wie eine in den USA durchgeführte Studie an zu Hause lebenden alten Frauen zeigen konnte. Bei mindestens wöchentlich auftretender, aber nicht täglicher Dranginkontinenz war das Sturzrisiko um 21%, das Frakturrisiko um 28% erhöht – und zwar unabhängig von anderen Faktoren wie Gangtempo, Gewicht etc. Bei täglicher Dranginkontinenz stieg das Risiko für Sturz auf + 43%, für Fraktur auf + 35% (odds ratio 1,43 bzw. 1,35). Bei reiner Stressinkontinenz gab es weder für Sturz noch für Fraktur ein erhöhtes Risiko. Nachteilige Auswirkungen der Inkontinenz (= im höheren Alter meist Dranginkontinenz): Q Einschränkung des Aktivitätsradius (die häufi figen Toilettengänge werden u. U. zum tagesfüllenden Thema), Q Einschränkung der Sozialkontakte, Q erhöhte Sturzneigung, Q zu geringe Flüssigkeitsaufnahme – Exsikkosegefahr, Q Hautprobleme. Fördernd wirken: Q Q Q Q Q Q Q
Harnwegsinfekte, Atrophie der Genitalschleimhaut (Frauen), Prostataerkrankung + Therapiefolgen, nächtliche Polyurie, Diuretika, cholinerge Medikamenten-Nebenwirkung, mangelhafte zentralnervöse Kontrolle.
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Schlafstörungen Schlafstörungen werden sehr häufig fi beim Arzt geklagt und führen mit großer Regelmäßigkeit zur Verordnung einer schlaffördernden Medikation, wobei die Maßnahmen der Schlafhygiene mit Sicherheit nicht immer ausgeschöpft werden. Die Folgen tatsächlicher Schlafstörungen sind: Q Tagesmüdigkeit mit Konzentrationsstörungen und Einschränkung der Aktivitäten, Q Schlafmittelabusus, Q erhöhte Sturzgefahr. Sie werden gefördert durch Q Q Q Q Q Q Q Q
Schlaf untertags, flüsse (Lärm, Licht, …), störende Einfl falsche Ernährungsgewohnheiten, Nykturie, Schmerzen, cardiorespiratorische Erkrankungen (nächtliche Atemnot), Depression, beginnendes Parkinsonsyndrom (Muskelschmerzen, Lagewechsel wird schwierig), Q nicht-kognitive Demenzsymptome wie Tag-Nacht-Umkehr, nächtliche Angst, Halluzinationen.
Chronische Schmerzen Sind häufig fi Abnützungsfolgen an großen und kleinen Gelenken (Wirbelsäule) und können einen Circulus vitiosus in Gang setzen, indem sie Q Q Q Q Q Q
Schlafstörungen, Medikamenten- bzw. Alkoholabusus, Inappetenz, Depression, Schwächegefühl, Immobilität + Folgen
verursachen.
Medikamenten- oder/und Alkoholabusus Beginnt im höheren Alter oft als Versuch der Selbstbehandlung von Q Schmerzen, Q Schlafstörungen, Q Depressionen.
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Die Folgen sind erhöhte Unfallgefahr, Sturzneigung, Mangelernährung, Organschäden. Angst Viele ältere Menschen haben zahlreiche begründete und unbegründete Ängste. Dies ist ein wichtiges und bis jetzt kaum bearbeitetes Problemfeld. Darüber zu sprechen, wie mit diesen Ängsten umzugehen ist, welche Coping-Strategien und Hilfsmöglichkeiten es gibt, und u. U. medikamentöse und psychotherapeutische Hilfe (z. B. verhaltenstherapeutisch, Annehmenlernen von externer Hilfe) anzubieten, können ein wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung eines alten Menschen in seiner häuslichen Umgebung sein.
Der erste Sturz Wenn er harmlos verläuft, wird dem Arzt meist nichts darüber berichtet. Ähnlich wie bei Schlafstörungen, chronischen Schmerzen, dem Auftreten von Inkontinenz oder zunehmenden Fehlleistungen herrscht die weit verbreitete Ansicht, dass diese Dinge im höheren Lebensalter normal und schicksalhaft seien. Dabei sollte gerade ein Sturz, dessen Hergang nicht völlig eindeutig erklärbar und als „Unfall“ zu qualifizieren fi ist, auf jeden Fall als Anlass zu einer gründlichen Durchuntersuchung auf alle in Frage kommenden Ursachen dienen (siehe „Sturzassessment“). In der Literatur ist eindeutig belegt, dass das Risiko, neuerlich zu stürzen und sich dabei ernsthafte Verletzungen – meist zuerst eine Fraktur der oberen Extremität und in der Folge eine hüftnahe Fraktur – zuzuziehen, signifi fikant erhöht ist.
6 Praktisches Vorgehen bei der Durchführung des geriatrischen Assessments Basisassessment Als effiziente fi Vorgangsweise hat es sich bewährt, ein so genanntes „Basisassessment“ durchzuführen: 1. Zusätzlich zur üblichen medizinischen Anamnese, die auch einige orientierende Fragen nach dem sozialen Umfeld (Lebenspartner, regelmäßige Sozialkontakte, regelmäßige Hilfe, Wohnsituation – Größe, Lift, Heizform, Sanitärstandard, ökonomische Situation – ist näherungsweise meist durch eine Frage nach dem früheren Beruf zu klären) des Patienten enthalten sollte, wird eine so genannte „geriatrische Anamnese“ in Form eines standardisierten Fragenkatalogs nach den oben angeführten Risikofaktoren erhoben (s. Anhang).
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2. Bei der Medikamentenanamnese wird auch über die Einnahmegewohnheiten und die Kenntnisse des Patienten über seine Medikation gesprochen. 3. Bei der klinischen Untersuchung wird auf folgende Punkte besonders geachtet: – Ernährungszustand, – Zahnstatus, – Bewegungsausmaß der Gelenke, – Handkraft, – Kraft in den Beinen, – Muskelatrophien, – Hinweise auf Wirbelkörpereinbrüche (quere Bauchfalte, Abstand zwischen Rippenbogen und Beckenkamm), – Sehen, grobes Gesichtsfeld, – Hören. 4. Um die Mobilität und das Gangbild des Patienten beurteilen zu können, lässt man den sog. „Up & Go“-Test durchführen (s. Anhang). 5. Man orientiert sich grob über die kognitiven Fähigkeiten des Patienten (zeitliche, örtliche, situative Orientierung) und zur Person (Merkfähigkeit und Sprachverständnis). Der für diese Fragestellung am häufigsten fi eingesetzte Test ist der Mini-Mental-Test nach Folstein (s. Anhang). Praktische Tests, die neben kognitiven Fähigkeiten auch manuelle bzw. konstruktive Fähigkeiten überprüfen, sind der Clock-CompletionTest und der Geldzähltest. Der kürzeste validierte Test diesbezüglich ist das „Brief Assessment Interview“ (s. Anhang) mit 8 Fragen zur Kognition und in seiner Kurzversion weiteren 8 Fragen zur fi die „geria6. Depression. Bei dieser Fragestellung kommt auch häufig trische Depressionsskala“ nach Yesavage zum Einsatz (s. Anhang). 7. Im stationären Bereich kommt noch die Beurteilung des Selbsthilfestatus durch das Pfl flegepersonal dazu – zur Beschreibung wird am häufi figsten der „Barthel-Index“ eingesetzt (s. Anhang). Dieses Basisassessment reicht aus, um Hinweise auf bestehende Probleme zu geben. Diese Hinweise sollten keinesfalls bagatellisiert werden, auch wenn der Patient selbst dies tut. Es ist vielmehr sinnvoll, ein gewisses Problembewusstsein bei dem Patienten zu schaffen, um ihn zu adäquater Kooperation zu motivieren. In Zweifelsfällen oder beim Auftauchen von Widersprüchen sollte man versuchen, auch außenanamnestische Angaben zur Plausibilitätsüberprüfung zu erhalten. Problemorientiertes Assessment Der nächste Schritt muss darin bestehen, aufgezeigte Probleme näher abzuklären – problemorientiertes Assessment. Dabei sind vor allem die Fra-
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gen nach dem Problemausmaß und der Auswirkung auf die Lebensführung im Alltag zu beantworten. In jedem Fall muss der entdeckte Risikofaktor in der weiteren Betreuung des Patienten im Auge behalten und auf Verschlechterungen reagiert werden, wie man dies z. B. von erhöhten Blutdruckwerten gewöhnt ist. Nötigenfalls ist eine Therapie einzuleiten (u. U. nach Konsultation eines einschlägigen Facharztes wie Orthopäde, Neurologe, Psychiater, Urologe, Gastroenterologe, Augenarzt, HNO-Arzt, Zahnarzt) – oder es sind auf Basis der vorhandenen Ressourcen des Patienten Kompensationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dies kann z. B. in Form einer adäquaten Hilfsmittelversorgung erfolgen. Einschlägige Fachberatung durch Ergotherapeuten, -innen, die in diesem Bereich speziell ausgebildet sind, ist deshalb sehr sinnvoll, weil suboptimale Hilfsmittel von den Patienten oft nicht verwendet werden und das Problem daher nur scheinbar gelöst ist. Eine Sonderform des problemorientierten Assessments ist die Überprüfung, wie gut ein Patient mit etlichen Einschränkungen in seiner eigenen gewohnten Umgebung zurechtkommt, in Form eines diagnostischen Hausbesuchs (= differentialdiagnostischer Ausgang) vor der geplanten Entlassung aus stationärer Betreuung. Dieser wird durch Angehörige des therapeutischen Teams gemeinsam mit dem Patienten durchgeführt. Dabei werden folgende Punkte überprüft: Q Orientierung des Patienten in der näheren Umgebung seines Wohnortes und in der Wohnung, Q Handhabung des Türschlosses, Q Zustand der Wohnung und ihrer Installationen (Strom, Wasser, Telefon, Kochgelegenheit, Kühlschrank, Bad, WC), Q Zweckmäßigkeit der Einrichtung (Höhe von Bett und Sitzgelegenheiten, Stabilität der Möbel, Beleuchtung), Q Vorhandensein von Stolperfallen – werden bei Einverständnis des Patienten entfernt, Q u. U. Verwendbarkeit von Gehhilfen oder Rollstuhl, Q Notwendigkeit kleinerer Adaptierungsarbeiten (z. B. Haltegriffe im Bad oder am WC, Entfernung von Türstaffeln), Q u. U. Verhältnis zu den Nachbarn. Diese Konfrontation des Patienten mit seiner eigenen gewohnten Umgebung schafft nach unserer Erfahrung in den meisten Fällen mehr Klarheit, ob ein Patient entlassbar ist oder nicht, als alle standardisierten Instrumente zur Klärung der erweiterten lebenspraktischen Fähigkeiten. Zusammenfassung 1. „Info-Teil“: – Sozialanamnese, – geriatrische Anamnese, – Medikamentenanamnese, – u. U. Außenanamnese.
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2. Klinischer Status unter besonderer Beachtung von: – Sehen, – Hören, – Ernährungszustand, – Zahnstatus, – muskuloskeletale Pathologien, – Handkraft, Beinkraft. 3. „Test-Teil“: – auf Kognition, – auf Depression, – auf Gangsicherheit. 4. Selbsthilfestatus bei stationären Patienten. Die gewählten Testverfahren müssen a. für die untersuchte Klientel geeignet sein; Beispiel: für das geriatrische Assessment geeignet: der 6-Minuten-Gehtest; für das normale geriatrische Assessment ungeeignet: der CooperTest = Fitness-Test für gesunde, sportliche Personen (12 Minuten laufen) – wird im Bereich der Altersmedizin höchstens für Ausnahmefälle, bei denen die Fragestellung über die Feststellung der Selbstständigkeit im Alltag weit hinausgeht, geeignet sein. b. in Bezug auf die jeweilige Fragestellung aussagekräftig (validiert) sein.
7 Sturz-Assessment Stürze im Alter werden häufig fi als höchst dramatisches Ereignis empfunden, was bei Verletzungsfolgen, aber auch bei der oft bestehenden Schwierigkeit unverletzt Gebliebener, sich aus eigener Kraft wieder zu erheben, völlig verständlich ist. In vielen Fällen kann sich die Angst vor einem neuerlichen Sturz zu einem eigenen Krankheitsbild – dem „Post-Fall-Syndrom“ – verselbstständigen, das massiv einschränkend auf die Lebensqualität wirkt und in manchen Fällen sogar eine Pfl flegeheimeinweisung nach sich zieht. Daher muss der Abklärung von Sturzursachen und damit der u. U. möglichen Verhinderung weiterer Stürze größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Vorgehen Wesentlich ist, möglichst genau den Hergang des Sturzes und unmittelbar vorhergegangene Ereignisse zu rekonstruieren. Weiters ist zu klären, ob ein kurzer Bewusstseinsverlust bestand oder nicht. Im klinischen Status muss man auf Muskelatrophien (z. B. M. Quadrizeps fem.), Gelenksdeformationen wie z. B. eine massive Gonarthrose, Paresen oder Sensibilitätsstörungen achten. Als Test für ausreichende Beinkraft
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lässt man den Patienten 5-mal hintereinander aus einem normalen Sessel aufstehen, ohne sich mit den Händen abzustützen. Kann er das nicht, oder benötigt er dazu länger als maximal 11 Sekunden, besteht Sturzgefahr aufgrund der verminderten Beinmuskelkraft. Häufi fig werden auch plötzlich einschießende Schmerzen in Hüfte, Knie oder Fuß als Sturzursache angegeben. Als Nächstes gilt es, das Gangbild und die Balance zu beurteilen. Dies kann mit Hilfe des Tinetti-Tests (s. Anhang) oder mit Hilfe des Up & GoTests und der Prüfung des Tandemstandes (s. Anhang) geschehen. Bei der Beurteilung des Gangbildes achtet man auf den Beginn der Bewegung – fließend oder zögernd, Schrittlänge (normal mindestens 1 Fußlänge Abfl stand zwischen Zehen des hinteren und Ferse des vorderen Fußes), Schritthöhe (normal ist 1, maximal 4 cm über dem Boden), Schrittbreite (normalerweise berühren sich die Füße beinahe), Schrittsymmetrie, Körperhaltung sowie Flüssigkeit und Tempo der Bewegung. Finden sich Auffälligkeiten, sollte eine orthopädische oder neurologische Abklärung erfolgen, falls nicht bereits eine Erkrankung bekannt ist, die die beobachteten Gangbildveränderungen hinreichend erklärt. Bei Parkinsonpatienten beispielsweise können Änderungen in der medikamentösen Einstellung und physiotherapeutische Gangschulung wesentliche Verbesserungen in der Gangsicherheit bringen. Auch bei Muskelatrophien, Restparesen, Unsicherheit nach Stürzen (Post-Fall-Syndrom) und Bettlägerigkeit kann die physiotherapeutische Schulung der Bewegungsabläufe und gezieltes Muskelaufbautraining zu zufriedenstellender Stabilisierung der Mobilität führen. Ist das Gangbild unauffällig, sollte ein Orthostasetest durchgeführt werden. Bei hypertonen RR-Werten oder bekannter art. Hypertonie deckt eine 24-Std.-Blutdruckmessung oft unerwartet hohe RR-Spitzen auf. Wir konnten wiederholt beobachten, dass Patienten mit stark schwankenden RR-Werten im Zusammenhang mit Blutdruck-Spitzen (um 200 mm Hg syst.) stürzten und eine verbesserte Blutdruckeinstellung auch die Stürze beendete. Wenn anamnestisch eine Synkope zu erheben ist, dann muss eine rhythmogene Ursache mittels Holter-EKG ausgeschlossen werden und bei nichtpathologischem Ergebnis auch ein EEG durchgeführt werden. Auf jeden Fall muss man die gesamte Medikation des Patienten überprüfen. Dabei sollte man unbedingt auch nach Selbstmedikation (chronischer Laxantienabusus – Kaliummangel!) und Verordnungen durch andere Ärzte fragen. Bekannt ist der Zusammenhang zwischen Stürzen und Diuretika, Antihypertensiva, Tranquilizern, Neuroleptika, Antidepressiva, Antiarrhythmika, Antikonvulsiva, Alkohol (alkoholische Extrakte wie z. B. in der Homöopathie) und Multimedikation an sich (mehr als 4 Medikamente gleichzeitig), wo die Interaktionen nicht mehr überblickbar sind. Natürlich kann man nicht immer alles radikal absetzen, ohne mehr Schaden als Nutzen zu erzeugen. Aber durch eine wiederholte Reflexion fl der Indikationen und ihrer Bedeutung für den Patienten in seiner aktuellen Situation (Prognose, was ist bestenfalls zu erreichen, was schlimmstenfalls zu befürchten) sowie der
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eingesetzten Präparate kann sehr oft eine vom Patienten selbst als Verbesserung empfundene Ökonomisierung der Medikation – die meist auch zu einer verbesserten Compliance beiträgt – erzielt werden. Deutlich erhöhte Sturzgefahr besteht bei höhergradigen Sehkraftdifferenzen zwischen linkem und rechtem Auge und bei ausgeprägter Schwerhörigkeit (schlechtere Orientierung im Raum). Das höchste Sturzrisiko, das dazu leider kaum beeinfl flussbar ist, haben Menschen mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, die in Phasen innerer Angetriebenheit viel umhergehen. Zusammenfassung – Sturzassessment Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Genaue Anamnese der Herganges, Synkope?, Beinkraftprüfung, Geh- und Balanceprobe, Orthostasetest, Überprüfung der Medikation, Sehkraft, Hörfähigkeit, bei Hypertonieanamnese – 24-Stunden-RR-Messung, bei Synkope – 24-Stunden-Holter-EKG, ev. Vorstellung beim Neurologen.
8 Was kommt dabei heraus? Das Ergebnis des geriatrischen Assessments ergibt einen Überblick über vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten, aber auch allfällige Defizite und Hinweise, woraus sich Pflegeabhängigkeit entwickeln könnte bzw. warum und in welchem Ausmaß diese besteht. Darüber hinaus sollte dieses Ergebnis die Grundlage sein für Q Q Q Q Q Q
jede weitere Therapieplanung (auch medikamentöse Therapie), ev. nötige Hilfsmittelversorgung, Beratung über notwendige Hilfe im Alltag, Beratung über präventive Maßnahmen, Angehörigenberatung, gezielte Entlassungsvorbereitung aus stationärer Pflege. fl
Dabei muss man die subjektiven Ziele des Patienten berücksichtigen, wann immer dies ohne Gefahr für ihn möglich ist.
9 Nutzen des geriatrischen Assessments Literaturdaten zufolge führt konsequent durchgeführtes geriatrisches Assessment zu
Geriatrisches Assessment
Q Q Q Q Q Q
107
genauerer Diagnostik, besserem funktionellem Zustand der Patienten, weniger Gebrauch extramuraler Dienste, weniger Pflegeheimeinweisungen fl (– 16% bis zu – 47%), Reduktion des Medikamentenbedarfs, reduzierter Mortalität innerhalb eines Jahres (– 12% bis zu – 22%).
10 Assessment-Instrumente Wie bereits erwähnt, ist das Rationale für den Einsatz standardisierter Assessment-Instrumente die Reproduzierbarkeit und weitgehende Unabhängigkeit von der Persönlichkeit des Untersuchers. Darüber hinaus helfen diese Instrumente, anders schwer zu beschreibende Zustände rationell mitteilbar zu machen (z. B. Transferskala, Up & GoTest). Eines können all diese Tests jedoch keinesfalls: individuelle ärztliche Entscheidungen ersetzen. Sie haben etwa den gleichen Stellenwert in der Beurteilung eines Patienten wie andere Hilfsuntersuchungen auch (z. B. bildgebende Verfahren), die ja ebenfalls immer im Zusammenhang mit dem klinischen Bild beurteilt werden müssen. Hier sollen nun die erwähnten Instrumente vorgestellt werden.
Geriatrische Anamnese Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
AZ gleichbleibend – oder im letzten Quartal verschlechtert? Spitalsaufenthalt in den letzten 3 Monaten? Gewichtsabnahme in letzter Zeit? Ernährungsgewohnheiten, -probleme (Zähne, Schlucken)? Sehkraft in letzter Zeit – ev. deutlich abgenommen? Hörvermögen? Gedächtnis in letzter Zeit? Handkraft in letzter Zeit? Sturz in den letzten 3 Monaten? Schmerzen? Cardiovask. Symptome? Angstauslösende Situationen? Harn-, Stuhlkontrolle?
Sozialfragebogen Q Q Q Q
Angehörige, soziale Kontakte, soziale Aktivitäten, früherer Beruf, Ausbildung,
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U. Sommeregger
Q Wohnort, -situation (Umgebung, Geschäfte, Stockwerk, Lift, WC, Wasser, Bad, Heizung, Telefon), Q Hilfe bei fi finanziellen Angelegenheiten, Q regelmäßige Hilfe im Haushalt, Q Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) wie Waschen, Anziehen, etc. Barthel-Index (siehe Anhang) Erläuterung: Wenn Aufforderung zu den ATLs nötig ist, weil der Patient die Dinge wohl selbstständig erledigen kann, sie aber nicht aus eigenem Antrieb tut, ist dies „geringer Hilfe“ gleichzusetzen. Auch bei maximaler Punkteanzahl (wäre unabhängig in allen Tätigkeiten) kann Hilfe in hauswirtschaftlichen Dingen nötig sein. Die Summe der Punkte allein sagt für sich nichts Konkretes aus, bewährt sich aber in der Verlaufsbeobachtung. Brief Assessment Interview (Kurzversion) nach S. Weyerer, Mannheim I. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Proband weiß sein Alter nicht Proband weiß sein Geburtsjahr nicht Proband weiß nicht, wo er sich befindet fi Erinnert sich nicht an den Namen des Interviewers Erinnert sich nicht an den Namen des Bundeskanzlers Proband weiß den Monat nicht Proband weiß das Jahr nicht Proband macht Fehler beim Hand-Ohr-Test
Bewertung: 0–2 3–4 5–6 7–8
Pkte: Pkte: Pkte: Pkte:
1 1 1 1 1 1 1 1
keine wesentliche kognitive Beeinträchtigung leichte kognitive Beeinträchtigung* mittelgradige kognitive Beeinträchtigung* schwere kognitive Beeinträchtigung
II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Proband gibt Sorge ohne weiteres Nachfragen an Proband war während des letzten Monats traurig und deprimiert Proband hat das Gefühl, das Leben sei nicht mehr lebenswert Proband hat sich in den letzten Monaten nicht glücklich gefühlt Proband war durch Einsamkeit gestört oder deprimiert Schlechter Appetit ohne med. Grund oder Übelkeit Proband hat das Gefühl, dass seine Bewegungen langsamer sind als vor 1 Jahr 8. Proband ist im Allgemeinen nicht glücklich
1 1 1 1 1 1 1 1
Bewertung: ab 4 Punkten Verdacht auf Vorliegen einer depressiven Störung. * Indikation für Psychometrie – problemorientiertes vertieftes Assessment
Geriatrisches Assessment
109
Mini-Mental-State-Examination nach Folstein (siehe Anhang) Ergänzende Angaben zur Durchführung: Q Sie benötigen 2 glatte, leere Blätter Papier und einen Bleistift. Q Bei den Orientierungsfragen – falls keine Antwort – raten lassen. Q Wörter wiederholen: Im Rhythmus von ca. 1 Wort pro Sekunde vorsprechen, die Wörter wiederholen lassen (bis zu 6-mal, wenn nicht auf Anhieb richtig – bewertet wird jedoch nur die erste Antwort!). Q Rechnen: Pro korrekter Subtraktion 1 Punkt, bei korrekter Subtraktion von einem falschen Ergebnis wird wieder ein Punkt vergeben. Q Gedächtnis – die Reihenfolge der drei Wörter ist egal. Q 3-Punkte-Befehl – jede korrekte Teilhandlung wird mit 1 Punkte bewertet. Q Satz schreiben – muss völlig selbstständig sein (mind. 1 Subjekt und 1 Prädikat), Schreibfehler werden nicht bewertet. Q Figur zeichnen – nur 1 Versuch! Kriterien sind: 2 Fünfecke, 2 Ecken müssen überschneiden. Rotation oder Zittrigkeit werden nicht bewertet. Bei der Durchführung ist auf die genaue Befolgung der Handlungsanweisungen zu achten (z. B. Zeit für die Antworten sollte 10 Sekunden nicht übersteigen). Der Test zeigt mäßige bis mittlere Demenzstadien besonders gut, für ganz frühe Demenzstadien (mild kognitive impairment) scheint er weniger sensitiv. Bei weniger als 27 Punkten sollte auf jeden Fall eine nähere Abklärung erfolgen.
Clock-Completion-Test Dieser Test ist insofern sehr komplex, als er sowohl Hinweise auf kognitive fizite als auch auf neuropsychologische Störungen wie Neglekt und Defi Apraxie sowie auf ev. Gesichtsfeldausfälle liefert. Von diesem Test gibt es mehrere Varianten. Wir bevorzugen das Bewertungsschema nach Watson. Man legt dem Patienten ein Blatt mit einem ca. 10 cm großen Kreis vor und bittet ihn, das Ziffernblatt einer Uhr einzuzeichnen. Zur Auswertung zieht man eine Linie durch 12-Uhr und den Mittelpunkt und eine zweite Linie im rechten Winkel ebenfalls durch den Mittelpunkt. In jedem Quadranten sollten genau 3 Ziffern sein, wobei gefi Ziffern dem im Uhrzeigersinn nächsten Quanau auf der Linie befindliche dranten zugeordnet werden. Jede Ziffer wird nur einmal gezählt. Jeder „richtige“ Quadrant (enthält 3 Ziffern) wird mit 0 Punkten bewertet. Befinden fi sich im ersten bis dritten Quadranten mehr oder weniger als 3 Ziffern, wird je 1 Punkt vergeben, ist der im vierten Quadrant falsch, so zählt dies vier Punkte. Die maximale Punktezahl ist somit 7. Ab 4 Punkten besteht der Verdacht auf das Vorliegen einer Hirnleistungsstörung.
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Geldzähltest Ein wesentlicher Faktor der Selbstständigkeit ist der Umgang mit Geld. Für alte Leute mit beginnendem kognitivem Abbau ist speziell die Währungsumstellung eine kritische Herausforderung. Deshalb wird dieser einfach durchzuführende Test wohl zunehmend an Bedeutung gewinnen, wenn das durchgeführte Assessmentprogramm alle wichtigen Punkte abdecken soll. Durchführung: Man benötigt eine Geldbörse mit einem Fach für Geldscheine und einem durch Druckknopf verschlossenen Fach für Münzen mit fi Geldbetrag, der sich aus einem Geldschein und mehreeinem definierten ren unterschiedlichen Münzen zusammensetzt. Der Patient wird gebeten, diesen Geldbetrag zu zählen. Sobald der Patient den richtigen Betrag genannt hat, wird die benötigte Zeit in Sekunden notiert. Wenn sich der Patient verzählt, wird er vom Untersucher darauf hingewiesen. Braucht der Patient länger als 300 Sekunden oder mehr als drei Versuche, wird der Test abgebrochen. Geriatrische Depressionsskala (Kurzversion) nach Yesavage (siehe Anhang) Tandemstand Dabei wird der Patient gebeten, einen Fuß genau vor den anderen zu stellen (Ferse berührt die Zehen des hinteren Fußes) und mindestens 10 Sekunden so stehen zu bleiben. Geht dies nicht, kann man auch den sog. „Semi-Tandem-Stand“ heranziehen. Dabei wird der Fuß um eine Fußbreite versetzt hingestellt, was vielen deutlich leichter fällt und in Hinblick auf die Balance ebenfalls aussagekräftig ist. Tinetti-Test 1. Teil – Balance-Probe, 2. Teil – Geh-Probe. Sturzrisiko erhöht, wenn weniger als 21 Punkte erreicht werden (siehe Anhang). Esslinger Transferskala nach Runge Der Transfer vom Rollstuhl zum Leibstuhl oder aus dem Bett in den Rollstuhl sind klassische Problemstellungen in der Rehabilitation. Bei alten Patienten mit Mobilitätsproblemen kann die Fähigkeit, selbstständig aus dem Bett zu kommen, für den Verbleib in der eigenen Wohnung das entscheidende Kriterium sein. Daher haben wir diese standardisierte Beschreibung in unser Assessmentprogramm aufgenommen:
Geriatrisches Assessment
Q Q Q Q Q Q
keine personelle Hilfe erforderlich spontane Laienhilfe ausreichend geschulte Laienhilfe erforderlich professionelle Hilfe nötig (1 Person) > 1 Helfer professionellen Standards nötig Transfer nicht durchführbar
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H0 H1 H2 H3 H4 H5
„Up & Go“-Test – definiert fi „Gehfähigkeit“ Man bittet den auf einem Sessel sitzenden Patienten, aufzustehen, 3 m weit zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen und sich wieder hinzusetzen. Das gewohnte Hilfsmittel, wie z. B. ein Gehstock, darf verwendet werden. Personenhilfe ist nicht zulässig – d. h. der Test ist in dem Fall nicht durchführbar. Dazu kann man die benötigte Zeit stoppen – der Vorgang sollte normalerweise in weniger als 20 Sekunden beendet sein. Braucht der Patient bis zu 29 Sekunden, so reicht dies gerade noch aus, eine Straße sicher zu überqueren. Bei längerer Dauer dieses Tests ist dem Patienten bis zur Verbesserung seiner Gehfähigkeit dringend davon abzuraten, allein Straßen zu überqueren.
11 Anhang Barthel-Index BARTHEL-INDEX (Hamburger Einstufungsmanual), erarbeitet von der Arbeitsgruppe „Barthel-Index“ der RAG Hamburg der BAG. 1. Essen 10 Punkte: Wenn das Essen in Reichweite steht, nimmt der Patient die Speisen und Getränke komplett selbstständig vom Tablett oder Tisch ein. Er nutzt sachgerecht sein Besteck, streicht sein Brot und schneidet das Essen. Alle diese Tätigkeiten führt er in angemessener Zeit aus. Ggf. ernährt er sich über eine selbst versorgte Magensonde/PEG-Sonde komplett selbstständig. 5 Punkte:
Es ist Hilfe bei vorbereitenden Handlungen nötig (z. B. Brot streichen, Essen zerkleinern, Getränk einschenken), der Patient führt Speisen und Getränke aber selbst zum Mund und nimmt sie selbstständig ein, oder der Patient benötigt Hilfe bei der Ernährung über seine Magensonde/PEG-Sonde.
0 Punkte:
Speisen und Getränke werden vom Patienten nicht selbstständig bzw. nicht ohne Aufforderung zum Mund geführt oder eingenommen, und er wird nicht über eine Magensonde/PEG-Sonde ernährt.
2. Aufsetzen und Umsetzen 15 Punkte: Der Patient transferiert sich komplett unabhängig aus einer liegenden Position in einen Stuhl/Rollstuhl und umgekehrt. Der Patient kommt aus dem Liegen zu einer sitzenden Position an der Bettkante (positioniert ggf. den Rollstuhl korrekt) und transferiert sich sicher auf den Stuhl/Rollstuhl.
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Umgekehrt führt er (nachdem er ggf. den Rollstuhl korrekt positioniert, die Bremsen betätigt und die Fußrasten angehoben hat) den Transfer vom Stuhl/Rollstuhl zum Bett sicher durch und legt sich aus der sitzenden Position an der Bettkante hin. 10 Punkte: Der Patient benötigt beim Aufrichten in den Sitz an die Bettkante und/ oder beim Transfer Bettkante-Stuhl/Rollstuhl und zurück Aufsicht oder geringe Hilfe (ungeschulte Laienhilfe). 5 Punkte:
Der Patient benötigt beim Aufrichten in den Sitz an die Bettkante und/ oder beim Transfer Bettkante-Stuhl/Rollstuhl und zurück erhebliche Hilfe (geschulte Laienhilfe oder professionelle Hilfe).
0 Punkte:
Der Patient wird aufgrund seiner körperlichen oder sonstigen Befindlichfi keit nicht aus dem Bett transferiert.
3. Sich Waschen 5 Punkte:
Wenn die Utensilien in greifbarer Nähe sind, wäscht sich der Patient am Waschplatz ohne Aufsicht oder zusätzliche Hilfe selbstständig Hände und Gesicht, putzt die Zähne/Zahnprothesen, kämmt seine Haare und rasiert sich gegebenenfalls. Auch hierzu notwendige vor- und nachbereitende Handlungen führt er selbst durch.
0 Punkte:
Der Patient erfüllt eine dieser Voraussetzungen nicht.
4. Toilettenbenutzung 10 Punkte: Wenn der Patient sich am Toilettenplatz befindet fi (sitzend oder stehend), benutzt er die Toilette oder den Toilettenstuhl komplett selbstständig inkl. Spülung/Reinigung. Er zieht hierbei die Kleidung selbstständig aus und an und reinigt sich nach der Toilettenbenutzung selbstständig mit Toilettenpapier. Wandhandgriffe oder andere Haltegriffe können, falls erforderlich, benutzt werden. 5 Punkte:
Der Patient benötigt, wenn er sich am Toilettenplatz befindet, fi bei der Toiletten- oder Toilettenstuhlbenutzung oder der Spülung/Reinigung von Toilette/Toilettenstuhl Aufsicht oder Hilfe (z. B. wegen des fehlenden Gleichgewichts oder beim Umgang mit der Kleidung oder bei der Benutzung des Toilettenpapiers).
0 Punkte:
Der Patient benutzt weder Toilette noch Toilettenstuhl.
5. Baden/Duschen 5 Punkte:
Wenn der Patient sich entkleidet vor der Badewanne oder Dusche befinfi det, nimmt er ohne Aufsicht oder zusätzliche Hilfe ein Vollbad oder Duschbad. Er besteigt und verlässt die Wanne/Dusche, reinigt sich und trocknet sich ab.
0 Punkte:
Der Patient erfüllt diese Voraussetzung nicht.
6. Aufstehen und Gehen 15 Punkte: Der Patient kommt ohne Aufsicht oder zusätzliche personelle Hilfe vom Sitzen in den Stand und geht selbstständig mindestens 50 m ohne Gehwagen. Er kann einen Stock oder Unterarmgehstützen benutzen, muss diese Hilfsmittel aber selbstständig in die richtige Position für die Benutzung bringen und sie nach dem Hinsetzen zur Seite stellen können.
Geriatrisches Assessment
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10 Punkte: Der Patient kommt ohne Aufsicht oder zusätzliche personelle Hilfe vom Sitzen in den Stand und geht selbstständig mindestens 50 m mit Hilfe eines Gehwagens. 5 Punkte:
Der Patient kommt – ggf. mit Laienhilfe – vom Sitzen in den Stand und bewältigt Strecken im Wohnbereich mit Laienhilfe oder am Gehwagen gehend. ALTERNATIV: Er bewältigt Strecken im Wohnbereich komplett selbstständig im Rollstuhl.
0 Punkte:
Der Patient erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
7. Treppensteigen 10 Punkte: Der Patient steigt ohne Aufsicht oder zusätzliche personelle Hilfe Treppen (ggf. inkl. seiner Stöcke/Gehstützen) über mindestens 1 Stockwerk hinauf und hinunter, wobei er den Handlauf benutzen kann. 5 Punkte:
Der Patient steigt mit Aufsicht oder Laienhilfe Treppen über mindestens 1 Stockwerk hinauf und hinunter.
0 Punkte:
Der Patient erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
8. An- und Auskleiden 10 Punkte: Wenn die Utensilien in greifbarer Nähe sind, zieht sich der Patient in angemessener Zeit komplett selbstständig an und aus inkl. seiner Strümpfe, Schuhe und ggf. benötigter Hilfsmittel (Korsett, Antithrombosestrümpfe, Prothesen, etc.). Anziehhilfen oder angepasste Kleidung dürfen verwendet werden. 5 Punkte:
Wenn die Utensilien in greifbarer Nähe sind, kleidet der Patient mindestens seinen Oberkörper in angemessener Zeit selbstständiger an und aus. Anziehhilfen oder angepasste Kleidung dürfen verwendet werden.
0 Punkte:
Der Patient erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
9. Stuhlinkontinenz 10 Punkte: Der Patient ist stuhlkontinent und führt hierzu ggf. notwendige rektale Abführmaßnahmen selbstständig durch. Ein Anus praeter wird ggf. komplett selbstständig versorgt. 5 Punkte:
Der Patient ist durchschnittlich nicht mehr als 1-mal/Woche stuhlinkontinent oder benötigt Hilfe bei rektalen Abführmaßnahmen oder seiner Anus praeter-Versorgung.
0 Punkte:
Der Patient ist durchschnittlich mehr als 1-mal/Woche stuhlinkontinent.
10. Harnkontinenz 10 Punkte: Der Patient ist harnkontinent oder kompensiert seine Harninkontinenz selbstständig und mit Erfolg (kein Einnässen von Kleidung oder Bettwäsche). Ein Harnkathetersystem wird ggf. komplett selbstständig versorgt. 5 Punkte:
Der Patient kompensiert seine Harninkontinenz selbstständig und mit überwiegendem Erfolg (durchschnittlich nicht mehr als 1-mal/Tag Einnässen von Kleidung oder Bettwäsche) oder benötigt Hilfe bei der Versorgung eines Harnkathetersystems.
0 Punkte:
Der Patient ist durchschnittlich mehr als 1-mal/Tag harninkontinent.
Unsicher
Unsicher
Unsicher, braucht Halt
Keine Schutzreaktion, Muss Füße bewegen, (würde fallen) behält Gleichgewicht
Lässt sich plumpsen, braucht Lehne, unzentriert
Stehsicherheit
Balance mit geschlossenen Augen
Drehung 360° mit offenen Augen
Stoß gegen die Brust (3-mal leicht)
Hinsetzen Datum: Punkte:
Unsicher
Balance in den ersten 5. Sek.
BALANCETEST:
Nicht möglich
Aufstehen vom Stuhl
Sicher mit geschlossenen Füßen
Sicher, aber ohne geschlossene Füße
Flüssige Bewegung Datum: Punkte:
Gibt sicheren Widerstand
Diskontin. Beweg. bd. Kontin. Bewegung Füße am Boden vor sicher dem nächsten Schritt
Sicher, ohne Halt
Sicher, ohne Halt
Diverse Versuche, rutscht nach vorn
2
Sicher, mit Halt
Nur mit Hilfe
Sicher, stabil
Unsicher
Gleichgewicht im Sitzen
1
0
Punkte
BALANCETEST
Mobilitäts-Test nach Tinetti (modifi fiziert)
Datum: Punkte:
Braucht Armlehne oder Halt (nur 1 Versuch)
3
In einer fließenden Bewegung
4
Patientenetikette
114 U. Sommeregger
Schlurfen, übertriebenes Hochziehen
Füße berühren sich beinahe
Ganz breitbeinig oder überkreuzt
Rumpfstabilität
Schrittbreite
Datum: Punkte:
Datum: Punkte:
Datum: Punkte:
Füße werden entlang einer imaginären Linie abgesetzt
Beim Absetzen des einen wird der andere Fuß gehoben, keine Pausen
Mindestens Fußlänge
Fuß total vom Boden gelöst, max. 2–4 cm abgehoben
Beginnt, ohne Zögern zu gehen, fließende Bewegungen
2
Bewertung Gesamtscore: < 20 Punkte: Sturzrisiko deutlich erhöht / 20–23 Punkte: Sturzrisiko leicht erhöht / 24–28 Punkte: Sturzrisiko nicht erhöht
Maximum = 28 Punkte
Datum: Punkte:
Rücken und Knie gestreckt, kein Schwanken, Arme werden nicht zur Stabilität gebraucht
Abweichung, Schwanken, Unsicherheit
Gesamtpunktezahl
Schwanken, einseitige Abweichung
Kein selbstständiges Gehen möglich
Wegabweichung
Datum: Punkte:
Phasen mit Beinen am Boden, diskontinuierlich
Kein selbstständiges Gehen möglich
Gangkontinuität
Datum: Punkte:
Schrittlänge bds. gleich
Schrittlänge variiert, Hinken
Schrittsymmetrie
GEHPROBE:
Weniger als Fußlänge
Schrittlänge (von Zehen des einen bis Ferse des anderen Fußes)
Kein selbstständiges Gehen möglich
Schritthöhe (von der Seite beobachtet)
1 Zögert, mehrere Versuche, stockender Beginn
0
Schrittauslösung (Patient wird auf- Gehen ohne fremde Hilfe nicht gefordert zu gehen) möglich
Punkte
GEHPROBE
Geriatrisches Assessment 115
116
U. Sommeregger
„Up & Go“-Test nach Podsiadlo und Richardson Timed „Up & Go“-Test: …………… sec Bewertung Zeitbedarf: < 20 s bedeutet im Allg. eine unabhängige Lokomotion 20–29 s liegen in einer „Grauzone“ 30 s und mehr bedeutet eine Tendenz zur personellen Hilfe bei vielen anderen Lokomotionsaufgaben des Alltags
Datum: Timed „Up & Go“-Test: …………… sec Datum: Timed „Up & Go“-Test: …………… sec
Erhoben von Dipl. PT:
Datum: Der „Up & Go-“Test besteht darin, dass ein Patient aus einem Stuhl üblicher Sitzhöhe (46 cm) mit Lehne aufstehen, 3 m gehen, sich umdrehen und sich wieder in den Stuhl setzen soll. In der Ausgangslage sitzt der Patient mit dem Rücken an der Rückenlehne, die Arme liegen auf den Armlehnen. Der Test kann mit und ohne Zeitnahme durchgeführt werden. Bei Zeitnahme wird der Patient instruiert, in seiner üblichen Geschwindigkeit zu gehen: Er soll nicht angetrieben werden. Vor der Zeitnahme findet ein Probedurchgang zur Eingewöhnung statt. Der Zeitbedarf ist in Sekunden zu messen. Der Gebrauch der üblichen technischen Hilfsmittel (Gehhilfen) ist gestattet, personelle Hilfe ist nicht erlaubt. – – –
Zeitbedarf unter 20 s bedeutet im Allgemeinen eine unabhängige Lokomotion. Zeiten von 20 bis 29 s liegen in einer „Grauzone“. Zeitbedarf von 30 s und mehr bedeutet eine Tendenz zur personellen Hilfe bei vielen anderen Lokomotionsaufgaben des Alltags.
Fragen der geriatrischen Depressionsskala (GDS) 1. Sind Sie grundsätzlich mit Ihrem Leben zufrieden?*
Ja / nein
2. Haben Sie viele Ihrer Aktivitäten und Interessen aufgegeben?
Ja / nein
3. Haben Sie das Gefühl, dass Ihr Leben leer ist?
Ja / nein
4. Sind Sie oft gelangweilt?
Ja / nein
5. Sind Sie im Hinblick auf die Zukunft voller Hoffnung?*
Ja / nein
6. Sind Sie über Gedanken wütend, die Ihnen nicht aus dem Kopf gehen wollen? Ja / nein 7. Sind Sie die meiste Zeit guten Mutes?*
Ja / nein
8. Haben Sie manchmal Angst, dass Ihnen etwas Schlechtes zustößt?
Ja / nein
9. Fühlen Sie sich die meiste Zeit glücklich?*
Ja / nein
10. Fühlen Sie sich oft hilfl flos?
Ja / nein
11. Werden Sie oft rastlos und zappelig?
Ja / nein
Geriatrisches Assessment
117
12. Ziehen Sie es vor, zu Hause zu bleiben, anstatt auszugehen und neue Dinge zu tun? Ja / nein 13. Machen Sie sich oft Sorgen um die Zukunft?
Ja / nein
14. Haben Sie das Gefühl, mit dem Gedächtnis in letzter Zeit mehr Probleme zu haben als sonst?
Ja / nein
15. Haben Sie den Eindruck, dass es schön ist, jetzt in dieser Zeit zu leben?*
Ja / nein
16. Fühlen Sie sich oft niedergeschlagen und hoffnungslos?
Ja / nein
17. Fühlen Sie sich ziemlich wertlos, so wie Sie im Augenblick sind?
Ja / nein
18. Machen Sie sich viel Gedanken über die Vergangenheit?
Ja / nein
19. Finden Sie das Leben sehr aufregend und interessant?*
Ja / nein
20. Macht es Ihnen Mühe, neue Pläne zu machen oder neue Unternehmungen zu beginnen?
Ja / nein
21. Fühlen Sie sich voller Energie?*
Ja / nein
22. Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Situation hoffnungslos ist?
Ja / nein
23. Haben Sie den Eindruck, dass es den meisten Leuten besser geht als Ihnen?
Ja / nein
24. Regen Sie sich oft über Kleinigkeiten auf?
Ja / nein
25. Haben Sie oft das Gefühl, dass Sie am liebsten schreien möchten?
Ja / nein
26. Haben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren?
Ja / nein
27. Freuen Sie sich, am Morgen aufzustehen?*
Ja / nein
28. Vermeiden Sie gesellige Zusammenkünfte?
Ja / nein
29. Ist es für Sie einfach, Entscheidungen zu treffen?*
Ja / nein
30. Ist Ihr Gedächtnis so klar wie früher?
Ja / nein
Jede Ja-Antwort = 1 Punkt. Mit * bezeichnete Fragen sind umgekehrt zu verrechnen. Für die 30-Fragen Version: 0–10 Punkte: Normale, ältere Personen. 11 und mehr Punkte sprechen für zunehmend schwere Depressionen. Schwer depressive Alterspatienten: durchschnittlich 23 Punkte. Für die 15-Fragen-Version (Kurzform) liegen noch keine Normwerte vor, es werden vorläufi fig folgende Zahlen angenommen: 0–5 Punkte: Normale, ältere Personen. Werte von 6 und mehr Punkten weisen auf eine zunehmend schwere Depression hin.
Mini Mental Status (Folstein et al. 1975, leicht modifi fiziert) Q Fragen zur Orientierung: Welches Datum haben wir heute? (Wochentag, Tag, Monat, Jahr.) Welche Jahreszeit haben wir? Wo sind wir hier? (Adresse/Klinik, Stockwerk, Ortschaft, Bundesland, Staat.) Q Kurzzeitgedächtnis: Folgende drei Begriffe sollen gemerkt werden: Ball – Fahne – Baum.
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U. Sommeregger
Q Rechenfähigkeit: Von 100 soll fortlaufend die Zahl 7 abgezogen werden (93 – 86 – 79 – 72 –65). Q Mittelfristiges Gedächtnis: Die drei zuvor genannten Begriffe (Ball – Fahne – Baum) sollen nochmals erinnert werden. Q Sprache: – Benennen eines Bleistiftes und einer Armbanduhr. – Nachsprechen des Satzes „Keine Wenns, Unds oder Abers“. – Durchführung folgenden Auftrages: „Nehmen Sie dieses Blatt in Ihre rechte Hand, falten Sie es in der Mitte und legen Sie es dann auf den Boden“. Q Lesen und Durchführen folgenden Auftrages: „Bitte schließen Sie jetzt Ihre Augen!“ Q Schreiben eines vollständigen Satzes. Q Abzeichnen einer Figur (zwei einander überschneidende Fünfecke).
Literatur Bach M, Nikolaus T, Oster P, Schlierf G (1995) Depressionsdiagnostik im Alter. Die „Geriatric Depression Scale“. Z Gerontol Geroatr 28: 42–46 Brown JS, et al. (2000) Urinary Incontinence: Does it Increase Risk for Falls and Fractures? J Am Geriatr Soc 48: 721–725 Clausen G, Lüttje D, Lucke C (1995) Zur Methode und Organisation des geriatrischen Assessments. Z Gerontol Geriat 28: 7–13 Folstein M, Folstein S, McHugh PR (1975) Mini-Mental-State: A Practical Method for Grading the Cognitive State of Patients for the Clinician. J Psychiatr Res 12: 189– 198 Gatterer G (1990) Alters-Konzentrations-Test (A-K-T). Hogrefe, Göttingen Toronto Zürich Gatterer G (1997) Psychodiagnostische Verfahren. In: Weis S, Weber G (Hrsg.) Morbus Alzheimer. Neurobiologie, Diagnose und Therapie. Beltz, Weinheim Gatterer G, Fischer P, Danielczyk W (1992) Erfassung von Orientierungsstörungen bei dementen Probanden mittels eines Fragebogens. In: Günther V, Meise U, Hinterhuber H (Hrsg.) Dementielle Syndrome. Eine Standortbestimmung. VIP, Innsbruck Wien, 128–133 Hofmann W, Nikolaus T, Pientka L, Stuck AE (1995) Arbeitsgruppe „Geriatrisches Assessment“ (AGAST): Empfehlungen für den Einsatz von Assessment-Verfahren. Z Geront Geriat 28: 29–34 Mahoney FL, Barthel DW (1965) Functional Evaluation. The Barthel Index. Md State Med J 14/2: 61–65 Nikolaus T., Bach M, Specht-Leible N, Oster P, Schlierf G (1995) The Times Test of Money Counting. A Short Physical Performance Test for Manual Dexterity and Cognitive Capacity. Age Ageing 24: 257–258 Pientka L (1995) Geriatrische Funktionsbewertung (Geriatric Assessment). In: Füsgen I (Hrsg.) Der ältere Patient. Problemorientierte Diagnostik und Therapie. Urban & Fischer, München, 57–73 Podsiadlo D, Richardson S (1991) The Timed „Up & Go“: A Test of Basic Functional Mobility for Frail Elderly Persons. J Am Geriatr Soc 39: 142–148
Geriatrisches Assessment
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Sommeregger U, Gatterer G, Baumgartner E, Meisl E, Popp W, Rosenberger-Spitzy A (1997) Geriatrisches Assessment – Das Wiener Modell. Z Gerontol Geriat 30: 235– 241 Stuck AE, Siu AL, Wieland GD, Adams J, Rubenstein LZ (1993) Comprehensive Geriatric Assessment: A Meta-Analysis of Controlled Trials. Lancet 342: 1032–1036 Tinetti ME (1986) Performance-Oriented Assessment of Mobility Problems in Elderly Patients. J Am Geriatr Soc 34: 119–126 Watson YI, Arfken CL, Birge SJ (1993) Clock Completion: An Objective Screening Test for Dementia. J Am Geriatr Soc 41: 1235–1240 Weyerer S, Geiger-Kabisch C, Kröper C, Denzinger R, Platz S (1990) Die Erfassung von Demenz und Depression mit Hilfe des Brief-Assessment-Interviews (BAI): Ergebnisse einer Reliabilitäts- und Validitätsstudie bei Altenheimbewohnern in Mannheim. Z Gerontol 23: 205–210 Yesavage JA, Brink TL, Rose TL, et al. (1983) Development and Validation of a Geriatric Depression Screening Scale: A Preliminary Report. J Psychiatr Res 39: 37–49
Psychosoziale Rehabilitation im Geriatriezentrum am Wienerwald G. Gatterer und K. Kaufmann
1 Einleitung und Problemstellung Psychosoziale Rehabilitation und forcierte Entlassungsvorbereitung sind ein neues Konzept zur Wiedereingliederung einer sowohl geriatrischen als auch einer sozial bedürftigen Patientengruppe in gewohnte oder neu geschaffene Wohnformen außerhalb eines geschlossenen Versorgungssystems unter Miteinbeziehung extramuraler Betreuungsformen (Angehörige, div. soziale Dienste, Tageszentren, usw.). Die Entlassung dieser beiden Patientengruppen aus einer vollstationären Betreuung führt oft zu einer physischen, psychischen und sozialen Stresssituation, deren Bewältigung nur mit ausreichender Vorbereitung und gezielter Hilfestellung eines multiprofessionellen Teams möglich wird. Zahlreiche psychosoziale Ursachen verhindern oft eine baldige Entlassung aus einem Geriatriezentrum, obwohl dies aus medizinischer und pfl flegerischer Sicht durchaus möglich wäre. Entweder ist überhaupt keine Wohnung vorhanden (bestehende Obdachlosigkeit) oder die Wohnsituation ganz einfach nicht oder nicht mehr geeignet. Auch aufgrund von fehlender Betreuung zu Hause und damit oft verbundener Verwahrlosung, von familiären Problemen, langen, vorhergehenden Krankenhausaufenthalten, Vereinsamung und von psychischen Faktoren (Ängsten, Depressionen – oft ausgelöst durch chronischen Alkoholismus und andere Suchtverhalten) ist eine Entlassung nur mit einer zielgerechten individuellen Therapieplanung eines interdisziplinären Teams vorzubereiten.
2 Projektplanung und Durchführung Das Projekt wurde 1994 an der Wohnheimabteilung im Geriatriezentrum am Wienerwald installiert – einer Abteilung, die bis dahin eine weitgehend pfl flegeunabhängige Patientengruppe versorgte, die auch durchaus entlassungsfähig gewesen wäre, aber aufgrund von vielerlei Faktoren (fehlende Wohnung, Wohnungsverlust, etc.) und fehlender zielgerichteter Unterstüt-
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G. Gatterer und K. Kaufmann
zung letztendlich im Langzeitpflegebereich fl verblieb. Es war daher notwendig, dieses Langzeitwohnheim in ein Übergangswohnheim bzw. in eine Abteilung für gezielte Entlassungsvorbereitung umzugestalten, wobei die jetzige Betreuungsstruktur weitgehend jener im extramuralen Bereich entspricht, um die Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und alltagspraktische Fähigkeiten zu fördern und zu erhalten, aber noch die Sicherheit einer stationären Betreuung gewährleistet. Das Haus war aufgrund seiner baulichen Struktur (53 Zweibettzimmer, ähnlich einer privaten Wohnsituation) am ehesten geeignet. a) Aufnahmegründe Als Gründe für die Aufnahme zur Rehabilitation an dieser neu geschaffenen Abteilung gelten: Q Q Q Q Q Q Q
nicht (mehr) geeignete Wohnform, soziale Faktoren/fehlende extramurale Betreuung, familiäre Probleme, langer, vorhergegangener Krankenhausaufenthalt (Hospitalismus), Verwahrlosung, Vereinsamung, psychische Faktoren (Ängste, Depressionen, Alkoholismus). b) Aufnahmekriterien
Da die Struktur und Versorgung dieser neuen Abteilung bestimmte Voraussetzungen an die Patienten stellt, können nur Patienten aufgenommen werden, die folgenden Kriterien entsprechen: Q Entlassungswilligkeit bzw. Motivierbarkeit, Q Mobilität und Selbstständigkeit (ATL-Funktionen), Q ausreichender Gesundheitszustand (keine schweren körperlichen Erkrankungen, die eine ständige intensive medizinische Versorgung erfordern würden), Q kognitive Fähigkeiten: klinisch/psychologische Diagnostik zur Abklärung einer Demenz sowie sonstiger für das Leben außerhalb einer vollstationären Betreuung notwendiger kognitiver Funktionen, Q Wohnmöglichkeit außerhalb des GZW (eigene Wohnung, Pensionistenheim, Wohngemeinschaft, …) erscheint realisierbar, Q soziale Faktoren (Angehörige, Sachwalter). c) Therapieplanung und Durchführung Bei der Erstellung der individuellen Therapieplanung sind das gesamte interdisziplinäre Team und der Patient mit einbezogen. Sie umfasst folgende Bereiche: Q Erfassung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten, Q Erhebung der sozialen Situation,
Psychosoziale Rehabilitation im Geriatriezentrum am Wienerwald
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Q Motivation des Patienten, Q konkrete Zielsetzung unter Miteinbeziehung des Patienten und seiner Angehörigen bezüglich Wohnform, notwendiger extramuraler Dienste, eines exakten Zeitplanes, genauer Aufgabenteilung, Q Schaffung geeigneter Tagesstrukturen (Entlassungsvorbereitungsgruppen, Trainingsgruppen, Tageszentren, …), Q regelmäßige Teamsitzungen, Q exakte Dokumentation aller Berufsgruppen. Das therapeutische Angebot, das vorwiegend zur Schaffung einer Tagesstruktur dient, umfasst Q medizinische Betreuung (ähnlich einer Hausarztordination mit fi fixen Ordinationszeiten bis 13.00 Uhr, außerhalb dieser Zeiten Versorgung ähnlich dem Notarztbetrieb durch Ärzte anderer Abteilungen des GZW), Q pflegerische fl Betreuung (das gesamte Team wurde in reaktivierender Pflege fl sowohl theoretisch als auch praktisch geschult), Q klinisch-psychologische Maßnahmen (Psychodiagnostik und Psychotherapie, Krisenintervention), Q Physiotherapie (Gruppentherapien, Mobilitätssteigerung, Schmerzbekämpfung), Q Ergotherapie (Selbstständigkeitstraining, Haushaltstraining, funktionelle Ergotherapie bei bestehenden Behinderungen, kognitive Trainingsgruppen), Q zusätzliche Versorgung durch Sozialarbeiter (Wohnraumbeschaffung, Regelung finanzieller Angelegenheiten, Dokumentenbeschaffung, Organisation von sozialen Diensten, Beratung in Rechtsangelegenheiten). Von großer Bedeutung ist dabei der reaktivierende Pflegeeinsatz, fl ein Betreuungskonzept, das die Lebenserfahrung und die Fähigkeit des Patienten in den Mittelpunkt stellt („alles was ein Mensch konnte, kann er wieder lernen“). Durch gezieltes Setzen von Maßnahmen (Biografi fieerstellung, Gesprächsführung, individuelle Bezugspersonen) versucht man, den Leistungswillen zu erwecken und durch Haushaltstraining, Selbsthilfetraining, kognitives Training, differentialdiagnostische Ausgänge sowie Realitätsorientierungstraining das Leistungsausmaß des Patienten zu steigern. Dabei ist der differentialdiagnostische Ausgang mit seinem sowohl diagnostischen als auch therapeutischen Nutzen ein ganz wichtiges Instrument. Dieser wird jedoch nicht nur von Pflegepersonen, fl sondern je nach Notwendigkeit von der dafür am besten geeigneten Person durchgeführt. Er bietet die Gelegenheit zur Q Überprüfung der tatsächlichen Gegebenheiten in einer gewohnten oder neu geschaffenen Wohnform (Einrichtung, Lage, sanitäre Anlagen, behindertengerechte Adaptierung), Q Überprüfung des sozialen Umfeldes, Q Verhaltensbeobachtung des Patienten während des DDAs bezüglich Orientierung, Mobilität, Ausdauer und Gedächtnisleistung,
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G. Gatterer und K. Kaufmann
Q Erfassung der körperlichen und psychischen Belastbarkeit eines Patienten. Oft sind aber auch ein zusätzlicher Motivationsschub und ein Realitätsgewinn zu beobachten. Im Rahmen der Übergangspflege fl werden entlassene, aber auch zur Entlassungsvorbereitung beurlaubte Patienten nachbetreut, um sie in die extramurale Betreuungsstruktur (soziale Dienste, Tageszentren, Angehörigenkontakte) zu begleiten, aber auch, um das Funktionieren dieser Maßfl mit genahmen zu beobachten. Weiters sind eine exakte Pflegeplanung nauer Defi finition des jeweiligen Problems, eine genaue Ursachenergründung, das Setzen von zielführenden Maßnahmen und eine Ergebniskontrolle von enormer Wichtigkeit. In der medizinischen Versorgung ist das auf einem Hausarztprinzip aufgebaute „Ambulanzkonzept“ besonders hervorzuheben. Dadurch wird der Patient bereits rechtzeitig darauf vorbereitet, aktiv Hilfe zu suchen. Zusätzlich werden auch Bereiche wie „Umgang mit Medikamenten“ und „pfl flegerische Maßnahmen“ mit dem Patienten eintrainiert. Bereits an der Abteilung wird der Patient insofern auf eine selbstständige Bewältigung seiner körperlichen Krankheiten vorbereitet. Psychologische und psychotherapeutische Maßnahmen helfen den Patienten bei der Bewältigung von Ängsten, Krisen und Konflikten. fl Eine gezielte psychodiagnostische Abklärung verhindert Über- bzw. Unterforderung. Weiters ist der Psychologe auch als Koordinator verschiedenster Maßnahmen tätig. Die Sozialarbeiter stellen die direkte Verbindung in den extramuralen Bereich her. Sie koordinieren extramurale Hilfen sowie Wohnmöglichkeiten und helfen bei fi finanziellen Problemen.
3 Ergebnisse In Abb. 1 sind die Ergebnisse der letzten 10 Jahre dargestellt. Wie daraus ersichtlich, ergab sich vom Projektbeginn bis jetzt eine signifikante fi Steigerung sowohl bei den Aufnahmezahlen als auch bei den Entlassungen. Mit einem prozentuellen Anteil von 80% Entlassungen kann das Projekt als erfolgreich angesehen werden. Dies ist jedoch nur durch die intensive interdisziplinäre Kooperation von allen beteiligten Bereichen möglich. Der Anteil von 20% „fehlplatzierten“ Patienten, bei denen eine Entlassung aus verschiedensten Gründen nicht möglich war, erscheint aus unserer Sicht insofern gerechtfertigt, da es sinnvoller erscheint, eine Rehabilitation auch bei schwierigeren Fällen anzustreben, als einen Patienten zu früh auf eine Langzeitabteilung zu verlegen.
Psychosoziale Rehabilitation im Geriatriezentrum am Wienerwald
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Abb. 1
4 Probleme Natürlich ergibt sich bei einem so komplexen Projekt auch eine Anzahl von Problembereichen, die übersichtsartig folgendermaßen zusammengefasst werden können: a) Patientenbezogene Probleme: Q Angehörige sprechen sich gegen Entlassung aus (hier ist Angehörigenbetreuung von enormer Wichtigkeit), Q fi finanzielle Probleme (Einkommen, Schulden, usw.), Q Wohnungssanierungsprobleme, Q Alkoholismus und anderes Suchtverhalten, eventuell verbunden mit Verwahrlosung bei oftmals fehlender Entzugswilligkeit, Q Ängste, Depressionen, suizidale Neigung, Q Hospitalismus bei zu langer Verweildauer. b) Begrenzte eigene Ressourcen (personell, strukturell, finanziell). c) Kontextuelle Faktoren: Viele Problembereiche, die vorwiegend dadurch entstehen, dass die jetzigen Versorgungsstrukturen noch überwiegend auf intramurale Bereiche ausgerichtet sind. Dies beinhaltet etwa den schweren Zugang zu Pensionistenheimplätzen, die geringe Anzahl von Wohngemeinschaften, die extramurale Versorgung (Heimhilfe, Essen auf Rädern) und die starke organisatorische Trennung zwischen stationärem, teilstationärem und ambulantem Bereich.
5 Diskussion Das Projekt „psychosoziale Rehabilitation“ stellt einen neuen, patientenorientierten Ansatz der Betreuung und Wiedereingliederung in den extramuralen Bereich von Patienten des Geriatriezentrums am Wienerwald dar.
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G. Gatterer und K. Kaufmann: Psychosoziale Rehabilitation
Durch die Schaffung einer speziellen Station, die den Anforderungen des Lebens zu Hause weitgehend entspricht, jedoch noch immer die Sicherheit einer vollstationären Betreuung in gewisser Hinsicht bietet, konnte die Entlassung von Patienten des GZW deutlich erhöht werden. Als besonders wichtige Aspekte dieses Konzeptes können die spezifi fische Vorselektion der Patienten (Assessment), das interdisziplinäre, ressourcenorientierte Vorgehen, strukturelle Veränderungen im stationären Bereich (Organisationsstruktur), die Vernetzung mit ambulanten Organisationen und die starke Patientenorientierung hervorgehoben werden. Dadurch war es möglich, die Entlassungszahlen signifikant fi zu erhöhen und die Lebensqualität der betroffenen Patienten zu verbessern. Aktuell wird ein Kooperationsprojekt für eine betreute Wohnstruktur mit einem anderen Träger durchgeführt, wobei die Abteilung für psychosoziale Rehabilitation die Vorbereitung der Patienten auf dieses Wohnprojekt übernimmt.
Die multidisziplinäre Betreuung schwerstkranker und sterbender alter Menschen Marina Kojer, Martina Schmidl und Michaela Zsifkovics
Laut Defi finition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Palliativmedizin die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt. Dieses Konzept kann auch auf den Bereich der Geriatrie angewendet werden und wird im folgenden Beitrag praxisrelevant dargestellt.
Die Geriatrie hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten sprunghaft fl ist längst keine „Bewahranweiterentwickelt. Das moderne Pflegeheim stalt“ mehr, seine Tore sind weit offen, viele Wege führen alte und hochbetagte Menschen wieder in ihr gewohntes Leben zurück. Die in den letzten Jahren stetig ausgebauten ambulanten Dienste ermöglichen es einer großen Zahl chronisch Kranker, im vertrauten Umfeld betreut zu werden. Dennoch ist die stetig anwachsende Zahl der Pflegeheimbetten fl in der westlichen Welt ständig belegt, und viele Hochbetagte warten in den Spitälern und zu Hause darauf, aufgenommen zu werden. Wer sind die Menschen, die diese Betten belegen? Etwa ein Viertel (Tendenz sinkend!) sind „Hoffnungsträger“ für eine frühere oder spätere Entlassung nach Hause. Ein weiterer, kleiner Teil setzt sich aus „Verlegenheitslösungen“ (jüngere, körperlich und geistig Behinderte, ausgebrannte Alkoholiker, anstaltspfl flichtige Geisteskranke) zusammen, für die sich in unserem Sozialsystem derzeit kein geeigneterer Platz fi findet. Und die Mehrzahl? Was hält den großen Rest für immer im Pflegeheim fl fest? Die Majorität der im Pfl flegeheim Betreuten sind Patienten, das heißt fl und Therapeuten Leidende, die ständig Hilfe von Ärzten, Pflegepersonen brauchen. Sie sind, wiewohl sie bei uns wohnen, keine Bewohner, sie
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M. Kojer et al.
konnten sich ihren Wohnort nicht aussuchen, ihre Leiden und ihre Hilflosigkeit haben ihn erzwungen. Sie sind auch keine Kunden, sie können nicht weggehen, wenn ihnen das gebotene Service nicht passt, sie gehen mit uns keine Geschäftsbeziehung ein, und sie haben Anspruch auf unser weit über das „Geschäftliche“ hinausgehende menschliche Engagement. Unsere Patienten sind in der Mehrzahl hochbetagt, schwer krank, behindert und/oder dement. Wehr- und hilflos fl erleben und durchleiden sie die wohl schwierigste Zeit im Leben jedes Menschen in unserer Obhut: die letzte Lebensphase und die Zeit des Sterbens. Die letzte Lebensphase kann Tage, Wochen, aber auch ein Jahr oder noch länger dauern. Manchmal kommt der Tod plötzlich und unerwartet; zumeist erstreckt sich die Zeit des Sterbens, in der Sprache der Mediziner die „Finalphase“, über wenige Tage. Diese Zeit beginnt erst, wenn sich die Waagschale des Lebens endgültig und unübersehbar zum Tod hinneigt. Der Tod kann als Freund kommen und dem alten Menschen seine Hand sanft aufs Herz legen, er kann aber den Erschöpften auch stürmisch und grausam immer wieder zum aussichtslosen Kampf auffordern. Viele Menschen fragen sich: „Wie wird es einmal für meine Mutter, für meinen Bruder, für mich sein?“ Früher haben die Menschen „für eine gute Sterbestunde“ gebetet. Zu Recht, denn Schicksalhaftes lässt sich von uns nicht beeinflussen. fl Über sehr vieles allerdings entscheiden fachliche und menschliche Kompetenz der Betreuer. Wenn nichts mehr zu machen ist, ist immer noch viel zu tun – und auch einiges zu lassen. „In welche Hände werde ich fallen, wenn es für mich einmal so weit ist?“, fragen Betagte sich bang, wenn sie spüren, dass ihre Kräfte nachlassen. „Wird mein Wille auch noch respektiert, wenn ich wehrlos bin? Wer wird mir helfen, wenn ich Schmerzen habe? Wird jemand mich halten, wenn ich Angst habe?“ Hunderttausende wehr- und hilfl flose alte Menschen in den Pfl flegeheimbetten der Welt finden bis jetzt nur ausnahmsweise multiprofessionelle Betreuungskonzepte vor, die ihren vielen Beschwerden, Bedürfnissen und Wünschen entsprechen. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass ihre Betreuer im Rahmen ihrer Ausbildung kaum auf diese Aufgabe vorbereitet werden: Ärzte und Pfl flegende lernen, wie man Menschen gesund, zumindest aber wesentlich gesünder macht, wie man sie, so gut und schnell es geht, wieder auf die Beine stellt. Unser Repertoire beschränkt sich fast ausschließlich auf Maßnahmen der heilenden Medizin: Der Unfallchirurg nagelt das Bein zusammen, der Gynäkologe entbindet Schwangere. Der Kardiologe behandelt den Herzinfarkt; kommt der Patient auf die Beine und kann sein normales Leben wieder aufnehmen, wurde gute Arbeit geleistet, stirbt er, ist das ein Misserfolg. Wo bleiben die Erfolge, wenn, wie im Pflefl geheim, letztlich fast jeder stirbt? Es lohnt sich, den vielen offenen Fragen nachzugehen: Kann es für Hochbetagte, kann es für schwer Demente am Ende ihres Weges Lebensqualität geben? Ist eine eigene medizinische, pflegerische, fl therapeutische Qualität in der letzten Lebensphase, ist ein „erlebenswertes Sterben“ überhaupt denkbar? Haben hochbetagte Sterbende Wünsche und Bedürfnisse? Gibt es vielleicht sogar eine Qualität des Sterbens (Kojer 2006b)? Welche
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Qualität könnte das sein, und wie ist sie erreichbar? Dies sind die wesentlichsten Fragen, mit denen sich die palliative Geriatrie konfrontiert.
1 Sind Hochbetagte Palliativpatienten? Laut Definition fi der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Palliativmedizin die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt. Trifft dies auf Hochbetagte zu? Hochbetagte leiden an: Q chronisch fortschreitenden, unheilbaren Erkrankungen (Abnützungserkrankungen an Wirbelsäule und Gelenken, Herz- oder Niereninsuffifi zienz, bösartigen Erkrankungen, Diabetes, Demenz, …); Q die meisten haben Schmerzen und/oder andere quälende Beschwerden; Q Heilung oder wesentliche Besserung sind häufig fi nicht mehr erzielbar; Q die Lebenserwartung ist (aus Alters- und Krankheitsgründen) beschränkt; Q Lebensqualität ist in dieser Lebensphase wichtiger als Lebensquantität. Sehr alte, schwer chronisch kranke Menschen entsprechen damit in jedem Punkt den von der WHO geforderten Kriterien. Die Mitarbeiter der 1. Medizinischen Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie haben es sich bereits seit 1995 zur Aufgabe gemacht, für das Recht hochbetagter Patienten auf palliative Behandlung, Betreuung und Begleitung zu kämpfen und ein dafür geeignetes Betreuungskonzept zu erarbeiten. Unseren Weg, unsere Ziele und die bisher gewonnenen Erkenntnisse haben wir in dem Buch „Alt, krank und verwirrt. Einführung in die Praxis der Palliativen Geriatrie“ zusammengefasst (Kojer 2003). Obwohl unsere Gedanken für jeden leicht nachvollziehbar sind, dauerte es jahrelang, ehe sie nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von den Palliativmedizinern selbst als legitim, ja als zwingend angenommen wurden (vgl. Morrison und Meier 2003; Wilkening et al. 2003). Heute wissen wir: Sehr alte Menschen brauchen Palliativmedizin oder, besser und umfassender ausgedrückt, Palliative Care1. Die meisten von ihnen brauchen allerdings nicht nur Palliative Care! Nur wenn quälende Symptome nicht mehr kausal behandelt werden können, ist es angezeigt, sie ausschließlich sanft durch lindernde Maßnahmen zuzudecken. Palliative 1 Ich bevorzuge den Begriff Palliative Care deshalb, weil er sich nicht nur auf die Leistung einer bestimmten Berufsgruppe bezieht. Die Behandlung, Betreuung und Begleitung Schwerstkranker und Sterbender ist kein Profi filierungsfeld für eine Profession, sondern immer eine multiprofessionelle Leistung, für deren Gelingen jeder an seinem Platz wichtig ist.
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Care darf nicht als modisches Deckmäntelchen für Inkompetenz oder sorgloses Arbeiten missbraucht werden! Noch weniger dürfen lindernde Medizin und Pfl flege in heuchlerischer Schönfärberei zu Helfershelfern der Euthanasie gemacht werden.
2 Angebote der palliativen Geriatrie Alte Menschen leiden häufiger fi an Schmerzen und quälenden Beschwerden als jüngere, nur fehlen ihnen aus vielen Gründen oft die Möglichkeiten, ihre Klagen zum Ausdruck zu bringen und Hilfe einzufordern. Viele leiden, weil sie ihre Schmerzen nicht entsprechend mitteilen können und ihre Betreuer weder von sich aus daran denken, noch gelernt haben, Schmerzen auch dann zu erkennen, wenn die Kommunikation erschwert ist. Es kann recht schwierig sein, die Schmerzen, Wünsche und Bedürfnisse alter Menschen in Erfahrung zu bringen. Viele sind zu krank, um sich mitzuteilen, bei anderen versagt das Kurzzeitgedächtnis: Der Schmerz, den sie z. B. bei der Körperpfl flege empfunden haben, ist eine Stunde später, wenn der Doktor kommt, bereits vergessen. Der Großteil der Pfl flegeheimpatienten (etwa 70%, Tendenz steigend) ist dement. Die meisten unserer Patienten sind daher nicht (oder kaum) in der Lage, Klagen so zu formulieren, dass sie ohne Weiteres verstanden werden können. Viele von ihnen vermögen auch dann keine klare Auskunft zu geben, wenn sie gezielt nach Schmerzen befragt werden. Sie spüren den Schmerz, können ihn aber oft nicht orten und wissen nicht mehr, dass das, was sie quält, „Schmerz“ heißt. Daher werden leider häufi fig nicht die Schmerzen selbst, sondern erst ihre Folgestörungen wie Unruhe, Schreien, zunehmende Verwirrtheit, Schlafl flosigkeit oder Aggressivität behandelt. Der „Randalierer“ wird mit Hilfe von Medikamenten „beruhigt“. Nun hat er nicht einmal mehr genug Kraft, um zu schreien … Es genügt daher nicht, Methoden der Palliative Care, die für andere Patientengruppen (vor allem für jüngere Karzinompatienten) entwickelt wurden, auch sehr alten Menschen zugänglich zu machen. Um dieses Fachwissen sinnvoll einsetzen zu können, muss vorerst die Möglichkeit geschaffen werden, mit geschwächten, mehrfach behinderten, vor allem aber mit dementen Hochbetagten zu kommunizieren (Kojer 2005). Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, auch die Kommunikation im Team zu optimieren. Nur so können alle Beobachtungen und Erfahrungen in Entscheidungen mit einfl fließen. Im Weiteren sollen die wesentlichsten Bausteine der palliativen Geriatrie besprochen werden: Q Q Q Q Q Q
Kommunikation, Schmerztherapie, Symptomkontrolle, palliative Pfl flege, Patientenwünsche, Ethik am Lebensende und Ethik für den Alltag, Ergo- und Physiotherapie, Wahrnehmung als Brücke zum Leben,
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Q palliative Betreuung mittel bis schwer dementer Hochbetagter, Q Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen.
Kommunikation Die Geriatrie kennt viele brennende Fragen. Von all diesen Fragen stehen jene der Kommunikation für mich an erster Stelle. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns nicht fragen: „Wie kann ich mit Dir in Beziehung treten? Was kann ich dazu beitragen, damit wir einander verstehen? Wie kann ich wissen, was Dich quält? Woran erkenne ich Deinen Willen?“ Wir Ärzte haben oft ganz verlernt, eine tragfähige Beziehung zu unseren Patienten aufzubauen. Wie soll es uns da gelingen, gute Wege zu Hochbetagten, die sich nicht mehr mitteilen können, zu finden? Falls wir Ärzte und nicht nur Medizinfachleute sein wollen, müssen wir lernen, uns auf unsere Patienten einzustellen und ein gemeinsames Verständnis mit ihnen zu fi finden. M. Gottschlich (1998) kommt zu dem Schluss: „Was wir brauchen, ist ein authentisches Kommunikationsverhalten von Ärzten, ein Kommunikationsverhalten, das im Einklang mit dem ‚Arzt-Sein‘ steht.“ Je länger ich mit alten Menschen arbeite, desto klarer wird mir, dass sie trotz all ihrer Behinderungen in der Regel bis zum Schluss wissen, was sie für ihre eigene Person wollen. Wenn wir sie nicht verstehen, liegt es an uns, nicht an ihnen! Es liegt an unserer Überheblichkeit („Ich weiß besser, was für Dich gut ist“), an der Leichtfertigkeit, mit der wir bereit sind, Macht auszuüben, und nicht zuletzt an unserer fehlenden Kompetenz in Kommunikation mit schwer Kontaktierbaren, mit Hör- und Sehschwachen, mit nicht Sprechfähigen, mit Verlangsamten und Verstörten, mit Dementen, Verwirrten und Sterbenden. Um mit diesen Menschen in Kontakt zu treten, ihr Vertrauen zu verdienen, sie zu verstehen und von ihnen verstanden zu werden, genügt es nicht, ein Kommunikationsseminar zu besuchen. Die unverzichtbaren Voraussetzungen dazu sind fachliche und menschliche Kompetenz. Das Vorhandensein der nötigen menschlichen Kompetenz (Liebe zu schwerkranken Hochbetagten, Geduld, Einfühlungsvermögen, Herzlichkeit, Taktgefühl, Beobachtungsvermögen, …) ist eine unabdingbare Voraussetzung für diesen Beruf (Kojer 2005; Kojer et al. 2005). Wer nur gewissenhaft seinen Job verrichten möchte, ist hier fehl am Platz! Fachliche Kompetenz (Ausbildung in Palliative Care, Validation nach Naomi Feil2, basale Stimulation, …) ist eine unabdingbare Voraussetzung, um gute Arbeit zu leisten. Je hilfl floser der alte Mensch wird und je näher sein Lebensende rückt, desto stärker hängt seine Lebensqualität davon ab, ob es uns gelingt, eine tragfähige Beziehung zu ihm herzustellen und ihm Sicherheit zu vermitteln: „Hier kann ich mich anvertrauen, hier bin ich geborgen und gut aufgehoben. Ich brauche keine Angst zu haben, mir wird geholfen“. Dieser Sicherheit liegt bei Hochbetagten am Lebensende weniger ein logischer Denkprozess als eine in 2
Siehe das Kapitel „Validation“.
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der Gefühlsebene verankerte Gewissheit zugrunde. Diese Gewissheit bildet Grundlage und Rückgrat der Lebensqualität sehr alter Menschen auf der letzten Wegstrecke.
Schmerztherapie, Symptomkontrolle, palliative Pfl flege Der Arzt ist hier nicht mehr als Heiler, sondern als Linderer und Helfer gefragt. Schmerztherapie und Symptomkontrolle sind entscheidende Teile der Palliativmedizin und sollten wie diese im Grunde Aufgabe jedes Arztes sein. Schmerzen und quälende Symptome alter Menschen werden erst behandelbar, sobald sie erkannt wurden. Das ist, wie erwähnt, noch immer viel zu oft nicht der Fall. Selbst wenn der Schmerz erkannt wurde, wird er fi zu wenig beachtet, in seiner Intensität unterschätzt bzw. in seiner häufig Bedeutung für die Lebensqualität bagatellisiert (Heinrich 1998; Gold und Roberto 2000; Schmidl 2006). Laut internationalen Studien leiden bis zu 80% der Langzeitpatienten in Pflegeheimen fl unter zumeist chronischen Schmerzen. Etwa die Hälfte von ihnen erhält keine adäquate Therapie (Ferrell 1996; Morrison et al. 2003). Vielfach ist die ärztliche Präsenz in Alten- und Pfl flegeheimen zu gering, oder die Ärzte schrecken davor zurück, bei Hochbetagten stark wirksame Analgetika einzusetzen. Oftmals begnügt man sich bei alten Menschen auch vorschnell damit, einfach irgendein xbeliebiges Schmerzmittel zu geben. Für Patienten aller Altersklassen gilt: Auch wenn der Anspruch des Heilens fallen gelassen werden musste, ist es wichtig, nach der Schmerzursache zu suchen; diese ist oft der einzige Wegweiser zu einer zielführenden Therapie. Jede Palliativmaßnahme richtet sich an den ganzen Menschen und erfordert daher ein ganzheitliches Konzept. Schmerzerleben und Schmerzausmaß werden wesentlich von anderem Leid mitbestimmt. Es ist wichtig zu wissen, inwieweit neben den körperlichen auch seelische (Leistungseinbußen, Verlusterlebnisse, Ängste), soziale (z. B. Fehlen von nahen Bezugspersonen) oder spirituelle (z. B. Sinnlosigkeitsgefühl) Schmerzen den Menschen belasten. Der tatsächlich erlebte Schmerz ist die Resultierende aus allen gleichzeitig bestehenden Beeinträchtigungen. Seine Behandlung fordert alle am Krankenbett Tätigen als Fachleute und Menschen. Cecily Saunders, die Begründerin der Hospizbewegung, spricht in diesem Zusammenhang vom „totalen Schmerz“. Schmerz ist für sie das, was der Patient als Schmerz bezeichnet. Nur der Leidende selbst weiß, ob ihm etwas weh tut und wie stark ihn sein Schmerz belastet: Er ist der einzige Experte für seinen Schmerz. Ist er aus somatischen oder kognitiven Gründen nicht mehr fähig, sich mitzuteilen, sind wir auf indirekte Schmerzzeichen angewiesen. Dem guten Beobachter entgehen auch feine Veränderungen nicht. Er achtet z. B. auf den angespannten Gesichtsausdruck, die verkrampfte Haltung oder Veränderungen des Atemrhythmus, Unruhe, Schreien oder unerklärliche Verhaltensänderungen. Ist der Patient unruhiger als sonst? Ist der Schlaf gestört, oder schmeckt das Essen nicht mehr? All das kann (aber muss nicht!) Hinweis auf Schmerzen sein.
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Schmerz, Unsicherheit, Angst und innere Not – eine Herausforderung für Palliative Care Frau Lena, geb. 1912, lebte bis vor 2 Jahren, nur von einer Heimhilfe unterstützt, alleine in ihrer Wohnung. Zuletzt war sie kaum mehr mobil und sehr schwach. In den Nächten plagten sie Unruhe, Angst und Unsicherheit. Sie weigerte sich, ins Bett zu gehen, und brachte ihre Nächte im Fauteuil zu. Tochter und Heimhilfe waren zunehmend beunruhigt und veranlassten schließlich ihre Einweisung ins GZW. Als Frau Lena bei uns aufgenommen wurde, war sie mittelgradig dement. Sie konnte nur noch im Lehnstuhl sitzen, aber nicht mehr gehen. Ihre Wirbelsäule war durch eine schwere Kyphoskoliose verkrümmt. Verständlicherweise klagte sie über starke Kreuzschmerzen. Davon abgesehen tat ihr das rechte, durch eine Arthrose deformierte, gerötete und stark geschwollene Knie weh. Ebenso wie zu Hause konnte sie auch bei uns keinen Schlaf fi finden. Sobald es dunkel wurde, saß sie, von einer nicht fassbaren Angst geplagt, aufrecht und angespannt in ihrem Bett und schlief erst dann ein, wenn es bereits zu dämmern begann. Wir vermuteten, dass ihre Schmerzen zumindest mit Ursache für Schlafstörung und mangelnde Mobilität waren, und begannen daher gleich mit der Schmerzeinstellung. In kleinen Schritten gelang es uns, die Therapie dem augenblicklichen Bedarf anzupassen. Schließlich meinte Frau Lena sehr erleichtert, dass sie nun keine Schmerzen mehr hätte. Leider änderte das gar nichts an ihrem Allgemeinzustand, ihrer Mobilität und ihrer Schlafstörung. Schließlich entschlossen wir uns, es mit einem angstlösenden Medikament zu versuchen. Leider scheiterten wir jedes Mal beim Versuch, Frau Lena mit der kleinstmöglichen Dosis eines schwach wirksamen Präparats zu behandeln. Sie reagierte stets mit so starker Sedierung, dass wir das Mittel bereits nach wenigen Tagen absetzen mussten. Frau Lena litt auch weiterhin an Schlafstörungen, Angst, Anspannung und innerer Unruhe. Nun beschlossen wir, es mit basaler Stimulation3 zu versuchen. Für die Nacht bauten wir für Frau Lena ein „Nest“ aus zusammengerollten Decken, in dem sie sich geborgen fühlen konnte. Da sie nicht am Rücken schlafen wollte, betteten wir sie in ihrem kuscheligen Nest bequem auf die Seite und sieh da: Sie schlief ruhig und entspannt die ganze Nacht durch. Wir atmeten auf! Endlich war es uns gelungen, der gequälten alten Frau zu helfen. Leider blieb die Freude nicht sehr lange ungetrübt. Zwei Monate lang schlief Frau Lena ungestört in ihrem Nest, dann setzten Schlafstörung, Angst, Unruhe und Anspannung wieder ein. Gleichzeitig nahmen ihre Schmerzen im Rücken und jetzt auch in allen großen Gelenken deutlich zu. Das Zusammenwirken von Schmerz und Angst führte zu einem extremen Verspannungszustand. Bereits vorher hatte Frau Lena eine kleine Dosis eines starken Opioids bekommen. Nun erhöhten wir die Dosis. Frau 3 Basale Stimulation ist eine für Behinderte, Demente und Sterbende geeignete Pflegemethode, fl die versucht, den Bezug zum eigenen Körper und zur Umwelt durch gezielte Sinnesreize zu verbessern.
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Lena fühlte sich zwei Tage lang recht wohl, dann zeigte sie Zeichen der Überdosierung. Ihre Pupillen waren sehr eng, und sie wirkte stark gedämpft. Wir reduzierten die Dosis. Frau Lena begann, über brennende Schmerzen unmittelbar an der Körperoberfl fläche zu klagen, und konnte es kaum ertragen, wenn man sie auch nur berührte. Es gelang uns zum Glück rasch, diese quälenden Schmerzen zu beherrschen. Jetzt wurden die Gelenks- und Rückenschmerzen wieder stärker, Frau Lena blieb verspannt und schlief nicht … Fühlte sie sich zu sehr allein? Sicher hatte sie auch zu wenig Beschäftigung. Wir verbrachten so viel Zeit wie möglich mit ihr, aber das war sicher noch immer viel zu wenig. Frau Lena bekam einen Stoffhasen und liebte ihren Hansi auf Anhieb. Jetzt hatte sie ständig jemanden um sich, der sie brauchte, den sie lieb haben und versorgen konnte. Sie wickelte den Hasen immer wieder in eine Decke, packte ihn wieder aus, sprach mit ihm und streichelte ihn. Sie wirkte zwar wesentlich entspannter, klagte aber weiterhin über Schmerzen und schlief schlecht. Eine Zeit lang entspann sich eine freundschaftliche Verbindung zwischen ihr und einer sehr dementen, aber noch mobilen Mitpatientin. Frau Angela stand oft lange Zeit bei Frau Lena, plauderte mit ihr und erfüllte ihr kleine Wünsche. Die Beziehung zu ihr tat Frau Lena sehr gut. Vorübergehend klagte sie deutlich weniger, aber nach einiger Zeit fand Frau Angela eine andere Freundin, und ihre Besuche blieben aus. Frau Lena ging es wieder schlechter, und uns selbst ging es auch nicht gut, weil es uns nicht gelingen wollte, ihr zu helfen. Was konnten wir besser machen? Was hatten wir nicht bedacht? Wenn wir mit einer unserer Patientinnen besondere Probleme haben, nehmen wir uns vor, besonders „auf sie draufzuschauen“, d. h., wir bemühen uns, uns in einem Teamgespräch gezielt mit ihr und ihrem Zustand auseinanderzusetzen, um neue Anhaltspunkte zu gewinnen. In welcher Lage befand sich Frau Lena? Q Sie war körperlich sehr schwach. Q Sie litt an chronischen Schmerzen von wechselndem Ausmaß. Q Die Schmerzursachen lagen offenbar nicht nur im körperlichen, sondern auch im seelischen und sozialen Bereich. Q Ihre Orientierung war auf die eigene Befindlichkeit fi beschränkt. Sie erkannte bekannte Gesichter und Stimmen, allerdings ohne sie konkreten Personen zuordnen zu können. Lob nahm sie dankbar an. Es gab ihr Sicherheit und vermittelte das Gefühl der Geborgenheit. Q Alles, was diesen engen Rahmen sprengte, machte ihr Angst. Sie kannte sich nicht aus und konnte es nicht mehr einordnen. Q Die Angst führte sowohl zu stärkerer Verspannung und damit zur Schmerzzunahme als auch zu vermehrter Unruhe, Getriebenheit und Schlafl flosigkeit. Wie konnten wir den Teufelskreis unterbrechen? Frau Lena war von Natur aus etwas ängstlich. Sie war ihr Leben lang bemüht gewesen, immer alles gut und richtig zu machen. Ihre Erlebnisse auf die für sie verarbeitbaren Eindrücke zu beschränken, ist unter den Bedingungen unseres Pflegeheims fl
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nicht möglich. Der Versuch, ihr über ein angstlösendes Mittel zu helfen, war gescheitert. Gab es etwas, um ihre Tragfähigkeit zu erhöhen? Wir beschlossen schließlich, sie auf ein neues Medikament, das gut geeignet schien, die seelische Balance dementer alter Menschen zu verbessern, einzustellen. Frau Lena bekam abends die kleinstmögliche Dosis. Sie schlief auf Anhieb gut, war aber am nächsten Tag sehr müde und wollte nicht essen. Dank unserer schlechten Erfahrungen mit dämpfenden Medikamenten läuteten sofort unsere Alarmglocken. Wir beschlossen dennoch, ihr die Therapie in der gleichen niedrigen Dosierung vorerst weiterzugeben und die Reaktionen genau zu beobachten und zu dokumentieren. In der nächsten Nacht schlief Frau Lena sichtlich entspannt erstmals aus eigenem Antrieb am Rücken. Am nächsten Tag wirkte sie frisch und ausgeruht, saß lächelnd im Bett und versorgte hingebungsvoll ihren Hasen. Ihr gehetzter Blick, die sie und uns quälende Dringlichkeit, das ständige „Schwester bitte, Schwester bitte …“ waren verschwunden. Es war für uns jetzt leichter, mit ihr zu kommunizieren: Wir erreichten sie rascher, ihre Aufmerksamkeit hatte sich verbessert, sie konnte sich länger auf etwas konzentrieren. In der Nacht schlief sie häufig fi (aber nicht immer) gut. Insgesamt wirkte sie entspannter und zufriedener. Die bessere Gesamtbefi findlichkeit und die zurückgewonnene Fähigkeit, Beschwerden, die über das gut tragbare Ausmaß hinausgehen, zu artikulieren, gaben uns die Möglichkeit zu einer maßgeschneiderten Schmerztherapie. Wir wissen nun, dass Frau Lena im Großen und Ganzen mit einer mäßig hoch dosierten Basistherapie so gut wie schmerzfrei ist. fl bereiten ihr aber stärkere Schmerzen. Wir Bestimmte Pflegehandlungen wissen das und geben ihr eine halbe Stunde vorher ein rasch und kurz wirksames Schmerzmittel. Das tut ihr gut, ohne sie unnötig zu ermüden. Für ein Team ist eine Patientin wie Frau Lena gleichzeitig Belastung und Herausforderung. Palliative Behandlung, Pfl flege und Betreuung sind nur möglich, wenn alle Teammitglieder der Versuchung widerstehen, sich durch den „Quälgeist“ belästigt zu fühlen. Ärzte und Pflegepersonen fl stehen oft mit dem Gefühl, nicht helfen zu können, vor einem Bett. Patient und Team leiden. Jeder von uns denkt nach und bemüht sich, aber nichts scheint zu helfen. Mit der Zeit werden die Betreuer immer stärker von Schmerz, Enttäuschung und Ungeduld erfüllt. In dieser Situation ist es für uns entscheidend, zu begreifen und uns immer wieder vor Augen zu führen, dass der Patient nicht „schuld“ daran ist, wenn unsere gut gemeinten Bemühungen nicht fruchten. Hochbetagte Schwerkranke und Demente machen uns nichts „zu Fleiß“. Die ganzheitliche Betreuung in der letzten Lebensphase ist schwierig und erfordert profunde Fachkenntnisse, Empathie, Zuwendung, Geduld und Kreativität. Jeder Mensch ist einmalig und einzigartig; für kein Problem gibt es eine Patentlösung! Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, besteht stets die Gefahr, dass der Patient als unangenehmer Zeitgenosse („Der hat immer etwas, dem ist nie etwas recht“) abgestempelt wird und mit seinen Bedürfnissen auf der Strecke bleibt. Das Beispiel von Frau Lena zeigt, wie oft man scheitert und dass es lohnt, es doch immer wieder neu zu probieren. Wir freuen uns darüber, dass
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es Frau Lena jetzt gut geht. Wie lange ein Erfolg anhält, wissen wir nicht. Vielleicht stellen sich bereits morgen neue Schwierigkeiten ein. Die ärztliche Behandlung der Schmerzen und quälenden Beschwerden sehr alter Menschen unterscheidet sich nicht grundsätzlich, wohl aber in vielen Details von der Therapie Jüngerer. Wie stets in der Geriatrie gilt es, die Multimorbidität zu beachten, altersspezifische fi Besonderheiten im Bereich des Stoffwechsels zu bedenken und gemeinsam mit dem Patienten und dem Team die jeweils geeignetste Darreichungsform zu suchen (Kojer 2006c). Die bestgemeinte Therapie bleibt vergeblich, wenn der alte Mensch sie von vornherein ablehnt oder die gut gemeinten Tabletten einfach nicht schlucken kann. Genauer auf die ärztliche Therapie einzugehen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Interessierte finden wesentliche Informationen zu diesem überaus wichtigen Thema im Literaturverzeichnis am Ende des Kapitels (James et al. 2000; Saunders et al. 1995; Husebö und Klaschik 2003; Zenz 1995; Zech et al. 1999; Beubler 2003; Bausewein et al. 2003). Schmerzen am Lebensende Viele Hochbetagte leiden in den letzten Lebenstagen an Schmerzen. Je besser wir den Sterbenden kennen, desto leichter fällt es uns, festzustellen oder doch zu erahnen, dass ihn etwas quält. Vielleicht beobachten wir eine steile Falte zwischen den Brauen oder kleine verquälte Falten um Nase und Mund, zusammengepresste Lippen oder eine scharf vortretende Kieferlinie. Es gibt kein besseres Rezept dafür, diese Schmerzen nicht zu übersehen, als an die Möglichkeit zu denken, sobald man auf Anspannung, Unruhe oder Verhaltensänderungen aufmerksam wird. Es ist nicht nur ein Akt der Menschlichkeit, sondern auch ein Beweis der erforderlichen Professionalität im Umgang mit sterbenden alten Menschen, schon auf Verdacht mit einer Schmerztherapie zu beginnen und genau zu beobachten, ob sich dadurch etwas verändert. Wirkt das Gesicht des Sterbenden nun entspannt, öffnen sich die Fäuste und schwindet die Unruhe, haben wir mit unserer Vermutung recht gehabt, wenn nicht, müssen wir weiter suchen. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Schmerzmittel am Lebensende so zuzuführen, dass sie sicher wirksam werden können. Zu diesem Zeitpunkt ist das Schlucken meist nicht mehr möglich, und das Ausmaß der Aufnahme über die Haut (Pflaster) fl oder über den Darm (Suppositorien) ist außerordentlich fraglich. Um sicher zu sein, dass die Präparate auch dort landen, wo sie gebraucht werden, führen wir Sterbenden das Erforderliche in der Regel über eine einfache (und kostengünstige) Schmerzpumpe zu.
Was wünscht sich der Patient? Als Ärzte sind wir gewohnt, uns in erster Linie zu fragen „Was fehlt dem Patienten?“ Diese Frage ist auch für die Palliativtherapie von Bedeutung: Vielleicht ist eine Teilursache doch reversibel, dann kann und muss die
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Sanierung angestrebt werden. Erweist sich das Leiden als unheilbar, können eine exakte Schmerzdiagnose oder die genaue Analyse eines quälenden Symptoms (z. B., welche Ursache hat das Erbrechen?) entscheidend zur Verbesserung der Therapie beitragen. Das Palliativteam stellt sich aber stets auch die Frage „Was wünscht sich der Patient?“. Probleme, Wünsche und Bedürfnisse hochbetagter, oft auch dementer Menschen sollten, wann immer möglich, erkannt und berücksichtigt werden. Je besser wir einen Hochbetagten kennen und verstehen lernen, je intensiver wir uns ihm zuwenden, desto besser wird es uns gelingen, herauszufi finden, was er möchte und was ihm gut tut. Von einigen wesentlichen, die Lebensqualität jedes Menschen maßgeblich mitbestimmenden Bedürfnissen können wir auch dann ausgehen, wenn sie uns nicht eigens mitgeteilt werden: Q Gehört und respektiert werden. Menschen, die vergesslich, langsam und umständlich geworden sind, leiden darunter, wenn wir sie zu wenig achten, uns über sie hinwegsetzen oder ihnen das Wort abschneiden. Q Mit meinem Leiden Mittelpunkt sein dürfen. Es ist schwer, sehr alt zu sein; es wird noch schwerer, wenn man an den Rand gedrängt wird, weil die Kraft nicht reicht, um sich Beachtung zu erzwingen. Q Stets ernst genommen werden. Alte Menschen lesen in unseren Augen, welchen – oft sehr geringen! – Stellenwert wir ihren Worten noch einzuräumen bereit sind. fig stillschweigend das Recht auf Q Autonomie. Hochbetagten wird häufi Selbstbestimmung genommen. Sie müssen das Recht des Stärkeren akzeptieren; das macht bitter und zwingt zum Rückzug. Q Wahrhaftigkeit. Jeder wünscht sich zu Recht klare und ehrliche Antworten auf seine Fragen. Alte Menschen sind sehr sensibel, sie spüren schnell, ob wir ausweichen, beschönigen oder etwas verschweigen. Es lohnt immer wieder, an solche „Selbstverständlichkeiten“ zu denken! In der terminalen Lebensphase können wir oft nicht mehr erfahren, was sich der alte Mensch in dieser Situation noch wünscht. Wenn auch seine Lebensgeschichte keine klaren Rückschlüsse zulässt und die Angehörigen nicht mehr weiterwissen, gelingt es noch immer, Fehler zu vermeiden, wenn wir das respektieren, was Menschen am Lebensende ganz bestimmt nicht wollen (Loewy und Springer Loewy 2000): Niemand will Schmerzen leiden, frieren, Angst haben, schlecht liegen, unnötig herumtransportiert werden, ganz allein gelassen werden … .
Ethik am Lebensende und Ethik für den Alltag Wenn von ethischen Entscheidungen die Rede ist, denken die am Krankenbett Tätigen häufi fig ausschließlich an die großen Entscheidungen am Lebensende: Soll die Therapie fortgesetzt, intensiviert, schrittweise ausgeschlichen oder abgebrochen werden? Wäre eine PEG-Sonde für den Kranken Segen oder Qual? Gibt es Hinweise auf den mutmaßlichen Willen des Patienten? Natürlich verlieren diese „großen“ Entscheidungen auch für
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sehr alte Menschen nicht ihre Bedeutung, wir stehen allerdings bei über 80-Jährigen nicht sehr oft vor einem wirklich großen Dilemma. Viele Hochbetagte hängen nicht mehr so stark am Leben, die meisten Angehörigen verstehen, bei alle Trauer, dass das Leben nach vielen gelebten Jahrzehnten einmal zu Ende gehen muss, und wünschen sich vor allem, dass ihren Lieben unnötiges Leid erspart bleibt. Die ethischen Entscheidungen, die Tag für Tag maßgeblich über die Lebensqualität alter Menschen bestimmen, sind ganz unscheinbar und werden denen, die sie laufend zu treffen haben, daher oft gar nicht bewusst. Es sind dies die vielen kleinen, alltäglichen Verhaltensweisen, mit denen fl Hochbetagten oftmals gedankenlos begegnen. Auch wenn es wir hilflosen uns nicht bewusst ist: Wir entscheiden uns in jedem Augenblick darüber, wie wir uns verhalten, z. B. in welchem Tonfall wir sprechen, oder ob wir bereit sind, auf das langsamere Tempo alter Menschen Rücksicht zu nehmen. Wir entscheiden darüber, was wir unseren Patienten an Diagnostik und Therapie zumuten (ist jede Blutabnahme wirklich nötig?), wir entscheiden uns dafür, den Willen eines anderen zu respektieren oder uns darüber hinwegzusetzen, wir entscheiden uns dafür, Zeit und Geduld aufzubringen oder lieber Zwangsmaßnahmen einzusetzen, wir entscheiden darüber, „lästige“ Symptome zu beachten und uns ihrer Behandlung zu stellen oder sie einfach als gegeben hinzunehmen … . Ergo- und Physiotherapie Die Ergotherapie erfasst den ganzen Menschen mit seinen Fähigkeiten und Leistungseinbußen, mit seinen Gefühlen und Stimmungen, Sehnsüchten und Ängsten. Sie fördert noch vorhandene Fähigkeiten, hilft, Verlorenes ganz oder teilweise wieder zu erlangen, und sucht nach Kompensationsmöglichkeiten für Funktionsverluste. Im Rahmen der Physiotherapie bieten sich wertvolle Möglichkeiten, Schmerzen ohne zusätzliche Medikamente zu reduzieren und den Patienten bis zum Lebensende ein Maximum an Selbstständigkeit zu bewahren. Ergo- und Physiotherapie fördern Kommunikation und Wahrnehmung und schenken auf diese Weise mehr Lebensmut und Lebensfreude. Schwerkranke Hochbetagte verfügen am Ende ihres Weges nur mehr über einen geringen Spielraum, innerhalb dessen sie Autonomie und Selbstbestätigung erleben können. Für sie ist es besonders wichtig, sich bis zuletzt zumindest kleine Inseln der Selbstständigkeit zu retten und durch eine ihr Leben begleitende Therapie zu erfahren, dass sie auch dann noch wertgeschätzt und für voll genommen werden, wenn sie schwach und hilflos fl sind. Die Wahrnehmung als Brücke zum Leben Das Leben gesunder junger Menschen ist reich an Sinneseindrücken. Je älter und behinderter man wird, je kleiner der verbleibende Aktionsradius
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ist und je deutlicher die Hirnleistungsfähigkeit nachlässt, desto mehr Eindrücke schwinden, desto ärmer und freudloser wird das Leben. Ziel der palliativen Betreuung ist es, die Lebensqualität zu erhalten, ja, wenn möglich, noch zu verbessern. Dafür bietet das große Feld der Wahrnehmung viele Möglichkeiten, z. B.: Q die oft schon seit Langem verloren gegangene Verbindung zur Natur wird durch Gartentherapie, Gruppen und Einzelaktivitäten im Garten, Mahlzeiten im Freien, … wiederhergestellt; Q bunte Dienstkleidung und wechselnder Zimmerschmuck bringen mehr Farbe in den Alltag; Q ätherische Öle sorgen für guten Duft und eine angenehme Raumatmosphäre. Palliative Betreuung mittel bis schwer dementer Hochbetagter Multimorbide demente Hochbetagte, die nicht mehr selbstständig für sich sorgen und sich nur mühsam oder gar nicht mitteilen können, geraten immer stärker in Abhängigkeit, bis sie, völlig hilflos fl geworden, schließlich ganz auf fremde Hilfe angewiesen sind. Will man sie nicht nur „aufbewahren“, sondern so betreuen, dass ihr Leben bis zuletzt lebenswert bleibt, muss der ganze Mensch mit seinen körperlichen, seelischen und sozialen Bedürfnissen im Blickpunkt stehen. Dafür sind neue Zielsetzungen und neue Betreuungskonzepte erforderlich. Diese rasch anwachsende Patientengruppe interprofessionell kompetent zu betreuen, gehört heute zu den wichtigsten Aufgaben der palliativen Geriatrie (Kojer 2006a; Kunz 2003). Wir haben in den vergangenen Jahren neue Denkmodelle und Strategien erarbeitet, deren wesentlichstes Ziel es ist, dafür zu sorgen, dass hochbetagte demente Patienten ihr Leben in der bestmöglichen Lebensqualität zu Ende führen können (Schmidl und Gutenthaler 2001). Dazu ist primär finden, welche Wünsche, Bedürfnisse und Ängste sie erforderlich, herauszufi haben. Nur wenn wir das wissen, können wir ihnen wirklich helfen. Wie erfährt man etwas von Menschen, die sich nicht mehr in der allgemein üblichen Art ausdrücken können? Die Antworten, nach denen wir suchen, können uns nur die Patienten selbst geben; sie antworten durch ihr Verhalten, durch ihre Fragen und Aussagen. Die Lebensqualität aller hochbetagten Patienten hängt stark von unserer Fähigkeit ab, mit ihnen eine tragfähige Kommunikation herzustellen. Wenn alte Menschen spüren, dass wir ihnen einfühlsam und verständnisvoll zuhören, werden sie sich allmählich öffnen. Nur auf dieser Basis kann eine Atmosphäre der Wärme, Geborgenheit, des Vertrauens und der Sicherheit wachsen. Dies gilt ganz besonders für Demente. Um sie besser zu verstehen, genügt Zuwendung alleine nicht. Die Kommunikation mit ihnen muss gründlich erlernt werden. Die führende Methode dafür ist die Validation nach Naomi Feil. Die wesentlichsten Voraussetzungen für lebenswertes Leben trotz schwerer Demenz sind:
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1. Linderung quälender Symptome (Schmerz, Übelkeit, Atemnot, etc.), 2. Sicherheit (es ist immer jemand für mich da, wenn ich Hilfe brauche), 3. Akzeptanz (ich werde so angenommen wie ich bin, niemand will mir den Kopf zurechtrücken), 4. Geborgenheit (hier fühle ich mich wohl), 5. Berührung (vermittelt Halt, Wärme, Nähe und die körperliche Gewissheit, nicht allein zu sein), 6. sinnvolle Beschäftigung (Aktivitäten, die die Tagesstruktur verbessern), 7. Gemeinschaft (Mehrbettzimmer, Aktivitäten in der Gruppe).
Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen Patienten, die an unserer Abteilung aufgenommen werden, sterben in der Regel auch bei uns. Unsere palliative Begleitung beginnt zum Zeitpunkt der Aufnahme und endet erst nach dem Tod. Wir betrachten den alten Menschen und seinen nächsten Angehörigen als Einheit, daher bemühen wir uns vom ersten Tag an um den guten, partnerschaftlichen Kontakt zu den nächsten Bezugspersonen. Wir anerkennen, dass sie ihre Lieben viel besser kennen als wir, und bitten sie häufi fig um Auskunft oder um ihren Rat. Von Anfang an informieren wir sie über alles Wesentliche und beziehen sie in Entscheidungen mit ein. Je wohler sich die Angehörigen bei uns fühlen, desto öfter werden sie auf Besuch kommen. Je öfter sie kommen, desto mehr Freude erleben unsere Patienten. Seit wir uns gezielt darum bemühen, kommen viel mehr Angehörige regelmäßig auf Besuch. Es ist sehr schwer, ja oft fast unmöglich, die Wünsche Sterbender zu erkennen, wenn wir sie erst auf der allerletzten Wegstrecke kennengelernt haben. Zum Glück haben wir in der Regel die Gelegenheit, unsere Patienten besser kennenzulernen, ehe wir sie im Sterben begleiten. Diese Möglichkeiten gilt es, so gut es geht, zu nützen. Sowohl die alten Menschen als auch ihre Angehörigen brauchen meist eine gewisse Zeit, um zu uns Vertrauen zu fassen und sich einzugewöhnen. Es liegt an uns, ihnen diese Umstellung leichter zu machen. flich seinem Ende entgegen neigt, ist es Wenn sich das Leben unwiderrufl nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für uns Betreuende oft sehr schwer, dazu „ja“ zu sagen. Gute Begleiter sind wir nur, wenn wir Sterben als einen Teil des Lebens akzeptieren. Können oder wollen wir nicht sehen, dass die Lebensuhr abgelaufen ist, verfallen wir leicht in einen Aktionismus und quälen den Sterbenden im sinnlosen Bemühen, sein Leben doch noch zu verlängern. Die wesentlichsten Kriterien guter Begleitung: Q zuwendende Nähe, Q innere Ruhe, Q Respekt; die Distanz oder Nähe, die dieser Mensch bisher gewünscht hat, ist auch jetzt für ihn richtig,
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Q genaues Beobachten – Schmerzen (indirekte Schmerzzeichen)? – quälendes Symptom? (Mundtrockenheit, Atemnot, Übelkeit, Meteorismus, …), – Unbehagen? (unbequeme Lage?), – Angst? (fürchtet sich, allein zu bleiben?), – unerfüllter Wunsch? (wer soll noch kommen?) Q Relativierung von Pflegestandards fl – was braucht der Sterbende jetzt? (Erkennen von Wünschen und Bedürfnissen), – was braucht er jetzt bestimmt nicht mehr (Nahrung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Mobilisation, regelmäßigen Stuhlgang, Dekubitusprophylaxe, …), Q Stützung und Begleitung der Angehörigen.
Schaffe ich es, meine Mutter zu begleiten? Vorgeschichte. Frau Johanna hatte lange Zeit mit einer ihrer beiden Töchter zusammengelebt. Als diese Tochter dann nach Italien übersiedelte, blieb sie, unterstützt von einer Heimhilfe, weiter in der Wohnung. Aufgrund zahlreicher Stürze musste sie schließlich im GZW aufgenommen werden. Sie war bereits längere Zeit an einer anderen Abteilung gewesen, als sie schließlich zu uns übersiedelte. Als sie zu uns kam, konnte Frau Johanna nicht gehen. Sie hatte starke Schmerzen im rechten Knie und große Angst, zu stürzen. Die Schmerzen konnten wir rasch beherrschen, die Angst blieb. Mit viel Geduld und Zuwendung gelang es ihr, einen Teil der Angst zu überwinden. Bald konnte Frau Johanna in Begleitung einer Pfl flegeperson kurze Strecken mit dem Rollator zurücklegen. Ihre in Wien lebende Tochter kam sie oft besuchen und freute sich über die Fortschritte. Die zweite Tochter rief die Mutter regelmäßig 1-mal im Monat aus Italien an. Das Lebensende. Nach etwa einem Jahr erkrankte Frau Johanna an einer schweren Lungenentzündung. Trotz der rasch eingeleiteten Therapie verschlechterte sich ihr Zustand schnell und unaufhaltsam. Wir verständigten die Tochter und baten sie, auch ihre Schwester in Italien über den bedrohlichen Zustand zu informieren. Kurz darauf erreichte uns ein Anruf aus Italien: „Geht es meiner Mutter wirklich so schlecht?“ Wir bestätigten, dass in den nächsten Tagen mit ihrem Tod gerechnet werden musste. Bereits am nächsten Tag traf die Dame aus Italien in Wien ein. Zu diesem Zeitpunkt war Frau Johanna gerade noch ansprechbar. Sie erkannte ihre Tochter, zeigte ihre Freude und drückte ihr die Hand. Einen Tag lang begleiteten beide Töchter die sterbende Mutter. Um den beiden mehr Sicherheit zu geben und das quälende tatenlose Warten zu erleichtern, zeigten wir ihnen, wie und wo sie die Mutter berühren konnten, erklärten die Mundpfl flege und einige einfache Pfl flegetätigkeiten (z. B. das Richten des Polsters).
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Wir kamen so oft wie möglich nachschauen und baten die beiden, jederzeit zu kommen, wenn sie sich unsicher fühlten. Am zweiten Tag blieb die Tochter aus Italien allein bei der Mutter. Sie kam immer wieder zu uns. Wir setzten uns zu ihr, trösteten sie, wenn sie weinte, und tranken gemeinsam mit ihr Kaffee. Als der Abend kam und es dunkel wurde, fühlte sie sich immer unsicherer und ängstlicher. Es war offensichtlich, dass der Tod jetzt bald eintreten würde. Sollte sie bleiben oder doch lieber gehen? Immer wieder kam sie Hilfe suchend zu den beiden Nachtdienstschwestern und bat sie um ihren Rat. Ihre Bindung zur Mutter war immer sehr groß gewesen. Jetzt hatte sie Angst. Sie wollte gleichzeitig bleiben und flüchten. Die Schwestern bestärkten sie darin, zu bleiben: „Wenn Sie jetzt gehen, werden Sie Ihre Mutter nicht mehr wiedersehen. Sie werden sich wahrscheinlich später immer wieder Vorwürfe machen“. Die beiden boten ihr an, sie während der ganzen Zeit der Begleitung zu stützen und nicht allein zu lassen. Sie fühlte sich gehalten und verstanden und wurde zusehends ruhiger. Bis zuletzt saß sie bei der Mutter und hielt ihre Hand. Gemeinsam mit einer Schwester drückte sie ihr die Augen zu. Später half sie mit, die Verstorbene zu waschen und zu versorgen. Danach saß sie noch lange bei den Schwestern.
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Organisationsstrukturen der Altenbetreuung im Wandel Charlotte Staudinger, Angelika Rosenberger-Spitzy und Gerald Gatterer
Die Organisationsstrukturen der Altenbetreuung sind einem ständigen Wandel unterworfen. Standen früher Aspekte der Versorgung im Vordergrund, so werden nunmehr rehabilitative Ansätze forciert. Zusätzlich ergibt sich jedoch die Problematik der stationären Betreuung von schwer pflegebedürftigen fl Menschen mit verschiedensten Gebrechen. Diesen Ansprüchen kann die Gesellschaft nur durch differenzierte, immer wieder neu zu diskutierende Angebote und Strukturen gerecht werden. So wie sich unsere Gesellschaft ständig ändert, so müssen auch die Strukturen der Altenbetreuung immer wieder neu diskutiert werden. Standards, die vor Jahren als modern galten, müssen oft als veraltet angesehen werden. Dies bedeutet auch einen Umdenkprozess bei den Betreuern hinsichtlich deren Behandlungskonzepten und Zielen. Weiters muss bei Neuplanungen vermehrt auf die Bedürfnisse zukünftiger Generationen eingegangen werden (z. B. Internet). Dies ist nur durch eine ständige Qualitätskontrolle innerhalb der Strukturen und eine Schulung der Mitarbeiter möglich.
1 Geschichtlicher Hintergrund Die Betreuung der Alten, Siechen und Alleinstehenden lag vor allem in den Händen der Pfarrgemeinden, der handwerklichen Berufsverbände und einiger Mäzene aus Bürgertum und Adel, doch das reichte bei Weitem nicht aus. Die alleinstehenden kranken Alten fristeten durch Betteln ein kärgliches Dasein, und die Zahl der armen, alten und kranken Obdachlosen wurde von Tag zu Tag größer. In dieser Situation schaltete sich erstmals der Staat in fürsorgerische Belange ein. Es war der Beginn der Verschiebung der Fürsorge von kirchlicher und privater Hand in die Hände des Staates und der Stadt. In Wien selbst aber
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sorgten noch mehrere kleine Armenasyle und Grundspitäler für die Notversorgung von alten und kranken Menschen. Sie wurden durch Stiftungen erhalten. Die Verwaltung lag in den Händen des örtlichen Pfarrers gemeinsam mit dem Bezirks- oder Gemeindevorstand beziehungsweise dem so genannten „Grundspital-Armenverwalter“. Da die Armenasyle und Grundspitäler für die Unterbringung der Armen, Alten und Kranken nicht mehr ausreichten, entstanden in der Folge mehrere so genannte Versorgungshäuser. Eine völlig neue Situation entstand um die Jahrhundertwende durch die Errichtung des Altersheimes Lainz, das im Jahre 1904 von Kaiser Franz Joseph und Bürgermeister Lueger eröffnet wurde. Seine Kapazität mit über 5.000 Betten ermöglichte es, alte Versorgungshäuser, die in ihrer Ausstattung der Zeit nicht mehr entsprachen und auch baufällig wurden, nach und nach zu schließen. In diesem neu errichteten Altersheim konnten erstmals fl menschenwürdig untergebracht werden; erstmals wurde für die Pfleglinge eine ausreichende ärztliche und pflegerische fl Betreuung gesorgt, medizinische Einrichtungen und sanitäre Anlagen wurden geschaffen. Die Verwaltung der „Versorgungshäuser“, die sich im Laufe der Zeit zu Pfl flegeheimen und im heutigen Sinn zu Geriatriezentren verändert haben, liegt nach wie vor in den Händen der Stadt. Zusätzlich gab und gibt es Einrichtungen karitativer Organisationen. Die privaten Anbieter sind erst seit ca. 2–3 Jahrzehnten am Markt. Dabei haben sich in den letzten Jahren nicht nur die Unterbringungsstandards verändert, sondern vor allem die Pfl flege- und Betreuungskonzepte. Dazu bilden Maßnahmen der Rehabilitation und der Reaktivierung der Patienten einen zusätzlichen Schwerpunkt in den Pfl flegeheimen/Geriatriezentren. Dies geschieht sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht durch entsprechende Aktivitäten. So wird etwa im Rahmen der Arbeits- und Beschäftigungstherapie von den Patienten gemalt und gezeichnet, getöpfert, gestrickt, gewebt, musiziert usw. Dass ein Pflegeheim fl keineswegs von vorneherein Endstation ist, beweist auch die Statistik. Durchschnittlich 10 Prozent der Patienten werden wieder entlassen, und noch weit mehr können zumindest auf Urlaub zu ihren Angehörigen geschickt werden (vgl. Stacher 1989). Leben und Alltagsbewältigung sind für alte Menschen in unserer hochdifferenzierten Gesellschaft zunehmend schwierig geworden. In der Öffentlichkeit wird das wenig thematisiert. Wenn in allgemeinen Diskussionen und Veröffentlichungen von alten Menschen gesprochen wird, so liegt der fi auf Veränderungen der Altersstruktur und deren wirtSchwerpunkt häufig schaftlichen Konsequenzen und selten auf der subjektiven Befindlichkeit fi der Betroffenen. Doch gerade diese, die auf die Ressourcen und Potenziale dieser Personengruppe hinweist, wäre von enormer Bedeutung. Deren Aktivierung kann für die Gesellschaft wertvoll sein, soll aber auch die eigene Lebensqualität erhöhen. Ein bedeutender Stellenwert kommt dabei der Erhaltung der Selbstständigkeit zu. Zu den größten Ängsten der alten Menschen gehört die Sorge, die Selbstständigkeit zu verlieren, nicht mehr in den eigenen vier Wänden
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wohnen zu können und in eine Institution aufgenommen zu werden (vgl. Seidl et al. 2000). Qualität in der Pfl flege zu defi finieren setzt einen fachlich-gesellschaftlichen Konsens über Art und Umfang von Pfl flege, die einem Pfl flegebedürftigen zustehen soll, voraus. Ohne solche (gesellschafts-)politische Zielsetzungen ist weder die Qualitätsdiskussion noch die Vergütungsfi findung angemessen zu führen und zu bewerkstelligen. Aus der Sicht der Pfl flegebedürftigen machen sich Leistungsqualitäten fest an der Verpflegung, fl der Gestaltung des Wohnraumes und an den Möglichkeiten, die Räumlichkeit selbst gestalten zu können, der Wäscheversorgung, an Sicherheit und Sauberkeit sowie an geringer Fluktuation derjenigen Mitarbeiter, die für die individuelle Pfl flege und Versorgung eingesetzt sind, und ihrem freundlichen Auftreten. Direkte pflegerische fl Leistungen hingegen rücken im Normalfall seltener ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Bewohnern und Angehörigen. Sie werden vorausgesetzt, es sei denn, fl oder -fehler erkennbar (Schmidt 2000). es werden Pflegemängel Um all diesen Anforderungen gerecht werden zu können, bedarf es einiger Rahmenbedingungen.
2 Erforderliche Rahmenbedingungen Regionalisierung in der Altenbetreuung Speziell in diesem Bereich hat in den letzten Jahren ein Umdenkprozess in unserer Gesellschaft und damit auch bei den dafür politisch Verantwortlichen stattgefunden. Vom ursprünglichen Gedanken, den alten Menschen am Stadtrand und damit im grünen Umland unterzubringen, ist man abgekommen. Heute ist klar, dass die älteren Menschen gerne in ihrer angestammten Wohngegend verbleiben wollen, da sie auch dort die meisten sozialen Kontakte haben (vgl. Müllebner und Tuma 2000). Durch dieses Umdenken ist es möglich, auch jenen Menschen, die rund um die Uhr in einer Institution versorgt werden müssen, das Gefühl zu geben, doch ein Stück „zu Hause“ zu sein. In Wien wird dieser Grundsatz gemäß dem Programm „Hilfe im hohen Alter“ schrittweise umgesetzt, wobei nicht nur die Stadt Wien, sondern auch zahlreiche private Betreiber diesem Grundsatz Rechnung tragen (Hilfe im hohen Alter 1992).
Räumliche Ausstattung in Institutionen Die Erwartungen der Bewohner/Patienten in Bezug auf die Hotelkompoflegeheimen haben sich generell und damit auch im Wiener nente in Pfl Krankenanstaltenverbund in der Vergangenheit grundlegend geändert. Auch die Bedürfnisse der Bewohner/Patienten sind andere geworden, dies zeigen auch Ergebnisse von Patientenbefragungen.
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Die Bewohner/Patienten erwarten jetzt und auch künftig einen anderen Unterbringungskomfort und ein anderes Ambiente als die Bewohner/Patienten, die noch vor einigen Jahren Hilfe in unseren Einrichtungen suchten. Aber auch die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Pfl flegeheimen haben sich geändert, was auch auf die geänderten Anforderungen zurückzuführen ist. Die Raum- und Funktionsplanung muss auf diese Veränderungen reagieren, wenn sie einen Beitrag zur Verbesserung der Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie zur Steigerung der Effi fizienz der Pfl flegeheimarbeit leisten will. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wurden im Wiener Krankenanstaltenverbund Standards für Raum- und Funktionsplanung entwickelt. Diese Standards sind nicht nur für Neubauten anzuwenden, sondern werden auch für Umbauten und Sanierungsmaßnahmen als Richtlinie eingesetzt. Die Standards sollen hier als Orientierungshilfe für projektspezifi fische Beurteilungen und Entscheidungen dienen. Als vordringliche Ziele wurden die Erhöhung der Patientenzufriedenheit – hier besonders die Hotelkomponente, die Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit – besonders im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen sowie die Erreichung eines sachgerechten Maßes an Wirtschaftlichkeit angestrebt. Standardausstattung im Bereich der Pfl flege geriatrischer Bewohner/Patienten: Die Stationsgröße wurde mit 24 Betten vorgegeben. Abweichungen sind mit max. 4 Betten nach oben sowie nach unten möglich (20 bzw. 28 Betten) (vgl. Wiener Krankenanstaltenverbund 1997).
3 Berücksichtigung der Wünsche der Patienten/Bewohner Individualität und Lebensqualität Individualität und Lebensqualität wollen Berücksichtigung finden. Die Übersiedlung ins Heim bedeutet für den alten Menschen das Einstellen auf eine völlig neue Umwelt. Im hohen Alter verläuft jede Umstellung langsam. Wenn sie dazu unter hoher geistiger und nervlicher Belastung und in einer Phase besonderer körperlicher Schwäche geschieht, ist es nicht zu verwundern, dass viele unserer Bewohner zu Beginn ihres Heimaufenthaltes verstört, räumlich und oft auch zeitlich desorientiert sind und keine Vorstellung über den neuen Lebensbereich haben, der sie hier erwartet. Da die Institution den Wohnraum für den alten Menschen bildet, ist auf Wohnlichkeit und Privatheit zu achten. Kleine persönliche Dinge wie Familienfotos, Stehlampe, Radio usw. aus der ehemaligen Wohnung und Kleidungsstücke sind einige Beispiele, die nicht nur als Orientierungshilfen dienen, sondern auch die Eingewöhnungsphase in die neue Wohnumgebung erleichtern. Es ist bekannt, dass die Zufriedenheit und das Wohlbefi finden hierdurch wesentlich verbessert werden. Bei der Gestaltung ist darauf zu achten, dass nicht nur dekorative, sondern auch orientierende Elemente einfl fließen. Hierbei bietet die Biografi fie, in Gemeinschaftsräumen
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die regionale Biografi fie, den Ausgang, von dem aus die Gestaltung eingeleitet wird. Es gelten die Regeln „Geschmack der Bewohner ist Trumpf“ und „weniger ist mehr“.
Gewohnheiten und Bedürfnisse Auf Gewohnheiten und Bedürfnisse soll von Seiten der Betreuungspersonen eingegangen werden. Gelingt es dem Pfl flegepersonal, individuelle Bedürfnisse von Beginn des Heimeintrittes an zu berücksichtigen, wird die Eingewöhnungsphase für den Bewohner weniger belastend empfunden werden. Dafür ist eine zielgerichtete Informationssammlung erforderlich, die im Wesentlichen drei Bereiche umfassen sollte (vgl. Kämmerer 1994): 1. Erhebung der wesentlichen biografi fischen Daten, 2. die Pfl flegeanamnese, 3. den aktuellen pflegerischen fl Ist-Zustand einschließlich der wesentlichen Bedürfnisse und Erwartungen der Bewohner.
Soziale Kontakte zur „Außenwelt“ Ein wesentlicher Bestandteil im Pflegeheimalltag fl ist die Erhaltung der sozialen Kontakte zur Außenwelt. Die Aufrechterhaltung der Kontakte zur Außenwelt wurde als so wichtig erachtet, dass diese in den Patientenrechten verankert sind. Nicht anders als jedem anderen Menschen ist es dem Heimbewohner wichtig, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben (vgl. Kämmerer 1994). Das bedeutet, angesprochen zu werden, selber gehört zu werden. Es bedeutet, gesehen zu werden. Es bedeutet das Bedürfnis, nicht ausgegrenzt zu werden. Die Förderung der Sozialkontakte der Bewohner gemeinsam mit den Angehörigen kann durch verschiedene Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Institution unterstützt werden. Geburtstagsfeiern, Angehörigengesprächsrunden, Teilnahme an Veranstaltungen des Bezirkes, Theaterbesuche und Einkaufsbummel mit den Bewohnern sind nur einige der vielen Möglichkeiten.
4 Beitrag des Pflegepersonals fl Viele der genannten „Wünsche“ der Bewohner im Sinne von Patientenorientierung sind deckungsgleich mit den Vorstellungen des Pfl flegepersonals. Eine insgesamt gute und als zufriedenstellend erlebte Arbeitssituation erhöht das Interesse und die Motivation der Mitarbeiter, -innen. Den Arbeitsbereich = Lebensbereich der Bewohner mitzugestalten und neue Erkenntnisse umzusetzen, trägt nicht nur zum Wohlgefühl der Bewohner, sondern auch zur Zufriedenheit der Mitarbeiter bei, was wiederum Kontinuität und Qualitätsverbesserung der Arbeit mit sich bringt.
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Eine Gliederung des täglichen Ablaufes an der Station in eine Tag-/ Nacht-Struktur, wo für den Tagesablauf genügend Aktivzonen innerhalb der Station zu Verfügung stehen und die Zimmer der Bewohner eher als Schlafzimmer und Intimbereich betrachtet werden, ist ein Ansatz im Sinne der Patientenorientierung.
Betreuungs- und Pfl flegeangebote im Wiener Krankenanstaltenverbund Die Individualität der Bewohner/Patienten muss auch im „Heimalltag“ im Vordergrund stehen. Um dies sicherstellen zu können, bedarf es einer Differenzierung des Betreuungsangebotes, wobei bei der Verwendung der zur Verfügung stehenden Mittel die wirtschaftlichen Interessen ebenso zu beachten sind wie eine patientenbezogene ressourcenorientierte Leistungserbringung der Pflegenden. fl Im Wiener Krankenanstaltenverbund wird nach einem aktivierenden bzw. reaktivierenden Ansatz gearbeitet. Grundlage dafür bieten insbesondere die Pflegemodelle fl Roper et al. („Aktivitäten des täglichen Lebens“) und Orem, sowie das Psychobiografi fische Pfl flegemodell nach Böhm (1999) mit dem Grundsatz „alles, was der Bewohner/Patient kann, macht er auch selbst, vieles (alles), was der Bewohner/Patient gekonnt hat, kann er wieder erlernen“. Im Rahmen der bewohner-/patientenbezogenen Maßnahmen wird eine Differenzierung des Betreuungsangebotes angestrebt. Dazu zählen u. a. die Langzeitpflege, fl Kurzzeitpfl flege – Remobilisation, die Betreuung von Urlauberbewohnern und die Assessmenteinheiten.
5 Beitrag der Ärzte und Therapeuten Allgemeine Aspekte Die Sicherstellung der medizinischen, therapeutischen und psychologischen Betreuung von älteren Menschen stellt zusätzlich zu pflegerischen fl Maßnahmen einen wesentlichen Faktor für die Qualität der Betreuung dar. Hier können in Abhängigkeit von vorgegebenen strukturellen Rahmenbedingungen unterschiedliche Konzepte diskutiert werden. Prinzipiell ist zwischen einer ständigen Ärzte- und Therapeutenpräsenz und einem auf Konsiliarbasis beruhenden Modell zu unterscheiden. Ersteres trifft vor allem auf Geriatriezentren (vgl. Gemeinde Wien, Akutgeriatrien und geriatrische Krankenhäuser) zu. Vorteil dieses Konzeptes ist die Kontinuität der Betreuung, die multiprofessionelle Sicht und Therapie des älteren Menschen und das Vorhandensein verschiedenster diagnostischer Prozesse. Durch die ständige Ärztepräsenz ist meist eine Verlegung in ein Krankenhaus bei somatischer Verschlechterung nicht notwendig. Ein Nachteil dieser stationären Betreuungsform liegt in den relativ hohen Kosten, der primär medizinisch-therapeutischen Ausrichtung und der Organi-
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sation von Leistungen, die die Individualitäten der Kunden nur schwer berücksichtigen kann. Ein auf Konsiliarbasis aufgebautes Konzept findet sich eher im privaten Sektor der Anbieter. Leistungen werden hierbei nur bei Bedarf auf gezielte Anforderungen und Fragestellungen erbracht. Vorteil dieses Konzeptes ist die Reduktion von Kosten durch die Konzentration auf Kernkompetenzen (z. B. pfl flegerische Leistungen, Hotelleistungen, …). Nachteile sind jedoch die Verlegung von Patienten im Krankheitsfall bzw. die nicht kontinuierliche medizinisch-therapeutische Betreuung. Psychologisch-psychotherapeutische Betreuungen und Behandlungen sind nur in wenigen Fällen möglich. Die Entscheidung, welche Form der medizinisch/therapeutischen Betreuung notwendig ist, wäre aufgrund eines geriatrischen Assessments zu treffen. Sinnvoll wäre ein kombiniertes Angebot, bei dem „hochbetreute“ Strukturen für Personen mit hohem medizinischem Bedarf (Rehabilitation, Akutgeriatrie, …) mit primär pfl flegeorientierten Strukturen vernetzt würden. Im Folgenden wird das Konzept des Geriatriezentrums am Wienerwald als Beispiel für eine Kombination aus beiden Strukturen vorgestellt.
Das Konzept des Geriatriezentrums am Wienerwald Traditionell hat schon seit vielen Jahrzehnten in Wien die medizinische Betreuung der Pflegeheimpatienten fl einen hohen Stellenwert. Bereits im Versorgungsheim Lainz gab es zu Beginn dieses Jahrhunderts Krankenheime sowie medizinische Abteilungen. Sukzessive wurden alle Bereiche zu Abteilungen mit unterschiedlichen medizinischen Schwerpunkten, wie innere Medizin, Pulmologie, Orthopädie, Dermatologie. Auch alle anderen Pfl flegeheime der Stadt Wien wurden von Primarärzten geleitet. Überall gab es Ärztepräsenz rund um die Uhr. Der Vorteil dieser Strukturen war eine umfassende medizinische Betreuung aller Pflegepatienten. fl Der Nachteil jedoch bestand darin, dass auch die Patienten, deren Bedürfnisse nicht im medizinischen, sondern im sozialen oder rein pflegerischen fl Bereich lagen, in erster Linie als kranke Patienten angesehen wurden. Dieser funktionelle Zugang brachte es mit sich, dass jeder neu Aufgenommene über seine Diagnose defi finiert wurde und Diagnostik sowie medizinische Therapie an erster Stelle standen. Dies trug den individuellen Bedürfnissen der alten Menschen kaum Rechnung. In den 80er-Jahren hielten Organisationsmodelle wie Qualitätsmanageflegeheimen Einzug. Dies brachment im KAV und somit auch in dessen Pfl te mit sich, dass man die Bedürfnisse des Kunden in den Mittelpunkt stellte. Man entschloss sich daher Anfang der 90er-Jahre, das medizinische Angebot nach diesen Kundenbedürfnissen zu differenzieren. Vorreiter dieser Entwicklung war das damalige Pflegeheim fl Lainz, seit 1994 Geriatriezentrum am Wienerwald. An diesem Beispiel soll verdeutlicht werden, wie sich die Medizin in der Geriatrie in den letzten 10 Jahren entwickelt hat und auch aktuell weiterentwickelt. So ist auch der Prozess der Umgestal-
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tung des Geriatriezentrums am Wienerwald nicht abgeschlossen, sondern sehr dynamisch. Derzeit werden neue Konzepte der Betreuung entwickelt. Die Anzahl der Bewohner soll bis zum Jahr 2010 deutlich verringert, die Hotelqualität gleichzeitig angehoben werden. Ebenso werden Bereiche mit hoher medizinischer Betreuung im Sinne eines „Geriatrischen Krankenhauses“, aber auch solche mit primär „Heimcharakter“ diskutiert. Zwischen diesen Bereichen soll jedoch eine starke Vernetzung der Leistungen erfolgen. Die bisherige Entwicklung war folgende. Geriatrisches Assessment Als erster Schritt wurde ein Bereich geschaffen, wo jeder Patient ein geriatrisches Assessment erhielt: Darunter versteht man die interdisziplinär durchgeführte Abklärung der Ressourcen und Defi fizite des Patienten. Sowohl medizinisch als auch pflegerisch, fl physio- und ergotherapeutisch, psychologisch und auch von Seiten des Sozialarbeiters wird mit dem Patienten gemeinsam sowie unter Einbeziehung der Angehörigen eine Karriereplanung gemacht. Das bedeutet, dass nach Feststellung der Ressourcen und Defi fizite ein Rehabilitationsplan aufgestellt wird und gemeinsam nach der besten Betreuungs- bzw. Unterbringungsform des alten Menschen gesucht wird. Dieses geriatrische Assessment ist für alle Patienten des Geriatriezentrums am Wienerwald bei ihrer Aufnahme obligatorisch. Es dauert ca. 7–17 Tage, danach wird der Patient von der Aufnahmestation auf seine Zielstation verlegt. Dadurch ist es gelungen, die Entlassungsquote aus der ehemaligen „Endstation“ Pflegeheim fl auf 30% anzuheben. Aufgrund dieses Assessments haben sich im Lauf der letzten 10 Jahre folgende Strukturen etabliert. Abteilung für geriatrische Rehabilitation Patienten mit eindeutigem Rehabilitationspotenzial, von denen man erwarten kann, dass sie innerhalb von drei Monaten wieder selbstständig leben können, nehmen das Angebot dieser Abteilung in Anspruch. In enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Physikalische Medizin wird unter der Leitung von Internisten sowie Fachärzten für Physikalische Medizin ein intensives therapeutisches Angebot in Physio- sowie Ergotherapie angeboten. Wem die drei Monate nicht reichen, der wird auf eigens dafür geschaffene Langzeitstationen transferiert, wo, in reduzierter Form, auch Therapie angeboten wird. So gelingt es immer wieder, Patienten auch nach einem halben bis dreiviertel Jahr wieder in ihre häusliche Umgebung zu entlassen. Abteilung für psychosoziale Rehabilitation Menschen, deren Probleme nicht im körperlichen, sondern im psychosozialen Bereich liegen, haben auf dieser Abteilung die Möglichkeit, durch speziell geschulte Pflegekräfte fl sowie Psychologen auf ein Leben in Selbst-
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ständigkeit vorbereitet zu werden. Diese Abteilung steht vor allem mobilen Patienten zur Verfügung, dort ist auch kein ständiger ärztlicher Dienst vorgesehen. Medizinisch wird die Abteilung im Ordinationsprinzip betreut. Fachabteilungen Die meisten Abteilungen im Geriatriezentrum am Wienerwald haben einen internistischen Schwerpunkt. Doch jede dieser Abteilungen hat sich darüber hinaus kundenorientiert spezialisiert: Es gibt z. B. eine Diabetikerstation, wo die gute Einstellung des Diabetes sowie vor allem das Erlernen des selbstständigen Umganges mit dieser Krankheit im Vordergrund stehen. Auf der Herz-Kreislauf-Station liegt der Schwerpunkt in der Hebung der Lebensqualität Herz-Kreislauf-Kranker. Hier ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit stark gefordert, denn gerade beim alten Menschen reicht die optimale kardiologische Therapie nicht aus, fl und therapeutische Maßnahmen hier muss durch spezielle pflegerische sichergestellt werden, dass sich der Patient auch subjektiv besser fühlt. Die dermatologische Abteilung wurde verkleinert, dafür baute man die dermatologische Ambulanz aus. Aufgabe dieser Ambulanz ist es, vor allem das Dekubitusmanagement zu überwachen sowie die Abteilungen darin zu beraten. Neben der dermatologischen gibt es noch Ambulanzen aller medizinischen Fachrichtungen, die speziell auf die Bedürfnisse geriatrischer Patienten eingestellt sind. Alle im GZW tätigen Fachärzte verbringen einen großen Teil ihrer Zeit mit Konsiliarbesuchen, sie betreuen und behandeln die Patienten direkt am Krankenbett. Die neurologische Abteilung hat neben der Betreuung von schwerkranken neurologischen Langzeitpatienten zwei Schwerpunkte: Die Neurorehabilitation, die weniger intensiv, dafür länger durchgeführt wird als die geriatrische allgemeine Rehabilitation. Das liegt an den speziellen neurologischen Patienten, die hier aufgrund ihrer individuellen Bedürfnisse sorgfältig betreut werden. Der zweite Schwerpunkt ist eine Appaliker Care Unit, das heißt, eine Spezialstation für Patienten im Wachfl sehr anspruchsvoll. koma. Diese Menschen sind vor allem pflegerisch Ein wichtiger Bereich ist die Betreuung von Menschen mit Demenz. Bei fast 70% aller im GZW aufgenommenen Bewohner wurde eine Demenz diagnostiziert. Für Menschen mit Demenzerkrankung und Verhaltensauffälligkeiten, die mobil sind, wurden zwei Spezialstationen geschaffen, in denen sich die Patienten gefahrlos bewegen können und Freiräume haben, obwohl sie rund um die Uhr unter Beobachtung stehen. Man versucht dort, durch eine speziell auf diese Klientel abgestimmte Atmosphäre der Ruhe und Geborgenheit mit weniger dämpfenden Medikamenten auszukommen, was sehr gut gelingt. Neu wurden eine gerontopsychiatrische Station und in Kooperation mit der psychologisch-psychotherapeutischen Ambulanz ein Memory-Institut gegründet. Einen Spezialbereich stellt auch die Abteilung für palliativmedizinische Geriatrie dar. Das Team dieser Abteilung hat es sich zur Aufgabe gemacht,
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Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten. Neben den hohen medizinischen Anforderungen gilt es auch, psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse dieser Patienten zu befriedigen. Einen wesentlichen Beitrag zur optimalen medizinischen Versorgung leisten auch die geriatrischen Fachambulanzen, die entsprechend der spezifischen fi Bedürfnisse älterer Menschen (Belastbarkeit, Multimorbidität, Verlangsamung, etc.) eingerichtet wurden. Hightouch statt Hightech Der geriatrisch tätige Arzt hat eine schwierige Aufgabe: Neben fundierten medizinischen Kenntnissen, die gerade in der Geriatrie vonnöten sind, weil viele Krankheiten verschleiert bzw. mit anderen Symptomen auftreten als erwartet, muss er eine hohe soziale Kompetenz besitzen. Er muss in der Lage sein, sich ernsthaft mit ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Außerdem ist hohe Kommunikationsfähigkeit gefragt. Abgesehen von der oft fl Arbeit im interdisziplinären Team hat er es genicht immer konfliktfreien rade in diesem Bereich auch mit oftmals schwierigen Angehörigen zu tun. Für Geriater dürfen nicht die Hilfsbefunde wie Röntgen, Blutanalysen usw. im Vordergrund stehen, mindestens genauso wichtig sind genaue Beobachtung des Patienten sowie Einbeziehung seiner Lebensumstände bzw. seines sozialen Umfeldes. Um ein umfassendes Bild des alten Patienten zu erhalten, genügt die ärztliche Tätigkeit alleine nicht. Nur in Zusammenarbeit mit allen anderen professionell in der Altenbetreuung Tätigen ist es möglich, die für den alten Patienten optimale individuelle Lösung zu fi finden. Es ist daher eine große Herausforderung, ein guter Geriater zu sein. Aber gleichzeitig gehört die Geriatrie zu den interessantesten und umfassendsten Fächern der Medizin.
6 Einteilung in defi finierte Betreuungsgruppen Definition fi der Bewohner und Bewohnerinnen Zur Sicherstellung einer patienten- und ressourcenorientierten Behandlung und Betreuung ist es notwendig, im Rahmen eines geriatrischen Assessments defi finierte Betreuungsgruppen zu erstellen, an die bestimmte defi finierte Maßnahmen gekoppelt sind. Im Rahmen von Expertenworkshops wurden vier bzw. fünf Betreuungsgruppen defi finiert, die Gruppen A bis D bzw. D+, wobei sich D und D+ voneinander nur dadurch unterscheiden, dass D+ einen erhöhten medizinischen Betreuungsaufwand aufweist. Die einzelnen Gruppen werden in der Folge beschrieben, und zwar hinsichtlich (ÖBIG 2001): Q Orientierungsfähigkeit, Q Mobilität, Q Aktivitäten des täglichen Lebens und
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Q medizinisch-therapeutischer Maßnahmen (d. h. ärztliche, pfl flegerische und therapeutische Dienste). Betreuungsgruppe Betreuungsgruppe Betreuungsgruppe Betreuungsgruppe Betreuungsgruppe
A: B: C: D: D+:
Selbstständig Teilweise selbstständig Teilweise abhängig Vollständig abhängig Vollständig abhängig mit erhöhtem medizinischem Betreuungsbedarf.
7 Leistungskatalog In Abhängigkeit vom Betreuungsbedarf der Bewohner ergibt sich für jede Betreuungsgruppe ein Leistungskatalog, wobei – außer bei der Betreuungsgruppe A – zwischen Q Q Q Q
pflegerischen fl Leistungen, ärztlichen Leistungen, therapeutischen Angeboten bzw. Leistungen und Infrastruktur
unterschieden wird. Bezüglich der Infrastruktur gilt für alle Betreuungsgruppen, dass die Einrichtung und die Wohnräume behindertengerecht sein müssen, im Wohnbereich ein Notruf vorhanden ist und die Grundversorgung beim Essen, bei der Reinigung und Ähnlichem angeboten werden muss. Für die Betreuungsgruppe C gilt darüber hinaus, dass eine spezielle pfl flegerische Ausstattung vorhanden ist. Bei der Betreuungsgruppe D und D+ muss – im Vergleich zu C – vermehrt spezielle medizinische und pfl flegerische Betreuung vorhanden sein.
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C. Staudinger et al. Leistungskatalog an pflegerischer, fl ärztlicher und therapeutischer Betreuung (ÖBIG 2001)
BG Pfl flegerische Leistungen
Ärztliche Leistungen
Therapeutische Angebote bzw. Leistungen
A
Sicherstellung von ärztlicher und pfl flegerischer Betreuung und von Therapie bei Bedarf, d. h. • „wie zu Hause“ mit Service (z. B. Arzt wird angerufen) • Organisation der pflegerischen fl Betreuung • temporäre pfl flegerische und ärztliche Betreuung • Verantwortung für medizinische und pfl flegerische Betreuung besteht • Organisation von Hilfsmitteln und Einschulung
B
• Begleitung und Unterstützung in der Tagesstruktur • regelmäßige begleitende und anleitende Pfl flege + Unterstützung • Unterstützung bei ATLs
• regelmäßige medizinische Betreuung • ärztliche Betreuung bei Bedarf (Visiten) – wie A
• Organisation von therapeutischen Angeboten • Angebot an Aktivitäten und Animation • Anregung und Förderung zu Aktivitäten
C
• Übernahme einzelner ATLs • teilweise und regelmäßige Übernahme von pflegerischen fl Tätigkeiten • Gestaltung der Tagesund Nachtstruktur (Normalitätsprinzip) • spezielle Pfl flege auf ärztliche Anweisung
• regelmäßige ärztliche Betreuung (Visiten) • geplante Visiten und bei Bedarf
• regelmäßiges Angebot an therapeutischen Diensten • aktivierende und erhaltende Betreuung (Remobilisation) • funktionssteigernde Therapien (Betonung der Förderung und Prophylaxe)
D
• Übernahme der ATLs • regelmäßige Übernahme und Durchführung pflegefl rischer Aktivitäten • hoher Anteil an Pfl flege auf ärztliche Anweisung • Gestaltung der Tagesund Nachtstruktur • Erweiterung des Anteils an spezieller Fachpflege fl – zielgruppenorientierte Pfl flege
• tägliche ärztliche Präsenz • „Rufbereitschaft“ bei Bedarf
• regelmäßiges therapeutisches Angebot – mehr Einzeltherapie – aufbauend auf Stufe C • funktionserhaltende Therapien
D+
• wie D
• „Rund-um-die-UhrPräsenz“ eines Arztes vor Ort
• wie D
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Trotz der vorher angeführten Differenzierung, einerseits die Bewohner und andererseits die Institutionen betreffend, muss eine Durchgängigkeit der Betreuungskette sichergestellt werden.
8 Allgemeine Qualitätsstandards Die Pfl flegequalität in geriatrischen Einrichtungen soll unter den Faktoren Q Individualität der angebotenen Leistung, Q Normalität im Tagesablauf und Q Selbstbestimmung für den Bewohner/die Bewohnerin betrachtet werden.
Baulich-räumliche Ausstattung Q Heimgröße: Überschaubare Einheiten Q Zimmerstruktur: höchstens 4-Bett-Zimmer, bei 24 Betten maximal zwei 4-Bett-Zimmer Anlehnung an die vorhandenen Richtlinien Q Grundausstattung der Zimmer: jedes Zimmer bzw. Appartement mit einer Nasseinheit (Waschbecken, Toilette, Dusche) barrierefrei Notrufsystem Wohn- und Schlafbereich getrennt Platz für persönliche Dinge im Zimmer Q Spezielle Räume: Therapieräume müssen vorhanden sein (genaue Defi finition bei Betreuungsgruppe) Funktions- und Nebenräume sind im notwendigen Ausmaß vorzuhalten Untersuchungs- und Behandlungsraum
Personal Q Interdisziplinäre Teams fl Qualifi fikation, vorzugsweise Q Heimleitung mit entsprechender beruflicher Heimleiterausbildung
Vertragsregelung, Aufsicht Verträge zwischen Heim und Bewohner müssen abgeschlossen werden.
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C. Staudinger et al.
Qualitätssicherung Q Planung und Dokumentation: Planung und Dokumentation muss vorhanden sein, basierend auf den gesetzlichen Grundlagen. Q Weiterbildung: Interne und externe Weiterbildungsmöglichkeiten müssen vorhanden sein. Q Bei der Personaleinsatzplanung müssen die Zeiten für Weiterbildung mitberücksichtigt werden.
Kooperation finition von Ansprechpartnern im Personal für Bewohner und AngeQ Defi hörige. Q Hohes Ausmaß an Information soll gewährleistet sein.
9 Standards zur Sicherung der Transparenz des Angebotes Zur Sicherung der Transparenz des Angebotes soll einerseits die Information für alle Beteiligten abgesichert sein, andererseits muss dafür die Kommunikation zwischen den Beteiligten verbessert und institutionalisiert werden. Die Sicherung der Transparenz muss auf zwei Ebenen erfolgen: Q auf der Ebene der gesamten Angebotspalette, Q auf Heimebene. Die Einrichtung einer zentralen Informationsstelle für alle Einrichtungen in Wien soll die Transparenz des gesamten Leistungsangebotes gewährleisten. Sie sollte erste Anlaufstelle für alle Interessierten sein, die sich einen Überblick über sämtliche verfügbaren Plätze, deren Ausstattung und Leistungen verschaffen wollen. Gleichzeitig sollte jedes Heim – nach einheitlichen Richtlinien – einen Leistungskatalog über das eigene Angebot erstellen. Es sollte darüber hinaus gewährleistet sein, dass vor der Aufnahme in ein Heim ein Informationsgespräch mit dem zukünftigen Bewohner, dessen Angehörigen oder anderen Bezugspersonen geführt wird, in welchem über sämtliche Rechte und Pflichten fl informiert wird. Wechselt ein Bewohner von einem Heim in ein anderes oder ändern sich die Betreuungs- oder Pfl flegepersonen, so muss sichergestellt sein, dass alle notwendigen betreuungsrelevanten Informationen über die zu betreuende Person weitergegeben werden, wobei gleichzeitig darauf geachtet werden muss, dass die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben.
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10 Praktisches Beispiel Frau Anna K., geboren 1920, wird nach einem kleinen Schlaganfall und Erstversorgung in einer Krankenhausneurologie an einer Aufnahmestation des Geriatriezentrums am Wienerwald aufgenommen. Eine Entlassung aus dem Krankenhaus war infolge der ausgeprägten Angst der Patientin vor einem neuerlichen Schlaganfall und der Tatsache, dass sie allein lebt, nicht möglich gewesen. Das geriatrische Assessment ergab folgendes Bild: Weitgehend mobile, selbstständige 81-jährige Patientin. Leichte Inkontinenz, die jedoch durch eine Einlage problemlos von der Patientin selbst bewältigt wird. Neurologisch besteht eine leichte Restsymptomatik, die jedoch keine wesentliche Behinderung der Patientin darstellt, aber ihre Ängstlichkeit verstärkt. Die Biografi fie durch die Pfl flege ergab das Bild einer bis zu ihrer Erkrankung selbstständigen Frau, die seit 25 Jahren verwitwet ist. Sie lebt allein, hat keine Kinder oder näheren Angehörigen. Sie hatte bis zu ihrem Krankenhausaufenthalt keine mobilen Hilfen und lehnt diese auch ab. Im psychologischen Test ergibt sich das Bild einer leichten kognitiven Beeinträchtigung, die jedoch noch im Rahmen des normalen Alterungsprozesses zu bewerten ist. Weiters besteht eine ausgeprägte Ängstlichkeit mit depressiver Komponente. Infolge der primär psychosozialen Problematik wurde die Patientin an der Abteilung für Psychosoziale Rehabilitation zur Entlassungsvorbereitung aufgenommen. Im Rahmen dieses Aufenthaltes erfolgten folgende therapeutische Maßnahmen: Gezieltes Selbstständigkeitstraining im Rahmen der reaktivierenden Pflege, fl psychologisch-psychotherapeutische Betreuung (in Kombination mit einem Antidepressivum) zur Angstbewältigung, zur Akzeptanz von mobilen Hilfen und einem Notruf, Hausbesuche und Probeurlaube zur Eingewöhnung auf das Alleinleben. Der Kontakt zur Heimhilfe wurde bereits während des Aufenthaltes hergestellt. Nach zwei Monaten Vorbereitung konnte die Patientin wieder nach Hause entlassen werden. Als unterstützende Maßnahmen erfolgten anfangs telefonische Kontakte sowie Heimhilfe und Essen auf Rädern. Letzteres wurde von der Patientin nach einem Monat als nicht notwendig wieder abbestellt.
11 Zusammenfassung Altenpflege fl der Zukunft ist durch ein breites differenziertes Angebot an Betreuungsstrukturen charakterisiert. Im Mittelpunkt dieser Strukturen steht aber der ältere Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen. Aufbauend auf einem geriatrischen Assessment soll gemeinsam mit dem Kunden (soweit möglich dem Betroffenen selbst bzw. seinem gesetzlichen Vertreter) die für ihn optimale Struktur gefunden werden. Nicht alle Bereiche müssen hierbei alle Betreuungsangebote aufweisen, vielmehr wird es wichtig sein, gezielt jene Maßnahmen zu defi finieren, die dem Patienten ein höchstmögliches Maß an Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und Nutzung seiner Fähigkeiten und Ressourcen ermöglichen.
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C. Staudinger et al.: Organisationsstrukturen
Bei allen Reformen hinsichtlich der Organisation von Altenbetreuung und der daraus resultierenden Differenzierung der Betreuungsangebote muss die Betreuungskette jedoch durchgängig bleiben bzw. werden. Dazu wird es in Zukunft verstärkt notwendig sein, dass Allianzen und Kooperationsmodelle zwischen den verschiedenen Anbietern geschlossen werden. Ebenso ist der Ausbau ambulanter Strukturen zu verbessern.
Literatur Böhm E (1999) Psychobiographisches Pflegemodell fl nach Böhm. W. Maudrich, Wien Hilfe im hohen Alter (1992) Programm für den weiteren Ausbau der gesundheitlichen und sozialen Betreuung alter Menschen in Wien Kämmerer K (1994) Pfl flegemanagement in Altenheimen. Schlüterscher Verlag, Hannover Müllebner G, Tuma E (2000) Gegenwart und Perspektiven der Pfl flege. „Bewohnerorientierung aus der Sicht der Altenpfl flege“. ÖGVP ÖBIG (2001) Konzept des Pfl flegeheimplanes (Stand 9/2001) Schmidt R (Hrsg.) (2000) Pfl flege und Wohnen. DZA Berlin, Hannover Seidl E, Stankova M, Walter I (2000) Autonomie im Alter. Pfl flegewissenschaft heute. Band 6. W. Maudrich, Wien Stacher A (1989) Wiener Spitäler im Wandel der Zeit. Europa-Verlag, Wien Wiener Krankenanstaltenverbund (1997) Planungshandbuch für Krankenhäuser und Pflegeheime fl
Krankheitsbilder im Alter A. Krankheiten im Alter – Einige Aspekte der Geriatrie Thomas Frühwald
Das Altern ist der bedeutendste demografi fische Wandel, der in unmittelbarer Zukunft jeden Menschen, jede Gesellschaft mit ihrem Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitssystem betreffen wird. Die Zunahme der Zahl der alten Menschen – insbesondere der sehr alten Menschen – ist ein globales Phänomen …
1 Einleitung Auch die österreichische Bevölkerung ist eine typische „graying society“. Derzeit sind etwa 20% 60 Jahre alt und älter. Diese Prozentzahl, aber auch die Absolutzahl der alten Menschen, wird innerhalb der nächsten Jahrzehnte dramatisch ansteigen. Rezente demografi fische Projektionen sprechen von einer Zunahme der 60+ -Population auf 27–29% bis zum Jahr 2021 und auf mehr als 30% bis 2030. Die Gruppe der sehr alten Menschen (80+) wird sich bis 2030 verdoppeln, und sie werden gleichzeitig immer älter werden. Insbesondere in der Gruppe der Hochaltrigen steigt das Risiko für ein komplexes, gleichzeitiges Nebeneinander physiologischer Alternsveränderungen von Organfunktionen, behandelbaren Erkrankungen und schon eingetretenen Behinderungen. Aus dieser Situation ergibt sich ein hohes Risiko für Betreuungs- und Pfl flegebedürftigkeit. Letztere ergeben sich trotz aller Fortschritte der Medizin, welche durch Prävention, rechtzeitige Diagnostik sowie adäquate Therapie und Rehabilitation die Jahre der zunehmenden Lebenserwartung – die sozusagen gewonnenen Jahre – in relativer Gesundheit, Selbstständigkeit und Autonomie erleben lassen möchten. Die so genannte Kompression der Morbidität ist möglich, aber noch immer nicht in dem Ausmaß, das die demografischen fi Prognosen leichter verkraften ließe. Noch immer gilt, dass drei gewonnene
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T. Frühwald
Lebensjahre zwei Jahre mit chronischer Krankheit und Betreuungsabhängigkeit bedeuten (Füsgen 2005). Der zunehmende Bedarf an qualifi fizierter Betreuung älterer Menschen zu Hause oder in Institutionen wird zu einem dominierenden Faktor für die Planung zukünftiger Strukturen des österreichischen Gesundheits- und Sozialsystems.
2 Krankheiten im Alter – Wirkungen des Alterns auf Krankheiten und vice versa Der Begriff „Alterskrankheit“ ist nur dann zu akzeptieren, wenn er Krankheiten impliziert, welche im Alter häufi figer vorkommen. Krankheiten, die ausschließlich dem Alter vorbehalten wären, gibt es nicht. Das Risiko der Manifestation vieler Krankheiten wird mit zunehmendem Alter größer. Das Altern ist ein physiologischer Vorgang, also keine Krankheit. Der alte Organismus ist wegen seiner verminderten Widerstands- und Adaptationsfähigkeit für Krankheiten anfälliger. Mit zunehmendem Alter nehmen auch die Krankheitshäufi figkeit, die Krankheitsdauer und die Länge der Rekonvaleszenzperiode zu. Altern kann als ein indirekter Risikofaktor für Krankheit gelten. Andererseits ist die Krankheit eine wesentliche Determinante des Alterns. Die Alterungsvorgänge schaffen einen Organismus, der sich in seiner Beschaffenheit und in seinem Anpassungsvermögen von dem des Jüngeren wesentlich unterscheidet. Es kommt zu einer gegenseitigen Beeinflussung fl von Krankheit und Altern, wobei die Dimension nicht nur eine rein medizinische ist, sondern auch eine psychische und soziale. Multimorbidität Ein Charakteristikum der Erkrankungen im Alter ist die Multimorbidität. Darunter versteht man das im Alter typische gleichzeitige Auftreten bzw. Vorhandensein mehrerer behandlungswürdiger Krankheiten. Durchschnittlich können bei über 70-Jährigen je nach Untersuchung drei bis neun Krankheiten gleichzeitig erwartet werden. Anders betrachtet: In der Gruppe der 65- bis 69-Jährigen weisen 9% sieben oder mehr diagnostizierbare körperliche Beeinträchtigungen auf, bei den über 80-Jährigen sind es schon 30%. Am häufi figsten handelt es sich um Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atmungsorgane, des Endokriniums und des Stütz- und Bewegungsapparates. Diese Altersmultimorbidität lässt sich in zwei Gruppen einteilen: 1. eine unabhängige Multiplizität im Sinne von Begleiterkrankungen, die keinen unmittelbaren Kausalzusammenhang aufweisen (z. B.: Gallenstein + koronare Herzerkrankung + Arthrose),
Krankheiten im Alter
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2. eine abhängige Multiplizität kausalabhängiger Kombinationserkrankungen (z. B.: hoher Blutdruck + Diabetes + koronare Herzerkrankung + Schlaganfall). Leidet ein älterer Mensch unter mehreren akuten Krankheiten, so kann er zusätzlich mehrere ruhende Leiden (Polypathie) haben. Typische Krankheitsketten entstehen vor allem im Wechselspiel zwischen akuter Erkrankung und ruhenden Leiden. Die Multimorbidität verlangt entsprechend angepasste diagnostische und therapeutische Strategien, sie kann die richtige Deutung und Zuordnung von Symptomen erheblich erschweren. Eine Heilung der einzelnen diagnostizierten Leiden ist oft unrealistisch. Diagnostische Maßnahmen bleiben oft ohne therapeutische Konsequenz, weil man sich auf wesentlichere Diagnosen und Therapien beschränken muss – dazu ist eine gut fundierte Prioritätenaufstellung, eine Hierarchisierung der Probleme nötig. Darunter wird neben dem Gewichten von unterschiedlichen Notwendigkeiten und Maßnahmen die sinnvolle Beschränkung auf eine begrenzte, effi fiziente Anzahl dieser Maßnahmen verstanden.
Medikamentöse Polypragmasie Der durch die Multimorbidität oft bedingte Refl flex nach Multimedikation zur Behandlung der vielen Diagnosen, Symptome und Beschwerden – die medikamentöse Polypragmasie – muss verhindert werden. Eine solche „Schrotschusstherapie“ schadet öfter, als sie nützt. Es ist wichtig zu erkennen, dass man oft nicht alle behandlungsbedürftigen Krankheiten zur gleichen Zeit behandeln soll. Immer mehr nach den Kriterien der „Evidence-based medicine“ publizierte „Clinical practice guidelines“, Therapiestandards und Konsensuspapiere führen eher zu unangebrachten Verordnungen von Medikamenten mit vielen negativen Konsequenzen. Übersehen wird oft, dass sich die Therapieempfehlungen meist auf Studienergebnisse berufen, die an jüngeren Patienten mit gut definierbaren fi und abgrenzbaren Diagnosen, ohne zusätzliche Diagnosen oder alternsbedingte Funktionsminderung der Organsysteme, durchgeführt wurden. Die Adaptationsfähigkeit der Organsysteme ist im Alter insbesondere bei Belastungen vermindert, Leistungsgrenzen werden schneller erreicht. Bedingt durch die im Rahmen des normalen Alterungsprozesses veränderte Pharmakokinetik und Pharmakodynamik ergeben sich größere Gefahren figere Nebenwirkungen, Wechselwirkungen. der Pharmakotherapie – häufi Der Nachweis, dass die therapeutische Intervention bei multimorbiden, hoch betagten Patienten denselben positiven Effekt bringt, ist oft nicht erbracht. Diesbezüglich wird ein Umdenken und ein sinnvolleres, geriatrisches Vorgehen verlangt; dieses ruft nach einer eher restriktiven Medikamentenverordnung. Dabei gilt es, nicht in einen therapeutischen Nihilismus oder in einen die älteren Patienten diskriminierenden Modus zu
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verfallen, ganz im Gegenteil: Gesicherte, vielfach sekundär präventive Maßnahmen, wie z. B. eine konsequente antihypertensive Therapie oder eine gute Therapie des Diabetes mellitus, sowie auch bei geriatrischen Patienten als effi fizient nachgewiesene Maßnahmen, wie die Vitamin-D- und Kalzium-Substitutionstherapie, sollen konsequent eingesetzt werden. Ebenso selbstverständlich soll eine gut indizierte, adäquate antidepressive Therapie sowie eine ausreichende Schmerztherapie bei entsprechender Symptomatik sein (Fasching 2001; Boyd 2005). Psychosomatische Zusammenhänge Bei Krankheiten im Alter ist unbedingt auf psychosomatische Zusammenhänge zu denken, denn in keinem Lebensalter sind die Grenzen zwischen Körper und Seele so durchlässig wie in den defi fizitreichen letzten Jahren des hohen Alters. Depressive Reaktionen auf vielfältige Verluste, inklusive die beginnende Demenz, stehen am Anfang – erst dann entwickeln sich klassische körperlich-seelische Zusammenhänge; so erklärt sich die Nähe der Geriatrie zur Psychiatrie – Gerontopsychiatrie. Altern ist also kein rein somatischer Prozess, er umfasst auch Veränderungen des menschlichen Erlebens und Verhaltens im seelisch-geistigen Bereich und Veränderungen in den Umweltbedingungen. Deshalb verlangt die Erfassung des Alternsvorgangs eine Zusammenarbeit über die Grenzen der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und Berufsgruppen des Gesundheits- und Sozialwesens hinweg, einen mehrdimensionalen Einsatz, in dem somatische, psychische und soziale Aspekte des Alterns berücksichtigt werden können. Die psychosoziale Situation und Krankheiten im Alter beeinfl flussen sich auch gegenseitig: Es gibt Zusammenhänge von Multimorbidität, Chronizität und Alter sowie zwischen Krankheit, sozio-ökonomischen Faktoren, Bildungsniveau, früherer Berufslaufbahn, … . Krankheit ist nicht nur Resultat des Wechselspiels zwischen pathologischen Prozessen und dem physiologischen, normalen Alternsprozess. Chronizität Ein weiteres Charakteristikum der Krankheiten im Alter ist deren Chronizität. Sie zeichnen sich durch meist schleichenden Beginn, progredienten Verlauf und schlechte Prognose aus. Degenerative, chronisch entzündliche und neoplastische Erkrankungen stehen im Vordergrund. Sie sind meist durch eine multifaktorielle Genese gekennzeichnet. Chronisch krank ist neben einer medizinischen, einer psychologischen und einer soziologischen auch eine zeitliche Defi finition – es besteht das Stigma des „langen Leidens“, wobei man das lange Leiden bis zum Tod
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meint … . Dabei ist es aber durch medizinisch therapeutische und rehabilitative Maßnahmen möglich, in vielen Fällen die chronische Krankheit zu kompensieren und zu stabilisieren und dem Kranken zu einer durchaus annehmbaren Lebensqualität zu verhelfen. Für den älteren Patienten ergeben sich besondere Anpassungsprobleme, die Chronizität seiner Erkrankung bestimmt seinen Bewegungs- und Interaktionsrahmen. Zwei Gruppen von chronisch kranken geriatrischen Patienten können unterschieden werden: 1. Kranke, deren Leiden aktiv und fortschreitend ist – sie bedürfen einer gezielten, stationären Therapie; 2. Patienten mit stagnierendem Leiden, welches nicht gravierend fortschreitet, aber auch behandelt werden muss, um den bestehenden Zustand zumindest zu erhalten. Rehabilitative Maßnahmen müssen in der Geriatrie – so wie die übrigen therapeutischen Maßnahmen – den verschiedenen Phasen der chronischen Erkrankung angepasst sein, es muss ein abgestuftes geriatrisches Rehabilitationsangebot geben. Immobilisationssyndrom Die „Bettruhe“ im Rahmen einer Erkrankung stellt beim geriatrischen Patienten ein erhöhtes sekundäres Erkrankungsrisiko dar, sie trägt zur Multimorbidität und zur Chronizität bei. Es kann zum Immobilisationssyndrom kommen, zur Veränderung verschiedener funktioneller Leistungen des Organismus: Im System Herz-Kreislauf-Lunge kommt es zu einer verminderten Anpassung an Belastungen, zur verminderten Sauerstoffaufnahme, verminderten Schlag- und Herzminutenvolumina, zur orthostatischen Dysregulation (Kollapsneigung), zur oberfl flächlichen Atmung bis zum erhöhten Pneumonierisiko. Die neuromuskuläre Belastbarkeit nimmt ab, es kommt zum Verlust exterozeptiver und propriozeptiver sensorischer Stimuli, zur Abschwächung physiologischer Refl flexe (Gleichgewichtsfunktion, Reaktion auf Schwerkraft, etc.), zur Verschlechterung sensorisch-motorischer Koordination, zum erhöhten Sturzrisiko. Neben der Atrophie der Muskulatur, neben Muskel- und Sehnenkontrakturen kommt es am Knochen zur Inaktivitätsosteoporose und damit in Verbindung mit dem erhöhten Sturzrisiko zu einer hohen Frakturneigung. Zweiterkrankungen, welche sich der Akuterkrankung, die der Immobilisierungsgrund war, aufpfropfen, sind: Pneumonie, Dekubitalulzera, Thrombophlebitiden, Harnwegsinfekte, Inkontinenz, Obstipation, Verwirrtheitszustände, etc.
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Die Frührehabilitation in der Geriatrie bedeutet vor allem die Vorbeugung von solchen vermeidbaren Zweiterkrankungen. Rasche Mobilisierung und psychische Aktivierung bilden die Grundlage einer gezielten, funktionellen Rehabilitation mit der Perspektive der Wiedereingliederung in das gewohnte soziale Umfeld des geriatrischen Patienten. Die Chronizität und Irreversibilität vieler Krankheiten des älteren Menschen resultiert in funktionalen Defiziten, fi Behinderungen bis zum Tod. Daraus soll aber nicht nur eine ausschließlich defi fizitäre Sichtweise resultieren, kein Resignationsdenken, kein therapeutischer und rehabilitativer Nihilismus, sondern Offenheit für neue, auch kleine Hilfsansätze, vor allem eine Integration der palliativen Betreuung in die Geriatrie.
3 Die Geriatrie als medizinisches Spezialfach Die Geriatrie ist die Lehre von den Krankheiten des alten Menschen. Sie erhebt den Anspruch einer ganzheitlichen Sichtweise des älteren Menschen im körperlichen, seelisch-geistigen und sozialen Bereich vor einem funktionellen Hintergrund. Dies geht über den Ansatz der klassischen organ- und diagnosebezogenen Medizin hinaus und inkludiert deshalb auch andere Strukturen, die über den arztzentrierten Bezug hinausgehen; diese sind an der multidimensionalen Problematik orientiert (Oster 2000). Diese Philosophie ist die Grundlage des interdisziplinären geriatrischen Teams, welches als obligatorischer Qualitätsstandard der Geriatrie gilt. Es gibt natürlich auch alte Menschen, die an einer sozusagen unidimensionalen Krankheit leiden, doch mit zunehmendem Alter wird – wie oben ausgeführt – das Risiko des gleichzeitigen Vorhandenseins mehrerer Krankheiten und deren Folgen immer größer – man spricht von der den geriatrischen Patienten charakterisierenden Multimorbidität. Zusätzlich kommt es bei der Mehrzahl der im Rahmen der demografi fischen Entwicklung am schnellsten anwachsenden Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen zu einer mehrdimensionalen funktionellen Fähigkeitsstörung – „Frailty“ –, welche den interdisziplinären Zugang erforderlich macht, den die Geriatrie bietet. Frailty bedeutet das Auftreten typischer geriatrischer Syndrome auf dem Hintergrund der Multimorbidität kombiniert mit Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit, Pfl flegeabhängigkeit, Reduktion von Autonomie und Selbstständigkeit. Frailty ist aber kein unbeeinfl flussbares Schicksal – gezielte Prävention, Therapie und Rehabilitation können die Abhängigkeit signifi fikant hinauszögern. Die geriatrischen Syndrome lassen sich einprägsam auch als die s. g. geriatrischen „I’s“ aufzählen: Sir Bernard Isaacs, einer der Begründer der modernen angelsächsischen Geriatrie, sprach 1971 bei seiner Antrittsvorlesung für den Geriatrielehrstuhl in Birmingham von den vier Giganten der
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Geriatrie, welche die Pflegebedürftigkeit fl begünstigen: Instabilität, Immobilität, Inkontinenz, Intellektueller Abbau. Es sind noch einige I’s dazugekommen: Isolation, Insomnie, Impotenz, Immundefizienz, fi Iatrogenität, zuletzt auch Ignoranz. Bei den geriatrischen Patienten besteht meist eine Kombination von kurativer und rehabilitativer Indikation. Die Multimorbidität ist auch im Sinne einer die Situation erschwerenden Häufung von Begleiterkrankungen und iatrogener Komplikationen, für welche die geriatrischen Patienten, -innen besonders anfällig sind, zu verstehen. Der palliative Aspekt der geriatrischen Betreuung ist unbedingt zu beachten, weil es der Geriatrie primär um die Verbesserung der Lebensqualität alter Menschen geht und nicht lediglich um eine möglicherweise sinnlose Lebensverlängerung. Die Todesnähe ist ein weiteres Charakteristikum der Geriatrie. Es kommt oft zur Konfrontation des (Hippokratischen) Gebots, Leben zu verlängern, mit dem ethischen Gebot, unerträgliches Leiden zu verhindern, zu lindern; es geht um: Q aktive Sterbebegleitung (im Unterschied zur Sterbehilfe), palliative Therapie und Pfl flege (Palliative Care); Q das Zulassen des absehbaren, durch klinische Behandlung nicht mehr abwendbaren Todes; Q die Sicherheit einer Zuwendung des Geriaters, des geriatrischen Teams dem sterbenden alten Menschen gegenüber. Die Herausforderung bei der Betreuung dieser Patienten am Ende ihres Lebens ist, sie nicht nur institutionell zu verwahren, sie sauber und satt zu halten, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, in ihrer letzten Lebensphase auch positive Qualitäten zu erfahren. Die Mehrheit der Menschen, die sterben, sind geriatrische Patienten und Patientinnen – trotzdem sind es gerade sie, die bisher am wenigsten von den Fortschritten der Palliativmedizin und -pflege fl profi fitieren. Für Palliative Care ist es nie zu spät, insbesondere in der Geriatrie. In diesem Spannungsfeld zwischen der Todesnähe und dem Sichern einer Lebensqualität unabhängig von der Länge des noch verbleibenden Lebens, zwischen Förderung der Selbstständigkeit und Autonomie einerseits und Gewährleistung von Schutz, Hilfe und Betreuung, wenn die alten Menschen selbst nicht mehr dazu in der Lage sind, andererseits, bewegen sich die in der Geriatrie agierenden Berufsgruppen. Die meisten geriatrischen Patienten, -innen sind also multimorbid, oft in ihrer globalen Funktionsfähigkeit behindert: Q Sie können kognitiv behindert, dement, sein, sie haben ein Autonomiedefizit. fi Q Sie können physisch behindert, immobil, sein, abhängig von Hilfe bei der Verrichtung der Aktivitäten des täglichen Lebens, sie haben ein Selbstständigkeitsdefizit. fi
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Q Viele sind emotional behindert, depressiv. Q Viele sind sozial behindert, vereinsamt, isoliert, materiell arm, … . In der Geriatrie haben wir es mit Menschen zu tun, die progressiv ihre Autonomie und Selbstständigkeit verlieren, die behindert und hilfsbedürftig sind, und vor allem mit Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen. Der Tod ist in der Geriatrie nicht der absolute Gegner. Wenn er kommt, ist er nicht so sehr ein Symbol des Versagens, wie er es in anderen Bereichen der Medizin oft ist. Der Tod wird nicht so sehr verdrängt, er wird akzeptiert, aber nur, wenn er da ist, bis dann leben die geriatrischen Patienten, -innen; es ist nicht so, dass sie lediglich am Leben sind, sie haben ein Leben bzw. sie sollten es haben. Dies macht die Beschäftigung mit Fragen der Ethik, das Bemühen nach Grundlagen für ein gerechtes, sinnvolles, rationales, gutes – in einem Wort: ethisches – Entscheiden und Handeln gerade in der Geriatrie so wichtig. Geriatrie wird noch immer vor allem mit Institutionen der geriatrischen flegeheimen, assoziiert, sie hat sich bei uns bis vor Langzeitpflege, den Pfl Kurzem hauptsächlich nur dort etablieren und etwas abseits des Gesundheitssystems entwickeln können. Mit dem Pflegeheim fl wird oft eine Situation assoziiert, vor der man sich, noch lange bevor man es brauchen könnte, mehr fürchtet als vor dem Tod … . Die institutionelle Langzeitbetreuung hat ein denkbar schlechtes Image: Gebrechlichkeit, Verzweiflung, fl Einsamkeit, Verluste auf allen Ebenen gehören dazu … . Die Institution erodiert die durch kognitive Abbauprozesse bereits schwindende Autonomie zusätzlich. Die Privatsphäre der Patienten/Bewohner wird auf die Schublade des Nachtkästchens reduziert, ihr Wille wird durch die Regeln und die Ordnung der Institution eingeschränkt, sie reglementiert, manipuliert ihren Schlaf-Wach-Rhythmus, ihre Essens-, Hygienegewohnheiten, ihre Sozialkontakte, sie negiert ihre Sexualität, sie fördert durch ihre infrastrukturellen Unzulänglichkeiten den kognitiven Abbau, die Depression, die Verwirrtheit, die Immobilität, die Inkontinenz … . Mit dem Verlust der Dinge des bisherigen Lebens kommt auch der Verlust eines Stückes der persönlichen Biografie fi (Heeg 1993), vorhandene Kompetenzen laufen Gefahr, schneller verloren zu gehen. Die ausschließlich medizinische Betrachtungsweise der Situation der pfl flegebedürftigen geriatrischen Patienten greift in der Langzeitinstitution eindeutig zu kurz. Das Pfl flegeheim sollte nur ein gut defi finiertes Segment des Betreuungssystems chronisch multimorbider, behinderter, gebrechlicher alter Menschen darstellen. In seinem infrastrukturellen und organisatorischen Gefüge sollte es der Tatsache gerecht werden, dass es für einen relativ gut defi finierbaren, demografi fisch und epidemiologisch gut quantifi fizierbaren Teil der älteren Bevölkerungsgruppe ein Ersatz fürs Zuhause wird. Die Antwort auf den zu erwartenden, stark ansteigenden Bedarf kann jedoch nicht nur in der Errichtung von noch mehr Pfl flegeheimen nach dem
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alten Muster der Verwahrung alter, dementer, hilfloser fl und hoffnungsloser Menschen liegen. Wege müssen gefunden werden, wie man optimistischer auf den oft als Bedrohung präsentierten demografi fischen Trend antworten könnte. Langzeitinstitutionalisierung in einem Ambiente, welches den Bedürfnissen des alten Menschen nicht gerecht wird, darf nicht die einzige Antwort auf Multimorbidität, Chronizität der Erkrankungen und auf die negative Evolution der Demenz sein, vor allem, wenn sie sich auch in ihren infrastrukturellen Bedingungen am längst überholten Defi fizitmodell des Alters orientiert – verbleibende Ressourcen, Kompetenzen werden durch die Langzeitinstitution nach traditionellem Muster negiert, unterdrückt, zerstört … . Moderne Geriatrie, die auch im Akutversorgungssektor des Gesundheitssystems ihren Platz hat, könnte Teil einer optimistischen Alternative sein – sie kann dazu beitragen, den Bedarf an Langzeitinstitutionalisierung zu minimieren. Wenn sie trotzdem doch unvermeidbar ist, sollten nicht nur Langzeitunterbringung, aber auch Langzeittherapie, Langzeitrehabilitation und aktivierende Pfl flege Inhalte und primäre Aufgaben der institutionellen, intra- und extramuralen geriatrischen Langzeitbetreuung sein.
4 Geriatrische Rehabilitation Der geriatrische Patient besitzt fast immer ein Rehabilitationspotenzial – es bleibt nur meist unerkannt oder unterschätzt, es wird selten evaluiert und gefördert. Der Akutsektor des Gesundheitssystems hat nur unzureichende Möglichkeiten, die Selbstständigkeit und Autonomie des geriatrischen Patienten so zu fördern, dass ihm ein längeres Leben in seinem gewohnten sozialen Umfeld ermöglicht wird. Die Wiedererlangung und die Erhaltung optimaler, vor allem motorischer und kognitiver, aber auch sozialer Funktionen der geriatrischen Patienten – auch solcher mit einem vorwiegend palliativen Betreuungsbedarf – fördert deren Selbstständigkeit, Mobilität, Lebensqualität und Autonomie … . Dies ist das Hauptziel der Geriatrie – nicht nur in der geriatrischen Akutbetreuung, auch in der Langzeitpflege fl und in der palliativen Betreuung. Geriatrie ohne Rehabilitation macht gar keinen Sinn. Die medizinischen, psychosozialen und funktionellen Probleme sowie die vorhandenen Ressourcen geriatrischer Patienten werden durch das s. g. fi Dies ist ein geriatrische Assessment erfasst und zum Teil auch quantifiziert. interdisziplinärer, multidimensionaler diagnostischer Prozess, welcher nachfizient ist. Das geriatrische Assessment stellt die diagnostische weislich effi Spezifi fität dar, welche die Geriatrie gegenüber den anderen Fächern der Medizin abgrenzt. Das geriatrische Assessment erlaubt gleichzeitig eine prognostische Aussage, es stellt die Therapie- und Rehabilitationsbasis dar, es ermöglicht soziale Weichenstellungen. Die Anwendung des geriatrischen
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Assessments und die Umsetzung der daraus gewonnenen Erkenntnisse senken erwiesenermaßen die Morbidität, die Mortalität und die Betreuungsbedürftigkeit im Alter. Durch das geriatrische Assessment werden Funktionen erfasst. In der Geriatrie bedeuten Funktionen (erhaltene und verloren gegangene) mehr als die sonst in der Medizin üblichen Maße … . Sie sind entscheidend für die Autonomie und Selbstständigkeit, für eine selbst bestimmte Lebensführung und für die Lebensqualität, entscheidender als die nach üblichen Standards gemessene „Schwere“ der Krankheit. So kann zum Beispiel eine die Mobilität behindernde Gelenksarthrose für den Patienten/die Patientin unmittelbar schwerwiegendere Folgen als z. B. eine Krebserkrankung haben. Die Erreichung, die Wiedererreichung, aber auch die Erhaltung der höchstmöglichen Stufe der körperlichen, geistigen und sozialen Funktionsfähigkeit ist Ziel der modernen rehabilitativen Geriatrie – eine s. g. „Restitutio ad optimum“ eher als die üblicherweise ideal angestrebte „Restitutio ad integrum“. Wenn das geriatrische Assessment die spezielle, die Geriatrie charakterisierende diagnostische Methode ist (ähnlich wie z. B. die Endoskopie in der Gastroenterologie), so ist das geriatrische interdisziplinäre Team deren sie charakterisierende therapeutische Methode. Die gemeinsame, strukturierte Arbeit dieses Teams baut auf den Erkenntnissen aus dem geriatrischen Assessment auf, seine Interdisziplinarität und kommunikative Kompetenz trägt wesentlich zum Erfolg der geriatrischen Intervention bei. Im Kontext des bisher Gesagten ist die Frage berechtigt, ob spezifi fische Bedürfnisse geriatrischer Patienten im gegenwärtigen Gesundheitssystem ausreichend Beachtung finden, oder ob es neue Strukturen geben soll, die diese Bedürfnisse besser abdecken können. Es ist erwiesen, dass spezialisierte geriatrische Strukturen im Akutkrankenhaus, wie die s. g. „ACE-Units“ (Acute Care for the Elderly Units) bzw. bei uns die neuen Abteilungen oder Departments für Akutgeriatrie / Remobilisation (AGR), den bereits vorhandenen und durch die Hospitalisierung bedingten zusätzlichen Funktionsverlust hinsichtlich der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL’s) bei älteren Patienten eher minimieren können als die konventionellen Krankenhausstrukturen, sie können auch nachweislich den Bedarf an Langzeitinstitutionalisierung sowie die Mortalität und Rehospitalisierungsrate reduzieren (Stuck 1993; Cohen 2002; Saltvedt 2002). Eine Experten/-innen-Gruppe des ÖBIG (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen) empfahl deshalb schon 1999 die Schaffung von Spezialeinheiten für die Aufnahme und Behandlung geriatrischer Patienten im Akutsektor des Gesundheitssystems. Die Empfehlungen und Konzepte des ÖBIG wurden vom Österreichischen Krankenanstaltenplan (ÖKAP) bzw. nun dem Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) übernommen; dieser sieht vor, dass die zuständigen Bundesländerinstanzen ein Netz von akutgeriatrischen Einheiten errichten sollen. Bis zum Jahr 2010 soll es insgesamt ca. 3500 der Akutgeriatrie gewidmete Betten an ca. 60 Standorten in ganz Österreich geben.
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Die Organisationsform kann entweder die eines Departments einer bestehenden Abteilung für innere Medizin bzw. Neurologie oder die einer selbstständigen Abteilung sein. Die Ziele der akutgeriatrischen Betreuung liegen nicht nur in der Behandlung akuter medizinischer Probleme, die zur Krankenhausaufnahme führten, sie sind spezifi fisch geriatrisch durch die Perspektive der: Q Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Fähigkeit zur Führung eines autonomen und selbstständigen Lebens, Q Prävention zusätzlicher Funktionsverluste, Q Verbesserung der Lebensqualität, Q Wiedereingliederung des Patienten in seine gewohnte Umgebung. Die von einer ÖBIG-Experten-Gruppe verwendete Definition fi der Zielpopulation unterscheidet sich nicht von den international üblichen Definitionen des geriatrischen Patienten: „Ein geriatrischer Patient ist ein biologisch älterer Patient, der durch alternsbedingte Funktionseinschränkungen bei Erkrankungen akut gefährdet ist, zur Multimorbidität neigt und bei dem ein besonderer Handlungsbedarf in rehabilitativer, somatopsychischer und psychosozialer Hinsicht besteht.“ (Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, 1992). Charakteristika geriatrischer Patienten, -innen Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Fortgeschrittenes biologisches Alter, veränderte physiologische Verhältnisse im Alter, veränderte Pharmakodynamik und Pharmakokinetik im Alter, Multimorbidität, medikamentöse Polypragmasie, atypische Symptomatologie und Verlauf von Krankheiten, Instabilität, kognitive Behinderung, protrahierter Verlauf von Krankheiten und Rekonvaleszenz, Risiko von psychiatrischen Störungen, Risiko von Selbstständigkeitsverlust.
Den Empfehlungen des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheitswesen (ÖBIG) folgend, lauten die Aufnahmekriterien für die Strukturen der Akutgeriatrie/Remobilisation wie folgt: Q somatische oder psychische Multimorbidität, die eine stationäre Akutbehandlung erforderlich machen, Q Einschränkung oder Bedrohung der Selbstständigkeit durch den Verlust funktioneller und gegebenenfalls kognitiver Fähigkeiten oder durch psychosoziale Probleme im Rahmen der Erkrankung, Q Bedarf an funktionsfördernden, funktionserhaltenden oder reintegrierenden Maßnahmen. Geriatrische Patienten sind bei akuten gesundheitlichen Problemen immer in funktioneller Hinsicht gefährdet und benötigen parallel zur akuten kli-
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nischen Diagnostik und Therapie eine geriatriespezifische fi multidisziplinäre Diagnostik – das geriatrische Assessment – und funktionsfördernde bzw. -erhaltende Therapie. Dazu zählt vor allem Mobilitätstraining, Orientierungshilfe sowie Training der Aktivitäten des täglichen Lebens. Eine solche Vorgangsweise kann die Häufi figkeit der mit der Hospitalisierung assoziierten Morbidität reduzieren – z. B. akute Verwirrtheitszustände – und die Entlassungsergebnisse verbessern – z. B. Minimierung des Bedarfs an stationärer Langzeitpflege. fl Aus den Ergebnissen des geriatrischen Assessments lassen sich auch qualifi fizierte Aussagen zum individuellen Nutzen/Risiko-Verhältnis einer evtl. zur Diskussion stehenden spitzenmedizinischen Intervention ableiten. fi vorhandenen Spannungsfeld unterschiedlicher Dies kann in dem häufig Werthaltungen – kuratives vs. palliatives Vorgehen – sachliche Klärung und emotionale Entlastung bringen. In randomisierten Studien wurden die Behandlungsergebnisse akutgeriatrischer und traditioneller Abteilungen verglichen, wobei sich eindeutige Vorteile für die Patienten der Akutgeriatrien zeigten (z. B. Saltvedt 2002). Nach akutgeriatrischer Betreuung ist der funktionelle Zustand der Patienten signifi fikant besser; dies ist auch nach mehreren Monaten noch feststellbar, ebenso bessert sich die subjektive Lebensqualität der Patienten signifi fikant, das Gefühl der Belastung bei den Betreuungspersonen ist geringer. Es kommt weniger häufi fig zu Pfl flegeheimeinweisungen. Den größten Nutzen haben jene Patienten, die bereits Symptome von Altersgebrechlichfl sind. Die Kosten keit aufweisen, jedoch noch nicht stark pflegeabhängig sind etwa gleich hoch wie auf internistischen Normalstationen. Das Angebot der Einheiten für Akutgeriatrie besteht in einer kompetenten geriatrischen, medizinischen und pflegerischen fl Betreuung sowie in einer frühen rehabilitativen Intervention. Die Therapie, aktivierende Pflege, fl Rehabilitation und die Entlassungsplanung werden auf der Basis eines komplexen geriatrischen Assessments durchgeführt. Für die Patienten, -innen der Akutgeriatrie bedeutet eine Akuterkrankung, die sich auf die vorbestehende Multimorbidität aufpfropft, nicht unbedingt den Beginn des Verlustes der letzten Selbstständigkeit und die definitive fi Einweisung in eine Institution der Langzeitpfl flege. Die meisten können ihr ursprüngliches soziales Umfeld wiedererlangen und ihre Selbstständigkeit, Autonomie und Lebensqualität wahren.
5 Zusammenfassung Der geriatrische Patient passt oft nicht in die Welt der modernen Medizin mit ihren Illusionen des Machbaren, wenn es darum geht, Biomechanismen, die nicht mehr so laufen, wie sie sollten, zu heilen und zu reparieren. Geriatrische Patienten passen nicht in diese Illusionen: Während ihrer langen Lebenszeit erfuhren sie viele chronische Krankheiten, die nicht mehr ge-
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heilt werden können. Alltagsfunktionen können nicht mehr wie früher erledigt werden. Heilung wird defi finitiv unmöglich. Alte Menschen müssen lernen, mit neuen Limits zu leben; diese Limits werden immer enger. Die Geriatrie nimmt sich jener Probleme an, die andere medizinische Fachbereiche ignorieren, weil sie sich auf bestimmte Organe und Behandlungsmethoden beschränken. Die Geriatrie will den speziellen Bedürfnissen alter kranker Menschen gerecht werden. Sie brauchen selbstverständlich die anderen, etablierten Spezialfächer, sie brauchen die interventionelle Kardiologie, moderne Chirurgie, Intensivmedizin und viele andere. Aber zusätzlich benötigen sie eine Medizin, die nicht nur eine enge Perspektive auf ein Organsystem hat. Sie brauchen eine Medizin für ihre multidimensionalen Bedürfnisse. Die Geriatrie steht nicht in Konkurrenz zu den anderen Fächern, sie ergänzt und bereichert sie durch ihre eigene Kompetenz. Moderne Geriatrie versucht, die spezifische fi Krankheitssituation älterer Menschen individuell und multiprofessionell zu erfassen und zu behandeln. Sie nimmt sich aller Probleme an, die im Akutkrankenhaus nicht adäquat behandelt werden können.
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B. Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und deren multiprofessionelle Behandlung Hans Georg Zapotoczky
Ältere Menschen über 65 Jahre weisen ein deutlich erhöhtes Risiko für eine psychische Erkrankung auf. Als besonders wichtige Diagnosegruppen können hierbei die Demenzerkrankungen, affektive Störungen und verschiedene andere Verhaltensstörungen angesehen werden, die oft mit somatischen Erkrankungen kombiniert auftreten. Wesentlich für eine effi fiziente Behandlung ist in vielen Fällen eine frühzeitige Diagnose und Behandlung.
1 Einleitung Die vielen psychischen Beeinträchtigungen, denen ältere Menschen ausgesetzt sein können, lassen sich um einige wenige Syndrome gruppieren: Q organische Psychosyndrome und Demenzsyndrome (im ICD 10: F00– F09), Q zyklische Syndrome – depressive Syndrome (sie werden im ICD 10 unter folgenden Rubriken geführt: F32 depressive Episode, F33 rezidivierende depressive Störungen, F34 Zyklothymie, Dysthymie, F43.2 depressive Reaktion, eventuell mit Angst gemischt), Q paranoide und paranoid-halluzinatorische Syndrome (F22 späte Paraphrenie, Paranoia, paranoides Zustandsbild), Q psychoreaktive Störungen (F41.2 Angst und Depression gemischt, F43.2 depressive Reaktion mit Angst gemischt, F45.2 hypochondrische Störung), Q suizidale Syndrome (F43.0), Q Syndrom der Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit (vorwiegend F10 Störungen durch Alkohol und F13 Störungen durch Sedativa und Hypnotika).
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Es wird nicht gleich von „Krankheiten“ gesprochen. Das Syndrom setzt sich aus regelhaften Symptomkombinationen zusammen – und es können ihm mehrere Ursachen zugrunde gelegt werden: Akut reaktive, psychosoziale, z. B. auf Stress/Distress rückführbare, wobei ältere Menschen unter Umständen auf Reizsituationen mit Distressreaktionen antworten, auf die sie früher völlig unauffällig und angepasst reagierten, auch weit zurückliegende Konfl flikte, die durch aktuelle Situationen energetisiert werden, schließlich organische, im Alter oft eine Kombination aller 3 Ursachen. Dispositionelle Faktoren spielen immer eine Rolle, allerdings tritt ihre Bedeutung im Alter eher in den Hintergrund. Nur dann, wenn ein bestimmtes psychopathologisches Symptommuster (eben ein pathognomonisches) und Gemeinsamkeiten des Verlaufs auf eine einzelne Ursache hindeuten können, lässt sich von einer Krankheit sprechen. Der Mensch ist nicht aus einem einzelnen Motiv heraus interpretierbar, ihn lenkt meist ein Motivbündel, auch seine seelischen Beeinträchtigungen lassen oft keine einzelne Ursache erkennen. Da organische Psychosyndrome und Demenzsyndrome gesondert besprochen werden, kann gleich auf zyklische depressive Syndrome eingegangen werden.
2 Zum depressiven Syndrom Eine 65-jährige Frau, A. K., verwitwet, 3 Söhne, wird wieder in eine psychische Abteilung eingewiesen. Aktuelle Leitsymptome: Aus ausgeglichener Stimmung heraus plötzlich Substupor, steht am Gehsteig bewegungslos, starrt vor sich hin; zeitweise fi Selbstmord-Drohungen, Äußerungen wie, sie habe Selbstmordideen, häufig sich an den Kindern versündigt, sich zu wenig um sie gekümmert, durchbricht ihre Hemmung, läuft schließlich aus der Institution davon, ist nicht mehr zu halten. Vorgeschichte: Beginn der Symptomatik nach dem Tod des Mannes, der Kaminfegergeselle war, bei den Ortsbewohnern beliebt, fröhlich im Gasthaus, alkoholabhängig; zu Hause oft tyrannisch, hat gleich zugeschlagen. Tod an Leberzirrhose. Am Totenbett verpfl flichtet der Sterbende seine Frau, bei seinem Begräbnis nicht zu weinen, sonst werde sie in eine psychische Institution eingeliefert werden müssen. Immer wieder treten in etwa jährlichen Abständen phasenhafte depressive Störungen auf; die Intervalle fi depressiver Verlauf werden immer kürzer, bis schließlich ein chronifizierter resultiert mit 3- bis 4-wöchigen Abständen, in denen die Patientin ausgeglichen und unauffällig erscheint. Biografie: Die Patientin ist das zweite Kind eines Gemeindebediensteten; die Familie lebt in einem 40 m2 großen Raum. Tod des Vaters, als die Patientin sechs Jahre alt war. Die Mutter der Patientin heiratet kurze Zeit später einen Viehhändler und zieht von dem Bergdorf weg. Schlechtes Einvernehmen der Patientin mit dem Stiefvater. Immer wieder untröstliche
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Spannungen. Sie zieht mit 15 Jahren von zu Hause aus, arbeitet als Hausmädchen an verschiedenen Stellen um ein äußerst niedriges Gehalt, lernt dann ihren späteren Mann kennen. Das erste Kind wird noch unehelich geboren, das Paar wohnt noch einige Zeit bei ihrer Mutter und dem Stiefvater, zieht dann aus, als die beiden anderen Söhne geboren werden. Die Familie ist der Patientin das Wichtigste. Jede Krankheit eines Familienmitglieds bedrückt sie. Trotz ihrer angespannten finanziellen Situation spart sie für die Kinder. Zwei sind bis heute, wiewohl im Erwachsenenalter, noch ledig. Der jüngste Sohn hat geheiratet, dessen Frau hat ein anderes Naturell als die Patientin. Es gibt ein Enkelkind, das der Patientin sehr zugetan ist und umgekehrt. Diesem Sohn hat die Patientin auch ein Grundstück geschenkt, er hat darauf ein Haus gebaut. In der Zwischenzeit ist die Patientin nicht mehr in der Lage, allein zu leben; in ein Altersheim will sie nicht ziehen, zum Sohn kann sie nicht, weil er und seine Familie die Sorge um sie nicht übernehmen können. Deshalb wird sie in einer Art offenes Pflefl geheim psychisch versorgt; dort verlangt sie immer wieder den Besuch ihrer Kinder, beklagt sich, dass sie sie nicht besuchten, obwohl sie erst am Vortag gekommen sind. Immer wieder versucht sie auch, von dort wegzulaufen. Wenn es ihr gelingt, bleibt sie nach kurzem Weg auf der Straße, am Marktplatz stuporös stehen, ist nicht mehr zu bewegen, wieder umzukehren, sodass sie immer wieder in eine geschlossene Anstalt überwiesen wird. Dort bleibt sie meist ein bis zwei Wochen und wird dann wieder zurückgebracht. Zur Problematik: Der Ehemann hat ihr offenbar eine (trotz Schlägen) geschützte Lebenssituation vermitteln können. Deswegen war sie dankbar, vielleicht hat sie ihn deswegen auch geliebt. Er hat ihr ermöglicht, eine Familie umsorgen zu können; damit hat sie vielleicht jene Wünsche umsetzen können, die aus ihrer eigenen frühen Kindheit vor dem Verlust ihres Vaters entstanden sind. Mit dem Tod des Ehemannes hat sie offenbar wieder den Vater verloren, zumindest einen Menschen, der ihr große Sicherheit geboten hat. Die eigenen Kinder haben ihren Lebensstil, der den mütterlichen Bedürfnissen teilweise entgegensteht. Den Tendenzen der Patientin, zu den Strukturen ihrer Ursprungsfamilie zurückkehren zu wollen, entsprechen sie gar nicht. Somit erlebt die Patientin wieder eine Situation, die sie nach dem Tod ihres leiblichen Vaters erfahren hat: Allein mit ihren Wünschen, ihren Phantasien, die sie nicht mehr umsetzen kann, allein mit ihren Ängsten, ihrer zerbrochenen Zuversicht, allein mit ihrer Hoffnungslosigkeit. Dann wuchern in ihr Aggressionen nach außen wie nach innen. Die Abschiedsworte des Mannes am Totenbett sind nicht nur im Sinne einer Drohung, einer verpfl flichtenden Vorhersage zu verstehen, sondern eher als Ausdruck seiner Besorgnis, seiner Befürchtung. Er scheint seine Ehefrau besser verstanden zu haben als sie sich selbst. Diagnose: Rezidivierende depressive Störung (F33). Behandlungsansätze: Die Familie der Patientin ist sehr um sie bemüht; allerdings wird das Grundanliegen der Patientin, nämlich Wiederherstellung ihrer familiären Situation aus ihrer Kindheit, zu wenig verstanden. Sie kann nicht mehr umgesetzt, doch in der Einstellung der Patientin berück-
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sichtigt werden. Medikamentös werden Antidepressiva und zur Angstreduktion Neuroleptika verordnet. Angepeilt wird ein geschütztes Wohnheim mit dem Ziel, dass die Patientin dort mehr Selbstständigkeit erlangt und fi sich von ihrer Wunschvorstellung distanzieren kann. In einer Art „Griefing“ wird der Patientin ermöglicht, sich mit ihrer Situation aktiv auseinanderzusetzen: Ihre Familie, nach der sie sich zurücksehnt, existiert nicht mehr, ihre Kinder leben ihr eigenes Leben, besuchen sie zwar, lassen sie nicht allein, helfen ihr, doch sie müsste endlich auf sich selbst stoßen – sich akzeptieren, wie sie ist, und die Situation, in der sie sich befi findet, annehmen können. Eine 72-jährige Frau, M. S., kommt zur stationären Aufnahme in eine psychiatrische Institution. Aktuelle Symptomatik: Wie vor drei Jahren ist sie wieder völlig antriebslos, entkräftet, kann dem Mann das Essen nicht mehr zubereiten, liege verzweifelt im Bett, könne kaum vor Mittag aufstehen, leide wiederum an Schlafstörungen, gehe um 8.00 Uhr abends zu Bett, wache um 2.00 Uhr, um 3.00 Uhr und weiterhin beinahe in stündlichen Abständen auf, habe dann manchmal auch schreckhafte Träume, ferner habe sie auch an Gewicht verloren, einige Kilo in den letzten Wochen. Selbstmordgedanken? Sie sei froh, wenn sie sich davon distanzieren könne, sie wolle niemandem dies antun, auch sich selbst nicht. Vor drei Jahren hätte sie genau die gleichen Beschwerden gehabt, jetzt seien sie wiedergekommen, allerdings habe sie die Medikamente, da es ihr so gut gegangen sei, schon ein halbes Jahr nach der letzten Entlassung weggelassen. Vorgeschichte: Sie sei das Letzte von sieben Kindern. Sie habe auch sieben Kinder, alle waren bei ihr zu Hause und seien nach und nach ausgezogen. Jetzt wohne nur mehr eine Tochter bei ihr, die habe auch einen Freund und werde höchstwahrscheinlich demnächst heiraten, dann sei sie mit ihrem Mann ganz allein. Schon als Schulkind sei sie unerhört emsig gewesen, sei nach dem Abendläuten, wenn die Eltern nach Hause gegangen sind, noch am Feld geblieben, habe immer mehr leisten wollen, als von ihr erwartet worden ist. Selbstverständlich sei sie gelobt worden, doch deswegen habe sie sich nicht so bemüht. Auch ihre Kinder hätten es alle zu etwas gebracht. Am Wochenende kämen sie alle nach Hause, da stünden die Autos vor der Türe, da koche sie stets für alle, vor allem nach Mehlspeisen seien die Kinder begierig, das freute sie immer wieder. Die Kinder kämen mit ihren eigenen Kindern, da sei die Stube voll. Am Abend fahren sie weg, stets ein Abschiedsschmerz. Allerdings kämen die Kinder in letzter Zeit immer seltener. Sie hätten halt andere Interessen – das schmerze sie. Als sie wieder depressiv geworden sei, sei der Gatte häufiger zu Hause geblieben, hätte sich um sie gekümmert, sei nicht mit seifi nen Kameraden zur Jagd gegangen, gelegentlich hätte er auch gekocht. Jetzt seien sie die beiden einzigen, die zusammenhalten müssten, die anderen, die Kinder gehen halt ihre eigenen Wege, die brauchten ihre Sorge nicht mehr. Diagnose: Rezidivierende depressive Störung (F33).
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Behandlungsansatz: Die Patientin wird auf ein Antidepressivum (Tolvon abends, Edronax am Morgen und zu Mittag) eingestellt. Dann wird ihre Problematik erarbeitet: Sie hat sich immer für andere eingesetzt und spüre jetzt, dass sie „leerlaufe“. Ihre Funktion als Mutter habe darin bestanden, einfach für andere da zu sein. Für wen könne sie jetzt da sein? Für den Mann, für sich selbst. Sie geht in die Ergotherapie und bäckt Apfelstrudel. Ein Stück davon schickt sie mir auf einem Teller in mein Zimmer. Als ich sie zu mir bitte und ich mich bei ihr bedanke, eröffnet sie das Gespräch damit, sie müsse mir etwas mitteilen, was sie noch keinem Arzt anvertraut habe. Ihre Mutter hätte nach der Lebensmitte, da war sie etwa 50 Jahre, genau die gleichen Beschwerden gehabt wie sie heute. Sie sei in eine Anstalt eingewiesen, sei von dort weggebracht worden. Es war im Krieg. Die Mutter sei umgebracht worden. Eine ältere Schwester hätte sich dann um die Familie gekümmert. Ich drücke der Patientin die Hand. Erstaunlich, dass sie einem Psychiater überhaupt noch Vertrauen schenken kann. Mit der Patientin wird vereinbart, dass sie in einer Pfarrgruppe ihrer Gemeinde die Möglichkeit erhalten könnte, sich in einer Küche ein- bis zweimal pro Woche umzusehen und mitzuwirken. Da wäre sie auch gerne gesehen, hätte Kontakt mit anderen, könnte erleben, wie geschätzt, wie beliebt sie sei. Sie wird in gutem Zustand entlassen, dem Hausarzt wieder anvertraut, hält Kontrollen ein, ihre Befi findlichkeit bleibt konstant ausgeglichen. Zusammenfassendes Resümee: Die depressive Störung älterer Menschen weist in der Symptomatik und dem Verlauf nach Besonderheiten auf, die sie von ähnlichen Störungen im vollen Erwachsenenalter unterscheiden: Dem Verlauf nach entspricht sie einer Dysthymie, ist also durch Ereignisse aus der Umwelt kurzzeitig aufhellbar. In der Symptomatik treten 2 im DSM IV und ICD 10 nicht erwähnte Merkmale in den Vordergrund: Angst und Aggression. Außerdem werden häufig fi Reizbarkeit, Misstrauen und hypochondrische Tendenzen beobachtet. Hell (1993) führt auch (stumme) Depressionssymptome wie Resignation, Apathie und Müdigkeit an, die auch bei organischen Erkrankungen im Alter auftreten können. Um derart ausgestattet Depressionsformen nicht misszuinterpretieren, sondern einer gezielten Behandlung zuzuführen, ist eine intensive Aus- und Fortbildung gerade der Allgemeinpraktiker notwendig. Die Therapie älterer depressiver Menschen sollte sich auf folgende Angebote stützen können: Ich-Stärkung durch: Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Strukturierung des Tagesablaufs, Anregung zu Turnübungen, Physiotherapie, Anregung zur sozialen Kontaktaufnahme, Gruppensitzungen, Wiederaufnahme früherer Gewohnheiten, Lernprogramme, adäquate Ernährung, adäquate Pharmakotherapie, regelmäßige Arztbesuche, eventuell psychotherapeutische Sitzungen.
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3 Zum paranoischen Syndrom Vorgeschichte: Eine 69-jährige Frau, E. T., gepflegt fl erscheinend, mit Handschuhen und Tasche aus Eidechsenleder, sucht ihr Polizeikommissariat auf, um eine Anzeige zu erstatten. Es dringe jemand – vermutlich ein Mann – vermutlich ein bestimmter Mann, den sie aber jetzt noch nicht nennen wolle – in ihre Wohnung ein, um einige Kleidungsgegenstände zu entwenden. Genau genommen gehe es um ihre Unterwäsche, von der etliches fehlte. Sie könne sich schon vorstellen, was der Betreffende damit vorhat, möchte aber darüber nicht sprechen. Die beiden diensthabenden Polizeibeamten sehen sich veranlasst, den Amtsarzt einzuschalten, der die Frau in eine psychiatrische Anstalt einweist. Dort wird die Dame, sehr empört über diese Vorgangsweise, von einem Patientenanwalt gesehen, und ihre Entlassung wird eingeleitet. Nach etwa 14 Tagen, währenddessen die Frau zu Hause war, sucht sie erneut das Kommissariat auf. Wiederum seien ihr Stücke ihrer Unterwäsche gestohlen worden. Nunmehr machen ihr die diensthabenden Polizeibeamten einen Vorschlag: Sie könnten sie nach Hause begleiten und den Sachverhalt dort in ihrer Wohnung feststellen. Die Dame ist begeistert. Zu Hause nehmen die Polizisten die Unterwäsche der Dame aus dem Kasten, legen sie auf die Bettdecke, zählen sie, zählen sie noch einmal, auch die Dame zählt, auch gerne getragene Wäschestücke sind vorhanden, alles in genügender Zahl, die Dame nickt, die Polizeibeamten salutieren und verlassen das Haus. Etwa nach weiteren zwei Wochen erscheint die Dame noch einmal im Polizeikommissariat, es wiederholt sich die gleiche Prozedur nur mit dem Unterschied, dass eine Sozialarbeiterin eingeschaltet wird, die ihrerseits die weitere Vorgangsweise koordiniert. Unter dem Hinweis, es müsse der körperliche Zustand der Dame überprüft werden, wird sie einem Arzt vorgestellt. Die Anamnese ergibt Folgendes: Einziges Kind eines Beamten; heiratete mit 20 Jahren gleichfalls einen Beamten, der vier Jahre älter ist als sie, mit 58 Jahren bei einer Dienstfahrt tödlich verunglückt. Die Ehe blieb kinderlos. Zwei Jahre nach dem Tod des Mannes lernt sie in der Pause eines Konzerts (sie liebte im Gegensatz zu ihrem Ehemann immer Musik, besuchte meist allein Konzerte) über eine Schulfreundin einen Schuldirektor kennen, dessen Frau ein Jahr vorher verstorben war. Es beginnt eine große Liebe – sexuell viel erfüllender als im Rahmen ihrer Ehe. Die beiden Partner wohnen getrennt, teilen die meiste Zeit, die als sehr beglückend geschildert wird. Keine Bedrückung, kein Zerwürfnis; bis am gleichen Tag, an dem der erste Mann der Frau ums Leben gekommen ist, lediglich elf Jahre später der Partner plötzlich einem Herzinfarkt erliegt. Es folgt eine untröstliche Zeit, charakterisiert durch Gereiztheit und Missmut, gelegentlich auch durch Schlafstörungen und Pessimismus. Kurze Zeit habe sie auch daran gedacht, sich das Leben zu nehmen, dem über alles geliebten Mann nachzufolgen. Konzertbesuche, kleinere gesellschaftliche Kontakte halten sie flegt sich und ist immer noch attraktiv. Ein einzeln wohaufrecht. Sie pfl nender Nachbar, von dem sie nie viel gehalten hat, kümmert sich um sie; gießt die Blumen, geht für sie einkaufen, lädt sich gelegentlich bei ihr zum
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Kaffee ein, wobei es nie über Alltagsgespräche hinausgegangen sei, bis er plötzlich und in immer stärkerem Ausmaß anzüglicher geworden sei. Sie habe von Anfang an eine klare ablehnende Haltung gezeigt, habe ihm gegenüber dies auch mehrmals und immer wieder artikuliert. Er habe dies als Spaß betrachtet, habe sich nicht abweisen lassen, habe noch gröbere Reden geführt. Alle ihre Einwände und Zurückweisungen habe er nicht ernst genommen – bis sie schließlich den Kontakt mit ihm gänzlich abgebrochen habe. Er habe selbst dann an ihrer Wohnungstür „gescharrt“, habe sich in einigen Geschäften als ihr „Vertrauter“ ausgegeben, habe ihr verschiedene Waren „hinterrücks“ zustellen lassen, auch bei einer Bank einen Betrag an sie überweisen lassen (was sich allerdings nachträglich als falsch herausgestellt hat). Schließlich sei ihr nichts anderes übrig geblieben, sie habe sich im letzten Jahr völlig zurückgezogen, um den „Anfechtungen“ dieses Mannes zu entgehen. Sie beobachte ihn allerdings ständig, um sich vor ihm zu schützen. In letzter Zeit ist er offenbar aufs Land hinausgefahren, hin und wieder komme er allerdings wieder nach Hause, häufi fig auch nachts, um sein Spielchen weiterzuführen, da schlafe sie jedoch. Mit Sicherheit unterhalte er am Land irgendeine sexuelle Machenschaft – ein Geheimbordell oder so – und wolle sie mit hineinziehen. Doch sie wisse sich zu wehren. Das Therapieprogramm umfasste: Ich-Stärkung (sie könne sich wehren gegen diesen Mann, gegen alle Männer, wenn es sein muss, sie habe dies schon oft genug bewiesen, dieser eine sei gar nicht so bedeutsam), in Einzeltherapie und gruppentherapeutischen Sitzungen; Aufbrechen der Isolation, Kontaktaufnahme mit Bekannten von früher, Schulkolleginnen etc. Gespräche über ihre sexuellen Wünsche und Ängste. Attraktivität sei eine Herausforderung, der begegnet werden kann. Die Abgabe eines Neuroleptikums wurde erwogen, erwies sich jedoch als nicht notwendig. Die bisherigen Kontrollen der Frau zeigten eine weitgehende Desaktualisierung der Situation. Die Befindlichkeit fi der Frau ist ausgeglichen und erscheint stabilisiert. Zusammenfassendes Resümee: Es ist durchaus denkbar, dass sich im Alter wiederum soziophobische Anklänge bemerkbar machen. Die psychopathologische Ausgestaltung kann dann einem altersspezifischen fi Beiklang unterliegen: Die betroffene Person reagiert mit paranoischen Inhalten, fürchtet sich zwar vor den anderen, wandelt ihre Furcht aber in Verfolgung und in Belästigungen um. Nicht immer kann ein, wie in diesem Fall, so günstiger Verlauf verzeichnet werden: Seit seiner Jugendzeit ist der jetzt 72-jährige Mann misstrauisch; seine älteren Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester, habe er immer kontrolliert, er habe sie verdächtigt, sie nehmen ihm etwas weg und benachteiligten ihn. Mit 36 Jahren habe er eine um vier Jahre ältere Frau geheiratet, in ihrer Nähe habe er sich sicher gefühlt. Allerdings habe sie eine 20-jährige Tochter in die Ehe mitgebracht, die hätte ihn immer gegen ihre Mutter, also gegen seine Frau, ausgespielt. Nach drei Jahren habe die Tochter dann geheiratet, einen jungen Mann mit einer harten kämpfe-
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rischen Natur, die der Patient stets gefürchtet hat. Er habe immer das Gefühl gehabt, ihm könne etwas passieren, wenn er die große und starke Figur des jungen Mannes wahrgenommen habe. Er habe mit dieser Tochter und ihrem Mann kaum Kontakt unterhalten. Vor zwei Jahren sei seine Frau gestorben, es sei ein Autounfall gewesen, und sie habe einen Schädelbruch erlitten. Der Unfall sei nach dem Weggehen aus der Wohnung der Tochter in unmittelbarer Nähe dieses Wohnorts passiert. Er habe gleich den Verdacht gehabt, der Schwiegersohn könnte dahinterstecken, es habe vermutlich wegen fi finanzieller Angelegenheiten auch Auseinandersetzungen zwischen Schwiegersohn und der Frau des Patienten gegeben. Nun habe er Angst bekommen, er könne der Nächste sein, den der Schwiegersohn aus dem Weg räumen wolle. Es habe auch so merkwürdige Telefonanrufe gegeben, z. B. mitten in der Nacht. Deswegen habe er sich in zunehmendem Ausmaß verbarrikadiert, habe den Wohnungseingang mit Pfosten abgesichert, habe sich auf Umwegen einen Revolver verschafft, sei allerdings dann in ein Waffengeschäft gegangen, um dort Schießübungen durchzuführen. Schließlich sei er auch nur mehr nachts ausgegangen, er magerte ab, sei körperlich schwächer geworden. Nachts sei er dann gestolpert und mit Verletzungen in eine Unfallabteilung eingeliefert worden. Er habe an dieser Abteilung Komplizen des Schwiegersohns vermutet, habe Ängste gehabt, falsch behandelt zu werden, man wolle ihn operieren, und er würde dann aus der Narkose nicht mehr aufwachen. Er habe diese Vermutungen dann auch einer Schwester mitgeteilt, zu der er ein gewisses Vertrauen aufgebracht habe. Daraufhin sei er einem Psychiater vorgestellt worden. Auf der Unfallabteilung habe er sich nur einige Stunden aufgehalten, es wurde ihm der Vorschlag unterbreitet, ein Aufnahmegesuch in ein Altersheim zu unterschreiben, was er allerdings abgelehnt habe. Jetzt sei er wieder allein zu Hause, habe offenbar kaum Kontakt mit seiner Umwelt und führe sein bisheriges Leben, das voll ist von Verdächtigungen und Befürchtungen, weiter fort.
4 Psychoreaktive Störungen Eine 80-jährige Dame, E. L., sucht die Ambulanz auf. Ihr Problem bestehe darin, dass sie – als seit fünf Jahren alleinstehend – keinen Anschluss an Freunde und Bekannte finde. Sie rufe bekannte Ehepaare an, frage an, ob zum Wochenende nicht ein gemeinsamer Ausflug, fl ein gemeinsames Mittagessen, etc., selbstverständlich auf getrennte Rechnung, möglich wäre und erhalte negative Antworten, weil die Frauen befürchten, sie könnte ihnen ihre Partner abspenstig machen. Sie sei zwar noch immer sehr attraktiv, schaue jünger aus, sie hätte auch noch gerne Kontakt mit männlichen Personen, doch ginge es ihr jetzt nicht darum. Diese Ablehnung, die sie erfahre, setze ihr sehr zu, und sie beginnt dabei zu weinen. Ihre Vorgeschichte ist belastend: Erstes Kind einer Kaufmannsfamilie, der zwei Jahre jüngere Bruder sollte das Geschäft einmal übernehmen und
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wurde in dieser Hinsicht erzogen. Ihre Entwicklung verlief sehr frei; Matura, dann Ausbildung zur Sozialarbeiterin, gemeinsame Tätigkeit unter Alfred Adler; es sei ihr immer alles gelungen; kaum war ein Wunsch aufgetaucht, sei er schon in Erfüllung gegangen. Sie brauchte nur zu lachen, wurde ihr alles vom Gesicht abgelesen. Von ihren Eltern erhielt sie jede Form der Förderung und später auch von ihrem Mann, den sie mit 24 Jahren heiratete. Die Ehe sei glücklich gewesen, sexuell und auch sonst. Als sie 29 Jahre alt war, besetzte Hitler Österreich. Ihr Mann, Jude wie sie selbst, wurde sofort verhaftet. Seine weltanschauliche Einstellung war öffentlich bekannt. Durch Vorsprachen bei der Gestapo versuchte sie, ihn wieder freizubekommen. Sie geriet an einen reichsdeutschen Gestapobeamten, der ihr Verständnis entgegenbrachte, sie zwei- bis dreimal wiederbestellte. Sie setzte, weil es ihr um das Leben des Gatten, um alles ging, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein; der Gestapomann wurde vom Kollegen aus Österreich, aus der Ostmark, beschuldigt, mit ihr ein sexuelles Verhältnis begonnen zu haben (was, wie die Frau beteuert, nicht der Fall war). Daraufhin wurde er von einem Tag auf den anderen abgelöst. Ihren Ehemann hat Frau L. E. nicht mehr gesehen. Weitere Vorsprachen bei der Gestapo unterblieben, weil sinnlos. Gemeinsam mit Eltern, Bruder und dessen Familie wanderte sie nach USA aus. Aufgrund ihrer Ausbildung flich gut voran, hatte eine angesehene Führungsposition in kam sie berufl einer internationalen Betreuungsorganisation erreicht, hatte zahlreiche Partnerschaften (sie war groß und sah blendend aus), die zuletzt in einer nach außen hin blendenden Ehe ohne große innere Beteiligung endeten. Das gesellschaftliche Leben, durchsetzt von Flirts und kurzen Liaisons, tat ihr ungemein wohl. Da konnte sie wieder ganz sie selbst sein. Gegen Ende der 60er-Jahre sei sie nach Scheidung und guter finanzieller Absicherung wieder nach Österreich zurückgekehrt. Sie sei viel in Europa gereist, habe in jeder Hinsicht ein bewegliches Leben geführt. In Paris habe sie durch Zufall einen knapp 70-jährigen Geschäftsmann kennengelernt, der sie innerhalb weniger Wochen „vom Fleck weg“ geheiratet habe. Bei Geschäftsreisen habe sie eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Sie habe ihre Rolle verstanden und – da sie im gesellschaftlichen Mittelpunkt stehen konnte – auch gerne mitgespielt. Sie sei in ganz Europa, in Übersee herumgekommen. In Wien hätten sie ein kleines Appartement gehabt, sehr zum Wohlfühlen. Bis sie ihn – da sei er schon über 80 gewesen – tot in der Badewanne liegend angetroffen habe. Er habe offenbar einen Schlaganfall erlitten, habe nicht mehr die Wanne verlassen können und sei elendiglich ertrunken. Sie habe dann mit Hilfe des Rechtsanwaltes das Geschäft entsprechend Überlegungen des verstorbenen Mannes aufgelöst (sie verstehe ja nichts davon) bzw. in eine andere Gesellschaft übergeführt. Von dieser werde sie zu Jahresfeiern etc. eingeladen, im Übrigen sei sie völlig abgeschieden und mit ihren 80 Jahren körperlich gesund und geistig fl flexibel völlig allein. Und hier beginnt Frau E. L. wiederum sacht zu weinen. In weiteren Gesprächen klärt sich die Problematik dieser Frau mehr und mehr: verwöhntes Kind, erfolgsgewohnt, durchsetzungskräftig, erotisch versiert. Muss sie nicht noch immer von anderen Frauen als mögliche Ne-
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benbuhlerin angesehen werden? Strahlt sie nicht noch immer, immer wieder solche Signale aus? Auf das Glück, noch einen männlichen Partner zu finden, könne sie nicht bauen. Und ihr Körper sei schließlich „welk“, sie fi könne diesen keinem Mann mehr zumuten. Welche Rolle wäre jetzt angemessen? Könne sie – als welterfahrene Dame – doch die Flexibilität aufbringen, Verhaltensweisen (auch wenn sie bisher erfolgreich waren) zu ändern? Nach der 4. Stunde (einmal wöchentlich) blieb Frau E. L. fern. Es wurde bekannt, dass sie einen jüngeren Mann kennengelernt hat – offenbar ihrer alten Rolle vertraut blieb. Resümee: Offenbar wurden in Kindheit und Jugend bei Frau E. L. eine Einstellung und Haltung fi fixiert, die ihr viele Jahrzehnte hindurch Erfolg, Ansehen und Bewältigungsmöglichkeiten gewährten, in einem höheren Alter allerdings zu Konflikten fl führten. Mit diesem bewussten und unbewussten Repertoire war die späte Entwicklungsphase nicht mehr entsprechend zu meistern. Frau E. L. hat ihre „bewährte“ Strategie wieder aufgenommen – wie lange diese aufgeht, aufgehen kann, ist fraglich. Der Bericht einer 63-jährigen Frau, E. S., verläuft vielleicht etwas günstiger. Sie kommt am späteren Vormittag vom Einkauf zurück und fi findet ihren vier Jahre älteren Mann leblos am Küchenboden liegend vor. Sie verständigt couragiert den Hausarzt, der in unmittelbarer Nähe ordiniert und sofort zur Stelle ist. Er kann nur mehr den Tod des Mannes feststellen. Die Frau besorgt mit ihren Kindern das Begräbnis, ist, wie die Angehörigen feststellen, dabei sehr aktiv, ihre Trauer hält sich in Grenzen, worüber sich alle wundern. Nach den Zeremonien – Bestattung, Trauergottesdienst – ändert sich ihr Zustandsbild plötzlich total. Sie, die immer aktiv war und den Gatten ständig stimulieren musste, die Badereisen ins Ausland unternahm, nie genug kriegen konnte von Veranstaltungen, an denen sie Initiativen zeigte, denen das abwartende und laue Temperament des Gatten entgegenstand, zieht sich mehr und mehr zurück, wird lethargisch und anspruchslos, einmal versucht sie sogar, sich vor die Räder eines Zuges zu werfen; den Angehörigen ist das Verhalten der Mutter, Schwiegermutter unverständlich. Sie war stets das Gegenteil ihres Mannes, hatte seinen Interessen immer ihren Willen, ihre Pläne, ihre Aktivität entgegengesetzt und gleicht sich nunmehr seinem Wesen, seinem Verhalten mehr und mehr an. In einem Gespräch mit der Tochter erklärt Frau E. S., sie habe vielleicht durch ihre aufbegehrende Art und ihr Durchsetzungsvermögen den Gatten in Stress versetzt und so seinen frühen Tod herbeigeführt. Sie müsse ihre Einstellung und Haltung jetzt verändern, müsse sie ihrem verstorbenen Gatten angleichen, um damit einzubekennen, dass seine Lebensweise richtig und die ihre falsch war, um ihm sozusagen posthum Anerkennung zu zollen und ihm Abbitte zu leisten. Außerdem erhöhe sie mit ihrem Rückzug ihre eigenen Chancen auf ein längeres Leben, da offenbar der von ihr erzeugte Stress dem Gatten das Leben verkürzt habe. Die Tochter ist um die Mutter besorgt und veranlasst einen Besuch beim Psychiater.
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In mehreren Sitzungen ergibt sich folgendes Bild: Schon als Kind war die Patientin fröhlich und unternehmungslustig. Begehrte gegen den starren und eher passiven Vater auf. Veranlasste die Familie (zwei ältere flüge und Kinobesuche, Schwestern und die Mutter) zu Aktivitäten, wie Ausfl bei denen der Vater nicht mitmachte. Er starb plötzlich (vermutlich an einem Herzleiden), als die Patientin 22 Jahre alt war. Ihre Trauer verflog fl schnell, sie heiratete innerhalb eines Jahres ihren Mann, der – wie ihr erst allmählich klar wurde – in Vielem ihrem Vater glich. Und es machte ihr ausgesprochenen Spaß, ihre Unternehmungslust und Reiseattacken nun gegen den Mann, wie früher gegen den Vater, einzusetzen. Anlässlich einer solchen Reise ins benachbarte Ausland lernt sie einen anderen Mann kennen; der ist anders als ihr angetrauter Gatte: energisch, zielstrebig, unternehmend, riskierend. Vor dem Gatten verheimlicht die Patientin ihre Neigung. Es kommt sehr bald zu sehr erfüllenden sexuellen Begegnungen mit dem Freund, mit dem sich Frau E. S. immer wieder gemeinsame Treffpunkte ausmacht, wo sie in Begleitung des Ehemannes eintrifft, wo aber ihre Beziehungen mit dem Freund in ihrer Aktivität und Umtriebigkeit untergehen und – wie sie meinte – unbemerkt bleiben. Einmal schenkte ihr der Freund einen Smaragdring, den sie nur in seiner Gegenwart tragen sollte. Sie war stolz über dieses Zeichen ihrer gegenseitigen Liebe – als sie das erste Mal davon sprach, sagte sie: „Pfand“. Nach einigen Jahren war dieses Pfand plötzlich verschwunden. Hatte sie es so gut verwahrt oder verloren, wurde es ihr entwendet? Sie war über den Verlust traurig. Dem Freund gegenüber gab sie vor, sie habe ihn gut aufgehoben. Er ließ sich nichts anmerken, mochte es sein, dass es ihn schmerzte. Im Laufe der Jahre verliert die Beziehung zu ihm ihre Sensation, sie lebt sich ab, sie treffen einander immer seltener, doch bis in die letzte Zeit immer wieder. Jetzt nach dem Tod des Gatten habe sie allerdings kein Interesse mehr. Sie hat nach dem Begräbnis Dinge, die dem Gatten gehört haben, vernichtet und aufgeräumt und dabei den Ring gefunden, „ihren Ring“; jetzt sei das Chaos in ihr ausgebrochen. Ihr Mann habe offenbar von ihrer Beziehung gewusst, zumindest geahnt. Er habe ihr gegenüber geschwiegen, habe eher durch seine Bemühungen, inaktiv zu bleiben, Vorschub geleistet, ihre Beziehung, ihre Treulosigkeit, ihren Verrat fortzusetzen und zu pflegen. fl Sie habe mehrfach Schuld auf sich geladen. Sie habe ihren Vater hintergangen und auch den Mann, habe sich egoistisch aufgespielt und alle ausgenützt. Jetzt bleibe ihr nichts anderes übrig, als die Haltung des Gatten einzunehmen. So zu werden wie er – tolerant, gefügsam, geduldsam, ordentlich. Sie müsse Ordnung in ihr Leben bringen. Ein erster Schritt in der Therapie besteht darin, die Patientin zu bestätigen. Es ist so – sie habe den Mann betrogen und ihre Position durchgesetzt. Er habe sich offenbar alles gefallen lassen – ob es ihm recht war oder nicht – wissen wir nicht. Auch nicht, wie sehr es ihn wirklich geschmerzt hat. Andererseits habe sie sich doch um ihren Ehemann gekümmert, habe ihn nicht verlassen, habe sein Leben angereichert. Sie wendet ein: „Ich habe ihn umgebracht mit dieser Affäre“. Das wissen wir nicht, das ist ihre Interpretation. Sie müsse unterscheiden lernen, was sich tatsächlich ereig-
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net hat und was sie dazudenkt. Vielleicht habe der Gatte geschwiegen, um seine Stellung nicht zu gefährden. Vielleicht war ihm recht, wie alles gelaufen ist. Sie müsse doch überlegen, was sie jetzt tun könne – wie ihren Elan, ihre Aktivität für andere einsetzen, und nicht sich in Gedanken verzehren, was sie in der Vergangenheit hätte tun sollen. Was geschehen ist, ist geschehen. Was könnte sie jetzt unternehmen, wozu die beiden Verstorbenen, Vater und Gatte, sie beglückwünschen könnten. Die nächste Therapiestunde kommt die Patientin mit dem Vorschlag, im Rahmen einer kirchlichen Organisation aktiv zu werden, Erkundigungen habe sie bereits eingeholt. Es kämen ihr bei ihren Unternehmungen immer wieder „schlechte“ Gedanken; sollte sie nicht doch lieber ihr Leben beenden; sie werden allerdings immer seltener, und sie nehme eine Verantwortung wahr: Verantwortung dem Vater, dem Gatten, auch sich selbst gegenüber. Sie werde mit dem Schuldgefühl weiterleben können, werde es in den Griff bekommen dadurch, dass sie sich neuen Aufgaben stellt und die besser lösen will als bisher. Etwas tun, was mit der Vergangenheit in keinem Zusammenhang steht. Etwas wichtiges Neues. Gerade bei solchen Entwicklungen sollte gefragt werden: Welche alternativen Strategien stehen einem Patienten, einer Patientin zur Verfügung? Ist er, sie in der Lage, aus der gedanklichen und emotionalen Einengung herauszutreten, können Zukunftsaspekte entwickelt, Pläne geschnürt werden, ist es möglich, sich an Vorentwürfen zu freuen. Aggressionen, die gegen sich selbst gerichtet werden, sollten abgewehrt, nicht nur nach außen gelenkt, sondern wahrgenommen und gehemmt werden. Außerdem ist es wichtig, die defätistische Haltung der Familienangehörigen zu beeinfl flussen, die durch eigenbrötlerische Struktur gekennzeichnet ist. Jedem ist das Seine gerade wichtig genug, alles andere darüber Hinausgehende ist unbedeutend.
5 Suizidale Syndrome Ein namhafter Journalist – seit Jahrzehnten erfolgreich im Beruf, seit Kurzem verwitwet und zunehmend vereinsamt – unternimmt Mitte Jänner einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten. Er wird rechtzeitig aufgefunden, ist nicht mehr erweckbar und wird in eine psychiatrische Intensivstation (Entgiftungsstation) eingewiesen. Beim Chef dieser Abteilung laufen daraufhin die Telefone heiß; wie könne man einen so anerkannten, auch international renommierten Fachmann auf der Psychiatrie aufnehmen? (Hätte er in eine Gynäkologie oder in eine HNO-Abteilung eingewiesen werden sollen?) Zahlreiche Bekannte, Freunde, Vorgesetzte versuchen zu intervenieren. Der Chef der psychiatrischen Abteilung zeigt sich kompromissbereit, zumindest in der Weise, dass dem Patienten jede denkbare Hilfestellung vermittelt wird. Eine Bekannte des Patienten werde sich in Hinkunft um ihn kümmern, werde ihn nicht aus den Augen lassen, stets anwesend sein, ihn auf diese Weise betreuen. Die ärztliche Behandlung werde ein frei praktizierender Nervenarzt übernehmen.
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Der Patient wird entlassen, die weitere Versorgung funktioniert zumindest nach außen hin ohne Probleme. Die bekannte Dame opfert sich wirklich beispielhaft für den Patienten auf. In der Karwoche bittet sie den Patienten, dem es dem Eindruck der Betreuerin entsprechend gut geht, dass sie ihn am Karsamstag abends alleine lassen könne, sie möchte die Auferstehungsfeier besuchen. Er sagt ihr lächelnd zu, selbstverständlich könne er ihr diesen Wunsch erfüllen, er möchte sie zwar nicht begleiten, er werde sie nach der Feier gerne erwarten. Nein, er werde nichts unternehmen, sie könne völlig unbesorgt sein. Als die Betreuerin von der Auferstehungszeremonie zu ihm zurückkommt, fi findet sie ihn am Fensterkreuz erhängt vor. Es stellen sich einige Momente an der Krankengeschichte zur Diskussion: 1. Ist die Krise, in der sich der Patient befand, tatsächlich behoben? Sind in der Zwischenzeit (Mitte Jänner bis Ende März) echte Lösungen der Situation erzielt worden? 2. Im ersten Jahr nach einem Suizidversuch liegt die Gefahr einer Wiederholung bei etwa 20%. 3. Es ist unmöglich, einen Menschen zu verpfl flichten, ständig auf einen selbstmordgefährdeten Patienten achtzugeben. Hat sich die Obsorge, die Zuwendung an den Patienten in der Beaufsichtigung erschöpft? 4. Selbstmordimpulse können unter Umständen ohne Ankündigung plötzlich einschießen. 5. War die Dosierung der medikamentösen Therapie ausreichend? 6. Welche psychotherapeutischen Schritte sind unternommen worden, war die Vertrauensbasis zum Therapeuten ausreichend genug? Nicht immer muss die Krankengeschichte eines Patienten auf diese Weise enden: Eine 65-jährige Frau wird von ihren Angehörigen zur stationären Aufnahme gebracht, weil sie – wie zunächst angenommen wurde – eine Nacht nicht zu Hause verbracht hat – wie sich dann herausgestellt hat, habe sie ohne Winterkleidung die Dezembernacht auf einem Liegestuhl sitzend auf der freien Veranda eines Gartenhauses verbracht. Als sie gefunden wurde, habe sie keine Angaben zu ihrem Verhalten machen können, bloß den Kopf geschüttelt, jegliche Hilfe abgewehrt. Die Patientin wird intern behandelt, nach zwei Tagen an eine psychiatrische Abteilung transferiert. Sie wolle nicht mehr weiterleben. Vor Jahren habe sie ähnliche Anwandlungen gehabt, damals sei der Mann fremd gegangen, und sie habe dies „hinten herum“ erfahren; er habe alles abgestritten, offenbar aber dann diese Beziehung abgebrochen. Sie habe diese Frau gekannt, kurzfristig seien sie auch näher miteinander befreundet gewesen, sie habe aber niemals viel von ihr gehalten. Jetzt sei gar nichts vorgefallen. Sie könne sich ihre Lebensunlust nicht erklären. Vielleicht, dass ihre Familie von ihr abgerückt sei. Die Tochter habe vor einem Jahr geheiratet, erwarte jetzt ein Kind, der fl sehr beschäftigt, besuche sie nur gelegentlich, erzähle Sohn sei beruflich ihr wenig von seinen Aufgaben, seinen Interessen, sie wisse nicht einmal,
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ob er noch dieselbe Freundin habe oder schon wieder eine neue. Sie komme sich überflüssig fl vor, könne mit niemandem reden, der Gatte sei völlig okkupiert mit seinem Hobby, sitze ständig im Kaffeehaus und spiele Schach, sommers wie winters, dann komme er nach Hause und sei missgestimmt. Offenbar, weil er wieder nicht gewonnen habe. Über das, was sie jetzt zur Sprache gebracht habe, habe sie mit niemandem sprechen können. Habe alles immer in sich verborgen und geschluckt. Welche Funktion sollte sie noch einnehmen und erfüllen? Es sei alles sinnlos geworden. Es werden einige Denk- und Handlungsrichtlinien mit der Patientin besprochen: Welche Bewältigungsmöglichkeiten hätte sie, um ihre Situation zu ändern? Schlucken und Schweigen sind schlechte Lösungen. Sie könnte ihre Kontaktbasis wieder erweitern; von ihrer Seite die Beziehungen zur Tochter intensivieren, braucht der Sohn eine Hilfestellung? Was könnte sie gemeinsam mit ihrem Gatten unternehmen? Früher sei sie gerne gereist. Kann sie durch gezielte Planung wieder mehr Hoffnung gewinnen? Was kann sie in den Momenten unternehmen, wenn sie wiederum absoluter Pessimismus und Lebensunlust überkommen? Jemanden anrufen, jemanden kontaktieren. Konkret wen? Im Einverständnis mit der Patientin wird auch die Familie eingebunden. Fixe Besuchstermine vereinbaren, gemeinsame Aktivitäten vorsehen. Der Gatte wird mobilisiert, ihm sei dies nur recht. Die Patientin wird ermuntert, Kritik an ihrer Umgebung anzubringen und nicht alles in sich zu versenken. Nach ihrer Entlassung wird die Patientin in dichten Abständen nachbetreut. Zwei Jahre später zeigt sie keine suizidale Einengung mehr. Die sozialen Kontakte haben sich auch durch die Geburt eines Enkels massiv intensiviert. Die Patientin sei weniger böse auf sich, sei zufriedener, mache auch mehr mit. Zusammenfassendes Resumee: Depressive Einengung, Hoffnungslosigkeit und Aggressionsbereitschaft stellen Faktoren dar, die eine Suizidhandlung einleiten und gestalten können. Wichtig ist, Patienten aus ihrer Krisensituation herauszuhelfen, Bewältigungsstrategien anzubieten, die wirklich hilfreich sein können, wichtig ist aber auch, sich davon zu überzeugen, ob die getroffenen Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden. Das soziale Netzwerk muss tragfähig gestaltet werden, eine Vertrauensperson sollte dem Suizidgefährdeten beistehen können.
6 Zum Syndrom der Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit Ein 73-jähriger Bauingenieur, F. W., hat mit 68 Jahren seine Frau verloren; sie starb an einem Unterleibskrebs, er hatte sie jahrelang gepfl flegt, während dieser Zeit seine Freunde, seine Hobbies, insbesondere seine Reisen nach Frankreich und Italien vernachlässigt. Beim Begräbnis der Frau haben einige seiner Altbekannten ihn begleitet, haben versprochen, dass sie sich jetzt wieder mehr um ihn kümmern werden, bis auf einige kurze Besuche habe sich das alte Freundschaftsverhältnis allerdings nicht mehr eingestellt. F. W. musste erleben, dass er seit dem Ableben seiner Frau mehr und mehr auf
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sich allein gestellt blieb. Bei einer Jubiläumsfeier seiner Firma, deren Angestellter er war, lernte er eine 15 Jahre jüngere Frau, gleichfalls verwitwet, kennen; die Dame war sehr engagiert und überschüttete ihn mit Aktivität und Plänen, wollte ihn einbinden in eine Auslandsreise nach England. Doch ihm sagte weder ihr Reiseziel noch ihre Unternehmungslust zu, worauf die ohnehin erst anfängliche Beziehung bald abbrach. Er horchte in sich hinein, wühlte in seiner Power, machte sich Vorwürfe, die kranke Frau nicht entsprechend gepfl flegt und umsorgt zu haben und fand an Orientierungen in der Welt um sich wenig Freude, wenig Interesse. Einige Nachbarn gaben ihm den Rat, in seiner Situation und mit seinen reduzierten Lebensäußerungen doch einen Arzt aufzusuchen, doch er unterließ dies. Er saß lieber allein zu Hause, hatte den Fernsehapparat aufgedreht, wobei er von einem Programm ins andere hinüberwechselte, und hatte – eine frühere Gewohnheit – ein Glas Rotwein vor sich stehen. Über zwei Gläser war er nie hinausgekommen. Den Wein holte er sich in 7/10-Flaschen vom Großmarkt, den er etwa zweimal pro Woche besuchte. Innerhalb einiger Monate änderte er seine Trinkgewohnheiten. Zunächst steigerte er seinen Weinkonsum, gelegentlich kam er auf eine ganze Flasche Rotwein, den er einfach in sich hineinschüttete – Genuss hatte er keinen mehr – er zählte auch die Gläser nicht mehr, er spürte bloß, dass ihm leichter war, dass die Situation des unsäglichen Alleinseins allmählich von ihm abrückte; und er vergrub sich noch mehr in seiner Abgeschiedenheit, die ihm nichts mehr ausmachte; bis er mehr durch Zufall seine Alkoholvorräte in der bisher unbeachteten Hausbar überprüfte und eine Flasche finnischen Wodkas entdeckte. Er begann mit wenigen Gläsern und war innerhalb kurzer Zeit bei einer halben Flasche abends angelangt. Als es einmal am frühen Abend bei ihm an der Tür schellte und er sich nach längerem Läuten schließlich aufmachte zu öffnen, machte er auf seinen Besucher – einen alten Freund, der einmal vorbeischauen wollte – einen geordneten Eindruck, in der Sprechweise spurweise verlangsamt und gelegentlich mit der Zunge an den Zähnen anstoßend, auch in seiner Gedankenwelt nicht mehr so spritzig, die Wohnung selbst wenig aufgeräumt und leicht vernachlässigt. Der Besucher bezweifelte, dass er sich selbst in dieser Umgebung wohlfühlen könnte, übergab mehr oder weniger formlos eine Einladung zu einem Geburtstagsfest früherer Freunde und verabschiedete sich bald wieder. Seinen Freunden erzählte er, dass sich bei ihrem Bauingenieur offenbar ein Alterungsprozess eingestellt habe, dass mit ihm „nicht mehr viel los sei“, man mit ihm wohl nicht mehr rechnen könne. Entgegen allen Erwartungen erschien F. W. bei dem Geburtstagsfest seiner ehemaligen Freunde. Er ging unsicher ins Wohnzimmer, gelegentlich lallte er, fand Worte nicht, zitterte mit beiden Händen, wobei er zu Beginn der Feier sein Sektglas halb verschüttete. Entgegen dem früheren Verhalten von F. W. war kein längeres Gespräch mit ihm möglich. Seine Bekannten stellten erstaunt fest, dass er sich völlig in sich zurückzog, nichts Persönliches von sich angab, gelegentlich von der Krankheit seiner verstorbenen Frau erzählte, sonst unbeteiligt blieb, bloß ein Glas Wein nach dem anderen leerte und schließlich starr vor sich hinstarrte. Als der Höhepunkt der Feier angekündigt wurde, ein bekannter
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Klavierspieler wollte einige Impromptus von Schubert zum Besten geben, stand F. W. plötzlich und scheinbar völlig unmotiviert auf, torkelte aus dem Zimmer, zog sich umständlich seinen Wintermantel über und wollte das Haus verlassen. Auch dem Zureden seiner alten Freunde, doch noch zu bleiben und sich doch diese musikalische Einlage nicht entgehen zu lassen, stand er unmotivierbar gegenüber. Er hätte noch etwas Dringliches und Unaufschiebbares vor sich, dieses „musikalische Allerlei“ sei bedeutungslos für ihn, er müsse jetzt gehen. Eine Begleitung, wenigstens die Stiegen hinunter, lehnte er ab. Er sei in keiner Weise beeinträchtigt. Dabei wiederholte er unentwegt: „Schon gut, schon gut, schon gut.“ Es versuchte ein alter Bekannter, ihn bis zur Haustüre zu begleiten. F. W. hielt sich mühevoll am Stiegengeländer an, torkelte leicht, tat sich schwer, beim Treppenabsatz den Abstand der Stufen zu fi finden. Beim letzten Stiegenansatz konnte er sich nicht mehr aufrecht halten und stürzte, er schlug mit dem Kopf auf der Steinstiege auf, war kurze Zeit bewusstlos. Die Freunde trugen ihn wieder hinauf, legten ihn aufs Sofa und verständigten die Rettung. F. W. wurde in ein Krankenhaus verbracht, dort durchuntersucht, mit Kreislaufmitteln gestützt und am dritten Tag entlassen. Wieder zu Hause setzte er sein Verhalten, was Trinken und soziale Begegnungen anlangt, unverändert fort. Allerdings wurden die früheren Freunde aktiv, engagierten einen Arzt, der F. W. aufsuchte und eine Behandlung beginnen wollte. F. W. war zunächst sehr reserviert; der Arzt beruhigte F. W., er wolle mit ihm nur ein Gespräch beginnen. Man einigte sich auf einen Zeitpunkt am Nachmittag, da hatte F. W. meist noch nicht viel getrunken. In den ersten Gesprächsrunden wurde das Thema Alkohol noch nicht berührt. Nach dem fünften Besuch, in der Zwischenzeit hatte sich ein gewisses Vertrauensverhältnis eingestellt, machte der Arzt den Vorschlag einer neuerlichen stationären Aufnahme mit dem Ziel einer gründlichen Durchuntersuchung und anschließender Entziehungskur. F. W. willigte einem 14-tägigen Spitalsaufenthalt zu. Einer Entziehung stand F. W. vorläufig fi noch reserviert gegenüber, er war erst nach wenigen Tagen im Spital dazu bereit. F. W. erhielt Piracetam, Naltrexon und einen Serotin-Reuptake-Hemmer. Diese Therapie wurde nach der Entlassung aus dem Spital fortgeführt. F. W. suchte zweimal wöchentlich seinen Arzt auf. Er wurde in eine Gruppe eingeladen, die sich auch um soziale Kontakte bemühte, Kinobesuche, Theateraufführungen, gemeinsame Ausfl flüge, Essen in Restaurants, etc. F. W. blühte auf. Die von seinen Freunden beobachteten Abbauzeichen, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisstörungen bildeten sich zurück. Zu Hause flegerin engagiert. Alkohol mied er; er hatte verhatte F. W. eine Raumpfl standen, was er mit dem Alkohol bewirkte, bewirken wollte. Dass es dazu Alternativen gab, wurde ihm immer mehr klar. Der Kontakt zu den Freunden von früher wurde intensiver, wenngleich nicht so, wie er einmal war. Dagegen wurde es F. W. möglich, seine Kenntnisse als Bauingenieur, die nicht gering waren und über die er noch reichlich verfügte, bei seinen Kollegen in der Gruppe, bei den alten Bekannten und auch bei Menschen, die über Bekannte zu ihm empfohlen wurden, einzubringen. Seine Rat-
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schläge wurden immer mehr gesucht. Frauen gegenüber verhielt sich F. W. sehr zurückhaltend. Er war von der „Treue“ zu seiner verstorbenen Frau beseelt. In den Gruppensitzungen ist F. W. mehr aktiv, seinen Arzt sucht er derzeit einmal monatlich auf. Eine 69-jährige Frau wird von ihrem praktischen Arzt an die psychische Ambulanz verwiesen. Sie gibt an, nach dem Tod ihres Gatten vor zehn Jahren wegen Einschlafschwierigkeiten und gestörten Wohlbefi findens mit ängstlichen Anflügen fl Rohypnol verschrieben bekommen zu haben. Mit einer Tablette abends sei sie bislang ausgekommen. Seit einem halben bis dreiviertel Jahr beobachte sie, dass sie wiederum Einschlafprobleme habe, sich außerdem auch tagsüber nicht wohl und abgeschlagen fühle, in der Früh nicht mehr so rasch aufkomme, die meiste Zeit am Vormittag herumzaudere, es freue sie weniger, der Appetit habe nachgelassen, auch die Erhöhung der Rohypnol-Dosis habe nicht viel gebracht. Sie habe auch bemerkt, dass ihre Konzentrationsfähigkeit abnehme, sie brauche länger, sich an Dinge zu erinnern, sie fi fielen ihr dann schon wieder ein, Namen von Bekannten, von Ortschaften, das mache sie unruhig und nicht glücklich. Die organische Durchuntersuchunng ergab einen feinschlägigen Tremor beider Hände, sonst ist die 69-jährige Frau in einem guten körperlichen Zustand. Der psychologische Test ergibt folgenden Befund: Test zur Messung der mittelfristigen Aufmerksamkeitsleistung (ALS-20 min.) – deutlich unterdurchschnittliches Ergebnis sowohl im Quantitativen als auch im Qualitativen; im Test zur Messung der visuellen Merkfähigkeit (BENTON) – Beeinträchtigung dieser Hirnleistungskomponente; Kurztest zur Erfassung von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen – deutliche Beeinträchtigung der Leistungen. Die Diagnose einer Abhängigkeit von Tranquilizern wird mit der Patientin erörtert. Offenbar ist infolge dieser Beeinträchtigung bereits eine depressive Symptomatik aufgetreten. Eine Entziehungskur wäre angeraten. Sie wäre allerdings nur dann sinnvoll, wenn sich die Patientin entschließen könnte, die Einnahme von Tranquilizern nach Abschluss der Kur tatsächlich einzustellen; die Patientin ist damit einverstanden, sie werde sich darum bemühen. Es erfolgt eine stationäre Aufnahme, die Rohypnol-Medikation wird abgesetzt, die Patientin erhält abends 50 mg Refomepromazin, früh 20 mg Citalopram sowie Infusionen mit Pirazetam. Die Kreislaufverhältnisse bleiben auch unter dieser Medikation stabil. Nach 18 Tagen wird die Patientin entlassen, ist beschwerdefrei, die orientierende Gesprächstherapie wird fortgesetzt, die Medikation auf Citalopram allein reduziert. Nach zwei Monaten wird die Patientin an ihren Hausarzt zurückverwiesen. Die Prognose wird als gut eingestuft. Die Patientin verfügt über Kontakte zu Freunden und Bekannten, mit denen sie auch bisher vieles gemeinsam unternommen hat. Das habe ihr auch bisher geholfen. Ihre Ehe sei kinderlos geblieben, damit habe sie sich schon früher abgefunden. Ihr Leben sei nicht konfl fliktfrei abgelaufen, doch sei ihr Dasein gesichert, größere, störende Probleme belasten sie nicht.
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7 Ausblick Die angeführten Beispiele stellen einen Weg der Betreuung dar; er ist kein Heilsweg für alle. Wichtig in der Behandlung eines psychisch beeinträchtigten Menschen ist der persönliche Zugang des Therapeuten, der eine Vertrauensbasis ermöglicht. Und Vertrauenszugang ist oft ein schwieriges und bedrohtes Unterfangen, das sich nicht immer eröffnet. Man muss sich als Therapeut auch persönlich einbringen können und nicht nur eine Technik anwenden. Es geht nicht nur um das Annehmen von Vertrauen, es geht auch um Vertrauen schenken, und dazu brauche ich zunächst genug Selbstvertrauen in meine Fähigkeiten, kritische Einsicht und Akzeptanz des anderen, der mein Vertrauen sucht.
Kommunikation und Interaktion im Rahmen der Altenbetreuung Gerald Gatterer und Antonia Croy
Kommunikation ist die gerichtete Informationsübertragung von einem Sender (der Person, die etwas mitteilen möchte) zu einem Empfänger (die Person, die die Nachricht erhält). Sie erfolgt mit Hilfe eines Kommunikationsmittels (Sprache, Zeichen, Schrift, etc.), welches sowohl eine sachliche, aber auch emotionale Botschaft enthält. Ein Großteil der Kommunikation läuft auf nonverbalen (nicht sprachlichen) Kanälen. Nonverbale Kommunikation beinhaltet senderspezifische fi Faktoren (z. B. Mimik, Blickverhalten, Gestik, Geruch, Körperhaltung) und solche, die durch den Empfänger beim Empfangen und Übersetzen entstehen (z. B. Bewerten, Einschätzen, Beurteilen einer Nachricht aufgrund von Erfahrungen). Man kann Informationen nicht direkt übermitteln, sondern muss sie über Zeichen verschlüsseln. Um die Qualität der Verständigung zu verbessern, ist eine Rückmeldung über das, was verstanden wurde (Feedback), hilfreich. Im Rahmen der Altenbetreuung sind zusätzlich noch verschiedenste Probleme der Kommunikation zu berücksichtigen, die sich aus der Problematik der Betreuten ergeben (Hören, Sehen, Krankheit), aber auch durch die bei der Betreuung beteiligten Professionen und deren Sprache (Arzt, Pfl flege, …) bedingt sind.
1 Einleitung Durch die zunehmende Anzahl an älteren Menschen in unserer Gesellschaft erhöht sich auch der Bedarf an geeigneten Behandlungs- und Pflefl gekonzepten im stationären und ambulanten Bereich. Ein angemessenes Krankheitsmanagement kann nur unter Einbeziehung aller betroffenen Personen – Patienten, Angehörigen, multiprofessionelles Team – erreicht werden. Zur Bewältigung dieser Aufgabe gehört nicht nur die Therapie der Erkrankung(en), sondern auch eine optimale Pfl flege sowie eine individuelle Planung und praktische Vorbereitung für die Zeit „danach“.
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Im Mittelpunkt der gemeinsamen Bemühungen steht die Person des Patienten, seine Erwartungen und Wünsche. Sein Wohlbefinden fi und eine bestmögliche Behandlung und Betreuung müssen das gemeinsame Ziel sein. Um dieses Ziel zu erreichen, sind viele Gespräche zwischen Patient, Angehörigen und multiprofessionellem Team notwendig. Der vorliegende Beitrag soll die Bedeutung einer und die Bedingungen für eine gute Kommunikation sowohl theoretisch als auch anhand praktischer Beispiele erläutern.
2 Allgemeine Aspekte der Kommunikation Defi finition Kommunikation ist die gerichtete Informationsübertragung von einem Sender (der Person, die etwas mitteilen möchte) zu einem Empfänger (die Person, die die Nachricht erhält). Sie ist eine allgemeine und umfassende Bezeichnung für den Prozess, wo ein Sender einem Empfänger mit Hilfe eines Kommunikationsmittels (Sprache, Zeichen, Schrift, etc.) eine bestimmte Nachricht überträgt, auf die eine Erlebens- und Verhaltensänderung eintritt. Wir unterscheiden Senden (Sprechen, Zeichen geben, …) und Empfangen (Zuhören, Hinsehen, …) sowie verbale und nonverbale Kommunikation. Etwa 85% der Kommunikation laufen auf nonverbalen (nicht sprachlichen) Kanälen. Nonverbale Kommunikation unterscheidet nach senderspezifischen fi Faktoren, die für den Empfänger wahrnehmbare Signale produzieren (z. B.: Mimik, Blickverhalten, Gestik, Geruch, Körperhaltung), und solchen, die durch den Empfänger beim Decodieren (Bewerten, Einschätzen, etc. einer Nachricht aufgrund von Erfahrungen) und Reagieren auf nonverbale Botschaften entstehen. Jede Nachricht benötigt auch ein bestimmtes Medium (Sprache, Zeichen, …), durch die eine Übertragung von einer Person zu einer anderen erfolgen kann. Man kann also Informationen nicht direkt übermitteln, sondern muss sie über Zeichen verschlüsseln. Normalerweise passen diese Zeichen zusammen, sodass eine Verständigung zwischen mehreren Personen möglich ist. Um die Qualität der Verständigung zu verbessern, ist eine Rückmeldung über das, was verstanden wurde (Feedback), hilfreich.
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Funktionen der Kommunikation Jedes Gespräch hat mehrere Funktionen, die teilweise auch gleichzeitig ablaufen können. Man unterscheidet zwischen Q diagnostischer/informationseinholender Funktion: Hierbei geht es primär um das Sammeln von Informationen und Wissen. Wesentlich für diese Funktion sind gezielte Fragen und die möglichst unvoreingenommene Aufnahme der erhaltenen Information. Fehler ergeben sich hierbei z. B. durch Vorurteile, Erwartungen und Einstellungen, durch die die Information subjektiv gefärbt wird; Q motivationaler Funktion: Hier steht die Aufrechterhaltung der Kommunikation im Vordergrund. Wesentlich ist hierbei Zuhören und emotionale Anteilnahme. Hier spielen auch Faktoren wie Empathie, Echtheit und das Geben von Rückmeldungen über das Verstandene eine wesentliche Rolle; Q therapeutischer Funktion: Dabei steht die Verhaltensänderung beim Gesprächspartner im Vordergrund. Wesentlich hierbei sind gezielte Fragen, Argumente und Vertrauen.
Die Anatomie einer Nachricht Oft ergibt es sich, dass bei der Übertragung von einer Person zu einer anderen Fehler auftreten. Man versteht etwas „anders“, als es der Sender gemeint hat. Eine Ursache liegt hierbei darin, dass eine Nachricht vier Aspekte beinhaltet: 1. den Sachinhalt (worüber man informiert): Hier steht die Übermittlung der sachlichen Information im Vordergrund. So werden dem Leser dieses Buches zahlreiche Sachinformationen vermittelt; 2. die Selbstoffenbarung (was man von sich selbst preisgibt): Bei jeder Nachricht gibt auch der Sender immer etwas über sich selbst preis. So etwa, ob er deutsch spricht, welche Meinung er vertritt und vieles mehr. Auch der Leser dieses Buches erhält zahlreiche Informationen über die Autoren und deren Persönlichkeit; 3. den Beziehungsaspekt (was man vom anderen hält oder wie man zu ihm steht): Durch jede Nachricht wird auch zum Ausdruck gebracht, wie der Sender zum Empfänger steht. Dies zeigt sich oft im Tonfall, in der gewählten Formulierung und in anderen, nicht sprachlichen Informationen. Dieser Aspekt einer Nachricht wird vom Empfänger sehr sensibel wahrgenommen, da er zeigt, wie „man vom anderen behandelt wird“. So spiegelt sich auch in diesem Buch die Beziehung der einzelnen Autoren zu ihren Lesern wider. Jeder von Ihnen wird sich in den einzelnen Kapiteln mehr oder weniger persönlich angesprochen fühlen. Vielleicht fühlt sich auch jemand „angegriffen“, obwohl dies sicher vom Autor nicht so gemeint war;
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4. den Appell (wozu möchte man den anderen veranlassen; was er tun soll): Jede Nachricht hat in gewissem Ausmaß auch eine Appellfunktion. Man möchte auf den Empfänger Einfl fluss nehmen, ihn dazu bewegen, etwas zu tun oder zu unterlassen, zu denken oder zu fühlen. Diese Einflussfl nahme kann direkt oder indirekt, offen oder verdeckt erfolgen. Auch dieses Buch enthält viele Appelle, die der Leser aufgreifen kann oder auch nicht. An jeder Nachricht sind stets alle vier Aspekte beteiligt. Diese können zusammenpassen und sich gegenseitig stützten, aber sich auch gegenseitig hemmen. So kann es etwa sein, dass ein „Sachbuch“ als langweilig wahrgenommen wird, obwohl es viele wichtige Informationen enthält. Trotzdem werden diese nicht aufgenommen (Beziehung) und verwertet (Appell). Insofern ist es in der Kommunikation sehr wichtig, diese Aspekte und deren gegenseitige Wechselwirkung zu beachten und damit auch konstruktiv umzugehen. Nachrichten werden sowohl auf diesen vier Ebenen gesendet als auch subjektiv auf diesen empfangen. Insofern kann es also geschehen, dass eine sachliche Mitteilung emotional auf der Beziehungsebene empfangen wird und Konfl flikte auslöst.
Die Nachricht als Träger von Botschaften Normalerweise geht man davon aus, dass eine Nachricht eine direkte Übermittlung von Information ermöglicht. Andererseits haben Nachrichten, wie aus obigem Abschnitt ersichtlich, viele Aspekte. Insofern sollen diese „Botschaften“ noch näher betrachtet werden, da sie gerade bei der Kommunikation in einem multiprofessionellen Team und mit dem Betreuten oder dessen Angehörigen eine wesentliche Rolle spielen. Botschaften können in einer Nachricht „explizit“ oder „implizit“ enthalten sein. Explizite Botschaften sind ausdrücklich formuliert, konkret und deutlich. Sie treffen direkt den Gegenstand der Mitteilung. Implizite Botschaften sind oft nicht direkt wahrnehmbar. Oft werden sie „indirekt“ mitgesendet. So kann etwa die verbale Botschaft „Ich bin Dr. X“ dem Patienten die Rolle „Arzt“ vermitteln. Andererseits ist auch aus der Kleidung, dem Auftreten u. dgl. oft der „Arzt“ erkennbar. Bei impliziten Botschaften spielen nonverbale Elemente eine wesentliche Rolle. Dies beinhaltet die Stimme, die Betonung und Aussprache, die Mimik und Gestik, aber auch das Verhalten. Durch nonverbale Aspekte werden die sprachlichen Bereiche der Kommunikation betont, verstärkt unterstützt, aber manchmal auch gestört. Insofern erfolgt durch nonverbale Elemente der sprachlichen Kommunikation Q eine Verdeutlichung von sprachlich schwer Ausdrückbarem, z. B. von Gefühlen, Einstellungen, Meinungen, …, Q die emotionale Steuerung einer sozialen Situation, Q eine Selbstdarstellung des Senders, Q die Kommunikation von Einstellungen,
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Q die Rollenübergabe, z. B. Übergabe des Rederechtes vom Sender zum Empfänger, Q die Vermittlung von Zuhören oder Ignorieren, fi Q der Ausdruck der eigenen Stimmung und Befindlichkeit, Q die Vermittlung und der Ausdruck der Beziehung zwischen den Gesprächspartnern, Q die Verteilung der Rollen. Oft erfolgt eine nonverbale Kommunikation auch mit dem Körper. Dies beinhaltet: Q den Körperkontakt: Verschiedene Kulturen unterscheiden sich deutlich im Ausmaß ihres Körperkontaktes. Das ist z. B. auch sichtbar im Verhältnis Vorgesetzter – Mitarbeiter; Q die Körperhaltung: Sie gibt Hinweise darauf, wie zwei Personen zueinander stehen, wer die höhere und wer die untergeordnete Position hat; Q Mimik und Gestik: Die Blickrichtung kann Dominanz signalisieren, nicht vorhandener Blickkontakt zeigt Unsicherheit, Schuldbewusstsein, Unterordnung; Q Kommunikation durch Objekte (Berufskleidung, Auto, …); Q Kommunikation durch räumliche Distanz (wer hat ein eigenes Zimmer, die Erreichbarkeit, …). Nonverbale Botschaften werden immer mitgesendet. Deshalb soll hier eine Aussage von Paul Watzlawick (1969) in Erinnerung gerufen werden: „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Auch wenn man nichts sagt, teilt man dem Gesprächspartner etwas mit. Ob man will oder nicht. So kann „Schweigen“ als „Ich will meine Ruhe haben“, „Ignoranz“ oder „Müdigkeit“ wahrgenommen werden. Mit nonverbalen Botschaften werden insofern Interaktionen gesteuert, Emotionen und Einstellungen ausgetauscht und dadurch die Kommunikation verbessert oder gestört. Durch das Bewusstmachen nonverbaler Signale können die Kommunikationspartner sensibilisiert werden, und durch das Beobachten eigener Signale sollen falsche rhetorische Signale vermieden werden. Beim gleichzeitigen Senden von verbalen und nonverbalen Nachrichten können diese übereinstimmen (kongruent sein) oder nicht übereinstimmen (inkongruent sein). Inkongruente Nachrichten führen zu Unsicherheit, Unbehagen und sollten durch Nachfragen überprüft werden. Inkongruenz kann durch folgende Faktoren entstehen: Q durch den Kontext: Wird eine Aussage in einem nicht passenden Zusammenhang verwendet, so führt dies zu Unsicherheit. Dies wäre etwa der Fall, wenn eine Pflegeperson fl bei einem schwer kranken Patienten betont, dass morgen schon alles besser sei; Q durch die Art der Formulierung: So kann die Aussage eines Patienten mit Kopfschmerzen „Ich bin schon fast tot“ zu Unverständnis beim Empfänger Arzt führen;
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Q durch Körperbewegungen (Mimik, Gestik): Die positive Beziehungsaussage einer Kommunikation (z. B. „Ich werde Ihnen helfen“) kann durch eine ablehnende Körperhaltung (z. B. die Aussage erfolgte im Weggehen) relativiert werden; Q durch den Tonfall: Stimmt die verbale Aussage nicht mit dem Tonfall überein, so ergibt sich Unsicherheit. Oft wird in diesem Fall der negative Aspekt stärker wahrgenommen als der positive. Nicht kongruente Botschaften führen beim Empfänger zu Unsicherheit und Verwirrung. Soll er der verbalen Mitteilung Glauben schenken oder den nonverbalen Elementen der Nachricht? Solche Verwirrungen sind oft unter dem Namen „Doppelbindungen“ in der Literatur zu finden. Inkongruenzen können entstehen, wenn sich der Sender dieser Problematik seiner Person nicht bewusst ist oder aber diese gezielt auslösen will, um den anderen zu irritieren. Auch bei unangenehmen Fragen treten diese leicht auf, z. B. die Frage eines alten Menschen, ob er bald sterben müsse. Die Rolle des Empfängers Bisher haben wir die vier Seiten einer Nachricht überwiegend aus dem Blickwinkel des Senders betrachtet. Dabei ist deutlich geworden, dass der Sender eigentlich alle vier Aspekte im Griff haben müsste, da sie alle im Kommunikationsprozess mitschwingen. Kennt und kontrolliert der Sender nur einige oder nur einen dieser Aspekte, führt dies zu Kommunikationsstörungen. Sendet er z. B. inhaltlich verständlich, aber teilt er auch mit, dass er vom anderen nichts hält, so führt dies ebenfalls zu Störungen. Schauen wir uns nun die vier Seiten einer Nachricht aus der Sicht des Empfängers an: Er versucht, den Sachinhalt der Nachricht über seinen Verstand zu erfassen: Q Was heißt das genau? Die Selbstdarstellung des Senders analysiert er mit: Q Was ist das für eine(r)? Auf der Beziehungsseite fragt er sich: Q Wie behandelt diese Person mich? Wie weit bin ich selbst betroffen? Bei der Appellseite versucht er zu ergründen, wo der Empfänger ihn haben will: Q Was will diese Person von mir? Auch der Empfänger muss also die vier Aspekte der Kommunikation im Auge haben, um sie bei der Reaktion entsprechend berücksichtigen zu können. Schon bei oberfl flächlicher Betrachtung wird klar: Was die Kommunikation so schwierig macht, ist vor allem, dass der Empfänger auswählen kann, auf welchen Aspekt er reagiert. Dies kann dann zu Störungen führen. Diese grundsätzliche freie Auswahl führt dann zu Störungen, wenn der Empfän-
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ger auf einen Aspekt reagiert, den der Sender gar nicht betonen wollte. fl ist es, wenn der Empfänger andauernd dieselbe Besonders konfliktträchtig Auswahl vornimmt, z. B. immer auf den Beziehungsaspekt reagiert. Rückmeldungen, Nachfragen oder Feedback geben die Einstiegsmöglichkeiten für die Klärung dessen, was der Sender meint oder um Bereitschaft für aktives Zuhören zu fördern. Anbei finden Sie einige Möglichkeiten für konstruktive Fragen: Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Habe ich Sie richtig verstanden? Sie meinen … Lassen Sie sehen, ob ich Ihnen folgen kann; Sie … Ich habe den Eindruck … Trifft es zu, dass … Ist es möglich, dass … Gehe ich recht in der Annahme, dass … Ich frage mich, ob … Sagen Sie mir, wenn ich mich irre, aber … Könnte es sein (vorkommen), dass … Ich glaube, Sie richtig verstanden zu haben … Von meinem Standpunkt aus … Es hört sich an, als ob Sie … (dieses oder jenes Gefühl haben) Irgendwie habe ich das Gefühl, dass … Gefällt Ihnen die Idee …
Falls ein Gespräch stagniert, können Einstiegs-Aufmunterungen vonseiten des Empfängers weiterhelfen: Q Q Q Q Q Q Q
„Hilfe signalisieren“ Kann ich Ihnen hier helfen? Möchten Sie darüber sprechen? Wie ist das eigentlich mit diesem Problem? Ich würde gerne Ihre Meinung wissen! Würde es Ihnen helfen, wenn wir darüber reden? Ich hätte Zeit, mit Ihnen einmal dem Problem nachzugehen!
Jedes Gespräch hat eine diagnostische (Informationsübertragung), motivationale (interaktionsfördernde) und therapeutische (verändernde) Funktion. Weiters beinhaltet jede Nachricht einen Sachinhalt, einen Selbstdarstellungsaspekt, einen Beziehungsaspekt und eine Appellfunktion. Je nach Persönlichkeit des Senders oder Empfängers sind dadurch Missverständnisse möglich. Dabei spielen sachliche, emotionale, aber auch Umgebungsfaktoren eine wesentliche Rolle.
Aktives Zuhören – die personenorientierte Gesprächsführung Im folgenden Abschnitt sollen exemplarisch einige Faktoren für ein gutes Gespräch dargestellt werden. Grundlage für ein gutes Gespräch vonseiten des Empfängers ist aktives Zuhören.
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Q Aktives Zuhören hat zum Ziel, dass der Gesprächspartner sich öffnet. Q Aktives Zuhören verbessert die Kommunikation zwischen den Gesprächspartnern. Die grundlegende Fertigkeit bei einem Beratungsgespräch besteht aus „Zuhören können“. Was ist das genau? Was beinhaltet es? Der Begriff Aufmerksamkeitsverhalten soll das Zuhören konkreter machen. Das Aufmerksamkeitsverhalten besteht aus vier Hauptkomponenten: 1. Blickkontakt Wenn Sie mit jemandem reden, schauen Sie ihn an. Das heißt nicht, dass Sie ihn anstarren. Ihr Gesprächspartner bekommt damit Zuwendung und Interesse signalisiert. Später werden Sie feststellen, dass Unterbrechungen des Blickkontaktes zeigen, was mit Ihrem Gesprächspartner los ist. 2. Aufmerksame Körpersprache Ca. 85% der Kommunikation laufen auf nonverbalen Kanälen. Denken Sie einmal darüber nach, wie Sie signalisiert bekommen, dass Ihnen zugehört wird. Die Grundhaltung für aufmerksames Zuhören ist eine entspannte, leichte Vorwärtsneigung des Oberkörpers. Achten Sie auch auf Zeichen von Anspannung (Stirnrunzeln, geballte Fäuste, deutliche Veränderung der Körperhaltung) bei sich selbst und dem Gesprächspartner. Sitzen Sie nicht verkrampft oder professionell. Ihr Körper sollte Aufmerksamkeit und Anteilnahme ausdrücken. 3. Aufforderung zum Sprechen Signalisiert ein Patient Gesprächsbereitschaft, so ist es günstig, herauszufinden, in welcher Situation er gerade ist, was ihn beschäftigt … . fi Das Gespräch kann mit einer offenen Frage beginnen. Hier unterscheiden wir offene und geschlossene Fragen. Beispiel offene Frage: Wie empfi finden Sie es im Krankenhaus? Beispiel geschlossene Frage: Gefällt es Ihnen im Krankenhaus? Durch offene Fragen kann der Gesprächspartner selbst den Verlauf des Gespräches steuern. Es wird ihm ermöglicht, sich dadurch selbst zu erforschen. Fragen sollten darauf abzielen, dem Gegenüber Klarheit über seine Probleme zu verschaffen, und nicht nur, um dem Berater Informationen zu vermitteln. Sie können den Gesprächsanfang erleichtern: Q Worüber möchten Sie heute sprechen? Q Wie ist es Ihnen seit unserem letzten Gespräch ergangen? Q Was bedeutet Ihnen das? Sie können es dem Gesprächspartner ermöglichen, mehr über Einzelheiten nachzudenken:
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Q „Können Sie mir mehr darüber erzählen?“ Sie können die Aufmerksamkeit Ihres Gesprächspartners auf seine Gefühle lenken: Q „Wie geht es Ihnen in der Situation?“ Sie können besser verstehen, was der Patient sagen möchte: Q „Was bedeutet das, dass Sie sich so deprimiert fühlen?“ 4. Gezielte Fragen Q Q Q Q
Zeigen Sie sich als interessierter Gesprächspartner. Bringen Sie Ihren Gesprächspartner zum Nachdenken. Vermeiden Sie Vermutungen. Minimale Ermutigung, Umschreibungen, Rückmeldungen: Darunter versteht man Signale, die dem Gegenüber vermitteln sollen, dass ihm zugehört wird. Verbale Ermutigung sind Äußerungen, die zeigen, dass Sie auf Ihren Gesprächspartner eingestellt sind (Aha, so – und dann?). Q Auch Schweigen kann eine sehr wirkungsvolle Ermutigung sein. Q Wiederholung von ein oder zwei Schlüsselworten. Q Einfache Wiederholung der Worte, die zuletzt gesagt wurden. Bei der Wiederholung einiger Wörter aus den Aussagen des Gegenübers werden die angeführten Gedanken weitergeführt. 5. Umschreibungen Auch Umschreibungen sind wichtige Schlüssel zu den Gefühlen des Gesprächspartners. Gutes Umschreiben bedeutet, dass Sie etwas von Ihrem eigenen Verständnis mit einbringen. Umschreibungen erfüllen folgende Funktionen: Q Sie vermitteln dem Gegenüber das Gefühl, dass der Gesprächspartner ihm zuhört und dass er versucht, zu verstehen. Q Sie komprimieren und präzisieren Aussagen des Gegenübers. Q Sie ermöglichen es dem Berater, sein Verständnis der Aussagen zu überprüfen. „Aktives Zuhören“ und Nachfragen bei Unklarheiten vermindern die Wahrscheinlichkeit von Fehlern. Ebenso müssen Probleme, die sich durch das Altern ergeben, in der Kommunikation mitberücksichtigt werden.
Die unterschiedlichen Rollen aus der Sicht der Transaktionsanalyse In jedem Gespräch ergeben sich Rollen, durch die die Kommunikation geprägt wird. Im Rahmen der Transaktionsanalyse unterscheidet man folgende Ebenen:
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Q Von der Kind-Ich-Ebene aus kommuniziert der/die Gesprächspartner, -in wenn er/sie das Gegenüber hierarchisch über sich stehend einstuft. Q Von der Eltern-Ich-Ebene aus kommuniziert der/die Gesprächspartner, -in wenn er/sie das Gegenüber hierarchisch unter sich stehend einstuft. Q Von der Erwachsenen-Ich-Ebene aus kommuniziert der/die Gesprächspartner, -in wenn er/sie das Gegenüber hierarchisch gleichwertig einstuft. Eine Berücksichtigung dieser Faktoren hat wesentliche Auswirkungen auf die Kommunikation im Team und mit den Betreuten bzw. deren Angehörigen. Dabei kann es gerade im Umgang mit kranken und pfl flegebedürftigen Menschen leicht passieren, dass diese von der Eltern-Ich-Ebene aus betrachtet werden. Patienten werden dabei häufi fig in „gute“ und „schlechte“ Patienten eingeteilt. Bei den „guten Patienten“ (süße/r Oma/Opa, bescheiden, freundlich, geringe Ansprüche, kooperativ, usw.) tritt dann das dominierend-fürsorgliche Eltern-Ich und bei den „schlechten Patienten, -innen“ (kritisch, anspruchsvoll, dement, unkooperativ, usw.) das dominierend-strafende Eltern-Ich in den Vordergrund. In der schriftlichen Dokumentation spiegelt sich die Eltern-Ich-Ebene ebenfalls wider, z. B. durch Aussagen und Interpretationen wie etwa: „Der Patient war frech und hat sich trotz mehrfacher Aufforderung nicht gewaschen“ oder „Die Patientin ist sehr nett und macht brav mit“. Auch im Rahmen der Interaktion im Team bzw. mit Angehörigen spiegeln sich diese Rollen wider. Gegenüber hierarchisch höher eingestuften Personen (Stationsleitungen, kompetenter eingestuften Kollegen, -innen, Ärzten, usw.) dominiert der Kind-Ich-Anteil, und bei hierarchisch tiefer eingestuften Kollegen, -innen (weniger kompetent eingestuften Kollegen, -innen, Schülern, Berufsanfängern, Hilfskräften, usw.) dominiert wieder der Eltern-Ich-Anteil. Aus diesen Rollen ergeben sich auch unterschiedliche positive und negative Interaktionsmuster, die exemplarisch folgendermaßen dargestellt werden können. Kind-Ich Der Kind-Ich-Zustand entsteht aus dem psychosozialen Kontakt und gestaltet sich nach der emotionale Einstellung, bei der das Gegenüber generell als machtvoller gesehen wird. Typische Kind-Ich-Ausdrucksweisen bei positiver emotionaler Einstellung zum Gegenüber sind: lieb, einschmeichelnd, freudig erwartungsvoll, fi naiv (eventuell vorspielend), usw. neckend, lobheischend, unterwürfig, Typische Kind-Ich-Ausdrucksweisen bei negativer emotionaler Einstellung zum Gegenüber sind: trotzig, abweisend, wütend, ignorierend, angreifend, verletzend, ängstlich, problemorientiert, usw. Eltern-Ich Beim Eltern-Ich-Zustand wird das Gegenüber als liebes, braves oder böses, unartiges Kind und generell als unterlegen gesehen.
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Typische Eltern-Ich-Ausdrucksweisen bei positiver emotionaler Einstellung zum Gegenüber sind: freundlich dominierend, gütig, lobend, fürsorglich, behütend, belehrend, usw. Typische Eltern-Ich-Ausdrucksweisen bei negativer emotionaler Einstellung zum Gegenüber sind: streng dominierend, ärgerlich, zurechtweisend, schimpfend, diktierend, demütigend, reglementierend, problemorientiert, usw. Erwachsenen-Ich Der Erwachsenen-Ich-Zustand generiert sich aus allen Fähigkeiten, die einem Erwachsenen zur Verfügung stehen, um auf Geschehnisse zu reagieren, bei denen das Gegenüber generell als gleichwertig gesehen wird. Typische Erwachsenen-Ich-Ausdrucksweisen zum Gegenüber sind: emphatisch, kongruent (übereinstimmend), informierend, nachfragend, reflekfl tierend, lösungsorientiert, usw. Ziel der Kommunikation im multiprofessionellen Team ist die gegenseitige Akzeptanz und Wahrnehmung als erwachsener und gleichberechtigter Partner. Das ist jedoch bei manchen Störungsbildern, z. B. Alzheimer, oft nur schwer möglich und sollte deshalb reflektiert fl werden.
Die systemische Sicht der Kommunikation (Was kann man wann sagen?) Einen weiteren wesentlichen Aspekt stellen auch die sozialen Beziehungen zwischen den miteinander kommunizierenden Personen dar. So ist etwa eine Berührung an verschiedenen Körperbereichen (etwa im Rahmen von Pfl flegehandlungen) eine nonverbale Kommunikation, und es sollte deshalb von der Pflegeperson fl bedacht werden, welche Position im sozialen System des Betreuten sie einnimmt. Zum besseren Verständnis sei ein so genanntes soziales Netz dargestellt (Abb. 1). Im Zentrum befi findet sich hier die Person selbst mit ihrem „Ich“. Hier sind alle Geheimnisse, Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle, etc. gespeichert. Das ist der engste soziale Kreis, in den nur wenige Personen hineingelassen werden, wie z. B. in guten Beziehungen der Partner, die Kinder oder auch der Therapeut. Distanzmäßig sind dies etwa die letzten 30 cm Abstand vom eigenen Körper. Pflegehandlungen fl und medizinische Untersuchungen dringen oft in diesen Bereich unrefl flektiert ein. Der zweite soziale Kreis beinhaltet die engste Familie, aber nur, wenn sie auch emotional dort steht. So ist ein Partner nicht unbedingt diesem Kreis zugehörig und darf entsprechende intime Dinge tun oder sagen. In der Kommunikation finden hier therapeutische oder auch beratende Gespräche statt. Räumlich beginnt dieser Kreis etwa bei 70 cm Abstand. In den nächsten beiden Kreisen befinden fi sich Freunde und gute Bekannte. Hier ist die Hauptkommunikation auf den Austausch von Informa-
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Abb. 1
tionen, aber auch Beratung und Hilfe ausgerichtet. Intimere Inhalte treten, je weiter eine Person außen steht, in den Hintergrund, Sachliches tritt in den Vordergrund. Entfernungsmäßig entspricht dieser Bereich der guten Kommunikationsdistanz von 70 cm bis 1,5 m. Im äußersten sozialen Kreis findet fi der Rest des Lebens statt. Hier befi finden sich Personen, die für das „Ich“ nur geringe emotionale Bedeutung haben. Insofern werden auch eher sachliche Informationen oder „Small Talk“ (Wetter, Alltag, etc.) ausgetauscht. Körperlich sind dies Distanzen über 1,5 Metern. Im Rahmen des Aufbaues einer therapeutischen Beziehung startet man aber beim Gesprächspartner genau in diesem äußersten Kreis und arbeitet sich langsam nach innen. Durch aufmerksames Zuhören kann man erkennen, ob man in den nächsten Kreis vorgelassen wird. Zu rasches Eindringen führt leicht zu Konfl flikten und Abwehr. Dies gilt für Fragen, aber noch mehr für körperliche Berührungen. Die Beachtung systemischer Faktoren ist gerade für die Kommunikation in größeren Teams wichtig, da hier von unterschiedlichen Personen die gleichen Handlungen und Aussagen getätigt werden. Auch in Organisationen tendiert man leicht dazu, in intime Bereiche einzudringen, ohne durch eine gute Kommunikation die entsprechenden Voraussetzungen getroffen zu haben.
3 Praktisches Beispiel Missglückte Kommunikation: Frau B., 85 Jahre, seit 14 Tagen auf der Station X in einem Pfl flegeheim, sagt zu Sr. B. bei ihrem letzten Besuch während des Tagdienstes: „Schwester, Sie haben mir heute meine Tabletten noch nicht gegeben!“
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Gereizt antwortet Schwester B: „Sind Sie oder bin ich hier die Schwester? Das haben Sie wahrscheinlich vergessen!“ und verlässt türknallend das Zimmer. Wie kann dieses Verhalten anhand obiger Informationen über Kommunikation verstanden werden? Frau B. kann in ihrer Nachricht folgende Aspekte vermittelt haben: Q Ich habe meine Tabletten heute noch nicht bekommen (Sachinhalt). Q Ich weiß nicht, ob ich meine Tabletten schon erhalten habe (Selbstoffenbarung). Q Bitte geben Sie mir meine Tabletten (Appell). Q Sie als Schwester sind dafür verantwortlich, dass ich gut betreut werde (Beziehung). Weiters nimmt Schwester B. die Patientin in der Rolle als „Kind“ wahr und reagiert mit der „Eltern-Ich-Reaktion“ für ein schlechtes Verhalten. Systemisch gesehen ist Frau B. eventuell mit ihrer Aussage in einen tabuisierten Bereich von Sr. B. eingedrungen, nämlich als verantwortliche Person einen Fehler gemacht zu haben. Im Rahmen einer guten Kommunikation hätte Sr. B. etwa folgende Möglichkeiten zum Antworten gehabt: „Wann haben Sie denn die letzten bekommen?“ – „Welche fehlen Ihnen denn noch?“ Mit diesen Aussagen zeigt sie Verständnis für die Patientin und bittet um mehr Informationen. Das Problem kann damit leichter geklärt werden. Diese Aspekte können auch noch an einem anderen Beispiel dargestellt werden: Ein Arzt sagt zu einer Stationsschwester: „Auf Ihrer Station gab es in den letzten Monaten viele Todesfälle!“ Die Stationsschwester reagiert: „Wenn Ihnen meine Pfl flege nicht passt, kann ich ja gehen“. 1. Sachinhalt In jeder Nachricht geht es um die Darstellung von Sachverhalten, die Nachricht enthält also Sachinformation. Der Arzt hat also eine sachliche Feststellung gemacht, möchte vielleicht noch mehr Information haben. 2. Selbstdarstellung Fast jede Nachricht enthält auch Information über den Sender, er offenbart etwas über sich selbst, etwa seine Einstellung zu Tod und Sterben als etwas, das Angst macht. 3. Beziehung Meist lässt sich auch ableiten, was der Sender vom Empfänger hält, wie er zu ihm steht. Eigentlich gehört dies auch noch zur Selbstdarstellung, doch ist es sinnvoll, den Beziehungsaspekt davon zu trennen, weil die psycho-
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logische Situation des Empfängers anders ist. Bei der Wahrnehmung der Selbstdarstellung ist er selber unbeteiligt, bei der Wahrnehmung der Beziehungsseite kann er ganz empfi findlich betroffen sein. So wäre hier vielleicht eine generell gespannte Situation zwischen Arzt und Pflegepersonen fl abzuleiten, wo jeder den anderen für Mängel verantwortlich macht. 4. Appell Fast alle Menschen wollen auch irgendwie den Empfänger beeinflussen. fl Wo will der Empfänger mich haben? In unserem Beispiel könnte der Appell lauten: „Können wir darüber reden. Ich möchte das gerne mit Ihnen besprechen.“ Systemisch handelt es sich auch hier um ein Tabuthema und löst insofern leicht eine emotionale Abwehrreaktion aus. Eine Verbesserung der Kommunikation wäre bereits vonseiten des Arztes durch mehr Informationen über den „Sinn“ seiner Aussage günstig gewesen. So könnte etwa durch die Zusatzinformation „Das ist sicher eine große Belastung für das Team!“ die Situation emotional entspannt werden. Die Pflegeperson fl könnte durch gezieltes Nachfragen ebenfalls zu einer Verbesserung der Kommunikation beitragen.
4 Probleme der Kommunikation im multiprofessionellen Team Der ältere Mensch Bei älteren Menschen ergeben sich Probleme in der Kommunikation durch folgende Faktoren (exemplarisch): Q Sensorische Defizite: fi Durch Probleme beim Hören und Sehen ergeben sich andere Wahrnehmungsmuster, die zu Fehlinterpretationen (Paranoia durch Fehlwahrnehmungen) führen können. fi Ältere Menschen stammen aus einer anderen Generation mit Q Biografie: anderen Rollenbildern, Erwartungen, Einstellungen, etc. Insofern können Aussagen von jüngeren Menschen fehlinterpretiert werden. Q Subjektive Sicht: Eigene Erfahrungen, Einstellungen, Erwartungen, flikte, unbewältigte Krisen, etc. führen zu Problemen bei Vorurteile, Konfl einer sachlichen Kommunikation durch eine subjektive Sichtweise. Q Persönlichkeitsvariablen (z. B. Rollenbilder) können die Kommunikation im Rahmen einer Behandlung stören. So kann etwa ein älterer Mann die Anweisungen einer jungen Therapeutin nur schwer akzeptieren, da sie seinem Rollenbild widerspricht. Q Die Krankheit selbst: Verschiedene Krankheiten (Alzheimer, Depression, …) vermindern die kommunikativen Fertigkeiten. Q Kontextuelle Variablen: Probleme können sich auch durch die Umwelt oder situative Begebenheiten (kein Raum zum Reden) ergeben.
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Q Andere Variablen wie Bildung und Herkunftsfamilie sollten hinsichtlich ihrer Auswirkungen für ein Gespräch analysiert werden.
Das Team Ein Team ist durch das Zusammentreffen und Zusammenarbeiten von Personen unterschiedlichen Geschlechtes, unterschiedlicher Professionen, Einstellungen, Erwartungen, Ausbildungen, etc. charakterisiert. Insofern ergeben sich Probleme in der Kommunikation durch: Q Die Verteilung der Rollen: Die Frage „Wer hat welche Kompetenz?“ steht oft im Zentrum der Diskussionen von Teams. Dies beinhaltet auch die Vorgabe von Zielen, Erwartungen, Prozessen und den zeitlichen Ablauf von Handlungen. Konfl flikte ergeben sich insofern oft durch die Übernahme von Rollen und Entscheidungen durch in der Hierarchie „weiter oben“ gereihte Personen. Dies wäre etwa der Fall, wenn der Arzt mit dem Patienten pfl flegerelevante Probleme bespricht bzw. generell als „der einzige Gesprächspartner“ gesehen wird. Q Fachliche Ausbildung und Kompetenz: Durch verschiedene Ausbildungen ergeben sich auch unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich der Bewältigung von Problemen. So wird etwa ein Arzt ein „Problem“ eher medikamentös, organisch sehen, während etwa ein Psychotherapeut die psychologische subjektive Seite beurteilt. Q Unterschiedliche Sprachen: Bedingt durch verschiedene Ausbildungen (oder auch durch ein Fehlen derselben) ergeben sich verschiedene Sprafl therapeutisch, …), die eine Kommunikachen (medizinisch, pflegerisch, tion behindern können. Jeder spricht seine Sprache und versteht den anderen nicht mehr. Q Die Organisation: Jede Organisation definiert fi bestimmte Strukturen, die eine Kommunikation erleichtern oder erschweren können. So erscheint es etwa problematisch, wenn in einer Organisation die direkte Kommunikation zwischen den einzelnen Partnern (Patient, Angehöriger, Arzt, Pflegeperson, fl …) durch systemische Strukturen (Kommunikation über Dritte) behindert wird. Q Persönliche Faktoren der Kommunikationspartner: Jeder Mensch bringt auch seine eigene Persönlichkeit in ein Gespräch mit ein. Dies beinhaltet Erfahrungen, Einstellungen, Werte und Normen, Rollenbilder und verschiedene andere subjektive Bereiche. Diese können ein Gespräch erleichtern (man findet einen Gleichgesinnten) oder erschweren (unterschiedliche Einstellungen). Q Rahmenbedingungen: Jedes gute Gespräch benötigt Rahmenbedingungen, um zu funktionieren. So kann fehlende Zeit, kein geeigneter Raum oder auch eine Störung durch andere zu Kommunikationsproblemen führen. Q Unterschiedliche Positionen der Sichtweise: Bedingt durch eine Kombination aus Ausbildung, Rolle, Kompetenz, etc. ergeben sich auch unter-
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schiedliche Sichtweisen eines Problems. Dies kann zu Problemen in der Kommunikation durch Unverständnis für den anderen führen.
Die Angehörigen Angehörige sind ein wesentlicher Partner bei der Betreuung älterer Menschen. Bei der Kommunikation mit ihnen sind folgende Faktoren zu berücksichtigen: Q Q Q Q Q Q Q Q
die stärkere emotionale Betroffenheit, die psychischen und physischen Belastungen, die eigene Hilfl flosigkeit, die subjektivere Sicht der Probleme, die fehlende oder geringere fachliche Kompetenz für Krankheitsbilder, eigene Ängste und Befürchtungen, die stärkere Verantwortung für den Familienangehörigen, die fehlenden Informationen über die tatsächliche Situation z. B. im Rahmen eines stationären Aufenthaltes, Q kontextuelle Faktoren (Stress, Zeitmangel, körperliche Belastungen).
Im Rahmen der multiprofessionellen Kommunikation zwischen Betreutem, Betreuer und dessen Angehörigen kommt der Berücksichtigung dieser Faktoren eine wesentliche Bedeutung zu.
5 Kommunikation im Rahmen der Altenbetreuung Diese grundlegenden Aspekte und Voraussetzungen der Kommunikation scheinen uns selbstverständlich, sind aber in der Kommunikation mit kranken und oft auch verwirrten oder dementen alten Menschen manchmal nur eingeschränkt oder minimal vorhanden und schwierig umzusetzen. Worte und Zeichen werden nicht verstanden, und wir erhalten oft keine Antwort. Auch zwischen gesunden Menschen kommt es, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, oft zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Alte Menschen leiden oft unter eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen. Bei schlechtem Sehvermögen werden nonverbale Botschaften wie Mimik und Gestik vermindert oder gar nicht wahrgenommen, und Tonfall und sprachlicher Ausdruck spielen eine größere Rolle. Bei Schwerhörigkeit wiederum haben Mimik, Gestik und Körpersprache mehr Bedeutung und Aussagekraft. Alten Menschen fällt es manchmal schwer, sich auszudrücken, sie leiden vielleicht unter Wortfi findungsstörungen, oder ihre Sprache ist durch Krankheit, Medikamente oder Zahnprobleme nicht gut verständlich. Hilfl flosigkeit oder Sprachlosigkeit bedeuten aber nicht, dass die Aufnahmefähigkeit und das Sprachverständnis eingeschränkt sind. Wir müssen mit ihnen so sprechen, dass auch bei starker geistiger oder körperlicher Einschränkung ihre Würde gewahrt bleibt.
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Es sollte auch selbstverständlich sein, dass nicht über anwesende Personen, sondern mit ihnen gesprochen wird. Eine gemeinsame Sprache sprechen Die Sprache des Menschen, der uns gegenüber steht, zu sprechen, ist eine wichtige Voraussetzung, um mit ihm in Verbindung zu treten. Es genügt nicht, dass die Therapeuten und Betreuer die Sprache des Patienten verstehen, sie müssen sich auch so ausdrücken, dass sie von diesem verstanden werden. Oft ist uns gar nicht bewusst, wie stark unsere Sprache von berufsspezifischen fi Fachausdrücken geprägt ist und von der Ausdrucksweise anderer Personen weit entfernt ist. Viele Begriffe werden verwendet, deren Bedeutung uns selbstverständlich ist, mit dem Erleben des anderen aber nichts zu tun hat. Es geht also darum, eine Sprache zu finden, die der andere Mensch versteht und die für ihn begreiflich fl und nachvollziehbar ist. Dabei geht es nicht nur um die richtigen Worte, sondern auch um die richtigen Gesten. Die Rolle der Angehörigen Bei einem stationären Aufenthalt stehen auch die Angehörigen so wie die Patienten vor einer für sie neuen und unbekannten Situation. Auch sie brauchen Zeit, sich dem veränderten Umfeld anzupassen, fremden Personen zu vertrauen und „ihren“ Kranken in fremde Hände zu geben. Auch sie sind meist ängstlich, verunsichert und hilflos fl und fühlen sich einer Situation ausgeliefert, über die sie keine Kontrolle haben. Manche leiden auch unter Schuldgefühlen oder unter dem Gefühl, versagt zu haben. Die Bedürfnisse und Erwartungen der Angehörigen unterscheiden sich in einigen Bereichen sicher von denen der Pfl flegepersonen und der Ärzte. Haben sie vor dem stationären Aufenthalt schon für den Erkrankten gesorgt und ihn betreut, sind sie oft der Meinung, dass nur sie wissen, was für ihn gut ist, sie haben kein Vertrauen, dass andere Personen ihn genauso gut flegen können und seinen Ängsten und Bedürfnissen genüund liebevoll pfl gend Verständnis entgegenbringen. Angehörige, die von der Pflege fl zu Hause erschöpft sind, empfi finden vielleicht Erleichterung darüber, die Sorge und Verantwortung für das finden und die Gesundheit des Kranken an andere abgeben zu Wohlbefi können. Manche wollen sich diese Gefühle aber nicht eingestehen, da sie ja damit auch etwas zu ihrer eigenen Entlastung tun, was wiederum ihrer Rolle als Betreuer nicht entspricht. Die Familie des Patienten hat verschiedene Erwartungen an einen stationären Aufenthalt und an das Behandlungs- und Betreuungsteam. Sie erwarten eine rasche Genesung, Reaktivierung und Rehabilitation des Kranken und eine Vorbereitung auf die Zeit nach dem stationären Aufenthalt, sei es zu Hause oder in einem Pflegeheim, fl sie wollen Information über Betreuungsmöglichkeiten durch ambulante Dienste.
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Einige dieser Erwartungen sind vielleicht nicht erfüllbar, andere sind berechtigt und decken sich auch mit denen des Ärzte- und Pflegeteams. fl Die Patienten bzw. die Angehörigen brauchen Information über Veränderungen, die zu erwarten sind, über mögliche Komplikationen, die zu Hause auftreten können, sie müssen informiert sein über die Einnahme von Medikamenten, den Einsatz, die Notwendigkeit und die Beschaffung von Hilfsmitteln oder Pflegematerial fl und brauchen vielleicht eine Schulung für die Handhabung dieser Hilfsmittel, wie z. B. Blasenkatheter, … . Sie brauchen Information über ambulante Hilfs- und Betreuungsangebote. Es wäre von großem Vorteil, wenn eine Kontaktaufnahme mit sozialen Diensten, wie Hauskrankenpfl flege oder Heimhilfen, schon während des stationären Aufenthaltes stattfände und in die Wege geleitet würde. Dies entlastet Patienten und Angehörige, gibt ihnen Sicherheit und vermindert Angst und Ungewissheit. Viele alleine lebende Patienten fürchten sich davor, in die eigene Wohnung zurückzukehren. Die Situation unmittelbar nach einem Spitalsaufenthalt ist bekannt schwierig. Die Ängste und Sorgen alter Menschen, wie sie ihr Leben zu Hause bewältigen werden, sollten schon vor der Spitalsentlassung mit ihnen besprochen werden. Kommunikation zwischen Patienten, Angehörigen und Pfl flegeteam in Bezug auf die Entlassungsvorbereitung sowie Kommunikation zwischen Krankenhaus und häuslicher Versorgung sind ein wichtiger Bestandteil des Behandlungskonzeptes und erfordern ein interdisziplinäres Vorgehen. Eine Koordination der verschiedenen Bereiche unter Einbeziehung der betroffenen Patienten und Angehörigen ermöglicht gemeinsame Entscheidungen für die bestmögliche Betreuung und Erhaltung der Autonomie des Patienten. Es macht gewiss einen großen Unterschied, ob der Kranke für einen begrenzten Zeitraum in einem Krankenhaus aufgenommen wird oder ob es sich um eine dauerhafte Übersiedlung in ein Pflegeheim fl handelt. In dieser Situation empfi finden viele Angehörige Schuldgefühle, weil sie ihre vermeintliche Pfl flicht, für den anderen zu sorgen, nicht mehr erfüllen können, das Gefühl haben, den alten Menschen „abzuschieben“ und der Aufenthalt in einem Pfl flegeheim meist nicht dem Wunsch des Patienten entspricht. Viele Angehörige sind daher übermäßig besorgt und ängstlich oder üben ständig Kritik an den Pflegefl und Betreuungspersonen. Hier sind ein geduldiger Umgang miteinander und Verständnis füreinander für alle Beteiligten hilfreich. Das Angebot von regelmäßigen Gruppen- oder Einzelgesprächen zwischen Patienten, Angehörigen und Betreuungsteam hilft, Spannungen abzubauen, Kompetenzen und Rahmenbedingungen zu klären, und fördert den Austausch zwischen Menschen, die grundsätzlich ein gemeinsames Ziel haben.
Was bedeutet „Gesundheit“ für ältere Menschen? Die Defi finition der Weltgesundheitsorganisation (1986) für gesundes Älterwerden versteht dieses im ganzheitlichen Sinne einer „aktiven Lebensge-
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staltung“. Gesundheit bedeutet nicht nur körperliches und seelisches Wohlbefinden fi und körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, sondern umfasst auch Selbstständigkeit, Selbstverantwortung, aktive Teilnahme an der sozialen Umwelt und persönliche Sinnerfahrung als Grundlagen für eine aktive Lebensgestaltung. Störung der Gesundheit bezieht sich daher nicht nur auf körperliche und seelische Erkrankungen, sondern auch auf eine Beeinträchtigung der Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein aktives, selbstständiges, sinnerfülltes Leben möglich machen. Gesundheit hat für ältere Menschen deswegen eine zentrale Bedeutung, weil mit einer zunehmenden Verschlechterung des körperlichen Zustandes die Fähigkeit, ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben zu führen und die eigenen Bedürfnisse selbst zu erfüllen, eingeschränkt wird. Daraus folgt das Gefühl, anderen Menschen zur Last zu fallen, die Sorge um die Gesundheit der betreuenden Angehörigen und das Wissen, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Gesundheit ist also die Voraussetzung dafür, ein selbstständiges, eigenverantwortliches Leben, wenn möglich in den eigenen vier Wänden, führen zu können. Dieses Verständnis von Gesundheit bzw. Krankheit zeigt deutlich, dass therapeutische Ansätze sich nicht nur auf die Behandlung von Krankheiten und Krankheitssymptomen beziehen dürfen, sondern auch auf die Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit und der persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten, trotz möglicherweise bleibender Einschränkungen und Verluste. Ältere Menschen brauchen besondere Unterstützung bei der Bewältigung von Krankheiten und deren Folgen und bei der Anpassung an eine neue Lebenssituation. Das Erleben des Patienten hat eine zentrale Bedeutung. Wie erlebt der Patient seine Krankheit, wie seine Gesundheit, welche Auswirkungen hat die Krankheit auf seinen Alltag, wie kann er sie darin integrieren? Die Patienten können mit Hilfe der Pfl flegenden in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, die ihre Gesundheit wiederherstellen oder ihren Zustand für sie erträglich machen. Ein ganzheitliches Therapiekonzept muss sich sowohl mit dem objektiven als auch mit dem subjektiven Leiden des Patienten befassen. Und gerade hier sind eine gute Zusammenarbeit und eine erfolgreiche Kommunikation zwischen allen Beteiligten von größter Bedeutung und haben weitreichende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen.
6 Grundprinzipien guter Kommunikation im multiprofessionellen Team Kommunikation stellt einen wesentlichen Faktor im Leben von Menschen dar. Die vorliegende Arbeit versucht, die Grundprinzipien von guter Kommunikation auf die Problematik der Kommunikation im multiprofessionellen Team zu übertragen. Als wesentlichste Faktoren können hierbei die Folgenden zusammengefasst werden, die sowohl für die Betroffenen als auch professionelle und nicht professionelle Helfer gelten:
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Q Geben Sie klar zu erkennen, dass Sie etwas besprechen wollen. Dies beinhaltet Blickkontakt, Sichhinsetzen, emotionale Zuwendung, etc. Q Versuchen Sie, die Rollen der Kommunikation klar zu regeln. Der Sender sendet, der Empfänger hört zu. Dann erfolgt ein Rollentausch. Insofern erscheint es notwendig, den anderen nicht zu unterbrechen. Q Hören Sie zu. Versuchen Sie, den Inhalt der Botschaft möglichst sachlich zu erfassen. Seien Sie sich der Subjektivität Ihrer eigenen Wahrnehmung, besonders wenn Sie sich angegriffen fühlen, bewusst. Q Formulieren Sie „Ich-Botschaften“, da diese weniger leicht als Angriff wahrgenommen werden können als „Du-Botschaften“. Q Fragen Sie nach, wenn etwas für Sie nicht verständlich ist. Nur dadurch ist es möglich, Missverständnisse möglichst rasch aufzuklären. Q Versuchen Sie, auch den anderen zu verstehen. Jeder argumentiert aus seiner Sicht und seinen Erfahrungen. Q Bauen Sie Vorurteile ab. Q Argumentieren Sie sachlich und möglichst konkret. Q Beachten Sie die nonverbalen Anteile Ihrer Botschaft wie Mimik und Gestik. Q Stellen Sie sich auf unterschiedliche sprachliche Fertigkeiten und fachliche Sichtweisen ein und berücksichtigen Sie diese. Q Schaffen Sie eine gute Kommunikationsatmosphäre (eigener Raum, kein Zeitdruck, adäquate Lautstärke, …). Q Berücksichtigen Sie persönliche Merkmale, wie Geschlecht, Persönlichkeit, Schichtzugehörigkeit, Intelligenz, etc. Im Bereich der Betreuung älterer und kranker Menschen können sich viele Probleme der Kommunikation ergeben. Hier kann die Berücksichtigung kommunikationserschwerender Faktoren, die klare Defi finition der Rollenbilder, aber auch die Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen zu einer Verbesserung beitragen. Wesentlich ist, dass alle Beteiligten Probleme sachlich ansprechen und auch so zu lösen versuchen.
Literatur Fitzgerald A, Zwick G (2001) Patientenorientierte Gesprächsführung im Pflegeprozess. fl Springer, Wien New York Hirsch AM (1997) Psychologie für Altenpfl fleger, Bd. II. Kommunikative Kompetenz. MMV Medizin Verlag, München Schulz von Thun F (1991) Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen. Rowohlt, Reinbek Schulz von Thun F (1990) Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek Watzlawick P, Beaven JH (1969) Menschliche Kommunikation. Huber, Bern Stuttgart
Die Aufgaben des Psychologen im multiprofessionellen Team Gerald Gatterer
Klinisch-psychologische Maßnahmen erstrecken sich einerseits auf den Bereich der psychologischen Diagnostik der kognitiven Leistungen, der Befi findlichkeit und der Selbstständigkeit und andererseits auf psychologische Behandlungsmethoden. Letztere erstrecken sich auf kognitive Trainingsprogramme, klinisch-psychologische Gespräche und die Vermittlung von Fertigkeiten und Krankheitsbewältigungsstrategien. Sie werden sowohl im niedergelassenen als auch stationären Bereich eingesetzt.
1 Einleitung Die Gerontopsychologie beschäftigt sich als Teildisziplin der Gerontologie (Alternsforschung) mit der wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Verhaltens und Erlebens im höheren Lebensalter. Sie versucht, einerseits die spezifi fischen psychologischen Bedingungen des Alterns zu erfassen, andererseits sollen hieraus auch Vorschläge für Präventions- und Interventionsmaßnahmen im höheren Lebensalter abgeleitet werden können. Die Gerontopsychologie kann dabei natürlich nicht abgetrennt von anderen Wissenschaften, die sich ebenfalls mit dem Altern beschäftigen (Medizin, Biologie, Soziologie), agieren, sondern muss auch Ergebnisse dieser Forschungsbereiche integrieren. Altern wird in dieser Hinsicht als Resultat organischer, psychologischer, sozialer und kontextueller Faktoren (siehe auch Abschnitt: Der ältere Mensch im System der Altenbetreuung) diskutiert. Im Rahmen der Rehabilitation und Betreuung älterer Menschen nehmen deshalb psychologische Maßnahmen eine wesentliche Stellung ein. Die Aufgaben des Psychologen lassen sich im Rahmen dieser interdisziplinären Tätigkeit folgendermaßen zusammenfassen: Q Erforschung und Beschreibung von Alterungsprozessen und deren Auswirkungen auf die Betroffenen,
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Q psychometrische Diagnostik (kognitive Leistungsfähigkeit, Persönlichkeit, Selbstständigkeit), Q klinisch-psychologische Behandlung (kognitive Trainingsprogramme, Realitäts-Orientierungs-Training, Validation-Therapie, Funktionstraining, Coping, …), Q Psychotherapie (Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Soziotherapie, …), Q Beratung und Betreuung von Angehörigen (Angehörigengruppe), fl Q Betreuung, Supervision und Fortbildung des Pflegepersonals, Q Koordination und Kooperation im interdisziplinären Team, Q Forschung auf verschieden Gebieten der Alternswissenschaften (Demenz, Depression, …). Diese Tätigkeiten sollen dabei einerseits bereits im Bereich der Prävention von Störungsbildern (Gerontoprophylaxe), deren Behandlung (Rehabilitation im engeren Sinn) als auch im Management funktioneller Restzustände (Behandlung nicht reversibler Störungsbilder) ansetzen.
2 Erforschung von Alternsvorgängen Psychologische Alternstheorien versuchen, die unterschiedlichen Verläufe von Alternsprozessen anhand empirischer Studien zu erklären. Als wesentliche Faktoren für erfolgreiches Altern werden Aktivitäten, soziale Kontakte, das Nützen von Ressourcen, biografische fi Faktoren und kognitive Prozesse und Einstellungen angesehen. Insofern ist Altern kein Schicksal, sondern „lebenslanges Lernen“. Psychologische Alternstheorien Im Rahmen der psychologischen Erforschung von Alterungsprozessen wurden verschiedenste Theorien (siehe Oswald et al. 1991) entwickelt, die hier überblicksmäßig (siehe auch Gatterer 2006) dargestellt werden sollen. Defizitmodell fi der geistigen Entwicklung Dieses Modell definiert fi „Altern als genetisch bedingten Prozess des Verlustes und als Abbau körperlicher, emotionaler und intellektueller Fähigkeiten“ mit Beginn ab dem mittleren Erwachsenenalter (zit. nach Lehr 1996) und hat lange Zeit dem älteren Menschen Entwicklungsmöglichkeiten abgesprochen. Kritikpunkte an diesem Modell sind jedoch Q die von der Psychologie entwickelte Distanzierung vom Konzept der allgemeinen Intelligenz. Speed-Funktionen (Lernen, Gedächtnis, Geschwindigkeit der Denkabläufe, …) sind hierbei eher einem Altersabbau unterworfen; Power-Funktionen (gut eintrainiertes Wissen, Allgemein-
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wissen, Alltagsfertigkeiten, …) sind eher altersstabil und stellen somit Ressourcen im Alter dar, Q das Problem von Querschnitts- und auch Längsschnittsuntersuchungen; diese geben nur bedingt Auskunft über das Altern als Prozess, Q die Vernachlässigung des Geschwindigkeitsfaktors vor allem bei testpsychologischen Untersuchungen; durch die häufige fi Verwendung von zeitbegrenzten Tests kam es zu einer Benachteiligung älterer Menschen, Q die zu geringe Beimessung der Bedeutung vom Einfluss fl intervenierender Faktoren wie der Ausgangsbegabung, der Schulbildung, beruflichem und geistigem Training, stimulierender Umgebung, dem Gesundheitszustand, biografi fischen Aspekten und motivationalen Bedingungen. Obwohl dieses Modell als nicht gültig anzusehen ist, fl fließt es doch immer wieder in die Beurteilung älterer Menschen ein. So wird z. B. älteren Menschen oft automatisch weniger zugetraut als jüngeren. Auch die immer wieder geführte Diskussion hinsichtlich der Fahrtauglichkeit älterer Menschen ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Aktivitätstheorie Es besteht nach diesem Modell ein „positiver Zusammenhang zwischen dem (sozialen) Aktivitätsniveau (Intensität und Intimität der sozialen Kontakte) und der Lebenszufriedenheit“. Man altert glücklich und zufrieden, wenn man aktiv etwas leisten kann und deshalb von anderen gebraucht wird. Jeder hat soziale Rollen zu erfüllen, dies wird auch vom Rollenträger positiv bewertet. Er möchte sie deshalb beibehalten. Der ältere Mensch hat dieselben Bedürfnisse hinsichtlich sozialer Kontakte und Aktivitäten wie jüngere. Im Alter erfolgt aber oft die Aufgabe dieser Rollen durch Normen (Pensionierung), gesundheitliche Probleme und den Tod nahestehender Kontaktpersonen. Der ältere Mensch erfährt somit oft sowohl einen Rollenals auch Funktionsverlust in unserer Gesellschaft (Pensionierung, Auflöfl sung der Großfamilie, Ausschluss aus Familienverband bei Gebrechlichkeit, …). Therapeutische Maßnahmen müssten sich dadurch auf einen Ausgleich dieses Rollen- und Funktionsverlustes durch neue Aufgaben, soziale Kontakte, Aktivitäten, etc. beziehen. Kognitive Alternstheorie Bei diesem Modell wird die subjektive Wahrnehmung des Alterns durch den Betroffenen in den Mittelpunkt gestellt. Man ist so alt, wie man sich fühlt. Altern wird nicht als physischer und biologischer Prozess betrachtet, sondern als subjektive Bewertung von Lebensereignissen durch den Betroffenen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht also der ältere Mensch als Träger eines personalen Geschehens, das von sozialen und sachlichen Ge-
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gebenheiten geprägt ist. Insofern werden nach diesem Modell auch gleiche Lebensereignisse von Menschen unterschiedlich erlebt. Verschiedenste Untersuchungen zeigen, dass gerade die subjektive Bewertung wesentliche Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit im Alter hat. Als Beispiel kann folgender Fall angesehen werden: Eine Frau wird mit 40 Jahren Großmutter. Je nach ihrer eigenen Wahrnehmung und Bewertung wird sie ihrem Enkelkind erlauben, „Omi“ zu sagen, oder darauf bestehen, mit dem Vornamen angesprochen zu werden, da sie ja noch nicht so alt ist. Kompetenzmodell Das Kompetenzmodell des Alterns betont die Wichtigkeit und die Förderung der Ressourcen des älteren Menschen. Es vergleicht ihn nicht mit Jüngeren oder Gesünderen, sondern richtet den Blick auf die konkrete Situation. Die Frage „Wie kommt der ältere Mensch in seiner individuellen Situation zurecht?“ ist zentrale Frage dieser Theorie. In die Bewertung fließen nicht nur die Eigenschaften der Person, sondern auch die Anfordefl rungen und Möglichkeiten der jeweiligen Lebenssituation ein. Die „Kompetenz“ eines Menschen beschreibt somit seine Fähigkeit, gleichermaßen Ressourcen seiner eigenen Person (Verhaltenspotenziale) als auch seiner Umgebung zu nutzen und so sein Leben erfolgreich zu bewältigen. Der Denkansatz berücksichtigt die Tatsache, dass sich Anforderungen, Motive, Handlungsziele und Ressourcen der älteren Menschen von denen einer jüngeren Person unterscheiden. Auch ein älterer Mensch kann vor diesem Hintergrund über einen hohen Grad an Kompetenz verfügen (eventuell höher als ein jüngerer). Das Ausnützen der Ressourcen korreliert hoch mit Lebenszufriedenheit. Ein Kompetenzmodell ermöglicht verschiedenste therapeutische Ansätze, da nach diesem Modell jede Person Ressourcen aufweist. Diese müssen nur gefunden und genützt werden. Disengagement-Theorie Diese Theorie geht von der Beobachtung aus, dass ältere Menschen häufig fi weniger Kontakte pflegen fl bzw. weniger aktiv sind und sich gerne zurückziehen. Dieser Rückzug sei positiv und altersbedingt und würde sowohl vom älteren Menschen als auch von der Gesellschaft gewollt. Er sei eine wesentliche Voraussetzung für zufriedenes Altern. Dieses Modell ist so global sicher nicht gültig, ermöglicht jedoch die Akzeptanz und das Verständnis für „nicht aktive ältere Menschen“, die trotzdem glücklich sind. So zeigt es sich, dass häusliche Menschen mehr zu Rückzug im Alter tendieren, während aktive Menschen diese Aktivität auch im Alter beibehalten wollen. Austauschtheorie Soziale Interaktionen mit einem ständigen Austausch von materiellen und nicht-materiellen Gütern stellen nach diesem Modell wesentliche Faktoren
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für zufriedenes Altern dar. Die derzeitige Gesellschaft ist jedoch durch einen Funktionsverlust des älteren Menschen geprägt. Ein Austausch erfolgt nur mehr auf emotionaler Ebene. Dieses Modell weist sowohl auf die Wichtigkeit der Familie für den älteren Menschen aber auch umgekehrt hin, da ältere Menschen in unserer Zeit auch mehr Reserven haben. Kontinuitätstheorie Zufriedene Alterung erfolgt dann, wenn der in früheren Lebensphasen erworbene Lebensstil beibehalten werden kann. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass dieser Lebensstil vom alternden Menschen weitgehend selbstständig bestimmt werden kann. Ökologisches Modell des Alterns Dieses Modell geht davon aus, dass die Auswirkungen des mit dem Älterwerden verbundenen Verlusts von Fähigkeiten und Funktionen (oft physiologisch) von den ökologischen (Umwelt-)Bedingungen abhängen, in denen diese Person lebt (Versorgungsstruktur, Wohnsituation, Klima, Verkehr, soziale Hilfen, …). Günstige Umweltbedingungen (speziell auf den älteren Menschen zugeschnitten; Eigenaktivitäten fördernd) fördern einen positiven Alternsprozess mit geringem Funktionsverlust. Negative Bedingungen wirken sich bei bestehenden Verlusten noch stärker aus. So können sich eine schlechte Verkehrsverbindung, das Fehlen von Hilfsmitteln, aber auch schlechte Zähne oder ein nicht funktionsfähiger Hörapparat negativ auf den Alterungsprozess auswirken. Therapeutische Maßnahmen müssten nach diesem Modell auf eine Optimierung von Umweltbedingungen für den Alterungsprozess ausgerichtet sein. Altern durch lebenslangen Stress Dieses Modell stellt eine kombinierte Theorie zwischen psychologischen Variablen und organischen Veränderungen dar. Nach diesem Modell erhält jedes Lebewesen bei seiner Geburt eine bestimmte, genetisch determinierte Menge an „Lebensenergie“. Anpassungsleistungen des Lebewesens an verschiedene organische und psychische Belastungen benötigen „Anpassungsenergie“, sodass diese mit der Zeit aufgebraucht ist. Nach diesem Modell würde übermäßiger Stress und Energieverbrauch zu einer Verkürzung der Lebenserwartung und zu erhöhtem Krankheitsrisiko führen. Stress allein ist jedoch entsprechend verschiedenen Untersuchungen keine ausreichende Begründung für eine Reduktion der Lebenserwartung. Er kann sowohl zu einer Erhöhung als auch Minderung der Immunreaktion führen und dadurch etwa die Infektionsresistenz vermindern. Lang andauernder Stress führt jedoch zu einer verstärkten Belastung des Immunsystems und in weiterer Folge zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten. Von diesem Modell ausgehend kann man also nicht sagen, dass Altern mit einer generellen Schonung verbunden sein muss. Überforderung ist jedoch ebenfalls zu vermeiden.
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Psychologische Alternstheorien können allein das Phänomen Altern nicht vollständig erklären. Die Berücksichtigung psychologischer Faktoren zusätzlich zu biologischen ist jedoch für das Verständnis der Komplexität von Alterungsprozessen bzw. von psychischen Auffälligkeiten bei älteren Menschen wichtig. Weiters können, auf diesen Theorien aufbauend, auch Ansätze für präventive und therapeutische Interventionsstrategien entwickelt werden. Psychische Veränderungen im höheren Lebensalter Kognitive Leistungen verändern sich im Alter nicht gleichmäßig, sondern können in zwei Gruppen geteilt werden. Leistungen, die mit Neulernen, Anpassung, Flexibilität und Geschwindigkeit zu tun haben, werden mit dem Alter schlechter und sollten früh trainiert werden. Leistungen, die bereits im Altgedächtnis gut verankert sind, halten jedoch wahrscheinlich das ganze Leben. Die Erforschung der Intelligenzentwicklung von der Kindheit bis ins höchste Lebensalter war lange Zeit von der Auffassung geprägt, dass die Intelligenz ihren Entwicklungshöhepunkt im frühen Erwachsenenalter erreicht und dann unerbittlich nachlässt. Der derzeitige Forschungsstand zur Leistungsmessung im höheren Lebensalter legt eine Dedifferenzierung der kognitiven Funktionen im Sinne eines „Speed-Power“-Modells („fl flüssig/kristallisiert“) nahe (Oswald und Fleischmann 1995). Speed (flüssige) fl Leistungen gelten dabei als z. T. genetisch bedingte, inhaltsübergreifende kognitive Grundfunktionen, die eine flexible Informationsverarbeitung ermöglichen. Sie sind stark tempoabhängig und repräsentieren die allgemeine kognitive Leistungsgeschwindigkeit. Sie unterliegen im Alter einem stärkeren und früheren Abbau und sind daher sensitiver für pathologische, aber auch therapieinduzierte Veränderungen der kognitiven Leistungen. Power (kristallisierte) Leistungen stellen hingegen bildungs- und milieuabhängige intellektuelle Funktionen dar (z. B. Sprachwissen, Allgemeinwissen, soziale Intelligenz). Sie sind nur in einem geringen Ausmaß einem Altersabbau unterworfen. Testleistungen in diesem Bereich sind altersstabil und ermöglichen insofern eine gute Schätzung des jetzigen intellektuellen Potenzials. Aufgrund ihres relativ geringen Altersabbaues sind sie auch gut zur Einschätzung des früheren Leistungsniveaus geeignet. Sie sind bis ins höhere Lebensalter durch Training steigerbar. Ähnliche Ergebnisse fi finden sich auch im Bereich der Gedächtnisleistungen, wo sich drei weitgehend voneinander unabhängige Dimensionen ermitteln lassen, die eine gute Beschreibung der Gedächtnisleistungen im höheren Lebensalter gestatten. (1) Als „Primärgedächtnis“ wird jene Behaltensleistung bezeichnet, die ein kurzfristiges passives Speichern von Informationen über einen Zeitraum von einigen Sekunden ermöglicht (z. B. Zahlen nachsprechen). Da dieses
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Speichern relativ automatisch funktioniert, ist es im Alter weniger beeinträchtigt. (2) Weitgehend unabhängig hiervon ist der Bereich des „Sekundärgedächtnisses“ (dynamische Gedächtnisleistungen), welches aktivere Behaltensleistungen umfasst. Hier ist ein aktives Memorieren, ein Verknüpfen oder inneres Wiederholen von Informationen erforderlich, um ein längeres Speichern zu ermöglichen. Diese Gedächtnisleistungen sind im Alter eher beeinträchtigt, jedoch trainierbar. (3) Als dritte Komponente, die eigentlich keine echte Behaltensleistung darstellt, jedoch zur Aufnahme und Verarbeitung von Information nötig ist, kann der „Tempo/Aufmerksamkeits-Bereich“ angesehen werden. Hierunter fallen Prozesse wie geistige Verarbeitungsgeschwindigkeit, Konzentrationsfähigkeit und auch Auffassung. Dieser Bereich ist ebenfalls sehr stark altersabhängig, aber auch durch Training verbesserbar. Untersuchungen zeigen, dass eine Verlangsamung der Informationsaufnahme (Tempo/Aufmerksamkeits-Bereich) gewissermaßen eine ungünstige Ausgangsbedingung für Gedächtnisprozesse darstellt. Dadurch scheinen auch die Leistungen im „Sekundärgedächtnis“ einem stärkeren Altersabbau unterworfen zu sein als die kurzfristigen und passiven Merkvorgänge des „Primärgedächtnisses“. Dieses Ergebnis erscheint auch für die Früherkennung demenzieller Störungen interessant, da man davon ausgeht, dass die Verfügbarkeit und die Strategien kognitiver Verarbeitungsprozesse bereits in frühen Krankheitsstadien gestört sind. (4) Langzeitspeicher: Heute geht man von der Annahme aus, dass die meisten Leistungen, die bereits gut im Langzeitgedächtnis gespeichert sind, kaum einem Alterungsprozess unterworfen sind und auch bei Demenzerkrankungen erst bei fortgeschrittenem Stadium beeinträchtigt sind. Hierzu zählen das semantische Gedächtnis (Wissen, Wortschatz), das prozedurale Gedächtnis (motorische Fertigkeiten) und das Priming-Gedächtnis („Wiedererkennen“). Hingegen fi finden sich im episodischen Gedächtnis (autobiografi fisches Gedächtnis) stärkere Defi fizite (Oswald 2006). Dieses Gedächtnismodell besitzt, mit Ausnahme fortgeschrittener pathologischer Alterung, nach umfangreichen Analysen von Fleischmann (1989) über den gesamten dritten Lebensabschnitt Gültigkeit. Im Rahmen ausgeprägter pathologischer Alterung (Demenz) sind Leistungseinbußen in allen Bereichen zu verzeichnen. Die Gedächtnisstruktur kann hier schließlich nur mehr durch einen „General-Gedächtnisfaktor“ beschrieben werden. Als besondere Form von Gedächtnisstörungen im höheren Lebensalter gelten die im Konzept der so genannten „Age Associated Memory Impairment“ (AAMI) beschriebenen Defi fizite (Larrabee 1986; Larrabee und Crook 1987). AAMI ist durch eine für die jeweilige Altersgruppe zwar unterdurchschnittliche Gedächtnisleistung, im Gegensatz zu demenziellen Erkrankungen jedoch nicht progrediente Störung charakterisiert. Man könnte sie auch mit dem Begriff „gutartige Vergesslichkeit im Alter“ umschreiben. Störungen anderer kognitiver Funktionen treten nicht auf. Weitere wichtige Bereich der Psychologie stellen das Selbst- und Fremdbild alter Menschen in unserer Gesellschaft, Veränderungen im Rahmen
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der Partnerschaft und der Sexualität sowie verschiedenste sozialpsychologische Aspekte des Alterns (z. B. Pensionierung) dar, auf die in diesem Artikel weniger eingegangen wird. Hier wird auf die entsprechende Literatur verwiesen (Maercker 2002; Oswald et al. 1991).
3 Psychometrische Diagnostik Klinisch-psychologische Diagnostik soll einerseits kognitive Alterungsprozesse abbilden, aber auch Defizite fi wie eine Demenzerkrankung früh erfassen. Hierzu gibt es eine Reihe von ausgewählten Testinstrumenten. Spezifische fi Einsatzbereiche sind psychologische Tests im Rahmen des geriatrischen Assessments (z. B. Aufnahme im Krankenhaus) oder auch bei der Demenzfrüherkennung in Memory-Kliniken.
Allgemeine Aspekte der Diagnostik psychischer Störungen im Alter Eine effi fiziente Behandlung und Betreuung älterer Menschen erfordert oft neben einer medizinischen Diagnostik auch eine Erhebung der kognitiven Leistungsfähigkeit des Klienten. Die psychometrische Diagnostik erstreckt sich hierbei auf Q eine Beschreibung von Alterungsprozessen (geistige Leistungsfähigkeit, Befi findlichkeit), Q eine Beurteilung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, Q Aussagen über die Effi fizienz von Therapiemaßnahmen (Medikamente, Trainingsprogramme), Q eine Abgrenzung von normalen und pathologischen Alterungsprozessen (Demenzdiagnostik), Q die Differentialdiagnostik verschiedener psychischer Krankheitsbilder (Demenz/Depression/Multiinfarkt-Demenz/Alzheimersche Demenz). Die Durchführung psychologischer Tests bei älteren Menschen muss jedoch folgende Aspekte berücksichtigen, um ein möglichst objektives Bild zu erhalten. Ein genauer Überblick über psychodiagnostische Verfahren fi findet sich in Gatterer (1997) und Gunzelmann und Oswald (2005). Q Es sollten nur solche Verfahren verwendet werden, deren Eignung für die entsprechende Fragestellung und Patientengruppe erprobt und geflektierten Einsatz von Verfahren, währleistet ist. Abzuraten ist vom unrefl die für jüngere Personen entwickelt wurden bzw. keine adäquate Normierung für den höheren Altersbereich aufweisen. Q Durch eine zu lange Durchführungszeit und damit verbundene Ermüdungserscheinungen wird die tatsächliche zerebrale Leistungsfähigkeit oft unterschätzt. Insofern sollten nur die Verfahren verwendet werden, durch die eine möglichst rasche Beantwortung der Fragestellung gewährleistet wird.
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Q Es sollten nur solche Testverfahren verwendet werden, die den spezifi fischen Bedürfnissen des Alterspatienten hinsichtlich Sehfähigkeit, Motorik, Belastbarkeit, Schwierigkeit der Aufgaben, Motivation, etc. entsprechen. Q Durch die Erfassung der Arbeitsgeschwindigkeit, des Neugedächtnisses bzw. der Interferenzleistung (Umstellbarkeit) als Maß der zerebralen Leistungsfähigkeit ist eine relativ sensitive Diagnostik von frühzeitigen geistigen Abbauerscheinungen (Demenz) möglich. Andererseits werden diese Parameter auch von anderen Faktoren wie etwa Depressivität, Motivation, Hörvermögen und feinmotorischen Funktionen beeinflusst. fl Q Gut eintrainierte Fähigkeiten (z. B. Wortschatz) ermöglichen hingegen eine gute Abschätzung des aktuellen geistigen Potenzials. Q Viele Verfahren vernachlässigen die Tatsache der teilweise stark reduzierten kognitiven Leistungsfähigkeit dementer Probanden, sodass nur besonders leistungsfähige und rüstige Probanden untersucht werden können. Es stehen nur wenige Tests zur Verfügung, die den gesamten kognitiven Bereich älterer Menschen (gute Leistungsfähigkeit bis zu schwerer Demenz) abdecken. Q Durch die starke Abhängigkeit mancher Verfahren von sonstigen körperlichen Erkrankungen (Tremor, Sprachstörungen, …) sollen nur solche Verwendung fi finden, die durch zusätzliche Krankheiten möglichst wenig beeinfl flusst werden. Q Für Verlaufsuntersuchungen sollten nur Verfahren mit Parallelformen eingesetzt werden. So eignen sich manche Testverfahren, z. B. MiniMental-Status, gut für eine rasche globale Einschätzung des Demenzgrades, sind jedoch nicht für Testwiederholungen nach kurzer Zeit geeignet, da ein Übungseffekt auftritt. Q Weiters ist zu beachten, dass sich die Messbereiche einzelner Verfahren im Verlauf des Alternsprozesses und durch Begleiterkrankungen ändern können, sodass im höheren Lebensalter andere kognitive Funktionen erfasst werden als bei jüngeren Probanden. Dies gilt etwa für Depressionsfragebögen mit somatischen Fragen, aber auch für Orientierungsfragebögen, die im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes erst nach einigen Tagen objektive Ergebnisse liefern. Psychometrische Testverfahren lassen sich hinsichtlich ihrer Messbereiche in Leistungstests und Befindlichkeitstests fi sowie Verfahren zur Erfassung von Alltagsaktivitäten unterteilen. Erstere geben Auskunft über Fähigkeiten wie etwa Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit und Wortfindung. fi Mittels Befindlichkeitsskalen fi können verschiedene Faktoren des Befi findens wie Stimmung, Antrieb, Angst u. dgl. erfasst werden. Hinsichtlich der Art der Beurteilung erfolgt häufi fig eine Unterscheidung in Fremd- und Selbstbeurteilungsverfahren. Auf die speziellen Problematiken der Erfassung der einzelnen Bereiche weisen etwa Oswald und Gunzelmann (1991) und Gunzelmann und Oswald (2002) hin. Der folgende Abschnitt soll eine praxisrelevante Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Diagnostik geben. Insofern werden nur erprobte Verfahren dargestellt.
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G. Gatterer
Klassifikation fi der im Rahmen der psychologischen Diagnostik zur Anwendung kommenden psychometrischen Verfahren In Anlehnung an Gatterer (1997) lassen sich die im Rahmen der Psychodiagnostik verwendeten Erhebungsinstrumente in folgende Gruppen unterteilen: Q Psychometrische Diagnostik mittels Fremdbeurteilungs- und Ratingskalen: Sie stellen die einfachste und rascheste Form der Diagnostik durch die Beobachtung, Beschreibung und Einstufung des Patientenverhaltens nach bestimmten Kriterien dar. Ein Vorteil dieser Verfahren ist deren breite Einsatzmöglichkeit sowohl bei leicht als auch schwer dementen Probanden. Sie eignen sich für die globale Erfassung von Einzelfunktionen, ein rasches Demenzscreening sowie eine globale Einstufung des Demenzgrades. Probleme ergeben sich bei diesen Skalen jedoch hinsichtlich der Testgütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität. Eine Verbesserung der Übereinstimmung der Beurteilung lässt sich durch ein Ratertraining, und zwar durch die Begutachtung standardisierter Fälle von schwer, mittel und leicht dementen Personen, durch eine Operationalisierung der zu beurteilenden Kriterien und die Diskussion von Abweichungen erzielen. Als weiteres Problem bei diesen Skalen ergibt sich ihre starke Abhängigkeit vom Allgemeinzustand eines Patienten. So zeigt es sich, dass Personen mit schlechtem körperlichen Allgemeinzustand meist auch als stärker kognitiv beeinträchtigt eingestuft werden. Die wichtigsten Verfahren dieser Gruppe sind die „Reisberg-Skalen“ (Reisberg et al. 1988; dt.: Ihl und Frölich 1991). So ermöglicht die „Global Deterioration Scale“ eine Quantifizierung fi des Schweregrades der Demenz auf einer 7-stufigen fi Skala, während mittels der „Brief Cognitive Rating Scala“ einzelne Funktionsbereiche genauer erfasst werden können. Das „Functional Assessment Staging“ ist zur Beschreibung schwer dementer Personen geeignet. Alle drei Skalen können einzeln, aber auch ergänzend zueinander eingesetzt werden. Weitere Skalen fi finden sich in CIPS (1996) und in Skalen und Scores in der Neurologie (Masur 1995). Q Fremdbeurteilung verschiedener Verhaltensweisen und von Alltagsaktivitäten: Verfahren dieser Gruppe erfassen neben rein kognitiven Variablen, wie etwa Orientiertheit, Gedächtnis u. dgl., auch nicht kognitive Funktionen, wie etwa Angst und Depression. Zu dieser Gruppe von Testverfahren können auch so genannte Skalen zur Erfassung von Alltagsaktivitäten (ADLSkalen) und „IADL-Skalen“ (instrumental activities of daily living“) gezählt werden (Katz 1983). ADL-Skalen werden meist von einer Bezugsperson (Verflegeperson, …) des Patienten ausgefüllt und umfassen normalerwandte, Pfl weise jene Bereiche aus dem Alltag, die ein älterer Mensch selbstständig bewältigen muss, wenn er nicht der Hilfe anderer bedarf (Waschen, Anziehen, …). ADL-Skalen sind insofern immer Pfl flegebedürftigkeits-Skalen und diskriminieren daher nur bezüglich der Pfl flegebedürftigkeit, nicht jedoch innerhalb der Gruppe der selbstständigen Personen. Der Vorteil dieser Ska-
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len liegt in einer direkten Aussage über die wichtigsten Fähigkeiten, die ein Mensch zur selbstständigen Lebensführung benötigt. IADL-Skalen erfassen Handlungen höheren Komplexitätsniveaus, wie etwa Erledigung des Haushalts, Telefonieren oder Regelung finanzieller Angelegenheiten. Sie sind in dieser Hinsicht also sensitiver für Veränderungen bei rüstigen Probanden und werden dadurch auch vermehrt im geriatrischen Assessment eingesetzt (Six 1988). Hierzu gehören die ADL-Skala nach Katz (1983), der Barthel-Index (Mahoney und Barthel 1965) sowie die Nurses Observation Scale for Geriatric Patients (NOSGER) (Spiegel und Brunner 1991). Ergänzend zum BarthelIndex hat sich der Neuromentalindex (Müller et al. 2000) zur Erfassung von Fähigkeitsstörungen in den Bereichen Bewusstsein, Kontaktfähigkeit, Orientierung, Verhalten, Emotion, Kommunikation, Gedächtnis, Problemlösung, Wahrnehmung und Nachtruhe bewährt. Ein sehr umfangreiches Testinstrument zur Erfassung der Selbstständigkeit stellt die FIM (Funktionale Selbstständigkeitsmessung) (IVAR 1997) dar, welche die Bereiche Selbstversorgung, Blasen/Darm-Kontrolle, Transfer, Fortbewegung, Kommunikation sowie soziale und kognitive Fertigkeiten erfasst. Q Screeningverfahren zur Verdachtsabklärung demenzieller Störung (vgl. Cooper 1988), so genannte „Demenztests“: Der Grundgedanke dieser Verfahren liegt in der psychometrischen Erfassung des so genannten „klassisch-phänomenologischen Demenzbegriffes“. Sie stellen meist bereits „höherwertige“ psychodiagnostische Verfahren dar. Die erfassten Aufgabengruppen orientieren sich an den Leitkriterien einer Demenz (vgl. DSM-IV, ICD-10) und erfassen deren wichtigste kognitive Bereiche, wie z. B. Gedächtnis, Orientierung, Wortfindung, fi Motorik und Rechenfähigkeit. Sie sollen eine globale Quantifi fizierung der kognitiven Leistungsfähigkeit des untersuchten Probanden ermöglichen. Diese Verfahren sind meist an einer Kontrollgruppe „normaler“ älterer Menschen normiert und geben Grenzwerte für die Abgrenzung von normalen und pathologischen Alterungsprozessen an, sowie nach Angabe einzelner Autoren (Folstein et al. 1975) auch eine Abgrenzung zu depressiven Erkrankungen mit kognitiven Beeinträchtigungen („Pseudodemenz“). Weiters ermöglichen sie auch eine Einstufung des Schweregrades der Demenz. Bei Einhaltung der entsprechenden Testdurchführungskriterien sind diese Verfahren hinreichend objektiv, reliabel und valide. Sie geben jedoch nur eine globale Information über das kognitive Leistungsniveau der untersuchten Person. Zudem fehlen meist Parallelformen, sodass bei Testwiederholungen mit Lerneffekten zu rechnen ist. Ein weiteres Problem dieser Verfahren liegt in ihren vorwiegend verbalen Aufgabenstellungen. Dadurch ergeben sich Probleme in ihrer Durchführung bei Patienten mit sprachlichen Ausfällen und möglicher Demenz (z. B. nach einem Schlaganfall). Diese Tests zeigen meist eine geringe Sensitivität bei klinisch nicht auffälligen Personen (zu leichte Aufgaben) und vernachlässigen soziodemografische fi Variablen. Der Vorteil dieser Verfahren liegt in ihrer einfachen Handhabung und dem im Vergleich zum Aufwand relativ hohen Aussagewert. Insofern sind sie die im Rahmen von Memory-
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G. Gatterer
Kliniken und des Geriatrischen Assessments am häufigsten fi verwendeten Tests. Das bekannteste Verfahren dieser Gruppe ist der Mini-Mental-StatusTest (Folstein et al. 1975; dt.: Kessler et al. 1990), ein aus 30 Aufgaben bestehender Test, der die Bereiche Orientierung, Gedächtnis, Rechenfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Sprache, Motorik und Schreiben erfasst. Ab einem Grenzwert von 24 wird die Verdachtsdiagnose Demenz gestellt. Etwas sensitiver für den Bereich der Frühdiagnostik ist der Kurztest für fi (Lehrl und Fischer 1985), der aus zwei Subtests des cerebrale Insuffizienz Syndrom-Kurztests (Erzigkeit 1989) besteht. Für Personen mit sprachlichen Beeinträchtigungen (Aphasie) wurde der Alters-Konzentrations-Test (Gatterer 1990) entwickelt. Neue Verfahren dieser Gruppe sind der Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD: Ihl et al. 2000), der Mini-Cog (Scanlan et al. 2001) und der DemTect (Kessler et al. 2000). Der Rapid-Dementia-Screening-Test ist eine verkürzte Form des DemTect (Kalbe 2002). Alle diese Tests sind in etwa 8 bis 10 Minuten durchführbar und belasten den Probanden nur geringfügig. Sie sind in ihrer Sensitivität etwas sensitiver für den Bereich der leichten kognitiven Störungen. Andererseits ergibt sich hieraus auch die Gefahr einer falsch positiven Diagnose. Screeningverfahren können insofern eine ausführliche testpsychologische und medizinische Untersuchung bei Demenzverdacht nicht ersetzen. Einen Überblick zu Screeningverfahren fi findet man auch bei Reischies (2005). Q Interviewverfahren zur Diagnose bzw. Differentialdiagnose von organischen Psychosyndromen: Verfahren dieser Gruppe bestehen meist aus einer Fragensammlung, die charakteristische klinische Merkmale einer bestimmten Diagnose (meist ICD-10 oder DSM-IV) erfassen. Sie beinhalten biografische fi Daten, Fragen zum Verlauf oder zur psychiatrischen und neurologischen Symptomatik der Erkrankung und verschiedene kognitive Aufgaben. Ziel dieser Verfahren ist eine Unterscheidung verschiedener Formen demenzieller Erkrankungen im Sinne einer Differentialdiagnose oder die Abgrenzung von Demenz und Depression. Da sie an bestimmten Merkmalskategorien orientiert sind, sind sie in ihrer Anwendung meist problemlos. Kritisch muss jedoch die Relevanz und Zuverlässigkeit solcher Skalen betrachtet werden. Andererseits ermöglichen solche Skalen doch eine Vermutungsdiagnose und sind insofern für weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen hilfreich. Das wichtigste Verfahren dieser Gruppe ist das SIDAM (Interviewverfahren zur Diagnose bzw. Differentialdiagnose der Demenz vom Alzheimertyp) (Zaudig und Hiller 1995). Das SIDAM besteht aus einem Fragebogenteil und einigen kognitiven Aufgaben. Es enthält sowohl einen MMSE als auch eine Skala für eine zerebrovaskuläre Gefährdung (Hachinski-Skala). Die Durchführung dauert jedoch bereits über 30 Minuten. Q Kognitive psychometrische Tests und Testbatterien: Vor allem in den letzten Jahren wurden vermehrt psychometrische Tests für geriatrische
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Probanden entwickelt. Es handelt sich hierbei meist um Verfahren, die an den Erkenntnissen experimentell psychologischer Forschung über den Alterungsprozess (Speed/Power-Funktionen) orientiert sind. Sie sind an Normpopulationen geeicht, entsprechen hinsichtlich Objektivität, Reliabilität und Validität den Ansprüchen psychometrischer Verfahren und liegen in mehreren Parallelformen vor. Sie ermöglichen eine sehr genaue Erfassung von Einzelfunktionen, sind in ihrer Durchführung jedoch meist aufwendiger und bei schwerer dementen Personen nicht mehr durchführbar. Ihr Einsatzbereich erstreckt sich auf eine Quantifizierung fi der kognitiven Leistungsfunktionen, die Abgrenzung pathologischer von normaler Alterung und die Evaluation von Therapiemaßnahmen. Weiters werden diese Verfahren oft auch als Grundlage für ein kognitives Training verwendet. Verfahren dieser Gruppe sind die Tests des „Nürnberger Alters-Inventars“ (Oswald und Fleischmann 1995), der Kurztest zur Erfassung von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen (SKT; Erzigkeit 1989) sowie die ADAS (Alzheimer’s Disease Assessment Scale (Rosen et al. 1984; dt.: Ihl und Weyer 1994). Ein weiteres, vor allem im Bereich der deutschsprachigen Memory-Kliniken verwendetes Verfahren ist die CERAD (Consortium to Estabish a Registry for Alzheimer’s Disease) (Morris et al. 1988; dt.: Thalmann und Monsch 1997), die derzeit weiter evaluiert wird und in der aktuellen deutschen Version vorliegt (CERAD 4) (Memory Cinic Basel 2002). Ein neuer Kurztest zur klinischen Gedächtnisprüfung ist die „ZehnWort-Merkliste“ (Reischies et al. 2000), die sich nach eigenen Erfahrungen gut in der Frühdiagnostik bewährt. Der Vorteil dieses Verfahrens gegenüber herkömmlichen Gedächtnisaufgaben besteht in der Kopplung der verbalen Speicherung mit einer bildlichen Vorstellung. Q Neuropsychologische Verfahren: Diese Tests sollen entweder im Rahmen einer Testbatterie eine eingehende Analyse psychischer Funktionen in ihrer gesamten Spannbreite ermöglichen (von der Psychomotorik bis zu den Denkprozessen) oder erfassen neuropsychologische Partialsyndrome, wie etwa Sprache oder Rechts-Links-Störungen u. dgl. Meist sind sie in ihrer Durchführung für demente Probanden zu aufwendig und langwierig oder erfassen neuropsychologische Symptome, die in der Demenzdiagnostik von untergeordneter Bedeutung sind. Probleme ergeben sich weiters fische Altersnormierung sowie nicht alauch durch die oft fehlende spezifi tersadäquate Aufgabenstellungen. Das einzige Verfahren, das derzeit Einzug in die Diagnostik bei älteren Menschen gefunden hat, ist der „UhrenTest“ in seinen verschiedenen Versionen (Monsh et al. 1997). Hierbei wird der Proband aufgefordert, eine Uhr mit einer bestimmten Uhrzeit zu zeichnen. In verschiedensten Untersuchungen hat sich der Uhrentest meist in Kombination mit der MMSE als sensitiv für die Früherfassung einer Demenz erwiesen. Q Depressions-Skalen: Depressive Symptome treten sowohl bei älteren Menschen als auch bei demenziellen Erkrankungen gehäuft auf. Insofern erscheint es also notwendig, depressive Erkrankungen von demenziellen
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G. Gatterer
Prozessen abzugrenzen, da für Erstere sowohl pharmakologische als auch psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Da Depressionen im Alter oft durch körperliche Symptome gekennzeichnet sind, ist die Abgrenzung zu solchen Krankheiten oft schwierig. Der Ausschluss einer affektiven Störung gehört deshalb zu einer wichtigen Aufgabe der Psychometrie im Rahmen der Diagnostik psychischer Störungen im höheren Lebensalter. Zu diesem Zweck stehen eine Anzahl unterschiedlich geeigneter Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen zur Verfügung, wie etwa im Bereich der Selbstbeurteilung das „Beck-Depressions-Inventar“ (Beck et al. 1961; Hautzinger et al. 1995), die Allgemeine Depressionsskala (Hautzinger und Bailer 1999) sowie als spezifi fisch für ältere Menschen entwickelte Selbstbeurteilungsskala die „Geriatric Depression Scale“ (Yesavage et al. 1983). Sie ermöglichen bei kognitiv wenig beeinträchtigen älteren Menschen eine relativ gute Abschätzung der Stimmungslage. Für die „Geriatric Depression Scale“ liegen auch Versionen für Personen mit Sehstörungen (Galaria et al. 2000) und Pfl flegeheimbewohner (Sutcliffe et al. 2000) vor. Einschränkend sind bei Selbstbeurteilungsskalen jedoch die Problematik der Lesbarkeit und Verständlichkeit, die Abhängigkeit der Fragen von den Diagnosesystemen und die Abgrenzung echter somatischer Beschwerden von psychischen Erkrankungen anzumerken. Als Fremdbeurteilungsskalen werden häufi fig die Hamilton-DepressionsSkala (Hamilton 1960) und der Cornell-Depressions-Fragebogen (Alexopoulos et al. 1988) eingesetzt. Diese ermöglichen auch bei Personen mit demenziellen Erkrankungen eine Einschätzung der Stimmungslage, sind aber hinsichtlich ihrer Messgenauigkeit und Gültigkeit unter Selbstbeurteilungsskalen anzusetzen. Weiters ergibt sich bei diesen Skalen die Abhängigkeit der Einstufung von der subjektiven Sicht des Beobachters, weshalb zur genaueren Analyse mehrere Beurteiler herangezogen werden sollten. Bei größeren Studien erscheint ein Ratertraining zur Objektivierung der Einstufung zielführend. Bei Selbstbeurteilungsskalen steigen die Durchführungsschwierigkeiten mit steigendem Alter an (Nowotny et al. 1990). Vor allem treten Verständnisschwierigkeiten, Probleme mit Antwortkategorien, Antworttendenzen und Probleme mit der Gestaltung des Testmaterials auf. Insofern sollten bei sehr alten Pobanden oder solchen mit demenziellen Erkrankungen Fremdbeurteilungsskalen vorgezogen werden. Unterscheidungsmerkmale zwischen Depression und Demenz stellen – die subjektiv stärker wahrgenommene kognitive Beeinträchtigung bei depressiven Patienten, – die heterogenere Leistung bei verschiedenen Testverfahren bzw. Testwiederholungen bei Depressionen, – die primäre Verlangsamung der Denkabläufe bei sonst besserem Leistungsniveau, – die Verbesserung der Testleistungen bei Depressiven im Verlauf der Untersuchung, findungsstörungen) bei Demenzen, – ausgeprägtere Sprachstörungen (Wortfi
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– die Leistungsunterschiede bei Wiedererkennens-Aufgaben („Ja-sageTendenz“ bei Demenzen) dar (siehe auch Fleischmann 2000). Q Skalen zur Erfassung von Angststörungen: Für die Diagnostik von Angststörungen bei älteren Menschen liegen derzeit noch keine altersspezifischen fi diagnostischen Verfahren vor. Epidemiologische Untersuchungen (Maercker 2000) zeigen jedoch, dass Angststörungen im Alter wesentlich verbreiteter sind, als ursprünglich angenommen. Angst tritt hierbei oft als Begleitsymptomatik bei körperlichen Krankheiten oder anderen psychischen Krankheiten auf. Für den Bereich des höheren Lebensalters können folgende Verfahren verwendet werden: Das Beck-Angstinventar (Beck et al. 1988; dt.: Margraf und Ehlers 2001) erfasst somatische, kognitive und verhaltensspezifi fische Manifestationen von Angst und ist für ältere Menschen normiert. Das State-Trait-Angstinventar (Spielberger et al. 1970; dt.: Laux et al. 1981) ermöglicht eine Erfassung von Zustandsangst und allgemeiner Angst. Auch hier liegen Normwerte für Personen über 60 Jahre vor. Weiters haben sich die „Self Rating Anxiety Scale“ (Zung 1971; dt.: in CIPS 1996), und die „Hamilton Anxiety Scale“ (CIPS 1996) bewährt. Q Skalen zur Erfassung der Lebensqualität älterer Menschen: Die Erfassung der Lebensqualität bei älteren Menschen ist durch das Fehlen eines spezifi fischen Konstruktes gekennzeichnet. Insofern erfassen Skalen zu diesem Bereich sehr unterschiedliche Faktoren, wie körperliche, soziale und emotionale Funktionen, subjektive Gesundheit und psychisches Wohlbefi finden, aber auch subjektives Altern. Hier wären entsprechende Verfahren aus dem Nürnberger Alters-Inventar (Oswald und Fleischmann 1995), die WHOQOL-100 und WHOQOL-BREF (Angermeyer et al. 2000) und die Skalen zur Lebensqualität (SEL; Averbeck 1997) auch für ältere Menschen geeignet. Q Skalen zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzen (BPSD; Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia): BPSD treten bei Patienten mit demenzieller Erkrankung im gesamten Verlauf mit einer Inzidenz von 90% auf. Hierbei stehen psychologisch/psychiatrische Symptome wie Verwirrtheit, Halluzinationen, Paranoia, Depression, Angst und Verkennungen, aber auch Verhaltensauffälligkeiten wie Aggression, Wandertrieb, Schlafstörungen, Essstörungen, dauerndes Fragen und Unruhe am Abend („shadowing“) im Vordergrund. Die im Bereich der deutschsprachigen Memory-Kliniken am häufi figsten verwendete Skala ist das NPI (Neuropsychiatric Inventory) (Cummings et al. 1994). Es erfasst einen Großteil obiger fi der Dauer und der Schwere. Eine Bereiche sowohl nach der Häufigkeit, ebenfalls gut operationalisierte Skala ist die „CERAD Behavior Rating Scale for Dementia“ (Tariot et al. 1995). Ebenfalls in Studien bewährt hat sich die „Behavioral Pathology in Alzheimer’s Disease Rating Scale (BEHAVE-AD) (Reisberg et al. 1987). Ein in letzter Zeit besonders beachteter Bereich ist die Erfassung eines Delirs. Hier wäre etwa die Neecham-Skala zur Erfassung von verwirrten Patienten (Stanga et al. 2002) als Beispiel zu nennen.
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Weitere Skalen sowie ein breiter Überblick über PBSD finden fi sich in Finkel et al. (2000). Q Computerunterstütztes Testen: Computerunterstützte Testverfahren haben sich bisher im Bereich der klinisch-psychologischen Diagnostik im höheren Lebensalter noch nicht richtig durchgesetzt. Eine Ursache ist einerseits im relativ hohen finanziellen Aufwand beim Ankauf dieser Testbatterien zu sehen als auch in den Vorbehalten von Psychologen, diese Tests bei älteren Menschen einzusetzen. Eigene Erfahrungen zeigen, dass bei ausreichend großen Bildschirmen, einer altersgerechten Bedienung (touchscreen), nur leichten kognitiven Beeinträchtigungen und der Anwesenheit des Psychologen beim Testen auch ältere Menschen computerunterstützt testbar sind. Der Vorteil liegt in der schnellen Auswertung, der Möglichkeit, adaptiv zu testen, und einer lebensnaheren Testsituation. Testbatterien fi finden sich etwa bei Schuhfried und bei Hogrefe. Eine Testbatterie für leichte kognitive Beeinträchtigungen ist der Crook-Test (Crook et al. 1992). Flussdiagramm psychometrischer Demenzdiagnostik Aufbauend auf eigenen praktischen Erfahrungen (Gatterer 1997) sowie den bei Oswald und Fleischmann (1995) und Fischer et al. (1993) dargestellten Leitfäden, ergeben sich folgende praxisorientierte Grundüberlegungen bei der psychometrischen Diagnostik im höheren Lebensalter: fizienten psychometrischen Untersuchung ist die 1. Als Grundlage einer effi Defi finition einer möglichst konkreten Fragestellung notwendig. Dies können etwa der ärztliche Verdacht auf eine Demenz, differentialdiagnostische Überlegungen, die Frage hinsichtlich Entlassungsfähigkeit und Selbstständigkeit oder eine Verlaufsdokumentation sein. Dadurch können die Belastungen für einen Patienten möglichst gering gehalten werden. 2. Als zweiter Schritt, und um den Untersuchten auch besser kennenzulernen, erfolgt die Erhebung wesentlicher Hintergrundinformationen. Dies beinhaltet eine Anamnese, wenn möglich auch eine Fremdanamnese, aber auch Informationen über den gesundheitlichen Zustand des Patienten, seine Belastbarkeit und die eine psychometrische Untersuchung erschwerenden Faktoren. Vor allem sollten die Sehfähigkeit, das Gehör, die Graphomotorik, die derzeitige Medikation (dämpfende Psychopharmaka) und eventuelle aktuelle Ereignisse (Schlafstörungen, Unruhe, soziale Belastungen, …) berücksichtigt werden. 3. Dann erst erfolgt die Auswahl der für diese Fragestellung adäquaten psychometrischen Verfahren. Aufbauend auf Punkt (1) werden jene Verfahren ausgewählt, die die Fragestellung und die damit in Zusammenhang stehenden Leistungen möglichst genau, rasch und praxisrelevant erfassen. Hier stehen Fragen wie Sensitivität der Tests, Screening oder genaue Abklärung eines kognitiven Abbaues bzw. die Notwendigkeit von Folgeuntersuchungen im Vordergrund der Überlegungen.
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4. Da oft mehrere Verfahren die Beantwortung einer Fragestellung ermöglichen, jedoch nicht für jeden Patienten geeignet sind, erfolgt zuletzt die Spezifi fizierung und Auswahl der Verfahren entsprechend der körperlichen (Sehen, Hören, Motorik) und psychischen (Belastbarkeit, psychischer Zustand des Patienten) Voraussetzungen des Patienten. Um eine „Fehldiagnose“ infolge Nichtbeachtung der in (2) erhobenen Informationen zu vermeiden, sollten hier jene Verfahren aus der Fülle der Möglichkeiten ausgewählt werden, die die gestellte Fragestellung möglichst unabhängig von intervenierenden Faktoren (z. B. Gesundheitszustand) beantworten helfen. Dies wären etwa bei einem Patienten mit schlechtem körperlichem Allgemeinzustand eher kürzere Einzelverfahren und Fremdbeurteilungsskalen oder bei einem Patienten mit Sprachstörung nach einem Schlaganfall die Auswahl von nicht verbalen Tests. 5. Da Tests nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtverhalten eines Menschen abbilden können, sollte die Untersuchung durch andere Ergebnisse (Vorbefunde, Verhaltensbeobachtung, medizinische Befunde, …), durch Einbeziehung verschiedener Datenquellen (Untersuchung des Patienten/Befragung des Arztes, der Pfl flegeperson oder eines Angehörigen) und verschiedene Datenebenen (kognitive Leistung/Verhalten/Erleben) ergänzt werden. So bewährt es sich etwa, den mittels MMSE erhobenen Demenzgrad durch ein Fremdrating, z. B. Reisbergskalen, zu überprüfen. 6. Grundsätzlich hat sich der Einsatz mehrerer kürzerer, den speziellen Fragestellungen angepasster Testverfahren besser bewährt als eine fi fixe „Testbatterie“. Ebenso wäre es günstig, die „Zielsymptome“ möglichst breit (z. B. mindestens ein geschwindigkeitsorientiertes Verfahren und einen Gedächtnistest; sprachlich und sprachfrei) zu erfassen.
Demenzdiagnostik Als Standardverfahren zum Screening von Demenzerkrankungen können der Mini-Mental-Test und der Uhrentest angesehen werden. Diese sind bei der Frühdiagnostik jedoch zu wenig sensitiv. Ein im deutschsprachigen Raum verbreitetes Verfahren ist CERAD, welches auch für die Frühdiagnostik eingesetzt werden kann, aber deutlich mehr Zeit beansprucht. Psychometrische Untersuchungsverfahren sind heute integraler Bestandteil einer ausführlichen Demenzdiagnostik. Sie ergänzen, verifi fizieren oder ermöglichen erst eine medizinisch-psychiatrische Befunderhebung durch die Erfassung metrischer Daten über umschriebene Funktionsbereiche. Grundsätzlich vollzieht sich die klinische Diagnose der Demenz in mehreren Schritten: Q Syndromdiagnose, etwa nach ICD-10-Kriterien, Q Anamnese und Fremdanamnese, Q Verlauf,
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Q Q Q Q Q Q
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klinischer Status, Labordiagnostik, psychiatrischer Status, neurologischer Status, psychometrische Untersuchung, apparative Untersuchung.
So sind etwa psychometrische Untersuchungen auch fixer Bestandteil der NINCDS-ADRDA-Kriterien (McKhann et al. 1984) für eine Alzheimersche Demenz. Ausgehend von verschiedenen Demenzdefi finitionen, ergeben sich auch unterschiedliche psychodiagnostische Überlegungen und darauf aufbauende Verfahren. Die Gültigkeit der entsprechenden Tests bezieht sich deshalb nur auf das zugrunde liegende Krankheitskonzept. Q Der „klassisch-phänomenologische“ Ansatz (Gräßel 1993) orientiert sich am Begriff der „Hirnerkrankung“ und des „Intelligenzdefektes“ (Huber 1987) und führt zur Erstellung von Kriterienlisten – z. B. aus dem DSM-IV (Wittchen et al. 1998), in denen Störungen, wie Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, des abstrakten Denkens, des Urteilsvermögens, sowie Defi fizite, wie Aphasie, Apraxie, etc., aufgeführt sind. Auf eine Demenz ist nach diesem Diagnoseschema zu schließen, wenn mehrere dieser mental-mnestischen Fähigkeiten in einem relativen Ausmaß eingeschränkt sind und wenn differentialdiagnostisch die Annahme einer organischen Ursache der Störung begründet ist. Die Umsetzung dieser Vorgaben führte zur Entwicklung globaler psychodiagnostischer Verfahren zur Erfassung einer Demenz, wie etwa dem Mini-MentalState (Folstein et al. 1975) oder dem SIDAM (Zaudig und Hiller 1995). Tests dieses Bereiches defi finieren relativ sicher eine Demenz, sind aber für den Bereich der Frühdiagnostik zu wenig sensitiv. Oft werden deshalb zur Erhöhung der Sensitivität die Grenzwerte „verschärft“. So wird etwa im Bereich der Frühdiagnostik einer Demenz bzw. einer leichten kognitiven Beeinträchtigung ein MMSE-Wert von < 27 herangezogen. Q Der „moderne basisorientierte“ Ansatz (Gräßel 1993) geht auf eine in der angloamerikanischen Literatur vorgestellte Modifikation fi des Demenzbegriffes zurück. Hierbei wird folgende Demenzdefinition fi vorgeschlagen (Karp et al. 1987): „Dementia is a deterioration or loss of intellectual ability characterized by impairment of memory and of other cognitive functions to a level below the person’s previous mental capacity“. Der Unterschied besteht also primär im Ausmaß der mentalen Leistungseinschränkung. Während die klassische Demenzdefinition fi eine absolute Minderung meint, stellt der basisorientierte Ansatz eine relative Minderung des Umfangs intellektueller Fähigkeiten, im Vergleich zum ursprünglichen mentalen Leistungsniveau des Betroffenen, in den Vordergrund. Demnach ist eine Demenz umso ausgeprägter, je größer die relative Leistungsminderung ist. Eine Beurteilung der Demenz erfordert nach dieser Defi finition somit eine Erfassung des „prämorbiden“ und „aktuellen“ geistigen Leistungsniveaus. Einen psychometrischen Zu-
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gang zu dieser Demenzdefi finition stellt die Kombination Mehrfach-Wortschatz-Intelligenztest („prämorbide geistige Leistungsfähigkeit“) und Kurztest für Allgemeine Intelligenz („aktuelles geistiges Leistungsniveau“) dar (Lehrl 1989; Lehrl et al. 1991). Q Einen „multidimensionalen“ Ansatz der Demenzdiagnostik stellt etwa das NAI (Oswald und Fleischmann 1995) dar. Pathologische und unauffällige Leistungsveränderungen werden hierbei mit denselben psychometrischen Einzeltests erfasst. Histopathologisches Altern wird damit leistungspsychologisch-quantitativ von unauffälligen Veränderungen unterschieden. Inhaltlich hebt sich diese Form der Demenzdiagnostik von anderen primär durch eine besondere Akzentuierung der kognitiven Tempoleistung und der Einbeziehung verschiedener Daten (kognitive Leistung, Alltagsaktivitäten, Befi findlichkeit) ab. Die Differenzierung unauffälliger von pathologischen Altersverläufen erfolgt hierbei durch besonders niedrige Leistungsscores, wobei nach Angaben der Autoren die hierfür verwendeten Testparameter unabhängig von der Schwere der Defi fizite und der pathogenetischen Diagnose der Patienten eine nachgewiesene identische Leistungsfunktion erfassen. Q Der „Testing-the-Limits“-Ansatz in der Demenz-Diagnostik: Die Strategie des „Testing-the-Limits“-Ansatzes besteht in einer einfachen Wiederholung eines Tests, der Wiederholung mit systematischer Variation der Testbedingungen oder der Testwiederholung mit zwischengeschalteten Trainingsprogrammen (Kühl und Baltes 1988). Dieser Ansatz bietet sich aus zwei Gründen als Alternative für eine sensitive Demenzdiagnostik an. Der erste Grund ist, dass über ein „Testing-the-Limits“ von kognitiven Potenzialen (Restkapazität, Plastizität) interindividuelle Differenzen leichter, sensibler und zuverlässiger zu erfassen sind als mit einer rein statusorientierten Einmaltestung. Der zweite Grund besteht in der Annahme, dass hirnorganisch bedingte kognitive Funktionsminderungen bereits sehr frühzeitig durch eine reduzierte Modifizierbarkeit fi der Leistungen und enger gezogene Leistungsgrenzen charakterisiert werden können. Fehlende oder reduzierte kognitive Plastizität sei somit ein wichtiges Kriterium für die Früherkennung von Demenzen. Guthke und Adler (1990) stellten fest, dass durch die Wiederholung von Gedächtnis- und Konzentrationstests eine Gruppe Gesunder besser von einer Gruppe mit leichtem hirnorganischem Psychosyndrom zu trennen war als mit einer herkömmlichen Einmaltestung. Dieser Unterschied war jedoch nicht sehr ausgeprägt. Verfahren, die diese Bereiche stärker messen, sind der DemTect (Kessler et al. 2000) und der TFDD (Ihl et al. 2000). Der Bereich der Demenzfrühdiagnostik stellt in dieser Hinsicht eine spezielle Problematik dar. Gilt es doch, Verfahren auszuwählen, die einerseits sensitiv für Abbauprozesse sind, andererseits jedoch eine geringe Wahrscheinlichkeit für „Fehldiagnosen“ aufweisen. Weiters ist gerade in diesem Bereich die Kooperation von Medizin, Psychologie, Pflege, fl Angehörigen und anderen Betreuungspersonen besonders wichtig. Insofern ergibt sich für diesen Bereich folgendes psychometrisches Teststufenschema (die Ein-
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beziehung medizinischer und anderer Daten ist zu verschiedenen Zeitpunkten möglich): 1. Fragestellung: Verdachtsdiagnose Demenz (Frühdiagnose) / Ausschluss einer Pseudodemenz / Differentialdiagnose der Demenzformen
È 2. Anamnese, Hintergrundinformationen, Verlauf, eventuell Fremdanamnese, medizinische Befunde
È Testerschwerende Faktoren vorhanden?
Æ
ja
Æ
4. Test entsprechend anpassen (z. B. Motorik, kürzere È Verfahren, Fremdrating, nein verbale oder sprachfreie Verfahren, …) È Bsp.: AKT, Reisberg-Skalen, 3. Psychometrische Überprüfung Demenz: Rapid-Dementia-Screening Unterschreitung von Cut-off-Werten in Ë Screening-Verfahren (Uhren-Test, MMSE, ausgewählte Tests aus dem NAI (ZVT-G, LT-G, …) oder CERAD; ADAS oder SIDAM als Gesamttest
È Demenzdiagnose bestätigt
Æ nein Æ
È ja
È Abklärung Depression: a) Depressions-FremdbeurteilungsSkalen HAMD oder spezielle Ratings zur Abgrenzung von Demenz und Depression, z. B. BAI b) Eventuell weitere psychometrische Tests zur genaueren Abklärung (Selbstständigkeit, Aufdecken von kognitiven Ressourcen, …) c) Differentialdiagnose vaskuläre vs. primär degenerative Demenz: Hachinski-Score nach Rosen bzw. Skalen für spezielle Demenzformen
È Verlaufsdiagnostik nach drei Monaten.
a) Abklärung Depression: Depressions-Selbstbeurteilungsskalen (z. B. geriatrische Depressionsskala) b) Genauere psychometrische Untersuchung (sensitivere Tests zur Identifikation fi leichter Störungen), z. B. Computer-Tests wie Testing-the-Limits,… c) Weitere medizinische Abklärung, Laborbefunde, CT, Neurologie, Psychiatrie
È
È
leichte Depression kognitive Beeinträchtigung
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Die Befunderstellung sollte am sinnvollsten multiprofessionell erfolgen, wobei die Ergebnisse der verschiedenen Fachdisziplinen einfließen. fl Eine spezielle Problematik stellt die Erfassung einer so genannten „leichten kognitiven Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment)“ dar. Hierunter wird eine Störung verstanden, die noch nicht die Kriterien einer Demenz aufweist, jedoch bereits Beeinträchtigungen im sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich aufweist (Stoppe 2002). Folgende Überlegungen sollen helfen, das für diesen Bereich optimalste Verfahren auszuwählen: Q Geschwindigkeitsorientierte Verfahren ermöglichen eine sehr sensitive Diagnostik. Die Leistungen depressiver Patienten sind jedoch ebenfalls vermindert. Q Die Herabsetzung von „Cut-off“-Scores verbessert die Sensitivität (z. B. MMSE), jedoch sind viele Verfahren hierfür nicht normiert. Insofern sollte eine Folgeuntersuchung in etwa 3 Monaten bei Demenzverdacht erfolgen. Q Die Kombination von Verfahren (z. B. Uhren-Test, MMSE) erhöht die Sicherheit der Diagnose, wenn unterschiedliche kognitive Bereiche erfasst werden. Q Neue, für diesen Bereich entwickelte Testverfahren sind meist effizifi enter. Q Screeningverfahren können erste Hinweise auf einen Abbauprozess geben, sollten jedoch eine ausführliche psychometrische Untersuchung nicht ersetzen. Q Die Auswahl der Testverfahren sollte unter Berücksichtigung der Praktikabilität und klinischen Relevanz für den Alltag des Betroffenen erfolgen. Einen neuen Ansatz, die Diagnostik von leichter kognitiven Beeinträchtigungen bzw. die Risikoabschätzung für eine Demenz zu verbessern, stellt Chertkow (2001) vor. Im Rahmen einer prospektiven Studie über 39 Monate konnte er folgende Risikofaktoren erheben: Risikofaktor
Prozentuelles Risiko für MCI
Normales Risiko Beginn Gedächtnisstörung im Alter > 77 und MMSE-Wert < 28 und zeitliche Desorientiertheit und/oder Fehler im Uhren-Test
6% 48% 57% 100%
Weiters gibt der Autor an, dass diese Zuordnung durch weitere Testverfahren und Magnetresonanzbefunde verbessert werden kann.
fi psychologische Fragestellungen Spezifische Im Rahmen der klinisch-psychologischen Untersuchungen kommt es immer wieder zu spezifischen fi Fragestellungen. Hierzu gehören die Frage hinsichtlich der Rehabilitationsfähigkeit im Rahmen des Geriatrischen Assessments,
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die Frage der Fahrtauglichkeit bei Demenzerkrankung und differentialdiagnostische Aspekte. Psychologische Tests können hier ergänzend zu anderen Untersuchungen verwendet werden und erleichtern damit Entscheidungen. Q Geriatrisches Assessment: Im Rahmen des Geriatrischen Assessments, etwa in Akutgeriatrien, kommen vor allem Tests zur Abklärung von Demenzerkrankungen, Befi findlichkeitstests und Selbstständigkeitstests zum Einsatz. So umfasst das Österreichische Geriatrische Basisassessment (Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, 2005) folgende Testverfahren: Barthel-Index, FIM, IADL nach Lawton und Brody, OARS-5-IADL, Mini Nutritional Assessment, Questionnaire for Initial Nutritional Screening, Aufsteh-Test, Timed-Get-Up-and-Go-Test, Mobilitätstest nach Tinetti, Tandem-Stand, Tandem Walk Performance, 10 Meter Walking-Test, 6 Minuten Walking-Test, TFDD, Uhrentest, MMSE, geriatrische Depressionsskala, Depression Status Inventory. Mittels dieser Verfahren werden etwa Fragen, wie Aufnahme in ein Pflegefl heim, Rehabilitationspotenzial, Entlassungsfähigkeit, etc., geklärt. Q Fahrtauglichkeit im Alter: Dieses Thema wird immer wieder kritisch aufgegriffen. Eine klare Aussage kann jedoch nicht so einfach getroffen werden. Einerseits steigen Demenzerkrankungen im Alter ab 75 Jahren an, anderseits stellt das Auto für viele ältere Menschen eine Erleichterung der Mobilität dar. Neben der Abklärung somatischer Aspekte (Sehfähigkeit, Hören, Medikamente, Krankheiten, etc.) kommt auch hier der testpsychologischen Untersuchung eine wesentliche Bedeutung zu. Dabei geht es aber nicht nur um die klassischen Tests zur Erfassung der Fahrleistung, sondern vor allem um die Klärung der Frage, ab welchem Demenzgrad eine Gefährdung anzunehmen ist. Eine interessante Publikation stammt hierbei von Mix et al. (2004). Sie fassten die Ergebnisse anderer Untersuchungen und eigene Erfahrungen sowie die Ergebnisse einer Konsensuskonferenz zusammen und meinten, dass bei mittelgradiger und schwerer Demenz die Fahreignung nicht mehr gegeben sein. Bei fraglicher und leichter Demenz sei eine eingehende Beratung und eine Beobachtung des weiteren Krankheitsverlaufes notwendig und die Fahreignung nur bei ausreichender Kritikfähigkeit gegeben. Insofern kommt nach dieser Sicht der „psychologischen Begleitung“ älterer Autofahrer eine wesentliche Bedeutung zu. Q Differentialdiagnostik demenzieller Erkrankungen: Psychologische Tests können auch Hinweise auf die Art demenzieller Erkrankungen geben. So weisen etwa Personen mit Alzheimerscher Demenz ein homogeneres Testprofi fil auf als Patienten mit vaskulärer Demenz. Depressionen werden meist im Verlauf der Testung besser, werden aber nicht wahrgenommen. Menschen mit alkoholinduzierter Demenz haben am Anfang der Erkrankung oft Probleme im mittelfristigen Gedächtnis bei sonst relativ guten kognitiven Leistungen und lebenspraktischen Fertigkeiten. Weitere Informationen fi finden sich in Gatterer und Croy (2005).
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4 Klinisch psychologische/psychotherapeutische Behandlung Die klinisch-psychologische Behandlung erstreckt sich auf gezielte Programme zum Erhalten der kognitiven Leistungsfähigkeit bzw. deren Verbesserung, Informationen zum Alternsprozess, aber auch Gespräche zur Bewältigung von Krisen und Krankheiten. Klinisch-psychologische Maßnahmen sollten sowohl bereits im Bereich der Prävention von Störungsbildern (Gerontoprophylaxe), deren Behandlung (Rehabilitation im engeren Sinn) als auch im Management funktioneller Restzustände (Behandlung nicht reversibler Störungsbilder) ansetzen. Im Vordergrund steht hierbei der Aufbau von Kompetenz in den verschiedensten Lebensbereichen durch das Aufdecken und Nützen von Ressourcen beim Betroffenen. Wichtig ist hierbei jedoch nicht nur das objektive Ausmaß an Fertigkeiten (körperlich, psychisch, kognitiv, sozial), sondern deren subjektive Bewertung. Erst dadurch wird eine Reaktivierung dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten durch ein gezieltes Fördern, Neueinüben und Trainieren möglich. Generell muss jedoch festgehalten werdend, dass das Altern selbst nicht als pathologischer Prozess eingestuft werden kann. Die zu diesem Bereich beschriebenen Ansätze sind sehr heterogen und lassen sich grob folgenden Modellen zuordnen (Gatterer 1998, 2001; Romero 1992). Q Neuropsychologische Ansätze im engeren Sinn zielen auf ein direktes Üben der beeinträchtigten Fähigkeiten ab. Hierunter fallen (Fleischmann 1993): – Trainingsprogramme zum regelmäßigen Üben von Basisleistungen der Informationsaufnahme- und verarbeitung, z. B. Gedächtnistraining aus dem SIMA-Projekt (Oswald und Rödel 1995), Gehirn-Jogging von Lehrl und Fischer (1989), Konzentrationstraining von Rigling (1988), Nimm dir Zeit für Oma und Opa (Gatterer und Croy 2000, 2001) oder Realitäts-Orientierungs-Trainingsmaßnahmen (Rasehorn 1990) bzw. computerunterstützte Trainingsprogramme (REHACOM, COGPACK); – Übungen zur Vermittlung von verhaltensorientiertem Gedächtniswissen und -strategien oder Übungen zum Transfer von Strategien in den Alltag. Hierzu gehören etwa das spielerische Gedächtnistraining von Stengel (1982, 1989), das Nürnberger-Alten-Förderungsprogramm (Fleischmann 1983) oder auch das Kompetenztraining aus dem SIMA-Projekt (Oswald und Gunzelmann 1995); – Angebote im „Vorfeld“ von Gedächtnisleistungen. Sie beinhalten kognitive Programme zur Neubewertung von Situationen, Entspannungstechniken oder auch Maßnahmen zur Verbesserung der Befindlichkeit (Knopf 1993). fi Q Psychosoziale Ansätze, bei denen die Umgebung den kranken älteren Menschen so angepasst werden soll, dass diese ihre noch vorhandenen Fähigkeiten gut entfalten können. Durch den regelmäßigen Einsatz die-
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ser Fähigkeiten sollen vermeidbare oder weitere Beeinträchtigungen verhindert oder ein bereits bestehender Abbau verlangsamt werden. Hierunter fallen Aktivierungsprogramme, Milieutherapie, Remotivation, Resozialisierung, Resensibilisierung und Revitalisierung (Gatterer et al. 1996; Gatterer 1996). Im Bereich der Prävention von pathologischen Abbauerscheinungen bzw. der Förderung eines positiven Alterns sind Beratung und Aufklärung über Alternsveränderungen (körperlich, psychisch, sozial, ökologisch), der Aufbau und das Fördern von sozialen Kontakten sowie verschiedene andere präventive Maßnahmen zielführend. Q Psychotherapeutische Ansätze als unterstützende Maßnahmen (siehe auch Abschnitt in diesem Buch), die durch gezielte Gespräche darauf abzielen, dem Kranken und auch seinen Angehörigen emotionale Unterstützung zur besseren Krankheitsbewältigung anzubieten. Besonders bewährt haben sich in dieser Hinsicht verhaltenstherapeutische Maßnahmen (Ehrhard und Plattner 1999), Gesprächspsychotherapie, psychoanalytische Kurztherapien (Radebold 1992), aber auch Validation (Feil 1982, 1990), jedoch sind auch alle anderen Psychotherapiemethoden nach entsprechender Anpassung für ältere Menschen geeignet. Wesentlich erscheint die Berücksichtigung der Indikation der klinisch-psychologischen Maßnahmen. Prinzipiell können diese auf die Bereiche Prävention von Abbausyndromen, Rehabilitation im engeren Sinn und Management funktionaler Restzustände reduziert werden. Damit verbunden ist die Berücksichtigung des Schweregrades der „Schädigung“ und der vorhandenen Ressourcen des Betroffenen. Q So beziehen sich präventive Maßnahmen zur Verhinderung von Störungen im Alter auf maximal sehr leichte Störungsbilder bzw. geistig aktiv gealterte Menschen. Sie sind meist verbal orientiert, betreffen ein gezieltes Training der gefährdeten Funktionen (meist „Speed-Funktionen“, Gedächtnis und Flexibilität der Denkabläufe) bzw. deren Einsatz im Alltag und haben das Ziel, Abbausyndrome zu verhindern und Kompetenz zu erhalten. Wesentlich ist in diesem Bereich eine gezielte Beratung. Q Rehabilitative Maßnahmen im engeren Sinn betreffen in erster Linie leichte bis mittelgradige Störungsbilder. Eine völlige Restitution (Wiederherstellung der psychischen Funktion) ist jedoch im Alter nur selten möglich. Im Vordergrund der klinisch-psychologischen Therapie stehen deshalb Kompensationsmechanismen (teilweise Übernahme durch andere psychische Funktionen), Substitution durch den Einsatz von Hilfsmitteln und adaptive Maßnahmen zur besseren Anpassung der Umwelt. Auch hier stehen meist verbal orientierte, aufbauende Trainingsprogramme im Vordergrund, wobei in vielen Bereichen bereits nonverbale Unterstützung und emotionale, kreative therapeutische Maßnahmen zur Motivation notwendig sind. Ziel ist, eine Reintegration in die ursprüngliche Wohnsituation oder eine angepasste Umwelt zu erreichen. Lebensqualität steht hier oft vor Funktionalität. Gerade in diesem Bereich ist
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die Kooperation des Psychologen mit anderen Fachdisziplinen besonders wichtig. Q Bei schweren und schwersten Störungsbildern (z. B. schwere Demenzen) steht das multiprofessionelle Management funktionaler Restzustände im Vordergrund. Ziel ist eine möglichst hohe Lebensqualität durch das Nützen noch vorhandener Ressourcen bzw. von vorhandenen Automatismen. Verbale, übende therapeutische Maßnahmen werden hierbei von kreativen Therapien (Musiktherapie, Kunsttherapie, …) abgelöst. Auch basale Stimulation kann die noch vorhandenen sensorischen Mechanismen stimulieren und eine Besserung bewirken. Im Folgenden sollen diese Maßnahmen exemplarisch und mittels praktischer Beispiele kurz dargestellt werden. Eine ausführliche Übersicht über den Einsatz solcher Techniken im stationären und ambulanten Bereich findet sich etwa in Gatterer (2001), Gatterer und Jenny (2000) und Gatterer fi et al. (2006).
Neuropsychologische Ansätze Trainingsprogramme zum regelmäßigen Üben von Basisleistungen der Informationsaufnahme und -verarbeitung Diese Trainingsprogramme beinhalten gezielte Übungen für das Gedächtnis, die Konzentration, die Aufmerksamkeit und damit verbundenes Grundwissen, z. B. über die Funktion des Gedächtnisses. Aufgaben zu diesem Bereich wären etwa das Durchstreichen von bestimmten Zeichen, Buchfi nicht passender Worte (z. B. Anis – staben oder Ziffern, das Herausfinden Curry – Kümmel – Hagebutte – Muskatnuss) oder auch das Aufzählen von Worten mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben. Am besten standardisiert ist in dieser Hinsicht das Gedächtnistraining aus dem SIMA-Projekt (Oswald und Rödel 1995; Oswald 2005), da hierbei Q regelmäßig und standardisiert kognitive Grundfunktionen geübt werden; Q durch spezielle Wahrnehmungsübungen die Bedeutung der einzelnen Sinne für Gedächtnisleistungen bewusst gemacht wird; Q beim Lernen meist mehrere Sinneskanäle angesprochen werden; Q Lerntechniken, Einprägungsstrategien und Gedächtnishilfen eintrainiert werden; Q Informations- und Übungsmaterialien für Hausaufgaben zur Verfügung gestellt werden. Dieses Programm ist in erster Linie für geistig noch rüstige ältere Menschen gedacht, jedoch kann es leicht modifiziert fi auch bei demenziell Erkrankten eingesetzt werden (Gstättner und Gatterer 1998). Ergebnisse der SIMAArbeitsgruppe (Oswald et al. 2001) zeigen, dass durch die Kombination eines Gedächtnistrainings mit einem Psychomotoriktraining (Eisenberger fi gesteigert werden kann. Dieses Programm gibt es auch 2002) die Effizienz als PC-Version.
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Einen etwas spielerischen Zugang bietet das Programm „Nimm dir Zeit für Oma und Opa“ (Gatterer und Croy 2000; Geistig fit ins Alter 2001; Geistig fit ins Alter 2 2004), bei dem diese Basisfunktionen auch bei stärker beeinträchtigten Personen trainiert werden. Das neue Programm ist durch einen adaptiven Zugang und eine individuell dem entsprechenden geistigen Niveau angepasste Gestaltung charakterisiert und eignet sich sowohl für geistig rüstige als auch abgebaute Personen. Es gibt auch eine eigene PC-Version. In einem speziellen Abschnitt werden auch spezifische fi Trainings- und Aktivitätsmöglichkeiten für Personen mit Alzheimerscher Demenz besprochen. Das folgende Beispiel ist an die Übungen aus Croy und Gatterer angelehnt (Abb. 1). Im Bild sind viele Figuren überdeckend. Es sind genau 16. Versuchen Sie, diese zu finden und möglichst rasch zu benennen. Ebenfalls eher für den Bereich der leichten kognitiven Störung bzw. zur Prävention kognitiver Störungen im höheren Lebensalter sind computerunterstützte Trainingsprogramme geeignet. Hier wären etwa die Programme von Schuhfried (Rehacom 2000), Marker Software (Cogpack 1997) und Rigling (1988) bzw. die im Softwarekatalog des Kuratoriums ZNS (1997) angeführten Verfahren zu erwähnen. Speziell für den Einsatz in Heimen, aber auch zu Hause wurden die Produkte der Firma Plejaden entwickelt.
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Diese bieten sowohl Online-Angebote für Gedächtnistraining, aber auch psychosoziale Bereiche, z. B. Biografiearbeit. fi Sie funktionieren mit TouchScreen und sind insofern für ältere Menschen leicht anwendbar (www. plejaden.net.com). Bei Personen mit einem stärkeren kognitiven Abbauprozess sollte ein so genanntes Realitäts-Orientierungs-Training (Folsom et al. 1968) durchgeführt werden. Dieses erfolgt entweder in einem Gruppensetting (3–5mal pro Woche) oder im Sinne eines 24-Stunden-Realitäts-OrientierungsTrainings bei jedem Kontakt und jeder Interaktion mit dem Patienten. Hierbei werden sowohl Basisfertigkeiten als auch Aktivitäten des täglichen Lebens eingeübt. Weiters dient ein solches Training der sozialen Interaktion. Übungen zur Vermittlung von verhaltensorientiertem Gedächtniswissen und -strategien oder Übungen zum Transfer von Strategien in den Alltag Das bekannteste Trainingsverfahren dieser Gruppe stellt sicher das spielerische Gedächtnistraining von Stengel (1982, 1989) sowie darauf aufbauende Programme dar. In fröhlicher Spielatmosphäre werden hierbei verschiedenste kognitive Bereiche trainiert. Die Aufgaben ähneln denen der reinen Trainingsprogramme, die Durchführung erfolgt jedoch auf einer weniger leistungsorientierten Ebene. Weiters sind die in diesem Training durchgeführten Übungen oft von größerer Alltagsrelevanz und Bekanntheit, sodass zusätzlich zum reinen kognitiven Training ein stark soziales und kommunikatives Element vorherrscht. Ein praxisrelevantes Programm für ein Gedächtnistraining für Seniorengruppen ist jenes von Tanklage (2001). Für Personen mit leichten Gedächtnisstörungen im Rahmen einer Memory Klinik wurde das „multimodale, themenzentrierte Gedächtnistraining durch das ganze Jahr“ (Schmid 2000) entwickelt. Ein Training für den Bereich der Alltagskompetenz ist das Kompetenztraining aus dem SIMA-Projekt (Oswald und Gunzelmann 1995). Die hierin enthaltenen Aufgaben und Informationen sollen dem älteren Menschen die Auseinandersetzung mit Alltagsproblemen erleichtern. Angesprochen werden die Bereiche Veränderungen im Alter, Ernährung im Alter, technische Hilfsmittel im Haushalt, Wohnen im Alter, Problemlösen, Pfl flegebedürftigkeit, Krankheitsbewältigung, Medikamente, soziales Netzwerk, soziale Fähigkeiten, menschenwürdiges Sterben, Trauer sowie verschiedenste Informationen über soziale Hilfen. Das Programm richtet sich im Sinne einer Geroprophylaxe an weitgehend rüstige Personen, um diesen ein erfüllteres und selbstständigeres Altern zu ermöglichen. Angebote im „Vorfeld“ von Gedächtnisleistungen Die in diesem Abschnitt zusammengefassten Angebote für Senioren beinhalten verschiedenste Maßnahmen der Altenförderung, die nicht direkt ein Training bestimmter kognitiver Leistungen oder Fähigkeiten beinhalten,
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jedoch mit diesen indirekt verbunden sind. Hierzu zählen Entspannungstechniken, verschiedenste Volkshochschulkurse, aber auch Seniorenreisen zur Weiterbildung und Seniorenstudium. Gerade solchen Maßnahmen sollte im Sinne einer Alternsvorbereitung vermehrt Augenmerk geschenkt werden, da dadurch Vereinsamung, Isolation und Abbau durch mangelnde Stimulation vorgebeugt werden kann. Ein sehr spannendes und interessantes Buch stellt hierbei Martin Oberhausers „Abenteuer Gedächtnis“ (2000) dar, welches in Form eines Krimis einen spielerischen Zugang zu einem Gedächtnistraining bietet. Ebenfalls zu dieser Gruppe kann das Psychomotoriktraining aus dem SIMA-Projekt (Baumann und Leye 1995) gezählt werden. Psychosoziale Ansätze Klinisch-psychologische Beratung bei Alternsfragen stellt einen wesentlichen Aspekt der Prävention von Störungsbildern dar. In Kooperation mit anderen Berufsgruppen (Medizin, Pflege, fl Sozialarbeit, …) werden hierbei Themen wie Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
biologische Alternsveränderungen, psychologische Alternsveränderungen, soziale Faktoren des Alterns, Ernährung, Vorbereitung auf den Ruhestand, Gesundheit und Fitness, Verarbeitung von Krankheiten, Hilfen im Alter, Sexualität und Partnerschaft, Wohnen, Tod und Sterben, etc.
besprochen. Einen guten Überblick und praktische Anleitungen fi findet man in Selby (1988) und Folkes und Gatterer (2006). fi gewählte Form der StimuAktivierungsprogramme sind eine sehr häufig lierung und des geistigen Trainings beim älteren Menschen. Zur unspezifischen Aktivierung können verschiedenste Spiele und Tätigkeiten heranfi gezogen werden. Um jedoch einen Trainingseffekt zu erzielen, sind folgende Faktoren zu berücksichtigen (Gatterer 1986): Q Durchführung in einer möglichst ablenkungs- und störungsfreien Umgebung, Q Anpassung der Schwierigkeiten der Übungen an das Leistungsniveau der Teilnehmer, Q „Fördern durch Fordern“, Q Realitätsnähe der Aufgaben, Q Ansprechen verschiedenster sensorischer, motorischer und körperlicher Bereiche,
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Lob und Verstärkung für erbrachte Leistungen, Fördern von Kommunikation, regelmäßige Durchführung, Integration der Familie, des Pflegepersonals fl oder sonstiger Bezugspersonen.
Durch solche Maßnahmen ist es möglich, sowohl im stationären als auch ambulanten Bereich ein Fortschreiten kognitiver Abbauprozesse durch mangelnde Stimulation zu vermeiden. Zur geistigen Aktivierung im Bereich der Geroprophylaxe sind auch verschiedenste Spiele und (soziale) Aktivitäten geeignet. Sinnvollerweise sollten diese auch mit körperlichen Aktivitäten gekoppelt werden. Unter Milieutherapie versteht man alle Maßnahmen, die mit einer stimulierenden Umgebung einhergehen, die den Grundbedürfnissen der betreuten Klienten weitgehend entsprechen. Dazu gehören etwa im stationären Bereich gemischtgeschlechtliche Stationen, farbliche Trennung der Abteilungen, Pflanzen, fl Tiere, etc. Im Geriatriezentrum am Wienerwald sind nach diesem Modell die Bereiche „psychosoziale Rehabilitation“, „betreutes Wohnen“ und „Tiertherapie“ gestaltet. Erstere dient zur gezielten Entlassungsvorbereitung durch die Gestaltung einer Umwelt, die dem Patienten den Übergang von einer vollstationären in eine ambulante Betreuungsform erleichtert. Zu diesem Zweck wurde das ehemalige Wohnheim im Geriatriezentrum am Wienerwald folgendermaßen umgestaltet: Die medizinische Versorgung erfolgt nach dem Hausarztprinzip, die pflegerische fl Betreuung mittels reaktivierender Pflege. fl Durch gezielte Gespräche, Psychotherapie, Gedächtnisgruppen und eine Entlassungsvorbereitungsgruppe sowie die Betreuung durch die Sozialarbeiter wird der Patient gezielt auf eine Entlassung vorbereitet und nach einer solchen auch nachbetreut. Mittels dieser Maßnahmen war es möglich, die Entlassungsrate der hier aufgenommenen Patienten auf 61% (Gatterer et al. 1996; Rosenberger-Spitzy 1994) zu erhöhen. In den Bereichen „betreutes Wohnen“ und „Tiertherapie“ war ein deutlicher Anstieg der Lebenszufriedenheit bei den auf diese Art betreuten Patienten zu bemerken. Große Bedeutung kommt einer solchen Betreuungsform etwa im Bereich demenziell erkrankter Personen zu, da hier medikamentöse Therapien zur Heilung der Krankheit noch fehlen. Die hier diskutierten Modelle können in integrative versus separative Betreuung demenziell erkrankter Personen unterteilt werden. Beide Betreuungsmodelle weisen Vor- und Nachteile auf, sodass individuell entschieden werden muss, welche Betreuungsform am adäquatesten erscheint. Als Vorteile einer integrativen Betreuung werden die Vermeidung eines Ghettos, die geringere Belastung für das Pflegepersonal fl und die Stimulation demenziell erkrankter Patienten durch geistig rüstigere Personen angesehen. Die Vorteile einer separativen Unterbringung liegen in der besseren Gestaltung der Umwelt für diese Patientengruppe (Sicherheit und Freiräume), speziellen Förderungs- und Trainingsprogrammen und einem ge-
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ringeren Konfliktpotenzial fl mit nicht geistig beeinträchtigten Patienten. Der Nachteil der höheren Belastung des Personals könnte durch die Möglichkeit der regelmäßigen Rotation und Supervision ausgeglichen werden. Eigene Ergebnisse (Gatterer 2000, 2001) zeigen, dass hierdurch die Lebensqualität der Patienten deutlich gesteigert werden kann und ein Abbauprozess verzögert wird. Klinisch-psychologische Maßnahmen sind hierbei sowohl bei der entsprechenden Patientenselektion (Geriatrisches Assessment), aber auch bei der Planung und Gestaltung dieser Bereiche wichtig. Milieutherapeutische Maßnahmen werden in Zukunft auch bei der adäquaten Gestaltung von privaten Wohnbereichen für ältere Menschen und zur Prävention von Unfällen immer wichtiger (Pils 2001). Resensibilisierung (die Wiederbelebung der fünf Sinne durch Stimulation), Remotivation (Anregung, an Tagesereignissen Anteil zu nehmen) und Resozialisierung (Förderung von Interaktion) stellen ergänzende Maßnahmen in einem psychosozial orientierten Therapieprogramm dar. Gezieltes Riechen, Schmecken, Tasten und Ansehen hilft, sich mit der Realität möglichst lange auseinanderzusetzen und diese Fähigkeiten zu erhalten. Dies ist etwa im „Genusstraining“ enthalten (Lutz 1983). In eine ähnliche Richtung geht das pflegerische fl Konzept der „basalen Stimulation“ (Bienstein und Fröhlich 1994, 1997; Fröhlich 1998). Einen biografi fisch orientierten Ansatz mit starker Betonung der Ressource „Altgedächtnis“ stellt das Konzept der Selbsterhaltungstherapie (Romero 1992) dar. Gerade bei Personen mit Alzheimerscher Demenz ist die eigene Persönlichkeit besonders stark durch Veränderungen betroffen. Durch gezielte biografi fische Gespräche und Übungen, das Ausnützen noch vorhandener Fertigkeiten sowie in weiterer Folge, je nach Krankheitsphase, die gezielte Arbeit mit dem Altgedächtnis (Kindheit, Elternhaus, …) soll das Selbstwissen des Patienten und somit seine Identität möglichst lange erhalten werden.
Psychotherapeutische Ansätze Grundvoraussetzung für die Durchführung psychotherapeutischer Maßnahmen im Alter ist die spezielle Beachtung der Biografie fi des Menschen (biografischer fi Aspekt), seiner derzeitigen aktuellen Situation mit den entsprechenden Belastungen (situativer Aspekt), deren subjektiver Verarbeitung (personaler Aspekt) sowie die Einbindung des Menschen in seinem sozialen Lebensraum (sozialer Aspekt) und fördernde bzw. hemmende Faktoren (kontextueller Aspekt). Unter Berücksichtigung dieser Faktoren ist auch Psychotherapie im Alter möglich, wobei jedoch das Vorgehen an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des älteren Menschen orientiert sein muss. Dieser Bereich stellt keine spezifi fische neuropsychologische Intervention dar, muss jedoch oft gleichzeitig mit einer solchen durchgeführt werden.
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Die Möglichkeiten solcher Interventionen sind in diesem Buch in einem eigenen Abschnitt dargestellt. Psychotherapeutische Maßnahmen im Rahmen der Altenbetreuung beziehen sich jedoch nicht nur auf die betroffenen älteren Menschen selbst, sondern auch auf Angehörige sowie professionelle und nicht professionelle Helfer. Hier sollten Themen wie Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, Konfrontation mit Krankheit, das eigene und fremde Altern, Schuld und Verantwortung, Abhängigkeit, Aggression und Ekel, Stressverarbeitung, Psychohygiene, aber auch die eigenen Grenzen und diverse andere Bereiche angesprochen werden.
Weitere wesentliche Maßnahmen im multiprofessionellen Team, bei denen psychologisches Wissen bzw. eine interdisziplinäre Kooperation hilfreich ist Q Pflegerische Konzepte: Pflegerische fl Konzepte im Rahmen der Rehabilitation und Betreuung älterer Menschen haben in den letzten Jahrzehnten grundlegende Veränderungen erfahren. Standen früher die „Pfl flegekunst“ und „Pfl flegetechnik“ im Vordergrund, so dominieren derzeit ganzheitlich orientierte Pflegemodelle fl (Juchli 1991; Schäffl fler 1997). Hierbei steht der Mensch mit allen seinen Grundbedürfnissen im Vordergrund. Sie erstreckt sich auf die Bereiche der Beratung, der Grundpflege, fl der Behandlungspfl flege bei Krankheiten, Selbstständigkeitspflege, fl Aktivitätenpfl flege, psychische Betreuung und Informationspflege fl (Pfl flegeplanung). Ergänzt und erweitert werden diese pfl flegerischen Konzepte auch durch eine veränderte Pfl flegeeinstellung im Sinne aktivierender und reaktivierender Pfl flege sowie die Integration von Übergangspflege fl zur Verbesserung der Entlassung und Nachbetreuung stationärer Patienten (Böhm 1991). Durch die Einführung von Pfl flegediagnosen (Stefan und Allmer 1999) und eine gezielte, problemorientierte Pflegeplanung fl (Fiechter und Meier 1993) ergeben sich auch oft Überschneidungen zu psychologischen Maßnahmen. Insofern stellt die flege einen wesentlichen Faktor bei der multiprofessionellen Betreuung Pfl und Rehabilitation geriatrischer Patienten dar. Wichtig erscheint jedoch eine gemeinsam mit Arzt und dem gesamten Team durchgeführte Therapieplanung, regelmäßige Teamsitzungen und Supervision zur Prävention von Burn-out und interdisziplinären Spannungen. Q Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie: Physiotherapeutische, ergotherapeutische und logopädische Interventionen stellen wichtige Bestandteile der Rehabilitation und Betreuung älterer Menschen im stationären und
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ambulanten Bereich dar. Physiotherapeutische Maßnahmen sollen dabei helfen, dem Patienten wieder ein größtmögliches Ausmaß an Mobilität, Selbstständigkeit und Eigenkompetenz zu ermöglichen. Weiters stellen physiotherapeutische Gruppen auch einen wichtigen Faktor in der Alltagsstrukturierung, der Förderung sozialer Kontakte und der Interaktion dar. Dadurch kann der Vereinsamung und Isolation von Patienten in Institutionen entgegengewirkt werden. Auf die Wichtigkeit einer multimodalen Aktivierung (kognitives und leichtes körperliches Training) weisen auch die Ergebnisse der SIMA-Studie (Oswald et al. 1996) hin. Das im Rahmen dieses Projektes entwickelte „psychomotorische Training“ (Baumann und Leye 1995) ist für Gruppen von 10–15 Teilnehmern konzipiert und beinhaltet detaillierte Anweisungen über die Übungen, deren Ziele sowie die dazu benötigten Geräte und Utensilien. Einen limitierenden Faktor für den Einsatz bei kognitiv stärker beeinträchtigten Patienten stellt das teilweise sehr hohe Niveau der Übungen dar. Andererseits lassen sich daraus leicht vereinfachte Übungen für Patienten mit einer Demenz entwickeln. Ergotherapeutische Maßnahmen erstrecken sich auf die Bereiche „funktionelle“ und „aktivierende“ Ergotherapie. Sie beinhalten somit gezielte Übungen zur Verbesserung der motorischen und kognitiven Funktionen, das Anfertigen von Hilfsmitteln als auch unterstützende Maßnahmen zur behindertengerechten Wohnraumgestaltung. Weiters stellen aktivierende Maßnahmen einen wichtigen Faktor der Beschäftigung und des Freizeitprogrammes dar. Einen praktischen Leitfaden für ergotherapeutische Maßnahmen bei Demenzerkrankungen findet man bei Schaade (1998). Eine enge Kooperation zwischen verschiedenen Fachdisziplinen ist auch im Rahmen von kreativen Therapien (Kunsttherapie: Marr 1995; Musiktherapie: Bright 1984) gegeben. Der Einsatz dieser Methoden hat sich bei allen Formen der Altenbetreuung (stationär, ambulant) bewährt. Logopädische Maßnahmen sollten bei Störungen der Sprachfunktion, etwa nach einem Schlaganfall, in enger Kooperation mit Neuropsychologen wieder eine Verbesserung der Kommunikation ermöglichen. Zusätzlich erscheint jedoch ein regelmäßiges Training der Sprache, z. B. durch Diskussionen, gezielte Sprachspiele oder die Interaktion mit Pfl flegepersonen, auch bei Patienten mit Alzheimerscher Demenz, notwendig (Romero 1992).
5 Beratung, Betreuung, Fortbildung und Supervision professioneller Helfer und pfl flegender Angehöriger/ Kooperation und Koordination im multiprofessionellen Team Zum Gelingen einer optimalen Versorgung von älteren Menschen mit verschiedenen Krankheiten ist es notwendig, auch das Personal dieser Abteilungen und die Angehörigen der Patienten in das Betreuungsprogramm mit einzubeziehen. Gerade das Personal geriatrischer Abteilungen ist durch den ständigen Umgang mit körperlich und geistig beeinträchtigten Per-
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sonen, der Auseinandersetzung mit Tod und Sterben und den nur geringen Erfolgserlebnissen einer massiven psychischen und physischen Belastung ausgesetzt. Generell werden folgende Faktoren als Risikofaktoren im Bereich der Betreuung in der Familie oder Institution diskutiert (Gatterer, in Druck): Q Abhängigkeit zwischen Betreuer und Betreutem, Q fehlende emotionale und physische Distanzierungs- und Rückzugsmöglichkeiten, Q soziale Isolation bzw. unzureichende soziale Unterstützung, Q psychische und physische Überforderung, fi Konfl flikte bzw. Generationenkonfl flikte. Q biografische Insofern sind regelmäßige Fort- und Weiterbildungen, Supervision und Teambesprechungen wichtige Bestandteile des rehabilitativen Vorgehens. Durch eine entsprechende psychische Betreuung (Aufarbeiten von Frustration, eigenen Problemen, …), regelmäßige, themen- und problemorientierte Supervision, diverse Fortbildungen in Gerontopsychologie, Kommunikation und Geriatrie, aber auch das Schaffen einer kommunikationsfördernden Teamstruktur können Burn-out-Symptomatiken und die damit verbundenen Probleme, wie hohe Fluktuationsrate des Personals, Depressionen, Sucht und Aggressionen, abgefangen werden. Dies erscheint insofern besonders wichtig, da nur durch ein psychisch und physisch stabiles Personal der Qualitätsstandard in geriatrischen Abteilungen gewährleistet ist. Dies gilt auch für die Integration der Angehörigen, die durch ein positives Verhalten die Rehabilitation der Abteilung unterstützen können. Durch regelmäßige Angehörigennachmittage, Schulungen, Informationsveranstaltungen, aber auch die Möglichkeit zu Aussprachen bei Ängsten, Überforderung oder Frustration kann die Mitarbeit der Angehörigen gefördert werden. Dadurch ist oft erst eine Reintegration in der häuslichen Umgebung oder ein möglichst langer Verbleib dort möglich. Urlaubsbetten, Kurzurlaube, eine entsprechende Nachbetreuung und die Möglichkeit, bei Schwierigkeiten einen Patienten auch rasch wieder in einer stationären Betreuung unterzubringen, erhöhen die Chancen für eine Rehabilitation. Dadurch ist es teilweise auch möglich, stärker beeinträchtigte Patienten wieder in ihre ursprüngliche Umgebung zu integrieren. Eine große Bedeutung kommt in dieser Hinsicht auch Selbsthilfegruppen zu, da sich hier die Aussprache mit anderen Betroffenen bietet (Kryspin-Exner und Günther 1997). Bei der Durchführung von Angehörigengruppen sollten folgende Themen angesprochen werden: Q Q Q Q Q Q
Information über die Krankheit und deren Therapiemöglichkeiten, Information über Hilfsangebote, Ängste, selbst zu erkranken, Angst vor Überforderung in der Betreuung, flexion des eigenen Verhaltens in der Betreuung, Refl Möglichkeiten zur Verhaltensänderung,
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Q Q Q Q
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Hilfl flosigkeit und Resignation, Annehmen von Hilfe, Erkennen der eigenen Grenzen, Tod und Sterben.
Die Aufgaben des Psychologen sind hierbei sehr vielfältig und beinhalten neben der direkten Durchführung obiger Maßnahmen auch die Kooperation im multiprofessionellen Team. Zusätzlich erfolgt im stationären Bereich durch Psychologen auch oft die Koordination verschiedener therapeutischer Maßnahmen unter Berücksichtigung der Wünsche und Fähigkeiten der Patienten.
6 Forschung auf verschiedenen Bereichen der Alternswissenschaften Die Ergebnisse psychologischer Forschungen liefern einen wesentlichen Beitrag im Rahmen der multidisziplinären Alternsforschung. Sie betreffen dabei einerseits Aussagen über normales und pathologisches Altern, die Prävention und Therapie von Störungsbildern, aber auch sozialpsychologische Aspekte wie Pensionierung und Generationenkonfl flikte. Weiters stellen psychologische Tests wichtige diagnostische Parameter dar und fizienzkontrolle bei verschiedensten therapeutischen Maßwerden zur Effi nahmen (Pharmakotherapie bei Depressionen, Demenzen, Erfassung der Selbstständigkeit, etc.) eingesetzt. Im Bereich der multiprofessionellen Alternsforschung ist jedoch sicher noch ein großes Entwicklungspotenzial gegeben. Da Altern als multifaktoriell bedingtes, individuell verlaufendes Geschehen diskutiert wird, sollte sich dies auch in der wissenschaftlichen Forschung widerspiegeln. Als Beispiel wäre hier der Bereich der „Memory-Klinik“ und „Demenzbetreuung“ im Geriatriezentrum am Wienerwald anzuführen. Diese stellen ein Kooperationsprojekt von Neurologie, Psychiatrie, einer Abteilung für innere Medizin, Psychologie, der Pflege fl und der Universitätsklinik Würzburg (Biochemie) dar. Sowohl die Fragestellungen als auch das diagnostische und therapeutische Vorgehen werden interdisziplinär abgestimmt, wissenschaftliche Arbeiten als Team publiziert.
7 Diskussion Das Alter stellt für viele ältere Menschen einen schwierigen Prozess der Anpassung an eine neue Situation dar. Die mit dem normalen Alterungsprozess verbundenen Veränderungen der Lebenssituation, der kognitiven Leistungen, aber auch pathologische Veränderungen im Rahmen von Abbauprozessen erfordern oft auch klinisch-psychologische Interventionsmaßnahmen. So stellt die Einweisung in ein Pfl flegeheim oder Krankenhaus für viele ältere Menschen nicht nur eine Veränderung ihrer Wohnsituation dar,
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sondern bedeutet oft einen grundlegenden Wechsel in der gesamten Lebenssituation. Obwohl die Hauptursache der Krankenhausaufnahme meist eine organische Erkrankung darstellt, sind massive Auswirkungen dieses Lebensereignisses im psychischen und sozialen Bereich zu verzeichnen. Oft wird dadurch eine bereits länger bestehende Hirnleistungsstörung durch den Wechsel in eine neue Umgebung offensichtlich. Insofern kann sich die Behandlung und Rehabilitation also nicht nur auf somatische Faktoren beziehen, sondern muss auch psychische, soziale und kontextuelle Überlegungen in die Therapieplanung mit einbeziehen. Die vorliegende Arbeit versucht, von modernen ganzheitlichen Gesichtspunkten des Alternsprozesses ausgehend, die Möglichkeiten klinisch-psychologischer Maßnahmen im multiprofessionellen Team bei älteren Menschen aufzuzeigen. Aus Sicht der Psychologie sollten dabei folgende Aspekte Berücksichtigung finden: Q Altern ist ein individueller, multidimensionaler Prozess. Q Die subjektive Wahrnehmung einer Situation ist oft wesentlicher als objektive Parameter. Q Man ist immer so alt, wie man sich fühlt und verhält. Q Eine aktive Auseinandersetzung mit Veränderungen hilft, sich rechtzeitig auf diese einzustellen und sie damit leichter zu bewältigen. Q Besonders wichtig sind präventive Maßnahmen, um geistig fi fit zu altern (besseres Restpotenzial). Q Ein regelmäßiges Training der geistigen Funktionen hilft, Funktionen zu erhalten und Defi fizite auszugleichen. Q Durch eine frühzeitige Diagnostik von Störungen können diese rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Q Die Kombination verschiedenster Therapieformen mit multiprofessionellem Arbeiten hat die höchste therapeutische Effizienz. fi Q Der ältere Mensch ist Kunde in unserem Gesundheitssystem. Insofern sollten sich die getroffenen Maßnahmen an seinen Grundbedürfnissen orientieren. Q Generell steht Altern unter dem Motto: „Use it or loose it!“ Q Darum: Leben, lieben, laufen, lernen und lachen! Eigene Erfahrungen im Bereich der stationären Betreuung geriatrischer Patienten in einem Geriatriezentrum zeigen, dass durch eine Ausweitung des therapeutischen Ansatzes die Effizienz fi der Maßnahmen erhöht werden kann. Andererseits werden auch die Grenzen der Rehabilitation bei kognitiv besonders stark beeinträchtigten Patienten offensichtlich.
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Psychotherapie im Alter – ein Überblick Gerald Gatterer und Antonia Croy
Psychotherapeutische Maßnahmen werden immer mehr in die Behandlung älterer Menschen mit einbezogen. Es gibt derzeit auch bereits einige speziell für diese Gruppe ausgebildete Therapeuten. Trotzdem ist das Thema im Vergleich zur Therapie bei jüngeren Menschen in der Literatur unterrepräsentiert. Dies ist wahrscheinlich durch die doch noch sehr „medizinorientierte“ Sicht von Krankheiten im Alter bedingt. Die vorliegende Arbeit soll diese Thematik deshalb enttabuisieren und die Anwendung einiger therapeutischer Methoden beim älteren Menschen erläutern. Es wurden dabei jene Schulen ausgewählt, die vermehrt zu dieser Thematik publizieren. Natürlich sind jedoch auch alle anderen psychotherapeutischen Methoden bei entsprechender Modifikation fi für diese Klientel anwendbar.
1 Einleitung Die Betreuung und Behandlung älterer Menschen erfordert neben medizinischen und sozialen Maßnahmen auch psychotherapeutische Unterstützung des älteren Menschen bei der Bewältigung von Veränderungen und damit verbundenen Krisen. Dies beinhaltet die Auseinandersetzung mit Alternsveränderungen, Krankheiten, Verlusterlebnissen und verändertem Rollenverhalten. Obwohl zahlreiche Beiträge zur Gerontologie (Oswald et al. 1991) belegen, dass Altern nicht einseitig als Abbau von Funktionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten angesehen werden kann, können andererseits die Tatsache der Multimorbidität und das Ansteigen psychischer Krankheiten (Zapotoczky und Fischhof 1996; vgl. auch Abschnitt „Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und deren multiprofessionelle Behandlung“ in diesem Buch) bei den über 60-Jährigen nicht geleugnet werden. Dadurch gewinnt auch die psychotherapeutische Versorgung älterer Menschen mit körperlichen und psychischen Erkrankungen einen immer höheren Stellenwert. Psychotherapie im Alter ist eine noch immer sehr vernachlässigte Fachdisziplin (Gatterer 1994; Maerker 2002). Offensichtlich sind viele Psycho-
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therapeuten einer Lehrmeinung Freuds treu geblieben, der 1905 schrieb: „Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl der psychoanalytischen Behandlung insofern eine Rolle, als bei Personen nahe an oder über 50 Jahre einerseits die Plastizität der seelischen Vorgänge zu fehlen pfl flegt, auf welche die Therapie rechnet – alte Leute sind nicht mehr erziehbar –, und als andererseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Behandlungsdauer ins Unabsehbare verlängert.“ (Freud 1905, 21). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Freud zu diesem Zeitpunkt selbst knapp 50 Jahre alt war. Welche Faktoren spielen nun jedoch eine so große Rolle, dass dieser Bereich in der Psychotherapie so vernachlässigt wird? Die Ursachen können exemplarisch folgendermaßen zusammengefasst werden: Von Seiten des Therapeuten (modifiziert fi n. Radebold 1989; Gatterer 1994): a) b) c) d) e) f) g) h) i) j)
die eigene Einstellung zum Älterwerden und Alter; die primär somatische, defizitorientierte fi Sicht des Alterns; die Angst, der Patient könnte während der Behandlung sterben; die Umkehrung der Übertragungskonstellation (jüngerer Therapeut/älterer Patient); die Reaktivierung eigener Konfl flikte mit der eigenen Elterngeneration (Rollenbilder, Erfahrungen, Vorurteile); das mangelnde Wissen über geschichtliche Faktoren der älteren Generation; abwertende Vorurteile von Fachkollegen (z. B. Defizit-Theorie); fi das gleichzeitige Auftreten psychischer, kognitiver und körperlicher Erkrankungen (z. B. Gedächtnisstörungen und Depressionen); die Notwendigkeit der Modifi fikation des therapeutischen Ansatzes, entsprechend den Bedürfnissen und Ressourcen des älteren Menschen; die Notwendigkeit der Kooperation mit anderen Fachdisziplinen (Medizin, Pfl flege, Therapie, …).
Vom Klienten: a) die Angst vor dem Neuen und Unbekannten; b) die primär organisch/medikamentöse Ausrichtung (Psychopharmaka) der Behandlung von Krankheiten; c) durch negative Erfahrungen hinsichtlich psychischer Krankheiten aus dem NS-Regime; d) durch den erschwerten Zugang zur Psychotherapie; e) die Einstellung des Betroffenen zum Älterwerden und seinen Begleiterscheinungen („Schicksal“ – „Unveränderbarkeit“). Von der Therapiemethode durch: a) eine Änderung der therapeutischen Zielsetzung (Wiedererlangung/Stabilisierung der psychosozialen Autonomie); b) die Notwendigkeit der Modifikation fi des therapeutischen Vorgehens, entsprechend den Bedürfnissen und Ressourcen des älteren Menschen;
Psychotherapie im Alter
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c) fehlende Effi fizienznachweise; d) fehlende Ausbildung der Psychotherapeuten im Bereich der Gerontologie.
2 Aufgaben und Ziele der Psychotherapie im höheren Lebensalter Psychotherapie im Alter muss die biografischen, fi situativen, personalen, sozialen und kontextuellen Aspekte der Problematik älterer Menschen mit berücksichtigen. Ausgehend von Studien über die Entwicklungspotenziale im Alter können folgende Aufgaben und Ziele der Psychotherapie defi finiert werden (Kruse 1990).
Der biografische fi Aspekt Nicht verarbeitete biografische fi Konfl fliktsituationen können im Alter wieder aktualisiert werden und dazu beitragen, dass noch vorhandene Entwicklungspotenziale nicht genützt werden und dadurch die Auseinandersetzung mit dem Alter erschwert wird. Dazu gehören etwa negative Kriegserlebnisse (Vergewaltigung, Ängste), Rollenbilder (z. B. die Rolle der Frau als vom Manne abhängig) und fehlende Ausbildung. Durch eine Bearbeitung dieser Bereiche sowie eine tragfähige Beziehung zum Therapeuten kann der Klient zu einer Neubewertung seiner biografi fischen Situation gelangen. Im Vordergrund des therapeutischen Prozesses stehen die Verarbeitung fiziten und Fehlern sowie das Aufgreifen von noch vorvon Verlusten, Defi handenen Fähigkeiten und Ressourcen zur Weiterentwicklung.
Der situative Aspekt Im Alter entstehen oft auch neue Konflikte fl und Belastungen, die sich aus der individuellen Lebenssituation ergeben. Das Auftreten von Krankheiten, der Verlust von Angehörigen sowie Änderungen in der Lebenssituation (Pensionierung) können zu psychischen Problemen führen, die psychotherapeutischer Hilfe bedürfen. So kann etwa der Verlust des Lebenspartners die bis zu diesem Zeitpunkt stabile Lebenssituation negativ beeinflussen. fl Es kommt zu einer Änderung des Rollenbildes, der Aufgaben und Lebensperspektiven, die eine Neuorientierung erfordern. Im Vordergrund steht hierbei also die Bearbeitung der aktuellen Lebenssituation. Dies setzt ein Wissen des Therapeuten über das Altern, die darin enthaltenen Möglichkeiten (Kompetenzmodelle), aber auch die sich ergebenden Grenzen (biologische, psychologische und soziale Faktoren) voraus.
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Der personale Aspekt Thomae (1988) konnte in seinen Untersuchungen feststellen, dass die subjektive Sicht der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zentrale Dimensionen der individuell erlebten Welt darstellen. So kann etwa angenommen werden, dass Personen, die aufgrund ihrer Erfahrungen ihre Situation als „unveränderbar“ wahrnehmen, weniger aktiv, depressiver und mit geringerer Lebenszufriedenheit altern. Sie können auch kritische Lebensereignisse, wie etwa Krankheiten, meist schlechter (passiver) verarbeiten. Das Verständnis für die Individualität des Menschen hilft, unterschiedliche Bewertungen der gleichen Lebenssituation zu verstehen. So sind etwa altersbedingte Veränderungen des Körpers (z. B. Falten, Glatze) je nach deren Wichtigkeit für die Betroffenen (Selbstbild) zu sehen. Insofern ist es also besonders wichtig, diese subjektiven Sichtweisen in der Therapie zu erfassen und mit objektiven Parametern zu vergleichen. Psychotherapie kann hier bei der individuellen Bewältigung von kritischen Lebensereignissen, z. B. durch das Aufzeigen neuer Perspektiven bzw. eine Neubewertung der Situation, helfen. Der soziale Aspekt Soziale Kontakte stellen einen wichtigen Aspekt bei der Auseinandersetzung mit den Aufgaben und Anforderungen des Alterns dar. Gerade im Alter kommt es jedoch durch Verlusterlebnisse leicht zu Vereinsamung und Isolation. Weiters sind soziale Beziehungen meist durch diverse Erfahrungen geprägt, sodass eine Neuorientierung nur schwer möglich ist. In der Psychotherapie müssen deshalb sowohl biografisch fi verankerte Kontaktmuster als auch das situative Kontaktbedürfnis berücksichtigt werden. Wichtig erscheint die Tatsache, dass nicht allein das Ausmaß an Kontakten, sondern deren qualitative Verarbeitung für einen positiven Alterungsprozess wichtig ist. Auch Rückzug muss nicht unbedingt Ausdruck einer schwindenden Lebens- und Zukunftsperspektive sein, sondern kann auch durch stärkere Konzentration des Menschen auf sich selbst verursacht sein. Der kontextuelle Aspekt Neben den bisher beschriebenen Faktoren kann der positive Alterungsprozess auch durch Umweltfaktoren negativ beeinflusst fl werden. So können Entwicklungspotenziale des älteren Menschen durch das Fehlen fi finanzieller Mittel, schlechte Wohnverhältnisse oder Krankheit behindert werden. Als Beispiel sei hier ein Patient nach einer Oberschenkelhalsfraktur angeführt, der trotz aktiver Auseinandersetzung mit seiner Situation nicht in seine Wohnung zurück kann, da diese im vierten Stock ohne Aufzug liegt. flegeheimeinweisung kann zum Auftreten einer Eine daraus resultierende Pfl ausgeprägten depressiven Reaktion führen, die psychotherapeutischer Hil-
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fe bedarf. Ähnlich verhält es sich mit schlechten Verkehrsverbindungen, Einkaufsmöglichkeiten und extramuralen (ambulanten) Hilfen im ländlichen Bereich. Aber auch fehlende Hilfsmittel (z. B. Brille, Hörgerät) können negative psychische Verarbeitungsmuster fördern. Insofern kann sich Psychotherapie im Alter nicht nur auf die Bearbeitung der psychischen Situation des Betroffenen beschränken, sondern muss dessen Lebensraum und auch die Möglichkeiten zur Veränderung desselben in die gesamte Therapie mit einbeziehen.
3 Möglichkeiten und Effizienz fi der einzelnen psychotherapeutischen Schulen Im folgenden Abschnitt sollen überblicksmäßig Erfahrungen der größeren psychotherapeutischen Schulen bei der Behandlung älterer Menschen mit psychischen Störungen dargestellt werden. Als weiterführende Literatur wird auf Radebold (1994) und Bäuerle et al. (2000) verwiesen. Prinzipiell sind alle therapeutischen Schulen (nach entsprechenden Modifikationen) fi für ältere Menschen geeignet. Insofern erfolgt hier eine willkürliche Auswahl nach der Bekanntheit der Schule bzw. dem Vorliegen von Publikationen.
Die psychoanalytische Behandlung von Älteren Psychoanalytische Methoden ermöglichen älteren Menschen eine Reflefl xion ihrer Lebenssituation und eine Bewältigung von „Alterskrisen“. Sie werden meist in Form von Kurztherapien durchgeführt. Wie bereits einleitend erwähnt, schienen für Freud Alter und Psychotherapie im Widerspruch zu stehen. Die neuere Literatur zeigt jedoch, dass dies keinesfalls so ist. So sind einerseits der psychische Apparat (Es – Ich – Über-Ich), die Triebe als Energie (Libido) und die Abwehrmechanismen auch im Alter weitgehend funktionsfähig. Auch die Arbeit mit Träumen und dem Unbewussten ist im Alter durchaus möglich. Im Folgenden werden überblicksartig die Kriterien für eine psychoanalytische Behandlung kurz dargestellt. Zugang und Motivation Da der ältere Mensch nur geringes Wissen über Psychotherapie aufweist, sollte ihm hier Basiswissen vermittelt werden. Altern wird vom Betroffenen häufig fi als Schicksal wahrgenommen. Damit verbunden sind Aspekte wie „die Zähne zusammenbeißen“ und „hilfl flos ausgeliefert sein“. Dies fordert eine regressive Bewältigungsstrategie bzw. eine primär medizinische Behandlung. Angst, körperliche Krankheiten und neurotische Fixierungen helfen oft, einen Zustand zu fi fixieren, um sich nicht mit neuen Inhalten
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auseinandersetzen zu müssen. Infolge einer stärkeren narzisstischen Kränkung kommen Männer seltener in Therapie als Frauen. Folgende Faktoren führen nach Ansicht verschiedener Autoren zur Inanspruchnahme einer psychoanalytisch orientierten Psychotherapie: Q aktuelle (soziale) Lebenskrisen, Q Furcht vor Verringerung oder Verlust sexueller Potenz (Identität als Zeugender oder Gebärende), fl zugunsten Jüngerer (Pension, KenntQ Drohung des Überflüssigwerdens nisse, …), Q Ängste in der Partnerbeziehung durch Wegfall der Kinder, Q Bewusstwerden des eigenen Alterns, Q Unvermeidbarkeit des eigenen Todes (nicht mehr alle Ziele realisierbar), Q Depression, Deprivation. Diagnostische Kriterien Diese sind nach Radebold (1992) unzureichend. Die biopsychosoziale Matrix des Erwachsenen muss in seiner Gesamtheit kennengelernt werden. Dies beinhaltet den Prozess der Entwicklung und Reifung über das gesamte Leben. Nicht nur neurotische Konfl flikte, Bedrohungen, Verluste, Attacken und Kränkungen sollen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, sondern die damit verbundenen Lebensaufgaben und deren Bewältigung. Materialfülle Ältere Menschen haben eine lange Lebensgeschichte. Die Biografie fi als Ergebnis vielfältiger Abwehrprozesse und neurotischer Erfahrungen bietet die Möglichkeit des psychodynamischen Verständnisses für bestehende Probleme. Dies beinhaltet mögliche Traumatisierungen, Fixierungen und damit verbundene Beeinträchtigungen der ICH-Funktionen. Wichtig sind jedoch auch ICH-stärkende Elemente, die therapeutisch genutzt werden können. Ziel ist das Annehmen der „eigenen“ Geschichte als älterer Mensch. Die Wertigkeit der Problembereiche ergibt sich oft aus der Reihung. Oft ist es zeitlich nicht möglich, alle Problembereiche zu bearbeiten. Konfl fliktorientierte Sicht Infolge der oft mit dem Alter verbundenen Häufung von Konfl flikten und Krisen stehen diese meist auch im Vordergrund einer analytischen Behandlung. Vielfältige Versagungen, Mängel, Schwierigkeiten und Verluste (physisch, psychisch) werden in ihrem Zusammenhang zur „Persönlichkeit“ fl und eine Neuorientierung wird vorgenommen. Als Problem ist reflektiert, die häufig fi organische Interpretation anzusehen, da dadurch der Zugang zu innerpsychischen als auch intra- und intergenerativen Konfl flikten schwierig ist. So werden Schmerzen und der „Alternsprozess“ als auch die Begrenztheit des eigenen Lebens oft als Schutz vor einer ängstigenden Veränderung eingesetzt und „stabilisieren“ damit eine Lebenssituation.
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Aktuelle Lebens- und Krankensituation Hier soll nicht nur die tatsächliche Situation, sondern deren Einfl fluss auf die Beeinträchtigung und Veränderung von Ich-Funktionen (z. B. körperliche Leistungsfähigkeit und Aktivität, Sehen, Hören, …) erfasst werden. Welche (unbewussten) Ängste, Wünsche und Bewältigungsmechanismen (Abwehr) bestehen, und wie beeinflussen fl sie das tatsächliche Entwicklungspotenzial? Welche Bereiche können stützend genutzt werden, und welche Veränderungen der bio-psychosozialen Matrix wären damit verbunden? So kann etwa eine analytische Gruppentherapie (vgl. Krebs-Roubicek 2000) der Vereinsamung und einer wahnhaft-depressiven Reaktion infolge körperlicher Abhängigkeit vorbeugen. Die Lebenslaufperspektive erfolgt auf folgenden Ebenen a. Entwicklungsorientierte Sicht Aus dem Erstinterview ergeben sich oft zu ungenügende (genetische) Informationen für die Krankheitsentstehung. Die Bearbeitung der aktuellen Situation und der Rückschluss auf Kindheitserfahrungen und -konfl flikte (die oft abgewehrt und verdrängt wurden) ermöglicht jedoch ein Verständnis für Konflikte fl in anderen Lebensabschnitten. Wann Neurotisierung auftrat, kann anhand folgender Fragen geklärt werden: Q Wann trat eine Progression, Regression und Fixierung in der Lebensgeschichte auf? Q Stellen spätere Konflikte fl weitgehend Wiederholungen infantiler Konflikte dar? fl Q Inwieweit wurden diese durch neue Erfahrungen modifi fiziert? Q Inwieweit wurden Fähigkeiten später genutzt oder blieben brach liegen? Q Inwieweit zeigen sich Veränderungen innerer Repräsentanzen (z. B. die Sichtweise und Bewertung des jungen, älteren, verstorbenen Vaters)? Q Die Frage nach dem „heimlichen inneren“ Alter bzw. den damit verbundenen Bewältigungsstrategien (junge Freundin, Normen, …). Die Abklärung der noch bestehenden kindlichen Anteile, und inwieweit diese gelebt werden. Das Selbstbild und die damit verbundenen Fixierungen. Wie alt fühlt sich der Betroffene, gemessen an seinem kalendarischen Alter? Als praktisches Beispiel wären hier die „krankhafte“ Jugendlichkeit und damit verbundene Verhaltensweisen ohne Reflexion fl des tatsächlichen Alters anzusehen. Die Aufrechterhaltung einer Norm (z. B. männliche Potenz) kann zu verschiedensten Krankheitsbildern führen. So berichtete ein 80-jähriger Mann diverse Beschwerden und Schmerzen, die organisch nicht begründbar waren. Eine genaue Anamnese ergab eine massive Angst vor dem Alter und einer möglichen Impotenz (Verlust des Rollenbildes als Mann). Die Fixierung auf seine Beschwerden ermöglichte ihm einen „körperlichen“ Ausstieg aus der Partnerschaft.
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b. Aufgabenorientierte Sicht Im Mittelpunkt dieses Bereiches steht die Frage, inwieweit phasenspezifische entwicklungsorientierte Aufgaben gelöst wurden oder noch gelöst fi werden müssen. Wo traten Krisen auf (Regression), welche konfliktfreien fl Bereiche, Objektbeziehungen und Umweltbedingungen von früher waren stützend? So kann etwa für eine ältere Frau der Übergang von der Rolle „Mutter und Hausfrau“ beim Auszug der Kinder auf die Rolle „ältere Ehefrau“ zu einem inneren Konflikt fl führen. So wurde etwa bei einem älteren Ehepaar (er 60 Jahre, sie 58 Jahre) nach dem Auszug des einzigen Sohnes (mit 35 Jahren) aus dem gemeinsamen Haushalt die Thematik „Sexualität“ wieder aktuell. Dies war für die Ehefrau unverständlich, da dieser Bereich doch bereits vor 20 Jahren nicht mehr so wichtig war. c. Verlustorientierte Sicht Hier sollten folgende Fragen geklärt werden: Q Welche grundlegenden Veränderungen, Verluste, Attacken und Kränkungen wurden erlebt, und wie wurde darauf reagiert? Q Welche drohen jetzt, stehen bevor oder sind bereits eingetreten? Q Welche Trauerarbeit steht noch an? Q Welche Ich-Funktionen, Objektbeziehungen und Umweltbedingungen sind notwendig, um diese Verluste in einem Trauerprozess zu verarbeiten und um neue libidinöse Besetzungen (emotionale Beziehungen) vorzunehmen? So kann etwa die Angst vor neuen Verlusten dazu führen, dass neue Beziehungen nicht mehr eingegangen werden. Es erfolgt eine Fixierung auf bestehende Bereiche etwa durch übermäßige Ordnung, Kontrolle und verstärkten Bezug auf den eigenen Körper (z. B. Ernährung, Ausscheidung). d. Im Rahmen der generationsorientierten Sicht werden Q Wünsche und Erwartungen, aber auch Konfl flikte zwischen den Generationen bearbeitet. Q Inwieweit bestimmen diese libidinösen aggressiven Bestrebungen und infantilen Konflikte fl die derzeitigen Beziehungen? Gibt es erwachsenengerechte Objektbeziehungen? Q Ist Vereinsamung die (unbewusste) Folge von unverarbeiteten, unverändert konflikthaft fl erlebten, sich immer wiederholenden frühkindlichen und kindlichen Objektbeziehungen? Vermiedene Themen stellen einen wichtigen Bereich der analytisch orientierten Psychotherapie dar Welche Themen werden vom Klienten oder auch Therapeuten nicht weiter verfolgt (Abwehr von unbewusster Angst)?
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Dazu gehören häufi fig die Kriegszeit, sexuelle Themen und Bedürfnisse, akute Todesfälle, schwere Erkrankungen sowie Ängste vor Tod und Sterben. Diese Thematik ist gerade bei „Holocaust-Opfern“, aber auch Frauen mit Vergewaltigungserinnerung eine häufige fi Ursache von psychischen Störungen, z. B. auch im Rahmen von Demenzen. Oft kommt es gerade beim Wegfall der geistigen Funktionen zum Aufbrechen unbewusster Erinnerungen und Ängste, die in der aktuellen Situation gelebt werden. So reagierte etwa eine 89-jährige demente Frau bei Pfl flegehandlungen mit Unterstützung durch einen jungen männlichen Zivildiener mit massiven Ängsten und Aggressionen. Eine Befragung der Tochter ergab, dass ihre Mutter immer von einem Erlebnis berichtet hätte, wo sie von jungen Soldaten abgeführt worden sei. Die aktuelle Pflegesituation fl dürfte diese Erinnerung reaktiviert haben. Therapeutisch wurden deshalb primär weibliche Pflegefl personen zu diesen Tätigkeiten eingeteilt. Die Aufdeckung gesunder Anteile hilft, noch vorhandene Ressourcen zu nützen Diese sind nicht immer leicht erkennbar. So stellen etwa das Altgedächtnis mit der Biografi fie, aber auch motorische Funktionen (Herumgehen) eine Ressource auch bei Demenzen dar. Die Suche nach stützenden Fähigkeiten und Fertigkeiten sollte bei jeder therapeutischen Maßnahme im Vordergrund stehen. Im Rahmen der Übertragung werden verschiedene Bereiche reflektiert fl Hierzu gehört etwa die Rolle des jüngeren Therapeuten. Dies kann Q Erinnerungen an den Umgang mit Jüngeren reaktivieren; Q Enttäuschung auslösen, keinen mächtigen und hilfreichen Elternteil anzutreffen; Q die Frage nach der Kompetenz und Lebenserfahrung des Therapeuten aufwerfen (z. B. Sie waren ja damals noch gar nicht auf der Welt; können Sie sich das überhaupt vorstellen?); Q die Repräsentanz jüngerer Geschwister, Partner, Freunde, etc. in die Therapie einbringen und Q infantile (frühkindliche) Wünsche des Klienten, etwa nach Geborgenheit, und Regression auslösen. Die „Testfrage“ nach dem Alter des Therapeuten kann hier Hinweise geben. Eine negative Übertragung oder hochgradige Idealisierung sollte früh angesprochen werden, da sie den therapeutischen Prozess negativ beeinfl flusst. Zur Verbesserung der Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten sollte sich Ersterer über die historische und soziale Situation, die Erziehungsformen und -stile, Rollenbilder und Normen, aber auch die Alltagsgeschichte dieser Generation informieren.
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So beschreibt etwa Radebold (1992) die Möglichkeiten der psychoanalytischen Therapie bei 50- bis 75-Jährigen. Neben psychoanalytischer Einzeltherapie und deren Modifikationen fi werden auch Gruppenpsychotherapie, Paartherapie usw. abgehandelt. Weiters bietet der Autor auch Behandlungskonzepte für verschiedene Patientengruppen an. Peters (1992) beschreibt aufdeckende und konfl fliktbearbeitende Psychotherapie, Gruppentherapie, Kreativtherapie und Einzelgespräche im stationären Bereich. Ergänzt wird das Behandlungsangebot durch Sport- und Physiotherapie sowie soziales Lernen. Der Autor stellt exemplarisch den Fall einer 79-jährigen Patientin mit Depressionen, Einsamkeitsgefühl, Schmerzen und Schlafstörungen dar. Durch eine Ich-Stützung konnte den regressiven Tendenzen der Klientin entgegengewirkt und somit eine auf das konkrete Geschehen bezogene Reflexion fl ermöglicht werden. Als Probleme in der Behandlung Älterer werden vom Autor starke Fremdmotivation, kurze Therapiedauer, größere Distanz in der Therapie und größere Probleme beim Ansprechen von Gefühlen und Phantasien angegeben. Daraus ergäbe sich die Notwendigkeit einer größeren Aktivität aufseiten des Therapeuten, um Zurückhaltung und Misstrauen abzubauen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine psychoanalytische Therapie (Einzel- und Gruppentherapie) im Ausmaß von ein bis zwei Sitzungen pro Woche über einen Zeitraum von mehreren Monaten bis zu zwei Jahren auch für Patienten im höheren Lebensalter geeignet ist. Die Hilfestellung bei der Bewältigung von aktuellen Krisen hat dabei Vorrang gegenüber der Veränderung von Charakter- und Persönlichkeitszügen. Verhaltenstherapie Die Verhaltenstherapie bietet ein breites Spektrum an Methoden sowohl für die Veränderung von Verhaltensweisen als auch Emotionen, Kognitionen und Denkweisen an. Sie dauert aufgrund der eher problemorientierten Sichtweise meist kürzer als andere Methoden und ist dadurch für ältere Menschen besonders geeignet. Die Anwendung klinisch verhaltenstherapeutischer Techniken geht von der Tatsache aus, dass psychische Störungen so wie normales Verhalten durch Lernprozesse entstehen. Grundlage hierfür ist, dass auch ältere Menschen in der Lage sind (auch bei demenziellen Erkrankungen), neue Erfahrungen zu erwerben, in neuen Umwelten sicher zu handeln, neue Strategien zu erwerben und biografische fi Erlebnisse und Erfahrungen neu zu bewerten. Sie eignen sich sowohl für den Einsatz im stationären als auch ambulanten Bereich. Die Vorteile dieses Ansatzes sind dabei (Gatterer 1985; 1994) Q seine Gegenwartsorientiertheit, Q die Anwendbarkeit durch Paraprofessionelle und andere Berufsgruppen,
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Q die Integration von Techniken in den Klinikalltag bzw. Alltag der Betroffenen (z. B. Entspannungstechniken), Q die Möglichkeit, komplexe Verhaltensziele in einzelne Teilziele zu zerlegen und dadurch raschere Erfolgserlebnisse zu vermitteln, Q die Möglichkeit direkter und kontinuierlicher Beobachtung von Effekten, Q die damit gegebenen relativ guten Voraussetzungen zur Erfolgskontrolle, Q die Verfügbarkeit eines breiten Methodenrepertoires, welches verschiedensten Gruppen älterer Menschen gerecht werden kann; die Anwendungsmöglichkeiten erstrecken sich hierbei von in physischer und psychischer Hinsicht kaum oder gar nicht beeinträchtigten Personen bis zu in allen Bereichen (kognitiv, psychisch, somatisch) schwerstgestörten geriatrischen Patienten, Q die Möglichkeit der Kombination mit anderen Therapieformen (Pharmakotherapie, Soziotherapie, …). Im Vordergrund eines verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogramms steht die genaue Erfassung der psychischen, kognitiven, somatischen, sozialen und ökologischen Ausgangslage zur Aufdeckung funktionaler Bedingungszusammenhänge zwischen diesen Faktoren. Dabei wird versucht, Erklärungsmodelle für das Entstehen der Krankheit, ihr Weiterbestehen sowie Möglichkeiten zur Veränderung zu entwickeln. Besonders wichtig im Sinne der kognitiven Theorie des Alterns (Thomae 1988) ist die subjektive Sichtweise des Betroffenen über seine Störung oder Krankheit. So kann etwa eine primär medizinische Sichtweise des psychischen Zustandes zur Annahme nur geringer Möglichkeiten zur Veränderung beim Betroffenen führen. Ähnliches gilt für die Überzeugung, „Krankheit sei eine natürliche und unvermeidbare Folge des Altersprozesses“. Weiters verdient die Berücksichtigung physischer Veränderungen, die im Alter auftreten können, besondere Beachtung. So kann etwa geringeres Hör- oder Sehvermögen misstrauisches Verhalten und sozialen Rückzug mitbedingen. Ökologische und soziale Faktoren (schlechte Wohnverhältnisse, geringe soziale Kontakte) können ebenfalls, z. B. durch den Wegfall von positiven Rückmeldungen, psychische Störungen verursachen. Wie bereits aus diesen Beispielen ersichtlich ist, stellen eine ausführliche Verhaltensdiagnostik (Mikro- und Makroebene) bzw. eine systemische Sichtweise die Grundlage für das Gelingen einer psychotherapeutischen Intervention mittels verhaltenstherapeutischer Methoden dar. Als praktisches Beispiel sei eine 81-jährige Frau angeführt, die wegen ständiger Schmerzen, die medikamentös kaum beeinfl flussbar waren, zur Psychotherapie zugewiesen wurde. Eine ausführliche Anamnese ergab folgendes Bild. Die Frau war bis zu ihrem 70. Lebensjahr selbstständig (sie hatte eine eigene Trafi fik, die sie ihrer Tochter überschrieb). Ab dem Zeitpunkt der Pensionierung nahmen die Beschwerden deutlich zu. Sie selbst schildert diese Zeit als mit einem „Rollenverlust“ verbunden. Plötzlich war
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sie nur mehr Hausfrau. Ihre Versuche, nebenbei bei der Tochter zu arbeiten, wurden von dieser nicht begrüßt. Also versuchte sie, im Haushalt alles in Ordnung zu halten. Zusammenräumen, Kochen, Gartenarbeit und die Betreuung des Ehegatten wurden ihre neuen, aber ungeliebten Aufgaben. Aufgrund ihrer Lerngeschichte hatte sie immer das Gefühl, mehr leisten zu müssen, damit sie auch anerkannt wird. Durch die Überbelastung, vor allem bei der Gartenarbeit, kam es auch zu degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule. Trotzdem veränderte sie jedoch ihr Verhalten nicht. Besuche beim Hausarzt zur Schmerztherapie wurden von anschließender Überaktivität, bis zum Neuauftreten von Schmerzen, abgelöst. Eine Reduktion ihrer Aktivitäten war ihr infolge ihres hohen Perfektionsanspruches nicht möglich. Bei dieser Patientin war primär kognitive Verhaltenstherapie mit einem neuen Erwerb eines Rollenbildes, neuen Aufgaben und einer neuen „Identität“ als ältere Frau und Hausfrau wichtig. Verhaltenstherapeutische Interventionen erstrecken sich vor allem auf folgende Bereiche: a) b) c) d) e) f) g) h)
Vermittlung sozialer Kompetenz, Selbstsicherheit und Selbstständigkeit, Interventionen bei Depressionen, Interventionen bei Angst, Interventionen bei Persönlichkeitsstörungen, Interventionen bei demenziellen Erkrankungen, Interventionen bei Schlafstörungen, Trainingsprogramme bei Inkontinenz, Erarbeitung von Copingstrategien für die Bewältigung von Krankheit, Sterben und Tod.
Über die genaue Anwendung verhaltenstherapeutischer Verfahren, wie etwa operante Methoden, Auf- und Abbau von Verhalten, Verstärkung, kognitive Umstrukturierung u. a., wird auf die entsprechende Literatur verwiesen (Hirsch 1991; Hirsch 1990; Gatterer 1985; Markgraf 1996; Hautzinger 1997). Im Folgenden sollen einige Beispiele die Anwendung verhaltenstherapeutischer Methoden exemplarisch darstellen. Depressionen stellen eine der wichtigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter dar. Hautzinger (1992, 2000) berichtet über positive Ergebnisse in der Gruppenbehandlung älterer depressiver Patienten, wobei er folgende Richtlinien für eine effi fiziente Gruppentherapie angibt: Q Information über Depression und die Depressionsspirale; findens, der Stimmung, des Tuns Q Beobachten und Einschätzen des Befi und der Aktivitäten während eines Tages (Tagesprotokolle); Q Identifi fizieren angenehmer, positiv erlebter (auch früherer) Aktivitäten; Q Erkennen des Zusammenhangs von Befi finden und Tun; Q Identifi fizieren von unangenehmen, als Last erlebten Dingen im Alltag; Q gestufter Aufbau von positiven Aktivitäten und gleichzeitiger Abbau unangenehmer Dinge; Q Rollenspiele und Übungen zum Erlernen und Erproben neuer sozialer Handlungen;
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Q Einbeziehung der Angehörigen (Veränderung von Interaktionsmustern und Information über Therapie); Q Erkennen von Einstellungen, Überzeugungen, Haltungen, Denkmustern beim alltäglichen Tun; Q Vermittlung des kognitiven Modells und der Bedeutung von Kognitionen beim emotionalen Erleben und Handeln; Q Einleitung von Veränderungen auf der kognitiven Ebene durch verschiedene Techniken (z. B. alternative Erklärungen suchen); Q Planung und gestufte Umsetzung der veränderten Kognitionen in verändertes Handeln durch Realitätserprobung und Experimentieren; Q Vorbereitung auf die Zeit ohne therapeutische Begleitung. Anwendung des Erlernten auf Krisen, Rückfälle und Verschlechterungen. Dieses Vorgehen ist sowohl in Einzel- als auch Gruppentherapie möglich und nach Studien des Autors bei älteren Menschen effizient. fi Eigene Erfahrungen im stationären Bereich (Geriatriezentrum) und in der eigenen Praxis decken sich mit den hier angeführten, wobei zusätzlich zur Integration der Angehörigen die des Pfl flegepersonals zu nennen wäre. Dies erscheint insofern besonders wichtig, da durch die Aufnahme von eigenen Aktivitäten und den Rückgang der depressiven Symptomatik beim Betroffenen eine Änderung im sozialen System der Abteilung zu erwarten ist. Der nicht mehr so „auffällige“ Patient erhält dann weniger Zuwendung, sodass ein Rückfall zu erwarten wäre. Um dies zu vermeiden, wäre soziale Verstärkung dieser neuen Aktivitäten (z. B. durch Zuwendung) durch das Personal wichtig. Im Folgenden soll der Einsatz von Verhaltenstherapie anhand eines Beispiels kurz dargestellt werden. Frau S., 63 Jahre, kommt auf Anraten ihres Hausarztes in die psychotherapeutische Praxis. Sie berichtet depressive Stimmungslage, Ein- und Durchschlafstörungen, verminderten Antrieb und Lustlosigkeit. Den Beginn der Erkrankung gibt sie etwa mit ihrer Pensionierung und der Überforderung mit der von ihr übernommenen Betreuung des Enkels an. Durch die Depression sei ihr diese Betreuung seit vier Monaten nicht mehr möglich, was große Schuldgefühle auslöse, da sich ihre Tochter auf sie verlassen habe. Eine medikamentöse Therapie mit einem modernen Antidepressivum habe nur geringe Besserung gebracht. Als Ziele gibt Frau S. an, sie wolle „wieder funktionieren und ihre Aufgaben durchführen können“. In einem ersten Schritt wurden der Patientin nach der Anamnese die Zusammenhänge zwischen ihren eigenen Ansprüchen und den damit verbundenen Konsequenzen („Ich muss immer funktionieren!“ „Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen!“) aufgezeigt. Über gezielte Aufgaben zum Wahrnehmen und Genießen (Riechen, Essen, Trinken, Beobachten von Dingen des Alltags), den Aufbau von Aktivitäten („Was möchte ich tun“ anstelle des „Was soll/ muss ich tun“) fand sie wieder erste Freude am Leben. Zusätzlich war es für sie auch wichtig, „Nein“-Sagen zu lernen. Das war für sie immer mit Schuldgefühlen verbunden, da sie doch als Mutter „Verantwortung“ übernommen habe. Die Bearbeitung dieses Rollenbildes erwies sich als schwie-
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rig, da ihr gesamtes Leben nach diesem Prinzip strukturiert war. In diesem Stadium der Therapie war es auch notwendig, den Ehepartner mit einzubeziehen, der die Veränderungen im Verhalten seiner Gattin kritisch betrachtete („Du wirst noch eine Emanze!“). Durch das Äußern seiner eigenen Ängste und Informationen über die Therapie war es ihm möglich, seine eigenen Befürchtungen besser zu verarbeiten. Die Patientin machte nun auch den Führerschein, um selbstständiger zu werden, und konnte somit auch ihren Gatten bei diversen Aktivitäten unterstützen. Die gesamte Therapie dauerte 25 Sitzungen. Als zweiter wichtiger Bereich sei an dieser Stelle die Betreuung dementer Patienten angeführt. Diese zeigen eine Vielzahl möglicher Verhaltensauffälligkeiten, die etwa folgendermaßen zusammengefasst werden können: Q Q Q Q Q Q Q Q Q
kognitive Beeinträchtigungen (Gedächtnis, Denken, Urteilsvermögen), Desorientierung, Sprachstörungen, motorische Störungen (Unruhe, Ataxie, Apraxie, …), emotionale Störungen (Angst, Depressionen, Apathie, Aggressivität, …), Störungen in der Selbstständigkeit (Waschen, Essen, Anziehen), Inkontinenz, Bettlägrigkeit, soziale Inkompetenz und Isolation.
An verhaltenstherapeutischen Techniken werden in diesem Bereich vor allem operante Methoden angewendet, wobei durch gezieltes Verstärken (Ausblenden) erwünschter (unerwünschter) Verhaltensweisen, durch das Bilden neuer Reaktionsformen (bei aufgedrehtem Radio aufstehen, markierter Weg zur Toilette) sowie das gezielte Training kognitiver Leistungen (Gedächtnis, Orientierung, …) eine Erhöhung der Verhaltenskompetenz des dementen Älteren angestrebt wird. Als Beispiel für ein solches Vorgehen sei ein von uns (Gatterer 1986, 1989) entwickeltes Realitäts-Orientierungs-Trainingsprogramm für Patienten mit Alzheimerscher Demenz angeführt. Aufbauend auf dem von Folsom (1968) erstmals vorgestellten und von Weitzel-Polzer (1987) weiterentwickelten Programm, wurde dieses speziell den Bedürfnissen von Patienten mit Alzheimerscher Demenz angepasst und standardisiert. Das Programm beinhaltet Trainingsinhalte für 24 Gruppensitzungen, die dreimal wöchentlich jeweils etwa 50–70 Minuten durchgeführt werden. Das Programm ist im Anhang angeführt. Hierbei erfolgt ein Q Training kognitiver Leistungen (Orientierung, Gedächtnis, …), Q Training von Wahrnehmung (optisch, akustisch, taktil, Geruch und Geschmack) und Motorik, Q Remotivation (Genusstraining), Q Förderung sozialer Kontakte, Q Förderung von Kompetenz, Q Orientierungstraining in vivo (Toilette finden, Zimmer finden).
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Dieses Programm hat sich bei Patienten mit leichter bis schwerer Demenz bewährt, wobei signifi fikante Verbesserungen in den Bereichen Orientierung, kognitive Leistungsfähigkeit und Stimmung beobachtet werden konnten. Diese Leistungsverbesserungen sind nach Beendigung des Trainings etwa fünf Wochen stabil, fallen jedoch innerhalb eines halben Jahres wieder auf das Niveau vor Trainingsbeginn ab. Diese Ergebnisse weisen also darauf hin, dass mittels eines gezielten, verhaltensorientierten Trainingsprogrammes auch Leistungsverbesserungen (kognitiv und psychisch) bei dementen Patienten möglich sind. Eine zusammenfassende Darstellung zur Verhaltenstherapie bei Menschen mit Alzheimerscher Demenz fi findet sich bei Ehrhardt und Plattner (1999). Zusammenfassend kann man sagen, dass verhaltenstherapeutische Methoden im Bereich der Geriatrie eine breite Anwendung finden. Wichtig erscheint bei der Durchführung solcher Programme jedoch die individuelle Situation des Betroffenen. Zu vermeiden sind „Patentrezepte“ sowie die finition von „Auffälligkeiten“ des Patienten und dessen Thewillkürliche Defi rapie anstelle z. B. der Veränderung der Einstellung des Personals.
Gesprächspsychotherapie/personenzentrierte Psychotherapie Die therapeutische Grundhaltung der Gesprächspsychotherapie/personenzentrierten Psychotherapie bietet infolge ihres eher nicht direktiven Vorgehens älteren Menschen die Möglichkeit, ihr Altern zu reflektieren fl und neue Einsichten und Lebensperspektiven zu gewinnen. Grundlagen der personenzentrierten Psychotherapie Die personenzentrierte Psychotherapie (auch bekannt als Gesprächspsychotherapie oder klientenzentrierte Psychotherapie) wurde vom amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1902–1987) entwickelt. Sie beruht auf einem humanistisch orientierten, ganzheitlichen Ansatz und stellt die Person des Klienten und nicht allein seine Probleme in den Mittelpunkt. Die zentrale Annahme des personenzentrierten Konzeptes, dass jedem Menschen eine grundlegende Tendenz in Richtung Wachstum, Entwicklung und Reifung innewohnt, dass die Entwicklung der Person ein lebenslanger Prozess ist, dass die Person ihre eigene Entwicklung gestaltet, bietet eine konstruktive Voraussetzung für die Psychotherapie mit älteren Menschen. Personenzentrierte Psychotherapie heißt nicht einseitige Behandlung eines Patienten durch einen Experten, sondern bedeutet die Herstellung einer personalen Beziehung, die der Klient zu seiner eigenen Entwicklung nützen kann und die ihn befähigt, eigene Wege zur Lösung seiner finden. Der Klient wird als Experte für sich selbst angesehen. Probleme zu fi Das heißt, jeder einzelne Mensch besitzt in sich selbst eine Vielzahl eigener Hilfsmittel für das Verständnis seiner Person und für die Veränderung sei-
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ner Einstellungen, seines Selbstkonzeptes und seines Verhaltens. Diese Mittel können erschlossen werden, wenn ein defi finierbares Klima förderlicher psychologischer Haltungen zur Verfügung gestellt werden kann. Die Frage ist daher nicht, wie man einen Menschen behandeln oder heilen kann, sondern wie eine Beziehung hergestellt werden kann, die der Klient zu seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung nutzen kann. Das tragende Element im personenzentrierten Ansatz ist also die Beziehung. Diese Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten beruht auf verschiedenen Grundlagen. Rogers (1977, 1997) formulierte sechs Bedingungen, die er als notwendig für einen Prozess der Veränderung und als hinreichend, um diesen Prozess in Gang zu setzen, ansieht. Diese Bedingungen sollten vorhanden sein und zumindest über eine gewisse Zeitspanne bestehen bleiben: Q Zwei Personen sind miteinander in Kontakt. Q Der Klient steht unter einem gewissen Leidensdruck, er ist verletzlich oder ängstlich. Q Der Therapeut ist kongruent oder integriert in der Beziehung. Q Der Therapeut empfi findet Wertschätzung und unbedingte positive Beachtung für den Klienten. fi einfühlendes Verstehen des inneren BezugsQ Der Therapeut empfindet rahmens des Klienten und bemüht sich, diese Erfahrung dem Klienten zu vermitteln. Q Die Vermittlung des einfühlenden Verstehens und der unbedingten positiven Beachtung an den Klienten gelingt zumindest in einem minimalen Ausmaß (d. h., sie werden vom Klienten wahrgenommen). Ergebnisse über die Effizienz fi reiner Gesprächspsychotherapie bei älteren Menschen liegen nur in geringer Zahl vor (Linster 1990), andererseits liegen mehrere empirisch fundierte Arbeiten über kombinierte Therapieansätze vor. So integriert Preuss (1982) Gruppenarbeit, Gruppengesprächstherapie, Bewegungstherapie, kognitives Training und Aktivitätstraining und berichtet positive Ergebnisse. Auf die Wichtigkeit von Empathie, Akzeptanz und Echtheit wird bei der Anwendung verschiedenster psychotherapeutischer Methoden hingewiesen. Die Prinzipien der Gesprächstherapie mit älteren Menschen können dabei folgendermaßen zusammengefasst werden: Q Analyse der subjektiven Selbst- und Weltsicht des Klienten (Thomae 1988); Q Angleichung von Real- und Idealselbst, Erhöhung des Selbstwertgefühls; Q Bearbeitung der aktuellen inneren und äußeren Situation (Verluste, Konfl flikte, Krisen, …); Q Fokussierung auf das Aktuelle und Erhöhung der Autonomie; Q Aktivierung und Motivierung; Q Integration der sozialen Umwelt; Q Wichtigkeit des Therapeuten und dessen Grundhaltung.
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Mögliche Motive und Anlässe für ältere Menschen, psychotherapeutische Unterstützung zu suchen, sind: Q Einsamkeit, Isolation; Q Verlust von nahe stehenden Menschen, Kompetenzen, Ansehen, Fähigkeiten; Q Rollenveränderung; Q Trauerprozesse; Q psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Angst, wahnhafte Zustände; Q körperliche Erkrankungen; Q Anpassung an veränderte Lebensbedingungen; Q Akzeptanz des Alterungsprozesses; Q ungelöste Probleme oder Anliegen noch einmal durchzusehen; Q Lebensbilanz zu ziehen; Q Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Diese Aufzählung macht deutlich, dass viele Probleme und Anliegen nicht an ein bestimmtes Alter gebunden sind und in jedem Lebensabschnitt auftreten können, andere wiederum scheinen im höheren Lebensalter einen größeren Stellenwert zu haben. Im höheren Lebensalter ergeben sich oft andere Schwerpunkte und Erwartungen bezüglich Inhalt oder Ziel einer Therapie als bei jüngeren Klienten und stellen den Therapeuten vor die Aufgabe, sich auch mit diesen Aspekten und Anforderungen auseinanderzusetzen. Dazu gehören: Q die Revision und Stabilisierung des Selbstbildes, Q die Erhaltung oder Steigerung des Selbstwertgefühls trotz zunehmender Unselbstständigkeit und Abhängigkeit, Q die Förderung von Eigenverantwortlichkeit, Q das Akzeptieren der aktuellen inneren und äußeren Lebensbedingungen, Q die Bewältigung realer Verlusterlebnisse, Q die Bearbeitung aktueller Krisen und Konfl flikte, Q das Betrachten von Möglichkeiten und Grenzen im höheren Lebensalter, Q die biografi fische Ausrichtung, Q die Notwendigkeit, Vergangenes zu erledigen und abzuschließen, die Gegenwart wahrzunehmen, die Zukunft zu planen. Die Therapie mit älteren Menschen erfordert oft ein verändertes Setting, wie Hausbesuche, für die Bedürfnisse älterer Menschen geeignete Praxisräume, zeitliche Abhängigkeit von Angehörigen, Begleitpersonen oder Fahrtendiensten, Gruppen- oder Einzeltherapie im Rahmen von stationären Aufenthalten sowie mehr Schutz und Unterstützung des Klienten und motivierende und aktivierende Interventionen. Im Falle begrenzter Selbstständigkeit muss die Therapie auch Hand in Hand mit der Versorgung sozialer Bedürfnisse gehen. Es ist daher wichtig, dass sich der Therapeut über die Angebote der jeweiligen Gemeinde informiert.
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Das soziale Umfeld (Angehörige, Betreuer, Arzt, andere Therapeuten) muss in der therapeutischen Arbeit berücksichtigt und bei Bedarf mit einbezogen werden. Auch auf Sinnesbehinderungen, wie eingeschränktes Seh- oder Hörvermögen, muss geachtet werden. Bei schlechtem Sehvermögen werden nonverbale Botschaften wie Mimik und Gestik vermindert oder gar nicht wahrgenommen, und Tonfall und sprachlicher Ausdruck müssen sehr präzise sein, bei Schwerhörigkeit wiederum haben Mimik, Gestik und Körpersprache mehr Bedeutung und Aussagekraft. Eine hilfreiche Beziehung „Als hilfreich lässt sich vielleicht eine Beziehung definieren, fi in der einer der Teilnehmer bestrebt ist, für eine oder beide Parteien dahin zu gelangen, dass die latenten inneren Ressourcen des Individuums höher geschätzt, nachhaltiger ausgedrückt und wirksamer gebraucht werden“ (Rogers 1973). Diese Defi finition von Beziehung gilt in gleichem Maß für die Beziehung zwischen Therapeuten und älteren Menschen. Rogers vertritt die Überzeugung, dass „die therapeutische Beziehung nur ein spezieller Fall allgemeiner zwischenmenschlicher Beziehungen ist und dass die gleiche Gesetzmäßigkeit alle interpersonalen Beziehungen regelt“ (Rogers 1973). Beziehung entsteht von Person zu Person, durch aktive persönliche Anteilnahme. Sie besteht darin, dem anderen als einem Menschen zu begegnen, der verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, ihn nicht in ein Schema einzuordnen, ihn nicht zu klassifi fizieren oder zu diagnostizieren. Vorgefasste Konzepte und Diagnosen sind oft einschränkend und bergen die Gefahr in sich, dass der Mensch nicht als Person, sondern als Fall, z. B. als alter Mensch, als Depressiver oder Demenzkranker, gesehen wird. Dieses Etikett schließt von vorneherein viele Möglichkeiten der Beziehung und der Wahrnehmung des anderen aus. Vieles wird dann dem Alter oder einer Krankheit zugeschrieben, als unveränderlich angesehen und nicht weiter beachtet. Ein wesentliches Element einer Beziehung ist es, im anderen Vertrauen und das Gefühl, verstanden zu werden, zu wecken. Das gilt in besonderem Maße für ältere Menschen, die oft misstrauisch sind und sich von anderen nicht verstanden oder angenommen fühlen. Für alte, kranke oder verwirrte Menschen ist es hilfreich, mit verständnisvollen Therapeuten oder in einer Kleingruppe mit anderen Betroffenen Gespräche zu führen. Sie brauchen soziale Kontakte, Gesprächspartner außerhalb der Familie, geduldige, einfühlsame Zuhörer und eine geschützte Atmosphäre, wo sie sich nicht minderwertig und nutzlos, sondern akzeptiert und verstanden fühlen und mit anderen Menschen in einer gleichwertigen Beziehung stehen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass wir ein soziales Umfeld, Anerkennung unserer Leistungen und die Bestätigung unseres Selbst, unserer Person, durch andere brauchen. Wir brauchen die Kommunikation mit anderen Menschen. „Ohne Du kein Ich“, sagt Martin Buber (1965) und meint damit die Notwendigkeit, unsere Existenz, unsere Person
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durch einen anderen Menschen bestätigt zu finden. Daher geht es in erster Linie darum, eine stabile, unterstützende Beziehung anzubieten. Das Aufbauen einer Beziehung ist keine Technik, sondern beruht auf bestimmten Einstellungen und Grundhaltungen und hängt auch davon ab, ob und wie diese dem Klienten vermittelt und von ihm wahrgenommen werden können. Nach dem personenzentrierten Konzept sind „Kongruenz, Empathie und Wertschätzung“ die für eine hilfreiche Beziehung wesentlichen Einstellungen oder Grundhaltungen seitens des Therapeuten. Kongruenz oder Echtheit Diese ist wahrscheinlich die grundlegendste der therapeutischen Einstellungen, die den positiven Verlauf einer Therapie fördern. Wenn der Therapeut „er selbst ist“, sich nicht hinter einer Fassade oder professionellen Rolle versteckt, wenn er sich seiner eigenen Gefühle und Empfindungen fi bewusst ist und dieses Erleben auch in der Beziehung zum Klienten einbringen kann, ist er für diesen echt, und auch der Klient kann es wagen, mehr von sich zu zeigen, echt zu sein. Diese Einstellung ist bestimmt nicht immer einfach zu erfüllen. Gerade in der Begleitung eines alten und vielleicht kranken oder verwirrten Menschen werden in uns immer wieder Gedanken und Gefühle auftauchen, die für uns unangenehm und belastend sind und die wir abzuwehren versuchen. Wir werden sicher Enttäuschung, Hilflosigkeit, fl Angst oder ein Gefühl der Bedrohung erleben und uns mit dem eigenen Altern und der Möglichkeit, selbst unter denen zu sein, die vor dem Tod krank und vielleicht verwirrt sind, auseinandersetzen müssen. So kann es immer wieder dazu kommen, dass man sich in eine professionelle Rolle zurückzieht, um sich selbst zu schützen. Diese Art der Beziehung wird aber für den Klienten sicher nicht hilfreich sein. Wir müssen daher zuerst lernen, auch diese Gefühle bewusst wahrzunehmen und die Gefühle und Einstellungen, die im Augenblick da sind, in die Beziehung zum Klienten einzubringen. Es ist sehr wichtig, dass der Therapeut sich seiner eigenen persönlichen Einstellung gegenüber Alter, Krankheit, Sterben und Tod bewusst ist. Sehen wir das Alter nur unter dem Aspekt von Verlust, geistigem und körperlichem Abbau, Defiziten, fi Einschränkung, Unselbstständigkeit und Abhängigkeit, oder sehen wir ältere Menschen als Personen mit Ressourcen und Erfahrungen, mit Zielen und Wünschen, die sich aktiv mit Veränderungen auseinandersetzen, die Gefühle und Bedürfnisse haben und die gehört und geachtet werden wollen. Achten wir auf das, was (noch) vorhanden ist, welche Kompetenzen noch da sind, oder bemerken wir nur das, was fehlt? Da die Therapeuten meist einer jüngeren Generation angehören, der Altersunterschied zwischen Therapeuten und Klienten bis zu 40 Jahre und mehr betragen kann, ist es von Bedeutung, sich auch dieser Tatsache bewusst zu sein. Wie sind die persönlichen Einstellungen zu den eigenen Eltern und Großeltern, gesteht der Klient uns Kompetenz zu oder behandelt
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er den Therapeuten wie seine eigenen Kinder oder Enkelkinder? Der Thefindet sich anfangs in einer anderen Rolle als bei etwa gleichaltrigen rapeut fi oder jüngeren Klienten, dies ist ihm aber bewusst und verliert im Verlauf der Therapie an Bedeutung. Empathie Empathie heißt einfühlendes Verstehen der inneren Erlebniswelt des Klienten. Sie ist das Bemühen, sich in den anderen Menschen hineinzuversetzen, seinen Gedanken zu folgen und ihn von seinem Standpunkt aus zu verstehen. Empathie heißt auch, die private Wahrnehmungswelt des anderen zu betreten und darin heimisch zu werden, sich vorsichtig darin zu bewegen, Veränderungen in dieser Welt zu spüren und Bedeutungen zu erahnen. Eigene Empfi findungen dieser Welt des anderen werden diesem mitgeteilt und gemeinsam überprüft. Der Therapeut versucht jedoch nicht, Gefühle aufzudecken, deren sich die Person des Klienten gar nicht bewusst ist, das wäre zu bedrohlich. Eigene Vorurteile, Wertvorstellungen und Deutungen des Therapeuten werden beiseitegelassen, das eigene Selbst muss für diese Zeit zur Seite treten. Die innere Welt des Klienten mit ihren ganz persönlichen Bedeutungen so zu verspüren, als wäre sie die eigene, doch ohne die Qualität des „als ob“ zu verlieren (Rogers 1992, 216), also nicht in der möglicherweise seltsamen und verworrenen Welt des anderen verloren gehen, sondern jederzeit in die eigene Welt zurückkehren zu können, das ist Empathie und scheint das Wesentliche für eine fördernde Beziehung zu sein. Die Bedeutung der Empathie oder des empathischen Verstehens liegt für den Klienten auch darin, dass sich jemand für ihn interessiert, ihn schätzt und die Person, die er ist, akzeptiert. Der Klient hat das Bedürfnis, angenommen und verstanden zu werden. Wenn der Therapeut ihn versteht, kann er sich auch selbst verstehen. Empathisches Verstehen hebt für den Klienten die Entfremdung auf, er fühlt sich, wenigstens in diesem Augenblick, in Verbindung zu einem anderen Menschen, er ist zu diesem in eine Beziehung getreten und fühlt sich weniger isoliert. Von einem anderen Menschen verstanden zu werden, gibt ihm seine Identität. Identität setzt das Vorhandensein eines anderen voraus, sagt Ronald Laing (1972). Im Umgang mit alten oder verwirrten Menschen scheint mir dieses einfühlsame Verstehen bzw. Verstehenwollen als die wichtigste Voraussetzung für eine hilfreiche Beziehung und einen erfolgreich verlaufenden Therapieprozess. Empathie ist auch die Grundlage für viele heute praktizierte Pflegefl modelle, für neue Wege in der Beratung und Pädagogik, für den Umgang mit behinderten, psychotischen oder dementen Menschen und ist auch die Basis und das Kernstück der Validation.
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Wertschätzung „Eine dritte Bedingung besteht darin, dass der Therapeut eine warme Anteilnahme für den Klienten spürt – eine Anteilnahme, die nicht besitzergreifend ist, die keine persönliche Belohnung fordert. Es handelt sich um eine Anteilnahme, die einfach zeigt, ‚ich nehme Anteil‘, nicht ‚ich nehme Anteil, wenn Sie sich auf diese und jene Art verhalten‘“ (Rogers 1973, 277). Es geht also darum, den anderen so zu akzeptieren, wie er ist, ihn nicht zu bewerten, ihn als wertvollen Menschen wahrzunehmen, trotz Krankheit und uns sonderbar erscheinenden Verhaltens. Alten und verwirrten Menschen gegenüber fällt es oft besonders schwer, diese Wertschätzung, dieses bedingungsfreie Akzeptieren zu empfi finden. Sie verhalten sich meist nicht so, wie es von ihnen erwartet wird und wie es den gesellschaftlichen Regeln entspricht. Sie werden oft als störend empfunden, z. B. im alltäglichen Ablauf einer Station oder zu Hause in der Familie. Wenn wir aber davon ausgehen, dass dieses veränderte Verhalten eine ganz bestimmte persönliche Bedeutung hat und Gefühle und Gedanken ausdrückt, die wir vielleicht nicht verstehen und daher auch nicht beurteilen und bewerten können, ist es für den Klienten wie für den Therapeuten hilfreich, dies zu akzeptieren und nicht zu versuchen, den anderen nach unseren Vorstellungen zu verändern oder sein Verhalten anzupassen. Es ist also notwendig, den Klienten in umfassender Weise zu schätzen und nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen. Wir müssen bereit sein, ihm seine gegenwärtigen Gefühle und Empfindungen fi zu gestatten, auch wenn sie sich gegen uns richten. „Der Klient ist der Einzige, dem es möglich ist, voll die Dynamik seines Verhaltens und seiner Realitätswahrnehmung zu erkennen und folglich für sich selbst geeignete Verhaltensweisen zu fi finden. Es ist nicht das Ziel dieser Therapie, einer Person zur Anpassung an die ‚Gesellschaft’ zu verhelfen.“ (Rogers 1992, 134). Alte und kranke Menschen leiden besonders unter dem Verlust ihres Selbstwertgefühles und ihrer bisherigen Persönlichkeit. Sie empfi finden sich selbst als weniger wert und erfahren auch in ihrem Umfeld weniger Wertschätzung. Schon am Beginn des Krankheitsprozesses werden sie nicht mehr als gleichwertig behandelt und von anderen bevormundet. Oft werden über sie hinweg Entscheidungen getroffen und ihre Wünsche übergangen. Sie fühlen sich anderen Menschen unterlegen, da sie zunehmend unselbstständig und von anderen abhängig werden. Ein nicht wertendes und akzeptierendes Umfeld ermöglicht es dem Kranken, sich selbst gegenüber wertschätzend zu sein. Wird er als eigenständige wertvolle Persönlichkeit anerkannt, so kann er sich selbst anerkennen. Personenzentrierte Psychotherapie bei Demenz? Psychotherapie mit dementen Menschen hat verschiedene Aspekte. Personen, die sich in einem frühen Krankheitsstadium befi finden und denen die Diagnose „Demenz“ erst vor Kurzem mitgeteilt wurde, haben wahrscheinlich, wie bei der Diagnose einer anderen chronischen oder unheilbaren Krankheit, in erster Linie das Bedürfnis, über die Bedeutung und die Aus-
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wirkungen dieser Erkrankung zu sprechen. Psychotherapie mit diesen Klienten unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen psychotherapeutischen Prozessen im herkömmlichen Sinn. Von der Seite des Therapeuten ist es wichtig, eine stabile, Vertrauen gebende Beziehung aufzubauen und sich darüber im Klaren zu sein, dass diese Beziehung vielleicht viele Jahre andauern und von ihm in hohem Maß Stabilität und Verlässlichkeit fordern wird. Der Therapeut muss sich mit seinen eigenen Gefühlen zur Abhängigkeit, dem Verlust der Selbstbestimmung und dem Verlust der persönlichen Identität auseinandersetzen. Wahrscheinlich fürchtet sich jeder Mensch davor, alt, gebrechlich und abhängig zu werden. Hinzu kommt die Angst, in einem verrückten, verwirrten und verlorenen Zustand einen lange andauernden Sterbeprozess zu erleben. In der Nähe eines Menschen mit Demenz haben wir daher vielleicht einen Zustand vor Augen, in den wir selbst möglicherweise eines Tages geraten könnten. Die Abwehr solcher Gefühle ist daher nur allzu verständlich, schließt aber diese Menschen aus unserer Welt aus und anerkennt sie nicht mehr als echte Personen. Sie werden entpersonalisiert und unter der Kategorie „Demenzkranke“ abgelegt und so von der „normalen“ Gesellschaft ausgeschlossen. Dies geschieht oft schon in einem frühen Stadium der Erkrankung. Daher ist ein personenzentrierter Zugang, ohne vorgefasstes Konzept, ohne Diagnostizieren und Kategorisieren, wo der Mensch als Person gesehen wird und nicht als Krankheit oder Problem, die beste Voraussetzung für eine beiderseits hilfreiche Beziehung. Mein Anliegen ist es, nicht nur oder nicht in erster Linie Psychotherapie für diejenigen Menschen, bei denen die Diagnose Demenz erst vor Kurzem oder in einem sehr frühen Krankheitsstadium gestellt wurde, anzubieten und die Wirksamkeit einzuschätzen, sondern auch für die Menschen, deren Demenzprozess schon fortgeschritten ist und wo positive Wirkungen nur sehr individuell, von Außenstehenden und nur in geringem Maße von den Betroffenen selbst (oft nicht mehr durch Worte) mitgeteilt werden können. Ob diese Therapie oder Begleitung, wie ich sie lieber nennen möchte, hilfreich ist, kann oft nur erahnt oder gefühlt werden. Ist Therapie in fortgeschrittenen Stadien (noch) sinnvoll? Wie wir wissen, ist bei Menschen mit einer Demenzerkrankung das Erinnerungsvermögen, vor allem das Kurzzeitgedächtnis, schwer beeinträchtigt, die Aufmerksamkeit lässt sich nicht lange aufrechterhalten, die Persönlichkeit wird abgebaut, die Autonomie ist weitgehend eingeschränkt, und Erkenntnisse können nicht mehr in Handlungen umgesetzt werden. Das alles spricht gegen Psychotherapie im traditionellen Sinn, die ja auf mehr Autonomie, Reifung, Persönlichkeitsentwicklung und Erfahrung der persönlichen Entscheidungsmöglichkeiten, also auf ein Lernen seitens des Klienten, abzielt. Wenn wir Therapie nur in diesem Kontext sehen, ist Skepsis offensichtlich angebracht. Sehen wir den Dementen aber als ganze Person, als Individuum mit eigener Geschichte und eigenen Erfahrungen, an die er sich zwar offensichtlich nicht erinnern kann, die aber trotzdem
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implizit in ihm da sind, als einen Menschen, der Trost und Halt braucht, der um seine Identität ringt, der bis zuletzt ein Bedürfnis nach Beziehung und Liebe hat, so hat das Angebot einer Beziehung im Sinne der personenzentrierten Psychotherapie, einer personenzentrierten Einstellung dem anderen gegenüber, eine große Bedeutung, besonders auch für Menschen mit fortgeschrittener Demenz. Demente Menschen waren früher psychisch gesunde Persönlichkeiten, anders als bei psychotischen oder schizophrenen Klienten. Darauf kann man aufbauen. Sie sind zugänglich für Beziehungsangebote und können mit Gefühlen umgehen. Menschen mit Demenz sind meistens offener und unmittelbarer im Ausdruck ihrer Gefühle und Bedürfnisse, sie verstecken sich nicht hinter Fassaden, sie sind selbst sehr echt, sie erleben sich im Hier und Jetzt, sie sind sensibel für Gefühle, die ihnen entgegengebracht werden, reagieren empfindlich fi auf „unechtes“ Verhalten und haben ein intaktes emotionales Gedächtnis. Beispiel: Eine ältere Frau im fortgeschrittenen Stadium der Alzheimer Krankheit erkennt ihre eigene Tochter nicht mehr, was für diese sehr schmerzlich ist. Sie verwechselt ihre Tochter mit ihrer Mutter und will sie ständig um sich haben. Die Mutter bedeutet für sie Sicherheit, gehalten werden, sich behütet und umsorgt fühlen – ein gutes Gefühl. Sieht die Tochter jetzt nicht den realistischen Inhalt („ich kann doch nicht deine Mutter sein, die ist ja schon lange tot“), sondern den emotionalen Inhalt und das Bedürfnis nach Geborgenheit dahinter, so kann sie ihrer Mutter ein Gefühl des Wohlbefi findens vermitteln und sich auch selbst in ihrer veränderten Rolle wohl fühlen. Wir können Demente vielleicht besser verstehen, wenn wir Person-Sein im Sinn von In-Beziehung-Sein sehen. Selbst bei weit fortgeschrittener Demenz ist es möglich, eine Beziehung zum Kranken herzustellen, eine Begegnung von Mensch zu Mensch zu erleben. Im Verlauf eines Therapieprozesses wird eine besondere Art der Beziehung, im personenzentrierten Sinn, aufgebaut. Diese Beziehung ist echt, tolerant, akzeptierend und frei von Wertungen, und sie ist stabil. Der Therapeut erwartet nicht, etwas zurückzubekommen, er anerkennt den anderen als eine wertvolle Person, eine Erfahrung, die manche Patienten in ihrem früheren Leben vielleicht nie gemacht haben. Diese Empfi findungen werden mit der Zeit im emotionalen Gedächtnis verankert. Der Kranke erfährt dadurch das Erleben von positiven Gefühlen und kann sich innerlich reorganisieren, in dem Sinn, dass durch kontinuierliches Anerkennen seifi eine gewisse Struktur ner Person das innere Chaos, in dem er sich befindet, erhält. Er leidet ja darunter, dass ihm sein Ich, das, was er als sein PersonSein empfi findet, abhanden kommt. Durch die therapeutische Beziehung kann er sich als in Beziehung (in Relation) zu anderen erleben und fühlt sich vielleicht mehr verbunden und weniger verloren. Dieses Beziehungsangebot muss kontinuierlich erfolgen und vom Betroffenen kontinuierlich erfahren werden, da ja kein stabiles, dauerhaftes Gleichgewicht erreicht werden kann, sondern ein momentaner Zustand, der durch uns geringfügig erscheinende Veränderungen zerstört werden
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kann. Für den Kranken ist die gegenwärtige Begegnung wichtig und vermittelt ihm ein Gefühl des Wohlbefi findens und des Akzeptiert-Werdens. Einfühlendes Verständnis und eine wertschätzende Beziehung sollten in der Begegnung mit alten, verwirrten Menschen, die an ihrem Selbstwert zweifeln, die sich in zunehmendem Maß als unselbstständig und abhängig erleben, an erster Stelle stehen. Sie sind wahrscheinlich die beste Möglichkeit, dem anderen unsere Zuwendung und Achtung seiner Person zu zeigen. In der heutigen Zeit der Sparmaßnahmen, die besonders auch den Gesundheits- und Sozialbereich betreffen, erhebt sich natürlich die Frage nach der Wirtschaftlichkeit von psychotherapeutischer Arbeit mit diesem speziellen Personenkreis. Wirksamkeit und Ökonomie von Psychotherapie bei jüngeren Klienten sind durch wissenschaftliche Arbeiten belegt, in vielen Bereichen anerkannt und von der Mehrzahl der Krankenkassen zumindest teilweise bezahlt. Bei älteren, kranken, verwirrten Menschen ist die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit psychotherapeutischer Interventionsformen nur begrenzt wissenschaftlich erforscht und belegt. Im stationären Bereich, an gerontopsychiatrischen Abteilungen jedoch, ist Psychotherapie ein unverzichtbarer Bestandteil des Behandlungsangebotes geworden. Die Wahrung von Respekt und Menschenwürde und die Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität sind ein zentrales Anliegen der psychotherapeutischen Arbeit mit älteren und kranken Menschen. Zum Abschluss möchte ich noch einmal Carl Rogers zitieren, der sagt: „Therapie ist ein Prozess, ein Ding an sich, ein Erlebnis, eine Beziehung, eine wirkende Kraft“ (Rogers 1992, 131). Validation Validation ist eine speziell für ältere und sehr alte Menschen entwickelte Methode der Interaktion und geht von der Grundannahme aus, dass der alte Mensch mit kognitiven Defiziten fi nicht mehr veränderbar ist. „Man kann nur lernen, ihn zu verstehen und sich in seine Fußstapfen zu stellen.“ Einen neuen Ansatz in der Betreuung hochbetagter verwirrter Menschen stellt Validation dar. Diese, von Naomi Feil (1982, 1990), aufbauend auf Eriksons (1950, 1978) Lebensstadien und Lebensaufgaben, entwickelte Betreuungsform geht von der Annahme aus, dass auch der alte, verwirrte Mensch wertvoll ist und Würde besitzt. Für jedes Verhalten dieses Menschen gäbe es einen Grund. Der Betreuer muss sich einfühlsam in die Ursache des Verhaltens versetzen. Validation bedeutet, die Gefühle des anderen anzuerkennen und zu bestätigen. Seine Erlebniswelt basiert auf Erinnerungen und Wunschdenken. Sie ist die persönliche Sicht der Wirklichkeit, die Wahrnehmung mit dem geistigen (inneren) Auge.
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Validations-Ziele, um sehr alten, desorientierten Menschen zu helfen, sind: Q Q Q Q Q
Wiederherstellung des Selbstwertgefühls, Reduzieren von Stress, Rechtfertigen des gelebten Lebens, Lösen der unausgetragenen Konfl flikte der Vergangenheit, sich glücklicher fühlen.
Erreicht wird dies mit verschiedenen Techniken, die entsprechend den Stadien der Verwirrtheit (Feil 1990), „mangelhafte Orientierung; Zeitverwirrtheit; sich wiederholende Bewegungen; vegetieren“, gewählt werden. Verbale Validation Q Beobachten der physischen Charakteristika (Augen, Hautton, Muskeln, Hände, etc.); fikation bevorzugter Worte; Q aktives Zuhören; Identifi Q Eingehen auf bevorzugte Sinnesorgane (Gesichtssinn: Bild ansehen; Tastsinn: Berührung); Q Verwendung von Fragen mit „wer“, „was“, „wo“, „wie“, „wann“; Vermeidung von Fragen mit „warum“ (erzeugen psychischen Stress); Q wiederholen von Schlüsselwörtern; Umschreiben; Zusammenfassen; Q Fragen nach dem Extrem („Immer?“, „Wann am schlimmsten?“, etc.); Q in Erinnerung rufen („Wie war es früher?); Q Gegenteile herausarbeiten („Wann war es besser?“); Q fi finden einer gemeinsamen Lösung. Nonverbale Validation Q Q Q Q Q
Konzentration. Eigene Gefühle beiseite lassen; Beobachten der Gefühle des anderen; Lautes und gefühlvolles Ansprechen der Dinge; Spiegeln von Bewegungen; körperlicher Kontakt (berühren).
Validation stellt somit eine spezielle Kommunikations- und Interaktionstechnik für den Umgang mit verwirrten älteren Menschen dar. Viele Techniken sind dabei aus anderen Psychotherapierichtungen entlehnt und in einen neuen Kontext gebracht worden. Die Methode ist eine Bereicherung im Umgang mit dieser Patientengruppe. Gerade Pfl flegepersonen und Ärzte können dadurch einen besseren Zugang zum älteren Menschen gewinnen, insofern sollte sie jedoch in einen größeren Behandlungsansatz integriert werden. In diesem Zusammenhang wird auf die ausführliche Arbeit über Validation in diesem Buch verwiesen.
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Soziotherapeutische Verfahren Soziotherapeutische Methoden berücksichtigen besonders das Umfeld älterer Menschen. Insofern sind sie besonders bei der Entlassung aus stationären Betreuungsstrukturen bzw. bei durch Umweltbedingungen ausgelösten Krisen wichtig. Unter „Soziotherapie werden alle jene Maßnahmen und Methoden zusammengefasst, die tauglich sind, korrigierenden Einfl fluss auf die Verhaltensabwandlung der seelisch Kranken, Gestörten oder Behinderten zu nehmen, welche sich im Zusammenhang mit oder in Abhängigkeit von Sozialprozessen manifestieren, die im Vorfeld therapeutischer Einflussnahmen fl abgelaufen sind und die sich mit dem Eintritt des Patienten oder Klienten in eine therapeutische Situation in spezifischer fi Form fortsetzt“ (Veltin 1979). Zu den Aufgaben der Soziotherapie gehört: Q die Beeinträchtigungen und Abwandlungen der Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten der Kranken so weit rückgängig zu machen, damit es ihnen ermöglicht wird, ihr Leben im sozialen Feld möglichst eigenständig zu gestalten, Q die therapeutische Situation so zu strukturieren, dass sie der Entfaltung und Stabilisierung von Kommunikations- und Interaktionsstrukturen förderlich ist, Q das weitere soziale Umfeld der Kranken, insbesondere ihre Familien, in das therapeutische Geschehen mit einzubeziehen, Q im stationären Setting die Aktivierung und Beschäftigung im Rahmen verschiedenster Gruppenaktivitäten, Q die (gestufte) Vorbereitung des Kranken auf eine Rückkehr in die eigene Umgebung. Die eingesetzten Verfahren und Methoden sind vielfältig und stützen sich auf gruppendynamische, soziodynamische, lerntheoretische, edukative und pädagogische Theorien. Sie lassen sich schwerpunktmäßig den Bereichen „personenbezogen“, „milieubezogen“ und „umweltbezogen“ zuordnen. Personenbezogene Interventionen zielen primär auf eine Erhöhung der Kompetenz des älteren Menschen durch Aktivierung und Training körperlicher und/oder psychischer Funktionen, den Aufbau von Interesse, die Verbesserung der Wahrnehmung und verschiedene spezifi fische Aktivitäten des täglichen Lebens (Kochen, Anziehen, …) ab. Neben diesen inhaltlichen Schwerpunkten besteht die Möglichkeit zur Intensivierung der Interaktion, der Kommunikation, der Verselbstständigung und der Kooperation. Dies geschieht in Form verschiedenster Gruppenaktivitäten (Ergotherapie, Turngruppe, Kochgruppe, Lesegruppe, Seniorentreffen, …) im stationären und ambulanten Bereich. Gerade im Bereich der Soziotherapie ist deshalb die Interaktion der verschiedensten Berufsgruppen besonders wichtig. Die umweltzentrierte Arbeit besteht in der Einbeziehung des Partners, der Familie und der weiteren Umgebung des Kranken. Diesem soll trotz
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Behinderung, Einschränkung oder Veränderung eine möglichst lange Integration in seinem gewohnten sozialen Milieu ermöglicht werden. Gerade in diesem Bereich sind Themen wie „die alternde Ehe, Sexualität im Alter, der Umgang mit Krankheiten und Veränderungen des Partners, …“ besonders wichtig. Angehörigengruppen können hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Im Rahmen des milieuzentrierten Ansatzes soll das therapeutische Milieu, insbesondere im institutionellen Bereich, aber auch zu Hause, den speziellen Bedürfnissen der Betroffenen angepasst werden. Dies umfasst bauliche Veränderungen, Gestaltungen der Umwelt (Farbe), Strukturierung des Tagesablaufes, Orientierungshilfen, Kommunikationsmöglichkeiten, etc. Weiters sind auch noch Einstellungen, Erwartungen, Verhaltensweisen und die Haltung des Personals sowie der Angehörigen zu beachten. Zur Verbesserung des „Klimas“ einer solchen Station und zur Prävention von „Burn-out“ sind regelmäßige Teamsitzungen und Supervision (Hirsch 1992) notwendig. Als praktisches Beispiel wäre etwa das Konzept der Demenzstation im Geriatriezentrum am Wienerwald (Gatterer et al. 2001) anzuführen. Durch die spezifi fische Gestaltung einer Station für Alzheimerpatienten mit starkem Wandertrieb konnte die Lebensqualität dieser Personen signifi fikant erhöht werden. So ermöglicht ein geschützter Gartenbereich den Patienten, ihre motorische Fähigkeit (Herumgehen) auch zu nützen. Farbliche Orientierungshilfen an den Türen, akustische Orientierungen (Morgen-, Mittagsund Abendmelodie), persönliche Gegenstände und eine kontinuierliche Animation und Stimulation helfen, die noch vorhandenen Fähigkeiten möglichst lange zu erhalten. Eine gezielte multidisziplinäre Schulung des gesamten Personals (Teamentwicklung, fachliche Kompetenz, Validation, etc.) hilft, Burn-out vorzubeugen.
Sonstige Methoden Als weitere Möglichkeiten im Rahmen der Psychotherapie älterer Menschen können familientherapeutische Verfahren (Schlesinger-Kipp und Radebold 1982), paartherapeutische Verfahren, Musiktherapie, Tanztherapie sowie verschiedenste Gruppenverfahren (Selbsthilfegruppen, Angehörigengruppen, …) angesehen werden. Diese sind meist analytisch oder lerntheoretisch orientiert und insofern methodisch abgesichert. Einen Überblick bieten Bäuerle et al. (2000). Besonders wichtig erscheint unseres Erachtens die Vorbereitung des Alternden im Sinne einer Geroprophylaxe, da dadurch Probleme bereits vor ihrem Entstehen behandelt werden können. Als im Alter besonders tabuisierte Bereiche können hierbei Sexualität (Schneider 1989, 2000) sowie Tod und Sterben (Seeburger 1990) angesehen werden. Gerade im Bereich der Sexualität ist ein Umdenken jüngerer Therapeuten notwendig, um Ältere mit sexuellen Problemen zu verstehen. Auch Institutionen zeigen oft wenig Verständnis für die sexuellen Bedürfnisse
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älterer Menschen, wobei hierunter nicht nur Geschlechtsverkehr, sondern auch Zärtlichkeit, Gemeinsamkeit, Vertrauen und Hinwendung zum Partner verstanden wird. Auch der ältere Mensch hat Schamgefühle, was besonders bei Pfl flegehandlungen, medizinischen Maßnahmen, aber auch beim Betreten eines Zimmers (anklopfen) beachtet werden sollte. Die Bereiche Tod und Sterben stellen für viele Menschen ein Problem dar. Kommunikation darüber erfolgt nur selten, da die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit oft Angst und Unsicherheit auslöst (Seeburger 1990). Gerade diese Themen sind für den älteren, oft kranken Menschen jedoch von zentraler Bedeutung (Thomae 1988). Durch deren Tabuisierung ist ihm jedoch eine Kommunikation über seine Ängste mit Angehörigen, aber auch dem Pfl flegepersonal, und eine Bewältigung derselben nur erschwert möglich. Insofern erscheint es besonders wichtig, beide Bereiche vermehrt in den therapeutischen Prozess zu integrieren, wodurch sich jedoch auch die Notwendigkeit einer vermehrten und besseren Ausbildung von Therapeuten in diesen Bereichen ergibt.
4 Zusammenfassung und Ausblick Die hier dargestellten Ergebnisse zeigen, dass Psychotherapie und Alter keineswegs im Widerspruch zueinander stehen. Vielmehr bieten gerade psychotherapeutische Methoden die Möglichkeit, die im höheren Lebensalter auftretenden Veränderungen besser zu bewältigen. Im Vordergrund aller dieser Interventionen sollte stehen: a) eine Stärkung der Kompetenz des älteren Menschen zur Bewältigung seines Alltags mit größtmöglicher Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und b) der Erhalt bzw. eine Erhöhung der (subjektiven) Lebensqualität durch Veränderung der somatischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedingungen. Gerade aus dieser Zieldefi finition ist jedoch auch ersichtlich, dass Psychotherapie im höheren Lebensalter nicht isoliert von anderen Therapien (medikamentöse Therapie, Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, pflegefl rischen Maßnahmen, …) gesehen werden kann, sondern einen Teil eines ganzheitlichen Therapieansatzes darstellt. Andererseits erscheint unseres Erachtens aber auch die Ausgliederung psychotherapeutischer Maßnahmen bei „rein medizinischen“ Therapien nicht zielführend, da diese etwa eine Verbesserung der Compliance (z. B. bei chirurgischen Maßnahmen oder im Rahmen der Schmerzbekämpfung bei Tumorerkrankungen) bewirken könnten. Trotz dieser offensichtlichen Effi fizienz der Psychotherapie im höheren Lebensalter erfordert es jedoch weitere Bemühungen und vor allem ein Umdenken in der Gesellschaft, bei den Betroffenen und bei den Psychotherapeuten. Letztere müssen sich vermehrt mit den Bedürfnissen älterer
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Menschen beschäftigen und ihren Wissensstand über die Forschungsergebnisse der modernen Gerontologie, insbesondere der Gerontopsychologie und Sozialgerontologie, erweitern. Es ist eine Philosophie geworden, den älteren Menschen möglichst lange am Leben zu erhalten. Insofern erscheint es aber notwendig, ihn auch seelisch-geistig am Leben zu erhalten.
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„Medikamentenmix“ beim alten Patienten: Richtige Auswahl zur Vermeidung von gefährlichen Wechselwirkungen Martina Anditsch
Die medikamentöse Therapie der Krankheiten älterer Menschen erfordert oft eine Vielzahl an Medikamenten, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Unerwünschte Wirkungen sind hierbei nicht immer auszuschließen. Insofern erfordert ein solcher „Medikamentenmix“ eine kritische Refl flexion der ausgewählten Präparate und oft die Abwägung zwischen der Notwendigkeit der einzelnen Maßnahmen. Eine 78-jährige Diabetespatientin wird mit ausgeprägter Bradykardie mit einer Herzfrequenz von 40 Schlägen/Min. ins Spital eingewiesen. Schon seit einem Jahr ist sie wegen Bluthochdrucks und Herzinsuffi fizienz NYHA II auf Lisinopril 10 mg, Acetylsalicylsäure 100 mg, Carvedilol 12,5 mg und Spironolacton 25 mg eingestellt. Den Zucker hat sie durch Gabe eines Sulfonylharnstoffes und Metformin 1000 mg gut unter Kontrolle. Wegen starker Rückenschmerzen bekommt sie 3 Wochen zuvor ein Diclofenac 100 mg. Die Laborbefunde bei Einweisung ergeben eine starke Hyperkaliämie (K = 6,6 mmol/l) und eine Nierenfunktionseinschränkung (Crea: 1,5 mg/dl).
1 Einleitung Unter dem Begriff Wechselwirkungen oder Interaktionen werden im heutigen Sprachgebrauch in der Regel unerwünschte gegenseitige Beeinflusfl sungen von Pharmaka verstanden, mit der Folge entweder eines unzureichenden Effektes oder von Intoxikationen durch Überdosierungen. Je größer die Zahl der gleichzeitig verabreichten Arzneimittel ist, desto häufi figer muss man mit klinisch relevanten Wechselwirkungen rechnen. Bei mehr als fünf Pharmaka steigt das Risiko um das bis zu 10-Fache an.
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Es ist aber keine Seltenheit, dass der alte multimorbide Patient 10 bis 15 verschiedene Medikamente verschrieben bekommt (Routledge et al. 2004). Oft werden dann die Nebenwirkungen dieser Kombinationen therapiert, und die Liste verlängert sich immer mehr. Durch das gleichzeitige Aufsuchen mehrerer verschiedener Ärzte wird die Liste leider auch nicht kürzer! Diese Polymedikation wirft sehr viele Probleme auf: Es sinkt die Bereitschaft, die Medikamente jeden Tag einzunehmen, dramatisch ab, insbesondere bei Therapien, die zur Vorbeugung von Komplikationen eingesetzt werden, wie z. B. Antihypertensiva, niedrig dosierte Acetylsalicylsäure, und es steigt die Gefahr der Verwechslungen mit zunehmendem Alter stark an. Eine rezente Erhebung der niederösterreichischen Gebietskrankenkasse ergab, dass 5% der Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen sind. In geriatrischen Abteilungen sind sie mit Abstand die häufi figsten Ursachen der Einweisung (Runciman et al. 2003). Diese Daten bestätigen Ergebnisse aus den USA, England und Deutschland (Hallas et al. 1992; Muehlberger et al. 1997; Lazarou et al. figsten unerwünschten Arzneimit1998; Pirmohamed et al. 2004). Die häufi telwirkungen (UAW) waren gastrointestinale Blutungen, Hirnblutungen, Nierenversagen, Elektrolytstörungen und Hypotonie, verursacht vor allem durch unsachgemäßen Einsatz von Rheumamitteln, Diuretika, Antihypertensiva, und starken Schmerzmitteln. In einem großen Prozentsatz könnten durch die individuelle Auswahl der richtigen Medikamente und die häufige fi Kontrolle der Verordnungen diese schwerwiegenden UAW vermieden werden – zum Wohle des Patienten und zur Kostensenkung (Aichhorn und Stuppäck 2003; Bates et al. 1997; Berger et al. 2001)! 17–33% dieser unerwünschten Wirkungen sind Arzneimittelinteraktionen zuzuschreiben, wobei sie mehr als die Hälfte der durch UAW ausgelösten Kosten ausmachen (Levy et al. 1980; Bates et al. 1997; Pirmohamed et al. 2004)! Auch bei der Entlassung aus dem Spital erhalten Patienten häufi fig Arzneimittelkombinationen, die potenzielle Interaktionen beinhalten, die in 12–15% der Fälle als schwerwiegend bezeichnet wurden (Klotz et al. 2003; Juurlink et al. 2003). Oft ist die Beurteilung der klinischen Relevanz einer im Lehrbuch beschriebenen Wechselwirkung sehr schwierig, da die Ergebnisse meistens von kleinen Studien an gesunden Probanden erhoben werden. Als Faustregel gilt: Wenn aufgrund mehrerer Erkrankungen die Zahl der verschriebenen Medikamente nicht reduziert werden kann, so sollte bei der Auswahl der einzelnen Vertreter einer Indikationsgruppe besonders auf Nebenwirkungen und Wechselwirkungspotenzial geachtet werden. In dem zu Beginn beschriebenen Fall wurde durch die gleichzeitige Verabreichung eines ACE-Hemmers (Lisinopril) und eines K-sparenden Diuretikums (Spironolacton) die renale Ausscheidung von Kalium stark reduziert. Die gleichzeitige Gabe eines NSAR (Diclofenac) kann die Nierenfunktion sehr stark verschlechtern und damit die Hyperkaliämie verstär-
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ken. Beim Diabetiker ist die Aufnahme von Kalium in die Zelle generell vermindert. Seit die RALES-Studie aufgezeigt hat, dass die zusätzliche Gabe von niedrig dosiertem Spironolacton (25–50 mg/Tag) bei Herzinsuffizienz fi einen entscheidenden gefäßprotektiven Gewinn bringen kann, ist die Zahl der Krankenhauseinweisungen aufgrund von Hyperkaliämie von 2,4/1000 Patienten 1994 auf 11/1000 Patienten 2001 angestiegen! (Juurlink et al. 2003). Ein intensiveres Monitoring der Elektrolyte beim alten Patienten im niedergelassenen Bereich könnte sicher zahlreiche Spitalseinweisungen verhindern. Man unterscheidet prinzipiell zwischen pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Wechselwirkungen, wobei bei Multimedikation natürlich beide Typen überlappend vorliegen können und die Gefahr einer klinischen Symptomatik verstärken.
2 Pharmakodynamische Wechselwirkungen gut dokumentiert Die pharmakodynamischen Wechselwirkungen sind immer dann zu erwarten, wenn zwei Wirkstoffe an einem Rezeptor, einem Erfolgsorgan oder in einem Regelkreis synergistisch oder antagonistisch wirken. Sie sind in vielen Fällen gut untersucht, dokumentiert und unterliegen zumeist weniger interindividuellen Schwankungen als die pharmakokinetischen Interaktionen. Beispiele für wichtige pharmakodynamische Wechselwirkungen sind: Q Übersedierung durch Kombination zentral dämpfender Medikamente: Werden beispielsweise mehrere zentral dämpfende Medikamente gemeinsam verabreicht, dann besteht die Gefahr von Übersedierung mit erhöhtem Sturzrisiko. Lebensbedrohlich wird es, wenn solche Substanzkombinationen, eventuell mit atemdepressiver Wirkung, parenteral verabreicht werden (z. B. Neuroleptika + Benzodiazepine + Opiate). Q Serotoninsyndrom: Schon seit Langem ist bekannt, dass SSRI und MAOHemmer nicht miteinander kombiniert werden dürfen bzw. sogar eine Auswaschphase von 2 Wochen eingehalten werden muss, da beide Substanzklassen auf unterschiedlichem Weg die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt dramatisch erhöhen und damit ein Serotoninsyndrom ausgelöst werden kann. Doch dieses oft tödlich verlaufende delirante Erscheinungsbild mit Agitation, Hyperreflexie, fl Hyperthermie, Tremor, Blutdruckschwankungen, Übelkeit, Erbrechen kann auch durch die Kombination anderer serotonerger Arzneistoffe, wie z. B. Tramadol, Codein, Triptane, Trizyklika, Opiate, L-Trytophan, Lithium, hervorgerufen werden. Q Delir durch Kombination anticholinerger Substanzen: Beim alten Patienten sollten anticholinerg wirkende Substanzen wenn möglich vermieden werden. Das gilt besonders für demente Patienten oder solche im
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Prädemenzstadium, bei denen eine weitere Abnahme des zentralen Acetylcholins zu einer massiven Verschlechterung des Zustandes führen kann. Mehr als drei solcher Medikamente in Kombination steigern das Risiko für ein Delir um das 10-Fache! Aber nicht nur die direkten Parasympatholytika mit ZNS-Gängigkeit haben zentrale anticholinerge Wirkungen bzw. Nebenwirkungen, sondern auch eine Vielzahl anderer Substanzen. Zu überlegen ist also auch der länger dauernde Einsatz so gebräuchlicher Präparate, wie Dominal forte®, Saroten® bei Schlafstörungen oder Ditropan® bei Inkontinenz bzw. hochpotente Diuretika (z. B. hoch dosiertes Lasix®). Q QTc-Zeit-Verlängerungen: Seitdem einige Präparate verschiedener Indikationen in Österreich wegen lebensbedrohlicher QTc-Zeit-Verlängerungen aus dem Handel genommen wurden (z. B. Cisaprid, Sertindol, Thioridazin), wird verstärkt auf diese Nebenwirkung geachtet. Auch hier ist es die Kombination mehrerer verschiedener Medikamente, aber auch der Einfluss fl von Elektrolytstörungen, Herzerkrankungen oder eines chronischen Alkoholabusus, die eine solche EKG-Veränderung auslösen und zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen führen können (siehe Tabelle 1). Wenn z. B. ein 80-jähriger Patient aufgrund einer Pneumonie ein Makrolidantibiotikum (z. B. Klacid®) oder vielleicht ein Quinolon (Avelox®) zu seiner bestehenden Medikation von Sedacoron®, Saroten® und Risperdal® dazu verordnet bekommt, ist die Gefahr von schweren Herzrhythmusstörungen sehr groß! Q Blutungsrisiko unter SSRI: In zahlreichen Fallberichten und Cohortenstudien konnte gezeigt werden, dass für die Thrombozytenaggregation unter anderem die Aufnahme von Serotonin in die Blutblättchen eine wesentliche Rolle spielt. Dabei wird Serotonin über ähnliche Transporter wie im Gehirn aufgenommen. Diese können durch SSRI (selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren) gehemmt werden. Je höher die Selektivität des SSRI ist, desto stärker ist die damit verbundene aggregationshemmende Wirkung. Trizyklische Antidepressiva und atypische neuere Antidepressiva (z. B. Mirtazapin, Milnacipran, Venlafaxin, Reboxetin, …) zeigen keinen Effekt.
Tabelle 1. QT-Verlängerung • Antiarrythmika: Amiodaron, Sotalol • Antibiotika: Makrolide (Clarythromycin, Erythromycin), Quinolone, Tetracycline • Antimykotika: Ketokonazol, Itroconazol, Fluconazol • Antihistaminika: Terfenadin, Astemizol, Diphenhydramin • Antipsychotika: Haloperidol, Clozapin, Ziprasidon, … • Antidepressiva: TCA, Tetracyclica • Andere: Cisaprid, Chloralhydrat, Li, Ginko, Theophyllin Therapietabellen Psychiatrie No. 25, Juni 2004, 3. Aufl. fl Westermayer-Verlag Psychiatr. Clin. North Am. 2002, 25 (1): 211–230
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Durch die Kombination von SSRI mit Rheumamittel ist das Risiko für obere gastrointestinale Blutungen vervielfacht. Durch die gemeinsame Gabe von SSRI und niedrig dosierter Acetylsalicylsäure verdoppelt bis verfünffacht sich die Blutungsgefahr (Walraven et al. 2001; Col et al. 1990; Dalton et al. 2003; De Abajo et al. 1999; Ereshefsky et al. 1996; Frölich 2004). Da aufgrund des wesentlich besseren Nebenwirkungsprofi fils im Vergleich zu den alten Tricyclica und Tetracyclica die Gruppe der SSRI berechtigterweise als Mittel der ersten Wahl bei Depressionen bei Patienten nach Myocardinfarkt eingesetzt werden, sollte besonders auf Kombinationen von SSRI mit Rheumamitteln und Antikoagulantien, wie Marcumar oder niedrig dosiertem Aspirin, bei alten Patienten geachtet werden. Einige Experten gehen das Risiko nicht mehr ein und verwenden in diesen Kombinationen lieber alternative atypische Antidepressiva, wie z. B. Mirtazapin (Greenblatt et al. 2001). Q Hypotone Dysregulation: Bei Kombination mit alpha-adrenolytisch wirkenden Pharmaka (α-Blocker, Neuroleptika, β-Blocker, TCA, Benzodiazepin) besteht erhöhte Kollaps- und Sturzgefahr! Q Hyponatriämie: Viele verschiedene Medikamente können diese lebensbedrohliche Elektrolytstörung hervorrufen. Z. B. bei Kombinationen von Diuretika mit SSRI, Carbamazepin, Oxcarbamazepin, NSAR sind regelmäßige Überprüfungen des Natriumspiegels sinnvoll. Q Hyperkaliämie: ACE-Hemmer, Sartane kombiniert mit kaliumsparenden Diuretika (Spironolacton, Amilorid, Triamteren), NSAR oder Clotrimaxol reduzieren massiv die glomeruläre Filtrationsrate für Kalium! Schwere Herzrhythmusstörungen durch Hyperkaliämie sind keine Seltenheit (siehe Beispiel).
3 Pharmakokinetische Wechselwirkungen Wesentlich schwieriger ist die Voraussage pharmakokinetischer Interaktionen, da diese nicht nur arzneistoffspezifisch fi sind, sondern von vielen anderen Faktoren, wie Resorption, Verteilung, Metabolismus und damit Organfunktionen, Alter, Geschlecht, genetischen Faktoren, Nahrungsaufnahme, abhängen. Wechselwirkungen bei der Resorption Sie können durch die Reaktion von Arzneistoffen untereinander sowie zwischen Arzneistoffen und Nahrungsbestandteilen vor der Resorption, durch pH-Wertverschiebungen, Verlängerung oder Verkürzung der Verweildauer im Gastrointestinaltrakt, Komplexbildung, Art der Nahrung sowie Beeinflussung der Darmfl fl flora abhängen. Markante Beispiele für solche Interaktionen sind: Q Die gleichzeitige Gabe von L-Dopa mit eiweißreicher Nahrung: L-Dopa wird dabei schlecht resorbiert, da die Aminosäuren der Nahrung den
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Transportweg blockieren. Es ist für einen optimalen Therapieerfolg unbedingt nötig, L-Dopa-Präparate mindestens 45 Min. vor dem Essen zu verabreichen. Q Magensäurehemmer (Antazida, H2-Blocker, Protonenpumpenblocker) und Fe sollten nicht gleichzeitig verabreicht werden, da durch die pHWert-Verschiebung die Resorption gehemmt wird. Das Gleiche gilt auch für die gemeinsame Gabe von Fe mit Milch, Kaffee oder Schwarztee. Durch Komplexbildung geht das Eisen verloren! Eisen sollte daher möglichst nüchtern mit Zitronen- oder Orangensaft genommen werden, um optimale Serumspiegel zu bekommen. Durch die pH-Wert-Steigerung im Magen wird auch die Resorption von Ketokonazol und Itrakonazol über 60% vermindert. Q Tetrazykline und Gyrasehemmer sollten nicht in Kombination mit zweiwertigen Ionen (Antacida, Kalzium, Magnesium, Milch, …) eingenommen werden, da ebenfalls durch Komplexbildung unzureichende Wirkspiegel erreicht werden. Q Cholestyramin hemmt die Resorption von Cumarinderivaten, Schilddrüsenhormonen, Tetracyclinen. Q Quetiapin, Ziprasidon, Spironolacton, Phenytoin sollten mit der Nahrung eingenommen werden, um ihre Bioverfügbarkeit zu erhöhen. Q Bisphosphonate, Schilddrüsenhormone unbedingt nüchtern einnehmen, sonst keine Wirkspiegel. Q Acetylcystein, ein gerne eingesetztes schleimlösendes Medikament, hemmt die Aufnahme einiger Antibiotika (z. B. Penicilline, Cephalosporine); die Einnahme sollte in einem Abstand von 2 Stunden erfolgen. Wechselwirkungen bei der Eiweißbindung Der an Eiweiß gebundene Anteil des Arzneistoffs fungiert als eine Art Depotform im Blut, aus der jederzeit freier Arzneistoff mobilisierbar ist. Veränderungen der freien Konzentration durch Interferenz mit anderen, an Eiweiß gebundenen Pharmaka stellen auch einen Interaktionsmechanismus von klinischer Relevanz dar. Vor allem dann, wenn Pharmaka mit hoher Eiweißbindung, geringer therapeutischer Breite, steiler Dosis-Wirkungskurve und verhältnismäßig kleinen Verteilungsvolumen betroffen sind, z. B. die Verdrängung von Cumarinderivaten durch einige NSAR, Sulfonamide, Clofibrat fi und damit erhöhte Blutungsgefahr! Aber auch die Valproinsäure, viele Neuroleptika (Ausnahme: Amisulpirid), Fluoxetin, Paroxetin werden stark an Plasmaproteine gebunden. Wechselwirkungen bei der Biotransformation Die Biotransformation von Arznei- und Fremdstoffen in der Leber umfasst: Q Reaktionen der Phase I: Oxidation, Reduktion, Hydrolyse, Q Reaktionen der Phase II: Konjugationsreaktionen mit Glucuronsäure, Glutathion, Glycin, …
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Die Cytochrom-P450-Isoenzyme (CYP) sind als mikrosomale mischfunktionelle Oxygenasen für die Oxidation von Pharmaka von Bedeutung. Aufgrund von Proteinsequenzhomologien werden verschiedene CYP-Familien, -Unterfamilien und Isoenzyme unterschieden. Für mögliche Arzneimittelwechselwirkungen sind insbesondere folgende CYP-Enzyme von Bedeutung: Q Q Q Q
CYP1A2, CYP3A4, CYP2D6, CYP2C19.
Wechselwirkungen entstehen durch gleichzeitige Verabreichung von Substraten dieser Enzyme und Induktoren, die den Abbau beschleunigen und den Spiegel senken, oder Inhibitoren, die die Plasmakonzentration des Substrates durch Abbauhemmung erhöhen. Wird der Enzyminduktor wieder abgesetzt und die Dosis des Zweitmedikamentes nicht gleichzeitig verringert, besteht die Gefahr einer Überdosierung. Neben Arzneimitteln können auch Rauchen (schon ab 5 Zigaretten/ Tag), Alkohol und Insektizide, aber auch Johanniskrautextrakte als Enzyminduktoren wirken (Achtung bei der Raucherentwöhnung!). Nahrungsmittel können das Enzymsystem auch blockieren: Z. B. Grapefuitsaft ist ein starker CYP3A4-, aber auch CYP1A2-Inhibitor und sollte genauso wie Rotwein (CYP1A2-, 3A4-Inhibitor) nicht zur Einnahme von Arzneimitteln genommen werden! Für die wichtigsten CYP-Enzyme existieren oft genetisch bedingt massive Aktivitätsunterschiede, die für Wirkungen und Nebenwirkungen der durch sie verdauten Pharmaka bedeutsam sein können. So sind bezüglich CYP2D6 ca. 7–10% der mitteleuropäischen Bevölkerung „poor metabolizer“ mit fehlender oder reduzierter Funktion, und 1,5% sind „hyperextensive metabolizer“ mit einer gesteigerten Enzymaktivität. Trizyklische Antidepressiva Stark metabolisiert über CYP1A2 und 3A4. Dabei entstehen aktive Metabolite, die ausgeprägtere Affi finität zu den H1-, Alpha1- und mACH-Rezeptoren aufweisen und damit für entsprechende Nebenwirkungen, wie starke Sedierung, Orthostase, Arrythmien, delirogenes Potenzial, …, verantwortlich sind. SSRI (Serotoninwiederaufnahmehemmer – neue Antidepressiva) Während sich die einzelnen Vertreter dieser Gruppe pharmakologisch kaum unterscheiden, bestehen bei der Beeinfl flussung des CYT-P450-Enzymsystems große Unterschiede, die in einem unterschiedlichen Wechselwirkungspotenzial resultieren. Es sollten daher beim alten Patienten vor
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allem Citalopram (bzw. S-Citalopram) und Sertralin zur Anwendung kommen, da im therapeutischen Dosisbereich nahezu keine Wechselwirkungen beschrieben sind. Im Unterschied dazu sind Fluoxetin und Fluvoxamin ausgeprägte Inhibitoren von CYP2D6 und 3A4, wodurch sich doch einige klinisch relevante Wechselwirkungen ergeben können: Q Anstieg von Haloperidol und Fluphenazin und damit erhöhtes Risiko von EPS! Q Anstieg von Diazepam, Alprazolam (Benzodiazepine sind Substrate von CYP 3A4) und damit erhöhte Sturzgefahr und Übersedierung. Q Anstieg von Carbamazepin, Phenytoin (Substrate von CYP3A4), Intoxikationen! Aber auch Paroxetin ist ein starker Inhibitor von CYP2D6 und erhöht die Serumspiegel vieler Neuroleptika. Bei den neueren Antidepressiva, wie Venlafaxin, Mirtazapin, Milnacipran, Reboxetin oder Tianeptin, sind kaum klinisch relevante Wechselwirkungen beschrieben, wobei Milnacipran und Tianeptin gar nicht über das CYP-System metabolisiert werden. Trazodon Trazodon ist ein Substrat von CYP3A4 und 2D6, und durch Gabe von 3A4Inhibitoren wie Ketokonazol, Makrolide, Quinolone, Diltiazem, Verapamil, Sedacoron kann der Serumspiegel steigen, wodurch mit höherer Sedierung und eventuell Priapismus gerechnet werden muss. Anstieg von Digoxin und Phenytoin sind beschrieben. Tranquilizer und Hypnotika („Beruhigungsmittel/Schlafmittel“) Alle Benzodiazepine, bis auf Oxazepam und Lorazepam, werden intensiv über CYP3A4 metabolisiert, und durch gleichzeitige Verabreichung von CYP3A4-Inhibitoren, angefangen vom Grapefruitsaft über zahlreiche Pilzmittel, Makrolidantibiotika, aber auch Fluoxetin, kann es zu klinisch relevanten Plasmaspiegelerhöhungen kommen. Deshalb sollten beim alten Patienten Lorazepam und Oxazepam vorrangig eingesetzt werden. Sie unterliegen nur einem Phase-II-Metabolismus in der Leber. Trotzdem gilt auch für diese Benzodiazepine: Nur so kurz wie nötig! Das gerne als Ersatz zu Benzos eingesetzte, kurz wirksame Hypnotikum Zolpidem wird über mehrere Enzymsysteme abgebaut und weist ein geringeres Wechselwirkungspotenzial auf. Phasentherapeutika Lithium: Wird nicht metabolisiert, ausschließlich renal eliminiert und verhält sich im Körper wie Natrium. Durch Verminderung der Lithiumclearance
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können NSAR, Thiziddiuretika, ACE-Hemmer, Tetrazykline und Metronidazol toxische Lithiumspiegel verursachen. Carbamazepin: Ist einer der stärksten Induktoren von CYP3A4, 1A2, 2C19 und wahrscheinlich auch 2D6! Dadurch kommt es auch während der Therapie zu einer Verkürzung der HWZ. Dabei kann der Plasmaspiegel bei gleicher Dosis in den subtherapeutischen Bereich abfallen. Bei Kombination vieler Arzneimittel kommt es zu Plasmaspiegelverminderungen: TCA, Benzodiazepine, Neuroleptika, orale Kontrazeptiva, … Valproinsäure: Der Hauptabbauweg ist die mitochondriale β-Oxidation und Glukuronierung in der Leber. Es ist nur ein milder Inhibitor von CYP2D6 und ein leichter Induktor von 2C9 und 2C19. Es verdrängt Carbamazepin aus der Proteinbindung und hemmt den Abbau des aktiven Metaboliten, sodass toxische Carbamazepinspiegel möglich sind. Auch bei der gleichzeitigen Gabe von Lamotrigin muss besonders langsam auftitriert werden, um Nebenwirkungen zu verhindern (Hauterscheinungen).
4 Zusammenfassung Die Verabreichung von „Medikamentencocktails“ ist besonders beim alten Patienten mit schon eingeschränkten Organfunktionen und verändertem Ansprechen auf viele Arzneien ein großes Problem. Als besonders kritisch sind anzusehen: Q die unregelmäßige Einnahme der Medikamente, Q die Gefahr der Verwechslung, Q das verstärkte Auftreten klinisch relevanter Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente. Insofern erfordert die medikamentöse Therapie der oft vielfältigen Krankheiten und Beschwerden älterer Menschen eine kritische Reflexion fl der eingesetzten Substanzen. Es sollte daher immer wieder die bestehende medikamentöse Therapie überprüft und wenn möglich die Zahl der verordneten Arzneimittel reduziert werden. Ist das nicht möglich, so sollten bei der Auswahl der einzelnen Vertreter einer Indikationsgruppe die besonders nebenwirkungs- und wechselwirkungsarmen Substanzen vorgezogen werden.
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Pflegerische fl Aspekte bei der Betreuung alter Menschen Gabriela Neubauer und Gerald Gatterer
Alte Menschen weisen oft Beeinträchtigungen in ihrer Selbstständigkeit auf. Insofern kommt pfl flegerischen Maßnahmen hier eine wesentliche Bedeutung zu. Pfl flege orientiert sich in ihren Handlungen an unterschiedlichen theoretischen Modellen, die auf den Grundbedürfnissen des Menschen, Kommunikation und Interaktion und der Biografie fi aufgebaut sind. Grundlage ist der Pfl flegeprozess, der aus einer gezielten Informationssammlung, der Erfassung von Ressourcen und Problemen, dem Festlegen von Pflegezielen, fl deren Planung sowie der Durchführung der Maßnahmen und der Evaluation besteht. Darauf aufbauend erfolgt die Erstellung einer Pflefl gediagnose. Spezifische fi Pfl flegemodelle für ältere Menschen sind basale Stimulation, Validation und das psychobiografi fische Modell. Jedoch werden in den Pfl flegeprozess auch Elemente aus anderen Gesundheitsberufen integriert. Pfl flegerische Maßnahmen reichen von präventiven Aspekten der Gesundheitsvorsorge, über aktivierende und reaktivierende Maßnahmen der Rehabilitation, bis zur Betreuung schwer kranker als auch sterbender Menschen und müssen an deren Bedürfnisse angepasst werden.
1 Allgemeine Überlegungen zur Pflege fl von alten Menschen Pfl flegerische Aspekte spielen bei der Betreuung älterer Menschen entsprechend dem Schweregrad ihrer Erkrankung und Pflegebedürftigkeit fl eine unterschiedliche Rolle. So sind bei gesunden älteren Menschen oft bis ins flegerische Maßnahmen erst am Ende des Lebens notwendig. hohe Alter pfl Bei Menschen mit einer Demenzerkrankung kann dies hingegen schon sehr frühzeitig der Fall sein. Natürlich kann der volle Umfang der pflegerischen fl Betreuung, wie sie die Gesundheits- und Krankenpfl flege umfasst, in diesem Abschnitt nur exemplarisch dargestellt werden. Für noch mehr Informationen wird auf die im Anhang angeführte Fachliteratur verwiesen. Die Rechte und Pfl flichten von Pfl flegepersonen sind in Österreich durch das Gesundheits- und Krankenpfl flegegesetz geregelt. Die Krankenpfl flege
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G. Neubauer und G. Gatterer
gliedert sich im GuKG (1997) in den eigenverantwortlichen, mitverantwortlichen und interdisziplinären sowie erweiterten und speziellen Tätigkeitsbereich des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege fl sowie der Pflegehilfe. fl Der Tätigkeitsbereich der unterschiedlichen Berufsgruppen ist in Stellenbeschreibungen definiert. fi Der Pfl flegeprozess besteht aus einer gezielten Informationssammlung, der Erfassung von Ressourcen und Problemen, darauf aufbauend erfolgt die Erstellung einer Pflegefl diagnose, das Festlegen von Pfl flegezielen, deren Planung sowie die Durchführung der Maßnahmen und die Evaluation.
2 Pflegemodelle fl im Überblick Pfl flegemodelle bieten einen Orientierungsrahmen für den gesamten Pfl flegeprozess und können bedürfnisorientierten, interaktionsorientierten und ergebnisorientierten Ansätzen zugeordnet werden. Moderne Pflege fl orientiert sich an Pfl flegemodellen oder deren Konzepten. Pflegetheoretiker fl erstellen mit ihren Pfl flegetheorien Rahmenbedingungen für die Gesundheits- und Krankenpflege. fl Sie sind der Grundstein aller pflegerischen fl Handlungen und basieren auf Beobachtungen, Annahmen, Vorstellungen und theoretischen Überlegungen. Nach eingehender Überprüfung werden sie auf die Praxis übertragen und rechtfertigen die daraus abgeleiteten Pfl flegemaßnahmen. Betrachtet man die Modelle der Pflege fl in ihrer Vielfalt, so gewinnt man den Eindruck eines Modellpluralismus. Zur leichteren Verständlichkeit und zum Vergleich versucht man, sie deshalb inhaltlich in Bedürfnismodelle, Interaktionsmodelle und in Pfl flegeergebnismodelle einzuteilen. Ergänzt werden diese durch komplementäre Maßnahmen, wie z. B. Aromatherapie.
Bedürfnismodelle („Was“ braucht der Mensch?) Pfl flegetheoretiker dieser Modelle orientierten sich nicht direkt am biomedizinischen Modell, doch die Nähe zu Maslows Bedürfnispyramide (Basisbedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität, etc; höhere Bedürfnisse: Selbstverwirklichung, Kultur, …) und zu Eriksons Entwicklungsstufen sind deutlich erkennbar. Alle physiologischen Bedürfnisse müssen gestillt werden, um soziale Anerkennung und die so genannte Selbstverwirklichung zu erreichen. Der Schwerpunkt dieser Modelle beinhaltet die Frage: Was fl für den Betroffenen tun? Das Erkennen von Probkann die Pflegefachkraft lemen in hierarchischer Reihenfolge mit den damit verbundenen Bedürfnissen hat einen wichtigen Stellenwert. Kritiker des Modells weisen darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, den zu Betreuenden auf seine Defizite fi („Defi fizitmodell“) zu reduzieren, sehr hoch ist. Die Pfl flegetheoretiker der Bedürfnismodelle lieferten allerdings eine wichtige Grundlage für die Ent-
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wicklung des Pflegeprozesses fl und die Weiterentwicklung der neuen Generation von Pflegemodellen. fl Bedürfnismodelle orientieren sich an der Frage nach dem „Was ein Mensch braucht“. Sie werden oft auch „Defi fizitmodelle“ genannt, weil man allgemein leicht dazu neigt, auf die Ressourcen zu vergessen. Beispielhaft für diese Gruppe wird Nancy Roper angeführt. Nancy Roper hat ihr Pflegemodell fl nach den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) aufgebaut. Sie unterscheidet 12 ATLs, und zwar atmen, ausscheiden, kommunizieren, essen und trinken, sich kleiden, sich bewegen, sich als Mann oder Frau fühlen, schlafen, Sicherheit, sich wohlfühlen, Körpertemperatur regulieren, sterben. Durch die Beschreibung der ATLs wird ausgedrückt, dass Pfl flege da nötig ist, wo Einschränkungen in einer oder mehreren dieser alltäglichen Handlungen vorliegen.
Interaktionsmodelle In diesen Modellen wird die Interaktion zwischen Betreuungsperson und flegefachkraft beleuchtet. „Wie“ ist die Beziehung? „Wie“ wird etwas Pfl getan? „Wie“ ist die zentrale Frage der Interaktion. Jede Reaktion erzeugt eine gewünschte oder unerwünschte Gegenreaktion. Die Bedürfnisse des Betroffenen im Hinblick auf die Bedürfnispyramide bleiben bei diesen Modellen vordergründig erhalten. Im Mittelpunkt steht die Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehung sowie deren Entwicklung. Die humanistische Psychologie nimmt einen entscheidenden Einfluss fl auf diese Modelle, und der Pfl flegeprozess ist bei dieser Gruppe der Theoretiker sehr weit entwickelt. Weitere wichtige Grundlagen waren die Interaktionstheorie, Phänomenologie und existenzialistische Philosophie. Der Schwerpunkt liegt bei der Beziehungsebene, deshalb sind wesentliche Grundvoraussetzungen für eine ganzheitliche Betreuung nicht berücksichtigt. Die Modelle sind aber durch folgende Grundgedanken gekennzeichnet: fl mit den persönlichen Werten Q Auseinandersetzung der Pflegefachkraft und Normen, Q Unterstützung oder Hilfe geben und Abhängigkeit vermeiden, Q Aufbau einer zwischenmenschlichen Beziehung, der menschliche Aspekt tritt in den Vordergrund, Q Erfahrung, subjektive Wahrnehmung und Intuition mit objektiven Maßstäben verknüpfen, Q Wahrnehmung und Umsetzung von therapeutischen Verhaltensweisen, Q Krankheit ist ein Teil der menschlichen Erfahrung. Sie bedarf einer vorübergehenden oder dauerhaften Unterstützung mit der Wahrung der Integrität des Menschen.
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Bei Interaktionsmodellen steht die Beziehung zwischen den zu Pflegenden fl und der Pfl flegeperson im Vordergrund. Hier haben Werte, Normen und ethische Aspekte eine wesentliche Bedeutung. Dorothea Orem, eine psychiatrische Krankenschwester, hat dieses Modell entwickelt. Sie orientiert ihr Pflegemodell fl am Konzept der „Selbstpfl flegeerfordernisse“, d. h., jeder Mensch pfl flegt sich selbst, nur wenn er Defi fizite hat, nimmt er die Hilfe einer Pfl flegekraft oder einer Pfl flegeorganisation in Anspruch. Sie definiert fi 8 lebensnotwendige Anforderungen: ausreichende Zufuhr von Luft, Wasser, Nahrung; Pfl flege im Zusammenhang mit Ausscheidungsprozessen; Gleichgewicht zwischen Aktivität und Ruhe, zwischen Alleinsein und sozialer Interaktion; die Abwendung von Gefahren für das menschliche Leben und Wohlbefinden; fi Entwicklung innerhalb sozialer Gruppen. Pflegeergebnismodelle fl Bei diesen Modellen steht die Frage nach dem „Warum“, also dem Grund (Ursache) bzw. dem Ziel (Ergebnis) der Pflegehandlung, fl im Vordergrund. Die Vertreter dieser Modelle sind auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelt. Das Ziel liegt in der Wiederherstellung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes sowie der Harmonisierung mit der Umwelt. Grundlagen sind die Systemtheorien sowie Anpassungs- und Entwicklungstheorien. Der Schwerpunkt liegt auf dem Ergebnis der Pflege. fl Eine gewisse Nähe zu Bedürfnismodellen ist jedoch feststellbar. Bei Pfl flegeergebnismodellen steht die Frage nach dem „Warum“ im Vordergrund. Dieser Kategorie könnte Marjory Gordons Pflegemodell fl zugeordnet werden. Es basiert auf Pfl flegediagnosen, also den angenommenen Ursachen des Pfl flegebedarfs. Eine Pfl flegediagnose ist die Beurteilung oder das Ergebnis einer pfl flegerischen Einschätzung. Frau Gordon richtet sich nicht nach den ATLs, sondern nach funktionellen Verhaltensmustern, wie z. B. Wahrnehmen und Umgang mit der eigenen Gesundheit, Ernährung und Stoffwechsel, Ausscheidung, Aktivität und Bewegung, Schlaf und Ruhe, Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept, Rolle und Beziehung, Sexualität und Reproduktion, Werte und Überzeugungen, Stresstoleranz. Psychobiografi fisches Pfl flegemodell nach Böhm Das „psychobiografi fische Pfl flegemodell nach Böhm“ stellt den Grundsatz „Aufleben fl statt Aufheben“ in den Vordergrund. „Wir alle sind zum Leben, zum Wiederaufl fleben und Lebendigsein und nicht zum Aufheben in einer Institution geschaffen.“
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Mit diesem Leitsatz hat der Wiener Professor Erwin Böhm in der Altenpfl flege viel Staub aufgewirbelt. Hat er doch damit vorwiegend somatisch orientierte Sichtweisen in Frage gestellt. Denn in der Pflegepraxis fl hat sich herausgestellt, dass in besonderer Weise die Pflege fl demenziell erkrankter Menschen neue Wege in der Betreuung dieser Zielgruppe erforderlich macht. Prof. Böhm hat darum ein spezifisches fi Pfl flegekonzept entwickelt, das als Beziehungspflege fl oder auch Seelenpfl flege therapeutisch, symptomlindernd bzw. heilend wirksam ist. Er gibt mit seinem psychobiografi fischen Pfl flegemodell der Altenpfl flege eine neue Ausrichtung. Dieses Modell ist eine der entwicklungsfähigsten und umfassendsten Sichtweisen und insofern besonders für die Betreuung von Personen mit Demenzerkrankung geeignet. Sein Modell fördert ein Pflegeverständnis, fl das die Biografi fie der Betroffenen als Grundlage zum Verstehen eines Menschen und seiner Verhaltensweisen nimmt. Als therapeutische Pflege fl ist das psychobiografi fische Modell ein reaktivierendes Pfl flegekonzept, das den alten Menschen helfen möchte, am Leben teilhaben zu können. Eine ausschließlich versorgende Pfl flege (warm – satt – sauber) fördert dagegen den Rückzug und die Regression alter Menschen, indem sie diese zunehmend schwächer, abhängiger und hilfl floser macht. Die pfl flegerische Forderung besteht daher in der Aussage, dass zuerst die Seele des alten Menschen bewegt werden muss und nicht wie üblich nur die Körperteile. Der alte Mensch muss für sich einen Sinn oder ein Motiv sehen können, um in der Folge seinen Körper freiwillig zu bewegen und zu benützen. Er braucht ein „Wozu“ und „Wohin“. Dann wird er morgens aufstehen, sich ankleiden oder sich für den Tag stärken wollen. All das wird er aber nur dann machen, wenn er ein Lebensmotiv hat. Das Lebensmotiv eines alten Menschen ist in seiner Prägungsgeschichte (Lebensgeschichte) aufgehoben und kann dort wieder abgerufen und gefunden werden. Die Pfl flegenden „re-aktivieren“ das, was schon einmal da war. Das heißt, sie setzen Impulse, die einen Menschen wieder zum Leben erwecken. Diese Impulse sollen ihn in seinen Beweggründen und somit in seiner Ich-Wichtigkeit bestärken. Das kann ein Lied sein, eine Tätigkeit oder Sonstiges. Das psychobiografi fische Modell orientiert sich an der Lebensgeschichte des Betroffenen und versucht, durch das Setzen von Impulsen diesen wieder „zum Leben zu erwecken“. In diesem Modell geht Haltung vor Handlung. Das psychobiografi fische Pfl flegemodell stellt die Beziehung in den Mittelpunkt der pfl flegerischen Arbeit. Sie ist damit eine spezifi fische Pfl flege, die sich auf das wesenhaft Menschliche, die Menschenwürde, besinnt. Die Persönlichkeit der Betreuer ist das wichtigste Mittel der Pfl flegearbeit. Die Sichtweise der Betroffenen bestimmt das Ausmaß und die Pflegeform fl der Betreuungsinstitution. Jeder Betreuer wird aufgefordert, sich und sein Handeln zu refl flektieren, nach neuesten Erkenntnissen zu handeln, und kann so mit bestem Gewissen
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persönliche Wertvorstellungen wahren. Eine so verstandene Verantwortungsethik dient nicht der Selbstbehauptung der Betreuer, sondern sie steht im Dienst der Fürsorge von alten, kranken Menschen. Das heißt auch, dass ein solches Pflegekonzept fl im Rahmen der Fortbildung nicht zu verordnen ist, sondern vom Einzelnen verstanden werden muss. Ziel ist die Verbesserung des subjektiven Befi findens, nicht die Verbesserung der Befunde. Grundlage einer verstehenden Pfl flege ist die individuelle Biografi fie des Betroffenen. Durch das Verstehen seiner Lebensgeschichte verändert der Betreuer seine persönliche Grundhaltung. Er verschiebt seine Toleranzgrenze und Sichtweise (Wertigkeit) vom „Defi fizit“ auf „Ressourcen“ und verändert seine Grundhaltung und in weiterer Folge die Pflegehandfl lungen. Validation nach Naomi Feil Einen speziell für alte und desorientierte Menschen entwickelten Ansatz wählt Naomi Feil mit ihrem Konzept der Validation. Dieses stellt einen fi Interaktions- und Kommunikationsstil in den Vordergrund. spezifischen Grundprinzip ist die Vermeidung von Stress für den älteren Menschen durch die Akzeptanz seiner Sichtweise. Der Betreuer stellt sich somit „in die Schuhe des Betreuten“. Das Modell ist an anderer Stelle bereits genauer dargestellt. Nach diesem Modell arbeitende Pfl flegepersonen versuchen durch gezielte Kommunikation, den älteren, oft verwirrten Menschen zu verstehen, sich in ihn einzufühlen und ihm bei der Bewältigung seines Problems zu helfen. So wird nach diesem Modell etwa die Suche nach der Mutter nicht als Defi fizit und Verwirrtheit aufgefasst, sondern als der Versuch des Betroffenen, seine Identität wieder herzustellen und Sicherheit zu bekommen. Validation ist eine spezifische fi Kommunikations- und Interaktionsmethode mit alten und verwirrten Menschen.
Basale Stimulation Ein Konzept, welches sich auch für den Einsatz bei physisch und psychisch kranken Personen (Schlaganfall, Depression, Demenz, …) gut eignet, ist die „basale Stimulation“. Basale Stimulation ist ein Ansatz, der sich vor allem mit der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt und diese durch gezieltes Vorgehen fördern oder erhalten will. Basal bedeutet in diesem Zusammenhang „grundlegend“ bzw. „voraussetzungslos“. Der Begriff Stimulation weist auf die Notwendigkeit der Anregung durch verschiedene differenzierbare Informationsangebote bzw. auf das „Zur-Verfügung-Stellen“ von Wahrnehmungsmöglichkeiten hin. Das Konzept der basalen Stimulation kommt ursprünglich aus dem Behindertenbereich. Basale Stimulation greift auf die ersten Wahrneh-
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mungserfahrungen des Menschen zurück. Die somatische, vibratorische und vestibuläre (Gleichgewicht) Wahrnehmung bilden die sensorische Basis, die auditive, orale, olfaktorische und visuelle Wahrnehmung ist übergeordnet. Je schwerer jemand in der Wahrnehmung beeinträchtigt ist, umso mehr muss man an der Basis ansetzen. Die basalen Elemente sind auch bei schwersten Störungen noch anwendbar. Man geht davon aus, dass auch schwer beeinträchtigte Menschen noch Hautkontakte, Gleichgewichtsreaktionen und Vibrationen wahrnehmen. Mit den Angeboten der vibratorischen, vestibulären und somatischen Stimulation kann der wahrnehmungsbeeinträchtigte Mensch Informationen über sich selbst erfahren. Basale Stimulation ist ein Ansatz, der sich vor allem mit der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt und diese durch gezieltes Vorgehen fördern oder erhalten will. Christel Bienstein integrierte das Konzept in die Pfl flege und defi finiert basale Stimulation folgendermaßen: „Basale Stimulation heißt, den Menschen dort abzuholen, wo er wahrnehmen kann, und ihn von dort ausgehend zu fördern. Basale Stimulation knüpft an die primärsten Wahrnehmungserfahrungen des Menschen an. Sie setzt nichts voraus.“ Ziel der basalen Stimulation in der Pflege fl ist die Begleitung und Förderung der Fähigkeit zur Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation. Bei allen verwendeten Maßnahmen steht das Wohlbefinden fi des Menschen im Vordergrund. Es gilt, das zu finden, was gerade in dieser Situation hilfreich ist. Wichtigster Bereich ist die Förderung der somatischen Wahrnehmung. Ziel ist es, dem Patienten eindeutige Informationen über sich selbst und seinen Körper zu vermitteln, das Körperbewusstsein wiederherzustellen, Wohlbefinden, fi Orientierung, Anregung, Grenzen und Abgrenzung zu erfahren. Harmonie in der Bewegung des Pflegenden fl vermittelt klare, eindeutige Information und gibt dadurch Sicherheit. Auf der somatischen Ebene kann man Möglichkeiten zur Körpererfahrung durch die belebende und beruhigende Ganzkörperwaschung, die Bobath-orientierte Waschung (nach Schlaganfall), die geführte Waschung, die atemstimulierende Einreibung durch Massagen und körperumgrenzende Lagerung geben. Die vibratorische Wahrnehmung kann durch Abvibrieren des Thorax erfahren werden, Vibraxgeräte nutzen die Knochenleitung. Die sanfteste Vibration hat die tibetanische Klangschale. Die vestibuläre Wahrnehmung kann im Rahmen der Körperpflege fl durch „Wiegen“ in Seitenlage angeregt werden. Beim Umlagern überschneiden sich somatische und vestibuläre Wahrnehmung. Es kommt zu einer Abwechslung in der Körpererfahrung. Ziel der atemstimulierenden Einreibung ist eine gleichmäßige ruhige und tiefe Atmung. Damit soll die Körperwahrnehmung unterstützt sowie die Konzentrationsfähigkeit und Bereitschaft für Außenreize gefördert werden. Sie ist günstig bei Menschen mit schneller, oberflächlicher fl Atmung, Einschlafstörungen, Verspanntheit, Schmerzen, Stresssymptomatik, Pallia-
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tivpatienten, gerontopsychiatrischen Patienten, Demenzkranken und Patienten mit Wahrnehmungsstörung bzw. zur Pneumonieprophylaxe. Massagen dienen zur Beruhigung, Entspannung, Wahrnehmungsförderung und Förderung der geistigen Repräsentation. Bei der Berührung der Haut kommt es über Rezeptoren zu einer Anregung des neuronalen Netzwerkes. Der Körper kann durch Ausstreichungen und Druckberührungen erfahrbar gemacht werden. Wichtig ist das Massieren der einzelnen Finger und Zehen. Bei immobilen Menschen, die keinen Bodenkontakt mehr haben, wirken sich Fußmassagen besonders gut aus. Indikationen für basalstimulierende Massagen sind Unruhe, Ein- und Durchschlafstörungen, Spastiken, Kontrakturen und Sensibilitätsstörungen. Die Konzepte der basalen Stimulation und Aromapflege fl können gut kombiniert werden. Es eignen sich hierzu verschiedene Aromaöle. Auch mit ätherischen Ölen angereicherte Pflegeprodukte fl können verwendet werden. Unbedingt beachten muss man dabei, dass Düfte immer mit Emotionen verbunden sind. Vertraute Gerüche können Geborgenheit vermitteln. Es können aber manchmal auch negative Emotionen ausgelöst werden. Wichtig sind deshalb auch hier die Kenntnis der Biografi fie und die vorhergehende Abklärung von Allergien.
Begrenzende Lagerung (Nestlagerung) Wenn fast alle körperbezogenen Berührungspunkte verloren gehen, lässt die geistige Orientierungslosigkeit nicht lange auf sich warten. Aus diesem Grund hat sich die umgrenzende bzw. begrenzende Lagerung für die Erhaltung der Wahrnehmung bewährt. Unruhezustände können durch das Entstehen eines Gefühls der Sicherheit günstig beeinfl flusst werden. Das Konzept der basalen Stimulation ist auch eine besondere Form der Kommunikation mit wahrnehmungsbeeinträchtigten Menschen und kann den Zugang zu ihnen fördern. Berührungen sind die einfachste Art, das somatische Empfi finden erfahrbar zu machen. Die Haut ist das größte Wahrnehmungsorgan, sie kann unterschiedliche Reize aufnehmen. Berührungen sind eine Art Sprache ohne Worte, bei der das „Wie“ und nicht das „Was“ entscheidend ist. Sie sind Signale für den Menschen über seinen eigenen Körper. Sie lösen immer Gefühle aus und müssen daher eindeutig sein. Berührungen werden besonders intensiv wahrgenommen, wenn der Mensch die Sprache und die Gestik nicht verstehen kann. Sie können die Aufmerksamkeit und die Gefühle des Berührten in eine bestimmte Richtung lenken, beruhigen, aber auch stimulieren, von Schmerzen ablenken oder Trost spenden. Wesentlich für eine positive therapeutische Wirkung sind: Q für Ruhe und eine angenehme Atmosphäre sorgen; Q überhastete Arbeitsweise vermeiden; Q den Beginn und das Ende von Pfl flegehandlungen durch die Initialberührung kennzeichnen; Q die Berührungen deutlich, aber angenehm wahrnehmbar machen;
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Q keine oberflächlichen, fl streifenden, abgehackten Berührungen, keine punktuellen Berührungen; Q die Berührungen ruhig, mit flach aufgelegter Hand und konstantem Druck durchführen. Die angemessene Berührung spielt eine besondere Rolle. Der Berührungskontakt soll möglichst nicht unterbrochen werden, denn das Kontakthalten während einer pfl flegerischen Verrichtung gibt emotionale Sicherheit, das ständige Loslassen und erneute Angreifen verunsichert. Das gilt besonders dann, wenn der Patient den Tätigkeiten nicht mit den Augen folgen kann.
Komplementäre Maßnahmen der Pfl flege Komplementäre Maßnahmen ergänzen und erweitern das Angebot der Pflege. fl Hierzu zählen Aromatherapie, Kinästhetik, Fußrefl flexzonenmassage, etc. Unter Aromatherapie versteht man den Einsatz von ätherischen Ölen zur inneren und äußeren Anwendung. Der Einsatz sollte nur nach einer speziellen Schulung erfolgen. Die Wirkung erstreckt sich sowohl auf den psychischen als auch den physischen Bereich und fördert das Wohlbefinden. fi So gibt es etwa anregende bzw. beruhigende Gerüche, die gezielt eingesetzt werden können, wie zum Beispiel: Q Q Q Q
Lavendelöl bei Schlafstörungen und Unruhe, Rosmarinöl bei Antriebsschwäche und Kreislaufbeschwerden, Orangenöl bei Unruhe und Angstzuständen, Zitronenöl bei depressiver Verstimmung.
Kinästhetik ist ein Konzept, die Interaktionen zwischen Pflegeperson fl und Patienten mit Bewegung und Berührung bewusst zu gestalten. Durch dieses Einfühlen in den Betreuten können Bewegungselemente erleichtert und Kraft, Zeit und Raum gespart werden. Dies wirkt sich positiv auf die Mobilisation von immobilen Menschen aus und führt auch zu rückenschonenden Arbeitsweisen der Pflegeperson. fl Fußreflexzonenmassage fl ist eine aus dem Bereich der traditionellen chinesischen Medizin übernommene Technik zur Aufl flösung von „Energieknoten“. Alle Organe des Körpers sollen nach dieser Theorie auf der Fußsohle in gesetzmäßiger Anordnung repräsentiert sein. Durch die gezielte Massage dieser Bereiche soll somit eine Beeinfl flussung dieser Organe möglich sein. Sie ist in ihrer Langzeitwirkung umstritten. Ebenso können auch Erkenntnisse und Methoden aus verschiedenen anderen Gesundheitsberufen (z. B. Psychologie, Physiotherapie) in die ganzheitliche Pfl flege nach kritischer Refl flexion und entsprechender Ausbildung integriert werden.
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3 Planung und Durchführung pflegerischer fl Maßnahmen Die Planung und Durchführung pfl flegerischer Maßnahmen (Teil des Pfl flegeprozesses) ist ein zielgerichtetes Vorgehen, bei dem zentrale Fragen der Betreuung vorher beantwortet werden sollten. Die Informationssammlung basiert je nach Schweregrad der Erkrankung auf einer Eigenanamnese, Familienanamnese und Sozialanamnese. Dabei fließen auch Informationen aus anderen Bereichen und von anderen Berufsfl gruppen mit ein (Medizin, Sozialarbeit, …). Im Sinne einer ganzheitlichen und patientenorientierten Planung sollten folgende Fragen geklärt werden: Q Was ist das Problem? Dieses sollte möglichst objektiv und multiprofessionell (unterschiedliche Sichtweisen der Betreuer) erfasst werden. Q Wann tritt es auf? Hier sind sowohl die Zeit als auch ein möglicher situativer Auslöser zu berücksichtigen. Q Wer hat das Problem? Leidet der Kranke oder sein Umfeld? Q Wer ist mit betroffen? Q Wie „notwendig“ ist eine Maßnahme? Q Was sind die möglichen Konsequenzen? Wie relevant ist es? Oft investiert man viel Energie in nicht besonders wichtige Bereiche und ist dann erschöpft. Q Welche Ressourcen hat der Betroffene? Q Was ist das Ziel? Ist dieses realistisch und relevant? Bei der Betreuung alter Menschen müssen sowohl professionelle Betreuer als auch Angehörige lernen, Bedürfnisse anderer Generationen zu erkennen und Ziele fi Dabei ist manchmal auch eine Veränderung von eigeneu zu definieren. nen Lebensphilosophien erforderlich. Dies gilt speziell für die Betreuung von Menschen mit Demenz. Q Kann dieses Problem alleine gelöst werden, oder braucht man zusätzliche Hilfe (andere Professionen)? Q Wie darf das Verhalten des Betroffenen sein? Wie hoch ist die Toleranzgrenze der Betreuer? Q Was sind die Grundbedürfnisse des Erkrankten, und entsprechen sie dem „Normalitätsprinzip“? Das Ergebnis dieser Fragen defi finiert den therapeutischen Prozess. Diesen könnte man folgendermaßen zusammenfassen: Wer macht Q Q Q Q Q Q Q
was, warum, mit wem, wann, wie lange, wo, wie,
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Q womit, Q in Kooperation mit wem, Q mit welchem Ziel? Nur wenn diese Fragen geklärt sind, wird dieser Prozess gelingen. Beim Fehlen wesentlicher Punkte erfolgt leicht eine Überforderung der Helfer, bzw. können auch Konfl flikte entstehen. Nur gemeinsam (soziales Umfeld und multiprofessionelles Team) kann eine individuelle und optimale Betreuung ermöglicht werden. Die beste Betreuungsform ist das Zuhause des Betroffenen. Daher sollten alle verfügbaren Hilfen zur Entlastung von pflefl genden Angehörigen eingesetzt werden.
4 Pfl flege bei Demenz Da die Demenzerkrankungen die häufigste fi Diagnose darstellen, sollen in diesem Abschnitt einige wesentliche Aspekte bei der Pfl flege dieser Menschen angeführt werden. Genauere Pfl flegetipps finden sich etwa im Buch „Leben mit Demenz“ (Gatterer und Croy 2005). Die Pflege fl von Menschen mit Demenz erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und das Einstellen auf die Welt des Demenzkranken. Insofern ist hier eine spezielle Schulung nötig. Aus pflegerischer fl Sicht sind bei der Betreuung von Menschen mit Demenz folgende Faktoren zu berücksichtigen: Q Die veränderte Kommunikations- und die reduzierte Ausdrucksfähigkeit. Oft tritt Konfabulation (Gespräche mit weniger konkreten Inhalten) auf. Zuletzt ist völliger Sprachverlust gegeben. Q Das Nachlassen der Gedächtnisleistung, beginnend mit dem Kurzzeitgedächtnis, bis zum Verlust der Gedächtnisfunktionen. Q Die Desorientiertheit (zeitlich, örtlich, situativ, personal) steigert sich. Q Affektlabilität und Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu. Q Durch die Beeinträchtigung der Realitätskontrolle kommt es zu Entscheidungsschwierigkeiten, Unentschlossenheit, Zögerlichkeit, einer leichten Verlangsamung und manchmal Starrsinn. Q Konzentrationsstörungen und Unaufmerksamkeit nehmen zu. Q Es kommt zu Motivationslosigkeit sowie verminderter oder fehlender Spontaneität. Q Beeinträchtigungen der ATLs (Aktivitäten des täglichen Lebens) nehmen zu. Am Anfang benötigt der Betroffene nur Anregung und Kontrolle, später Unterstützung und Hilfe in allen Bereichen. Zuletzt tritt völlige Pflegeabhängigkeit fl auf. Q Bevorzugung von Vertrautem, Vermeidung und Ablehnung von Neuem. Q Notwendig ist eine frühzeitige Abklärung der Krankheit, Diagnosesicherung und Festlegung der Therapie.
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Q Informationssammlung über die Krankheit und deren Verlauf sowie das Zusammenspiel mit Nebendiagnosen und Medikamenten. fl Angehörige. Q Soziale Absicherung für Betroffene und (pflegende) Q Die Klärung rechtlicher Fragen (Geldangelegenheiten, Operationen, Patientenverfügung oder Sachwalterschaft, Erbschaft, finanzielle Aufwendung, …). Q Rechtzeitige Informationssammlung zur biografi fischen Anamnese des Betroffenen (Vorlieben, Abneigungen, Bildungsstand, Beruf, Hobbys, Rituale und Gewohnheiten, …). Q Verhalten des Umfeldes gegenüber dem Betroffenen refl flektieren, um Abhängigkeit und Überfürsorge zu vermeiden. Q Wichtig ist das Fördern und Erhalten von Ressourcen in allen Lebensbereichen und die Vermeidung von Überforderung. Q Orientierungs- und Erinnerungshilfen schaffen, Ortswechsel tunlichst vermeiden. Günstig ist ein kontinuierlicher Tagesablauf. Rituale und automatisierte Handlungen beibehalten. Q Für die Informationssammlung bzw. die Koordination von Arztbesuchen und anderen notwendigen Aktivitäten ist die Bestimmung einer Bezugsund Vertrauensperson wichtig. Q Vorhandene Defizite fi sollten nicht in den Vordergrund gestellt werden. Die Betroffenen erkennen anfangs ihre Defi fizite und leiden darunter (ängstlich, traurig, …) und vermeiden daher verschiedene Alltagsaktivitäten. Q Nähe und Distanz sollten ausbalanciert sein. Günstig ist ein liebevolles fl und freundliches Milieu innerhalb der Familie, in welches pflegerische Maßnahmen integriert werden sollten. Q Nicht nachvollziehbare Handlungen sollten nicht persönlich genommen werden. Einfühlungsvermögen und Akzeptanz sind hilfreich, ebenso wie Humor, der nicht verloren gehen sollte. Q Die Intimsphäre sollte gewahrt bleiben und ebenso die Tatsache, dass Berührungen weiterhin als angenehm und unangenehm wahrgenommen werden. Hier hilft die Einteilung des Körpers des Betroffenen in einen öffentlichen, halböffentlichen und intimen Bereich. Q Besonders wichtig erscheint die Distanzierung von einem an Defiziten fi orientierten Denken! Jeder Mensch, auch der Demenzkranke, hat Ressourcen und Fähigkeiten, die genutzt werden können. Q Ebenso wichtig ist die Informationssammlung und Kontaktherstellung zu Selbsthilfeorganisationen, mobilen und ambulanten Diensten bzw. sonstigen Hilfen (z. B. Nachbarschaftshilfe, ehrenamtliche Mitarbeiter von Konfessionsgemeinschaften). Q Für den möglichst langen Verbleib des Erkrankten zu Hause ist die Organisation, Koordination und Vernetzung der angebotenen Leistungen (familiäre Unterstützung, Nachbarschaftshilfe, Hausarzt, Pflege, fl Therapie, ambulante Dienste, Besuchsdienste, …) wesentlich. fl Angehörige sollten professionelle Hilfe rechtzeitig in AnQ Pflegende spruch nehmen und nicht darauf vertrauen, dass man die Betreuung
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alleine und ohne Unterstützung der Familie sowie sozialer ambulanter und/oder mobiler Dienste übernehmen kann. Da Pflegehandlungen fl sehr intime Handlungen sind, sollten Familienmitglieder nur freiwillig ihren Beitrag zur Betreuung leisten oder indirekt fl alter Menschen bereit und auch unterstützen. Nicht jeder ist zur Pflege geeignet. flegemaßnahmen einfache Adaptierungen im Umfeld des Oft sind für Pfl Betroffenen (Wohnung, Haus, …) und manchmal auch größere Umbauarbeiten (Sanierung von sanitären Anlagen, Gartenzaun, …) notwendig. Lassen Sie sich von einer Fachkraft (Pflegeperson, fl Ergo-, Physiotherapie, etc.) beraten. Häufi fig findet man innovative und kostengünstige Lösungen. Auf die persönliche physische (regelmäßige Gesundenuntersuchung, …) fl Angehöriger ist zu achten und psychische Gesundheit als pflegender (Psychohygiene, Entspannung, …). Einfallsreichtum, Kreativität, Flexibilität und Improvisationsvermögen der Betreuer sind bei Demenzkranken besonders gefordert. Bei der Betreuung des Betroffenen stehen seine individuellen Ansprüche, Bedürfnisse und Ressourcen sowie Defizite fi im Vordergrund. Pflege fl sollte bei leichter Demenz darauf ausgerichtet sein, Defi fizite zu mindern bzw. hier den Betroffenen zu unterstützen, aber gleichzeitig vorhandene Fähigkeiten zu nützen. Dies entspricht dem Konzept der flege. Wichtig ist jedoch eine genaue Planung, um reaktivierenden Pfl Überforderung zu vermeiden. Man kann Menschen mit einer Demenz nicht „umerziehen“! Bei mittelgradiger Demenz müssen von den Pfl flegenden bereits wichtige Funktionen übernommen werden, ohne den Erkrankten jedoch völlig zu entmündigen. Bei schwerer Demenz treten ethisch-moralische Überlegungen bei den Pflegehandlungen fl in den Vordergrund, da der Betroffene nicht mehr fähig ist, Wünsche und Beschwerden zu artikulieren. Da die Krankheit mehr und mehr fortschreitet, ist es wichtig, die mittelund langfristige Weiterversorgung rechtzeitig zu refl flektieren und die Aufnahme in eine Pfl flegeeinrichtung in Erwägung zu ziehen.
5 Abschließende Bemerkungen Pfl flegerische Maßnahmen spielen bei der Betreuung und Behandlung älterer Menschen eine zentrale Rolle. Das Spektrum der Pfl flege ist dabei sehr weit gesteckt und reicht von präventiven Maßnahmen im Alter (Gesundheitsberatung), über therapeutische und rehabilitative (reaktivierende) Pfl flege zu Hause bzw. im semistationären/stationären Bereich, bis zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen (palliative Care). Grundprinzip aller gesetzten Handlungen ist jedoch, den Betroffenen möglichst lange zur Selbstständigkeit zu verhelfen. Insofern sollten unterstützende Maßnahmen nur dort und nur in dem Ausmaß eingesetzt werden,
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wo sie unbedingt notwendig sind. Übermäßige und überschießende Pflegefl maßnahmen führen leicht zur Überforderung des Betroffenen und auch der Betreuungspersonen. Verhaltensauffälligkeiten (Aggressionen, Verfolgungsideen, …) sind sehr oft das Resultat zu gut gemeinter Unterstützung. Pflegepersonen fl sollten sich hier als „Partner“ bei der Bewältigung eines gemeinsamen Weges sehen (vgl. Validation) und den Betroffenen soweit wie möglich als gleichwertig betrachten. Individuelle Biografi fien sind genauso zu beachten wie die sich durch den Krankheitsprozess ergebenden Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens. Nur dadurch ist es möglich, individuelle Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen. Grundvoraussetzung hierfür ist oft auch die Aufgabe des „Normalitätsprinzips“. Es ist z. B. nicht möglich, einen Demenzkranken auf unser Leben umzutrainieren, flegerische Maßnahmen müssen sich an seinen Fähigkeiten und sondern pfl Defi fiziten orientieren. Alte, an Demenz erkrankte Menschen sind in dieser Hinsicht nicht primär „krank“ und müssen nicht „geheilt“ werden, sie sind einfach „anders“ und müssen „verstanden“ werden. Darauf weist besonders auch Prof. Böhm in seinem psychobiografi fischen Modell hin.
Literatur Buijssen H (1996) Die Beratung von pflegenden fl Angehörigen. Beltz, Weinheim Gatterer G, Croy A (2005) Leben mit Demenz. Springer, Wien New York Kors B, Seunke W (2001) Gerontopsychiatrische Pflege. fl Urban & Fischer, Jena Kühne-Ponesch S (Hrsg.) (2000) Pflegeforschung fl aus der Praxis für die Praxis. Facultas, Wien Schäffler fl A, Menche N, Bazlen U, Kommerell T (2001) Pfl flege heute. Urban & Fischer, München Jena Scharb B (2005) Spezielle validierende Pfl flege. Springer, Wien New York Stefan H, Eberl J, Schalek K, Streif H, Pointner H (2006) Praxishandbuch Pfl flegeprozess. Springer, Wien New York Thür G (Hrsg.) (2004) Professionelle Altenpfl flege. Springer, Wien New York Weiss-Fassbinder S, Lust A (1998) Gesundheits- und Krankenpfl flegegesetz, 2. Aufl fl. Manz, Wien
Pfl flegende Angehörige in stationären Einrichtungen Gabriela Neubauer und Gerald Gatterer
Ein langer Krankenhausaufenthalt, als Entlastung für pfl flegende Angehörige, ist im Zeitalter der Verweildauerverkürzung, der Reduzierung von so genannten Akutbetten und der fortschreitenden Dezentralisierung kein Thema mehr. Durch entsprechende Optimierung von Arbeitsabläufen kann der Aufenthalt im Krankenhaus entscheidend beeinfl flusst und verkürzt werden. Eine effiziente fi Abklärung zur Diagnosesicherung und die dadurch unverzüglich eingeleitete Therapiemaßnahme lassen auf einen schnellen Genesungsverlauf sowie eine rasche Entlassung hoffen. Das ist für jüngere Menschen mit nur einer Diagnose ein großer Fortschritt, hat jedoch für ältere Menschen auch Nachteile. Diese weisen nämlich neben ihrer primären Problematik auch eine hohe Co- oder Multimorbidität sowie Defizite fi im Bereich der Selbstversorgung oder sozialen Integration auf. Insofern sind viele innovative Schritte und Kooperationen zur Lösung dieser Aufgabe im Rahmen eines multiprofessionellen Teams notwendig. Eine von vielen Möglichkeiten ist die Einbeziehung von pflegenden fl Angehörigen in ein geeignetes stationäres Setting. Es soll ein so genannter Drehtüreffekt (nach kurzer Entlassung Neuaufnahme) verhindert und eine gut geplante Reintegration in die gewohnte Umgebung ermöglicht werden. Das multiprofessionelle Team hat die Aufgabe, Schnitt- oder Nahtstellen tunlichst zu vermeiden und die Kontinuität der Betreuung zu sichern. Pfl flegende Angehörige können nach entsprechenden Schulungsmaßnahmen im stationären Bereich und dem Aufbau eines sozialen Netzes die Betreuung mit gutem Gewissen übernehmen. Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team, den dezentralen Einrichtungen und den pfl flegenden Angehörigen, kann sich vor allem für den Betroffenen positiv auswirken. Belastungen für pflegende fl Angehörige, Rahmenbedingungen, Erwartungshaltungen, Unterstützungsmaßnahmen und die Beziehungsgestaltung sollen im folgenden Abschnitt erörtert werden.
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1 Situation der Angehörigen in stationären Einrichtungen Angehörige werden vermehrt mit der Betreuung älterer Menschen konfrontiert. Durch die oft mangelnde Vorbereitung und Schulung sind sie aber besonders gefährdet, sich sowohl körperlich als auch psychisch zu überfordern. Der Krankenhausaufenthalt als Entlastung für pflegende fl Angehörige ist im Zeitalter der Verkürzung der Verweildauer, der Bettenreduzierung und der fortschreitenden Dezentralisierung kein Thema mehr. Früher verschafften flegende Angehörige Entlastung durch eine Einweisung zur „Untersich pfl suchung“ oder „Nachbetreuung“ in ein ihnen vertrautes Krankenhaus. Die Einweisung erfolgte über den Hausarzt, der den Kontakt zur Abteilung herstellte. Die Pflegefachkräfte fl kannten den Pfl flegeumfang sowie die Bedürfnisse des Betreuungsbedürftigen. Ihnen waren auch die persönlichen Wünsche, Anliegen und Belastungen der pfl flegenden Angehörigen bekannt bzw. vertraut. Diese standen oft nach der Entlassung mit einzelnen Pflegefl personen im engeren Kontakt, um sich Rat und Hilfe zu holen. Die Umstrukturierungsmaßnahmen in den letzten Jahren führten im stationären Bereich zu völlig veränderten Aufnahme- und Betreuungsmodalitäten. Der Druck auf das Pflegepersonal, fl rasch eine Reaktivierung, Rehabilitation oder Reintegration herbeizuführen, steigt und setzt damit in weiterer Folge auch Patienten und Angehörige unter Druck. Da der Genesungsverlauf stark vom Humanfaktor Patient abhängig ist, beginnt die Entlassungsplanung bereits bei der Aufnahme des Patienten in den stationären Bereich. Pflegende fl Angehörige und der zu Betreuende werden nach der Abklärungsdiagnostik, sofern sie ohne Befund ist, wieder nach Hause geschickt. Lange Wartezeiten bleiben ihnen hierbei nicht erspart. Ist ein aufwendigeres Diagnoseverfahren (z. B. Lumbalpunktion, Coloskopie, …) bei Erkrankungsverdacht, zur Differentialdiagnostik (Ausschluss einer Erkrankung) oder zur Diagnosesicherung (Bestätigung einer Erkrankung) notwendig, erfolgt eine stationäre Aufnahme. Hierbei stellt sich die Frage, was pfl flegende Angehörige und Patienten tun, die vom Krankenhaus abgewiesen oder nach wenigen Tagen entlassen werden? Trotz des hohen Angebotes an dezentralen und extramuralen Einrichtungen kommt es zu immer länger werdenden Wartelisten. Daraus kann auf eine Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage geschlossen werden. Hier erhebt sich die Frage nach adäquaten Einrichtungen, welche die Betreuung eines höchst pfl flegeintensiven ko- oder multimorbiden (eine oder mehrere Zusatzerkrankungen), mehrfachbehinderten und/oder psychisch kranken Klientels übernehmen, das einer überaus professionellen Pfl flege bedarf. Die vorliegende Situation führt dazu, dass Angehörige vorübergehend oder auf Dauer, teilweise oder ganz mit der Betreuung der Patienten konfrontiert werden. Bei den pflegenden fl Angehörigen handelt es sich dabei
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vorwiegend um Frauen. Nach Kryspin-Exner und Günther (1997, 1256) sind: Q 83% der pfl flegenden Angehörigen Frauen, Q bereits die Hälfte der pfl flegenden Angehörigen älter als 65 Jahre, Q etwa 50% dieser pflegenden fl Angehörigen selbst an Krankheiten und Beschwerden leidend. Bei allen Bemühungen, Entlastungen für pflegende fl Angehörige zu schaffen (Angehörigengruppen, ambulante und semistationäre Einrichtungen, Übergangspflege, fl Kurzzeitpfl flege, Tageskliniken, Tagesstätten, mobile ambulante Dienste und vieles mehr), wird das Angebot, trotz höheren Bedarfs, nicht oder nur wenig genutzt. Die Ursachen sind vielfältig und vermutlich in einem Informationsdefi fizit der Angehörigen und/oder einem regionalen Versorgungsdefizit fi zu suchen. Dieser Vermutung widersprechen die Ergebnisse einer im Auftrag des deutschen Bundesfamilienministeriums durchgeführten Studie, nach der die Angehörigen besser informiert sind (80% der Befragten kennen die Dienste), aber die angebotenen Dienste nur in Teilen nutzen (39% der Befragten nutzen die Dienste). Auch Vorsorgedenken (z. B. zeitlich adäquate Besichtigung von Pflegeheimen, fl finanzielle Absicherung, Erlass einer Patientenverfügung, etc.) ist wenig verbreitet. Ebenso kann übertriebene Sparsamkeit in Bezug auf das Pfl flegegeld eine professionelle Betreuung verhindern. Fehleinschätzungen des eigentlichen Pfl flegeaufwandes durch pfl flegende Angehörige und subjektive Überschätzung seitens der Patienten stellen weitere Faktoren dar. Beispiel: Frau X. wird mit Verwirrtheitszustand ins Krankenhaus gebracht. Sie wird seit etwa zwei Jahren abwechselnd von verschiedenen Familienmitgliedern betreut. Immer, wenn man mit der Situation nicht zurechtkam, übernahm ein anderes Familienmitglied die Pflege. fl Beim Aufnahmegespräch zeigt sich in der Familie eine massive Überforderung mit der Betreuung. Auch gibt es Kommunikationsprobleme miteinander. Bisher wurde keine Erhöhung der Pflegestufe fl und somit des Pfl flegegeldes bean-
Abb. 1. Familiäre Rollen der pflegenden fl Angehörigen (n = 70); aus: Wilz et al. (1998, 235)
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tragt; eine Unterbringung in einer stationären Einrichtung (Pfl flegeheim, …) wurde von einem Familienmitglied strikt abgelehnt. Bis zum Zeitpunkt der Aufnahme wurde keine mobile oder extramurale Einrichtung (Hauskrankenpflege, fl Tageszentrum, Angehörigenberatung, …) kontaktiert. Auf der Station wurde den Angehörigen die Gelegenheit zu einem fachspezifischen fi Beratungsgespräch, Unterstützung beim Stellen von Anträgen, Kontaktherstellung zu extramuralen Einrichtungen sowie der Erwerb von praktischen Fertigkeiten (Körperpfl flege, Ankleiden, Nahrungsaufnahme, Mobilisation, …) mit den Mitarbeitern des multiprofessionellen Teams (in diesem Fall: Arzt, Pflegefachkräfte, fl Diplomsozialarbeiterin, Physiotherapeutin) angeboten. Was pfl flegende Angehörige von diesem Angebot nutzen, entzieht sich unserem Einfl fluss. Es ist für alle Beteiligten im Team schwer zu verstehen, was hinter dieser Ablehnung steht, dieses Verhalten zu akzeptieren, ist noch viel schwieriger. Viel zu oft lernen pfl flegende Angehörige die Belastungsaspekte erst mit fortschreitender Dauer der Betreuung kennen, um fl in Zusammenhang stehenden dann festzustellen, dass die mit der Pflege Belastungen und die persönliche Betroffenheit bei Weitem größer sind, als ursprünglich angenommen. Mit dem Statuswechsel vom Angehörigen zum pflegenden fl Angehörigen werden viele Angehörige erstmals mit spezifi fischen Belastungsaspekten konfrontiert. Kryspin-Exner und Günther (1997, 1257) führen folgende Belastungsaspekte an: Q Q Q Q Q Q
Belastung durch Betreuungsarbeit und Pflegeleistung, fl Belastung durch Ungewissheit, Belastung durch Mitansehen von Leiden, Schmerzen und Trauer, Belastung durch Kommunikationsschwierigkeiten, Belastung durch Verzicht und Einschränkungen, Belastung durch Spannung zwischen dem Betreuer und dem zu Pflefl genden, Q Belastungen durch Spannungen im Familienkontext. Wesentliche Belastungsaspekte, wie erhöhte finanzielle Aufwendungen und Absicherungen, die soziale Isolation und die Belastung durch das Abhängigkeitsverhältnis des zu Pflegenden, fl bleiben dabei von den Autoren unberücksichtigt. Die Einbeziehung von Angehörigen in Pflegemaßnahmen fl in stationären Einrichtungen soll eine fundierte Vorbereitung auf den Status als „pflefl gender Angehöriger“ sein.
2 Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit Die Integration von Angehörigen erfordert verschiedenste Rahmenbedingungen, wie etwa Kommunikation, räumliche Bedingungen, etc., die berücksichtigt werden müssen.
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Abb. 2. „Pfl flegetempel“ zur Interaktion mit pfl flegenden Angehörigen nach Neubauer (2001)
Damit Angehörige in Pflegeaktivitäten fl einbezogen werden können, müssen verschiedene Grundstrukturen bzw. Rahmenbedingungen vorhanden sein oder geschaffen werden. Diese Rahmenbedingungen können modellhaft in einem Säulentempel dargestellt werden. Der pfl flegende Angehörige wird in diesem Modell durch das Dach repräsentiert. Die Säulen räumliche Gestaltung, Pflegeleitbild, fl Pfl flegesysteme, Qualitätssicherung, Ablauforganisation, Pflegeprozess fl und Kommunikation besitzen eine stützende und verbindende Funktion. Das Fundament wird von den Pfl flegefachkräften und der institutionellen Absicherung gebildet. Der „Pfl flegetempel“ sollte eine tragfähige Einheit bilden, da ansonst die Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege fl von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist.
Institutionelle Absicherung Um Angehörige in Pfl flegemaßnahmen einzubeziehen, bedarf es einer institutionellen Absicherung. Keine übergeordnete Instanz, die aus der Aufbauorganisation ersichtlich ist, sollte bei der Zustimmung zu einem derartigen Projekt unberücksichtigt bleiben. Die Möglichkeit von Fehlschlägen sollte im Vorfeld bedacht werden, damit im Bedarfsfall adäquate Problemlösungsstrategien zum Einsatz gelangen können. Abzuraten ist von unge-
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nehmigten Alleingängen seitens der Stationsleitung oder gar einer ganzen Station. Pfl flegefachkräfte Wesentliche Voraussetzungen von Mitarbeitern sind: Q das Interesse für das Aufgabengebiet (Spezialisierung) der stationären Einrichtung, Q das Interesse für die Bedürfnisse und die Betreuung älterer Menschen, fl und institutionellen Q die Übereinstimmung der persönlichen, beruflichen ethischen Grundhaltung, Q fachliche Kompetenz, Q Verantwortungsbereitschaft, flegenden Q Kontaktfreudigkeit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit pfl Angehörigen, Q Teamfähigkeit und Offenheit für interdisziplinäre Zusammenarbeit, Q aktive Teilnahmebereitschaft an Supervisionen, Balint-Gruppen oder Fallbesprechungen und diversen gruppendynamischen Arbeiten, Q die Bereitschaft zur Fort- und Weiterbildung, Q Kreativitäts- und Experimentierfreudigkeit.
Räumliche Gestaltung Neben feuer- und baupolizeilichen Vorschriften sowie großzügig behindertengerechten Einrichtungen ist auch auf einen größtmöglichen Bewegungsfreiraum im Bereich der Station inklusive Garten zu achten. Agitierte Patienten/Bewohner sollten nicht das Gefühl haben, in einem Käfig fi eingesperrt zu sein. Die Station soll eine überschaubare Einheit sein, wobei es dem Pflegepersonal fl ermöglicht werden soll, kleinere Subeinheiten von maximal 6 Patienten zu bilden. Dadurch kann eine Überforderung des Patienten/Bewohners mit allen weiteren Komplikationen vermieden werden. Einige Zimmer sollten nur mit ein bis zwei Betten ausgestattet sein. Diese Zimmer können die Pflegeeinschulung fl erleichtern, die Intimsphäre besser wahren und die Beziehung zwischen „Laienpflegern“/Angehörigen fl und zu Betreuenden intensivieren. Beispiel: Bei Frau Y. hat der Pflegeaufwand fl in der letzten Woche vor der Einlieferung ins Krankenhaus drastisch zugenommen. Dem multiprofessionellen Team war klar, dass der stationäre Aufenthalt kaum Veränderungen bringen wird. Die Zielsetzung des Teams war die Stabilisierung der kognitiven Leistungsfähigkeit, eine Verbesserung der Mobilität und die Beseitigung der nicht-kognitiven Veränderungen (Schlafumkehr). Der physische und psychische Zustand konnte nur geringfügig verbessert werden. Beim Angehörigengespräch mit Sohn und Schwiegertochter zeigte sich einerseits die „Verpflichtung“, fl den Generationenvertrag einzuhalten, die Mutter bzw. die Schwiegermutter in der gewohnten Umgebung zu belassen, und ande-
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rerseits die Überforderung, danach mit der höheren Pflegeabhängigkeit fl nicht zurande zu kommen. Die Familie ist im Besitz einer Landwirtschaft und hat drei kleine Kinder zu betreuen. Ziel des Angehörigengesprächs war es, gemeinsam zu einer für alle Beteiligten lebbaren und zufriedenstellenden Entscheidung zu kommen. Der Pfl flegeaufwand war der Familie durch die jahrelange Betreuung bis zur stationären Aufnahme bekannt. Da Frau Y. nicht alleine in der Lage war, diverse Entscheidungen zu treffen, übernahm diese Aufgabe ihr Sohn. Er suchte eine Betreuungseinrichtung in der näheren Umgebung, um so oft als möglich bei seiner Mutter zu sein. Der Familie wurde nahegelegt, sich mit den Kollegen dieser Pflegeinstitufl tion in Verbindung zu setzen und dort den Wunsch zu äußern, dass sie einfache Pfl flegemaßnahmen übernehmen möchten. Nicht nur dafür sind einige sehr kleine Einheiten mit ein bis maximal zwei Betten notwendig. Sie können auch eine Rückzugsmöglichkeit für Sterbende mit ihren Angehörigen sein. In keinem der Zimmer soll der Sichtschutz zum anderen Bett fehlen. Die Station soll mit vielen Nischen, in denen gemütliche Sitzgelegenheiten stehen, ausgestattet sein. Orientierungshilfen können durch unterschiedliche Farbgestaltung der Türen, Zimmer und vieles mehr geschaffen werden. Im Weiteren benötigt man einen Tagraum für gemeinschaftliche Aktivitäten, einen Therapieraum für Einzel- oder Gruppentherapien und einen Raum zur freien Gestaltung. Hierbei soll die Entscheidung über die Nutzung des Raumes sowie dessen Gestaltung dem Pflegepersonal fl überantwortet werden (z. B. der Snoezelen-Raum im Geriatriezentrum am Wienerwald). Die Raumkonzipierung soll in Abhängigkeit der zu betreuenden Klienten und von deren Krankheitsbildern stehen. Die hier beschriebene Stationsgestaltung berücksichtigt dabei nicht die Bedürfnisse des Pflegefl personals (Funktionsräume usw.).
Pfl flegeleitbild Das Pflegeleitbild fl beinhaltet gemeinsame Pfl flegeschwerpunkte. Die Mitarbeiter identifizieren fi sich damit und erreichen miteinander eine größere Einigkeit. Weiters zeigt es die Kooperation und Interaktion zwischen allen medizinnahen Berufsgruppen auf. Es beinhaltet den Schwerpunkt einer fl eines Primariates (Neurologie, AbInstitution (Krankenhaus, Pflegeheim), hängigkeitserkrankungen, Gerontopsychiatrie, …) oder auch nur einer Station mit einem Krankheitsbild (Demenz, affektive Störungen, usw.). Das flegeleitbild soll aber auch dem Patienten/Bewohner (Kunden) und der Pfl Öffentlichkeit (Angehörige, extramurale Einrichtungen) als Orientierung dienen. Durch dieses Wissen wird eine einheitliche Umsetzung allgemeiner Grundsätze, ethischer Grundregeln, Pflegemodelle fl und diverser abteilungsspezifischer fi Angebote (differentialdiagnostische Ausgänge, Übergangspfl flege, Angehörigenbetreuung, u. v. a. m.) ermöglicht. Um eine partnerschaftlich orientierte Zusammenarbeit zwischen Team und Angehörigen zu erzielen, sollten die Angehörigen das auf der Station
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zur Anwendung kommende Pflegemodell fl oder die verschiedenen Pfl flegekonzepte in kurzen Auszügen (Faltprospekte, Infotafel, …) kennenlernen. Jede Institution soll für sich und ihre zu betreuende Klientel das Geeignetste auswählen. Die Gerontopsychiatrie der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz arbeitet nach dem Pflegemodell fl von Orem und ist auf folgenden vier Pfl flegekonzepten aufgebaut: Q Q Q Q
Validation (Feil), basale Stimulation (Bienstein und Fröhlich), re-aktivierende Pflege fl (Böhm), Interaktionsmodell (Peplau).
Im Interaktionsmodell durchläuft der Patient vier Stufen (Orientierung, Identifi fikation, Nutzung, Ablösung). Dieses Modell lässt sich gut auf pfl flegende Angehörige im stationären Setting ausdehnen oder übertragen. Pflegefachkräfte fl müssen die Modelle oder Konzepte sehr gut kennen, um bei der Pflegeplanung fl diese richtig am Patienten/Bewohner umsetzen zu können. Für pfl flegende Angehörige ist es verwirrend, wenn der zu Betreuende die Institution wechselt und ein neues Pfl flegekonzept vorfi findet. Die Angehörigen sollten die Unterschiede der Betreuungsformen hinterfragen. Oft handelt es sich um eine andere Form der Betreuung, welche nicht unbedingt schlechter sein muss. Beispiel: Herr G. wird nach einem Insult mit Halbseitensymptomatik rechts eingeliefert. Er benötigt beim Schneiden und Streichen seines Kipferls Unterstützung, kann dann aber alleine essen. Was geschehen kann, wenn Mitarbeiter Schlagwörter/-sätze oder Konzepte zu wörtlich nehmen, sollen die folgenden Beispiele zeigen/demonstrieren: a) Pfleger fl A. ist ein Anhänger der Konzepte von Böhm. Eines seiner sehr provokanten Zitate, das Mitarbeiter wachrütteln soll, heißt: „… arbeiten mit den Händen in den Hosentaschen“. Es ist ein schwieriges Unterfangen für Herrn G. sein Kipferl mit einer Hand durchzuschneiden und zu bestreichen. Das Kipferl ist nach einigen enttäuschenden Versuchen nicht durchgeschnitten, Butter und Marmelade sind ihm aufgesetzt. Es sieht nicht besonders schön aus, und eigentlich sollte er stolz auf sich sein, doch machen sich Resignation und Appetitverlust in Herrn G. breit. Pfleger fl A. könnte anhand der Biografi fie noch entdecken, dass er es immer so gegessen hat. Die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr gering. b) Schwester B. findet sich im Interaktionsmodell von Peplau wieder und glaubt, die wahren Bedürfnisse von Herrn G., in der Phase drei „Nutzung“ erkannt zu haben. Sie streicht ihm nicht nur sein Kipferl, nein, sie schneidet es in mundgerechte Stücke, die sie ihm dann mit Hingabe in den Mund steckt. Seinen Kaffee darf er alleine trinken. Schwester B. hat gelesen, dass Peplau für die liebevolle mütterliche Zuwendung, die eine Krankenschwester einem Patienten geben soll, steht. Herr G. weiß nicht, ob er protestieren oder genießen soll, und fragt sich, ob ihn seine Gattin dann auch so betreuen wird. Schwester B. hat vergessen, dass sich das
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Rollenbild der Krankenschwester von den 50er-Jahren zur Diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester/-pflegerin fl (DGKS/P) weiterentwickelt hat. c) Anders ist dies bei Frau M. Sie äußert den Wunsch, ihr Frühstück in einer bestimmten Reihenfolge einnehmen zu dürfen. Zuerst möchte sie einen Löffel Butter, dann einen Löffel Marmelade und zum Schluss das Kipferl, das sie zum Kaffee essen möchte. Niemand wird Frau M. zwingen, ein bestrichenes Frühstücksbrot zu essen. Pfleger fl A. sieht sich in seiner Biografieerhebung fi bestätigt. d) Für Frau T., die sich wegen einer gehemmten Depression in stationärer Behandlung befi findet, ist die Situation wieder anders. Sie liebt Obst und bekommt es täglich frisch von ihrem Besuch. Das Obst legt sie ins Nachtkästchen, wo es liegen bleibt. All das, was sie einst geliebt hat, bedeutet ihr nichts mehr. Frau T. hat allen Lebensmut und ihre Genussfähigkeit verloren. Sie kann sich über nichts freuen und sieht alles negativ. Es gibt nichts, was sie genießen kann. Durch ihr morgendliches Tief ist sie nicht in der Lage, sich zu waschen oder zu frühstücken. Vieles kann in den Nachmittag oder auf den Abend verschoben werden (z. B. die Körperfl abends durchführen), nicht aber die Nahrungs- und vor allem die pflege Flüssigkeitsaufnahme. Der Anblick einer normalen Portion beim Essen verdirbt ihr schon den Appetit. Schwester B. bereitet für Frau T. kleine Appetithäppchen und frische Fruchtsäfte vor. Sie richtet ihr mehrmals am Vormittag eine kleine Portion ihres Frühstücks oder ein wenig Obst. Sie gibt ihr eine Art liebevoller mütterlicher Zuwendung, bis Frau T. ihre Ressourcen wieder nutzen kann.
Pfl flegesysteme Als die geeignetste Form erweist sich die Bezugspfl flege. Die Auswirkungen auf Patienten, Bezugsperson (pfl flegender Angehöriger) und Bezugsschwester lassen sich nach Kistner (1992, 26 f) wie folgt zusammenfassen: Q stärkere patientenbezogene Ausrichtung der Pflege; fl Q Verbesserung der Milieubedingungen für den Patienten durch die Verfügbarkeit seiner Bezugspersonen (Bezugsschwester und pfl flegender Angehöriger) für all die zahlreichen Belange, die in der eher „alltagsfernen“ Therapeut-Patient-Beziehung unberücksichtigt bleiben; flegefachkräfte, aber auch der Angehörigen Q stärkere Einbindung der Pfl in die Planung und Durchführung der psychotherapeutischen/sozialpädagogischen/sozialpsychiatrischen Anteile des therapeutischen Prozesses. Wenn sich das Pfl flegepersonal auf die Bezugspfl flege einlässt und damit auseinandersetzt, sollte die positive Auswirkung dieser Pfl flegeform in vielen Belangen bestätigt werden können. Beispiel: Herr R. ist nach einem apoplektischen Insult stark in seiner Kommunikation eingeschränkt. Die Erhebung seiner biografischen fi Anam-
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nese gestaltete sich besonders schwierig, da er sehr zurückgezogen lebte. Durch eine kontinuierliche und intensive Beobachtung sowie Betreuung konnte die Bezugsschwester seine Vorlieben und Abneigungen, trotz seiner Kommunikationsschwierigkeiten, erstaunlich schnell feststellen und an alle Mitarbeiter weiterleiten. Die Beobachtungen wurden vom multiprofessionellen Team bestätigt oder ergänzt und von der Bezugsschwester zu einem Ganzen zusammengefügt. So konnten Abwehrreaktionen weitgehend vermieden und tätlich aggressiven Handlungen gänzlich vorgebeugt werden. Pflegesysteme fl mit täglicher Personalrotation stellen eine Belastung sowohl für den Patienten/Bewohner als auch dessen Angehörige dar. Zu den häufigsten fi Beanspruchungen infolge dieser Belastung zählen zum Beispiel bei dementen Patienten Ängstlichkeit, Überforderung und in weiterer Folge Unruhe. Beanspruchungsfolgen dieser Art führen zu einem Stressniveau, welches nicht nur den Krankheitsverlauf, sondern auch den Krankenhausflussen oder gar verzögern kann. In extraaufenthalt entscheidend beeinfl muralen Pflegeeinrichtungen fl führt dieses Verhalten eines Bewohners oft zu einer Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus.
Qualitätssicherung Nach dem kundenorientierten Qualitätsansatz ist Qualität für Patienten/Bewohner und Angehörige die Erfüllung von Erwartungen. Qualität betrifft nicht nur den Patienten als primären Kunden, sondern auch Angehörige als sekundäre Kunden. Stationäre Einrichtungen sind einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess unterworfen und fordern von allen Mitarbeitern innovative Maßnahmen. Eine dieser Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung ist die Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege. fl Das dafür notwendige Spektrum der medizinisch-pfl flegerischen und infrastrukturellen Versorgung wird in der Praxis nach den Maßnahmen zu ihrer Beurteilung und Sicherung kategorisiert. Dabei haben sich drei Kategorien (sie haben einen entfl auf eine optimale Umsetzung in der Einbeziehung scheidenden Einfluss von pflegenden fl Angehörigen) bewährt: Q Strukturqualität, Q Prozessqualität, Q Ergebnisqualität. Die Strukturqualität basiert auf Q Q Q Q
der Anzahl und Qualifikation fi der Mitarbeiter, dem Organisationsaufbau, den fi finanziellen Mitteln, Ausstattung und Betriebsmitteln.
Die Prozessqualität beinhaltet die Nachvollziehbarkeit der Arbeitsabläufe durch deren Beschreibung. Die Ergebnisqualität (Patientenzufriedenheit, Verbesserung eines Zustandsbildes, …) in der Pfl flege beruht oft auf subjek-
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tiven Beurteilungen, wobei im modernen Pfl flegemanagement vermehrt objektive Parameter herangezogen werden. Beispiel: Q Subjektiver Parameter: Eine erfahrene Pflegefachkraft fl erkennt mit geschultem Auge und durch Berührung der Stirn, ob ein Patient Fieber hat. Q Objektiver Parameter: Sie holt den Fieberthermometer und misst die Temperatur. Eine Untersuchung (Männel 1999) bei Sozialarbeitern in der Schweiz zeigte, dass durch eine Vermehrung des Zeitaufwandes beim Klienten die Ergebnisqualität (Kundenzufriedenheit) verbessert werden konnte. Daraus lässt sich auch ableiten, dass eine Berücksichtigung der Zeit, die eine Pflegeperfl son unmittelbar am Krankenbett verbringt, direkte Auswirkungen auf die subjektive „Betreuungszufriedenheit“ eines Patienten/Bewohners hat. Für ihn nicht sichtbare Arbeiten (administrative Tätigkeiten), die für das Funktionieren der Organisation ebenfalls wichtig sind, werden hingegen nicht wahrgenommen. Insofern erscheint es wesentlich, durch Gespräche mit Angehörigen und Patienten/Bewohnern (soweit möglich) die für eine aus der Sicht der Betreuungsperson wichtigen Parameter transparent zu gestalten bzw. administrative Tätigkeiten auf das unbedingt notwendige Maß zu reduzieren. Durch die Einbeziehung pfl flegender Angehöriger kann die Zufriedenheit der Patienten/Bewohner und Angehörigen wesentlich gesteigert werden. Da der primäre Output vom „Humanfaktor“ Patient/Bewohner abhängig ist, könnte dies für den Genesungsverlauf entscheidend sein. Die Zufriedenheit des Angehörigen steigt und überträgt sich auf den zu Betreuenden. Dies kann einen schnelleren Genesungsverlauf zur Folge haben und sich positiv auf die Betreuungszufriedenheit auswirken.
Ablauforganisation Klare Strukturen (z. B. Tagesablauf, diverse Arbeitsabläufe, Besprechungsfiziente Organisation“ sind in stationären aktivitäten, etc.) und eine „effi Einrichtungen ein unbedingtes Muss. Diese Ablaufstrukturen sollen aber von den Mitarbeitern nicht so verstanden werden, dass sie nur starr nach diesen Abläufen vorgehen. Individuellen Bedürfnissen der Patienten oder Bewohner sollte durch Flexibilität der Mitarbeiter und der Organisation entsprochen werden. Beispiel: Herr U. leidet seit seinem Insult an Schluckstörungen, die eine Ernährung über eine PEG-Sonde (perkutane endoskopische Gastrotomie) zur Folge hat. Bei der Einnahme der Mahlzeiten zog er sich immer auf sein Zimmer zurück, um den anderen nicht beim Essen zusehen zu müssen. Im flegegesprächen ergab sich, dass er selbst gerne gegessen Rahmen von Pfl hätte und deshalb durch den Anblick der anderen irritiert wurde. Erleichterung verschaffte es ihm, einen Löffel kaltes Fruchtjoghurt in den Mund
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zu nehmen und wieder auszuspucken. Damit hatte auch er einen anderen Geschmack im Mund. Herr U. liebte die verschiedenen Geschmacksrichtungen. Eines Tages bekam er von seinen Angehörigen ein Eis zum Kosten und konnte sogar ein wenig schlucken. Da er sehr selten Besuch bekam, war diese kulinarische Köstlichkeit eine Rarität für ihn. Als er wieder große Lust auf ein Eis verspürte und das Pflegepersonal fl mit traurigen Augen anschaute, weil kein Eis auf dem Speiseplan stand, ergriff eine Kollegin die Initiative. Sie rief in der Küche an und schilderte dem Küchenleiter die Situation. Dieser zeigte sofort Verständnis dafür und ermöglichte die Anforderung von Eiscreme nach Bedarf. Gerade hier zeichnet sich die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen durch ihre Professionalität im Zusammenspiel von Struktur und Flexibilität aus. So kann eine starre Tagesstruktur jederzeit durch spontane Akzente und Notfälle durchbrochen werden. Vor allem in Notfallsituationen müssen Mitarbeiter Prioritäten gegenüber vordergründig scheinenden Bedürfnissen von Patienten/Bewohnern oder deren Besuchern setzen.
Pflegeprozess fl Die Informationssammlung im Pfl flegeprozess ist auch nach dem Aufnahmegespräch, bei dem Angehörige eine wichtige Rolle spielen, vor allem bei Patienten/Bewohnern, die sich schwer oder gar nicht mitteilen können, noch lange nicht abgeschlossen. Die Anamnese wird oft frei formuliert geführt, bzw. in den Landesspitälern der Steiermark in Anlehnung an die Checkliste nach den „NANDA-Pfl flegediagnosen“ (Stefan und Allmer 1999). Bei diesem Klientel nimmt die Fremdanamnese ein wesentlich umfangreicheres Ausmaß an als bei Personen mit uneingeschränkter Kommunikation. Entscheidende Hinweise liegen in der Biografi fie des Patienten/Bewohners. Zu differenzieren sind in jedem Fall alle subjektiven Meinungen von objektiven Informationen. Die Erfassung von Problemen und Ressourcen beruht auf den Angaben des Patienten/Bewohners, der Angehörigen, dem sozialen Umfeld und den Beobachtungen des Pflegepersonals. fl Aus den vorliegenden Informationen werden Hinweise auf ein Selbstpfl flegedefi fizit unter Berücksichtigung vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten des Patienten herausgefi filtert. Die Ziele sollen möglichst verhaltensnah und realistisch formuliert werden. Dabei liegt der Schwerpunkt in den kurzfristigen Zielsetzungen, langfristige Ziele dürfen nicht aus den Augen gelassen werden. In der Planung wird festgehalten, wer, wann, was, wie und womit durchführt. Dies ist bei der Einbeziehung von pfl flegenden Angehörigen wichtig. Bei der Durchführung der geplanten Maßnahmen haben sich sowohl die Mitglieder des multiprofessionellen Teams als auch die Angehörigen an die Vorgaben zu halten. Die Auswertung sowie die Erstellung des Pflegeprofl zesses und dessen Abänderung erfolgt nur durch die Bezugsschwester, wobei die pfl flegenden Angehörigen idealerweise eingebunden werden.
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Kommunikation Die Kommunikation stellt einen wesentlichen Faktor bei der gemeinsamen Betreuung und Beziehungsgestaltung dar. Gerade durch die ständige Professionalisierung werden jedoch in den verschiedensten Fachdisziplinen immer wieder eigene „Sprachen“ entwickelt. Dies ist oft sowohl für den Angehörigen, aber auch die Mitglieder des multiprofessionellen Teams kommunikationserschwerend. Dadurch kann ein ähnlicher Effekt entstehen wie beim „Turmbau zu Babel“, wo jeder seine eigene Sprache spricht, aber den anderen nicht mehr versteht. Wesentlich ist das Finden einer gemeinsamen Sprache. Angehörige sollten sich nicht scheuen, Fragen zu stellen, wenn für sie etwas nicht verständlich ist. Die Pfl flegefachkraft soll die Kommunikation als eine verbale und nonverbale Interaktion in einer Dreiecksbeziehung sehen, in der die Kongruenz einen wesentlichen Anteil einnimmt. Es geht dabei nicht um einen Dialog zwischen Patienten, pfl flegenden Angehörigen und Pfl flegepersonen, sondern primär um einen Trialog miteinander.
Pflegende fl Angehörige Ein starkes Fundament und tragfähige Säulen allein genügen nicht, um eine Einheit zu bilden. Folgende Fähigkeiten werden nach Steiner-Hummel (1995, 283) von den Angehörigen erwartet: Q Managementfähigkeiten, flege und eigenen GesundQ psychohygienische Fähigkeiten zur Selbstpfl heitsprophylaxe, Q interaktive Fähigkeiten zur Gestaltung und Abgrenzung in der Pflegefl beziehung. Beispiel: Frau R. wohnt bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter, von denen sie seit Jahren betreut wird. Im letzten Jahr ist es zu einem rapiden geistigen Abbau gekommen. Sie verkennt Situationen, ist harninkontinent sowie örtlich desorientiert und kann deshalb nicht mehr alleine leben. Um den Sohn und seine Gattin ein wenig zu entlasten, wird Frau R. in einem Tageszentrum betreut. Ihr Sohn besitzt sehr gute Managementfähigkeiten. Er erstellt für Frau R. eine geordnete Tagesstruktur, adaptiert die Wohnung behindertengerecht, organisiert notwendige Heilbehelfe, Pfl flegeartikel, Inkontinenzprodukte und schafft für sie ein optimales Lebensmilieu. Frau R. kann manchmal sehr aggressiv werden, sie beschimpft ihren Sohn, die Schwiegertochter, die Mitarbeiter des Tageszentrums und deren Gäste. Zur Einweisung ins Krankenhaus kam es, weil sie im Tageszentrum plötzlich mit dem Geschirr herumwarf. Der Sohn von Frau R. konnte sich immer sehr gut gegen die verbalen Attacken abgrenzen und nahm ihre Angriffe nie persönlich. Er würde jederzeit wieder die Betreuung seiner Mutter übernehmen. Und dennoch sind es die psychohygienischen Fähigkeiten zur Selbstpflege fl und Gesundheitsprophylaxe, die der Familie fehlen.
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Das Pfl flegepersonal hat die Aufgabe, den Angehörigen die Bedeutung dieser Fähigkeiten zu erklären, deren Defizit fi zu erkennen und diese in der Angehörigengruppe aufzuarbeiten. Angehörige benötigen auch ein besseres Bewusstsein, um zu erkennen, in welcher Situation sie sich jetzt befinfi den. Das Wissen der Angehörigen sollte durch die Pflegefachkraft fl erweitert werden hinsichtlich: Q Selbsterfahrung: Das Gefühl der Unselbstständigkeit und Abhängigkeit ist nur dann nachvollziehbar, wenn man ähnliche oder gestellte Situationen schon einmal an sich selbst erfahren hat. Der Patient/Bewohner ist den Pfl flegenden oft hilfl flos ausgeliefert. Daher ist es wichtig zu wissen, wie es ist, ständig um Hilfe zu bitten. flegende Angehörige kann die Ehefrau sein, Q Rollenbewusstsein: Der pfl die keine Hilfe annehmen möchte. Sie pfl flegt ihren Gatten in guten und in schlechten Zeiten. Es kann die Tochter sein, die ihre Berufswünsche zurückstellt. Das Rollenbild der Frau hat sich aber entscheidend verändert, und niemand erwartet die Einhaltung des „Generationenvertrages“. flegemaßnahmen Q Aufgabenbewältigung: Erfolg und Misserfolg der Pfl prägen stark die Selbstachtung des pflegenden fl Angehörigen. Sie wächst und fällt mit ihren Aufgaben und wird in weiterer Folge positiv oder negativ auf den Patienten/Bewohner übertragen.
3 Erwartungen an (pfl flegende) Angehörige und Besucher Unterschiedliche Erwartungen und Wünsche führen oft zu Missverständnissen und Konflikten. fl Diese müssen im Rahmen der Zusammenarbeit rechtzeitig geklärt werden. Im Rahmen der Kooperation zwischen professionellen Helfern und „Laienpfl flegern“ ergeben sich leicht Konfl flikte infolge unterschiedlicher Erwartungen und Wünsche. Insofern wurde in diesem Abschnitt versucht, aufgrund häufig fi im stationären Bereich auftretender Probleme die „Wünsche der Pflegefachkräfte fl an die Angehörigen/Besucher“ zusammenzufassen, um gegenseitiges Verständnis zu fördern. Natürlich kann dies nur einen kleinen Auszug darstellen und die direkte Kommunikation nicht ersetzen. Pfl flegende Angehörige werden dabei ersucht: Q Informationstafeln und Informationsmaterial gründlich durchzulesen und dann Fragen zu stellen; Q Hinweisschilder auf der Station zu lesen; Blumenvasen befinden fi sich oft in den sanitären Einrichtungen, Bettenspiegel befinden fi sich oft beim Eingang auf der Abteilung; Informationen am Bett: „Angehörige bitte zum Arzt“, „Bettruhe“, „Nüchtern“ zu berücksichtigen;
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Q Besuche zu planen, sodass nicht alle gleichzeitig kommen und dann tagelang niemand; diese Besuche auch nach der Entlassung in eine Pflegeinstitution fl oder nach Hause möglichst beizubehalten; Q Rücksicht auf die Tagesstruktur zu nehmen und nicht unbedingt zu den Essenszeiten (ausgenommen pfl flegende Angehörige) zu kommen, wenn anschließend alle Patienten/Bewohner auf die Toilette müssen oder Pflege fl handlungen notwendig sind; Q auf die Mitpatienten/-bewohner Rücksicht zu nehmen, daran zu denken, dass auch diese eine Diät haben können, bzw. sich ins Zimmer zurückziehen, um Ruhe zu fi finden; Q Besuchszeiten möglichst einzuhalten, sonst ist der Patient/Bewohner gerade bei einer Therapie oder Untersuchung; er benötigt auch z. B. nach dem Essen oder der Physiotherapie eine Ruhepause; Q Kontakt zur Pfl flegefachkraft aufzunehmen; nicht zu Schülern oder Praktikanten; Q für Auskünfte nur eine Kontaktperson oder Termine gemeinsam in Absprache mit den übrigen Familienmitgliedern wahrzunehmen; sonst Informationen an andere Familienmitglieder weiterzugeben; Q Blumen, Lebensmittel, Kleidung u. a. m. nur nach Rücksprache mit dem Team der Station mitzubringen; Staubereich ist in öffentlichen Einrichtungen oft nur mangelhaft vorhanden; Q sich in der Besuchszeit um den zu Betreuenden zu kümmern und nicht laufend das Pfl flegepersonal zu bemühen; Q darauf zu achten, dass die Diät eingehalten wird; fl nur nach Terminvereinbarung Q eine sehr ausführliche Pflegeinformation zu erwarten; eine solche ist mit der Bezugsschwester am sinnvollsten; Q keine zu hohen Anforderungen und Ansprüche an den an Krankheiten leidenden alten Menschen zu stellen; es kann ein gleichbleibender Gesundheitszustand als Erfolg gesehen werden; Q Besprechungsaktivitäten des interdisziplinären oder multiprofessionellen Teams nur bei wirklich dringenden Anliegen zu unterbrechen; einige wenige Kollegen übernehmen dabei die Versorgung der Patienten/Bewohner; das gesamte Team steht im Anschluss wieder zur vollen Verfügung. Wenn Besucher sich ein wenig an diese Grundregeln halten, bleibt den Mitarbeitern des Teams mehr Zeit für die Betreuung ihrer Klienten, und dies verhindert das Aufkommen von Stresssituationen. Durch Berücksichtigung der gegenseitigen Grundbedürfnisse (multiprofessionelles Team, Angehörige, Besucher, …) können Abläufe verbessert, unproduktive Zeiten vermindert und damit die Betreuungsqualität erhöht werden. Haben Sie vor allem Geduld. Arbeitsunterbrechungen durch Telefonate, Auskünfte, usw. können zu Fehlern führen, und diese möchten wir mit allen Mitteln verhindern.
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4 Unterstützungskonzept Pfl flegefachkräfte sollten pfl flegende Angehörige stärken und unterstützen, damit sie die Aufgaben einer kompetenten Pflege fl übernehmen können. Dies ist für eine kontinuierliche Betreuung nach der Entlassung des Patienten notwendig. Pflegefachkräfte fl und Angehörige sollten sich nicht um Kompetenzen streiten. Das Unterstützungskonzept berücksichtigt die Biografie, fi Fähigkeiten und Fertigkeiten, nicht-kognitive Veränderungen, Funktionsstörungen, Ko- oder Multimorbidität sowie Compliance und Coping. Q Biografie: fi Die biografi fische Anamnese des Patienten/Bewohners führt zu einem besseren Verständnis für die Motivationen seiner Handlungen. Sie erleichtert den Zugang zum Patienten/Bewohner, und er kann dort abgeholt werden, wo er steht. Sozialer Stand, Bildungsgrad, Interessen, Abneigungen und Rituale beeinfl flussen alle pfl flegerischen und therapeutischen Maßnahmen. Q Fähigkeiten und Fertigkeiten: Auch wenn es offensichtlich nicht so aussehen mag, jeder Mensch, auch der demente Patient/Bewohner, besitzt Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese müssen nur frühzeitig erkannt werden. Die Autonomie und Selbstständigkeit des Patienten/Bewohners soll keineswegs durch Bevormundung und mütterliche Zuwendung negativ beeinfl flusst werden. Werden Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend durch das „Verstärkungsmodell“ gefördert, können Leistungseinbußen hinausgezögert werden. Hierbei werden vorhandene Fertigkeiten durch entsprechende Motivation (Belohnung z. B. durch Lob) hervorgehoben und Eigeninitiativen des Patienten/Bewohners gefördert. Q Nicht-kognitive Veränderungen: Diese können sehr unterschiedlich sein und bedürfen einer psychiatrischen Abklärung, da es sich um depressive Störungen, psychotische Phänomene (Wahn, Halluzinationen), Verkennungen, Fehlidentifikationen, fi Antriebsstörungen, Aggressivität, Störungen des Tag/Nacht-Rhythmus sowie Persönlichkeitsveränderungen handeln kann. Q Funktionsstörungen: Bestehende Funktionsstörungen können ein eingeschränktes Hör- oder Sehvermögen, ein Nachlassen der Feinmotorik und andere körperliche Gebrechen sein. Der persönliche Umgang des Patienten/Bewohners und das Ausmaß der Akzeptanz seiner Einschränkung sind abhängig vom Zeitpunkt des Erwerbs (z. B. Einschränkung des Blickwinkels seit der Geburt). Q Ko- oder Multimorbidität: Zusatzerkrankungen haben einen entscheidenden Einfl fluss auf das pfl flegerische, psychologische, soziale und medizinisch-therapeutische Setting. Sie können allgemein gültige Richtlinien bei älteren Menschen (erhöhten Flüssigkeitsbedarf) in das genaue Gegenteil, z. B. bei einer Herzinsuffizienz fi (Einschränkung der Flüssigkeitsaufnahme), verändern. Q Compliance/Coping: Die Ursache für eine herabgesetzte oder fehlende Mitarbeit sowie Bewältigung der täglichen Anforderungen ist oft in der Krankheitsuneinsichtigkeit und dem Wissensdefi fizit aufgrund von kog-
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nitiven und nicht-kognitiven Veränderungen zu finden. Ähnlich verhält es sich mit fehlenden Problemlösestrategien. Es erfordert ein hohes Maß an Fachwissen und vor allem an Geduld im Umgang mit dem Patienten. flegereleJe nach Ursache werden medizinisch-therapeutische und pfl vante Maßnahmen (je nach Kompetenz) gesetzt. Bei diesem Pfl flegekonzept handelt es sich um eine sehr individuelle, bedürfnisorientierte Pflege. fl Jede Über- und Unterforderung des Patienten/Bewohners durch das Pflegepersonal fl und pfl flegende Angehörige ist tunlichst zu vermeiden. Die pfl flegerischen Grundelemente müssen den pfl flegenden Angehörigen genauestens erklärt werden. Sie müssen über den Tagesablauf informiert, in die Stationsstruktur einbezogen sein und von allen Mitarbeitern akzeptiert werden. Sie werden in den Pflegeprozess fl und in die laufende Pfl flegeplanung einbezogen. Im Team wird der Verlauf der Einschulung (Ziel, Planung, Durchführung, Kontrolle) schriftlich festgehalten, und etwaige Kompetenzstreitigkeiten werden besprochen. Die Einschulung erfolgt durch die Bezugsschwester. Sie entscheidet, wann Pfl flegekompetenzen abgegeben werden können. Alle Kriterien, die eine Redelegation (seitens der Bezugsschwester, aber auch flegenden Angehörigen) zur Folge haben, müssen berücksichtigt werdes pfl den. Je nach Auffassungsvermögen und Umsetzungsbereitschaft können fl nach ärztlicher Rücksprache erweitert werden. einfache Pflegekompetenzen Im Folgenden werden diese einfachen Pflegekompetenzen fl beschrieben. Gesundheitsvorsorge Sie beinhaltet alle nicht medizinischen, prophylaktischen Maßnahmen wie: Gestaltung der Umgebung (Sturzprophylaxe), Einhaltung der Hygienerichtlinien (Infektionsprophylaxe), zum Durchatmen oder Abhusten auffordern (Pneumonieprophylaxe), genügend Bewegung, ausreichend Flüssigkeit und ballaststoffreiche Kost (Obstipationsprophylaxe), ausgewogene vitaminreiche Ernährung, genügend Schlaf und alle weiteren einfachen, für den Patienten gesundheitserhaltenden Maßnahmen.
Pflegerelevante fl Maßnahmen einer erweiterten Grundpfl flege im Überblick Hierbei handelt es sich um eine „ganzheitliche Pflege“, fl nach den erweiterten Grundbedürfnissen der Aktivitäten des täglichen Lebens, abgestimmt auf die Patienten bzw. Bewohner. Es wird bewusst eine Abhängigkeit vermieden. Dies geschieht durch eine gezielte Förderung der Selbstpflege fl nach dem Verstärkungsprinzip sowie der aktivierenden und reaktivierenden Pfl flege nach Böhm. Bei höherer Pfl flegeabhängigkeit ist eine Anleitung zur Pfl flege ohne Bevormundung angezeigt. Das so genannte „Helfersyndrom“ ist prinzipiell abzulehnen, wobei zu unterscheiden ist, ob der Patient nicht will oder nicht kann. Erhöht sich diese Abhängigkeit, ist eine
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geführte Pflege fl (z. B. geführte Waschung) anzuwenden und um das Konzept der „basalen Stimulation“ zu erweitern. Empathischer Umgang mit den kognitiven und nicht-kognitiven Veränderungen, mitunter aufgebaut auf einer validierenden Pfl flege, hilft, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Besonders wichtig ist die Beobachtung von physischen und psychischen Veränderungen (z. B. fehlende Schmerzäußerung, veränderter SchlafWach-Rhythmus, Dehydrationszeichen, …). Weitere wichtige Elemente im erweiterten Rahmen der Grundpflege fl sind: Q die Erstellung einer kontinuierlichen Tagesstruktur; Q die Beratung beim Kauf von Heilbehelfen und im weiteren Sinn für den Pflegealltag fl wichtigen Utensilien (Kleidungsstücke, Möbelstücke, …); sie sollten auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt sein; Q die richtige Handhabung und der Umgang mit Heilbehelfen und Pflefl geartikeln (Blutzuckermessgerät, Inkontinenzprodukte, …); Q die Einschulung auf die Weiterführung von schriftlichen Unterlagen (Bilanzierungsbogen, Kontinenztrainingsplan), die nach der Entlassung fortgeführt werden müssen und für die laufende Dokumentation entscheidend sind. Kognitive Förderung Die Therapieansätze sind wesentlich breiter gestreut, als sie in diesem Rahmen besprochen werden. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf die von pfl flegenden Angehörigen umsetzbaren Möglichkeiten, insbesondere die Q Förderung optischer, olfaktorischer, gustatorischer, akustischer und taktil-haptischer Sinneswahrnehmung durch basale Stimulation; Q Förderung visokonstruktiver Fähigkeiten durch Legen von Figuren oder Mosaiken; Q Förderung von Dialogfähigkeit und Sprachverständnis durch ein gezieltes Training der Wortfi findung (Gegenstände benennen, Anregung zur Kommunikation, besprechen eines Zeitungsartikels, …); Q Förderung des Realitätsbezuges mittels Orientierungshilfen und dem Realitätsorientierungstraining; Q Förderung der Gedächtnisleistung durch ein spezielles Gedächtnistraining. Zur Unterstützung der kognitiven Förderung wird auf die Literatur von Stengel (1998), Gatterer und Croy (2000, 2001) und Oswald und Rödel (1995) hingewiesen. Freizeitgestaltung/Beschäftigung Im stationären Bereich stehen verschiedene Therapieangebote (Ergotherapie, Physiotherapie, Sporttherapie, Musiktherapie) zur Verfügung, in die
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der Patient/Bewohner eingebunden wird. Das größte Angebot bietet jedoch das Pfl flegepersonal an, wobei der Phantasie freier Lauf gelassen wird (Zeitungsrunde, Terrassenrunde, Kaffeekränzchen, Spielenachmittag, …). Die pfl flegenden Angehörigen können daran aktiv teilhaben und sich Anregungen holen. Der therapeutische Aspekt steht dabei immer im Vordergrund. Nach der Entlassung sollten diverse Aktivitäten, angepasst an das zuvor gewohnte Leben, in einen kontinuierlichen Tagesablauf eingebaut sein. Vorschläge: Q Bewegung in Form von Spaziergängen oder leichter Gymnastik, die auch im Sitzen durchgeführt werden kann; Q Einbeziehung in einfache hauswirtschaftliche Tätigkeiten; flegen und herstellen (z. B. VerwandtenbeQ gesellschaftliche Kontakte pfl suche, Kartenspielrunden, Kaffeenachmittag, etc.); Q Bastel- oder Handarbeitstätigkeiten zur Förderung der Feinmotorik. Die verschiedenen Aktivitäten sollen in erster Linie Spaß machen und den zu Betreuenden nicht über- bzw. unterfordern. Er soll so lange als möglich in die Planung der Freizeitgestaltung einbezogen werden. Die Entscheidungen sollen nie über seinen Kopf hinweg getroffen werden. Ihm sollen Auswahlmöglichkeiten angeboten werden (bei Überforderung auf zwei Möglichkeiten beschränken).
5 Leitlinien für die Beziehungsgestaltung mit Angehörigen In erster Linie müssen die Rahmenbedingungen in den jeweiligen Institutionen geschaffen werden. Es bedarf nicht nur des guten Willens des Pfl flegepersonals, sondern auch dem des Patienten/Bewohners und dessen Angehörigen.
Bedürfnis nach Information Die Kontaktperson hat ein Anrecht auf (telefonische) Information bei der Aufnahme des Patienten/Bewohners, bei Veränderungen des Gesundheitszustandes und Transferierungen auf andere Abteilungen. Das Aufklärungsgespräch über Krankheitsbild und Verlauf ist Aufgabe des Arztes. Nach Maßgabe können auch andere Mitglieder des multiprofessionellen Teams teilnehmen und im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit agieren. Informationen über Pflegemaßnahmen fl sind hingegen Kompetenzbereich der Pfl flege als eigenverantwortlicher Tätigkeitsbereich. Aufklärungsgespräch und Pfl flegegespräch mit Angehörigen sollten keinen Konkurrenzkampf im interdisziplinären und schon gar nicht im multiprofessionellen Team auslösen. Jeder Mitarbeiter kennt die Grenzen seiner Kompetenz und wird, wenn er auf seine Grenzen stößt, den um Auskunft Fragenden an andere Fachdisziplinen verweisen. Andererseits ist die
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Information der Angehörigen, bei welcher Berufsgruppe welche Informationen erhalten werden können, wesentlich für eine konfl fliktfreie Kommunikation. Insofern sollte dies im Rahmen der Erstgespräche vermittelt werden. Stationsstrukturen, Tagesabläufe, Besuchszeiten und Leitgedanken sollten in Form von Faltprospekten frei aufliegen, fl bereits beim Erstgespräch kurz besprochen und mitgegeben werden. Besondere Angebote, wie „differentialdiagnostische Ausgänge“, „Übergangspflege“, fl „Angehörigenbetreuung“ oder „Einschulung zum pfl flegenden Angehörigen“, sollten gesondert besprochen werden. Erleichterung bei der Kommunikation mit Angehörigen schafft auch eine Fototafel mit den Namen der diensthabenden Pfl flegepersonen bzw., wenn möglich, des Gesamtteams. Beispiel: Herr T. hat Besuch von seinem Sohn. Dieser informiert sich beim Pfl flegepersonal über den Pfl flegeaufwand. Er möchte wissen, ob sein Vater nach der Entlassung noch Betreuung benötigen wird. Da der Pflegefl fachkraft eine Unterstützung durch die Hauskrankenpflege fl sinnvoll erscheint, wird eine Kontaktaufnahme zur Diplomsozialarbeiterin vorgeschlagen. Sie informiert den Sohn über die zuständige Hauskrankenpflege, fl deren Betreuungsangebot und die Finanzierung. Herr T. ist mit der Betreuung einverstanden, und sein Sohn nimmt Kontakt zum Stützpunkt auf. Er organisiert den Erstkontakt am geplanten Entlassungstag. Herr T. erhält so nahtlos fachlich kompetente Beratung und Betreuung.
Arbeitsklima Es ist die Aufgabe der Stationsleitung und ihrer Mitarbeiter, für ein offenes, herzliches und partnerschaftliches Arbeitsklima zu sorgen. Zur Selbstverständlichkeit soll es gehören, dass Angehörige unverbindlich Fragen stellen und Vorschläge machen dürfen. Dies werden sie aber nur tun, wenn auf der Station eine angenehme Atmosphäre vorherrscht. („Mal ehrlich, es soll auch gelacht werden dürfen.“)
Sprechstunden Angehörige haben auch das Bedürfnis, mit den Pfl flegefachkräften und nicht nur mit den Ärzten zu sprechen. Besprechungsmodalitäten und die Namensfindung fi dieser bleiben den Mitarbeitern vorbehalten. Unklarheiten über Kompetenzüberschreitungen sollten vorab im multiprofessionellen Team geklärt werden. Besprechungsaktivitäten, die vom Pfl flegepersonal angeboten werden können: Q Q Q Q
Sprechstunde für Angehörige, telefonische Terminvereinbarungen, regelmäßige Angehörigentreffen, offene Nachmittage auf der Station.
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Angehörige haben in den Sprechstunden aber oft auch das Bedürfnis, über persönliche, familiäre oder soziale Probleme zu sprechen, dem man auch so gut als möglich nachkommen sollte. Beispiel: Frau St. und ihr Gatte werden von ihrer Enkeltochter betreut. Das Ehepaar benötigt zunehmend Unterstützung im Haushalt. Die Pflefl geabhängigkeit von Frau St. stieg besonders in Bezug auf die Körperpflege, fl die fortschreitende Immobilität und die zunehmende Inkontinenz. Die Enkelin hat zwei sehr kleine Kinder und wohnt auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt. Dies und die Tatsache, dass ihr nur wenig Zeit für eigene Bedürfnisse blieb, machte sie sehr kommunikationsfreudig. Ihr war es besonders wichtig, nachzufragen, ob all die geplanten Schritte zur Entlassungsplanung auch richtig seien. Sie konsumierte alle im multiprofessionellen Team angebotenen Angehörigengespräche, die sie mit dem Besuch bei ihrer Großmutter verbinden konnte.
Gemeinsame Zielsetzung Angehörige und Pflegefachkräfte fl sollen eine Einheit bilden. Unterschiedliche Vorstellungen müssen geklärt werden. Gemeinsame Zieldefinitionen fi finden sich bereits im Pfl fi flegeprozess wieder. Beispiel: Frau F. wurde wegen Exsikkose (die „Austrocknung“ des Organismus als Folge einer negativen Flüssigkeitsbilanz) mit diabetischer Entgleisung, psychomotorischer Unruhe und Stimmungsschwankungen zur stationären Aufnahme gebracht. Sie war einen Tag zufrieden und am nächsten unglücklich. Sie machte abwechselnd ihre Tochter, ihren Sohn, der nie verstand, warum seine Schwester die Einweisung veranlasste, und das Pflegepersonal fl für ihr Unglück verantwortlich. Der Sohn nahm ihre Beschwerden ernst und ihre Vorwürfe sehr persönlich. Er wollte seine Mutter so schnell wie möglich nach Hause nehmen. Da die Tochter von Frau F. schon immer um die Belange ihrer Mutter bemüht war und ihr Bruder dem Team vorerst sehr kritisch gegenüberstand, wurde zuerst ein Einzelgespräch mit der Tochter angestrebt. Sie wurde gebeten, dem Bruder die weitere Pfl flege- und Entlassungsplanung zu erklären und das Team bei den geplanten Maßnahmen zu unterstützen. Dabei standen therapeutisch angeleitete Ausgänge und ein höherer Flüssigkeitsbedarf unter Berücksichtigung der Diät und des verminderten Durstgefühls von Frau F. im Vordergrund. In weiterer Folge unterstützten beide Angehörige (Sohn und Tochter) das Team bei den Pfl flegehandlungen.
Einbeziehung der Angehörigen in den stationären Alltag Ein ständig mit Sonderwünschen kommender, fordernder Angehöriger kann verhindert werden, indem man ihm die verschiedenen Stationsstrukturen oder stationsinternen Rituale erklärt. Eine stärkere Einbindung der Angehörigen erreicht man auch durch jahreszeitlich gebundene und sons-
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tige Veranstaltungen. Sie fördern die Beziehung zueinander durch gemeinsame Aktivitäten.
Kritik und Umgang mit Kritik Nicht jeder Angehörige kritisiert konstruktiv. Beschwerden sollten auch schriftlich, in Form eines Evaluierungsbogens, deponiert werden können. Dieses Briefkastensystem kann in Teambesprechungen evaluiert und reflekfl tiert werden. Mögliche Reaktionen von Angehörigen sind (exemplarisch): Q bitten, Anregungen und Vorschläge äußern, höflich fl und liebenswert sein, Geschenke bringen; Q auf Distanz gehen, ausüben von Druck, äußern von Kritik, einfordern von Rechten; Q nörgeln, schimpfen, klagen, Vorwürfe machen; Q nichts sagen, aber innerlich angespannt reagieren; Konfl flikte ergeben sich hier oft nach der Entlassung des Patienten/Bewohners. Am schwierigsten im Umgang sind jene, die nichts sagen, zufrieden wirken und, wenn sie die Station verlassen, ihre negative Grundhaltung gegenüber anderen Angehörigen zum Besten geben. Die Grundregeln eines Kritikgespräches (Hirsch 1997) sind im Auge zu behalten, und die Kritik ist als Appell (Schulz von Thun 1991) zu sehen. In jedem Fall sollte ein Gespräch mit den Angehörigen geführt und in Ruhe nach möglichen Ursachen gesucht werden. Die Ursache kann exemplarisch Q in tatsächlichen Nachlässigkeiten und im Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter liegen; Q in der schwierigen Persönlichkeit des Patienten/Bewohners zu finden sein, dem es nicht recht zu machen ist und der sich bei seinen Angehörigen laufend beschwert; Q in der Persönlichkeit des Angehörigen liegen, der seine (unbewussten) Schuld- und Versagensgefühle auf diese Weise zu kompensieren sucht; Q in der Struktur der Abteilung liegen. Eine eindeutige Klärung ist nur durch ein direktes Gespräch möglich, dem man auch zeitlich Raum geben sollte.
Eigene Grenzen aufzeigen Angehörigen sollte bewusst gemacht werden, dass nicht alles in der Kompetenz der Pflegefachkräfte fl liegt. Sie werden gegenüber den Angehörigen unglaubwürdig, wenn sie ihnen unerfüllbare Zugeständnisse und halbherzige Versprechungen machen. Wichtig erscheint, auf keinen Fall falsche Hoffnungen zu nähren, denn es ist keine Schande, eigene Grenzen zuzugeben, man muss sie nur kennen.
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Aufzeigen der Grenzen pfl flegender Angehöriger So wie Pflegefachkräfte fl ihre eigenen Grenzen kennen, sollte es auf sanfte Art und Weise den Angehörigen ebenso bewusst gemacht werden, wo ihre Grenzen liegen. Der Inanspruchnahme diverser extramuraler Einrichtungen sollten sie nicht ablehnend gegenüberstehen. Unangenehme Themen, wie die mögliche Unterbringung des älteren Menschen in einer Langzeitpflegeeinrichtung, fl sollten in einem geschützten Rahmen besprochen werden. Besichtigungen einzelner Pflegeeinrichtungen fl könnten Angst und Vorurteile abbauen. Belastungsaspekte, die in dieser Arbeit bereits erwähnt wurden, sollten besprochen werden. Vermittlerrolle Das Pfl flegepersonal sollte Verständnis für den Ärger und die Enttäuschung des zu Betreuenden und seiner Angehörigen zeigen. Angehörige, welche sich nicht verteidigen können, sollten keinesfalls schlecht gemacht werden. Aufbau von Vertrauen „Grundlage jeder Partnerschaft ist das Vertrauen. Es kann weder herbeigeführt noch herbeigewünscht werden. Vertrauen erwächst aus der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit: aus Gleichberechtigung, aus Akzeptanz und Toleranz und vor allem aus der Arbeit an einem gemeinsamen Ziel“ (Friedemann 1996, 28). Beispiel: Frau Z. wurde mit akuter Verwirrtheit in Zusammenhang mit Elektrolytentgleisung eingeliefert. Bei der ambulanten Abklärung wurde die Tochter von Frau Z. Ohrenzeuge einer unqualifizierten fi Aussage eines Mitarbeiters des ambulanten Teams in einem externen Krankenhaus (Was soll ich mit der Fetten da?). Sie war deshalb verärgert und gekränkt, daher misstraute sie auch allen Mitarbeitern der Station. Nur durch längere Gespräche und Verständnis für ihr Verhalten konnte das Vertrauen wiederhergestellt werden. Berücksichtigen von Interaktionen Jede Reaktion zieht eine Gegenreaktion nach sich. Diese Interaktionsmuster wurden bei uns bereits in der Familie entwickelt. Sie beeinflussen fl die Lebensbewältigung in allen späteren Lebens- und Handlungsbereichen.
6 Zusammenfassung Angehörige stellen einen wichtigen Partner bei der multiprofessionellen Betreuung älterer Menschen im stationären Rahmen dar. Durch die Vermittlung von Einblick in die Tätigkeit der Pfl flege bzw. des multiprofessionellen Teams
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und die Rahmenbedingungen einer Institution können Missverständnisse und daraus resultierende Kommunikationsprobleme vermieden werden. Als weitere wesentliche Parameter sind die Erfassung der Grundbedürfnisse der Angehörigen sowie deren Ängste und möglichen Vorerfahrungen anzuführen. Durch Berücksichtigung dieser Faktoren können falsche Erwartungen hinsichtlich des stationären Aufenthaltes und seiner Möglichkeiten (Idealisierung, negative Erwartungen, …) rechtzeitig besprochen werden. Eine professionelle stationäre Behandlung muss den Angehörigen so früh als möglich in diesen Prozess mit einbeziehen und sollte nur solche Maßnahmen planen, die von diesem auch zu Hause umgesetzt werden können.
Literatur Friedemann ML (1996) Familien und umweltbezogene Pfl flege. Hans Huber, Bern Gatterer G, Croy A (2000) Nimm dir Zeit für Oma und Opa. Springer, Wien New York Gatterer G, Croy A (2001) Geistig fit ins Alter. Springer, Wien New York Hirsch AM (1997) Psychologie für Altenpfleger, fl Band 2: Kommunikative Kompetenz. Quintessenz, München Kistner W (1992) Der Pflegeprozess fl in der Psychiatrie. Fischer, Stuttgart Kruse A (1996) Psychosoziale Gerontologie, Band 2: Interventionen. In: Jahrbuch der Medizinischen Psychologie 16. Hogrefe, Göttingen Kruse L, Graumann C-F, Lantermann E-D (Hrsg.) (1990) Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. Psychologie Verlagsunion, München Kryspin-Exner I, Günther V (1997) Förderung der Selbstständigkeit im Alter: Information, Beratung, Schulung und Unterstützung von Angehörigen und Pfl flegepersonal. In: Weis S, Weber G (Hrsg.) Handbuch Morbus Alzheimer. Neurobiologie, Diagnose, Therapie. Beltz Psychologie Verlagsunion, Weinheim, 1253–1292 Männel P (1998) Qualitätsentwicklung im Sozial- und Gesundheitsmarkt – Ein Praxisbericht. Verlag GCN, Winterthur Neubauer G (2000) Reflexion fl des Pfl flegeleitbildes für Gerontopsychiatrie. Unveröff. Praktikumsbericht Neubauer G (2001) Pfl flegende Angehörige im gerontopsychiatrischen Setting. Unveröff. Abschlussarbeit, Graz Oswald WD, Rödel G (1995) Gedächtnistraining. Hogrefe, Göttingen Schulz von Thun F (1990) Miteinander reden 2. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Rowohlt, Reinbek Schulz von Thun F (1991) Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen. Rowohlt, Reinbek Schäffler fl A, Menche N, Bazlen U, Kommerell T (Hrsg.) (1997) Pfl flege heute. Urban & Fischer, München Stefan H, Allmer F (Hrsg.) (1999) Praxis der Pflegediagnosen. fl Springer, Wien New York Steiner-Hummel I (1995) Angehörige beteiligen – Der partnerschaftliche Auftrag für die Angehörigenarbeit. In: Evers A, Leichsenring K, Strümpel C (Hrsg.) Klientenrechte. Sozialpolitische Steuerung der Qualität von Hilfe und Pfl flege im Alter. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Wien, 281–290 Stengel F (1998) Heitere Gedächtnisspiele im Großdruck. Memo-Verlag, Stuttgart Wilz G, Schumacher J, Machold C, Gunzelmann T, Adler C (1998) Angehörigenberatung bei Demenz – Erfahrungen aus der Leipziger Studie. In: Kruse A (Hrsg.) Psychosoziale Gerontologie, Band 2: Intervention. Jahrbuch der Medizinischen Psychologie, Band 16. Hogrefe, Göttingen, 232–250 Yazdani F, Richter E, Uranüs M, Andritsch H, Fürtinger B, Mahr C, Neubauer G, Tauber M (1999) Projekt LNKH 2005. Abteilung für Gerontopsychiatrie, Graz
Beratung, Betreuung und Pflege fl älterer Menschen außerhalb von Ballungszentren. Ein Praxisbericht Bernhard Zeller, Gabriela Neubauer und Gerald Gatterer
Die Betreuung älterer Menschen im ländlichen Bereich unterscheidet sich oft wesentlich von der in der Stadt. Organisationsstrukturen, wie Tageszentren, ambulante Betreuungen, aber auch Pfl flegeheime, sind oft anders zu gestalten oder auch in diesem Bereich nicht so effizient. fi Oft sind hier die Familie und die Nachbarschaft der wichtigste Betreuungsfaktor. Insofern sind Aufklärung, Information, Schulung und Unterstützung der nicht professionellen Betreuer wesentliche Aspekte der Betreuung im ländlichen Bereich. Im Gegensatz zur Stadt hat auch der Hausarzt als „Drehscheibe“ der Organisation der Betreuung eine besondere fachliche, aber auch emotionale Funktion.
1 Einleitung Frau N., 72 Jahre alt, verwitwet, lebt allein auf ihrem kleinen, einsamen Bauernhof. Ihr einziger Sozialkontakt besteht aus Einkaufen fahren und dem Besuch des Briefträgers. Eines Tages fällt dem Briefträger auf, dass die Post nicht aus dem Briefkasten entnommen wurde. Er sucht nach der älteren Dame und verständigt die Gendarmerie, als er leise Hilferufe aus dem Haus hört. Frau N. war gestürzt und konnte allein nicht mehr aufstehen. Sie erlitt bei diesem Sturz eine Schenkelhalsfraktur und wurde deshalb ins Krankenhaus eingeliefert. Dort erholte sie sich relativ rasch und wurde auch wieder allein gehfähig. Nun ergibt sich jedoch die Problematik der weiteren Betreuung und Versorgung zu Hause. Wer kümmert sich in Zukunft um die alleinlebende Frau? Wer organisiert und koordiniert notwendige Hilfsdienste? Wer unterstützt sie bei der Instandhaltung ihrer kleinen Wirtschaft? Wie erhält sie die notwendige physiotherapeutische Nachbetreuung? Oder wäre es das Beste, sie stationär in einem Pflegeheim fl aufzunehmen, was Frau N. jedoch strikt ablehnt?
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Diese Problematik ist kein Einzelfall. So sind 22,42% der über 60-jährigen Menschen leicht betreuungsbedürftig, 4,89% mittel und 3,56% schwer betreuungsbedürftig. Dabei ist ein starker Anstieg der allgemeinen Betreuungsbedürftigkeit von der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen (15,63%) zur Gruppe der über 85-Jährigen feststellbar (81,84%). Diese Zahlen sind laut Prognosen bis 2030 steigend (Quelle: Österr. Seniorenbericht). Das Zusammenleben mehrerer Generationen ist hierbei keine Seltenheit. So wohnten 1997 27% der Männer und 25% der Frauen in „Mehrgenerationenhaushalten“. Anderseits leben 38% der älteren Frauen über 60 Jahre allein. Alleinlebende Frauen sind hauptsächlich ein Phänomen im städtischen Bereich, während in Kleingemeinden generationenübergreifendes Wohnen die häufi figste Lebensform ist (46% Männer; 43% Frauen). Insofern kommt im nicht städtischen Bereich der Familie eine wesentliche Bedeutung zu. Dies auch dadurch, da es in kleinen Gemeinden kaum Altenbzw. Pflegeheime fl gibt. Der tatsächlich notwendige Betreuungsaufwand lässt sich auch aus der Zahl der Pfl flegegeldbezieher (Türk 1998) ableiten. 95,3% benötigten dabei Unterstützung bei der Reinigung der Wohnung, 92,3% bei der Wäscheversorgung, 88,6% beim Einkaufen von Lebensmitteln und Besorgen von Medikamenten, 79,6% bei der Zubereitung von Mahlzeiten, 74,4% Hilfe beim Baden oder Duschen, 68% bei der Heizung des Wohnraumes, 51,6% beim Verlassen der Wohnung und 44,8% beim Anziehen bzw. 38,1% beim Waschen. Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, welche Bereiche durch die Familie bzw. ambulante Dienste abgedeckt werden müssen. Daraus ist jedoch auch ersichtlich, dass vor allem außerhalb von Ballungszentren der Kooperation von professionellen und nicht professionellen Helfern eine wesentliche Bedeutung zukommt.
2 Struktur der ambulanten Betreuung bzw. Unterstützungsangebote für betreuungs- und pfl flegebedürftige ältere Menschen sowie pfl flegende Angehörige Eine klare Trennung der Angebote für pfl flegebedürftige Menschen und für deren Angehörige ist aufgrund der übergreifenden Thematik nur schwer möglich. Im folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten Bereiche mit deren Tätigkeitsprofi fil exemplarisch dargestellt werden. Eine bundesweite Darstellung der Netzwerke ist aufgrund der unterschiedlichen Trägerorganisationen nicht möglich. Nach Badelt und Pazourek (1991) lassen sich diese auf drei Quellen zurückführen: a) auf den informellen Sektor, b) auf den öffentlich/staatlichen Sektor, c) auf den privaten Markt (freie gemeinnützige Träger, kommerzielle Anbieter).
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Für die Finanzierung und Organisation der Hilfen sind in Österreich primär die Bundesländer und Gemeinden verantwortlich. Dadurch kommt es einerseits zu einer unterschiedlichen Verteilung staatlicher Institutionen, der Non-Profit-Organisationen fi und der privaten Anbieter. Der hohe Anteil privat gewerblicher Anbieter im Burgenland, in der Steiermark und in Niederösterreich ist zum Teil durch die große Zahl kleiner Betreuungsangebote zu erklären. a) Der informelle Sektor Auch wenn immer wieder Zweifel an der Leistungsfähigkeit familiärer Systeme geäußert wird, belegt die Erfahrung dennoch, dass ältere Menschen im Falle von Krankheit, vor allem auf dem Lande, noch immer primär von Familienangehörigen betreut werden. Österreichweit werden 68,5% der älteren Menschen im Falle von Krankheit durch die Familie, 13,5% mittels sozialer Dienste und 1,9% von Freunden und Bekannten betreut. 13,5% erhalten von niemandem Hilfe (Quelle: Mikrozensus 6/1998). Hierbei zeigen sich jedoch starke regionale Unterschiede. So sind das Burgenland und Vorarlberg mit 83,7% und 83,5% Pflege fl durch die Familie führend. Wien hat mit 54,5% hier den geringsten Anteil und weist mit 26,5% das höchste Risiko für ältere Menschen auf, im Krankheitsfall niemanden zur Pflege fl zu haben. b) Der öffentliche/staatliche Sektor flegeheime, zur Er stellt in erster Linie Institutionen, wie z. B. Alters- und Pfl Verfügung, die in Eigenverantwortung der Bundesländer geführt werden. Exemplarisch wird anbei die Novelle zum Steiermärkischen Sozialhilfegesetz angeführt, welches die Versorgung im extramuralen Bereich regelt. C. Soziale Dienste Art, Umfang und Voraussetzungen § 16. (1) Soziale Dienste sind über Maßnahmen zur Sicherung des Lebensbedarfes hinausgehende Leistungen der Sozialhilfe zur Befriedigung gleichartiger, regelmäßig auftretender, persönlicher, familiärer oder sozialer Bedürfnisse. (2) Folgende soziale Dienste sind sicherzustellen: a) Alten-, Familien- und Heimhilfe im Sinne des Steiermärkischen Alten-, Familien- und Heimhilfegesetzes – AFHG, LGBl. Nr. 6/1996, in der jeweils geltenden Fassung, soweit sie nicht stationär erbracht wird; b) Gesundheits- und Krankenpfl flege, soweit sie nicht in stationären Anstalten erbracht wird, wie beispielsweise Hauskrankenpfl flege; c) Essenszustelldienst. (3) Als soziale Dienste können insbesondere erbracht werden: a) vorbeugende Gesundheitshilfe; b) allgemeine und spezielle Beratungsdienste (z. B. Schuldnerberatung); c) Erholungshilfen für alte oder behinderte Menschen (z. B. Altenurlaubsaktion, Kurzzeitpflege). fl
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(4) Die Leistung sozialer Dienste ist von einer zumutbaren Beitragsleistung des Leistungsempfängers abhängig zu machen. (5) Auf die Leistung sozialer Dienste besteht kein Rechtsanspruch. 3. Abschnitt – Organisation der Sozialhilfe Träger der Sozialhilfe § 17. Träger der Sozialhilfe sind nach Maßgabe dieses Gesetzes das Land, die Sozialhilfeverbände, allfällige sonstige Gemeindeverbände (ISGS), die Stadt Graz als Stadt mit eigenem Statut und die Gemeinden (Sozialhilfeträger). Aufgaben des Landes § 18. (1) Im Rahmen der Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes hat das Land 60% dieses Aufwandes den Sozialhilfeverbänden und der Stadt Graz zu ersetzen (§ 22). (2) Im Rahmen der Hilfe in besonderen Lebenslagen kann das Land gemeinsam mit den Sozialhilfeverbänden und der Stadt Graz oder allein Leistungen erbringen. (3) Im Rahmen der sozialen Dienste kann das Land gemeinsam mit den übrigen Sozialhilfeträgern oder allein soziale Dienste erbringen oder fördern. Das Land hat besonders dort soziale Aktivitäten zu fördern bzw. zu unterstützen, wo der Bedarf örtlich nicht gedeckt werden kann oder Bedarf nach einem landesumfassenden Angebot besteht. Aufgaben der Sozialhilfeverbände und der Stadt Graz § 19. (1) Die Sozialhilfeverbände und die Stadt Graz haben 40% der Kosten der Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes zu tragen. (2) Im Rahmen der Hilfe in besonderen Lebenslagen können die Sozialhilfeverbände und die Stadt Graz allein oder gemeinsam mit dem Land Steiermark Leistungen erbringen. Aufgaben der Gemeinden § 20. (1) Die Gemeinden einschließlich der Stadt Graz haben für die Sicherstellung der Soforthilfe (§ 36 Abs. 3) zu sorgen. (2) Die Gemeinden haben die im § 16 Abs. 2 angeführten sozialen Dienste zu gewährleisten, sie sollen weiters soziale Aktivitäten der Bevölkerung fördern und unterstützen (z. B. Nachbarschaftshilfe, Selbsthilfegruppen). (3) Die Gemeinden können die sozialen Dienste erbringen: – selbst oder – in einer Verwaltungsgemeinschaft gemäß den Bestimmungen der Steiermärkischen Gemeindeordnung 1967, LGBl. Nr. 115, in der jeweils geltenden Fassung, oder – durch freiwilligen Zusammenschluss zu einem Gemeindeverband gemäß den Bestimmungen des Gemeindeverbandsorganisationsgesetzes – GVOG 1997, LGBl. Nr. 66, in der jeweils geltenden Fassung. (4) Gemeinden und die Gemeindeverbände können die tatsächliche Leistung der sozialen Dienste vertraglich Dritten, insbesondere privaten Trägern, übertragen. Vor Abschluss eines solchen Vertrages ist erforderlichenfalls durch Vereinbarung mit Nachbargemeinden sicherzustellen, dass die tatsächliche Leistung der sozialen Dienste für ein Gebiet im Sinne des Abs. 5 gewährleistet ist. (5) Bei der Organisation der Erbringung sozialer Dienste ist auf die topografi fische Lage, die höchstmögliche Effizienz fi und den zweckdienlichsten Einsatz der sozialen Dienste Bedacht zu nehmen; auf bestehende Strukturen ist Rücksicht zu nehmen. Die Erbringung der sozialen Dienste in räumlich geschlossenen Gebieten, in denen zwischen 7000 und 35.000 Menschen leben, ist anzustreben. Die räumlichen Einheiten, in denen soziale Dienste erbracht werden, heißen integrierte Sozial- und Gesundheits-
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sprengel, ISGS. In den integrierten Sozial- und Gesundheitssprengeln ist die organisatorische Vernetzung der Leistungserbringung zur Gewährleistung einer koordinierten, dauerhaften, fl flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung mit sozialen Diensten sicherzustellen. (6) Die Finanzierung der sozialen Dienste erfolgt durch: – die Gemeinde bzw. den Gemeindeverband; – Kostenbeiträge der Leistungsempfänger; – sonstige Mittel wie Spenden, Schenkungen; – Beiträge des Landes. (7) Die Gemeinden haben dem Land erstmalig innerhalb von sechs Monaten ab Inkrafttreten des Gesetzes mitzuteilen, in welcher Form sie die sozialen Dienste erbringen. Ebenso haben die Gemeinden bzw. Gemeindeverbände dem Land jede Änderung unverzüglich mitzuteilen. (8) Erbringt eine Gemeinde die sozialen Dienste nicht oder nicht in ausreichendem Maße, so hat die Landesregierung die Gemeinde aufzufordern, binnen drei Monaten den Nachweis der Erfüllung der Verpflichtung fl nach Abs. 2 zu erbringen. Nach fruchtlosem Verstreichen dieser Frist hat die Landesregierung die in Betracht kommende Gemeinde mit anderen Gemeinden durch Verordnung zu einem Gemeindeverband zusammenzuschließen bzw. einem bestehenden Gemeindeverband anzuschließen und diesen zu verpfl flichten, diese Gemeinde aufzunehmen.
Trotz dieser im Sozialhilfegesetz sehr positiv geregelten Punkte und dem damit sehr guten Angebot für die Bevölkerung gibt es noch immer eine Unzahl an Faktoren, die eine entsprechende Inanspruchnahme der sozialen Dienste sowie von Entlastungsaktionen für pflegende fl Angehörige oder Tagespfl flege verhindern. c) Der private Markt Dieser unterteilt sich in Q den Non-Profi fit-Sektor, der die traditionellen und gut etablierten Freiwilligenorganisationen und Wohlfahrtsverbände (z. B. Caritas, Rotes Kreuz, etc.), lokale Vereinigungen und dezentralisierte bürgernahe Gruppen und Initiativen beinhaltet; diese sind teilweise unabhängig oder mit politischen Parteien oder Interessensgruppen eng verbunden; Q den privaten Mark, der derzeit noch ein kleines Segment ausmacht, aber deutlich expandiert. Die Betreuung älterer Menschen erfolgt durch verschiedene professionelle Organisationen des öffentlichen und privaten Sektors sowie der Familien und muss deshalb entsprechend koordiniert werden.
Angehörigenbetreuung und Unterstützung Im folgenden Abschnitt sollen kurz jene Bereiche dargestellt werden, die als Grundvoraussetzungen für die Betreuung durch Angehörige bzw. nicht professionelle Helfer notwendig sind.
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Medizinische Beratung Sie erfolgt hauptsächlich durch die niedergelassenen Fachärzte für Allgemeinmedizin. Durch die oft enge Verbindung zu den Bewohnern der Ortschaften können sie auch die soziale Situation und die Notwendigkeit weiterer Hilfen gut einschätzen. Sie klären auch über Krankheiten und deren Therapie auf und stellen meist den Erstkontakt zu professionellen Hilfen über die Sozialämter her bzw. überweisen in schwierigen Fällen ins Krankenhaus bzw. zu Fachärzten. Beratungsstellen der Sozialämter bzw. deren Sozialstationen Die Organisation der Altenhilfe ist von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich und hat auch unterschiedliche Charakteristika. Hier unterstützen diplomierte Sozialarbeiter, -innen die Angehörigen bei der Organisation von diversen mobilen Diensten. Ebenso geben sie Hilfestellung bei den Unterstützungsanträgen (Pflegegeld, fl etc.) sowie bei Heimunterbringungen. Zusätzlich bieten Gemeinden (in Kooperation mit verschiedenen Trägerorganisationen) eigene Betreuungsstrukturen an. Informationen erhält man direkt in den Gemeindeämtern bzw. im Gesundheits- und Sozialreferat. Selbsthilfegruppen Infolge der großen Zahl von Selbsthilfegruppen kann hier nur Allgemeines dazu erwähnt werden. Es gibt heute schon fast für jede Problematik eigene regional und überregional organisierte Selbsthilfegruppen. Eine Auflistung fl findet sich in Österreich Sozial (1999). Für die spezielle Problematik von an fi Alzheimer erkrankten Menschen steht „Alzheimer Austria“ (siehe Gatterer und Croy 2000) zur Verfügung. Sie bieten ein Forum zum Erfahrungs-, Gedankenaustausch und zur Kontaktaufnahme mit anderen Betroffenen. Teilweise werden über diese Selbsthilfegruppen auch Schulungen für verschiedenste Problembereiche organisiert. Oft fungiert die Selbsthilfegruppe auch als Bindeglied zur professionellen Unterstützung bzw. Betreuung. Für viele Betroffene ist alleine das Wissen darum, dass sie „Leidensgenossen“ haben, schon eine Entlastung. Schulungen Um eine Betreuung oder Pflege fl zu Hause über längere Zeit effi fizient und kontinuierlich durchführen zu können, bedarf es unterschiedlichster Schulungsmaßnahmen. Diese Schulungen reichen von einfachen Verhaltensregeln und Kommunikation, über Prävention und Rehabilitation, bis hin zur Versorgung von pfl flegebedürftigen Klienten. Sie werden von den verschiedenen Fachdisziplinen angeboten und finden entweder noch in stationären Einrichtungen, in Beratungszentren oder vor Ort beim Klienten statt. Eine Sonderstellung nehmen die Schulungen von Pharmafirmen fi ein. Hierbei handelt es sich vor allem um produktspezifi fische Schulungen, zum Beispiel im Bereich enterale und parenterale Ernährung.
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Ziel dieser Schulungen ist es, Überbelastungen der pflegenden fl Angehörigen durch fehlende Ausbildungen bzw. falsche Maßnahmen (Hebetechnik, Lagerungen, etc.) zu vermeiden. So erleidet etwa ein Drittel der „freiwilligen“ Helfer selbst gesundheitliche Schäden, da sie nicht gelernt haben, wie man selbst trotz Pflegen fl gesund bleibt (Sonnleitner 1999).
Klientenbezogene Angebote Je nach Anbieter und Region fi findet man die folgenden Angebote unter verschiedenen Überbezeichnungen (mobile, soziale, ambulante Dienste, …). Um einen besseren Einblick in die Tätigkeits- und Versorgungsbereiche zu erhalten, werden diese im Folgenden exemplarisch dargestellt. Sie werden über Trägerorganisationen organisiert und stellen ihre Dienste Gemeinden bzw. direkt den Betroffenen zur Verfügung. Es besteht ein explizites sozialund gesundheitspolitisches Ziel, ein pluralistisches System von Anbietern weiterzuentwickeln, welches dem Klienten eine freie Wahl garantiert. Insofern sind Instrumente der Kontrolle und Koordination vereinbart worden. Diese sollten jedoch unbedingt noch ausgebaut werden, da diese Vielfalt den Kunden (älteren Menschen und dessen Angehörige) auch verwirren kann. So dient im Bereich der Stadt Wien der Fonds „Soziales Wien“ mit seinen „Gesundheits- und Sozialzentren“ als Koordinationsstelle. In Niederösterreich erfolgt dies in „Sozialsprengeln“. Andere Bundesländer entwickeln derzeit eigene Modelle, die jedoch noch umgesetzt werden müssen. Die Unterschiede der Bundesländer hinsichtlich der Quantität und Qualität der Dienste sind nach wie vor erheblich. So nutzen etwa 80% der Pflegefl geldbezieher in Vorarlberg die ambulanten Angebote, aber nur jeweils 1/3 im Burgenland und Kärnten. Weiters zeigt sich bei der Zahl der Beschäftigten als auch deren Qualifikation fi ein deutliches West-Ost-Gefälle. Medizinische Betreuung und Beratung Der Hausarzt ist im ländlichen Bereich die wichtigste und erste Person bei der medizinischen Betreuung älterer Menschen. Er überweist diese auch zu Folgeuntersuchungen zu Fachärzten und ins Krankenhaus. Weiters stellt er ein wichtiges Bindeglied zur Hauskrankenpflege fl her. Da er meist vor Ort agiert, kann er auch die Notwendigkeit von Hilfen gut abschätzen. Hauskrankenpflege fl Diese ist ein ambulanter Dienst und kann als Basis der professionellen Betreuung, in häuslicher Pflege, fl gesehen werden. Die Versorgung erfolgt durch diplomierte Gesundheits- und Krankenpfl flegepersonen sowie von Pfl flegehelfern. Ihr Tätigkeitsbereich erstreckt sich von Beratung über Koordination des Betreuungsangebotes, Angehörigenschulungen bis hin zur Durchführung von Pfl flegehandlungen und Behandlungsmaßnahmen nach ärztlicher Anordnung (z. B. Injektionen, Verbandswechsel, Medikamentenversorgung, …). Im ländlichen Bereich stellt sie die wichtigste Betreuungs-
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form neben dem Hausarzt bei der medizinisch-pfl flegerischen Versorgung dar. Über sie erfolgen auch Informationen, Einschulungen und Beratung der Angehörigen. Altenhilfe Die Bezeichnungen Altenhelfer/Pflegehelfer/Heimhelfer fl sind hinsichtlich der Ausbildung und Tätigkeit in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Aufgrund ihrer speziellen Ausbildung kommen sie primär bei der Aktivierung und Reaktivierung von alten Menschen zum Einsatz. Sie unterstützen diesen auch bei Alltagstätigkeiten, wie An-, Auskleiden, Einkaufen und sonstigen Tätigkeiten. Heimhilfe Sie unterstützt den Klienten ebenfalls bei der Haushaltsführung (Einkaufen, Aufräumen, Wäscheversorgung, …) und den Aktivitäten des täglichen Lebens. Heimhelfer und Altenhelfer stellen oft wichtige Bezugspersonen im sozialen Netz dar. Sie sind auch das Bindeglied zur Familie und dem multiprofessionellen Team. Insofern können durch diese enge Beziehung auch leicht Konfl flikte entstehen, die im Rahmen von Supervision zu lösen wären. Dies kann durch die klare Defi finition von Kompetenzen und deren Grenzen vermieden werden. Familienhilfe Sie kommt häufig fi dann zum Einsatz, wenn die haushaltsführende Person ausfällt. Sie übernimmt für einen begrenzten Zeitraum die Betreuung der ganzen Familie, inklusive Kinder- und Altenbetreuung. Nachbarschaftshilfe und Besuchsdienste Diese sind durch das soziale Umfeld oder durch eine Organisation möglich. Sie dienen vor allem der Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten, Erledigung von kleinen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, Botengängen, Haustiersowie Gartenversorgung und vielem mehr. Dieser Unterstützung kommt gerade im ländlichen Bereich noch eine wesentliche Bedeutung zu. Essenszustelldienste Diese können durch verschiedene Anbieter (Gemeinde, Wohlfahrtsverbände, Privatunternehmen, Gasthäuser) abgedeckt werden. Dieses Angebot richtet sich vor allem an Personen, die nicht mehr in der Lage sind, ihr Essen selbst zuzubereiten. Für gewöhnlich werden eine „Normalkost“ und einfache Diäten angeboten. Wäschepfl flege-, Reinigungs- und Reparaturdienste Besonders für alleinstehende Betreuungsbedürftige bietet dieses Angebot eine große Erleichterung bei der Bewältigung des Alltags. Durch die ge-
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ringe Nachfrage im ländlichen Bereich findet man diese meist nur in den Ballungszentren. Fahrtendienste Diese werden für Menschen mit eingeschränkter Mobilität durch Taxiunternehmen und Rettungsgesellschaften angeboten. Zustell- und Botendienste Zahlreiche Nahversorgungsbetriebe bieten z. B. die Zustellung von Lebensmitteln an. Botendienste werden von Taxiunternehmen bzw. von speziellen privaten Anbietern übernommen. Notrufsysteme Diese Einrichtung ist besonders für allein lebende Klienten geeignet. Durch Knopfdruck, z. B. auf ein Armband, kann Hilfe über eine Notrufzentrale angefordert werden. Therapeutische Dienste Damit sind mobile Physiotherapeuten, aber auch Ergotherapeuten gemeint. Die Inanspruchnahme dieser Dienste wird meist durch den behandelnden Arzt veranlasst. Hospizdienste Diese übernehmen die Betreuung und Begleitung Schwerkranker, Sterbender und deren Angehörigen. Die Betreuung hat das Ziel, ein Sterben in Würde und Schmerzfreiheit zu ermöglichen. Zum Einsatz kommt ein multiprofessionelles Team von Ärzten, ausgebildeten Pflegepersonen, fl Seelsorgern und geschulten Laien. Seelsorge Diese wird durch verschiedene Konfessionsgemeinschaften angeboten. Es handelt sich dabei um Priester oder freiwillige, oft ehrenamtliche, Mitarbeiter der Gemeinschaft. Psychosoziale Dienste Sie beraten und betreuen Menschen mit psychischen Erkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen, Behinderungen und Persönlichkeitsstörungen sowie deren Angehörige. Diese Dienste werden unabhängig vom Alter des Klienten angeboten. Hier arbeiten Ärzte, Pflegepersonen, fl Sozialarbeiter, Psychologen, Psychotherapeuten und Ergotherapeuten im multiprofessionellen Team. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Krisenintervention.
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Semistationäre Einrichtungen Diese dienen der Tagesbetreuung. Sie bieten Verpflegung, fl Therapie, Beschäftigung und Knüpfung von sozialen Kontakten. In den Ballungszentren wird dies von eigens dafür geschaffenen Organisationen angeboten. Im ländlichen Bereich ist dieses Angebot an stationäre Einrichtungen (Pflegefl heime) oder mobile Dienste (deren Stützpunkte) angeschlossen. Diese bringen für pfl flegende Angehörige folgende Vorteile: Q stunden-/tageweise Entlastung der pfl flegenden Angehörigen; Q Verminderung der Vereinsamung – speziell bei allein lebenden Personen – durch soziale Kontakte, Möglichkeit zu Kommunikation und Beschäftigung sowie Abwechslung vom Alltag; Q Steigerung der Mobilität durch Seniorenturnen, Gymnastik; Q ergotherapeutische Angebote (Gedächtnistraining, Training der Feinmotorik, Haushaltstraining, etc.); Q zusätzlich können bei der Tagesbetreuung pfl flegerische Tätigkeiten wie Duschen oder Baden angeboten werden, da gerade ein Teil der älteren Bevölkerung diese Möglichkeit zu Hause nicht vorfi findet bzw. im Tageszentrum notwendige Hilfen, wie z. B. ein Hebekran, vorhanden sind; Q auf Wunsch können Angebote wie Frisör, Turnen, Fußpflege, fl Massagen und gemeinsame Unternehmungen genützt werden. Stationäre Einrichtungen Sie bieten je nach Bedarf von Tagesbetreuung, Kurzzeitpfl flege, bis hin zur Langzeitpfl flege eine qualifi fizierte Betreuung an. Je nach Ausrichtung nennen sich diese Institutionen: Tageszentrum, Pflegeheim, fl Wohnheim, Seniorenresidenz, Altenheim, etc. Psychiatrische Familienpflege fl Diese gilt als regionale Besonderheit in der Süd- und Weststeiermark. Hier werden psychisch kranke Klienten in Gastfamilien aufgenommen. Meist handelt es sich um landwirtschaftliche Betriebe, in denen die Klienten verschiedene Aufgaben (hauswirtschaftliche oder landwirtschaftliche Tätigkeiten) übernehmen können. Durch die Integration in einem Familienverband ist eine kontinuierliche Betreuung bis ins hohe Lebensalter möglich. Die Betreuung der Gastfamilien und deren Klienten sowie die Gesamtkoordination übernimmt ein multiprofessionelles mobiles Team unter fachärztlicher Leitung aus der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz. Durch die enge Kooperation zwischen dem Hausarzt (Arzt für Allgemeinmedizin), der mobilen Krankenpfl flege und anderen sozialen Hilfen soll es dem älteren Menschen mit Gebrechen möglich sein, möglichst lange zu Hause zu verbleiben oder auch nach einem Krankenhausaufenthalt wieder dorthin zurückkehren zu können.
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Die Situation der pfl flegenden Angehörigen und nicht professionellen Helfer Da etwa 2/3 der Pflege fl im ländlichen Raum von Familienangehörigen bzw. nicht professionellen Helfern durchgeführt wird, soll die Situation dieser Personen hier kurz dargestellt werden. Insbesondere sind zu unterscheiden: Q Bezahlte oder unbezahlte Hilfs- und Pflegetätigkeit. Die klare Trennung ist nicht immer möglich, da neben der regulären marktlichen Entlohnung zahlreiche nicht marktliche Entlohnungsformen zur Anwendung kommen. Diese reichen von der Weitergabe des Pfl flegegeldes, über Taschengeld oder Geschenke, bis zu Erbansprüchen. In der Landwirtschaft ist diese familienrechtliche Verpflichtung fl der Kinder gegenüber den pflegebedürftigen fl Eltern oft ein Teil des Erbrechtes. Insofern ergeben sich hier oft auch juristische Fragen bezüglich Sozial- und Krankenversicherung oder Steuerpfl flicht. Q Familiäre oder außerfamiliäre Pflegetätigkeit. Für viele Fragestellungen ist es wesentlich, zu unterscheiden, ob die Hilfeleistung und Pflege fl innerhalb eines Haushaltes, zwischen Familienangehörigen oder auch Nachbarn geleistet wird. Vor allem innerhalb eines Familienverbandes ergibt sich häufig fi ein größerer psychischer Druck durch Erwartungen der Umwelt und der Gesellschaft. So meinen etwa 61% der Befragten im ländlichen Bereich, dass die erwachsenen Kinder die Betreuung übernehmen sollten. In der Großstadt sinkt dieser Anteil auf 30%. Hier werden vermehrt Heime und Sozialdienste favorisiert. Auch die Pflefl genden selbst nehmen diesen Druck wahr, so dass 73,8% erklärten, dass das „verwandtschaftliche Verhältnis“ das Hauptmotiv für die Betreuung darstelle. Q Professionelle Arbeit oder Laienarbeit. Pfl flege durch Familienangehörige oder Nachbarn hat oft deshalb den Charakter von Laienarbeit, da diese keine entsprechende Fachausbildung aufweisen. Andererseits ist gerade in diesem Bereich die Kooperation zu professionellen Helfern sehr groß, sodass eine Reihe von Zwischenformen existiert. So eignen sich etwa viele private Pflegepersonen fl in Kursen Grundlagen der Hauskrankenpfl flege an, bzw. werden durch Angehörige und Selbsthilfegruppen geschult. Das Ehrenamt stellt in dieser Hinsicht einen wesentlichen Teil der Betreuung im ländlichen Bereich dar (Bubolz-Lutz und Rüffin fi 2001). Pfl flegende Angehörige (zumeist Frauen) sind die wichtigste Stütze im Betreuungssystem. Durch ihre unentgeltliche Pfl flegeleistung – durchschnittlich 70 Std. pro Woche – tragen sie auch ca. 80% der Gesamtpflegekosten. fl Ihre Arbeit ist, vor allem im ländlichen Bereich, unbezahlbar und unverzichtbar (Badelt et al. 1997). Die Aufgaben der Angehörigen sind sehr vielfältig und schwierig. Sie stehen plötzlich vor Problemen, auf die sie nicht vorbereitet wurden, die aber einschneidende Maßnahmen in ihrem eigenen Leben und ihrem Alltag erfordern. Sie müssen z. B.:
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Q Tag und Nacht einen kranken, oft auch verwirrten Angehörigen beaufsichtigen, Q mit ihm seine Krankheit und das Altern bewältigen lernen, Q seine Unruhe, Schmerzen und oft auch Forderungen ertragen und seine Sicherheit gewährleisten, Q erleben, wie sich z. B. im Rahmen einer Demenzerkrankung die Persönlichkeit und das Verhalten des Erkrankten nach und nach verändern, Q trachten, seine Würde zu wahren, Q Hilfestellung bei der Bewältigung des Alltags und seiner Körperhygiene geben, Q Arztbesuche und Therapie oft gegen seinen Willen organisieren, Q therapeutische Maßnahmen durchführen (z. B. Medikamente verabreichen), für die sie oft nicht geschult wurden, Q trotz Aggression und Misstrauen versuchen, eine entspannte Atmosphäre aufrechtzuerhalten, Q die Betreuung in das eigene Leben als Ehegattin, Mutter, etc. integrieren, Q weiterhin Kontakte zu Verwandten und Freunden pfl flegen, Q den Rollentausch verkraften (Kinder sorgen für Eltern, die Gattin muss sich um Geschäftliches kümmern), Q rechtliche und finanzielle Entscheidungen treffen, Q ein Helfernetz aufbauen und die Dauerpfl flege planen. Das soll alles neben dem Beruf und der eigenen Familie bewerkstelligt werden. Die Belastungen, denen Angehörige Tag und Nacht über Jahre ausgesetzt sind, stellen eine starke Überforderung dar. Daher sollte den pflefl genden Angehörigen mehr Aufmerksamkeit, Achtung und Hilfe zukommen. Information, Erfahrungsaustausch, Beratung und Training führen zu einer deutlichen Entlastung der Angehörigen und einer verbesserten Interaktion mit dem Kranken. Der Erkrankte und die Angehörigen erhalten dadurch mehr Lebensqualität. Heimeinweisungen werden reduziert oder hinausgeschoben.
Wichtige Fragen beim Erstkontakt mit dem Klienten Bei der Planung und Organisation von Hilfen kommt dem Erstkontakt eine wesentliche Bedeutung zu. Wenn möglich, sollte auch eine Bezugsperson (Angehöriger, Nachbar, …) anwesend sein, um vorhandene Ängste und Befürchtungen beim älteren Menschen zu vermeiden. In Anlehnung an Brechmann und Wallrafen-Dreisow (1990) sind folgende Fragen zu klären: Q Q Q Q
Welche Hilfe wird gewünscht (Waschen, Anziehen, …)? Welche Hilfe erscheint aus professioneller Sicht notwendig? Ist Wund- bzw. Behandlungspfl flege erforderlich? Welche medizinische Versorgung ist nötig?
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Q Welche Erkrankung steht im Vordergrund? Q Ist eine (Selbst-)Gefährdung des Patienten gegeben, bzw. sind Gefahrenquellen vorhanden (Sturzgefahr)? Q Welche Hilfsmittel und Heilbehelfe sind notwendig? Q Sind Wohnungsadaptierungen notwendig? Q Welche Personen des interdisziplinären und multiprofessionellen Teams fl Therapie, Medizin, …) sind erforderlich? (Pflege, Q Wer aus dem sozialen Umfeld soll/kann in die Betreuung mit einbezogen werden? Q Wer übernimmt die Koordination der Hilfen? Q Welche Arbeiten sind in und außerhalb der Wohnung notwendig? Q Ist Unterstützung im Bereich der Haushaltsführung notwendig? Q Wann und wie lange ist diese Hilfe voraussichtlich notwendig? Q Wie sieht die ärztliche Betreuung aus? Q Sind Frauen oder Männer als Helfer erwünscht? Q Wie erfolgt die Finanzierung? Q Sind diverse Ansuchen auf Kostenübernahme oder Unterstützung gefl Heilbehelfe, …)? stellt (Pflegegeld, Q Ist ein Sachwalter notwendig? Pflegende fl Angehörige sind einer massiven psychischen und physischen Belastung ausgesetzt. Um Überforderungen zu vermeiden, sollte deshalb professionelle Hilfe möglichst frühzeitig angefordert werden. Um diese adäquat gestalten zu können, sollten die entsprechenden Bedürfnisse und Probleme der Betreuung genau erfasst werden.
3 Problemstellungen in der Betreuung im ländlichen Bereich und exemplarische Lösungsansätze In diesem Abschnitt werden geografische, fi ökologische, gesellschaftliche, kulturelle und soziale Einfl flüsse und deren Auswirkungen auf die Betreuungssituation betrachtet. Weiters wird versucht, exemplarische Lösungsansätze anzubieten. Durch die Komplexität der Problematik kann dies jedoch nur im Ansatz geschehen, sodass im Einzelfall jede Situation für sich betrachtet werden muss. Empirische Beobachtungen haben gezeigt, dass sich mit zunehmender Entfernung von den Ballungszentren die Inanspruchnahme der oben angeführten Angebote verändert. Durch die teilweise geringe Nachfrage im ländlichen Bereich werden nicht alle erwähnten Möglichkeiten angeboten. Als Ursache könnten folgende Einfl flussfaktoren dafür ausschlaggebend sein. Geografi fische Entfernung Durch die geringere Bevölkerungsdichte im ländlichen Bereich sind die Entfernungen zu Beratungs- und Betreuungsangeboten größer als in Bal-
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lungszentren. Die medizinische Versorgung wird aus diesem Grund überwiegend durch Allgemeinmediziner abgedeckt. Die Inanspruchnahme von Fachärzten gilt im ländlichen Bereich nach wie vor als Ausnahme. Dies hat zur Folge, dass es einfacher ist, diagnostische Abklärung im nächstgelegenen Krankenhaus durchführen zu lassen als von mehreren Fachärzten. Den Klienten und Angehörigen ist aufgrund der langen Wegstrecken zu den diversen Einrichtungen (Tageszentren, Beratungszentren, …) eine Inanspruchnahme derselben oft nicht möglich. Hierbei spielen auch die eingeschränkte Mobilität der Klienten (Gehbehinderungen, Rollstuhlfahrer, …), schlechte öffentliche Verkehrsverbindungen und die damit verbundene finanzielle Mehrbelastung (z. B. Taxikosten) eine wesentliche Rolle. Im Falle einer notwendigen stationären Betreuung erfolgt diese oft weit weg vom Wohnort, wodurch Besuche nur erschwert möglich sind. Ähnlich verhält es sich mit modernen Angeboten wie Kurzzeitpflege fl oder Tagesbetreuung. Diese ist in der Nähe einer Stadt eine optimale Betreuungsform, im weiter ländlichen Bereich jedoch schwer organisierbar. Hier sind neue Modelle der mobilen Betreuung zielführend, die die Leistungen direkt vor Ort erbringen können. Durch Regionalisierungen können diese Wegstrecken auch optimiert werden.
Finanzielle Belastung Finanzielle Belastungen stellen eine weitere Problematik im ländlichen Bereich dar. Einerseits sind die Einkommensverhältnisse im ländlichen Bereich (z. B. im steirischen Grenzland) geringer als in Städten, anderseits sind durch die größeren Wegstrecken ebenfalls fi finanzielle Mehrbelastungen gegeben, die oft nicht tragbar sind. Eine schlechte Arbeitsmarktsituation bringt mit sich, dass es in vielen Familien nur ein Einkommen gibt. Insofern sind verschiedene therapeutische Maßnahmen nicht finanzierbar und müssen durch Familienangehörige erbracht werden. Über das Pflegegeld fl sowie diverse andere fi finanzielle Unterstützungsmaßnahmen können diese Probleme teilweise vermindert werden. Insofern ist es wichtig, Angehörige über diese Möglichkeiten gezielt aufzuklären. Soziale Faktoren Das Rollenbild der Frau Das traditionelle Rollenbild der Frau ist in den ländlichen Bereichen oft noch unverändert. Die Versorgung der Familie und Pflege fl der alten Menschen ist immer noch alleinige Aufgabe der Frau und wird von Ehefrauen/ Lebenspartnerinnen, Töchtern und sehr häufi fig von Schwiegertöchtern durchgeführt. Die Unterstützung von mobilen Diensten oder die Unterbringung der pflegefl und betreuungsbedürftigen Angehörigen in stationären Einrichtungen wird oft sowohl von den Pfl flegenden selbst, aber auch der Gesellschaft als „Versagen“ der Hausfrau angesehen. Dieses Sich-Hilfe-
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holen hat sehr stark mit der Angst vor Verlust des Ansehens in Verwandten- und Nachbarschaftskreisen zu tun. Prägungen und überlieferte Wertvorstellungen bestimmen sehr stark das Anspruchsverhalten unserer Eltern- und Großelterngeneration, aber auch unsere eigenen Verhaltensweisen. Um den Normen und Werten der Gesellschaft gerecht zu werden, beugen sich viele Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter, aber auch zunehmend Ehemänner und Söhne diesem Druck, pfl flegen den zu betreuenden Angehörigen oft bis zur völligen Aufgabe des eigenen Lebens, der eigenen fl Angehörige widmen ihre ganze Kraft und Wünsche und Träume. Pflegende Zeit der Pflege, fl schlittern zunehmend in eine Isolation. Dieses Rollenbild wird sich in Zukunft wandeln, weil die junge Generation mehr Ausbildung genießt und diese auch umsetzen will. Insofern ist in Zukunft auch in diesen Bereichen mit einer Zunahme von mobilen Diensten zu rechnen. Auch bei den allein lebenden älteren Menschen ist eine Veränderung im Anspruchsverhalten zu bemerken. So werden vermehrt Dienste, wie Essen auf Rädern, Wäschedienst, Heimhilfen, etc., in Anspruch genommen. Insofern müssen diese auf Gemeindeebene organisiert und ihr Zugang bzw. auch die Finanzierung erleichtert werden. Zur besseren psychischen Bewältigung dieser Betreuung sollten pflefl gende Angehörige folgende Faktoren beachten: Q Halten Sie das normale Leben neben der Betreuung möglichst aufrecht. Q Genießen Sie Aktivitäten mit anderen Personen und akzeptieren Sie auch Unterstützungsangebote. Q Strukturieren Sie den Alltag, um sich selbst und dem Betreuten eine klare zeitliche Regelung (auch Pausen einplanen) zu ermöglichen. Q Unterstützen Sie die Eigenständigkeit des Kranken, soweit dies möglich ist, und trainieren Sie alltagsrelevante Tätigkeiten. Q Achten Sie auf Beschäftigung des Kranken (fordern, aber nicht überfordern). Q Fördern Sie mit Geduld und Feingefühl noch vorhandene Fähigkeiten, merkbare Defi fizite ausgleichen. Q Vermeiden Sie Auseinandersetzungen, bewahren Sie Ruhe und Geduld. Q Angriffe gegen Sie sind oft Ausdruck der eigenen Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Q Sprechen Sie bei Demenzkranken langsam und in einfachen Sätzen. Q Verlangen Sie bei Demenzkranken keine Entscheidungen, geben Sie Erinnerungsstützen und Orientierungshilfen. Q Führen Sie keine unnötigen Umgebungswechsel im späteren Krankheitsstadium einer Demenz durch. Q Im Falle einer Demenzerkrankung ist oft eine Sachwalterschaft zur Vorbeugung von Problemen (z. B. Kreditaufnahme, Einkäufe, …) sinnvoll. Generationenvertrag Ein wichtiger Faktor, wenn nicht der wichtigste, ist der so genannte Generationenvertrag. Dieser beruht auf der Erwartungshaltung, dass Eltern Kin-
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der pflegen fl und bei Bedarf die Kinder Eltern pfl flegen. Erschwerend kommt im ländlichen Bereich oft die so genannte Hofübergabe dazu. Nach der Hofübergabe wird erwartet, zu Hause gepflegt fl zu werden und zu Hause sterben zu können. Auch wenn die Pflege fl in Übergabeverträgen unter dem Titel „Ausgedinge“ geregelt ist, ist dies keine Garantie, diese tatsächlich zu bekommen. Die Ursache liegt darin, dass solche Verträge zu einem Zeitpunkt geschlossen werden, wo eine Abschätzung des Pflegefl und Betreuungsaufwands gar nicht möglich ist. Ein weiterer Aspekt ist sicherlich die höhere Lebenserwartung, gekoppelt mit intensiverer und länger andaufl Kommt es tatsächlich zur Erbringung der Pfl flegeleisernder Pflegeleistung. tung, so wird erst sehr spät Unterstützung von mobilen Diensten angenommen. Alle anderen Dienste werden kaum bis nie in Anspruch genommen. Intaktes soziales Umfeld Durch das durchwegs intakte soziale Umfeld im ländlichen Bereich wird die häusliche Betreuung erst möglich. Einerseits sind mehrere Familienmitglieder greifbar, die sich die Belastungen teilen, andererseits hat dies mitunter zur Folge, dass Angebote nicht in Anspruch genommen werden. Durch die einfache Regel, Nachfrage regelt Angebot, kommt es deshalb im ländlichen Bereich zu einer Reduzierung der Angebotspalette. Ein weiterer stützender Faktor für die Pflege fl zu Hause ist eine funktionierende Nachbarschaftshilfe. Hier ist deutlich ein Unterschied zur Anonymität in Ballungszentren zu erkennen. Diesem Bereich kommt im Rahmen der Versorgung am Land eine wesentliche Bedeutung zu.
Multiprofessionelle Zusammenarbeit Das multiprofessionelle Team, welches die Betreuung zu Hause abdeckt, unterscheidet sich im ländlichen Bereich gegenüber den Ballungszentren vor allem in der Zusammensetzung der Mitarbeiter. Dabei kommt dem Bereich der Kommunikation, Kooperation und Koordination der Dienste eine wesentliche Bedeutung zu. Die Grundproblematik der Koordination des multiprofessionellen Teams ergibt sich daraus, dass nicht alle Dienste aus einer Trägerorganisation angeboten werden. Es treffen unterschiedliche Interessen der einzelnen Anbieter sowie der Angehörigen und Betreuten aufeinander. Weiters können zusätzlich Kommunikationsprobleme durch die räumliche Distanz auftreten. Die Angehörigen haben dabei meist die Aufgabe, die einzelnen Dienste aufeinander abzustimmen und mit den eigenen Leistungen zu koordinieren und zu vernetzen. Sie sind dafür zu wenig ausgebildet und besitzen nicht die notwendigen Informationen oder Managementfähigkeiten. Eine zweite Koordinationsstelle stellt der Hausarzt dar. Ihm kommt neben der medizinischen Versorgung im ländlichen Bereich ebenfalls eine zentrale Funktion zu.
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In der Novelle zum steirischen Sozialhilfegesetz wurden zwar Vorkehrungen zur Koordinierung des Betreuungsangebotes getroffen, z. B. die Sprengelbildung mit einem Sprengelbeauftragten, in der Praxis hat sich dies aber bis heute nicht überall durchgesetzt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, wobei auf gesundheitspolitischer Ebene noch Handlungsbedarf besteht. Dort, wo es eine multiprofessionelle Zusammenarbeit gibt, hängt diese meist an einzelnen besonders engagierten Mitarbeitern. Bei der Langzeitbetreuung z. B. von chronisch Kranken (z. B. Demenzen) übernehmen oft Angehörige aus finanziellen Gründen die Rolle des Koordinators im Betreuungsteam. Durch den intensiven persönlichen Einsatz entsteht leicht eine permanente psychische und physische Überforderung, fl Angehörigen nicht wahrgenommen werden kann. welche vom pflegenden Für eine optimale Betreuung bei fehlenden finanziellen und strukturellen Ressourcen bleibt den Betroffenen und ihren Angehörigen keine andere Wahl. Das folgende Beispiel zeigt auf, wie durch die enge Kooperation von intra- und extramuralen/ambulanten Diensten mit Angehörigen und nicht professionellen Helfern auch bei hohem Pfl flegeaufwand eine optimale Versorgung im ländlichen Bereich gewährleistet werden kann. Multiprofessionelle und oft auch systemübergreifende Betreuungsstrukturen sind gerade im ländlichen Bereich besonders wichtig. Nur dadurch können überschießende Kosten der Betreuung durch lange Wegstrecken, Doppelgleisigkeiten durch schlechte Koordination oder auch fehlende Hilfsmittel infolge nicht aufeinander abgestimmter Maßnahmen verhindert werden. Angehörige oder auch Nachbarn müssen in die Planung der professionellen Maßnahmen integriert werden und sind wesentliche Partner im Betreuungssystem.
4 Fallbeispiel Andrea P., 76 Jahre, wohnhaft im südsteirischen Grenzland, war bis zum Tag ihrer Einlieferung als Altbäuerin tätig. Ihren Bauernhof hatte sie zu ihrem 60. Geburtstag ihrem Sohn übergeben. Im Übergabevertrag war ein „Ausgedinge“ mit voller Pflege fl verankert. Sie unterstütze ihre Schwiegertochter in der Haushaltsführung und kümmerte sich um die Kleintierhaltung. Nach einem Schlaganfall ist sie links halbseitig gelähmt, harn- und stuhlinkontinent und benötigt einen Rollstuhl. Die Versorgung nach dem akuten Geschehen des Schlaganfalles fand im LSF Graz, Abtlg. f. zerebrovaskuläre Erkrankungen, statt. Hier bekam fl Frau P. in den ersten Wochen, neben der medizinischen und pflegerischen Behandlung, Physio-, Logo- und Ergotherapie. Bei der Entlassungsplanung im LSF stand eine Heimunterbringung zur Debatte. Die Schwiegertochter entschied sich für eine Betreuung zu Hause.
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Bei der Organisation im Vorfeld der Entlassung stand sie vor folgender Problematik: Die zuständige Hauskrankenpfl flege und Pfl flegehilfe wurde vor Ort aus einer Hand angeboten. Es war nicht möglich, über diesen Stützpunkt eine weiterführende Physiotherapie zu organisieren. Die nächste freiberufl fliche Physiotherapeutin war in der 23 km entfernten Bezirkshauptstadt ansässig. Ein Angebot an Ergo- sowie Logotherapie konnte nicht gefunden werden. Die Entlassung wurde für einen Freitag im August 2001 geplant und durchgeführt. Da in der Wohnsitzgemeinde von Frau P. keine Apotheke ansässig war und die Versorgung mit Medikamenten über die Hausapotheke des niedergelassenen Allgemeinmediziners erfolgt (welcher Freitag Nachmittag keine Ordination hat), musste die Schwiegertochter die Medikamente in der nächsten, 12 km entfernten, Apotheke besorgen. Um die gerade eingetroffene Frau P. nicht allein lassen zu müssen, kam die nächstgelegene Nachbarin und übernahm diese Aufgabe. Nach einem Erstbesuch der leitenden Stützpunktschwester und dem behandelnden Hausarzt wurde ein Betreuungsplan erstellt. Mit diesem Plan wurden einerseits die professionelle Unterstützung durch die Hauskrankenpflege fl und andererseits auch die Betreuungszeiten durch Nachbarschaftshilfe und die Pfarrgemeinde geplant. Durch die gute Koordination und den persönlichen Einsatz jedes Einzelnen konnte trotz des relativ hofl bei Frau P. die Betreuung zu Hause bis heute gehen Pflegeaufwandes währleistet werden.
5 Zusammenfassung Die Betreuungssituation älterer Menschen im ländlichen Bereich ist durch die Notwendigkeit der engen Kooperation zwischen Angehörigen, Hausarzt und multiprofessionellem Betreuungsteam charakterisiert. Im Vordergrund stehen die Grundbedürfnisse des zu Betreuenden mit seinen Fähigkeiten und seinem Defizit. fi Das Ziel ist eine optimale Versorgung zu Hause und die Vermeidung einer vollstationären Betreuung (Krankenhaus, Pflefl geheim). Durch die Gegebenheiten ländlicher Strukturen und die rollenbzw. traditionsspezifi fischen Erwartungen der älteren Generation sind auch die Strategien und Möglichkeiten der Betreuung von denen im städtischen Bereich sehr unterschiedlich. Oft sind Kompromisse, innovative Lösungen und das Nutzen verschiedenster Ressourcen notwendig. Gerade durch die Kooperation mit Angehörigen und Nachbarn sind auch die Grenzen zwischen professioneller und nicht professioneller Hilfe sehr fließend. fl Insofern erfordert das Betreuungskonzept eine gute Kommunikation, gegenseitige Akzeptanz und das Hinaussehen über eigene Grenzen und Kompetenzen. Zur Entlastung aller sollten die Angebote der professionellen Dienste so weit als möglich genutzt und mit den Leistungen der pflegenden fl Angehörigen vernetzt werden, um eine Überforderung und damit verbundene Konflikte fl zu vermeiden. Wichtig erscheint auch eine Abkehr von einer Trennung zwischen intramuraler und ambulanter/extramuraler Betreuung
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mit den entsprechenden Grenzen. Hier wären für die Zukunft fließende Übergänge im Sinne einer „transmuralen“ Betreuung und Vernetzung zielführend. Konkurrenz zwischen den Trägerorganisationen sowie zwischen professioneller und nicht professioneller Betreuung führt primär zu Spannungen und einem Sinken der Betreuungsqualität. Die Betreuung von älteren Menschen in der ländlichen Region stellt eine besondere Herausforderung für die betreuenden Personen dar. Gilt es doch, die Erkenntnisse der modernen Geriatrie mit den strukturellen und kulturellen Gegebenheiten am Land in Einklang zu bringen. Nur durch ein gesundes soziales Umfeld und die Nutzung professioneller Hilfen ist es möglich, dem älteren Menschen für einen langen Zeitraum einen Verbleib in seiner gewohnten Umgebung zu ermöglichen und nicht zu vereinsamen.
Literatur Badelt C, Pazourek J (1991) Care for the Elderly in Austria. Eurosocial 40, 2 Badelt C, Holzmann-Jenkins A, Matul C, Österle A (1997) Analyse der Auswirkungen des Pfl flegegeldvorsorgesystems. BMAGS, Wien Bubolz-Lutz E, Rüffi fin HP (2001) Ehrenamt – eine starke Sache. Kath. Bildungswerk Westerwald, Montabaur Brechmann T, Wallrafen-Dreisow H (1990) Ambulante Altenhilfe. Praxishandbuch zur Arbeit ambulanter Dienste. „In eigener Verantwortung“. Vincentz Verlag, Hannover Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (1999) Österreich sozial. BMAGS, Wien Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1995) Seniorenfreundliche Gemeinde. BMFSFJ, Bonn Gatterer G, Croy A (2000) Nimm dir Zeit für Oma und Opa. Geistig fit fi ins Alter. Springer, Wien New York Hofer K (1997) Pfl flegebedürftig. Von der Betreuung zu Hause und im Pfl flegeheim. ÖGB, Wien Kerschbaum W (2000) Trends in der extramuralen Pflege. fl Österr. Krankenpfl flege-Zeitschrift 11, 4 Klicpera C, Schabmann A, Al-Roubaie A, Schuster B, Weber G, Beran H (Hrsg.) (1994) Psychosoziale Probleme im Alter. WUV, Wien Leichsenring K (Hrsg.) (1998) Alternativen zum Heim. Die „Groupe Saumon“ und innovative Projekte aus Europa. BMAGS, Wien Reinisch J (1999) Praxisbuch Hauskrankenpflege. fl Leopold Stocker Verlag, Graz Stuttgart Sonnleitner G (1999) Pfl flegende Angehörige. Hingabe und Abgrenzung. Procare 9, 22–23 Steiermärkisches Sozialhilfegesetz. Stammfassung: LGBl. Nr. 29/1998 Türk E (1998) 5 Jahre Bundespflegegeld. fl Ein statistischer Überblick. Soziale Sicherheit 12, 899–917
Heimaufenthaltsgesetz Bundesgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit während des Aufenthalts in Heimen und anderen Pflegefl und Betreuungseinrichtungen (Heimaufenthaltsgesetz – HeimAufG) Bewohnervertretung Bernhard Zeller
Mit 1. 7. 2005 ist das Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) in Kraft getreten. Grundsätzlich werden in diesem Gesetz freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Institutionen sowie die Vertretung der Bewohner durch so genannte Bewohnervertreter geregelt. Im folgenden Beitrag soll die praktische Relevanz in der Altenpflege, fl anhand von einzelnen Paragrafen, nähergebracht werden. Der Beitrag ist als Kommentar einer Pflegeperson fl und zugleich eines Bewohnervertreters zu betrachten und nicht als juristische Auslegung. Einen ausführlichen juristischen Kommentar zum Gesetz finden Sie in „Heimrecht“, von Dr. Peter Barth und Dr. Arno Engel. Die mit der Bewohnervertretung betrauten Vereine haben sich die Erhöhung der Lebensqualität der Betreuten als Vision für die Umsetzung des Gesetzes gesetzt. Als ich erstmals diese Vision zum Gesetz gelesen habe, war ich verärgert. Ich dachte, da kommen irgendwelche siebengescheiten Juristen und wollen sich mit einem Gesetz das auf die Fahnen schreiben, was wir in der flege tagtäglich tun. Beim zweiten Hinschauen und beim Versuch, die Pfl Emotionen etwas zu bändigen, las ich gleich im ersten Paragrafen die Worte „Die mit der Pflege fl und Betreuung betrauten Menschen sind zu diesem Zweck besonders zu unterstützen“. Dies hat mich schon versöhnlicher gestimmt, und dies ist auch die Grundstimmung bei den Bewohnervertretern. flege diese neue Institution sehen: als Unterstützung So sollten wir in der Pfl und doch auch als wachsames Auge von außen. Wie so vieles in der Pflege, fl wird sich keiner allein die Erhöhung der Lebensqualität auf die Fahnen
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schreiben können, jedoch sollte – ja muss – dies ein gemeinsames Ziel aller Beteiligten sein. Natürlich müssen wir in der Pflege fl akzeptieren, dass jetzt noch jemand kommt und mitreden wird – aber es liegt an beiden Seiten, wie man miteinander kommuniziert. Je offener alle Seiten miteinander umgehen, umso besser werden wir gemeinsam das Ziel einer höheren Lebensqualität der Betreuten erreichen.
1 Kontrolle oder Controlling Für mich stellte sich diese Frage – bei meiner Entscheidung, in die Bewohnervertretung zu wechseln – als erstes. Bin ich dann der ungeliebte böse Kontrolleur, der die Kollegen kontrolliert und maßregelt, oder kann ich als Außenstehender dazu beitragen, den Alltag der Bewohner und Pfl flegenden zu unterbrechen, und einen neuen Blickwinkel eröffnen. Ich habe mich für Zweiteres entschieden und sehe mich in der Rolle des Controllers, der den Blick von außen auf Abläufe und Verhaltensmuster wirft und diese vor dem Spiegel des Gesetzes anschaut. Dies ermöglicht es sicher, Ideen aufzuwerfen und kreatives Potenzial in den Einrichtungen zu wecken. § 1. (1) Die persönliche Freiheit von Menschen, die aufgrund des Alters, einer Behinderung oder einer Krankheit der Pflege fl oder Betreuung bedürfen, ist besonders zu schützen. Ihre Menschenwürde ist unter allen Umständen zu achten und zu wahren. Die mit der Pfl flege oder Betreuung betrauten Menschen sind zu diesem Zweck besonders zu unterstützen. (2) Freiheitsbeschränkungen sind nur dann zulässig, soweit sie im Verfassungsrecht, in diesem Bundesgesetz oder in anderen gesetzlichen Vorschriften ausdrücklich vorgesehen sind.
Im § 1 Abs. 1 HeimAufG wird einleitend das Grundprinzip für die Anwendung des Gesetzes beschrieben. Der Gesetzgeber stellt die persönliche Freiheit des Einzelnen an die oberste Stelle. Diese wird bei der Anwendung des Gesetzes oberste Priorität haben. Weiters steht (soweit meine Recherchen ergeben haben) erstmalig in fl und Betreuung betraut einem Gesetz, dass Menschen, die mit der Pflege sind, besonders zu unterstützen sind. Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil auch bisher beschränkende Maßnahmen vorgenommen wurden, jedoch die damit betrauten Betreuungspersonen meist im gesetzlichen Graubereich handelten. Das Gesetz will damit aber sicher nicht ermöglichen, dass strukturelle Mängel in Einrichtungen zu beschränkenden Maßnahmen führen. Im § 2 HeimAufG wird der Geltungsbereich des Gesetzes erläutert. Kurz zusammengefasst: Eine Einrichtung muss über mindestens 3 Plätze zur Betreuung von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen verfügen, um unter das Gesetz zu fallen. Im anschließenden § 3 HeimAufG wird erläutert, was unter einer Freiheitsbeschränkung im Sinne des Gesetzes zu verstehen ist. Wichtig für die Umsetzung und zum Verständnis ist, dass immer eine Einschränkung der Mobilität des Bewohners vorliegen muss, um das Gesetz anwenden zu
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können. Zum Verständnis: Wird ein Bewohner, der ohne Fixierung nicht mehr sitzen kann, im Rollstuhl fixiert, dient dies zur Erhöhung seiner Mobilität (da er sonst nur im Bett sein könnte). Somit liegt hier auch keine Freiheitsbeschränkung vor. Weiters wird die Möglichkeit der Zustimmung zu Maßnahmen betreffend die persönliche Freiheit bei einsichts- und urteilsfähigen Bewohnern geregelt. § 3. (1) Eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes liegt vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepfl flegten Person (im Folgenden Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Mitteln, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen, oder durch deren Androhung unterbunden wird. (2) Eine Freiheitsbeschränkung liegt nicht vor, wenn der einsichts- und urteilsfähige Bewohner einer Unterbindung der Ortsveränderung, insbesondere im Rahmen eines Vertrages über die ärztliche Behandlung, zugestimmt hat.
Im § 4 HeimAufG werden die so genannten materiellen Voraussetzungen für die Anwendung des Gesetzes geregelt. Dies heißt nichts anderes als: Welches Leiden muss vorliegen, und gefährden die Auswirkungen dieses Leidens den Betroffenen oder eine andere Person in deren Gesundheit und Leben ernstlich und erheblich. Weiters wird hier auch auf die Notwendigkeit der Angemessenheit der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen hingewiesen. Wann welche Maßnahme angemessen ist, wird man in jedem Einzelfall entscheiden müssen. Es ist jedoch immer zu überlegen, ob es nicht eine gelindere Maßnahme als die geplante Freiheitsbeschränkung gibt. Einige Anregungen für gelindere Maßnahmen bzw. alternative Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Folgenden. Sturzrisiko mindern Angefangen vom Teppich als Sturzrisiko bis zur Verwendung der richtigen Gehhilfe kann dies reichen. Oft sind es ja gerade die kleinen Dinge, die am effi fizientesten sind. Aber natürlich sollten wir hier die medizinischen Sturzrisiken nicht vergessen: angefangen vom Hang-over durch die zu starke Schlaftablette bis hin zur Wechselwirkung verschiedener Medikamente. Hier ist sicherlich die Kooperation mit den Ärzten gefragt. Aber es ist ja gerade die Pfl flege, die die Betreuten 24 h sieht, und nicht der Arzt, der zur Visite kommt. Deshalb werden die Ärzte, wie in so vielen Dingen, auf das wachsame Auge der Pflege fl vertrauen können und müssen. Daheimgefühl vermitteln In der bekannten Sendung mit der Maus gibt es den schon legendären Ausspruch „Klingt einfach, ist es aber nicht“. Ich fi finde, dies ist die perfekte Beschreibung für diese Maßnahme – sie erfordert ein hohes Maß an Empathie und viel Biografi fiearbeit. Leider fehlt dazu oft die Zeit, aber auch das
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Gegenüber (Beispiel: Jurist – Bücherwand, Koch – Äpfel schälen, etc.). Trotzdem ist dies eine gute Möglichkeit, unruhigen Menschen durch kleine Dinge – angefangen vom Ohrensessel aus der Wohnung bis hin zum Hochzeitsbild – ein wenig Daheimgefühl zu vermitteln. Einbindung ins Tagesgeschehen – ROT (Realitäts-Orientierungs-Training) Die Abläufe in den Pflegeheimen fl sind oft durch straffe Organisation geregelt, und für viele ist es unvorstellbar, hier den Bewohner als aktiven Teilnehmer einzubinden, doch genau dies kann eine große Entlastung für beide Seiten sein. Natürlich ist diese Maßnahme abhängig vom physischen und psychischen Zustand des Betreuten. Die Beteiligung kann von Wäschezusammenlegen bis zum Geschirrabräumen oder Kartoffelschälen gehen. Auch das Realitätsorientierungstraining fällt unter diese Kategorie der Maßnahmen. Einfache Mittel, wie ein individuelles Türschild oder die Anschlagtafel mit Bildern der Betreuungspersonen, können ein Stück Orientierung zurückbringen, aber auch Signalmusik, zum Beispiel kurze Sequenzen von Erkennungsmelodien aus dem Radio (mittags Autofahrer unterwegs, abends das Sandmännchen). Begleitdienst Oft ein guter Weg, aber auch kein Allheilmittel. Wer möchte schon jedes Mal, wenn er das Heim verlässt, begleitet werden. Noch dazu, wer hat diese Personalkapazität? Rundwege Gerade bei Menschen mit einem Wandertrieb im Rahmen einer Demenzerkrankung ist dies praktisch das Mittel der Wahl. Optische Wegleitung Allein das Wissen um Schatten und Licht ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Demente Menschen lassen sich gut durch optische Reize lenken. Licht zieht an – dies kann man nutzen. § 4. Eine Freiheitsbeschränkung darf nur vorgenommen werden, wenn 1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben und die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet, 2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist, sowie 3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pfl flegemaßnahmen, abgewendet werden kann.
Im § 5 HeimAufG wird die Anordnungsbefugnis geregelt. Hier gibt das Gesetz (wie meist) einen Rahmen vor, der in der jeweiligen Institution mit Inhalt gefüllt werden muss. Allgemein kann man sagen, dass Beschrän-
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kungen bis 24 h von der zuständigen Pfl flegedienstleitung (bzw. deren genannten Vertretung), jede länger andauernde Beschränkung oder Medikation, im Sinne einer Beschränkung, von einem Arzt angeordnet werden muss. § 5. (1) Eine Freiheitsbeschränkung darf nur aufgrund der Anordnung einer dazu befugten Person vorgenommen werden. Anordnungsbefugt ist 1. der mit der Führung der Abteilung oder – falls eine solche nicht besteht – der mit der Leitung der Einrichtung betraute Arzt oder sein Vertreter oder 2. in Einrichtungen, die nicht unter ärztlicher Leitung stehen, die mit der ärztlichen Aufsicht oder mit der Leitung des Pfl flegediensts betraute Person oder ihr Vertreter oder 3. in Einrichtungen, die weder unter ärztlicher Leitung oder Aufsicht noch unter pflegerischer fl Leitung stehen, ein mit der Anordnung freiheitsbeschränkender Maßnahmen betrauter Angehöriger des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege fl oder sein Vertreter oder die mit der pädagogischen Leitung betraute Person oder ihr Vertreter. (2) Wenn eine Freiheitsbeschränkung voraussichtlich länger als 24 Stunden oder wiederholt erforderlich sein wird, darf sie nur von einem Arzt angeordnet werden. Auch eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Maßnahmen muss von einem Arzt angeordnet werden. (3) Eine Freiheitsbeschränkung darf nur unter Einhaltung fachgemäßer Standards und unter möglichster Schonung des Bewohners durchgeführt werden. (4) Eine Freiheitsbeschränkung ist sofort aufzuheben, wenn deren Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.
Im § 6 HeimAufG werden die Inhalte der zu führenden Dokumentation bei Freiheitsbeschränkungen beschrieben. Die mit der Umsetzung betrauten Vereine haben in Abstimmung mit dem Justizministerium ein Formular zur Dokumentation entwickelt. Dieses vereinfacht die Meldung und Dokumentation und erfüllt alle gesetzlich vorgeschriebenen Punkte. Dieses finden Sie unter www.vsp.at/Bewohnervertretung. Formular fi § 6. (1) Der Grund, die Art, der Beginn und die Dauer der Freiheitsbeschränkung sind schriftlich zu dokumentieren. Ärztliche Zeugnisse und der Nachweis über die notwendigen Verständigungen sind diesen Aufzeichnungen anzuschließen. (2) Ebenso sind der Grund, die Art, der Beginn und die Dauer einer mit dem Willen des Bewohners vorgenommenen Einschränkung seiner persönlichen Freiheit festzuhalten.
In den §§ 7 und 8 HeimAufG werden die Aufklärung des Bewohners, die Verständigungspflichten fl der Einrichtung sowie die vorgesehenen Vertreter des Bewohners geregelt. In der Praxis wird relevant sein, ob ein Bewohner selber einen Vertreter benannt hat oder nicht. Gibt es einen vom Bewohner selbst gewählten Vertreter, so ist dieser zu verständigen. Davon unabhängig ist in jedem Fall die Bewohnervertretung zu verständigen. Diese Verständigung hat laut Gesetz unverzüglich zu erfolgen. Die Bewohnervertretung hat zu hinterfragen, ob die getroffenen Maßnahmen dem Gesetz inhaltlich und formal entsprechen, und insbesondere, ob das gelindeste Mittel zur Anwendung kommt. Die §§ 9 und 10 HeimAufG regeln die Tätigkeit, die Rechte und Pfl flichten des Bewohnervertreters.
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§ 11. (1) Der Bewohner, sein Vertreter, seine Vertrauensperson und der Leiter der Einrichtung sind berechtigt, einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung zu stellen.
In der Praxis kann dies zum Beispiel bedeuten: Der Bewohnervertreter erachtet die Beschränkung für unzulässig; die anordnungsbefugte Person ist anderer Meinung; so kann diese eine Überprüfung durch das zuständige Bezirksgericht beantragen. Ebenso können der Bewohnervertreter wie auch der selbst gewählte Vertreter eine gerichtliche Überprüfung der gesetzten Maßnahmen beantragen. In den folgenden Paragrafen, §§ 11 bis 19 HeimAufG, wird das Verfahren bei Gericht geregelt ebenso wie die Sachverständigenbestimmungen. Was bedeutet dieses Gesetz nun für die Praxis? Ein lange tabuisiertes Thema – Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen der Altenpflege, fl Behindertenbetreuung und ähnlichen Einrichtungen – wurde in einen rechtssicheren Rahmen gestellt: Zulässigkeit von Freiheitsbeschränkungen bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß HeimAufG. Gleichzeitig wurde eine Instanz geschaffen, die bei missbräuchlich durchgeführten Freiheitsbeschränkungen einschreiten kann – die Bewohnervertretung. Dieses Gesetz bietet dem Pflegefl und Betreuungspersonal Rechtssicherheit, aber ebenso auch dem Bewohner. Das Ziel muss ein gemeinsames sein: ein Höchstmaß an Lebensqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner!
Literatur Barth P, Engel A (2004) Heimrecht. Manz, Wien
II. Models of Good Practice
Multiprofessionelles Demenzmanagement A. Vorbemerkungen Gerald Gatterer
Die Behandlung demenzieller Erkrankungen stellt infolge deren Häufung im Alter die größte Herausforderung im Rahmen der Altenbetreuung dar. In keinem anderen Bereich ist die Kooperation zwischen den einzelnen Fachdisziplinen so wichtig, um für den Betroffenen ein Höchstmaß an Lebensqualität zu erreichen. Insofern fi finden sich in zahlreichen Beiträgen in diesem Buch auch Verweise auf eine Demenzerkrankung. Die Ursachen für eine Demenz sind vielfältig und reichen von degenerativen Gehirnerkrankungen (z. B. Alzheimersche Demenz), über vaskuläre Ursachen (Multiinfarktdemenz), bis zu selteneren Formen, wie etwa viralen Erkrankungen. Einen genauen Überblick fi finden Sie in Gatterer und Croy (2005). Die medizinische Diagnostik und Behandlung stellt dabei meist die Grundlage des interdisziplinären Krankheitsmanagements bei einer Demenzerkrankung dar. Wesentlich erscheint nach letzten Forschungserkenntnissen eine möglichst frühzeitige Diagnose der Erkrankung. Diese umfasst neben einer klinischen medizinischen Untersuchung, einer Quantifizierung fi der Gedächtnisstörungen und sonstiger kognitiver Leistungen (Kooperation mit Psychologen), Blutuntersuchungen, eine neurologische und psychiatrische Begutachtung und bildgebende Untersuchungen des Gehirns, z. B. mittels Computertomografi fie (Magnetresonanztomografi fie). Die geschieht entweder im Rahmen einzelner Untersuchungen ambulant oder stationär. Die umfangreichste Form eines solchen Demenzassessments erfolgt im Rahmen so genannter „Memory-Kliniken“ oder „Gedächtnisambulanzen“. Wesentlich ist eine ausführliche Anamnese sowie eine Befragung der Angehörigen, die oft im sehr frühen Stadium Veränderungen beim Patienten feststellen, diese jedoch dem normalen Alterungsprozess zuweisen, sodass dadurch eine Diagnosestellung und Therapie oft verspätet erfolgt. Wesentlichste Aufgabe einer gezielten Diagnostik ist die Abgrenzung behandelbarer Demenzen sowie eine möglichst frühe Therapie der Demenz vom Alzheimertyp.
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Eine wichtige Differentialdiagnose zur Demenz ist die Depression. Depressive Symptome fi finden sich vor allem im Anfangsstadium einer Demenz in bis zu 80%, trotzdem ist eine „Altersdepression“ nicht automatisch mit einer beginnenden Demenz gleichzusetzen. Eine weitere wesentliche Differentialdiagnose stellt ein akuter Verwirrtheitszustand bzw. ein Delir dar. Derzeit existiert noch keine kausale Therapie der Alzheimerschen Demenz. Durch den Einsatz von Cholinesterasehemmern und Memantinen sind symptomatische Besserungen der geistigen Leistungen sowie eine Verzögerung des Krankheitsverlaufes möglich. Ebenfalls gute Ergebnisse in der Wirkung zeigt Gingko Biloba, ein pflanzliches fl Präparat. Moderne Substanzen sind hierbei bei gleicher Wirksamkeit deutlich besser verträglich. Derzeit wird auch hinsichtlich der Wirkung einer Impfung gegen die Alzheimersche Demenz geforscht. Auch bei der Therapie von Verhaltensauffälligkeiten kommen immer neuere Substanzen zum Einsatz. Diese kommen aber entsprechend dem neuen Gesetz für freiheitsbeschränkende Maßnahmen erst nach der Erprobung anderer Möglichkeiten oder bei Selbst- bzw. Fremdgefährdung zum Einsatz. Mittel der ersten Wahl ist hier laut Alzheimer Konsensus Papier (Schmidt 2006) Risperidon. Wesentlich erscheint jedoch eine interdisziplinäre Kooperation des Arztes mit anderen Fachdisziplinen, vor allem Pflegepersonen, fl Psychologen, Therapeuten und besonders den Angehörigen, um dem Patienten ein Höchstmaß an Lebensqualität zu ermöglichen. Die Rolle des Case-Managers (die Person, die dem Betroffenen bei der Lösung eines bestimmten Problems hilft bzw. ihn auf seinem Lebensweg begleitet) kann von Fall zu Fall variieren. Zu vermeiden ist auf jeden Fall ein „Kampf“ der Fachdisziplinen oder auch mit den Angehörigen, wer die wichtigste Person im Rahmen der Demenzbetreuung ist. Aus einem qualitäts- und kundenorientierten Ansatz der Altenbetreuung, wie ihn dieses Buch darstellt, kann dies nur der Betroffene selbst sein. Die in diesem Abschnitt zusammengefassten Beiträge beleuchten das Problem aus den Gesichtspunkten der allgemeinen Betreuung, aber auch der Versorgung im ambulanten bzw. stationären Bereich. Natürlich gibt es hier noch wesentlich mehr Möglichkeiten, z. B. hoch spezialisierte MemoryKliniken, wie etwa die Memory-Klinik Basel, die zusätzlich auch Forschungen im Bereich der Demenzdiagnostik und Betreuung betreibt.
Literatur Bancher C, Croy A, Dal Bianco P, et al. (1998) Österreichisches Alzheimer-KrankheitKonsensus-Papier. Neuropsychiatrie 3, 125–167 Böhmer F, Zapotoczky HG (2000) Depression im höheren Lebensalter. MM-Verlag, Perchtoldsdorf Gatterer G (2000) Möglichkeiten und Grenzen klinisch-psychologischer Maßnahmen. In: Schöpfer G, Stessel G (Hrsg.) Der verwirrte alte Mensch. Schriftreihe der Arbeitsgemeinschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Graz Gatterer G, et al. (2000) Demenzbetreuung im GZW – Allgemeine Aspekte. European Journal of Geriatrics 2 (Suppl. 1), 18
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Gatterer G (2002) Multiprofessionelles Demenzmanagement. In: Schöpfer G, Stessel G (Hrsg.) Lachen – Leben – Lieben. Humor – Heiterkeit/Verwirrtheit – Demenz. Schriftreihe der Arbeitsgemeinschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Graz Gatterer G, Croy A (2005) Leben mit Demenz. Springer, Wien New York Hofmann A (2000) Die psychischen Belastungen, Arbeitszufriedenheit und Burn-out des Krankenpfl flegepersonals einer Demenzstation im Vergleich zu einer Langzeitpflege fl station. Dipl.-Arbeit, Universität Wien Jellinger K (Hrsg.) (2004) Konsensusstatement Demenz der Österreichischen Alzheimer-Gesellschaft und der Österreichischen Alzheimer-Liga. Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 5 (3), 6–13 Kment A (2000) Demenz. Die Angst vor der Vergesslichkeit. Geriatrie Praxis 2, 12–13 Schmidt R, et al. (Hrsg.) (2006) Alzheimer-Konsensus-Papier 2006
B. Allgemeine Aspekte Michael Rainer und Christine Krüger-Rainer
Die Betreuung demenzkranker Menschen erfordert die Zusammenarbeit verschiedenster Berufsgruppen. Arzt, Psychologie, Pfl flege, aber auch die Angehörigen und sonstige Betreuungspersonen spielen je nach Zeitpunkt der Betreuung und Schwere der Erkrankung eine unterschiedliche Rolle.
1 Einleitung Die Demenz als begriffl fliche Entität beginnt, die erschreckenden Assoziationen mit tobenden Irren in einer Anstalt vergangener Tage zu verlieren. Heute wird die Demenz als ein nachvollziehbarer, verstehbarer menschlicher Prozess wahrgenommen. Die davon Betroffenen werden in zunehmendem Maße anerkannt und ihre Bedürfnisse gehört – vielleicht werden sie in Zukunft auch willkommen geheißen. Die erstrebenswerte Entwicklung der Humanisierung unserer Gesellschaft verläuft step by step in einem langsamen Tempo. Wir fordern eine Neuformulierung der Demenz, die die teilweise verbesfl die Personalentwicklung oder besser ausgestattete und serte Pflegepraxis, geführte Pfl flegeeinrichtungen übersteigt. Wir fordern einen Paradigmenwechsel im Verständnis der Demenz und der von ihr Betroffenen. Der Demente darf nicht pathologisiert werden. Die Einzigartigkeit jeder Person soll im Mittelpunkt stehen. Die psychische und physische Bedürftigkeit soll erfasst und ihr im individuellen Rahmen begegnet werden. In der Betreuung Dementer geht es neben dem Schaffen einer sicheren Umgebung, der Befriedigung von Grundbedürfnissen, der Körperpflege fl und der medikamentösen Betreuung immer mehr um den Erhalt und die Stärkung des Personseins. F. Gray-Davidson stellte fest, dass Menschen mit einer Demenz ein oft unverhülltes, fast kindliches Verlangen nach Liebe zeigen, dass sie eine verzeihende und bedingungslose Annahme brauchen, ein emotionales Geben von ganzem Herzen. Die realen Bedürfnisse variieren entsprechend der Persönlichkeit, der Lebensgeschichte sowie der kognitiven Defi fizite. Ergeben Worte und Sätze
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unter Umständen keinen nachvollziehbaren Sinn mehr, sollte den nonverbalen Zeichen besondere Aufmerksamkeit gehören. Die volle Rekonstruktion des Bezugrahmens einer Person umfasst mehr als den Versuch, stückweise Sinn in die verbalen oder nonverbalen Äußerungen zu bringen. Es bedeutet, auf Gefühle zurückzugreifen, die wirklich unsere sind. Diese hohen Ansprüche an die Betreuung dementer Menschen können nicht im Alleingang von einem Arzt oder Therapeuten realisiert werden. Es ist ein Team engagierter Mitarbeiter nötig, die sich gegenseitig in der Diagnostik, Therapie und in der Betreuung ganz allgemein Betroffener und ihrer Angehörigen ergänzen mit dem gemeinsamen Ziel, den Patienten in den Mittelpunkt des therapeutischen Geschehens zu rücken. Der Begriff des therapeutischen Geschehens impliziert, dass es sich bei diesem Anspruch um ein Team von Fachleuten handelt, die neben der berufl flichen Kompetenz auch im persönlich-menschlichen Bereich über Ressourcen verfügen und bereit sind, diese einzusetzen. Es sind Mitarbeiter, die sich gegenseitig den Freiraum zugestehen, der nötig ist, um „beste Arbeit“ leisten zu können. Optimale Lösungen sollten gemeinsam gefunden werden im Kontext begrenzter räumlicher bzw. personeller oder finanfi zieller Ressourcen. Es handelt sich um weit mehr als eine Angelegenheit von Individuen für Individuen. Bei dem Management der Demenzerkrankung sollte es sich um ein Team handeln, bei dem neben dem Patienten als Mittelpunkt der Caregiver seinen festen Platz erhält. In dieser Konstellation sollten Menschen gemeinsam arbeiten, deren Wertvorstellungen sich finden, sodass die Talente der Einzelnen beim Erreichen auf einer Ebene befi des gemeinsamen Zieles freigesetzt werden können. Das Management von Dementen ist kein Monopol einer einzelnen Berufsgruppe, es wird nur innerhalb eines therapeutischen Gesamtkonzeptes wirksam. Natürlich gibt es einen zentralen Leiter, zumeist den Arzt, der den Patienten vorrangig und verantwortlich begleitet, seine Bedürfnisse, seine Defi fizite und Besonderheiten der Anamnese und Biografi fie kennt. Ebenfalls ist es wichtig, die Familienstruktur zu erfassen und in gezielten Gesprächen mit den Angehörigen deren Sicht und Problematik mit in das Therapiekalkül einzubeziehen. Nach umfassender Diagnostik, nach aufklärenden Gesprächen mit dem Betroffenen werden vom Arzt nach Feststellung der Ressourcen und Defi fizite im Konsens mit dem Kranken und dem Caregiver ein Therapieziel sowie die einzelnen Schritte festgelegt, die zur Erreichung dieses Zieles führen. Die Anforderungen werden nun in reale Therapiemaßnahmen umgesetzt. Wie schon häufiger fi erwähnt, ist neben der Einzigartigkeit der Person auch der Krankheitsverlauf einer Demenz nicht unbedingt regelrecht. Defizite können im Bereich der Kognition auftreten, es können sich physische fi und psychische Veränderungen entwickeln und nichtkognitive Störungsbilder auftreten. Das heißt in der Praxis, dass in Bezug auf all diese Begleitumstände der Demenz sowie der medizinischen Behandlung dieser Krankheit ein Team von Fachleuten gegenübergestellt werden sollte. Idealerweise sollte das Team aus einem Arzt, einem Psychologen, einem Ergotherapeuten, einem
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Tabelle 1. Multiprofessionelles Demenz-Management Demenzstadium
Nichtmedikamentöse Therapie
Medikamentöse Therapie
Welche Hilfen werden benötigt?
Leichte kognitive Beeinträchtigung
Kognitives Training Information Patient ± Angehöriger
Nootropika Grunderkrankung behandeln
Keine überfordernde Verantwortung
Leichtgradige Demenz
Kognitives Training, Ergo-, Physiotherapie, Information Patient ± Angehöriger, Angehörigentrainingskurs
Antidementiva Cholinesterasehemmer Memantine symptomatische Therapie
Hilfe bei komplexen Tätigkeiten, Heimhilfe, Tageszentrum, Betreuung, rechtliche Fragen: Testament, ...
Mittelschwere Demenz
Kognitives Training, Real./Orient.Training, Remineszenzth., Selbsterhaltungstrain., Validation, Angehörigeninformation + Trainingskurs
Antidementiva Cholinesterasehemmer Memantine symptomatische Therapie
Teilzeitkraft, Heimhilfen, Tageszentrum, Inkontinenzpfl flege, Wohnungsadaptierung, Heim?
Schwere Demenz
Intensive Angehörigen- Symptomatische Therapie betreuung: Hilfe bei (Antidementiva?) Pflegeheimsuche, fl psychotherapeutische Begleitung, Umgang mit Leid, Trauer, Abschied, Tod
Ganztageskraft, Pfl flegeheim, lebensverlängernde Maßnahmen? Antibiotika, Sondennahrung, DekubitusProphylaxe, Inkontinenzpfl flege
Musiktherapeuten, einem Physiotherapeuten, dem Pfl flegepersonal und eventuell einem Sozialarbeiter bestehen. Immer wieder treten Überschneidungen bei den einzelnen Berufsgruppen und -zielen auf, die sich nicht vermeiden lassen, die aber deutlich machen, wie wichtig Teamgespräche in regelmäßigen Abständen sind, auch um das ursprünglich formulierte Therapieziel nicht aus den Augen zu verlieren. Das Management der Erkrankung umfasst neben der optimalen Förderung ohne Überforderung die Koordination diverser Therapien, Informationen über die Erkrankung, Verlauf, Prognose, bis hin zu Entlastungsstrategien für Caregiver und Psychotherapie für Betroffene. Das Management der Demenz bedeutet für unsere Gesellschaft eine Entlastung der öffentlichen Gelder, da Studien nachweisen, dass die Institutionalisierung des Patienten oft um Jahre verzögert werden kann. Pflefl gende Angehörige haben ein Recht auf Anerkennung ihrer Leistung und sollten weniger bürokratische Hürden und mehr unbürokratische Hilfen von unserem Staat erfahren.
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2 Arzt Eine erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit für den Dementen setzt besonders gute Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Therapeuten und den Pfl flegepersonen voraus. Denn anders als bei nichtkognitiv Beeinträchtigten kann von dem dementen Patienten die Strukturierung der Therapieeinheiten, das pünktliche Erscheinen und die räumliche Orientierung (Zurückfinden fi auf die Station) nicht erwartet werden. Der geriatrisch tätige Arzt trägt in diesem Behandlungsteam die Verantwortung, übernimmt die Koordination und Aufsicht und hat damit eine zentrale Stellung. Die koordinierende, strukturierende und integrierende Leitung von in ihrer Ausbildung und Intentionalität unterschiedlichen Therapeuten, -innen erfordert nicht nur ein umfangreiches Sachwissen, sondern auch ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Motivation und Führungsfähigkeit. Mangelhaft kooperierende, sich gegenseitige konkurrenzierende, nicht informierende Teammitglieder können mühsam erreichte erste Erfolge in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten und die begleitende nichtkognitive Symptomatik, die Alltagskompetenz und die noch schwierigere Rehabilitation und Reintegration sehr schnell zum Scheitern bringen. Die primären Aufgaben des Arztes sind neben Diagnose und zeitgemäßer Therapie differentialdiagnostische Überlegungen und ergänzende Untersuchungen, um die vom Pfl flegepersonal, Psychologen, Ergo- und Physiotherapeuten wahrgenommenen Defizite fi und Beschwerden zu objektivieren und einer entsprechenden Therapie zuzuführen. Vor allem Hör- und Sehschwäche sowie die eingeschränkte Mobilität und Sturzneigung sollten nicht tatenlos zum Alter zugehörig hingenommen werden. Seh- und Hörhilfen können gerade bei leicht- bis mittelgradig Dementen erstaunliche kognitive Leistungszuwächse und eine mögliche Reduktion von Wahrnehmungsstörungen, paranoiden und wahnhaften Fehlinterpretationen der Realität bewirken. Die bei ca. 25–30% der Dementen auftretende psychotische Symptomatik (paranoide Ideen, Wahnhalluzinationen) sollte dort, wo sie zu einer Leistungshemmung, sozialen Vereinsamung und zum Sicherheitsrisiko wird, unbedingt psychopharmakologisch behandelt werden. Auch soziotherapeutische Maßnahmen können bei der Symptomatik der sozialen Trias – Isolation, Einsamkeit und Langeweile – effektiv sein. Da reduzierte kognitive Leistungen, reduzierte Mobilität und Funktionalität bei sehr vielen Patienten mit depressiver Verstimmung einhergehen, ist das rechtzeitige Erkennen einer Depression und die dementsprechende pharmakologische und nichtpharmakologische Behandlung eine wesentliche Herausforderung für den Arzt. Gerade im Erkennen und Beurteilen der den Demenzpatienten begleitenden, zuvor skizzierten Psychopathologie ist der Arzt auf die detaillierten Wahrnehmungen aller Teammitglieder angewiesen. Oftmals begegnen dem Arzt Patienten in der Morgenvisite bewusstseinsklar, situativ angepasst, räumlich ausreichend orientiert und im Verhalten unauffällig. Viele von ihnen entwickeln am Nachmittag aber das bekannte „Sundowning“-Syndrom mit Herumwandern, Agitation oder zei-
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gen eine delirante Symptomatik mit Bewusstseinsstörungen, gesteigerter Desorientierung, Agitation und psychotischer Symptomatik. Für die richtigen diagnostischen und therapeutischen Handlungen sind die phänomenologischen Schilderungen der mit den Patienten nachmittags arbeitenden fl essenziell. Dabei wird im theraTherapeuten, -innen und des Pflegeteams peutischen Team Problemverhalten als Versuch der Kommunikation in Zusammenhang mit einem Bedürfnis gesehen. Alle Teammitglieder versuchen, in den Teamsitzungen die Botschaften zu verstehen und auf das unbefriedigte Bedürfnis einzugehen. Die primären Aufgaben des Arztes sind neben Diagnose und zeitgemäßer Therapie differentialdiagnostische Überlegungen und ergänzende Untersuchungen, um die vom Pfl flegepersonal, Psychologen, Ergo- und Physiotherapeuten wahrgenommenen Defi fizite und Beschwerden zu objektivieren und einer entsprechenden Therapie zuzuführen. Aus den differenzierten Rückmeldungen aller Teammitglieder zu den qualitativen und quantitativen Funktionsveränderungen des Patienten im Therapieverlauf überdenkt der Arzt seine bisherige Behandlungsstrategie, korrigiert oder verändert diese. An Hand der einzelnen therapeutischen Ergebnisse legt der Arzt weitere für den Krankheits- und Rehabilitationsverlauf erforderliche therapeutische Maßnahmen fest. Die Beobachtung des Therapieverlaufs, die Feinabstimmung der zu erzielenden kognitiven, nichtkognitiven, alltagspraktischen und sozialen Verbesserungen, das rechtzeitige Erkennen eines oftmals drohenden Hospitalismus und das rechtzeitige Entlassen nach Hause trotz diverser Mangelfunktionen sind besonders verantwortungsvolle ärztliche Tätigkeiten. Auch realistische Zielvorgaben sind eine wichtige Aufgabe des Teams. Im Rahmen einer oftmals anzutreffenden Multimorbidität und der zeitlich begrenzten Zukunft des Patienten sind eher kleinere Ziele, also eher Nahals Fernziele, anzustreben. Der Arzt sollte eine individuelle realistische Zielsetzung, die sich an der aktuellen Krankheit, der Anamnese und den psychosozialen Umständen orientiert, anstreben und diese allen Teammitgliedern nahe bringen. Aber auch die Entscheidung für ein Pfl flegeheim oder die bei fortgeschrittenen Dementen oftmals notwendige Entscheidung für oder gegen eine Magensonde sind spezifi fisch ärztliche Pfl flichten. Diese Entscheidungen können zwar im Konsens des therapeutischen Teams getragen werden, aber die Letztverantwortung bleibt beim Arzt. Für den Gesamtverlauf der Krankheitsbehandlung und der Rehabilitation trägt somit immer der Arzt die Hauptverantwortung. Um dieser Rolle gerecht zu werden, werden von ihm neben seinem fachspezifi fischen Wissen auch Fortbildungsbereitschaft und profunde Kenntnisse der anderen therapeutischen Disziplinen gefordert.
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3 Psychologische Therapieansätze In der Behandlung von demenziellen Syndromen haben die nichtmedikamentösen Interventionen einen zentralen Stellenwert. Es gibt unterschiedliche psychologische Therapieansätze, die sich in der Philosophie, im Fokus, in der Methodik und in der Zielsetzung unterscheiden. Im Konkreten handelt es sich dabei um Psycho- und Soziotherapie sowie neuerdings im Vordergrund stehende Betreuungskonzepte sowohl des Kranken als auch des pfl flegenden Angehörigen. Ein erstes tiefes Interesse an Demenzkranken kam aus der psychoanalytischen Therapierichtung. Verhaltenstherapeutische Techniken werden bereits seit vielen Jahren erfolgreich in diesem Therapierahmen angewandt. Konkret bedeutet das, dass im Rahmen neufi Funktionen, ein ropsychologischer Interventionen ein Training spezifischer allgemein aktivierendes Training, ein computergestütztes kognitives Training und auch das Einsetzen externaler Gedächtnishilfen angeboten werden. Eine kognitive Aktivierung kann durch das Realitäts-OrientierungsTraining (ROT), die Validation, die Selbst-Erhaltungs-Therapie, die Erinnerungstherapie sowie durch psychosoziale Unterstützung des Kranken und Pfl flegenden erreicht werden. Die dritte Möglichkeit betrifft die Psychotherapie mit diversen Ansätzen, z. B. aus dem Bereich der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie, der interpersonellen Psychotherapie oder der Gesprächspsychotherapie. In Einzelfällen kann ein verhaltenstherapeutisches Kompetenztraining zielführend sein. Abschließend sollte natürlich die psychologische Diagnostik und Verlaufskontrolle nicht unerwähnt bleiben. Nicht-medikamentöse Therapien nehmen bei der Behandlung von Menschen mit Demenz eine immer wichtigere Stellung ein. Hierzu zählen neuropsychologische Maßnahmen, Aktivierungsprogramme, aber auch psychosoziale Ansätze. Die Therapieziele reichen von der Verbesserung der kognitiven Leistungen über den Umgang und die Akzeptanz krankheitsbedingter Veränderungen bis zu einer Verbesserung der Orientierung, Erhalt der Selbstständigkeit und Stabilisierung des Selbstwertgefühls sowie zu einer Reduktion der nichtkognitiven Begleitsymptome. Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht die Verbesserung der Lebensqualität sowohl des Betroffenen als auch des Caregivers, der vom Krankheitsbild der Demenz in seinem persönlichen Lebens- und Wirkensraum beträchtlich eingeschränkt wird. Die neuropsychologische Intervention Heute gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Fähigkeit zur synaptischen Plastizität im Alter erhalten bleibt. Bei Patienten mit der Erkrankung Morbus Alzheimer ist dies aber signifi fikant vermindert, daher sollte eine frühestmögliche Motivation zur geistigen Aktivierung erfolgen. Fünfschilling (1995) wies nach, dass ein kognitives Training zu einer Verzögerung des
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Abfalls der kognitiven Leistungen im Frühstadium der Demenz führt. Als angenehmer Nebeneffekt steigt durch das Training das Selbstwertgefühl des Patienten, seine Selbstständigkeit steigt, und es wirkt sich positiv auf die Stimmung aus, was wiederum eine psychische und physische Entlastung für die Pfl flegesituation und für die Pflegeperson fl ist. Somit führt kognitives Training als ein Einbaustein zu einem besseren Management der Demenzerkrankung, zu mehr Selbstständigkeit, mehr Selbstsicherheit, zu einem Anstieg der Lebensqualität und damit zu einer Entlastung in der Pflegesituation. fl Im Rahmen der neuropsychologischen Interventionen differenziert man ein symptomorientiertes, d.h., ein den individuellen Defiziten fi entsprechendes, oder ein allgemein aktivierendes Training. Ein symptomorientiertes Training ist angebracht, wenn die Rehabilitation das erfolgversprechende Therapieziel ist. Das könnte nach einem apoplektischen Insult, nach einem Schädelhirntrauma oder unter Umständen bei einer vaskulären Demenz sinnvoll sein. Wenn eine Rehabilitation nicht möglich ist, wird ein allgemein aktivierendes Training bevorzugt mit dem Ziel, das zu fördern, was an Ressourcen vorhanden ist, mit dem Ziel der Erhaltung der Selbstständigkeit. Bei Alzheimerpatienten sollte ein umgekehrtes symptomorientiertes Training durchgeführt werden. Bei diesem Training ist es erforderlich, dass der Patient mit seinen Defi fiziten nicht konfrontiert wird. Das allgemein aktivierende Training umfasst das Trainieren kognitiver Fertigkeiten, es enthält psychoedukative Elemente und soziale Unterstützung des Patienten und des Angehörigen. Es gibt Fragen und Übungen zur Orientierung (zeitlich, örtlich, persönlich, situativ) zu aktuellen Themen sowie Konzentrationsübungen (am Anfang des Trainings). Auch Entspannungsübungen sind Teilbereiche des kognitiven Trainings. Trainiert werden alle Gedächtnisfunktionen und das gesamte Spektrum des Denkens, wie z. B. Konzentration, Merkfähigkeit, Wortfi findung, Formulierung und Reproduktion, aber auch Wahrnehmung, assoziatives Denken und Erinnern, Denken in Zusammenhängen, Überlegen, Entscheiden, Wiedererkennen, um nur einige Inhalte zu nennen. Ist das Therapieziel primär im Bereich der Kompensation oder Adaptation angesiedelt, sollten vor allem Mnemotechniken oder kognitive Strategien angeboten werden. Unter kognitiven Strategien versteht man z. B. das Strukturieren von Inhalten und Zusammenhängen, um einen klaren Überblick zu erhalten. Ebenso gehören das assoziative Denken (das Denken in Zusammenhängen), das differenzielle Denken (Unterschiede erkennen und abgrenzen), eine vertiefte Informationsverarbeitung (d.h., Inhalte hinterfragen, Begriffe klären, Bekanntes mit Neuem sinnvoll verknüpfen) zu diesem Aufgabenbereich. Prinzipiell kann auch eine Reduktion von Informationen sinnvoll sein. Den Mnemotechniken werden die gezielte Assoziationsbildung (bildhafte Vorstellung, z. B. um sich einen Namen einprägen zu können), die Rhythmisierung (Zahl und Rhythmus), Merksätze oder Eselsbrücken, die Visualisierungs- und Geschichtentechnik zugeordnet. Erklärungen und Ermunterungen, äußere Gedächtnishilfen in Anspruch zu nehmen, ergänzen das Gesamtkonzept (Kalender, Notizzettel, farbliche Markierung, Beschriftung). Neben dem Training der kognitiven Leistungen
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ist es auch erforderlich, die sensorischen Reize zu aktivieren (Hör-, Geschmacks-, Geruchs- und Tastübungen), um dem Ziel des Trainings mit allen Sinnen nahezukommen. Ergänzend soll auch noch auf die Möglichkeit des mentalen Trainings hingewiesen werden. Dabei handelt es sich um das geistige Vorwegnehmen von Situationen. Durch Rollenspiel oder sprachliche Formulierungen werden Unsicherheitsfaktoren erkennbar, und dementsprechend können Handlungs- und Lösungsstrategien entworfen und durch Training eingeübt werden. Prinzipiell wird ein Training entweder in einer Gruppe durchgeführt (Vorteil der Gruppendynamik, des sozialen Kontaktes, des Modelllernens, der Möglichkeit, Unterstützung zu gewähren und Unterstützung anzunehmen) oder als Einzeltherapie angeboten. Es besteht auch die Möglichkeit, Angehörige in die Prinzipien des kognitiven Trainings einzuführen (Hilfe zur Selbsthilfe), damit diese den Patienten unterstützen können. Das Training sollte freiwillig und ohne Leistungsdruck in heiterer Atmosphäre stattfinden. Das bestehende Konkurrenzverhalten muss so gering wie möglich fi gehalten werden. Die Motivation spielt eine große Rolle für den Erfolg.
Die kognitive Aktivierung Eine kognitive Aktivierung kann, wie anfangs erwähnt, durch das RealitätsOrientierungs-Training (ROT), die Validation, die Selbst-Erhaltungs-Therapie sowie durch die psychosoziale Unterstützung des Kranken und Pflefl genden erreicht werden. Das Realitäts-Orientierungs-Training wurde von Weitzel-Polzer 1987 entwickelt. Das ROT eignet sich vor allem für alte, verwirrte Patienten und fi in Heimen eingesetzt. Es hat lerntheoretische und milieutherawird häufig peutische Grundsätze und zielt auf die Verbesserung der Orientierung, Gedächtnis und Verhaltensstörungen ab. Die Förderung der zeitlichen, örtlichen und persönlichen Orientierung ist ein zentraler Ansatzpunkt. Das Training und die Schulung des Pfl flegepersonals gehen der Anwendung voraus. Bestandteile der Ausbildung sind Hinweise für den täglichen Umgang mit dem verwirrten alten Menschen sowie eine spezielle angepasste Umgebung. Ein wichtiger Bestandteil wäre z. B., die richtige Kommunikationsebene zum Patienten zu wählen. Immer wieder sollte das Personal auf die zeitlichen und örtlichen oder persönlichen Gegebenheiten hinweisen, verwirrte Äußerungen werden ruhig korrigiert, eigenständiges Verhalten positiv verstärkt. Die Umwelt wird so gestaltet, dass sich der Patient zurechtfi findet, z. B. werden externale Gedächtnishilfen, wie große Kalender, Uhren, eine Pinwand mit aktuellen Angeboten und eine Beschilderung der Räume, vorgenommen. Fünfmal in der Woche sollte in einer Kleingruppe von 3–6 Teilnehmern ein defi fizitorientiertes Training durchgeführt werden. Das ROT gehört zu der am häufigsten fi angewendeten, aktivierenden Therapie Dementer. Eine neue Studie der Forschergruppe des „Psychogeriatric Service“ der Universität Padua (Zanetti et al. 1995) konnte neben einer
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Verbesserung der verbalen Flüssigkeit auch einen deutlichen Effekt auf den MMST nachweisen. Das Ziel der Studie war die Evaluation der ROTSitzungen für Patienten mit AD. Die Gruppenunterschiede (VG – KG) waren signifikant fi beim MMST. In der Treatmentgruppe (VG) gab es leichte Verbesserungen (0,68 Punkte), und in der Kontrollegruppe (KG) verschlechterte sich der MMST (– 2,58). Die Alltagsrelevanz des ROT wurde leider nicht überprüft. Naomi Feil entwickelte die Theorie und Praxis der Validation (Feil 1992) für sehr alte und verwirrte Menschen. Der theoretische Rahmen beruht auf der behavioristischen, analytischen und humanistischen Psychologie. Es handelt sich um eine Kommunikationsmethode unter Zuhilfenahme verbaler und nonverbaler Techniken. Eigentlich bedeutet Validation: durch Einfühlungsvermögen das Selbstwertgefühl wiederherzustellen. Anstatt die Wirklichkeit in den Mittelpunkt zu stellen, geht die Validation von der Erlebniswelt des verwirrten Menschen aus – diese wird validiert – also für gültig erklärt. Es wird nicht wie beim ROT der alte Mensch korrigiert, sondern die aktuelle Situation akzeptiert. Feil unterscheidet vier Stadien der Desorientierung. Dazu gehören die mangelhafte oder unglückliche Orientierung an der Realität (malorientation), die Zeitverwirrtheit (time confusion), sich wiederholende Bewegungen (repetitive motion) und das Vegetieren (vegetation). Für jedes dieser Stadien existieren spezifi fische Techniken und Vorgehensweisen, um die Kommunikation mit dem Patienten zu verbessern. Der Validationsspezialist unterstützt den alten Menschen bei der Bewältigung seiner letzten Entwicklungsaufgabe, der Verarbeitung seiner Vergangenheit. In der Gruppe stehen die Verbalisation von Gefühlen und das Aufheben der sozialen Isolation im Mittelpunkt. Die Selbst-Erhaltungs-Therapie hat einen der Validation nahestehenden Ansatz. Übergeordnetes Ziel ist das längere Erhalten der personalen Identität. Hier geht man davon aus, dass eine längere Selbsterhaltung störendem Verhalten entgegenwirkt, psychisches Leiden vermindert und effifi zientes Verhalten länger ermöglicht wird. Das Herstellen von Kontinuität und das Vergegenwärtigen von Vergangenem sind Kernelemente des therapeutischen Vorgehens auf drei Ebenen: Q Betreuungsprinzipien, Q Übungsprogramme zur Erhaltung des Selbstwissens, Q psychotherapeutische Interventionen. Psychoedukative und psychosoziale Ansätze richten sich im Rahmen der verhaltenstherapeutisch orientierten Familientherapie zunächst an den Angehörigen, später auch an den Patienten selbst. Kernpunkt ist hierbei die didaktisch angelegte Aufklärung, die Krankheit, deren Verlauf, die Behandlungsstrategien und die Prognose betreffend. Das Ziel ist die Verbesserung der Compliance und der Aufbau eines Krankheitskonzeptes. Die
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interaktive didaktische Methode der Wissensvermittlung sollte mit der Therapie zeitgleich beginnen. Die drei Schritte der Psychoedukation 1. Die Mitteilung der Diagnose: Bei der Mitteilung der Diagnose zeigen die Betroffenen naturgemäß eine differenzierte Bereitschaft, die Bedeutung des Gesagten an sich heranzulassen. Kognitive Defi fizite werden häufi fig sowohl sich selbst als auch dem Gegenüber vehement verleugnet (Anosognosie). Nach der Information, die Diagnose betreffend, sollte sich als therapeutischer Bestandteil ein Gespräch über die Bedeutung der Diagnose für den Patienten und den Angehörigen anschließen. Zunächst werden subjektive Krankheitsvorstellungen geklärt, dann muss Raum für Fragen sein. Der Patient darf sich zu keinem Zeitpunkt als Objekt der Therapie fühlen, das Gespräch sollte von Anteilnahme, Wärme und Akzeptanz getragen werden. 2. Informationen zum Krankheitsbild: Eine umfassende Information hilft den Betroffenen, sich mit der Diagnose auseinanderzusetzen. Viele Fragen betreffen Prognose und den Verlauf einer demenziellen Erkrankung. Zur Information über die Krankheit gehört auch die Aufklärung, welche psychischen Reaktionen begleitend auftreten könnten. Ideal ist es, wenn schriftliche Unterlagen, die verständlich verfasst wurden, dem Patienten mitgegeben werden können. 3. Der Blick auf bestehende Kompetenzen: Wichtig sind die Freilegung und die gezielte Förderung der Kompetenzen, die bei dem Patienten erfasst werden, dazu können kognitive Leistungen, soziale Umgangsformen und Lebenserinnerungen gehören. Es sollten Hinweise gegeben werden, dass der Patient viele geliebte Gewohnheiten und Lebensweisen selbstständig fortführen kann. Die kognitiven Leistungen und Ressourcen sollten ausgeschöpft werden, und es sollte unter Umständen eine begleitende Psychotherapie angeboten werden.
4 Die Angehörigenarbeit Die Arbeit mit pfl flegenden Angehörigen von Demenzpatienten ist ein wichtiger Bestandteil des Gesamtkonzeptes. Die psychologische Entlastung hat hier eine zentrale Bedeutung. Begleitend zur belastenden Pflegesituation fl treten beim Caregiver häufig fi depressive Störungen auf. Da das Fehlen eines gut funktionierenden Netzwerkes eines der Hauptursachen für die Institutionalisierung eines kognitiv beeinträchtigten Menschen ist, ist es von essenzieller Bedeutung, geeignete Entlastungsmaßnahmen für den An-
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gehörigen zu fi finden. Außerdem sollte eine entlastende psychotherapeutische Bearbeitung der belastenden Situation ins Auge gefasst werden. Die Angehörigenarbeit umfasst eine Kombination aus psychoedukativem und bewältigungsorientiertem Vorgehen sowie Beziehungs- und Trauerarbeit. Auch hier ist die Information ein zentraler therapeutischer Punkt, der über die Prognose und den Verlauf hinausgeht und die Beratung über mögliche finanzielle Hilfen, ambulante Dienst oder vorübergehende Entlastungsfi strategien (Kurzzeitpflege) fl beinhaltet. Wissensdefi fizite verhindern das Verständnis für die Situation des Kranken und stehen einem adäquaten Umgang mit ihm im Weg. Außerdem sind sie eine Quelle von Schuldgefühlen, Angst- und Hilfl flosigkeit im Umgang mit der Erkrankung. Die Einhaltung einiger Grundsätze in der Kommunikation (Sprachgeschwindigkeit, Lautstärke, Deutlichkeit, Satzbau) führen auf beiden Seiten zu einer Entlastung. „Was“ gesprochen wird, wird im Krankheitsverlauf immer mehr zugunsten des „Wie“ etwas formuliert wird verschoben. Gesten und Berührungen nehmen an Wichtigkeit zu, daher ist die nonverbale Kommunikation, der Grundton, die Berührung und das prinzipielle Auftreten (nicht fordernd), für das harmonische Miteinander genauso wichtig wie eine übersichtliche, konstante, fördernde, aber nicht fordernde Umgebung. Die Optimierung von Bewältigungsstrategien ist ebenfalls von größter Bedeutung und nimmt einen wichtigen Stellenwert bei der Betreuung pflefl gender Angehöriger ein. Stress und ungünstige Bewältigungsmaßnahmen korrelieren positiv mit psychischen und physischen Krankheitsindikatoren. In aufarbeitenden Gesprächen sollten die Copingstrategien des Caregivers erfasst werden, um die tatsächlich vorhandenen Kompetenzen und Defizifi te zu erkennen. Die bereits vorhandenen bewährten Strategien sollten in einem anschließenden Schritt optimiert werden, und gleichzeitig sollten neue Stressbewältigungsmöglichkeiten durch Problemlösen, Einstellungsänderung und Belastungsausgleich ausgebaut werden. Eine extreme Überforderung kann für den Angehörigen entstehen, wenn er mit der Pflege fl überlastet ist. Es treten häufig fi Schuldgefühle auf, die im therapeutischen Bereich aufgearbeitet werden sollten. Ziel ist, dass der Betreuer die Grenzen der eigenen Belastbarkeit erkennt, akzeptiert und ernst nimmt. Auch Wutgefühle sind ein Ausdruck von subjektivem Stresserleben (tägliche Pfl flegebelastung). Unterdrückte Wut kann durch depressive Verstimmung oder körperliche Symptome maskiert werden. Es treten Gefühle, wie Verletztsein, Reizbarkeit sowie das Gefühl, eingeengt und isoliert zu sein, auf. Eine Möglichkeit der Entlastung wäre die veränderte Situationsbewertung, weniger hohe Erwartungen an den Patienten zu stellen und zu akzeptieren, dass er sich krankheitsbedingt verändert hat. Die zunehmenden Defifi zite des dementen Menschen führen dazu, dass der Betreuer seinen Lebenspartner, das Kind, seinen Elternteil verliert. Die natürliche Reaktion auf die Verluste ist eine tiefe Trauer. Der Angehörige muss eine prolongierte und sehr intensive Trauerarbeit leisten, da er um einen lebenden Menschen trauert. Erfahrungsgemäß sollte diese Trauerreaktion in klientenzentrierter Vorgehensweise exploriert und therapiert werden.
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5 Psychotherapeutische Ansätze Die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren bei Demenzpatienten wird erst seit relativ kurzer Zeit beschrieben. Da unsere Gesellschaft immer fizitären Bild des alten Menschen ausgeht, wurde die noch von dem defi Psychotherapie mit dieser Klientel als wenig lohnend betrachtet. Als Voraussetzung galt, dass für Psychotherapieverfahren die kognitiven Leistungen (Konzentration, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Reproduktion, Orientierung, Wahrnehmung) intakt sein sollten. Diese Fähigkeiten gehen dem Demenzkranken in zunehmendem Maße verloren. Eine differenzierte Sichtweise ergibt sich erst bei genauer Sichtung von möglichen Therapiezielen. Bei demenziell Erkrankten kann es nicht um das Therapieziel einer vollständigen Rehabilitation und Persönlichkeitsumstrukturierung gehen. Ziele sind hier die emotionale Stabilisierung, der Erhalt der Selbstsicherheit und der Umgang mit Schamgefühlen aufgrund bestehender Defi fizite (Inkontinenz, kognitive Defizite). fi Außerdem sind sowohl tiefenpsychologische als auch die „Late-LifeForm“ der interpersonellen Therapie (IPT) erfolgreich anwendbar. Die IPT ist eine fokussierte, bewältigungsorientierte und problemspezifi fisch ausgerichtete Kurztherapie. Sie enthält Elemente der Verhaltens- und Gesprächspsychotherapie und setzt Schwerpunkte im Bereich der aktuellen zwischenmenschlichen Beziehungen des Patienten. Der generelle Schwerpunkt der Therapie ist der aktuelle zwischenmenschliche Kontext, in dem sich die Krankheit entwickelt hat. Der theoretische Bezugsrahmen umfasst die Trauer (Verlustängste, Zukunftsängste in Bezug auf den Verlauf der Krankheit, kritische Lebensereignisse und die Pfl flegeheimeinweisung), die auftretenden interpersonellen Konfl flikte, die sich entwickelnden Rollenwechsel (Partnerrolle, Versorgerrolle, Vater-Mutter-Rolle, Familienrolle, Berufsrolle) und die bestehenden interpersonellen Defi fizite (Sprach-, Wortfi findungsstörungen, Verhaltensstörungen, psychische Defi fizite, Inkontinenz, psychische Störungen und kognitive Defizite). fi Die für den Klienten im Mittelpunkt stehenden Konflikte fl werden vordergründig behandelt. Ziel ist, dass diese erkannt werden, ein Handlungsplan entwickelt wird sowie Erwartungen ausgesprochen werden dürfen. Beim Rollenwechsel ist es ein Ziel, dass der Klient Veränderungen annimmt, sich durch Trauerarbeit von der vorherigen Rolle lösen kann und er durch seine neue Rolle das Selbstwertgefühl wiederherstellen kann. Bei interpersonellen Problemen könnte durch Kontaktaufbau der Isolation begegnet werden. Durch eine Transparenz der Interaktionen (Kommunikationsanalyse) werden Missverständnisse reduziert. Es kommt sowohl über den Einsatz der therapeutischen Beziehung als auch über direkte Techniken (Modell, Rat) zu einer Bearbeitung bestehender Defizite. fi Ermutigung zur Veränderung in der Lebensführung kann durch Rollenspiele erprobt werden. Zum Abschluss der Kurztherapie muss Zeit für Gefühle der Trauer und des Abschiednehmens bleiben, nicht ohne gleichzeitig das Autonomiegefühl und die Fortschritte sowie Anweisungen für „Notfallssituationen“ zu besprechen.
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Im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes sollte auch für den pfl flegenden Angehörigen ein psychotherapeutisches Angebot enthalten sein. Die methodische Vorgangsweise reicht von der Informationsvermittlung zu einer konkreten Hilfestellung, die mit psychotherapeutischen Elementen kombiniert werden kann. Der Übergang zwischen Beratung und fließend. Typische Ziele und Beratungsinhalte umfassen Therapie ist oft fl Information zur Erkrankung, allgemeine Betreuungsgrundsätze, Ratschläge für den Alltag, rechtliche und fi finanzielle Hilfestellungen, Bearbeitung von Abschied und Trauer sowie Beziehungsarbeit zwischen dem Pfl flegenden und dem Patienten.
6 Musiktherapie Wie alle auf Beziehungsebene arbeitenden Therapeuten, -innen müssen auch Musiktherapeuten, -innen biografisch fi bedeutsame Erlebnisse und Erfahrungen der Demenzpatienten kennen. Gerade in der Arbeit mit Altersdementen ist dies wichtig, da diese nur noch bruchstückhaft ihre Erfahrungen vermitteln können. Der Musiktherapeut hilft, diese Erfahrungen wieder besser zusammenzufügen, die Orientierung zu sich selbst und das Gefühl der Identität zu stärken (Muthesius 1999). Musikalische Erfahrungen prägen sich zumeist sehr fest in das Gedächtnis ein und haben dadurch die Chance, dass sie auch bei Gedächtnisstörungen noch abgerufen werden können. Sogar sprachgestörte Demente schaffen es häufig, fi sich an einen Liedtext mit 6 Strophen fehlerfrei zu erinnern und diesen auszusprechen. Die Achtung dieser verbliebenen Fähigkeiten und Hebung dieser Schätze bringt für Patienten und Therapeuten großen inneren Reichtum. Bestimmte Inhalte des Langzeitgedächtnisses gewinnen für den Dementen Realitätscharakter und verdrängen die objektive äußere Realität. Die Patienten leben mit den Bildern und Erfahrungen einer bestimmten Lebensperiode, sie verhalten sich entsprechend und fühlen sich jung, gesund und leistungsfähig (Wojnar 2000). Der Musiktherapeut Schwabe formulierte treffend: „In Liedern ist quasi ein Stück Leben kodiert bzw. eingeschmolzen, das durch jahre- und jahrzehntelanges Pausieren in Vergessenheit geraten konnte, aber bei Gebrauch sofort wieder alte Lebendigkeit erreichen kann“. Es gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, seine Lebenssituation in Kunst zu transzendieren und ihr dadurch eine symbolische Ebene hinzuzufügen. Auch beim Dementen gibt es ein „musikalisches Hungerleiden“, und auch der Demente hat kulturelle Bedürfnisse. Durch den Einsatz stimmlicher Mittel können wir lt. Muthesius (o.J.) 23 therapeutische Effekte in der Demenzarbeit erzielen (Tabelle 2). Hat das Singen und Hören von Liedern natürlich eine herausragende Bedeutung in der Musiktherapie mit Dementen, so sind bei Patienten in fortgeschrittenem Demenzstadium die Fähigkeiten, Liedtexte abzurufen und zu singen, doch schon sehr eingeschränkt. Musikalische Reize können auch noch bei fortgeschrittener Hirnrindenatrophie, die die Sprache versanden lässt und die Kontrollfunktionen reduziert, sodass Problemverhalten
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M. Rainer und C. Krüger-Rainer Tabelle 2
1.
Erinnerungsaktivierung, Reminiszieren
2.
Erzeugen von Kompetenzgefühlen
3.
Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten
4.
Herstellung von Kontakt zur Gefühlswelt der Patienten
5.
Ganzheitliche Aktivierung
6.
Kontaktaufnahme
7.
Vermitteln eines Gefühls von Sicherheit und Geborgenheit
8.
Zuwendung geben
9.
Vermitteln von zeitlicher Struktur
10.
Orientierungshilfen geben
11.
Entspannung
12.
Tiefung und Regulierung des Atems
13.
Aktivierung der Sprechmotorik
14.
Reaktivierung automatisierten Sprechvermögens
15.
Förderung der Imaginationsfähigkeit
16.
Aufbau und Förderung der Kommunikation
17.
Verbesserung der Körperwahrnehmung
18.
Steigerung der Motivation
19.
Herstellen von Gemeinschaftsgefühl
20.
Animation zum Handeln (Tanz, Musizieren, Klatschen)
21.
Schaffen von Erfolgserlebnissen
22.
Symbolisieren von Lebens- und Sterbensthemen
23.
Strukturierung der Therapiesitzung
auftritt, effektiv sein. Diese musikalischen Reize dürften die Fähigkeit haben, die Hirnrinde gewissermaßen zu umgehen, um direkt auf menschheitsgeschichtlich ältere Hirnfunktionen (z. B. das motorische System) zu wirken. So können auch schwer Demente noch mit dem Fuß zu rhythmischer Musik wippen (Sonntag 2000). Musikalische Stimuli dürften also menschheitsgeschichtlich alte Hirnfunktionen direkt ansprechen und abhängig von corticalen Funktionen wirken. Bei zunehmenden Sprachstörungen im Verlauf einer Demenz kann somit die Musik – vor allem in Form von musiktherapeutischer Improvisation – eine „wichtige, möglicherweise letzte verbliebene Ausdrucksmöglichkeit“ (Müller-Schwartz 1994) sein. Aus den bisherigen klinisch empirischen Studien zur Musiktherapie bei Dementen können folgende Schlussfolgerungen zusammenfassend gezogen werden (Aldridge 2000): Q Auch fortgeschrittene Demente partizipieren in einer strukturierten Musiktherapie.
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Q Instrumentalmusik und musikalischer Tanz scheinen die bevorzugtesten Musikaktivitäten zu sein, da diese auch in Spätstadien der Demenz durchgeführt werden können. Aber auch Singen ist sehr populär und weitverbreitet. Die Fähigkeiten zur Teilnahme sind jedoch von den Demenzstadien abhängig. Q Individuelle Kleingruppen (3–5 Personen) sind das günstigste therapeutische Setting. Q Musiktherapie kann soziale und emotionale Verbesserungen sowie eine erhöhte Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit bewirken. Q Interessant ist, dass, wenn eine Information in einem Liedtext angeboten wird, diese Information auch länger gespeichert und abrufbar ist, somit auch eine kognitive Verbesserung erzielbar ist. Q Musikintervention kann eine effektive Alternative zur Medikation oder zu Beschränkungen im klinischen Management von Verhaltensproblemen sein. Die wissenschaftlich belegbaren Gründe für das positive Ansprechen von Demenzpatienten auf Musiktherapie sind nicht evident. Ist es die ästhetische Komponente der Musik, die noch funktionsfähige Hirnstrukturen aktiviert und es dem Demenzpatienten erlaubt, mit der Außenwelt über einen bestimmten Zeitraum wieder Kontakt aufzunehmen? Oder ist es der interpersonelle, psychotherapeutische, wertschätzende Zugang der Musiktherapeuten, der bei dem Patienten zuvor skizzierte Verbesserungen bewirkt? Tabelle 3 (Übersicht von Muthesius) zeigt die möglichen Unterstützungspotenziale der Musik für desorientierte Patienten. Tabelle 3. Unterstützungspotenziale der Musik Typische Eigenschaften von Musik
Unterstützungspotenziale für desorientierte Patienten
Musik ist emotionalisierend
Anknüpfen an, Erhalten und Reaktivieren emotionaler Fähigkeiten; Verstehenszugang für Bedeutungen
Musik ist ordnend, strukturierend
Synchronisation von Handlungen; Koordinieren von Reizen; Restrukturieren emotionaler Fähigkeiten
Musik ist erinnerungsauslösend
Unterstützen; Reaktivieren des Altgedächtnisses; Validieren der Krankheitsbewältigungsstrategie; „Nutzung der Vergangenheit“; Reaktivieren des Gefühls der Identität
Musik motiviert zur Kreativität
Bedingung: Suche nach vertrauten, generationsspezifi fischen Kreativitätsformen
Musik ist vergemeinschaftend und fördert Interaktion
Erleben der Zugehörigkeit; Erleben von „Verstehen“ wegen ähnlicher Präferenzen Bedingung: Suche nach vertrauten, generationsspezifischen fi Formen der Gemeinschaft; krankheitsspezifi fische Vorsicht bei Förderung der Interaktion
Musik ist bewegungsfördernd
Unterstützung der Erinnerung und Emotionalität mit biografisch relevanter Tanzmusik; Ermöglichung von Körperkontakt
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7 Ergotherapie Gerade in der Ergotherapie ist eine fachübergreifende Denkweise in der Behandlung von Dementen notwendig, da oftmals Multimorbiditäten vorliegen. Die Ergotherapie setzt zumeist da an, wo es um die Erhaltung und Förderung lebenspraktischer und handlungsbezogener Fähigkeiten und Fertigkeiten geht. Im therapeutischen Team kommt der Ergotherapie die Rolle des „professionellen Verselbstständigers“ zu. Ihre Maßnahmen sind immer handlungsorientiert ausgerichtet (Matthes 1983). Das aktive Tätigsein unterstützt das Gefühl von Kompetenz und steigert das Selbstwertgefühl des Patienten. Im geschützten Umfeld kann der Patient verschiedene Therapiematerialien kennenlernen, experimentieren, Erfahrungen sammeln, den konstruktiven Umgang mit Misserfolgen und Frustrationserlebnissen lernen und seine Fähigkeiten nutzen (Prinz et al. 2000). Typische Therapieziele beim dementen Alterspatienten sind: Q ein gezieltes Training der Selbstversorgung in persönlichen Bereichen, flege und der wie z. B. das An- und Auskleiden, Einüben der Körperpfl persönlichen Hygiene; Q Training der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL): Selbsthilfetraining, Haushaltstraining, Einkaufs- und Kochtraining, Telefonieren, Hilfsmittelversorgung; Q Hirnleistungstraining: Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Konzentrationsund Realitäts-/Orientierungstraining; Q funktionelle Therapie, wie z. B. Koordinationsübungen, körperliches Belastungstraining, Standausgleichstraining; Q psychosoziales Training mit Aufbau sozialer Kontakte und Kommunikation, psychische Stabilisierung, Stimmungsaufhellung, Selbstwerterhöhung. Gerade Ergotherapeuten müssen die Kunst des richtigen Motivierens, Reaktivierens, Remobilisierens und Resensibilisierens beherrschen und dafür über ausreichend Empathie und Menschenkenntnisse verfügen. Sie sollten die individuellen Persönlichkeitsveränderungen im Alter mit den davon unabhängigen Tendenzen, der Abnahme der Merkfähigkeit, Erstarren im Denken und Verlangsamung der Motorik kennen. Diese Veränderungen sind oftmals eine Schutzfunktion des alternden Menschen gegenüber Reizüberfl flutung und falscher Reizverarbeitung. Bei Demenzen in leichten Stadien kann unabhängig von einer vaskulären oder degenerativen Ätiologie versucht werden, durch körperliche Aktivierung die cerebrale Durchblutung anzuregen, die Vigilanz zu steigern und damit eventuell die Progredienz der Demenz abzuschwächen. Die Schwerpunkte in den ergotherapeutischen Behandlungsansätzen sind Selbstständigkeitstraining und Wiedererlangung jener Fähigkeiten, die einmal gekonnt und später verschüttet wurden. Somit ist die Ergotherapie beim Dementen auch immer Alltags- und Sozialkompetenztraining. Dabei darf der Patient auf keinen Fall überfordert werden, da ihm seine kognitiven Defi fizite und sein Leistungsabfall klar bewusst werden und oft
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in eine depressive Verstimmung münden. Der Demente benötigt die Bestätigung durch Tätigsein – wie jeder Gesunde –, um sich zu spüren, um sich bestätigt zu fühlen, um suchende Unruhe zu unterbrechen und um seinem Leben einen Sinn zu geben. Während des gesamten Therapieverlaufs ist sehr viel Motivation nötig, da die schmerzliche Erkenntnis der Defizite fi und Angst vor Kritik immer wieder durchkommen. Typische Argumente wären dann „keine Lust, keine Zeit“. Nur der Ergotherapeut, der bereit ist, auf der Station mitzuarbeiten und mit dem Patienten ein Stück Weges gemeinsam zu gehen, kann ihm die notwendige feinfühlende Aufmerksamkeit, die ständige Motivation, ein behutsames Eingreifen und ein Führen, ohne zu kränken, zuteilwerden lassen. Der orientierungslos gewordene Demenzpatient benötigt in besonders hohem Maße Botschaften, wie „Du hast etwas beigetragen, was uns freut“, „Du bist in Ordnung, so wie Du bist“. In der Ergotherapie ist nicht ein spektakuläres „Was“ wichtig, sondern das „Wie“. Gerade für die Alltagskompetenz des Dementen ist die Reduktion auf das Wesentliche im Leben gefragt und der Mut zum Einfachen und Banalen gefordert. Die Miteinbeziehung des Dementen in das Stationsleben mit kleinen Aufgaben ist therapeutisch besonders wertvoll, denn die beste Beschäftigung ist das Leben. Nur eine wirkliche Regelmäßigkeit gibt dabei Halt und Sicherheit. Dadurch kann der Kontakt zu seiner Umgebung aufrechterhalten werden, den der Demente sonst durch seine Wesensveränderungen leicht verliert. Auch wenn der demenzielle Prozess nicht gestoppt werden kann, sind doch durch ergotherapeutische Maßnahmen im weiteren Sinn, also auch kognitives Training in Zusammenwirken mit medikamentöser antidementiver Therapie, eine weitgehende Stabilisierung und Bremsung des Krankheitsverlaufes sowie ein professionelles Management der Demenz möglich.
8 Physiotherapie Im therapeutischen Team kommt der Physiotherapie in der Behandlung von dementen Patienten ein wesentlicher Stellenwert zu, da die Erhaltung der körperlichen und sozialen Selbstständigkeit eine zentrale Aufgabe ist. Ein geriatrisch geschulter Physiotherapeut hat gelernt, mit allgemeinen Altersproblemen, wie zum Beispiel der Multimorbidität, chronischen Verläufen und daraus resultierenden funktionellen Behinderungen, sowie mit speziellen gerontopsychiatrischen Problemen, wie z. B. Widerständen, Rückzugsverhalten, Depressionen und kognitiven Einschränkungen, umzugehen. Noch wichtiger als bei anderen therapeutischen Diensten ist es für den Physiotherapeuten neben der objektiven Befunderhebung die subjektive Problematik zu erfassen, um mit dem Patienten gemeinsam realistische Nah- und Fernziele zu erarbeiten. Diese müssen so gewählt werden, dass sie in absehbarer Zeit erreichbar sind und nicht von Anfang an entmutigen, weil sie unmöglich erscheinen. Eine gemeinsame Planung und Gestaltung der Therapie wären wichtige Voraussetzungen für den Erfolg, sind jedoch bei Dementen oft nur unzureichend möglich.
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Der Physiotherapeut sollte eine psychotherapeutische Grundhaltung aufweisen, um in den ersten vertrauensbildenden Gesprächen vom Dementen oder dessen Angehörigen zu erfahren, was dem Patienten zur Selbstständigkeit fehlt und was ihn am meisten beeinträchtigt. Obwohl auch andere Therapeuten, -innen auf einer Beziehungsebene arbeiten und hauptsächlich dadurch positive Veränderungen nachhaltig bewirken können, wird diese Beziehungsarbeit bei der Physiotherapie noch um die Dimension des Körperlichen und des Nahekontaktes erweitert. Die Wechselwirkung der Wahrnehmung zwischen Patient und Physiotherapeut ist immer vorhanden. Dabei kommen sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikationsmittels zum Einsatz, die ihrerseits den gesamten therapeutischen Prozess nachhaltig beeinfl flussen. Auch hier gilt, dass die Hilfe zur Selbsthilfe eine zentrale Forderung ist. Nicht alle physiotherapeutischen Maßnahmen können beim Patienten zum Einsatz kommen. Die Auswahl muss auf kognitiven motivationalen und leistungsmäßigen Einschränkungen Rücksicht nehmen. Denn auch hier gilt es, besonders aufzupassen, dass der Patient nicht überfordert und dadurch entmutigt und depressiv gestimmt wird. Durch unterschiedlichste Übungen soll die körperliche und emotionale Balance einerseits und die brüchige Identität andererseits wieder hergestellt werden. Die Verbesserung alter Bewegungsmuster, das Kennenlernen neuer Bewegungsmöglichkeiten, die Gang- und Standsicherheit und das Erarbeiten einer positiven Einstellung zum eigenen Körper sind einige typische Ziele in der Physiotherapie mit Dementen. Dadurch sollten die Patienten lernen, die täglichen Anforderungen in ihrem Lebensumfeld besser zu bewältigen.
Tabelle 4. Nichtmedikamentöse Therapiemöglichkeiten Problembereich
Maßnahmen
Zielgröße
Gedächtnisstörungen
Kognitives Training, „Mnemotechnik“
Lebenszufriedenheit
Orientierungsstörungen
Realitäts/Orientierungstraining, Selbstständigkeit, Orientierungshilfen
Orientierung und Selbstständigkeit
Reduzierte Realitätsanpassung
Tagesstrukturierung, Milieuanpassung, Vereinfachung
Therapeutisches Umfeld
Sprachstörung
Kommunikationsvereinfachung, non-verbale Hilfen
Mitteilungs- und Kontaktbedürfnis
Selbstwert-Einbruch, depressive Verstimmung
Selbsterhaltungstherapie, Validation, soziale Integration, Erfolgserlebnisse, Frustrationsvermeidung, Förderung Musik/Kunsttherapie
Personale Identität, Selbstbild
Verhaltensstörungen
Verhaltenstherapie, Angehörigen-Training
Umschriebenes Verhalten
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Für alle Patienten sollte eine physiotherapeutische Gruppe, für einzelne Patienten auch Einzeltherapie, angeboten werden. Gerade als Morgengymnastik und damit als Einleitung für die weiteren therapeutischen Dienste hat sich die Physiotherapie bewährt. Tabelle 4 zeigt eine Zusammenfassung der nichtmedikamentösen Therapiemöglichkeiten.
9 Die Biografi fiearbeit Die Biografieorientierung fi dient sowohl der Forschung als auch der Therapie in der Praxis in Form einer Lebensbegleitung. Mitarbeiter, die biografisch fi arbeiten, benötigen als unbedingte Voraussetzung den Zugang zu dem individuell erzeugten Lebenssinn des älteren Menschen. Das biografi fische Arbeiten erfordert die Abkehr von der Unterordnung der Verhaltens-, Handlungs- und Deutungsmuster unter Typisierungen bzw. Verallgemeinerungen oder Kategorien. Gerade bei der Arbeit mit dem älteren Menschen scheint aufgrund der oft unverständlichen und fremden Logik diese Gefahr zu bestehen. Allzu schnell werden Probleme, Wünsche, Verhaltensweisen oder Äußerungen als Senilität oder als altersbedingte Eigenwilligkeit kategorisiert. Einige Beispiele aus dem täglichen Leben sind der Umgang mit dem Phänomen des ständigen Wiederholens im Alter oder das Verharren in Gewohntem, das Bestehen auf einem bestimmten Zeitrhythmus, das Festhalten an alten Werten und dementsprechend die Probleme, die in plötzlich veränderten Lebenssituationen auftreten (Tod des Lebenspartners, Einweisung in ein Pfl flegeheim). Würde ein biografi fischer Zugang zu den oben genannten Punkten entwickelt, könnten auch andere Interpretationsmuster gefunden und die Verhaltensweisen besser verstanden werden. Ständige Wiederholungen vermitteln Sicherheit, Orientierung und Strukturierung, bieten in einer Umgebung, die nicht mehr erkannt oder eingeordnet werden kann, in einem Alltag, der an Selbstverständlichkeit verliert, Geborgenheit und Schutz. Vielleicht liegt auch ein nie ermüdendes Bedürfnis, für das eigene Leben die Gestalt zu bewahren, vor, sodass Gewohnheiten und Eigenarten beibehalten werden. Biografi fieorientierung bedeutet, Sinnstrukturen und Deutungsmuster verstehen lernen, den Zugang zu einer fremden Welt erhalten und den alten Menschen authentisch zu Wort kommen zu lassen. Die lebensgeschichtliche Stigmatisierung ist ein Teil der Alltagsarbeit mit alten und dementen Menschen. Sie fi findet auf unterschiedlichen Ebenen statt: zufällig z. B. während bestimmter pfl flegerischer Maßnahmen, ärztlicher Interventionen oder anderer therapeutischer Anwendungen. Aber sie sollte auch ganz gezielt durch dafür zur Verfügung stehende Mitarbeiter, z. B. Psychologen, im persönlichen kontinuierlichen Bezug stattfinden. fi In dieser Zeit der freien Aufmerksamkeit sollte die Bezugsperson für den Patienten, ohne Ablenkung von außen, sozusagen von innen präsent sein. Die Präsenz bezieht sich neben der gezielten Aufmerksamkeit auch auf die Inhalte des Gespräches, und es erfolgt eine aktive Auseinandersetzung mit
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dem Gesagten und Gemeinten. Natürlich befreit diese Zuwendung einen alten Menschen weder von körperlichem noch von seelischem Schmerz, aber sie kann zu einem besseren Umgang mit seinen Problemen führen. Präsentsein ist die Qualität, die allen echten Beziehungen und jeder IchDu-Begegnung zugrunde liegt. Bei der Biografi fiearbeit ist die Erzählung vermutlich die am meisten beachtete und erforschte Präsentationsform. Es ist wichtig, auch die anderen Quellen der objektiven Biografi fie nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu gehören neben dem Angehörigengespräch auch Schriftstücke, wie Tagebücher, Briefe, Fotoalben, Aufzeichnungen jeder Art, in denen Erinnerungen verfasst wurden. Auch Verhaltensrituale können einen Zugang zu der Biografie fi eines Menschen öffnen und helfen, ihm in verstehender Weise zu begegnen. Das gewonnene Wissen ist wichtig für das erfolgreiche therapeutische Gesamtkonzept und für das Management der Erkrankung. Die Biografi fieorientierung in der Praxis geht mit einer bestimmten Haltung des therapeutischen Teams einher. Sie setzt Neugier und Interesse an der Lebensgeschichte alter Menschen voraus. Sie basiert auf der Einsicht, dass genaues Hinschauen auf Einzelfälle wichtig ist, ebenso wie die Bereitschaft, vorschnelle Kategorisierungen fallen zu lassen. Es bedarf einer kontinuierlichen Aufmerksamkeit gegenüber Geschichten und Erinnerungen sowie der Kultivierung der biografischen fi Präsentation im berufl flichen Alltag, welche das Nachfragen und das Mehr-Wissen-Wollen einschließt.
10 Conclusio Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts findet sich die Industriegesellschaft der westlichen Welt in einer Zwangslage. Der „Wohlfahrtskapitalismus“ geht dem Ende entgegen, und es besteht die Gefahr einer zunehmenden Klassenbildung im sozialen Krankenwesen. Die scheinbare Sicherheit der Gesellschaft durch den Sozialstaat wird spürbar brüchig. Vielleicht werden sogar die Hoffnungen alter Menschen enttäuscht. Aber es setzt sich auf der anderen Seite ein kraftvoller Humanismus bei vielen Menschen durch. Sie wollen sich stärker engagieren, psychologisch bewusster handeln und pragmatischer als zuvor eingreifen. Unter allen sozialen Themen ist die Demenz vielleicht sogar am tiefsten in Widersprüche verstrickt, weil der Bedarf so enorm wäre und das Ausmaß des Problems so groß ist. Es ist damit zu rechnen, dass bedingt durch den demografi fischen Wandel noch mehr Menschen das 8. und 9. Lebensjahrzehnt erreichen werden und die Gruppe der Demenzkranken steigen wird, was wiederum die Relevanz für die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts beweist. Die Demenz ist weder eine unbedeutende Angelegenheit, noch ist sie auf das Gebiet der Geriatrie beschränkt. Die Neubetrachtung der Demenz führt allem anderen voran zu einem anderen Verständnis für die Person, für das Individuum in seinem ganzen persönlichen Kontext (Biografi fiearbeit). Individualität und Autonomie sind wichtige Bestandteile im Leben jedes Menschen, aber in den späten Le-
Demenzmanagement – Allgemeine Aspekte
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bensabschnitten im Allgemeinen und bei Demenzkranken in späteren Stadien im Speziellen nicht mehr primär wichtig. Jetzt geht es um die Gebrechlichkeit, die Endlichkeit sowie Sterben und Tod, also um wichtige Stationen des Lebens. Technische Errungenschaften und der Verstand werden immer wichtige Begleiter der Medizin sein und bleiben, aber der Demente braucht Nähe, Wärme, Sicherheit und Geborgenheit – also den Menschen als führendes und soziales Wesen. Diese Anforderungen an die Demenzbehandlung können nicht von Einzelpersonen getragen werden, sondern werden dem Patienten und dem Angehörigen von einem multiprofessionalen Team angeboten. Die Memory Clinic des SMZ-Ost Wien (Donauspital) bietet ein so genanntes 3-Säulen-Konzept (Rainer) an, wobei eine Säule die Kriterien der medikamentösen Therapie umfasst, mit dem Ziel, die kognitive Kernsymptomatik nach heutigem Wissen optimal zu behandeln sowie die psychiatrischen Begleiterscheinungen positiv zu beeinflussen. fl Die 2. Säule ruht auf dem Schwerpunkt der Angehörigenbetreuung mit dem Ziel, diesen als Co-Therapeuten zu gewinnen, ihn über den zu erwartenden Krankheitsverlauf zu informieren und ihm Hilfs- und Entlastungsstrategien sowie eine psychosoziale Begleitung anzubieten (Verständnis, Anteilnahme, Problemlösungsstrategien → multiprofessionell). Die 3. Säule stellt ein umfangreiches, kognitives und Alltagskompetenztraining sowie reorientierende und reaktivierende Maßnahmen für den Dementen selbst dar. Die Patienten sollen dabei vom Schweregrad abhängig trainiert und begleitet werden, wobei der Motivation und Stimulation der vorhandenen Ressourcen besondere Bedeutung zukommt. Eine Kombination von allgemeiner Aktivierung, Gedächtnis- und Realitätsorientierung sowie sozialem Kompetenztraining zeigt gegenüber einem unimodalen Behandlungsprogramm eindeutige Vorteile.
Literatur Aldridge D (2000) Music Therapy. Dementia Care 33–62 Feil N (1992) Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen. Altern und Kultur Verlag, Wien Fünfschilling E (1995) Gedächtnistraining: Wichtiger Bestandteil der Milieutherapie bei senilen Demenzen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 28, 190–194 Kegran R (1994) Die Entwicklungsstufen des selbstständigen Fortschritts und Krisen im menschlichen Leben. Peter Kind Verlag, München Kitwood T (2000) Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Hans Huber, Bern Göttingen Toronto Matthes W (1983) Ergotherapie der Geriatrie, 28 Müller-Schwartz A (1994) Musiktherapie mit Demenzkranken. In: Hirsch RD (Hrsg.) Psychotherapie bei Demenzen. Steinkopff, Darmstadt Muthesius D (1990) Denkt man doch im Silberhaar gern’ vergang’ner Zeiten. Musiktherapeutische Umschau II, 132–140 Muthesius D (1999) Vortrag 2. Deutscher Alzheimer-Kongress, Berlin Prinz M, Sauerteig M, Kreuschitz Z (2000) Das psychiatrische Therapiezentrum Donauspital-SMZ-Ost
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M. Rainer und C. Krüger-Rainer: Demenzmanagement
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Das gerontopsychiatrische Zentrum des PSD Wien – Möglichkeiten und Grenzen Georg Psota und Asita Sepandj
Wir erleben derzeit in Österreich gerade eine heftige Diskussion zum Thema Pflege(-Notstand) fl im ambulanten Bereich. Geführt wird diese Diskussion vor allem politisch, bislang mehr partei- als gesundheitspolitisch. Stellvertretend für viele andere Experten, möchten wir an dieser Stelle anmerken, dass Lösungsvorschläge für die ambulante Versorgung der „älteren Generation“ vor allem Sachkompetenz erfordern. Der politische Anteil der Problemlösung ist dann der Gestaltungswille und das Umsetzungsvermögen. Die bisherige Qualität der Diskussionsführung ist aus Expertensicht nicht geeignet, Problemlösungscharakter zu erlangen. Der folgende Beitrag über die gesellschaftlichen Voraussetzungen, zentralen Inhalte, Ziele und praktischen Abläufe ambulanter Alterspsychiatrie kann auch als partieller Lösungsansatz des oben angesprochenen Versorgungsproblems verstanden werden.
1 Einleitung Die Eröffnung des gerontopsychiatrischen Zentrums am 26. 9. 2001 erfolgte auf dem Hintergrund einer sich verändernden gesellschaftlichen Situation: Einerseits erfreuen sich immer mehr Menschen einer höheren Lebenserwartung, andererseits steigt mit dem höheren Lebensalter das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken. Gleichzeitig ist vorhersehbar, dass dem Ausbau stationärer Einrichtungen aus vielerlei Gründen eine Grenze gesetzt ist, auch im geriatrischen Bereich. Der Ausbau ambulanter spezialisierter Einrichtungen, welche im Bedarf sogar präventive Faktoren erfüllen, ist eine Notwendigkeit für Gegenwart und Zukunft. Namhafte österreichische Soziologen haben folgende Zahlen errechnet: über 75-Jährige über 85-Jährige
derzeit: ~ 650.000 derzeit: ~ 130.000
2050: ~ 1,5 Mio.! 2050: ~ 500.000
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Wenn man bedenkt, dass ca. jeder Vierte über 80-Jährige eine Demenzerkrankung entwickelt und etwa jeder Fünfte über 75-Jährige an depressiven Symptomen leidet, wird deutlich, dass ambulante Strukturen zum gedeihlichen Umgang mit dieser Entwicklung dringend nötig sind; umso mehr, da sich die familiären Versorgungsstrukturen in einem Wandel befinden, dessen weitere Entwicklung schwer in Zahlen zu erfassen ist, aber fi gewiss mit einer Verringerung familiärer Ressourcen ablaufen wird (z. B. werden derzeit drei von vier Dementen von der Familie betreut, die Zahl der älteren Menschen nimmt zu, die Zahl der Kinder ab).
2 Gerontopsychiatrie Die Gerontopsychiatrie ist jenes medizinische Spezialfach, welches sich mit psychischen Erkrankungen im Alter beschäftigt und auch soziale wie psychische Umstände neben organischen Ursachen mit einbezieht. Die häufi figsten Erkrankungen sind Depression und verschiedene Demenzen (vor allem die Alzheimer Demenz). Die häufi figsten Symptome (und Syndrome) sind Angst- und Verwirrtheitszustände verschiedenster Ursache. Je nach Altersabschnitt und Umgebungsbedingungen sind bis zu 70%, zumindest jedoch 20% der über 65-Jährigen davon zeitweilig bis andauernd betroffen.
3 Gerontopsychiatrisches Zentrum Auf Grund des offensichtlich – und in allen epidemiologischen Studien belegten – zunehmenden Bedarfs an spezialisierten gerontopsychiatrischen Hilfeleistungen hat sich das Kuratorium für psychosoziale Dienste entschlossen, mit einer neuartigen ambulanten Einrichtung ein zusätzliches Angebot für die ältere Bevölkerung Wiens und deren Angehörige bereitzustellen. Das gerontopsychiatrische Zentrum des PSD Wien versteht sich als Pilotprojekt mit einem spezialisierten ambulanten Angebot. Hauptzweck ist, alle anderen, die mit den psychiatrischen Problemen älterer Menschen zu tun haben, integrativ und integrierend zu unterstützen. Insbesondere sind das die Ärzte für Allgemeinmedizin (Hausärzte) und die Angehörigen, die in die Betreuung eingebunden sind und von denen sich viele an und über der Grenze ihrer Möglichkeiten befinden. fi Im gerontopsychiatrischen Zentrum des PSD steht ein Team von spezialisierten Mitarbeitern aus den Fachbereichen Psychiatrie, Neurologie, klinische Psychologie und psychiatrische Diplomkrankenpflege fl für Betroffene, Angehörige und Helfer zur Verfügung. Das Angebot umfasst folgende Leistungen und ist auf einen Zeitraum von maximal drei Monaten ausgerichtet:
Das gerontopsychiatrische Zentrum des PSD Wien
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Q ambulante gerontopsychiatrische Beratung, Q Abklärung der psychosozialen Problematik – Therapieempfehlung – Übergabe mit Befund und Betreuungsempfehlung, Q die psychometrische Befundung (inkl. ev. Differentialdiagnostik) erfolgt im GPZ mittels eigener Memory-Klinik, Q bildgebende Diagnostik und spezielle Blutuntersuchungen per Zuweisung, Q telefonische Beratung und Information für Allgemeinärzte sowie medifl und soziale Dienste, zinische, pflegende Q telefonische und persönliche Information und Beratung für Angehörige in einer eigenen Angehörigenberatung.
4 Praxis Was hier jetzt vielleicht ein wenig theoretisch klingt, bedeutet in Summe ein möglichst umfassendes Case-Management mit einem definierten fi Beginn und einem definierten fi Ende (etwa 3 Monate) und klar zu formulierenden und anzustrebenden Zielen für die erkrankte Person sowie deren Umgebung. Es bedeutet auf der medizinischen und neuropsychologischen Ebene eine Untersuchung mit dem Ziel einer exakten Diagnose und adäquaten Therapieempfehlung, auf psychosozialer Ebene bedeutet es eine Strukturierung und Gestaltung der Möglichkeiten im Bereich Tagesstruktur (die nicht im GPZ selbst ist!) und Wohnen. Auf psychologischer Ebene bedeutet es edukativ therapeutisches Handeln mit dem Betroffenen, mit seinen (pflefl genden) Angehörigen, aber auch mit seinen professionellen Helfern (z. B. Heimhilfe). Es kann auch Beginn und Initiierung eines weiterzuführenden Gedächtnistrainings bedeuten u. v. a. m., wie z. B. Vermittlung in eine Psychotherapie. Im Bereich der rechtlichen – ethischen Aspekte bedeutet es unter anderem Beratung zum Erhalt einer entsprechenden Pfl flegestufe – somit Pfl flegegeldes –, was bei Dementen häufi fig nicht der Fall ist und professionelle Betreuungen erst möglich (bezahlbar) macht.
5 Fallgeschichte: Herr L. (81 Jahre) Die Kontaktaufnahme mit dem GPZ erfolgte telefonisch durch die Hausärztin von Herrn L., die ihn folgenderweise beschrieb: Herr L. sei seniler als andere gleichaltrige Patienten, zusätzlich leide er seit Längerem an Parkinsonsymptomen, mit zwischenzeitlichen Parkinsonkrisen. Er wäre deshalb bereits mehrmals an neurologischen Abteilungen stationär gewesen. Derzeit halluziniere er zusätzlich, die Gabe eines Neuroleptikums habe die Parkinsonsymptomatik verschlechtert, und er trinke außerdem viel zu wenig. Bisher sei jedenfalls kein zufriedenstellender Therapieerfolg erzielt worden.
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Der Patient lebe alleine, jedoch in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner Tochter und zu seiner Enkeltochter, die in der Betreuung des Patienten zunehmend überfordert erscheinen. Professionelle Hilfe in der Betreuung, z. B. eine Heimhilfe, gäbe es nicht, die betreuenden Angehörigen seien sehr engagiert. Bei unveränderter weiterer Dynamik sei dennoch die Notwendigkeit einer Pfl flegeheimaufnahme absehbar, obwohl dies weder vom Patienten noch von den Angehörigen angestrebt werde. Dieses „Zuweisungstelefonat“ erfolgte zu einem Zeitpunkt subakuter Dekompensation, was bereits telefonisch zu vermuten war. Infolgedessen wurde der Erstkontakt in Form eines Hausbesuches vereinbart, und zwar mit der Enkeltochter von Herrn L., da Herr L. selbst nicht mehr in der Lage war, Vereinbarungen zu treffen. Durchgeführt wurde dieser Hausbesuch von einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und einem Dipl.-Psychiatr. Krankenpfleger, fl wobei diese beiden Mitarbeiter auch in der weiteren Folge die Kontaktpersonen blieben. Dieser erste Hausbesuch fand in Anwesenheit der betreuenden Tochter statt, der Patient befand sich in sehr reduziertem Allgemeinzustand, er war verwirrt, halluzinierend und nestelnd. Zusätzlich bestanden Parkinsonsymptome im Sinne einer Parkinsonkrise, vermutlich durch Neuroleptika und Flüssigkeitsmangel bei hochsommerlicher Temperatur verursacht. Das Zustandsbild erforderte jedenfalls eine stationäre Behandlung, die von uns veranlasst wurde. Wie schon oft zuvor kam es wieder zu einer Aufnahme an einer neurologischen Abteilung. Bei diesem Hausbesuch erschien die Tochter des Patienten erschöpft und ebenso allen medizinischen Einrichtungen gegenüber vorwurfsvoll. Auch war sie der Überzeugung, dass ihr Vater bislang noch nie die richtige Behandlung erfahren hatte. Ein wirkliches Entlastungsgespräch war zu diesem Zeitpunkt aufgrund der angespannten Situation nicht möglich, jedoch einiges an Außenanamnese erhebbar. Der Patient, seit Längerem verwitwet, hatte bis vor etwa zwei Jahren alleine in seinem Heimatdorf in Oberösterreich gelebt. Eine leichte Vergesslichkeit war zunehmend auffällig, allerdings lebte Herr L. damals noch völlig selbstständig und sozial integriert. Die Tochter holte den Vater aus Sorge, dass dieser alleine nicht mehr zurecht käme, vor etwa zwei Jahren zu sich nach Wien. Nach der Übersiedlung kam es dann zu einem Fortschreiten der demenziellen Symptomatik, etwas später zu einem Auftreten von Parkinsonsymptomen und einer anhaltenden depressiven Verstimmung mit ausgeprägter Antriebslosigkeit und Lebensüberdruss. Sowohl die Klinik als auch die Außenanamnese führten uns zur Verdachtsdiagnose Lewy-Body-Demenz. Herr L. war dann 14 Tage stationär aufgenommen; wir hatten mehrfach telefonischen Kontakt mit dem Stationsarzt. Allein nach Behandlung des Flüssigkeitsmangels kam es zu einer teilweisen Stabilisierung des Patienten. Das Neuroleptikum wurde seitens der Krankenhausabteilung abge-
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setzt, die Medikation sonst unverändert belassen. Bedauerlicherweise wurde auf die Gabe eines Acetylcholinesterasehemmers (Antidementivum) vergessen, obwohl zwischen Krankenhaus und uns bezüglich der diagnostischen Vermutung Übereinstimmung bestand. In Absprache mit der Tochter des Patienten erfolgte unsererseits in dieser Zeit (während der Patient noch stationär war) die Kontaktaufnahme mit dem zuständigen sozialen Stützpunkt, um eine Heimhilfe (täglich einmal in der Früh) zu organisieren. In einem Telefonat seitens des psychiatrischen fl wurde die vorgesehene Heimhilfe über den Patienten inKrankenpflegers formiert. Nach der Entlassung des Patienten aus dem stationären Setting erfolgten unsererseits noch zwei weitere Hausbesuche und ein ausführlicher Kontakt im gerontopsychiatrischen Zentrum inklusive psychometrischer Testung. Die Testung der kognitiven Leistungen ergab eine leichte demenzielle Symptomatik (Testverfahren: MMSE: 23 Punkte, Uhrentest/TFDD: 7 Punkte, TFDD: 32 Punkte, 4 erinnerte Wörter im 10-Worte-Test, AKT: 73%, GDS: Stufe 3). In Absprache mit dem GPZ wurden in der Folge von der Hausärztin ein Acetylcholinesterasehemmer und ein Antidepressivum verordnet. Beide Medikamente wurden von uns überprüft und verbesserten die jeweilige Zielsymptomatik merkbar innerhalb von 4 Wochen. Es folgten noch vier Entlastungs/Beratungsgespräche mit der Tochter des Patienten im Sinne einer Angehörigenberatung. Dabei konnte auch die Notwendigkeit einer Tagesstrukturierung für den Patienten besprochen werden. Der Patient stimmte diesem Angebot durchaus zu, und nach mehreren Telefonaten mit der Tochter gelang es, eine Vorstellung des Patienten an einer gerontopsychiatrischen Tagesklinik im Otto-Wagner-Spital ins Auge zu fassen. Die Absicht dabei war, den Kreislauf der zahlreichen stationären Aufenthalte mit jeweils nur kurzfristiger Stabilisierung zu durchbrechen. Das weitere Vorgehen gestaltete sich einfach und unbürokratisch. Wir nahmen mit dem zuständigen Oberarzt der geriatrischen Tagesklinik im OWS telefonisch Kontakt auf, wobei ein Vorstellungstermin sehr rasch vereinbart werden konnte. Eine Woche, nachdem sich Tochter und Patient für die Vorstellung an der Tagesklinik entschieden hatten, gelang es, den Patienten in die gerontopsychiatrische Tagesklinik des OWS zu integrieren. Der Patient wird täglich von einem Fahrtendienst von zu Hause abgeholt und wieder nach Hause gebracht.
6 Zusammenfassung Der Auftrag an das gerontopsychiatrische Zentrum seitens der Hausärztin war eigentlich eine adäquate Therapieempfehlung. Was haben wir getan? 1. Diagnostik, Therapieempfehlung (Patient) und Info, 2. Vermittlung sozialer Dienste (Kontaktaufnahme soz. Stützpunkt),
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3. Vermittlung einer Tagesstruktur (Kontaktaufnahme mit geriatrischer Tagesklinik OWS), 4. Beratung und Entlastung der Angehörigen. Abschließend: Herr L. ist jetzt seit drei Monaten nicht mehr stationär aufgenommen gewesen. Laut den Kollegen von der gerontopsychiatrischen Tagesklinik sei der demenzielle Prozess zumindest vorübergehend gestoppt und das subjektive Befi finden des Patienten merkbar verbessert. Die Integration in ein geriatrisches Tageszentrum in Anschluss an die gerontopsychiatrische Tagesklinik sei in Vorbereitung. P.S.: Auch die betreuende Tochter sieht wieder eine Perspektive!
Freiraum für Patienten mit Demenz – die Demenzstation im Geriatriezentrum am Wienerwald G. Gatterer, A. Reda, W. Adamcyk, B. Dittrich, F. Müller und N. Sterba
Nicht alle stationären Betreuungsformen eignen sich auch für Menschen mit fortgeschrittener Demenz und Verhaltensauffälligkeiten. Das Konzept des Geriatriezentrums am Wienerwald stellt hierbei einen Baustein in diesem stationären Betreuungssystem dar. Andere Formen, wie etwa das Modell „Sonnweid“ in der Schweiz (siehe auch in Gatterer und Croy 2005), „Hausgemeinschaften“ und integrative Modelle sind jedoch bei klarer Defi finition der Zielgruppen ebenfalls geeignete Wohnformen für Menschen mit Demenzerkrankung. Generell kann man davon ausgehen, dass es „die Wohnform“ für Menschen mit Demenz nicht gibt, sondern dass es eines differenzierten Angebotes von ambulanten, über teilstationäre, bis zu stationären Einrichtungen bedarf, um dieses Problem zu lösen. Weiters scheint eine Vernetzung verschiedener Strukturen unumgänglich.
1 Grundüberlegungen Das Geriatriezentrum am Wienerwald stellt mit einer Patientenzahl von 1700 eine Großinstitution dar, die oft folgendermaßen kritisiert wird (Leichsenring 1998): Q Große Institutionen sind aufgrund des steigenden Durchschnittsalters fl v. a. an Demenz leiund des zunehmenden Anteils pflegebedürftiger, dender Bewohner immer stärker überfordert. Die Umsetzung neuer Pflefl gekonzepte (aktivierende Pfl flege, Rehabilitation) kann aufgrund mangelnder personeller Ressourcen nicht gelingen. Q Die Förderung von Selbstständigkeit und die Beachtung individueller (Pfle fl ge-)Bedürfnisse können in Mehrbettzimmern und innerhalb „geschlossener Anstalten“ nicht umgesetzt werden – Bevormundung und „Pfl flege am Fließband“ sind nach wie vor die Regel.
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G. Gatterer et al.
Q Der Ausbau ambulanter Versorgungsmöglichkeiten gehe oft zulasten der Qualitätsentwicklung in stationären Einrichtungen, wodurch sich die Mitarbeiter und Bewohner dieser Einrichtungen weiter abgewertet und ausgegrenzt fühlen – vielfach entsteht eine negative Spirale von Unzufriedenheit und Verschlechterung des Klimas im Heimbereich. Q Reformprozesse in Richtung „Öffnung der Heime“ sind langwierig und dornenreich, weil sich die bestehenden infrastrukturellen, oft aber auch die organisatorischen und personellen Gegebenheiten als „in Stein gemeißelt und in Beton gegossen“ erweisen. Motiviert durch solche kritischen Bemerkungen versucht das Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW), durch eine gezielte, patientenorientierte Organisationsentwicklung neue Wege zu gehen. Dies zeigt sich z. B. in der Schaffung von Aufnahmestationen, einer Abteilung für Palliativmedizin, einer Abteilung für psychosoziale und physikalische Rehabilitation sowie fl von Kurzzeitpflegebetten. Da der Anteil von Patienten mit einer Demenz im GZW jedoch über 70% beträgt, erschien es notwendig, gerade für diese Patientengruppe neue, ihren Bedürfnissen angepasste Strukturen zu schaffen. Eine besonders schwierige Patientengruppe stellen hierbei Personen mit ausgeprägter nonkognitiver Symptomatik (Verhaltensauffälligkeiten wie Herumwandern, flüchtigkeit, Aggressivität, Depressivität, etc.) dar. Orientiert an den Stationsfl Kriterien des Qualitätsmanagements und der damit verbundenen Kundenorientierung, aktuellen Erkenntnissen der stationären Betreuung dementer Patienten und den spezifi fischen Bedürfnissen der Organisation, wurde von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe deshalb versucht, gerade für diese Personen eine ihren Bedürfnissen entsprechende Betreuungsstruktur zu schaffen. Bei der Betreuung verwirrter älterer Menschen im stationären Bereich stehen sich jedoch zwei unterschiedliche Philosophien, und zwar eine integrative Betreuung versus einer separativen Betreuung (Spezialabteilungen), diametral gegenüber. Eine Entscheidung für eine getrennte oder gemeinsame Unterbringung ist oft nur schwer möglich, da beide Systeme Vor- und Nachteile haben, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden (Gatterer 1996; Gatterer und Rosenberger-Spitzy 1996). Für ein integratives Modell spricht, dass Q durch die Desintegration Verwirrtheitszustände eher verschlimmert als gebessert werden; der häufi fige Wechsel zwischen Abteilungen erfordert eine ständige Eingewöhnung und Umstellung und hat oft Desorientierung zur Folge; Q eine Stigmatisierung oder ein ,,Ghetto“ vermieden wird; die Verwirrtheit wird nicht als Sonderphänomen, sondern als zum Menschen gehörend betrachtet; Q stützende Maßnahmen für verwirrte Menschen (Orientierungshilfen) eine präventive Wirkung für nicht Verwirrte haben können; Q nicht verwirrte Personen in der Betreuung Verwirrter eine neue Aufgabe finden können; fi
Demenzstation im Geriatriezentrum am Wienerwald
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Q Verwirrte sich auf Spezialabteilungen gegenseitig mit Unruhe und Ängsten anstecken; Q dadurch eine höhere psychische Belastung des Personals gegeben ist. Gegen ein separatives Modell sprechen Q der erhöhte Selbst- und Fremdschutz bei aggressivem Verhalten; Q die oft nicht ausreichende Toleranz der gesunden Mitbewohner; Q die leichtere bauliche Adaptierung, die speziell auf die Bedürfnisse der verwirrten Menschen zugeschnitten ist; Q eine rationellere Gestaltung des Arbeitsablaufes durch Wegfall von Zusatztätigkeiten (z. B. Suchen des Verwirrten); Q eine leichtere Einstellung der Mitarbeiter auf die Patienten und die Planung spezieller Therapieprogramme für Verwirrte. Welches Modell auch gewählt wird, so sollten nach Ansicht von Fachleuten folgende Faktoren Berücksichtigung finden: Q Grundlage jeder Betreuung ist die genaue Erfassung der Ressourcen und Defi fizite des verwirrten alten Menschen (Assessment). Q Detaillierte Information der Angehörigen und professionellen Helfer fizite und Ressourcen (kognitiv und somatisch) des Verwirrten über Defi erlauben die Erarbeitung patientenorientierter Betreuungsstrategien. fizite ersparen dem Patienten und dem Q Hilfen zur Kompensation der Defi Behandlungsteam Frustration und Entmutigung. Q Durch eine Aktivierung der noch vorhandenen Möglichkeiten (aktivierende Pfl flege, Toilettentraining, kognitives Training, …) soll ein weiterer Abbau verhindert oder zumindest verlangsamt werden. Q Durch eine Anpassung der Umwelt an die Defi fizite (Orientierungshilfen, geringe Änderungen der Umgebung, Stimulation, …) soll eine Selbstgefährdung verhindert werden.
2 Projektplanung Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wurde die erste Demenzstation des GZW von der Projektgruppe geplant und gemeinsam mit einem Architekten umgesetzt. Als Hauptziel wurde dabei folgender Leitsatz gewählt: „Schaffung einer Betreuungsstruktur, die Menschen mit Demenzerkrankungen mit Verhaltensauffälligkeiten ein größtmögliches Maß an persönlicher Freiheit und Lebensqualität unter Ausnützung aller ihrer Ressourcen und Fähigkeiten bei ausreichender Sicherheit gewährleistet.“ Die Ergebnisse der Projektgruppe können (gekürzt) folgendermaßen zusammengefasst werden: Q Ein integratives Modell der Demenzbetreuung erscheint für demente Patienten ohne wesentliche Verhaltensauffälligkeiten möglich. Q Personen mit motorischer Unruhe und höherem Demenzgrad sowie Aggressivität und sonstigen psychopathologischen/psychiatrischen Symptomen benötigen jedoch eine spezielle Station.
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Q Ein direkt an die Abteilung angrenzender ,,Gartenbereich“ soll auch für diese Patientengruppe die Möglichkeit des Freiraumes bieten. Q Rundwege sollen den Patienten die Möglichkeit geben, ihren Bewegungsdrang auszuleben. Q Die Station soll hinsichtlich der Funktionalität in einen Aktivitäts- und Ruhebereich getrennt sein. Q Sie soll einerseits für die Patienten Lebensqualität bieten (Wohnlichkeit), aber auch für die Betreuer optimale Arbeitsbedingungen ermöglichen. Q Farbliche, sonstige optische und akustische Orientierungshilfen sowie überschaubare Strukturen sollen der bei dementen Menschen bestehenden Desorientiertheit entgegenwirken. Q Ziel wäre auch eine Verminderung sedierender Medikamente. Q Von den räumlichen Voraussetzungen sind deshalb nur Erdgeschoßstationen mit entsprechendem Gartenanteil vorzuziehen. Bei in oberen Stockwerken gelegenen Abteilungen sollten Rundwege im Gebäude eingeplant werden. Q Vorhandene Ressourcen (räumlich und personell) sollten soweit als möglich genützt werden. Q Zur Qualitätssicherung und Burn-out-Prophylaxe sind eine umfangreiche Schulung des Personals solcher Abteilungen sowie eine begleitende Supervision nötig.
3 Praktische Umsetzung und Ergebnisse Die so geplante 1. Station wurde im Mai 1999 eröffnet. Sie bietet Platz für 25 Patienten. Weitere Stationen folgten. Auf diesen Abteilungen befi findliche Patienten müssen entsprechend Heimaufenthaltsgesetz als „in ihrer Freiheit eingeschränkt“ gemeldet werden. Dies ist jedoch eine gelindere Maßnahme als die Fehlplatzierung auf einer Normalstation. Als wesentliche Aspekte für eine gut funktionierende Abteilung für demenzkranke Menschen wurden dabei herausgearbeitet (Gatterer et al. 2000, Reda et al. 2000, Müller et al. 2000): Medizinisch Q Eine interdisziplinäre Diagnostik der Demenz im Rahmen der MemoryKlinik des GZW (psychologischer Befund, Neurologie, Psychiatrie und interne medizinische Abklärung), Q eine dem derzeitigen State of the Art entsprechende medizinische Therapie durch Cholinesterasehemmer, Memantine, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Neuroleptika der neuen Generation. Psychologisch/psychotherapeutisch/pfl flegerisch Q Ein gezieltes kognitives Training und Realitätsorientierungstraining, fi Q Selbsterhaltungstherapie, Biografiearbeit, Q Validation, basale Stimulation und reaktivierende Pfl flege.
Demenzstation im Geriatriezentrum am Wienerwald
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Milieutherapeutisch/kontextuell Q Die Trennung zwischen Tag- und Nachtbereich, Q eine farbliche Gestaltung der Türen und Zimmer als Orientierungshilfe, Q akustische Orientierungshilfen (z. B. Mittagsmelodie), Q eine in den Aktivitätsbereich integrierte Patientenküche, Q ein Snoozelen-Raum zur Entspannung, Q ein direkt angeschlossener Garten mit Rundwegen, Q eine gezielte, multidisziplinäre Schulung des Teams in Teamentwicklung, Validation, basaler Stimulation, reaktivierender Pflege, fl Gerontopsychiatrie und -psychologie, …, Q regelmäßige interdisziplinäre Teamsitzungen zur Therapieplanung und Durchführung. Sozialtherapeutisch Q Tagesstruktur, Ausfl flüge, Spaziergänge, Förderung der Kommunikation und Interaktion unter den Patienten und mit dem Betreuungspersonal, Q gemeinsame haushaltliche Aktivitäten, Q die Integration der Angehörigen (Angehörigengruppe). Die Ergebnisse einer Begleitstudie (Hofmann 2000) zeigen, dass durch diese interdisziplinäre Diagnostik, Therapieplanung und -durchführung sowohl beim Patienten selbst als auch beim Betreuungspersonal positive Effekte zu verzeichnen waren. So wiesen die in dieser Spezialabteilung betreuten Patienten einen signifi fikant geringeren Leistungsabbau auf, als dies bei diesem Demenzgrad zu erwarten wäre. Die Verhaltensauffälligkeiten konnten durch eine kombinierte Therapie (medikamentös und sozialtherapeutisch), bei gleichzeitiger Verbesserung der Freiheit und Mobilität der Patienten, gemindert werden. Beim Betreuungspersonal fand sich eine signifikante fi Verminderung der Burn-out-Gefährdung im Vergleich zu einer Normalstation. Diese Ergebnisse zeigen, dass die stationäre Versorgung von Patienten mit einer Demenz in einer Großinstitution, wie dem Geriatriezentrum am Wienerwald, nicht unbedingt mit einer Ghettoisierung einhergehen muss. Gezielte, patientenorientierte Planungsmaßnahmen können helfen, dementen Patienten mit Verhaltensauffälligkeiten ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit unter Nutzung und Förderung der vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten zu gewähren. Die Philosophie der Demenzstationen des GZW lautet: „Der Mensch zuerst, bei Demenz erst recht!“
Literatur Gatterer G (1996) Rehabilitation. In: Zapotoczky HG, Fischhof PK (Hrsg.) Handbuch der Gerontopsychiatrie. Springer, Wien New York, 480–513 Gatterer G, Rosenberger-Spitzy A (1996) Nichtpharmakologische und rehabilitative Aspekte unter stationären Bedingungen. WMW, 559–565
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G. Gatterer et al.: Geriatriezentrum am Wienerwald
Gatterer G, et al. (2000) Demenzbetreuung im GZW – Allgemeine Aspekte. European Journal of Geriatrics 2 (Suppl. 1), 18 Gatterer G, Croy A (2005) Leben mit Demenz. Springer, Wien New York Hofmann A (2000) Die psychischen Belastungen, Arbeitszufriedenheit und Burn-out des Krankenpflegepersonals fl einer Demenzstation im Vergleich zu einer Langzeitpfl flegestation. Dipl.-Arbeit, Universität Wien Leichsenring K (Hrsg.) (1998) Alternativen zum Heim. Schriftreihe „Soziales Europa“. BMfAGS, Wien Müller F, et al. (2000) Die Demenzstation im GZW – Medizinische Aspekte der Diagnose und Therapie. European Journal of Geriatrics 2 (Suppl. 1), 22 Reda A, et al. (2000) Demenzbetreuung im GZW – Pfl flegerische Aspekte. European Journal of Geriatrics 2 (Suppl. 1), 18
Geriatrische Neurorehabilitation Geriatrische Neurorehabilitation als notwendige Ergänzung zu bestehenden Rehabilitationseinrichtungen und als multiprofessionelle Herausforderung am Beispiel der Rehabilitation des älteren Schlaganfallpatienten Johann Donis, Cornelia Laussegger und Elisabeth Purth
Die Zahl der Patienten mit einer neurologischen Erkrankung steigt mit zunehmendem Lebensalter an. In Österreich erleiden 15.000 Menschen im Jahr einen Schlaganfall. 70% der Betroffenen sind älter als 65 Jahre. Multimorbidität und fehlende soziale Netzwerke bei geriatrischen Patienten erschweren häufig fi eine erfolgreiche Rehabilitation und Reintegration. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer spezialisierten geriatrischen Neurorehabilitation. Die neurologische Abteilung im Geriatriezentrum am Wienerwald hat ein umfangreiches Konzept dafür geschaffen und implementiert. In der vorliegenden Arbeit werden die wichtigsten Grundvoraussetzungen, die erarbeiteten Standards und Arbeitsabläufe dargestellt. Prozesshaftes Denken macht unsere Arbeit nachvollziehbar und evaluierbar. In der geriatrischen Neurorehabilitation gilt es, die verschiedensten Leistungen im multiprofessionellen Team zu defi finieren und aufeinander abzustimmen, um ein optimales Ergebnis für den Patienten zu erreichen. Die Voraussetzung ist, Menschen nach ihren Fähigkeiten zu beurteilen und nicht nach ihren Defiziten, fi aber auch ihre Wünsche und Möglichkeiten zu berücksichtigen. Jeder Patient nach einem Schlaganfall hat eine potenzielle Remissionschance, sie muss ihm aber gegeben werden. Rehabilitativ orientierte Geriatrie bietet die Chance zu dringend notwendigen neuen Strukturen im Gesundheitswesen. Der Patient ist das verbindende Element. Seine Bedürfnisse bestimmen unser Handeln und die dazu notwendigen Strukturen und Prozesse. Nachfolgende Ausführungen sollen Anregung und Leitlinie sein und neue Sichtweisen eröffnen, die die Sinnhaftigkeit einer geriatrischen Neurorehabilitation als notwendige Ergänzung zu bestehenden Neurorehabilitationszentren unterstreichen.
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1 Einleitung und Begriffsdefi finition Die Wahrscheinlichkeit, aufgrund einer neurologischen Erkrankung eine bleibende Behinderung zu erleiden, steigt mit zunehmendem Lebensalter an. Zahlenmäßig weit an der Spitze stehen Patienten nach einem Schlaganfall. In Österreich erleiden jährlich etwa 15.000 Menschen einen Schlaganfall. Die Rehabilitation und Betreuung dieser oft mehr als 65 Jahre alten Patienten stellt eine große Herausforderung dar. Etwa 60% bleiben mehr oder weniger stark behindert, d.h., sie sind nicht mehr in der Lage, ihr Leben in gleicher Weise zu führen wie vor dem Ereignis. Der Trend „Rehabilitation vor Pfl flege“ sowie die gleichzeitig sich ändernde Altersstruktur der Bevölkerung führen zu einem zunehmenden Bedarf an neurologisch orientierter Rehabilitation geriatrischer Patienten – zu einem zunehmenden Bedarf an geriatrischer Neurorehabilitation (Zifko 2000; Leibson 1998). 60% bis 70% des Rehabilitationsbedarfes in geriatrischen Einrichtungen sind durch neurologische Erkrankungen bedingt (Runge 2001). Das Bewusstsein, dass für die Behandlung und Rehabilitation älterer kranker Menschen oft spezielle Einrichtungen notwendig sind, um den besonderen Bedürfnissen dieser Patientengruppe gerecht zu werden, ist heute vorhanden. Die Implementierung von akutgeriatrischen Abteilungen in Krankenhäusern und Geriatriezentren ist ein Zeichen für diese Veränderung. Neurologische Rehabilitationseinrichtungen sind in erster Linie aufgrund der Komplexität neurologischer Erkrankungen notwendig. Die Sinnhaftigkeit eigenständiger neurologischer Rehabilitationseinrichtungen ergibt sich aus den Besonderheiten neurologischer Erkrankungen. Es ist also ein besonderes Fachwissen für den Umgang mit diesen Patienten erforderlich (Pohjasvaara et al. 1997). Die Tatsache, dass es sich um geriatrische Patienten handelt mit einer Vielfalt zusätzlich zu berücksichtigender Faktoren, erhöht die Komplexität weiter und unterstreicht den Bedarf speziell darauf ausgerichteter Strukturen. Im Folgenden werden die Gründe für die Etablierung einer eigenständigen geriatrischen Neurorehabilitation dargelegt, die dafür notwendigen Prozesse und Strukturen sowie die Aufgaben und die Art der Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team aufgezeigt. Den folgenden Ausführungen und Beispielen liegt die praktische Umsetzung eines derartigen Konzeptes an der Station für geriatrische Neurorehabilitation der Neurologischen Abteilung im Geriatriezentrum am Wienerwald zugrunde. Es sollen mehrere Fragen beantwortet werden: 1. Welche klinischen Besonderheiten weist ein neurologischer Rehabilitationspatient auf? 2. Welche besonderen Bedürfnisse und besonderen Situationen hat ein geriatrischer Rehabilitationspatient? 3. Welche Rolle spielt der Lebenspartner des geriatrischen Patienten im Rehabilitationsprozess? 4. Woraus ergibt sich die Notwendigkeit einer geriatrischen Neurorehabilitation?
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5. Welche Parameter müssen im geriatrischen Neurorehabilitations-Assessment beachtet werden? 6. Wie erfolgt die Evaluierung des Rehabilitationsprozesses? 7. Welche besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse sind im multiprofessionellen Team notwendig? 8. Wie werden Ziele definiert fi und geplant? 9. Wie bezieht man die Angehörigen mit ein? 10. Welche Maßnahmen (Prozesse) sind für eine optimale Rehabilitation notwendig, und wie erfolgt die Umsetzung und Koordination im multiprofessionellen Team? Da im Alter das Risiko für bleibende Schäden nach einer neurologischen Erkrankung ansteigt, ist auch die Notwendigkeit einer gezielten, dem älteren Menschen angepassten, multiprofessionellen Rehabilitation gegeben.
2 Besonderheiten neurologischer Rehabilitationspatienten Etwa 70% der geriatrischen Patienten in neurologischen Rehabilitationseinrichtungen leiden unter den Folgen eines Schlaganfalles. Extrapyramidale Erkrankungen, allen voran der Morbus Parkinson, nehmen weit dahinter mit etwa 10% die zweite Stelle ein. An dritter Stelle finden fi sich Patienten mit neurologischen Defi fiziten im Rahmen einer zervikalen Myelopathie. Defektzustände nach Schädel-Hirn-Traumen, Rückenmarksverletzungen oder entzündlichen Erkrankungen sind in einer geriatrischen Population selten. Beispielhaft für die klinischen Besonderheiten sei hier das am häufigsten vertretene Krankheitsbild des Schlaganfalles angeführt. Diese Patifi enten stellen eine hochspezifi fische Gruppe dar. Auffallende motorische Defi fizite, wie eine Hemiparese, sind meist unübersehbar. Doch schon bei diesen scheinbar banalen Symptomen scheitern oft nicht spezialisierte Einrichtungen. Lagerung, Transfer, Handling, Kontrakturprophylaxe, Schienenprobleme, Zimmergestaltung, etc., sind nur eine kleine Auswahl an Beispielen, die eine besondere Ausbildung erfordern. Für ein nicht speziell geschultes Team ist es aber bereits schwierig, eine Hemihypaesthesie oder eine Hemianopsie zu erkennen und zuzuordnen. Fast regelhaft verkannt werden Alternanssyndrome mit der häufig fi klinisch im Vordergrund stehenden hartnäckigen Symptomatik einer Dysarthrie und/oder Dysphagie. Noch schwieriger wird es bei der Beurteilung der verschiedensten Formen der Aphasie und der oft damit verbundenen Agrafi fie, Alexie und natürlich bei komplexeren neuropsychologischen Ausfällen. Apraktische Störungen (ideomotorische, ideatorische Apraxie), Agnosien (visuell, akustisch, taktil), anosognostische Störungen, Körperschemastörungen, räumliche Orientierungsstörungen und nicht zuletzt das Neglect-Syndrom, wie amnestische Störungen und Störungen des Antriebes und der Affektivität sind hier zu nennen. Verstimmungsstörungen, ein or-
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ganisches Psychosyndrom, halluzinatorische Erlebnisse, etc. überfordern rasch und regelhaft das nicht spezialisierte Betreuungsteam und führen rasch zu vorzeitigen, ja oft abrupten Abbrüchen des nicht selten nur mit Mühe organisierten Rehabilitationsaufenthaltes. Bedenkt man kritisch, dass der Umgang mit derartig komplexen Störungen oft schon in spezialisierten Abteilungen für das Personal eine Herausforderung darstellen kann, wird man die Notwendigkeit einer Spezialisierung im Rehabilitationsbereich wohl kaum in Frage stellen. Die klinischen Besonderheiten fordern neurologisch orientiertes Wissen, fachliche Spezialisierung und grundsätzliches Verständnis, um überhaupt einen Zugang zu fi finden; eine Notwendigkeit, die zunehmend erkannt wird. Sonst sind Rehabilitationsversager vorprogrammiert (Thommessen 1999). Diese Erkenntnis kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass in den letzten Jahren eine Reihe neurologisch orientierter Rehabilitationszentren errichtet wurden, oft mit dem Schwerpunkt Schlaganfallpatient.
3 Besondere Bedürfnisse und besondere Situationen geriatrischer Rehabilitationspatienten Die Tatsache, dass es sich um geriatrische Patienten handelt mit einer Vielzahl von zusätzlich zu berücksichtigenden Faktoren, erhöht die Komplexität weiter. Das Alter stellt an sich schon eine besondere Situation dar. Ohne Krankheitswert kommt es zu einer „benignen“ Verlangsamung psychischer, physischer und kognitiver Funktionen. Die physische Belastbarkeit wird geringer. Aus einem älteren Menschen wird ein geriatrischer Patient, wenn durch multiple Krankheiten und Altersveränderungen und den daraus resultierenden Behinderungen die Fähigkeit zur selbstständigen Alltagsbewältigung eingeschränkt ist (Alexander 1998). Verschiedene pathologische Zustände treten in eine enge Wechselwirkung und führen gemeinsam zu körperlichen, psychischen und sozialen Funktionseinschränkungen. Gerade aus diesen Umständen heraus ergibt sich die Notwendigkeit einer geriatrischen Sichtweise in der Medizin und Rehabilitation. Fast immer liegen neben der im Vordergrund stehenden neurologischen Erkrankung internistische, aber auch orthopädische und urologische Begleiterkrankungen vor. Zu nennen sind hier in erster Linie Bluthochdruckerkrankungen, Diabetes mellitus, vorbestehende gastrointestinale Erkrankungen, schon bestehende Inkontinenzprobleme, Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis, degenerative Gelenks- und Wirbelsäulenerkrankungen, die verschiedenen Ausprägungen einer Herzinsuffizienz, fi Rhythmusstörungen und pulmonale Erkrankungen, die die körperliche Belastbarkeit und somit die Trainingsintensität beeinträchtigen (Böhmer 2002). Geriatrische Patienten sind nicht nur biologisch älter, sie sind durch altersbedingte Funktionseinschränkungen bei zusätzlichen Erkrankungen akut gefährdet, neigen zur Multimorbidität und haben einen besonderen Handlungsbedarf – rehabilitativ, psychisch, aber besonders auch psychosozial. Die gesundheitliche Situation muss immer multidimensional erfasst werden, d.h., dass geplante Interven-
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tionen immer die körperliche und psychische Situation, aber auch das soziale Umfeld berücksichtigen müssen, um einen für den Betroffenen möglichst optimalen Rehabilitationserfolg zu erzielen. Es geht um selbstständige Alltagsbewältigung, und die Vielfalt der dafür notwendigen Maßnahmen fordert eine Vielfalt von Berufsgruppen, die ihre fachspezifischen fi Methoden, Kenntnisse und Fertigkeiten aufeinander abstimmen. Der Pflege fl kommt im Bereich der geriatrischen Neurorehabilitation eine ganz besondere Stellung zu. Hier entwickelt sie ihre fachliche Eigenständigkeit. Der Patient gibt die Ziele vor, die Interventionen haben sich danach zu richten. Gerade der ältere Mensch benötigt ein geriatrisch geschultes Betreuungsteam. Werden diese Voraussetzungen nicht berücksichtigt, kommt es rasch zu einer Überforderung dieser Patientengruppe. Angestrebte Rehabilitationsziele werden nicht erreicht, oder Rehabilitationsbemühungen werden beendet, obwohl das für diesen Menschen optimal mögliche Ziel noch nicht erreicht ist. Es stellt sich somit nicht selten die Frage, ob ein – innerhalb einer oft willkürlich gesetzten Zeit – „nicht erfolgreich“ rehabilitierter geriatrischer Patient mit einer neurologischen Erkrankung, also ein Patient, der durch rehabilitative Maßnahmen keine ausreichende Selbstständigkeit wiedererlangt hat, in der Regel und für immer ein Pfl flegefall ist? Eine Therapiegestaltung, die auf die persönlichen Gewohnheiten und den Tagesrhythmus des Betroffenen Rücksicht nimmt, ist in klassischen, auf geriatrische Patienten nicht ausgerichteten Rehabilitationseinrichtungen oft nicht möglich. Auch die soziale Situation erfordert oft eine besondere Berücksichtigung.
4 Rolle des Lebenspartners des geriatrischen Patienten im Rehabilitationsprozess Die sozialen Netzwerke älterer Menschen sind in der Regel zahlen- und leistungsmäßig abgeschwächt. Oft fehlen bereits Familie oder nahe stehende Personen. Die verbliebenen Lebenspartner sind oft selbst alt, funktionell eingeschränkt und chronisch krank. Personelle Hilfe steht im Umfeld weniger zur Verfügung. Oft sind die vorhandenen Lebenspartner mit der kognitiven und organisatorischen Bewältigung der Situation überfordert. Oft ändern sich Rollenverteilungen, aktuelle Konfl flikte spitzen sich zu, latente kommen zum Ausbruch, aber auch Verdrängungs- und Vermeidungsreaktionen können dazu führen, dass die gerade jetzt notwendige Unterstützung ausbleibt. In anfänglichen Gesprächen ergeben sich nicht selten die Frage nach dem Sinn der Maßnahmen und die Frage nach der möglichen Lebensqualität. Fehlende Offenheit, Verdrängung der aktuellen Situation und übertriebene Erwartungen, aber auch mangelnde Information über das Krankheitsbild und nicht ausreichende Gespräche mit dem Angehörigen über Rückbildungs- und Kompensationsmöglichkeiten führen zu schlechter Planung und zum vorprogrammierten Rehabilitationsversagen (Hackl 1997). Das Erfassen vorbestehender Probleme in der Betreuung ist daher ein wichtiger Bestandteil des Aufnahmeprozesses. Hier sind entlas-
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tende Gespräche, Aufklärungsarbeit über das spezielle Krankheitsbild und dessen Verlauf sowie Schulung der Angehörigen im Umgang mit der Krankheit notwendig. Weiters bestimmen natürlich die Wohnsituation, die Möglichkeit einer behindertengerechten Adaption und letztendlich auch die finanziellen Ressourcen darüber, ob eine Rehabilitation erfolgreich ist oder nicht. In der Regel verfügen die älteren Patienten über geringere fi finanzielle Mittel, der Wohnungsstandard entspricht nicht mehr dem aktuellen Stand, und die Familie ist oft nicht in der Lage oder aber auch nicht bereit, Geldmittel zur Verfügung zu stellen, um eine behindertengerechte Lösung zu ermöglichen. Die Beschäftigung mit dem Thema Altersversorgung ist häufig fi noch durch das Denken in Mustern der Großelterngeneration geprägt. Kinder sorgen für ihre Eltern. Auch die Frage, wieweit institutionelle Pflege fl notwendig ist oder zugelassen wird, muss frühzeitig angesprochen werden. Der Gang ins Pflegeheim fl ohne Rehabilitationsversuch scheint organisatorisch einfach und finanziell durch vorhandene Eigenmittel des Patienten sowie staatliche Zuschüsse gesichert. Nicht selten droht die Aufgabe der eigenen Wohnung, der Umzug als Hilfsbedürftiger und die Aufgabe von Tätigkeiten, die dem Leben subjektiv einen Sinn gaben. Es ist eine Tatsache: Fast jeder möchte zu Hause sterben, aber kaum jemand nimmt wahr, dass davor Monate oder auch Jahre der Krankheit oder Behinderung liegen (Brausewein 2000). Das Ziel soll in erster Linie die Rückkehr in die eigenen vier Wände, die Rückkehr in ein normales Leben sein und, wo das nicht möglich ist, in Betreuungseinheiten, die ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben gewährleisten können. Leider gibt es noch zu wenige Angebote für betreutes Wohnen für ältere Menschen, die physisch krank sind und neben einer sozialen Integration auch fl Betreuung beeine teilweise anspruchsvolle medizinische und pflegerische nötigen. All das benötigt Fachwissen und vor allem eines: viel Zeit, die in anderen Rehabilitationseinrichtungen üblicherweise nicht zur Verfügung steht. Zeit für entlastende Gespräche, Aufklärungsarbeit über das spezielle Krankheitsbild, dessen Verlauf und Schulung der Angehörigen im Umgang mit der Krankheit selbst. Die Besonderheiten des Alterspatienten hinsichtlich Symptomatik und Verlauf der Erkrankung, aber auch seine geringere Belastbarkeit im Verlauf der Rehabilitation erfordern ein spezialisiertes Team. Der Angehörige sollte auf jeden Fall in den Rehabilitationsprozess mit einbezogen werden. Das primäre Ziel ist die Rückkehr in die eigene Wohnung, auch wenn dies nicht immer möglich ist.
5 Notwendigkeit einer geriatrischen Neurorehabilitation Als die ersten Rehabilitationszentren gebaut wurden, standen die Entlassung nach Hause und die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess und
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damit die Reduktion der stationären Kosten und Pensionsleistungen im Vordergrund. Beides ist bei geriatrischen Patienten oft nicht das Ziel, ja oft überhaupt nicht möglich. Die Zielgruppe für eine spezialisierte geriatrische Neurorehabilitation sind ältere Patienten, die aufgrund einer neurologischen Erkrankung eine Behinderung haben, die es ihnen nicht oder vorerst nicht ermöglicht, zu Hause leben zu können. Rehabilitation bedeutet, mit einer Behinderung bestmöglich leben zu lernen. Es besteht grundsätzlich im Gegensatz zur Medizin kein Heilungsanspruch. Geriatrische Neurorehabilitation ist die Rückführung eines Patienten mit einer neurologischen Erkrankung zur größtmöglichen Selbstständigkeit in einem selbstbestimmten Alltag. Dies bedeutet in der Regel eine besondere Rücksichtnahme auf die persönliche Lebensplanung, das persönliche Rehabilitationsziel des Patienten, aber auch auf das seiner Angehörigen. Rehabilitation bedeutet aber auch Hilfe zur Selbsthilfe, Hilfe zur Erlangung eines ausreichenden Grades flegekompetenz. Aus zahlreichen vorgenannten Gründen schafan Selbstpfl fen es ältere Patienten oft nicht, ihr vorhandenes Rehabilitationspotenzial auszuschöpfen. Meist ist der dafür vorgesehene Zeitrahmen nicht auf die Situation geriatrischer Patienten ausgerichtet, und die besondere Situation findet in den Überlegungen und Therapiezielen zu wenig Beachtung. So fi werden aus einem Versagen der nicht spezialisierten Rehabilitation gerade bei geriatrischen Patienten nicht selten „Rehabilitationsversager“! Ist kein ausreichendes soziales Netz vorhanden, wird aus dem Rehabilitationsversager rasch ein so genannter Pfl flegefall. Obwohl bis heute niemand genau definiert fi hat, was eigentlich ein Pfl flegefall ist, scheint es den meisten klar zu sein, wann es so weit ist. In der Folge sind für den neurologischen Bereich die häufi figsten Ursachen aufgeführt. Zunächst ist es das Alter selbst, in zweiter Linie der Schweregrad der motorischen Ausfälle besonders an den unteren Extremitäten, was die Bedeutung des „Sich-selbst-fortbewegen-Könnens“ unterstreicht, daneben das Vorliegen einer Aphasie und als besonders bemerkenswertes Detail die Dauer des Krankenhausaufenthaltes selbst – d.h., je länger ein Patient in einem Krankenhaus verbleibt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, ein „Pflegefall“ fl zu werden. Von ganz entscheidender Bedeutung sind aber auch eine persistierende Harn- und Stuhlinkontinenz, Schluckstörungen, die Unfähigkeit, ohne fremde Hilfe Nahrung zu sich zu nehmen, die Unmöglichkeit, den Transfer vom Bett in den Rollstuhl ohne Hilfe zu meistern, und letztendlich das Ausmaß kognitiver Defi fizite sowie das Vorliegen einer Demenz. Darüber hinaus verhindert eine häufi fig begleitende Depression, dass der Betroffene selbst Initiative ergreift. Nicht unerwähnt soll auch die Bedeutung begleitender körperlicher Probleme und Erkrankungen bleiben, wie Gelenkserkrankungen, vorbestehender Gliedmaßenverlust und cardiopulmonale Erkrankungen. Oft ist auch das soziale Umfeld für das weitere Schicksal entscheidend und die Beantwortung der Frage, ob Familie oder nahestehende Personen, die häufi fig selbst schon krank und hilfsbedürftig sind, für die weitere Betreuung herangezogen werden können. Weiters bestimmen das Vorhan-
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densein einer adäquaten Wohnmöglichkeit, die behinderungsgerecht adaptiert werden kann, sowie die möglichen finanziellen Mittel nicht selten darüber, ob die Rückkehr ins gewohnte häusliche Milieu möglich ist oder nicht. Es ist eine Tatsache, dass das Leben in den eigenen 4 Wänden als normales Leben angesehen wird. Es soll daher auch das Ziel aller unserer Bemühungen sein, diesen Idealzustand so lange wie nur möglich zu erhalten oder wieder zu erlangen. Die soziale Gesetzgebung stellt sicher, dass hilfsbedürftige Menschen versorgt werden. Der Automatismus dieser Gesetzgebung verhindert es aber oft, andere Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Der Faktor Zeit wird bei der Wiedererlangung der notwendigen Selbstständigkeit bei geriatrischen Patienten nicht ausreichend berücksichtigt. Rehabilitationseinrichtungen haben das auch vom Gesetzgeber eindeutig defi finierte Ziel, den Patienten wieder nach Hause zu entlassen oder nach Möglichkeit wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. Beides ist bei geriatrischen Patienten oft nicht das Ziel. Aus all diesen genannten Gründen ergibt sich die Notwendigkeit einer geriatrischen Neurorehabilitation.
6 Neurogeriatrisches Assessment Die Grundvoraussetzung für eine strukturierte geriatrische Neurorehabilitation ist ein umfassendes Assessment. Assessment ist die Bezeichnung für den umfangreichen diagnostischen Prozess in der Geriatrie. Es ist eine multidimensionale, interdisziplinäre und multiprofessionelle Gesamterfassung und Bewertung der gesundheitlichen Situation eines Patienten. Assessment erfasst, gliedert und bewertet körperliche, psychische und soziale Komponenten. Die Wechselwirkungen von Krankheit, Behinderung und altersassoziierten Veränderungen werden herausgearbeitet mit dem Ziel, medizinische, pfl flegerische, therapeutische und soziale Interventionen zu planen und in ihrem Verlauf zu kontrollieren. Standardisierte Verfahren aus dem Bereich der Neurorehabilitation finden hier Anwendung. Die Diagnostik auf ICD-10-Ebene ist meist wenig problematisch und erfolgt bereits an der zuweisenden Akutabteilung. In der Neurorehabilitation stehen die aufgrund dieser Erkrankung aufgetretenen Schäden und die daraus resultierenden Folgen für den Betroffenen im Vordergrund. Diese Probleme werden mittels ICIDH (International Classification fi of Impairments, Disabilities and Handicaps, WHO, 1999) oder ICF erfasst. Auf der Impairment-Ebene (= organische Ebene, Symptomebene – Schädigung, Schaden) werden strukturelle, physische und psychische Funktionsdefizite fi erfasst, auf der Ebene der Disabilities/Activities (= personale Ebene, Beeinträchtigungsebene – individuelle, funktionelle Einschränkungen) persönliche Beeinträchtigungen in den Aktivitäten des alltäglichen Lebens (ATL) und auf der Handicapebene (= gesellschaftliche Ebene, Benachteiligungsebene) soziale Beeinträchtigungen. Beispiel: Die Diagnose eines cerebral ischämischen Insultes sagt zunächst überhaupt nichts über die Rehabilitationsfähigkeit eines Patienten
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aus. Das Ausmaß einer evtl. Lähmung, Sprachstörung oder apraktischen Störung wird schon eher darüber Auskunft geben. Noch wichtiger wird es aber sein, wie der Patient mit diesen Störungen im alltäglichen Leben zurechtkommt. Alle Bemühungen werden trotzdem nicht erfolgreich sein, gelingt es nicht, den Patienten wieder in ein entsprechendes soziales Umfeld zu integrieren. Das neurogeriatrische Assessment wird in Zusammenarbeit von Arzt, flegeperson und Mitarbeitern, -innen des gehobenen medizinisch-techPfl nischen Dienstes (Physiotherapeuten, -innen, Ergotherapeuten, -innen, Logopäden, -innen), einem Neuropsychologen sowie fakultativ einer Sozialarbeiterin durchgeführt. Arzt Der ärztliche Aspekt umfasst einen ausführlichen neurologisch-psychiatrisch klinischen Status, eine strukturierte rehabilitationsorientierte geriatrische Anamnese mit ausführlicher medizinischer Anamnese und Medikamentenanamnese unter besonderer Berücksichtigung einschränkender, typisch geriatrischer Probleme und vorbestehender internistischer Erkrankungen, weiters die soziale Situation (Lebenssituation vor der Aufnahme, Schulbildung, berufl fliche Laufbahn, soziales Umfeld, soziale Kontakte, Tagesgestaltung, personelles Umfeld, Inanspruchnahme sozialer Dienste, Hilfen und ambulanter Therapien vor der jetzigen Erkrankung, fi finanzielle Situation, Analyse der Wohnumgebung und Wohnsituation) und die Erhebung vorhandener relevanter Basisbefunde, (Blutbefunde, bildgebende und funktionelle Diagnostik wie cCT, cMRI, EEG, Duplexsonografie, fi evtl. TCD, elektroneurografische fi und szintigrafi fische Untersuchungen). Pfl flege Eine führende Rolle im Assessment hat der pflegerische fl Aspekt. Grundlagen sind die Erhebung einer exakten und umfassenden Pfl flegeanamnese, die Erstellung einer Pfl flegediagnose und die sich daraus ergebende Pfl flegeplanung (Brobst 1996). In bemerkenswert klar strukturierter Form werden hier Symptome und Fähigkeiten des Patienten beschrieben und unter Berücksichtigung vorhandener Ressourcen des Patienten erreichbare Ziele definiert fi und Maßnahmen festgelegt. Unter den Kategorien Atmung, Flüssigkeitsaufnahme, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Motilitätseinschränkung, Kommunikation, Gefahrensituationen und Integrität der Person werden Parameter erhoben, deren Fülle weit über die übliche ärztliche Anamnese und Statuserhebung hinausgeht und deren Kenntnis für das Team entscheidend für das weitere Vorgehen ist. Darüber hinaus werden im Rahmen der Biografieerhebung fi die wichtigsten Lebensdaten erhoben, die einen wesentlichen Einfluss fl auf die weitere Lebensgestaltung und Planung haben. Moderne Pflegekonzepte fl gehen davon aus, dass jeder Patient Selbstpfl flegekompetenz besitzt. Es ist für die Planung der Pflegemaßnahmen fl und die Auswahl des Pflegekonzeptes fl entscheidend, vorhandene Einschränkungen möglichst umfassend zu beschreiben, aber auch dem Willen und der Bereitschaft des
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Patienten, für sich selbst zu sorgen, Rechnung zu tragen. Aus der umfassenden Pflegeanamnese fl werden der Umfang der notwendigen körperlichen und psychischen Unterstützung abgeleitet und Faktoren erhoben, die es ermöglichen, eine Umgebung zu schaffen, die die Pflegehandlungen fl und die persönlichen Fähigkeiten unterstützt. Es geht nicht um die Schwere einer Erkrankung, sondern um die Klärung, wieweit ein Patient in der Lage ist, verschiedenste Verrichtungen des täglichen Lebens durchzuführen. Grundsätzlich wird angenommen, dass Pflegebedürftigkeit fl kein unveränderbarer Zustand ist, sondern sich dynamisch durch verschiedenste Maßnahmen entwickeln kann. Ziel ist immer eine möglichst weitgehende Selbstständigkeit des Patienten. Es gilt: Rehabilitation vor Pflege. fl Therapeuten, -innen Ein umfassendes Assessment muss natürlich auch einen funktionellen Befund der Therapeuten, -innen aus den verschiedenen Sparten des gehobenen medizinisch-technischen Dienstes (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie) beinhalten. Auch hier steht die Beurteilung nach den Kriterien des ICIDH im Vordergrund weiterführender therapeutischer Überlegungen. Neuropsychologe Gerade bei geriatrischen Patienten mit neurologischen Erkrankungen kommt dem Neuropsychologen eine wichtige und für den Erfolg des Rehabilitationsprozesses oft entscheidende Rolle zu. Insgesamt nimmt das geriatrische Assessment etwa 1 Woche in Anspruch.
7 Evaluierung des Rehabilitationsprozesses Wie in vielen Bereichen der Medizin stellt sich gerade in der Neurorehabilitation die Frage nach der Effektivität. Die Beantwortung dieser Frage setzt geeignete Messinstrumente, so genannte Assessment-Skalen, zur Dokumentation voraus. Ohne quantitative Beurteilung des tatsächlichen Ausmaßes der Schädigung, der Funktionsstörung und der sozialen Auswirkungen ist es unmöglich, Ziele zu defi finieren und damit eine Neurorehabilitation sinnvoll zu planen und die eigene Effektivität zu beurteilen. Eine Forderung an das Dokumentationssystem im Assessment wie im weiteren Rehabilitationsverlauf muss es sein, dass das tatsächliche Ausmaß der Behinderung exakt festgehalten wird und die funktionellen und damit alltagsrelevanten Ergebnisse der Rehabilitationsarbeit aufgezeigt werden können. Zur Dokumentation haben sich als Grundlage die von der Österreichischen Gesellschaft für Neurorehabilitation empfohlenen Skalen bewährt. Skalen, die vorwiegend das Impairment, also das Ausmaß der Schädigung, quantitativ beschreiben, sind diagnosebezogen, z. B. die NIHSS-Schlaganfallskala, auf die Motorik bezogen, z. B. der Motorizity-Index zur Beurteilung der
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Arm-Hand-Funktion, der Trunk-Control-Test zur Beurteilung der Rumpfbewegung, der Kommunikationstest nach Goodglass und Caplan zur Beurteilung der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit oder auch der MiniMental-Status zur Beurteilung der kognitiven Leistung. Von den Skalen zur Beurteilung der funktionellen Einschränkungen haben sich der BarthelIndex, die Esslinger Transferskala, der Tinetti-Test und der Timed-up-and go-Test bei gehfähigen Patienten bewährt (Sommeregger 1997). Falls es das Krankheitsbild erfordert, werden zusätzliche Scores, z. B. UPDRS Rating Scale bei M. Parkinson, oder ein Tremor-Assessment mit einbezogen (Wade 1992). Die Erfassung erfolgt im interdisziplinären Team.
8 Fähigkeiten und Kenntnisse im geriatrischen Neurorehabilitationsteam Das Kernteam in der Neurorehabilitation setzt sich aus den Berufsgruppen Arzt, Pflege, fl Physiotherapeut, Ergotherapeut, Logopäde und Neuropsychologe zusammen. Erweitert wird das Kernteam durch den Sozialarbeiter, Mitarbeiter medizintechnischer Berufe, die vor allem den Bereich der Hilfsmittelversorgung abdecken, aber auch durch eine Reihe anderer Berufsgruppen, wobei Musiktherapeuten beispielhaft zu nennen sind. Die eingangs erwähnten Besonderheiten neurologischer Krankheitsbilder erfordern auch besondere Fähigkeiten und Kenntnisse. Grundvoraussetzungen für alle Professionen sind Erfahrung im Umgang mit geriatrischen Patienten mit neurologischen Erkrankungen, neurologische und neuropsychologische Grundkenntnisse und die Fähigkeit zur Kreativität, darüber hinaus ein rehabilitativer ganzheitlicher Ansatz, multidisziplinäre Teamerfahrung, Belastbarkeit und die gelebte Überzeugung, dass Erfolg für den Patienten nur durch gemeinsame Arbeit erreicht werden kann, und das 24 Stunden am Tag. Weitere Voraussetzungen sind in der Folge exemplarisch für die Berufsgruppen Arzt, Pfl flege, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden aufgelistet. Arzt Erkennen und Behandlung neurologisch relevanter, klinischer Veränderungen (Bewusstseinslage, Anfälle, vegetative Störungen, pathologische motorische Muster, psychopathologische Auffälligkeiten, etc.), Einschätzung des Rehabilitationspotenzials, Bestimmung des Grades der Belastbarkeit, Überwachung des Behandlungsablaufes, Fähigkeit der Koordination und Teamführung. Pfl flege Pfl flege ist Diagnose, Planung, Förderung und Übernahme von Tätigkeiten, die jemand zur Erhaltung seiner Gesundheit ausüben würde, wenn er dazu imstande wäre. Gerade in der Geriatrie sind die einzelnen Berufsgruppen inhaltlich wie auch organisatorisch eng miteinander verflochten. fl
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Pfl flege besteht nicht nur aus Versorgung und Übernahme von Handlungen. In jeder Pfl flege finden sich rehabilitative und therapeutische Ansätze, die das Ziel haben, Menschen wieder zu einem selbstständigen Leben zurückzuführen. Mehr als in anderen Bereichen hat die Pflege fl in der Geriatrie eine besonders eigenständige Position und ist in besonderem Maße in Entscheidungen mit einbezogen. Es gilt in jedem Fall, die Selbstständigkeit zu fl zu vermindern. Rehabilitative Pfl flege stellt erhöhen und den Pflegebedarf Defi fizite in der Selbstpfl flege fest und erkennt verbliebene Ressourcen und Potenziale. Pflege fl ist somit in der Geriatrie ein selbstständiger Arbeitsbereich, gleichberechtigt mit ärztlichen und therapeutischen Handlungen. Kenntnisse und Erfahrung in den verschiedenen Pflegekonzepten fl (basale Stimulation, Validation, Kinästhetik, reaktivierende Pfl flege, Pfl flege nach Bobath, palliative Pfl flegekonzepte), im Umgang mit sprach- und schluckgestörten Patienten, in einem adäquaten Kontinenzprogramm und Kenntnis prophylaktischer Maßnahmen zur Verhinderung der besonders bei Schlagfi sekundären Komplikationen (Dekubitus, Kontrakanfallpatienten häufigen turen, Aspirationspneumonien, Thromboembolien, Obstipation, depressive Verstimmungszustände, etc.) sind erforderlich. Physiotherapie Hier steht die krankengymnastische Behandlung auf Basis neurophysiologischer Grundlagen im Vordergrund. Zum Wiedererlernen von Fortbewegungs- und Hantierfunktionen wird in erster Linie das Bobath-Konzept eingesetzt. Die Grundlagen sind das Erreichen eines dynamisch stabilen Rumpfes als Sockel sowie Tonusregulation, das Bahnen von selektiven Bewegungen und Gleichgewichtstraining. Im facio-oralen Bereich finden neben dem Bobath-Konzept auch Therapiemethoden nach Brunkow oder Castillo-Morales Anwendung. Wieder steht das Zusammenspiel zwischen Körperhaltung, Kopfhaltung und Aktivitäten im Gesichts- und Mundbereich im Vordergrund. Sind die Voraussetzungen für eine gezielte Therapie nach Bobath noch nicht gegeben, wird man zunächst versuchen, mittels der Therapie nach Affolter und Elementen aus der basalen Stimulation die Wahrnehmungslage positiv zu beeinflussen fl und damit die Grundlage für die weiteren Therapieschritte zu legen. Darüber hinaus werden weitere wissenschaftlich anerkannte Behandlungskonzepte, wie PNF und Kinästhetik, zur Anwendung kommen (Van Keeken 2001). Ergotherapie Hier gilt es, sensomotorische, kognitive, soziale und emotionale Fähigkeiten zu trainieren. Anbahnung von Bewegungen und Verbesserung der Wahrnehmung, aber auch Training im Bereich der ATL-Fähigkeiten zur Erhöhung der Selbstständigkeit in den Bereichen der Selbsthilfe fordern Kenntnisse der Therapiekonzepte nach Affolter, basale Stimulation, Novobalance und natürlich auch nach Bobath. Im kognitiven Bereich werden Gedächtnis, Konzentration, Aufmerksamkeit und Handlungsplanung nach den Metho-
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den von Schweizer und Rigling therapiert. Darüber hinaus ist die Rolle der Ergotherapeuten, -innen im Rahmen der Abklärung und Adaption der Wohnungssituation und der adäquaten Hilfsmittelversorgung (Mobilitätshilfen, Sitzhilfen, Transferhilfen, Stehversorgung, Spezialbetten, Manipulationshilfen, Kommunikationshilfen, Autoanpassung, etc.), gemeinsam mit den anderen Therapierichtungen, besonders hervorzustreichen. Logopädie Hier stehen Diagnostik und Therapie von Sprach-, Sprech- und Schluckproblemen im Vordergrund. In der Aphasiebehandlung ist es die Erarbeitung von Einzellauten, die Übung der Spontansprache und die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeit. Methoden nach Lutz, Schwarz, Franke und neurolinguistische Konzepte nach Stark kommen hier zur Anwendung. Wichtig ist auch die Beratung evtl. Angehöriger im Umgang mit sprachlich beeinträchtigten Patienten. Im Rahmen der Behandlung dysarthrischer Störungen wird versucht, das orofaciale Bewegungsmuster mithilfe thermischer und sensibler Reize zu fazilitieren. Aktive Bewegungsübungen, Erarbeitung eines physiologischen Atemmusters und gezieltes Artikulationstraining sind ergänzende Maßnahmen. Bei älteren Schlaganfallpatienten ist das Unvermögen, ausreichend schlucken zu können, oft entscheidend für den weiteren Rehabilitationsverlauf. Hier finden fi die Stimulation des Schluckrefl flexes mit Eis nach Logeman, die Therapie des facio-oralen Traktes nach Coombes und die orofaciale Regulationstherapie nach Morales Anwendung. Aber auch Nahrungsanpassung und Optimierung der Haltung während der Nahrungsaufnahme gehören in den Bereich der logopädischen Betreuung. Neuropsychologie Im Rahmen der Neuropsychologie stehen einerseits diagnostische Maßnahmen zur Erfassung neuropsychologischer Defizite, fi aber auch Ressourcen (Kognition, Persönlichkeit, Verhalten, Selbstständigkeit) und darauf aufbauende Trainingsprogramme im Vordergrund. Die Neuropsychologie kooperiert eng mit den anderen Fachdisziplinen, um die einzelnen Maßnahmen aufeinander abzustimmen. Grundlage für eine gezielte Rehabilitation ist ein multiprofessionelles neurogeriatrisches Assessment, welches in Kooperation von Mitarbeitern, -innen aus den Bereichen Medizin, Pfl flege, Therapie, Neuropsychologie und Sozialarbeit durchgeführt wird. Darauf aufbauend erfolgt eine gezielte Therapieplanung und Therapie, die individuell auf den Betroffenen abgestimmt wird.
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9 Ziele in der geriatrischen Neurorehabilitation Fähigkeiten und Kenntnisse werden aber nur dann erfolgreich eingesetzt, wenn auch gemeinsame Ziele defi finiert sind. War das Ziel einer Rehabilitation früher in der Regel die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess, so geht es heute und besonders im Bereich der geriatrischen Neurorehabilitation um soziale Reintegration und um Erlangen eines möglichst „normalen Lebens“. Eine Restitutio ad integrum ist in der Regel nicht möglich. Es geht in erster Linie um eine Restitutio ad optimum, um das Trainieren von Restfunktionen, um das Lernen von kompensatorischen Leistungen, um Sekundärprävention, um Vermeidung von Verschlechterung, um Verlangsamung der Progression, um funktionsgünstige Gestaltung der persönlichen Umwelt und um Adaption an einem Endzustand unter Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln zur Verbesserung der Mobilität. Beispiel: Ein Mensch, dem es aufgrund einer Hemiplegie nicht mehr möglich ist, sein Essen selbst zu schneiden, kann wieder von fremder Hilfe unabhängig werden, wenn wir ihn im Umgang mit einem Einhänderbrett schulen. Die Entscheidung über anstehende Ziele ist in hohem Maße von der Wert- und Zielsetzung des Patienten und auch dessen Angehörigen abhängig. Der Patient strebt immer das als erstes an, was ihm am wichtigsten ist. In der Folge ergibt sich eine Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten. Hier sind oft erhebliche Interessenskonfl flikte vorhanden. Interessen des Patienten, des Angehörigen und des Teams gehen oft in verschiedene Richtungen. Sowohl ein Zuviel an Verbesserung als auch ein Zuwenig können Grundlage eines Konfl fliktes sein. Oft ist das Team aber auch Anwalt des Patienten gegenüber den Interessen Angehöriger oder anderer Institutionen. Rasch fi finden wir uns bei der Frage der Ziele im Bereich der Ethik, im Konfl fliktfeld zwischen dem, was ich tun soll, und dem, was ich nicht tun darf. Ziele können mehrere Bereiche umfassen: Q Somatische Ziele: Verminderung von Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen, Gewichtsverlust, etc. Q Funktionale Ziele: Verbesserung der Handfunktion, der Schluckfähigkeit, des Bewegungsumfanges. Q Psychische Ziele: Verminderung der Depressivität, Verbesserung der Aufmerksamkeit. Q Soziale Ziele: Verbesserung der Integration, Entlastung der Angehörigen. Q Edukative Ziele: Verbesserung der Information über die Erkrankung, Schulung, Risikoverminderung, usw. Bei der Zieldefi finition wird man auch stufenweise vorgehen. Es ist nicht sinnvoll, schon zu Beginn der Rehabilitation noch weit entfernte Ziele vorzugeben. Dies führt nicht selten nur zur Frustration bei Patient und Angehörigen. Im Vordergrund steht natürlich auch die Entscheidung, welche Ziele der Patient selbst erreichen möchte, und die Frage, welche Ziele überhaupt erreichbar sind, aufgrund der fachspezifischen fi Befunderhebung
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jedes einzelnen Mitglieds des Neurorehabilitations-Teams. Erst nachdem Ziele und Maßnahmen festgelegt sind, beginnt eine individuelle Karriereplanung des Patienten. Karriereplanung bedeutet, vorausschauend sich vorzustellen, in welcher Umgebung der Patient mit welchen Fähigkeiten leben wird. Es gilt in dieser Phase, die Frage der zukünftigen Platzierung dieses Menschen zu klären. Wenn eine Entlassung nach Hause realistisch erscheint, wird man rechtzeitig einen differentialdiagnostischen Ausgang (DDA) in die Wohnung des Patienten organisieren, gemeinsam mit Therapeuten, Pfl flege und Sozialarbeiter und evtl. Vertretern des zuständigen sozialen Stützpunktes. Notwendige Betreuungsmaßnahmen und Adaptierungen werden so rechtzeitig erfasst und in die Wege geleitet. Erscheint eine Entlassung nach Hause nicht realistisch, wird bald mit anderen Betreuungsinstitutionen Kontakt aufgenommen, um zu erfassen, an welchen Zielen gearbeitet werden muss, um dem Betroffenen hier ein Leben, z. B. in Wohngemeinschaften oder Pensionistenwohnhäusern, zu ermöglichen. Wo eine Wiedereingliederung in das „normale Leben“ nicht möglich ist, werden Fragen der Umfeld- und Lebensgestaltung in geriatrischen Langzeitinstitutionen zunehmend in den Vordergrund rücken. Die Grundhaltung und der Anspruch des Teams an sich selbst werden dadurch aber nicht beeinflusst. fl
10 Einbeziehung der Angehörigen Beim Thema geriatrische Neurorehabilitation muss auch der Bereich Angehörigeninformation, Beratung und Betreuung berücksichtigt werden. Oft bedeutet die plötzliche Abhängigkeit des Patienten von fremder Hilfe für die Angehörigen ein ebenso großes Problem. Änderung der bisherigen Lebensumstände und Gewohnheiten, Verlust einer engen Lebensgemeinschaft, Verlust von Nähe, Sorgen vor einer unsicheren Zukunft, möglicherweise auch finanzielle Einbußen sind nur eine unvollständige Auswahl der möglichen Konsequenzen. Es ist daher notwendig und unumgänglich, Angehörige von Beginn an in die Betreuung mit einzubeziehen und einen ständigen Dialog aufrechtzuerhalten. Dazu gehören ausführliche Informationen über die Struktur, Prozesse und die Möglichkeiten der Institution, Informationen über pfl flegerische und therapeutische Maßnahmen und über mögliche Ziele, aber auch Information, welche wichtige Rolle Angehörige für die Patienten gerade in Rehabilitationseinrichtungen haben. Kommunikation, Information und Wissensweitergabe sind die Grundlage für gegenseitiges Verstehen und Vertrauen, aber auch die Grundlage für aktive Mitarbeit. Dialog bedeutet aber auch, ein offenes Ohr für die Wünsche und evtl. Ängste der Angehörigen zu haben. Eine Informationsmappe, fi fixe Sprechstunden, eine Angehörigengruppe oder eine gezielte Angehörigenschulung können hier zusätzliche hilfreiche Einrichtungen sein. Durch strukturierte Miteinbeziehung in den Pfl flege- und Rehabilitationsprozess kann die teilweise vorhandene Hilfl flosigkeit und Überforderung der Angehörigen in positives Engagement umgewandelt werden – zu beiderseitigem Vorteil.
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11 Prozessgestaltung, Umsetzung und Koordination im multiprofessionellen Team Prozesshaftes Denken macht unser Handeln nachvollziehbar und evaluierbar. Dadurch kann eine gemeinsam defi finierte Qualität auf hohem Niveau sichergestellt werden (Vogel 2000; Purth 2002). Die Kernleistung eines Betreuungskonzeptes in der geriatrischen Neurorehabilitation ist die fl flexible Abstimmung und Koordination der einzelnen Prozesse und Leistungen im multiprofessionellen Team, das ständige aufeinander Abstimmen und Evaluieren mit dem Ziel, für den Patienten ein optimales Ergebnis zu erreichen. Grundvoraussetzung ist es, den Menschen nach seinen Fähigkeiten zu beurteilen und nicht nach seinen Defi fiziten. Hilfe zur Selbsthilfe so lange wie möglich, Flexibilität zwischen den Konzepten und Anerkennung der gegenseitigen Leistung im Team. Jeder Patient mit dem klinischen Bild eines Schlaganfalles hat eine potenzielle Remissionschance. Jeder Patient erreicht ein bestimmtes Remissionsstadium nach einem Schlaganfall. Es gilt, erreichte Fähigkeiten zu erhalten und die Effektivität durch Adaptionsleistungen (Coping) im täglichen Leben zu fördern. Nirgendwo in der Medizin ist die Notwendigkeit des gegenseitigen Verstehens und des gegenseitigen Beobachtens so wichtig wie im Bereich der geriatrischen Neurorehabilitation. Die Arbeitsweise im Team kann nicht ein Nebeneinander, sondern nur ein Miteinander sein. Um ein funktionierendes System sicherzustellen, ist es entscheidend, die notwendigen Prozessschritte zu definiefi ren, zu beschreiben und in eine Struktur einzubetten. Jede Handlung muss sinnhaft in ein multidisziplinär geprägtes Gesamtkonzept einzuordnen sein, eindeutig, klar und transparent für das gesamte Betreuungsteam, aber natürlich auch für den Patienten und evtl. Angehörige. Eingebettet in eine an den Bedürfnissen des Patienten orientierte Tagesstruktur, stellen die Beobachtungen und Wahrnehmungen des Teams die Indikatoren für die weitere Planung dar. Das Werkzeug der regelmäßigen interdisziplinären und multiprofessionellen Besprechung ist der Taktgeber. Vom Aufnahmeassessment bis zur evtl. Entlassung werden dort Regelkreise initiiert und in Gang gehalten. Nebenstehendes Flussdiagramm soll übersichtlich die notwendigen Schritte und Schnittstellen innerhalb der einzelnen beteiligten Berufsgruppen aufzeigen und die Komplexität der multiprofessionellen Zusammenarbeit zeigen. Obwohl nur die wesentlichsten Kernprozesse kurz dargestellt fl sind, werden doch die Vielfalt der einzelnen Schritte und die Verflechtung der daran beteiligten Personen deutlich. Rehabilitativ orientierte Geriatrie bietet die Chance zu neuen Strukturen im Gesundheitswesen. Hier ist der Patient das verbindende Element. Seine Bedürfnisse bestimmen die Prozesse der einzelnen Berufsgruppen und die Struktur der Institution – nicht umgekehrt. Wir sind gewohnt, in unseren Gesundheitsinstitutionen akute Erkrankungen zu behandeln. Hier liegen die Entscheidungen in der Regel in der Hand der einzelnen Professionen, richtigerweise auch dominiert durch den ärztlichen Bereich. Ganz anders in der geriatrischen Rehabilitation und akzentuiert noch im Bereich der
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geriatrischen Neurorehabilitation. Hier steht die Entscheidung des Teams im Vordergrund, und die wird ganz wesentlich durch nichtärztliche und nichtmedizinische Daten geprägt. Informationssammlung und Koordination bestimmen den ärztlichen Einfluss. fl Das Team ist hier mehr als die Summe der einzelnen Mitglieder. Es geht hier um „case management“, um tägliches Anpassen und Adaptieren, um ganzheitliches, fachübergreifendes Denken und gegen Einzelinteressen der verschiedenen Professionen. Die Therapieziele sind nicht immer eine „Heilung“ oder völlige „Wiederherstellung“, sondern werden von verschiedensten anderen, nicht nur medizinisch-therapeutischen Aspekten bestimmt. Oft steht die Lösung eines Teilproblems („case management“) vor der Gesamtlösung. Die Definition von Teilzielen ist sowohl für den Betroffenen als auch für das Team wesentlich.
12 Zusammenfassung und Ausblicke Die Implementierung einer geriatrischen Neurorehabilitation als sinnvolle Ergänzung zu bestehenden Rehabilitationseinrichtungen ermöglicht es, älteren Menschen mit einer neurologischen Erkrankung, insbesondere Schlaganfallpatienten, den Weg zurück in ein möglichst normales Leben mit größtmöglicher Sicherheit zu ebnen. Ein Ziel, das sie oft in bestehenden Rehabilitationseinrichtungen aufgrund der für ihre Bedürfnisse zu kurzen Aufenthaltsdauer nicht erreichen können. Jede Verbesserung an Selbstständigkeit bedeutet für den Betroffenen Lebensqualität und Unabhängigkeit. Wieder „zu Hause leben zu können“, wenn auch zumeist mit Hilfe, ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für den ihn begleitenden Lebenspartner das schönste Ziel, das auf einer geriatrischen Neurorehabilitationsstation erreicht werden kann. Der Themenkreis „geriatrische Neurorehabilitation“ wird in den nächsten Jahren durch die demografi fische Entwicklung der Bevölkerung sowie die Änderung der sozialen und gesellschaftlichen Strukturen ganz entscheidend an Bedeutung gewinnen. Es ist nicht sinnvoll und in keiner Weise ökonomisch, den Bereich der Akutbehandlung auszubauen, ohne auf den Bereich der Langzeitrehabilitation geriatrischer Patienten mit neurologischen Erkrankungen Rücksicht zu nehmen. Ziel muss es sein, für diese Patientengruppe ein umfassendes, bedarfsgerechtes, aber auch ressourcenschonendes Betreuungskonzept zu gewährleisten.
13 Danksagung Besonderer Dank gebührt dem Kernteam der Station für geriatrische Neurorehabilitation an der Neurologischen Abteilung im Geriatriezentrum am Wienerwald, namentlich Stationsärztin Dr. Cornelia Laussegger, Stationsschwester DGKS Elisabeth Purth, DGKS Margarethe Klug, Dipl.-PT Eva
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Müllauer, Dipl.-ET Andrea Ruhland und Dipl.-Logopädin Anna Miklau für die wertvolle inhaltliche Mitgestaltung dieses Artikels und für die engagierte Umsetzung der beschriebenen Konzepte in der täglichen Praxis.
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Rehabilitation Katharina Pils
Rehabilitation schließt alle Maßnahmen ein, die darauf abzielen, den Einfl fluss behindernder und benachteiligender Umstände zu verringern und Behinderte und Benachteiligte dazu zu befähigen, soziale Integration zu erreichen. Rehabilitation bezweckt nicht nur, behinderte Personen zu trainieren, sich an die Umgebung anzupassen, sondern auch ihre unmittelbare Umgebung zu verändern und in der Gesellschaft zu intervenieren, um die soziale Reintegration zu erreichen (Defi finition der WHO 1980). Rehabilitation ist ein komplexes Geschehen, welches körperliche, psychische, aber auch soziale und Umweltfaktoren mit berücksichtigt und durch ein multiprofessionelles Team (Medizin, Pflege, fl Therapie, Psychologie, Angehörige, etc.) erfolgt. Rehabilitation umfasst alle Maßnahmen, die es älteren Menschen wieder ermöglichen, etwa nach Verletzungen, Knochenbrüchen oder Operationen ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen.
1 Organdiagnose – Funktionsdiagnose Die Organdiagnose beschreibt das, was tatsächlich passiert ist, zum Beispiel einen Schenkelhalsbruch. Das Bein ist meist schmerzhaft und nach außen verdreht und wirkt verkürzt. Der Oberschenkelhalsbruch lässt sich im Röntgen nachweisen. Durch eine Operation kann der gebrochene Knochen wieder fixiert werden. Es werden entweder spezielle Schrauben verwendet, oder es wird bei schwer zu fixierenden fi Knochenbrüchen oder bei starken Abnützungserscheinungen im verletzten Gelenk ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt. Alle Implantate sind aus hochwertigen Metallen hergestellt. Sie verbleiben auch nach der endgültigen Knochenheilung im Körper. Die Funktionsdiagnose beschreibt das, was der Patient kann, selbstständig, mit Unterstützung von Hilfsmitteln oder mit Unterstützung von Personen. Nach einer Operation eines Schenkelhalsbruches fällt in den ersten Tagen das selbstständige Aufsetzen oder Aufstehen schwer. Mit Verbesserung des Kreislaufes und der Verringerung der akuten Schmerzen kehrt
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meist auch die Kraft wieder. Das Gehen ist zunächst nur mit einem Rollator, eventuell unterstützt von einer oder zwei Hilfspersonen, möglich. Wie diese Bewegung durchgeführt wird, welche und wieviel Unterstützung notwendig ist, wird in der Funktionsdiagnose erfasst. Dies ist deshalb wichtig, damit an dem individuellen Problem gearbeitet werden kann. Letztlich wird die Rehabilitation nicht nur von der Organdiagnose (dem Knochenbruch), sondern vor allem durch die persönlichen Fähigkeiten und die Fähigkeiten vor dem Unfall beeinflusst. fl Deshalb ist auch die persönliche Geschichte und die Kenntnis von Hobbies und Interessen entscheidend. Um sicher zu sein, ob ein Patient wieder zu Hause zurechtkommen wird, ist es wichtig, mehr über sein Umfeld zu wissen – wer mit ihm wohnt, oder ob er alleine lebt, ob er gekocht hat, oder ob jemand bereits vor dem Unfall für ihn gesorgt hat. Es ist wichtig, ob er noch täglich auf der Straße war und wieviel Stufen er steigen muss, um hinaus zu gelangen. Diese Informationen werden im Rahmen des geriatrischen Assessments erhoben und fließen ebenfalls in die Rehabilitationsdiagnosen ein. Aus der Vielzahl der Daten kann das Rehabilitationsteam gemeinsam mit dem Patienten ein klares Bild von jenen Dingen entwickeln, die wieder erlernt werden müssen und können, und von jenen, die zwar verloren gegangen sind, aber durch Hilfsmittel ersetzt werden können. Aus der Tatsache, dass manchmal auch bleibende Schäden bestehen, da nicht immer alle Funktionen wieder erlangt werden können, ist es wichtig, nicht nur den Patienten selbst, sondern auch die Angehörigen in den Rehabilitationsprozess einzubeziehen.
2 Das Rehabilitationsziel und der Therapieplan Nach der Erstellung der Funktionsdiagnose wird der Therapieplan erstellt. Es werden mit dem Patienten, eventuell auch mit seinen Angehörigen, seine Erwartungen besprochen. Das heißt, was der Patient bei seiner Entlassung nach Hause wieder können möchte, wofür er Unterstützung hatte und wieder haben möchte. Es wird auch besprochen, ob es bereits vor der Erkrankung Probleme in der Wohnung gegeben hat und ob diese inzwischen behoben werden konnten. Aus den Fähigkeiten einerseits und den Erwartungen andererseits werden Rehabilitationsziele formuliert. Damit dieses Ziel nicht zu schwer zu erreichen scheint, wird es in mehrere kleine Schritte unterteilt. Im Rahmen der wöchentlichen Teambesprechung wird überprüft, ob die kleinen Ziele erreicht wurden. Wenn dies nicht möglich war, werden die Befunde noch einmal besprochen, eventuell der Therapieplan verändert oder weitere notwendige Untersuchungen durchgeführt. Wenn zum Beispiel ein Patient das Gehen nur mühsam wieder erlernt, weil er weniger belastbar ist, sollte das Herz genau untersucht werden. Durch die Verordnung entsprechender Medikamente kann die Belastbarkeit wieder gesteigert werden. Gleichzeitig wird auch das Tempo der Mo-
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bilisation zurückgenommen. Manche Therapien, die zusätzlich belastend sind, werden pausiert. Rehabilitation ist somit ein kontinuierlicher Prozess, der immer wieder an die aktuellen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden muss. Die Ziele können sich daher auch während des Rehabilitationsaufenthaltes verändern.
3 Das Rehabilitationsteam Die Ärzte Je nach dem ursprünglichen Problem sind unterschiedliche Fachärzte federführend in der Rehabilitation. Da jedoch gerade ältere Menschen unter vielfältigen Erkrankungen und altersabhängigen Veränderungen leiden, sind meist mehrere Fachärzte in dem Team vertreten. Der Internist klärt die internen Erkrankungen ab und verbessert das Wohlbefi finden und die Belastbarkeit des Patienten während der Rehabilitation. Vor allem Herz- und Kreislauferkrankungen können die Belastbarkeit bei der Therapie verringern. Aber auch Stoffwechselerkrankungen, wie Diabetes Mellitus (Zuckerkrankheit), oder Veränderungen der Schilddrüsenfunktion können durch einen Unfall und die folgende Belastung des Patienten verändert werden. Eine neuerliche Einstellung der Medikamente muss sorgsam durchgeführt werden. Ist, wie nach einem Schenkelhalsbruch, eine Operation notwendig gewesen, kann es deutlich länger dauern, bis der Patient sich wieder so belastbar wie früher fühlt. Manchmal treten nach der Operation für kurze Zeit Verwirrtheitszustände auf. Diese erschrecken meist nicht nur die Betroffenen, sondern vor allem die Angehörigen. Durch den Schock der Verletzung, durch die zunächst geringe Flüssigkeitszufuhr, durch den Blutverlust durch die Verletzung und durch die Operation kann das labile Gleichgewicht eines älteren Körpers gestört werden. Medikamente, die für die Narkose verwendet werden müssen, können diesen Zustand noch verschlechtern. Psychiater und Internist stellen gemeinsam eine genaue Diagnose. Aufgrund dieser Diagnose kann das labile Gleichgewicht der Gefüge der Befunde wiederhergestellt werden. Manchmal sind interne Erkrankungen oder einfach zu geringe Flüssigkeitszufuhr Ursache für die Verwirrtheitszustände. Begleitet durch Therapeuten und Psychologen bessert sich die Desorientiertheit wieder. Manchmal brauchen alle Beteiligten aber viel Geduld. In solchen Situationen ist es wichtig, dass die Angehörigen des Patienten immer wieder einen Bezug zum Alltag herstellen und vielleicht verschobene Bilder der Zeit wieder in die Gegenwart zurückholen. Je mehr das therapeutische Team über die Geschichte des Patienten weiß, umso leichter ist es, die nötige Hilfe zu geben. Es wäre zu wenig, dem Patienten nur zu sagen, dass das Erzählte falsch ist. Der Patient muss behutsam wieder in die Realität zurückgeführt wer-
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den. Verschiedene Techniken, wie zum Beispiel die Validation, können unterstützend eingesetzt werden. Durch die Verletzung oder Erkrankung können Angst und Depression ausgelöst werden. Zunächst hat der Patient Angst vor der akuten Situation und vor dem Tod, später davor, nicht mehr in der häuslichen Situation zurechtzukommen. Manchmal brechen in solchen kritischen Situationen langjährige Familienkonflikte fl auf. Die Schwäche des „Alten“ lässt die lang aufgestaute Aggression hervorbrechen. Plötzlich sind Angehörige nicht mehr bereit, den Vater, die Großmutter zu Hause zu betreuen. In dieser komplexen Situation müssen organische Diagnosen von Reaktionen auf äußerliche Probleme differenziert werden. Psychologen unterstützen die Diagnostik durch gezielte Tests. Dies ist umso wichtiger, als Demenz und Depression manchmal ähnliche Symptome zeigen können. Schwer depressive Menschen, die keinen Anteil an ihrer Umgebung nehmen, können dement wirken. In Krisensituationen können psychologisch gestützte oder psychotherapeutische Gespräche den Patienten dabei unterstützen, seinen Weg wieder zu sehen und Lebensfreude zu entwickeln. Bei schweren Depressionen kann eine medikamentöse Behandlung nach psychiatrischer Begutachtung notwendig sein. Vor allem nach Schlaganfall, aber auch nach vorbestehenden neurologischen Ausfällen, ist die genaue Abklärung der Störungen durch einen Neurologen wichtig. Die Differenzierung von komplexen neurologischen Erkrankungen, wie M. Parkinson, Gefäßveränderungen mit kleinen Veränderungen im Gehirn und vielfältigen Funktionsausfällen von Veränderungen der Wirbelsäule mit wechselnden Störungen an den Beinen (Vertebrostenose, Discusprolaps, …), Polyneuropathien oder peripheren Gefäßveränderungen kann schwierig sein. Weitere Untersuchungen, wie Magnetresonanz, Computertomografi fie oder elektrophysiologische Untersuchungen, können unterstützend angeordnet werden. Der Facharzt für physikalische Medizin erstellt Funktionsdiagnosen und entwickelt auf dieser Basis multiprofessionelle therapeutische Konzepte. Die Organdiagnose (der Schaden), die Funktionsdiagnose (die Aktivitäten) und die sozialen Aktivitäten (die Partizipation) beeinflussen fl nach der „International Classifi fication of Function“ die Rehabilitationsfähigkeit des Patienten. Das heißt, die Rehabilitationsfähigkeit des Patienten spiegelt seine individuellen Fähigkeiten wider, das Rehabilitationspotenzial bezieht die therapeutischen Ressourcen einer Abteilung in die Prognose ein. Durch diese differenzierten Überlegungen kann auch die passende Abteilung für finiert werden. Manchmal ist aufgrund dieser Überleeinen Patienten defi gungen eine Transferierung in eine andere Rehabilitationseinrichtung notwendig. Der Nahtstelle zwischen den einzelnen Einrichtungen, aber auch bei der Entlassung nach Hause sollten die Parameter des Assessments, erhoben bei Aufnahme und Entlassung, weitergegeben werden, um den Erfolg zu dokumentieren und die weiteren Schritte besser planen zu können. Da von diesen Fachärzten nicht alle Fragen geklärt werden können, stehen ihnen meistens noch weitere Experten zur Seite: Urologen, Gynä-
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kologen, Chirurgen, Psychiater, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, Augenärzte, Orthopäden oder Unfallchirurgen, aber auch Zahnärzte.
Gesundheits- und Krankenpfl flege Im Rahmen der Rehabilitation spielt die Pflege fl eine wesentliche Rolle. Zunächst bedürfen die Patienten viel Unterstützung bei den Alltagsaktivitäten. Mit zunehmendem Therapieerfolg wird der Pfl flegebedarf geringer, und die in der Therapie erworbenen Fähigkeiten sollen in den Alltag integflege unterstützt den Patienten bei diesem riert werden. Die aktivierende Pfl oft mühsamen Weg. Es wird so wenig Hilfe wie möglich, aber so viel Hilfe wie nötig angeboten. Da sich die Befi findlichkeit und die Eigeninitiative von Tag zu Tag ändern kann, bedarf dieser Prozess vieler Sensibilität und eines regen Austauschs mit den übrigen Teammitgliedern. Wird in der Pfl flege die Grenze des Patienten ausgereizt, kann der Patient zu erschöpft für die Therapie sein. Gleichzeitig muss die Pflege fl aber auch die medizinischen Einschränkungen kennen und den Patienten bei deren Einhaltung unterstützen. Zum Beispiel soll nach einer Hüftgelenksersatzoperation das operierte Gelenk für zumindest 6 Wochen nicht über den rechten Winkel gebeugt und vor allem nicht gleichzeitig gedreht werden. Durch eine solche Bewegung, wie sie beim Strümpfeanziehen durchgeführt wird, könnte der neue Hüftgelenkskopf aus der Pfanne gleiten (luxieren). Dies ist nicht nur sehr schmerzhaft, sondern beeinträchtigt die weitere Mobilisation wesentlich. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Erhalt oder die Wiedererlangung der Harnkontinenz. Vor allem dann, wenn vor der akuten Erkrankung die Frau schon unter unfreiwilligem Harnverlust gelitten hat, besteht ein hohes Risiko, die Inkontinenz im Spital zu verstärken. Für manche Operationen muss ein Harnkatheter gelegt werden. Das heißt, der Harn wird durch einen Gummischlauch direkt aus der Blase über den Harnleiter abgeleitet. Die Kontrolle über den Harnabgang fehlt. Wird dieser Schlauch wieder entfernt, funktioniert der Schließmuskel nicht immer sofort wieder. Es kann einige Tage dauern, bis die Reizung der Blase und der Harnröhre abgenommen hat und sich die normale Funktion wieder eingestellt hat. Durch „Kontinenztraining“ kann der Patient auf diesem Weg unterstützt werden. Es werden feste Zeiten zwischen Pflege fl und Patient vereinbart, zu welchen die Blase entleert wird. Die Harnmenge wird aufgeschrieben. Nach und nach, wenn die Zeitspanne gut toleriert wird und der Harn gehalten werden kann, wird diese Zeitspanne verlängert. Schließlich entspricht sie den Gewohnheiten des Patienten wieder. Sollte beim Harnlassen Brennen oder Schmerzen bestehen, muss eine Infektion ausgeschlossen werden. Dies passiert durch eine Analyse des Harnes. Finden sich Keime, handelt es sich um einen Harnwegsinfekt, der mit Medikamenten behandelt wird. Bei komplexeren Fragen wird der Urologe oder der Gynäkologe beigezogen.
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Kann sich der Patient nach Operationen oder aufgrund der Erkrankung nicht selbstständig bewegen, unterstützt ihn die Pfl flege durch Lagerung. Die Lagerung muss mehrfach am Tag verändert werden, um das Wundliegen zu verhindern. Die 45-gradige Lagerung bietet den empfindlichen fi Körperstellen (Rollhöcker an der Seite des Oberschenkelknochens, über dem Kreuzbein oder den Fersen) zwar die beste Entlastung, ist aber für den Patienten nicht immer angenehm, zum Beispiel wird das Trinken unmöglich. Durch die Lagerung nach Bobath können überschießende Muskelaktionen (Spasmen) verhindert und das Gefühl für Symmetrie nach einem Schlaganfall wieder verbessert werden. Manchmal werden von Patienten scheinbar entlastende Positionen, wie mit einer Rolle unter dem Knie, bevorzugt. Diese müssen aber nach einiger Zeit wieder aufgelöst werden, um Gelenksversteifungen (Kontrakturen) zu verhindern. Vor allem Knie- und Hüftgelenke reagieren rasch auf solche Fehllagerungen. Wenn diese Gelenke nicht mehr völlig gestreckt werden können, wird das Gehen schwieriger. Die aufrechte Körperhaltung kann kaum mehr eingenommen werden. Das Kopflot fl fällt vor der Körperschwerachse ein, und das Sturzrisiko steigt.
Physiotherapie Die Physiotherapie umfasst die Bewegungstherapie, die oft noch unter dem Begriff der Heilgymnastik bekannt ist, den Einsatz von speziellen mechanischen Geräten (Medikomechanik) sowie besondere Formen der Massage. Physiotherapie wird von diplomierten Physiotherapeuten durchgeführt. Bewegungstherapie kann nach verschiedenen Konzepten durchgeführt werden. Je nachdem, welche Grunderkrankung und welche Funktionsdefifi zite bestehen und wie belastbar der Patient ist, wählt der Therapeut die geeignete Therapieform aus. Für Patienten mit neurologischen Problemen, wie zum Beispiel nach einem Schlaganfall, werden eher komplexe, so genannte „neurophysiologische“ Konzepte angewandt. Die bekanntesten sind die Bobath-Therapie und PNF (propriozeptive neuromuskuläre Facilitation). Im Rahmen der Bobath-Therapie unterstützt der Therapeut den Patienten dabei, seine Mitte wieder zu finden und die Symmetrie zwischen beiden Körperhälften wiederherzustellen. Eine stabile Körpermitte, eine gute Rumpfkontrolle, ist Voraussetzung für eine sichere Bewegung von Armen und Beinen. Um die verlorene Funktion einer Körperhälfte wieder zu erarbeiten, wird der betroffene Arm, das betroffene Bein bewusst in die Therapie einbezogen. Die gesunde Extremität führt die betroffene. Dies ist auch deshalb wichtig, weil manchmal die gelähmte Seite nicht wahrgenommen wird. Diese Störung wird als Neglect bezeichnet. Besteht ein Neglect, muss der Patient erst wieder lernen, die zweite Körperhälfte zu spüren, zu sehen und erst viel später auch in den Handlungsplan einzubeziehen. Da durch die gestörte Wahrnehmung einer Körperhälfte normale Schmerz- und Schutzreaktionen fehlen, muss der Betroffene lernen, auf diese Körperhälfte besonders zu achten. Wenn der
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Schmerzreiz fehlt, kann zum Beispiel der gelähmte Arm in die Speichen des Rollstuhles geraten und verletzt werden. Falls die gelähmte Extremität zu lange unbewegt nach unten hängt, kann es zu Schwellungen – zu einem Lymphödem – kommen. Daher ist auf eine gute Lagerung zu achten. Bei Schwellungen des Beines können Kompressionsstrümpfe nach Maß hilfreich sein. Da es nach einem Schlaganfall zu ungewollten überschießenden, manchmal schmerzhaften Muskelspannungen (Spasmen) kommen kann, wird der Patient so gelagert, dass diese Spasmen unterdrückt werden. Im Laufe der Therapie lernen nicht nur die Angehörigen, sondern auch der Patient, dies selbst zu tun und somit auch Ruhepausen für die Genesung zu nutzen. Weitere Probleme des Schlaganfalles werden in dem entsprechenden Kapitel besprochen. Die Bewegungstherapie bei Störungen im Bereich der Gelenke und der Wirbelsäule versucht, eher die Kraft und die Ausdauer, das Bewegungsausmaß und die Koordination einzelner Bewegungen sowie das Gleichgewichtsgefühl und die Geschicklichkeit zu verbessern (Abb. 1). Auch hier
Abb. 1. Bewegungstherapie zur Prävention von Stürzen
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gibt es zahlreiche Konzepte, aus denen der Physiotherapeut das Geeignete auswählt. Die Beweglichkeit der Gelenke kann durch direkten Druck auf das Gelenk oder durch Dehnung der Gelenkskapsel und des Bindegewebes verbessert werden. Kurz nach Operationen oder Verletzungen und nach akuten Entzündungen kann diese Behandlung durch Kälteanwendungen unterstützt werden. Da das betroffene Gelenk meist überwärmt ist, sollte die Kälteanwendung 20 bis 30 Minuten dauern. Je nach Art der Kälteanwendung ist darauf zu achten, dass die Haut vor Erfrierungen geschützt wird. Dies ist umso wichtiger, als Kälte auch die Schmerzwahrnehmung beeinträchtigt und Schäden der Haut zu spät bemerkt werden. Wird ein „Cool-pack“, eine Kältepackung aus dem Tiefkühlfach, verwendet, muss ein Tuch zwischen Packung und Haut liegen. Bei Bewegungseinschränkungen, die durch Abnützungen entstanden sind, die schon länger bestehen, und wenn das Gelenk nicht erwärmt ist, kann Wärme zur Verbesserung der Dehnbarkeit des Bindegewebes und zur Schmerzreduktion eingesetzt werden. Die Art der Wärmebehandlung ist von vielen Faktoren abhängig und sollte sorgsam vom Facharzt ausgewählt werden. Die Verbesserung der Gelenksbeweglichkeit kann durch die Lagerung in den Ruhepausen unterstützt werden. Vor allem das Knie- und das Hüftgelenk können durch eine Rolle unter dem Kniegelenk die völlige Streckung verlieren. Wenn eines dieser Gelenke nicht ganz gestreckt werden kann, verändert sich die Standphase, die Sicherheit und vor allem das Gangbild. Die benachbarten Gelenke, manchmal auch die Wirbelsäule, werden in Mitleidenschaft gezogen. Daher ist es wichtig, auch in Ruhe die Gelenke soweit wie möglich zu strecken. Wenn dies schmerzhaft sein sollte, können Pausen der entspannten Lagerung eingelegt werden. Dennoch darf der entspannten, der Fehlstellung nachgebenden Lagerung nicht uneingeschränkt nachgegeben werden. Im Rahmen der Physiotherapie können auch Geräte zur Verbesserung des Bewegungsausmaßes eingesetzt werden. Dazu dienen vor allem Motorschienen, die zumeist in einer Achse langsam geführte Bewegungen durchführen. Der Patient legt das Bein entspannt auf die Schienen. Es wird locker mit Gurten fi fixiert. Das Bewegungsausmaß wird vom Therapeuten eingestellt und richtet sich nach der in der Therapie erreichten Beweglichkeit. Diese Behandlung wird langsam gesteigert und kann längere Zeit bis zu Stunden durchgeführt werden. Der Patient kann sie aber jederzeit durch einen Sicherheitsknopf unterbrechen. Solche Schienen werden seltener für Ellbogen und Schultergelenke verwendet. Im Rahmen der Bewegungstherapie wird vor allem das Zusammenspiel einzelner Muskelgruppen, die Koordination, verbessert. Die Kraft und die Ausdauer nehmen zu. Nach und nach werden die in der Therapie erzielten Fortschritte in den Alltag integriert und in alltägliche Tätigkeiten umgesetzt. Zur Verbesserung von Kraft und Ausdauer können neben gezielten Übungen auch Geräte eingesetzt werden. Dazu zählen das Therraband (ein elastisches Band mit fixem Widerstand), Hanteln, Zugapparate und Kraftmaschinen. Der Therapeut sollte die geeigneten Übungen an den Geräten und vor allem den Widerstand und die Wiederholungen festlegen. Zunächst
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wird die Zahl der Wiederholungen, dann der Widerstand oder das Gewicht gesteigert. Es muss darauf geachtet werden, dass Ausweichbewegungen vermieden werden. Sie sind meist ein Zeichen dafür, dass die Übung ungeeignet oder noch zu schwer ist. Alter ist kein Hindernis für Kraftmaschinen. Zur Verbesserung des Gleichgewichtes kann der Therapeut auch mit „labilen Geräten“ arbeiten. Diese bewegen sich auch selbst, wie der große Ball (Pezziball) oder das Schaukelbrett. Dieses fördert die Koordination und stellt eine Vorbereitung auf den Alltag dar, wo den Patienten nicht nur ebene Flächen und Stabilität erwarten. Es wird auch an komplexen Bewegungsabläufen gearbeitet. Das Wiedererlernen des sicheren und selbstständigen Gehens zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Rehabilitation. Zunächst wird am sicheren Aufstehen und Niedersetzen gearbeitet. Ein fi Problem älterer Menschen ist der Sturz und seine Folgen. Als häufiges häufige fi Sturzursache ist eine Unsicherheit bei jenen einfachen Handlungen oder ein schlechtes Gangbild zu beobachten. Beim Aufstehen ist auf einen stabilen Stuhl mit ausreichend breiten und dennoch harten Armlehnen zu achten. Vor dem Stuhl muss ausreichend Platz sein. Der Kopf wird nach vor geneigt, das bessere Bein wird leicht zurückgestellt, die Arme stützen sich an den Armlehnen auf, das Gesäß wird gehoben, und schließlich werden die Knie- und Hüftgelenke gestreckt, der Körper wird aufgerichtet. Falls der Patient Schwierigkeiten beim Aufstehen hat, wird dieser Ablauf in viele kleine Schritte zerlegt und dort, wo es Schwierigkeiten gibt, trainiert. Beim Niedersetzen muss der Patient vor allem lernen, darauf zu achten, dass der Stuhl tatsächlich hinter ihm steht und die Sesselkante in der Kniekehle zu spüren ist. Das Niedersetzen sollte ebenfalls eine langsam geführte Bewegung und nicht ein „Niederplumpsen“ sein. Am Beginn des Wieder-gehen-Lernens, kann der Therapeut ein Gehhilfsmittel zur Unterstützung einsetzen. Je schwerer das Gehen fällt, umso stabiler wird das Hilfsmittel sein. Der Gehbock besteht aus einem Metallgestänge, das den Patienten auf drei Seiten umgibt und auf welchem er sich aufstützen kann. Die Griffhöhe wird an die Größe des Patienten angepasst und sollte der Handgelenksfalte entsprechen. Um zu gehen, muss der Patient den Gehbock kurz anheben und ihn nach vor stellen. Dies erfordert eine gute Rumpfkontrolle, andererseits kann er dann beim Vorstellen des Beines viel Gewicht auf die Arme abgeben. Ist die Rumpfstabilität, die Körperkontrolle, besser, können auch Rollatoren eingesetzt werden. Der Patient schiebt den Rollator beim Gehen nach vor und kann sich beim Vorsetzen des Beines abstützen. Dies erlaubt ein flüssigeres Gehen als mit dem Gehgestell. fl Es gibt verschiedene Formen von Rollatoren. Allen gemeinsam ist, dass sie 2 Räder vorn und 2 Stoppel hinten haben und ähnlich dem Gehbock Unterstützung beim Gehen bieten. Durch die Räder muss der Rollator beim Gehen nur hinten etwas angehoben werden. Manche Rollatoren haben
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starre, manche schwenkbare Räder. Die starren Räder erleichtern das Steuern, die schwenkbaren erlauben einen kleineren Wendekreis und sind daher für enge Wohnungen besser geeignet. Das Rollmobil und der Gehbock mit Rädern haben vier Räder. Sie lassen sich leicht führen und steuern, allerdings schlecht bremsen. Das Rollmobil verfügt über eine Handbremse. Diese ist allerdings relativ schwierig zu betätigen. Im Rahmen der Therapie wird das geeignete Hilfsmittel ausgewählt. Mit Verbesserung der Kraft, Koordination und Ausdauer kann es durch ein anderes ersetzt oder ganz weggelassen werden. Bei guter Rumpfkontrolle und einem guten Körperbewusstsein können Krücken zur Unterstützung oder zur Entlastung eines operierten Beines eingesetzt werden. Die Höheneinstellung erfolgt ebenfalls über die Angleichung der Griffhöhe an die Handgelenksfalte. Krücken unterstützen den symmetrischen Gang, das gleichmäßige Belasten beider Arme. Je nachdem, wie sehr das operierte Bein entlastet werden soll, werden unterschiedliche Gangmuster gelehrt. Ist eine größere Entlastung gewünscht, werden zwei Krücken mit dem operierten Bein vorgestellt, ist nur eine mäßige Entlastung erforderlich, werden Arme und Beine in der Diagonale bewegt, das heißt, das rechte Bein gemeinsam mit der linken Krücke und umgekehrt. Dies ist bereits die Vorbereitung zum Gehen mit einem Stock. Der Gehstock kann mehrere Funktionen haben. Er kann zur Entlastung eines operierten Beines in der gegenüberliegenden Hand getragen werden. Er kann aber auch gangunsicheren Menschen Sicherheit symbolisieren oder anderen Passanten die Unsicherheit signalisieren. Auf jeden Fall ist es auch wichtig, die Höhe richtig einzustellen und den sicheren Einsatz zu üben. Der Vier-Punkt-Stock hat durch vier kleine Füße eine breitere Aufstellfläche und bietet somit mehr Stabilität. Er wird vor allem nach einem fl Schlaganfall verwendet oder wenn ein Arm nicht belastbar ist, aber mehr Unterstützung als durch einen einfachen Gehstock benötigt wird. Da er aber breiter ist, weiter nach außen ausladet, besteht das Risiko, hängen zu bleiben. Patienten, die einen Vier-Punkt-Stock verwenden, müssen in der Lage sein, das Terrain zu kontrollieren. Vor der Entlassung von der Rehabilitation muss entschieden werden, ob der Patient auch weiterhin einen Gehbehelf benötigen wird und, wenn ja, welchen. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, zwei verschiedene Gehhilfsmittel zu verordnen, da es Schwankungen zwischen Tag und Nacht geben kann. Die Wahl des Gehbehelfes richtet sich nach den Fähigkeiten des Patienten, das heißt, wie viel Unterstützung er beim Gehen benötigt. Es muss aber auch bedacht werden, ob das gewählte Gerät in der Wohnung eingesetzt werden kann (Türbreite, Bodenstaffeln, Bodenbelag, …) und ob es nur für die Wohnung oder auch auf der Straße verwendet werden soll. Deshalb sollte diese Wahl noch während der Rehabilitation erfolgen, die Höhe auf den Patienten eingestellt werden und das ausgewählte Gerät bei der Entlassung mitgegeben werden.
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Ergotherapie Im Rahmen der Ergotherapie werden Alltagsfunktionen überprüft und nötigenfalls trainiert. Anders als in der Physiotherapie setzt der Ergotherapeut eher alltagsrelevante Tätigkeiten, verschiedene Materialien, handwerkliche Techniken und Spiele zu therapeutischen Zwecken ein. Es kann zum Beispiel die Geschicklichkeit durch Knüpfen oder Weben gefördert werden. Mit Verbesserung der Geschicklichkeit kann ein feineres Material gewählt werden. Durch das fertiggestellte Werkstück hat der Patient ein Erfolgserlebnis. Er konnte kreativ sein und eigenständig wieder etwas herstellen. Diese Therapieformen werden durch komplexe Therapiekonzepte wie Bobath, Perfetti oder Cyriax unterstützt. Falls aufgrund der Funktionsdiagnose oder wegen vorübergehender Beschränkungen gewisser Bewegungen das selbstständige Waschen, Ankleiden und die Körperhygiene nicht möglich sind, kann der Ergotherapeut bei der Auswahl von Hilfsmitteln beraten und in Einzelfällen diese sogar anfertigen. Dazu zählen zum Beispiel Griffverlängerungen an Bürsten, Kämmen oder Schwämmen, falls die Schulter- oder Hüftgelenke das Erreichen des Kopfes oder der Füße unmöglich machen. Knöpfelhilfen, Strumpfanzieher, Ausziehstäbchen, elastische Schuhbänder, lange Schuhlöffel und Greifzangen erleichtern das Ankleiden. Im Badezimmer und auf der Toilette erleichtern Griffe das Aufstehen und bieten Sicherheit. Der Ergotherapeut weiß, wo sie am besten angebracht werden. Wenn das Aufstehen schwierig ist, kann eine Toilettesitzerhöhung Erleichterung schaffen. Nach einer Gelenksersatzoperation bietet die Toilettesitzerhöhung Schutz vor einer zu tiefen Hocke und somit Schutz vor einem Herausgleiten (Luxation) des Hüftgelenkskopfes. Für die Badewanne bieten Badewannenbretter, Badewannendrehsessel oder Badewannenlifter Hilfe. In der Dusche bieten Griffe sowie ein Duschhocker Sicherheit. Die Duschtüre darf nicht nach innen geöffnet werden, da im Falle eines Sturzes nur schwer Hilfe geleistet werden könnte. In der übrigen Wohnung ist auf ausreichende Beleuchtung, stabile Möbel, ausreichende Gangbreiten und ebenen Boden zu achten. Türstaffeln, rutschende Teppiche und frei liegende Kabel sollten entfernt werden. In allen Nassbereichen ist auf einen rutschsicheren Boden zu achten. Falls es infolge eines Schlaganfalles oder durch eine Verletzung zum kompletten Ausfall einer oberen Extremität gekommen ist, kann im Rahmen der Ergotherapie ein Einhändertraining durchgeführt werden. Der Patient lernt, alle alltagsrelevanten Tätigkeiten mit einer Hand durchzuführen oder durch den Einsatz von Hilfsmitteln (Einhänderbrett, rutschfeste Unterlage, …) die Haltefunktion einer Hand zu ersetzen. Die Änderung von Bewegungsabfolgen kann die Selbstständigkeit fördern, wie zum Beispiel die gelähmte Hand beim Anziehen zuerst zu bekleiden und erst anschließend den gesunden Arm einzusetzen. Nach einem Schlaganfall kann es zu räumlich konstruktiven Störungen kommen. Das heißt, der Patient kann sich nicht mehr im dreidimensionalen
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Raum orientieren oder kann den zur Verfügung stehenden Raum nicht ausnützen. Dies kann durch eine gestörte Wahrnehmung (Neglect) verstärkt werden. Durch komplexe Trainingsprogramme wird die Wahrnehmung des Raumes wieder gefördert. Im Rahmen der Ergotherapie können auch Schienen aus thermoplastischen Materialien, Leder, Gips oder Metall hergestellt werden. Statische Schienen werden vor allem zur Unterstützung von verloren gegangenen Funktionen oder zur Gelenksentlastung verwendet. Lagerungsschienen werden an die Hand individuell angepasst und bieten vor allem bei entzündlichen Prozessen, aber auch bei Lähmungen Unterstützung und somit Schutz vor weiteren Verletzungen oder unachtsamen Bewegungen. Diese Schienen werden vor allem in der Nacht getragen, wenn der Patient seine Hand nicht aktiv kontrollieren kann. Falls es durch ein Karpaltunnelsyndrom zu Gefühlsstörungen und somit Schmerzen in der Hand kommt, kann durch eine leichte Überstreckung im Handgelenk (5–10 Grad) eine deutliche Entlastung des N. medianus erzielt werden. Die Cock-up-Schiene wird ebenfalls vor allem in der Nacht getragen. Die Lederhandgelenksmanschette unterstützt das Handgelenk bei der Arbeit während des Tages. Nach Radiusbrüchen ist das Handgelenk meist längere Zeit schmerzhaft eingeschränkt. Durch die Unterstützung werden nicht nur die körpereigenen Schutzmechanismen aktiviert, sondern die zirkulären Gurte geben auch einen äußerlichen Halt. Dynamische Schienen erlauben gezieltes Training von Gelenksbeweglichkeit durch gelenkübergreifende Dreipunktkonstruktionen oder elastische Züge. Die Muskelkraft kann durch Widerstandsquengel trainiert werden. Logopädie Die Logopädie bietet Diagnostik und Therapie von Störungen der Kommunikation, sei es durch Gehör, Sprachverständnis, Sprachentwicklung oder non-verbale Kommunikation. Gemeinsam mit dem Facharzt für HNO erfolgt die Abklärung der Schwerhörigkeit und die Verordnung von Hörgeräten. Da diese sehr klein sind, die Hände älterer Menschen aber weniger geschickt sind, lehrt die Logopädin den richtigen Einsatz des Gerätes und die Steuerung, die die Hörfunktion verbessert, aber die Irritation durch Nebengeräusche möglichst gering hält. Vor allem nach einem Schlaganfall, aber auch bei anderen zentralneurologischen Erkrankungen kann das Sprachverständnis gestört sein. Diese Störungen können auf verschiedenen Ebenen der Sprache einsetzen. Die genaue Diagnostik ist Basis für eine gezielte Förderung des Sprachverständnisses und des Wiedererlernens der Kommunikation. Ist eine expressive Sprache nicht mehr zu erlernen, wird die non-verbale Kommunikation gefördert. Einfache Laute oder Gesten erleichtern den Austausch mit der Umgebung. Bei erhaltenem Wortverständnis kann auch auf die Schrift oder auf Bildkarten ausgewichen werden.
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In höherem Lebensalter, vor allem bei isolierten Menschen oder solchen, die in Pfl flegeeinrichtungen leben, kann der Wortschatz durch die mangelnde Übung abnehmen. Die Sprache wird nur mehr zur Minimalkommunikation eingesetzt. Durch gezielte Förderung können betreuende Personen angeregt werden, die Behinderungen (schlecht hören, schlecht sehen, eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule, …) der Patienten wahrzunehmen und die Sprache daran anzupassen. Die Freude am Sprechen und am Gedankenaustausch mit anderen Menschen ist auch ein wichtiger Bestandteil der aktiven Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen und für den Erhalt der geistigen Kompetenz. Die Logopädin fördert, ähnlich wie auch Vertreter anderer Berufsgruppen, die Zungenmobilität und den Schluckakt. Vor allem nach einem Schlaganfall muss die Beweglichkeit der Zunge wieder gefördert werden, um den Speisebrei zu zerkleinern, nach hinten zu befördern und den Schluckakt einzuleiten. Ist dies nicht möglich, bleiben die Speisen in den Backen. Dies führt nicht nur zu Appetitlosigkeit, sondern auch zu Karies, Zahnverlust und Infektionen der Mundschleimhaut. Das Schlucken von klaren Flüssigkeiten und festen Speisen ist besonders schwierig. Daher versucht man, zunächst den Schluckakt mit breiigen Substanzen zu fördern und nach und nach festere Konsistenzen einzusetzen. Klare Flüssigkeiten sind am schwierigsten zu schlucken und stellen das höchste Risiko des Verschluckens (der Aspiration) dar. Psychologie Diese hat einen wichtigen Stellenwert in der Rehabilitation, in diagnostischen und therapeutischen Belangen (siehe Kapitel Psychologie).
4 Physikalische Therapie Physikalische Therapie setzt physikalische Reize, wie Strom, Licht, Schallwellen, Wärme und Kälte, oder mechanische Reize zu therapeutischen Zwecken ein, um Schmerzen zu reduzieren, Muskulatur zu kräftigen oder zu entspannen und die Haut besser zu durchbluten und gegebenenfalls die Wundheilung zu fördern. Die Wahl der Therapieform richtet sich nach der aktuellen Erkrankung und den Begleiterkrankungen. So sind zum Beispiel zahlreiche Therapieformen bei vermehrter Blutungsneigung (Marcumartherapie) oder bei Patienten mit einem Herzschrittmacher gefährlich und sollten daher vermieden werden. Je akuter ein Schmerz oder eine Entzündung ist, umso eher werden kühle Anwendungen bevorzugt. Die Reizdauer wird insgesamt eher kürzer, die Anwendungsfl fläche kleiner, der Reizgradient und die verwendete Energie geringer sein. Die Intensität soll langsam gesteigert werden. Bei chronischen Veränderungen können alle Formen der Wärmebehandlung zur Schmerzlinderung eingesetzt werden. Die Wahl der Therapie richtet sich auch nach der Hautbeschaffenheit und nach Vorlieben
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oder Bedenken des Patienten. Manche Patienten lehnen Strombehandlungen eher ab. Dies ist unbedingt zu respektieren.
Elektrotherapie Ströme aus den unterschiedlichen Frequenzbereichen haben unterschiedliche Wirkung auf das Gewebe. Niederfrequenztherapie (Impulsgalvanisation, Schwellstrom und Ähnliches) fördert die Durchblutung der Haut, refl flektorisch auch das darunter gelegene Bindegewebe, und löst abhängig von der Frequenz der Impulse Muskelanspannungen aus. Diese können die Bewegungstherapie bei der Muskelkräftigung unterstützen. Der Patient spürt ein Kribbeln an der Haut und die Anspannung der Muskulatur, aber keinen Schmerz. Um den therapeutischen Effekt zu unterstützen, wird der Patient aufgefordert, gleichzeitig mit den Stromimpulsen die Muskulatur anzuspannen. Sollten die feuchten Tücher, die den Widerstand zwischen Haut und Elektrode vermindern, die Leitung unterstützen und die Haut schützen, verrutschen, kann es zu kleinen Verätzungen der Haut kommen. Daher wird der Patient aufgefordert, über die angeleitete Bewegung hinaus möglichst ruhig zu bleiben. Wird Wasser als Leiter (Zellenbad) verwendet, ist die Anwendungsfläfl che größer. Dies wird vor allem zur Durchblutungsverbesserung eingesetzt. Niederfrequente Ströme sind direkt über Metallen, in der Nähe eines Herzschrittmachers, bei Hauterkrankungen oder bei bösartigen Tumoren zu vermeiden. Bei mittelfrequenten Strömen wird durch Überlagerung von Strömen unterschiedlicher Frequenzen erst die Schwebefrequenz, die ähnlich dem vorher beschriebenen Strom wirkt, wirksam. Der Patient hat deutlich geringere Sensationen an der Haut, es besteht keine Verätzungsgefahr. Allerdings kann der Strom weniger gezielt eingesetzt werden. Die Hochfrequenztherapie wird zur Schmerzbehandlung bei chronischer Abnützung (Arthrosen) sowie zur Durchblutungsverbesserung bei beginnender Gefäßerkrankung eingesetzt. Durch die lange Wellenlänge gibt es fi an der Haut. Die Wärmeentwicklung und Durchkaum Empfindungen blutungssteigerung erfolgt in der Tiefe. Durch die Wärmeentwicklung ist diese Therapieform über Metallen kontraindiziert.
Magnetfeldtherapie Die Magnetfeldtherapie hat nachgewiesenermaßen einen positiven Einfluss fl auf die Knochendichte und bei manchen Indikationen auf Schmerzen. Für zahlreiche andere Indikationen gibt es noch keinen klaren Wirkungsnachweis. Für die therapeutische Wirkung sind die ausreichende Feldstärke, die Intensität und Dauer entscheidend. Zahlreiche Heimgeräte sind mit der nötigen Vorsicht zu betrachten.
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Licht- und Lasertherapie Licht kann je nach Wellenlänge unterschiedlich tief unter die Haut eindringen und die lokale Durchblutung verbessern. Es kommt zu einer geringen Erwärmung des Unterhautbindegewebes und in weiterer Folge zur Schmerzflüssigung von dixitropen reduktion. Diese milde Wärme kann auch zur Verfl Flüssigkeiten eingesetzt werden. So kann der Sekretabfluss fl bei einer Nasennebenhöhlenentzündung beschleunigt werden. Laser ist scharf gebündeltes Licht einer Wellenlänge, welches synchronisiert emittiert wird. Dadurch ist die Refl flexion an der Haut und an tieferen Gewebsschichten geringer, die Eindringtiefe ist deutlich größer als bei konventioneller Lichttherapie. Laser wird vor allem zur Behandlung von Hautdefekten (Decubitus) und zur Schmerztherapie eingesetzt. Bei der Behandlung ist auf den Schutz der Augen zu achten. Laserschutzbestimmungen schreiben Schutzmaßnahmen abhängig von der verwendeten Intensität (Laserklasse) vor. Ultraschall Ultraschall sind für den Menschen nicht mehr wahrnehmbare Schallwellen, die zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden. Da es durch einen Kristall emittierte, stark gerichtete Wellen sind, ist Ultraschall ebenfalls punktgenau einzusetzen. Die Wirkung erfolgt einerseits über die lokale Erwärmung, andererseits aber über die mechanische Energie. Die fortgeleiteten Schallwellen erzeugen Vibrationen im Gewebe, die auch zur Zerstörung von kleinen Verkalkungen eingesetzt werden können. Durch die Schallwellen können verschiedene Medikamente rascher unter die Haut und somit an ihren Wirkungsort gebracht werden, man nennt dies Phonophorese. Um eine größere Fläche zu behandeln, kann Ultraschall auch in einer Wasserwanne angewandt werden. Da der Patient auch bei dieser Therapie nur eine geringe Wärmeempfindung an der Haut hat und die eigentliche therapeutische Wirkung in der fi Tiefe entsteht, ist auch hier entsprechend sorgsam zu dosieren. Diese Therapie ist über Herzschrittmachern, bei akuten Entzündungen und bei vermehrter Blutungsneigung zu vermeiden. Massage, Lymphdrainage Der Einsatz von Massagen wird immer wieder infrage gestellt. Massagen fi durch Verminderung von schmerzhaften Verkönnen die Befindlichkeit spannungen deutlich verbessern. Massagegriffe können zur Normalisierung des Spannungszustandes der Muskulatur eingesetzt werden. Das heißt, zu schlaffe Muskulatur kann zu mehr Spannung angeregt werden, verspannte oder verkrampfte Muskulatur kann gelockert werden. Es können Wärmepackungen (Moor, Fango, Munari, Heu, …) vorbereitend zur Massage eingesetzt werden. Die Muskulatur ist dann bereits
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erwärmt, die Durchblutung verbessert, die entspannende Wirkung der Massage kann besser zum Tragen kommen. Es können diese Packungen aber auch nach der Massage eingesetzt werden, um die mobilisierten Stoffwechselschlacken rascher abzutransportieren. Insgesamt ist die damit verbundene Ruhe und Entspannung für die Therapie unterstützend. Manuelle Lymphdrainagen werden zur Entstauung bei Lymphödemen, bei geschwollenen Extremitäten mit Blutgerinnselresten oder bei sehr schmerzhaften Verspannungen eingesetzt. Da der Blutrückfluss fl zum Herzen gesteigert wird, ist bei Patienten mit Herzschwäche besondere Vorsicht geboten. Um den entstauenden Effekt zu unterstützen, ist die behandelte Extremität nach der Behandlung zu bandagieren.
5 Sozialarbeit – Schnittstellenmanagement Soziale Dienste Im Rahmen der Entlassungsvorbereitung muss das soziale Umfeld abgeklärt werden. Die Aspekte der Wohnung und der präventiven Maßnahmen wurden bereits besprochen. Am Ende der Rehabilitation ist mit dem Patienten zu besprechen, wie viel Unterstützung er zu Hause benötigen wird. Diese Erwartungshaltung wird mit der Einschätzung des Teams verglichen und auf die Klarheit der Selbsteinschätzung hin überprüft. Dennoch ist es auch für klare und gut orientierte Menschen schwierig, das Leben im Spital mit den Anforderungen zu Hause zu vergleichen. Menschen, die im Spital selbstständig waren, können zu Hause völlig überfordert sein; solche, die zum Teil zeitlich und örtlich desorientiert waren, nehmen das gewohnte Leben zu Hause problemlos wieder auf. Dennoch müssen von der Abteilung aus Weichen für zu Hause gestellt werden. Die meist benötigten Dienste sind Heimhilfen und mobile Essensdienste. Die Heimhilfe gibt für die erste Zeit die Sicherheit, dass einfache Hausarbeiten und das Einkaufen der Lebensmittel funktioniert. Falls Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens, wie Waschen, Anziehen oder Körperhygiene, benötigt wird, ist dies meist vorherzusehen und an den sozialen Stützpunkt zu übergeben. Die Versorgung mit mobilen Essensdiensten gibt vor allem in der ersten Zeit nach der Entlassung Sicherheit. Nach der Eingewöhnung an das Leben zu Hause können diese meist wieder reduziert werden. Zumindest in der Großstadt sind die informellen sozialen Netzwerke meist besser als ihr Ruf, Nachbarn und Freunde helfen, auch wenn keine Familienangehörigen verfügbar sind. Bestehen Wundheilungsstörungen oder Druckgeschwüre, wird die Wundversorgung durch die mobile Hauskrankenpflege fl erfolgen. Die Pfl flege von Harnkathetern, Nahrungsmittelsonden sowie die Injektion von Heparinen oder Insulin nach Blutzuckerbestimmung können ebenfalls von der mobilen Hauskrankenpflege fl übernommen werden, falls dies der Patient nicht selbstständig kann.
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Durch den sozialen Stützpunkt kann der mobile Heimwerkerdienst, in manchen Gemeinden auch speziell ausgewählte Handwerker, für einfache Wohnungsadaptierungen (wie das Montieren von Griffen) organisiert werden. Der Bedarf an weiteren Hilfsdiensten, wie Wäschedienst, Reinigungsdienst oder Besuchsdienst, ergibt sich dann beim Leben zu Hause und wird über die Koordinatorin der Dienste (case manager) erfolgen. In den meisten Gemeinden ist aber die Versorgung mit sozialen Diensten an die Zuerkennung von Pflegegeld fl gebunden. Daher muss spätestens am Ende der Rehabilitation ein Pfl flegegeldantrag gestellt werden. Dies setzt voraus, dass ein länger dauernder Bedarf an Unterstützung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens zu erwarten ist. Die Pfl flegegeldstufe wird in Abhängigkeit vom benötigten Zeitausmaß gewährt. Das heißt, je höher der Bedarf an Unterstützung bei einfachen Tätigkeiten wie Körperhygiene, Essenszubereitung und Nahrungsaufnahme ist, umso höher wird die fi finanzielle Zuwendung sein. Das Pfl flegegeld wird zur Unterstützung der häuslichen oder institutionellen Pfl flege ausbezahlt und wird bei der Aufnahme in ein Spital unterbrochen. Für Menschen, die ein niedriges Einkommen haben, gibt es weitere fi finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten, über welche der Sozialarbeiter gerne informiert.
Tageszentrum Falls soziale oder pflegerische fl Bedürfnisse das völlig selbstständige Leben eines Patienten erschweren, kann eine Betreuung im Tageszentrum die Aufnahme in einem Pfl flegeheim verzögern oder verhindern. Im Tageszentrum werden neben sozialen und integrierenden Aktivitäten therapeutische Maßnahmen angeboten. Durch die klare Tagesstruktur fi finden zum Teil desorientierte Menschen wieder leichter ihren Rhythmus. Einsame Menschen können neue Kontakte knüpfen und durch das breite Angebot neue Interessen entwickeln.
Wohnungswechsel Falls die gewohnte Wohnung nach Ende der Rehabilitation nicht mehr den Fähigkeiten des Patienten entspricht, kann der Sozialarbeiter bei einem Wohnungswechsel behilfl flich sein. Die Zahl der Stufen, die Art der Heizung oder der Nassräume können Ursache für einen Wohnungswechsel sein. Falls ein weitgehend selbstständiges Leben möglich ist, aber Patienten Angst vor weiteren Erkrankungen, Stürzen oder vor der Einsamkeit haben, stellen die Pensionistenheime eine Alternative dar.
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6 Protektive Maßnahmen Im Rahmen der Entlassungsvorbereitung ist ein besonderes Augenmerk auf die Prävention von Stürzen zu legen. Stürze und deren Folgen sind die sechsthäufi figste Todesursache älterer Menschen. Jede dritte Frau über sechzig wird einen Sturz und eine Fraktur erleiden. Dieses Risiko nimmt bei der Gruppe der über Achtzigjährigen deutlich zu. Da mehr als die Hälfte aller Stürze zu Hause und da vor allem nachts passieren, ist der Wohnung und der Versorgung in der Nacht besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wie schon im Kapitel Ergotherapie ausgeführt, sind Fallen zu entfernen. Besonderes Augenmerk ist auf das Schlafzimmer zu richten. Falls das Bett zu niedrig ist, um sicher aufstehen zu können, kann eine zusätzliche Matratze Erleichterung bringen. Der Läufer vor dem Bett kann leicht davongleiten und ist daher zu entfernen. Falls der Patient in der Nacht auf die Toilette geht, sollte Licht gemacht werden. Eventuell ist ein Lichtsensor hilfreich, der Licht macht, sobald die Füße den Boden berühren. Falls jemand häufi figer auf die Toilette gehen muss, kann ein Leibstuhl neben dem Bett Sicherheit bringen. Falls der Patient gangunsicher ist und häufig fi aufstehen muss, ist es sinnvoll, in der Nacht rutschfeste Socken zu tragen. Dadurch fällt das oft mühsame Suchen nach den Hausschuhen weg. Falls es zu unfreiwilligem Harnverlust kommt, ist die Gefahr des Ausgleitens geringer. Besteht ein hohes Sturzrisiko, sind Sturzhosen oder „Hip-Protektoren“ zu empfehlen. Das sind Hosen, in welche über den Hüftgelenken Schutzschalen aus Styropor eingepasst sind. Kommt es zu einem Sturz, wird die Sturzenergie abgeleitet und der Knochen bleibt heil. Da das Anziehen vor allem bei gebrechlichen Menschen schwierig ist, wurden Schalen entwickelt, die direkt auf die Haut geklebt werden können. Besteht trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ein erhöhtes Sturzrisiko, so ist eine Notrufanlage empfehlenswert. Je nach Anbieter trägt die Person ein Armband oder einen Anhänger, über welchen im Falle eines Sturzes Alarm ausgelöst werden kann. Manche Firmen bieten zusätzlich ein Telefonservice an. Falls der Kunde sein Telefon nicht zumindest einmal täglich verwendet, wird überprüft, ob alles in Ordnung ist. Dieses Service ist vor allem für allein lebende Menschen ein wesentlicher Sicherheitsfaktor. Es passiert immer noch, dass Gestürzte tagelang auf Hilfe warten müssen.
7 Prävention Prävention umfasst immer auch eine Veränderung von Gewohnheiten. Es hat sich gezeigt, dass jene Menschen, die körperlich aktiv sind, länger besser und selbstständiger leben und sich im Falle eines Unfalles oder einer Krankheit rascher erholen. Daher sollten einfache sportliche Aktivitäten nach einem Rehabilitationsaufenthalt beibehalten oder begonnen werden. Dazu zählen ausgedehnte Spaziergänge oder einfache Übungen zu Hause.
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Abb. 2. Den Boden in den Alltag integrieren lernen
Werden Übungen zu Hause durchgeführt, ist es wichtig, auch immer wieder auf den Boden zu gehen und wieder aufzustehen, um nach einem Sturz auch aufstehen zu können (Abb. 2). In den letzten Jahren ist Tai-Chi zur Sturzprävention in Mode gekommen. Dieses asiatische Bewegungskonzept fördert den Gleichgewichtssinn, die Koordination und die Ausdauer. Langsam geführte Bewegungen verhindern eine Herz-Kreislauf-Überlastung. Da bereits Tai-Chi im Sitzen angeboten wird, können auch sehr schwache und labile Menschen an solchen Kursen teilnehmen und ihre Ausdauer und Sicherheit verbessern. Gewichtstraining an Kraftmaschinen hilft auch älteren Menschen, bestimmte Muskelgruppen zu kräftigen, die Ausdauer zu verbessern und vor allem den Knochenstoffwechsel anzuregen und der Osteoporose vorzubeugen. Immer mehr Fitnesscenter bieten auch Beratung und Kurse für Senioren an. Es können fast alle vor dem Unfall oder der Erkrankung ausgeübte Sportarten wieder aufgenommen werden. Im Zweifelsfall ist eine gezielte Beratung sinnvoll. Ein oft zu wenig beachteter Punkt ist die Wahl des richtigen Schuhwerkes. Schuhe sollten nicht nur ausreichend breit sein und über einen kleinen Absatz verfügen, sondern auch über eine leicht erhöhte Ferse Halt geben. Es ist wichtig, dass die Sohle elastisch genug ist, um das Abrollen zuzulassen. Bestehen auch Wirbelsäulenbeschwerden, erleichtert eine gute Dämpfung der Sohle die Belastung.
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Da besonders im Alter manchmal wechselnde Schwellungen der Füße auftreten, sollten die Schuhe mit Schnüren oder Klettverschlüssen ausgestattet sein, um einen entsprechenden Spielraum zu bieten. Das Innenfutter sollte durchgängig sein, um Druckstellen zu vermeiden. Bei Durchblutungsstörungen sind atmungsaktive Materialien zu wählen, um Schwitzen und Hautveränderungen zu vermeiden.
Normalisierung des Körpergewichtes Ältere Menschen neigen eher zur Mangelernährung. Dies liegt zum Teil an einem schlechteren Gebiss, aber auch an den schwächer werdenden Sinnen, Geruch und Geschmack nehmen ab. Die Essensfreude wird geringer. Umso wichtiger ist es, auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Vor allem Milchprodukte, frisches Obst und Gemüse fehlen oft. Selbst wenn das Kochen durch mobile Essensdienste abgenommen wird, können die fehlenden Produkte als Zwischenmahlzeit genommen werden. Fehlende Substanzen, wie Vitamin D oder Calcium, können als Nahrungsmittelergänzungen zugeführt werden. Mit dem Alter nimmt auch die Verträglichkeit für bestimmte Substanzen ab. So wird Alkohol schlechter vertragen. Auch Schlafmittel und Psychopharmaka werden mit abnehmender Nieren- und Leberfunktion langsamer abgebaut. Der Wirkspiegel ist bei gleicher Dosierung höher. Dadurch können Schwindel und Benommenheit ausgelöst werden. Gemeinsam mit dem Arzt soll die Zahl der Medikamente überprüft und eventuell verringert werden.
8 Zusammenfassung Rehabilitation für ältere Menschen stellt eine besondere Herausforderung an das interdisziplinäre Team dar. Gerade der ältere Mensch ist durch schwere Erkrankungen oder Verletzungen in dem verbleibenden Lebenskonzept irritiert. Es gilt daher, nicht nur physische Einschränkungen zu behandeln, sondern vor allem die Person dabei zu unterstützen, den rechten Weg einzuschlagen. Für viele Patienten ist dies der erste Spitalsaufenthalt, für viele ist es die erste Auseinandersetzung mit der Endlichkeit ihres Lebens. Nachdem die Organ- und die Funktionsdiagnose gestellt wurde und die Rehabilitationsfähigkeit attestiert wurde, muss mit dem Betroffenen ein „Vertrag“ geschlossen werden. Dabei werden der Wunsch zur Rehabilitation und die Bereitschaft, sich dem zum Teil mühevollen Prozess zu stellen, hinterfragt und Ängste und Bedenken des Patienten angesprochen. Es finiert, und es wird offen über einschränkende werden realistische Ziele defi Faktoren gesprochen. Angehörige und Freunde sollten in die Rehabilitationsplanung einbezogen werden. Sie sollen ihre Bereitschaft zur längerfristigen Unterstützung zusagen oder aber ihre Grenzen klar aufzeigen. Re-
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habilitation für ältere Menschen entspricht nicht dem ursprünglichen Ziel der Wiedereingliederung in einen Arbeitsprozess. Rehabilitation für ältere Menschen hat das Ziel, die Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit zu erhalten und die Pfl flegeabhängigkeit zu verzögern. Um die Effizienz fi rehabilitativer Maßnahmen zu bestätigen und die Qualität zu sichern, wird eine begleitende Evaluierung auf Basis des geriatrischen Assessments durchgeführt. Dadurch kann gezeigt werden, dass Rehabilitation nicht nur für den Einzelnen zu einer Verbesserung der Lebensqualität und des Selbstwertgefühles führt, sondern durch die Verminderung der benötigten Pflegeleistungen fl auch kosteneffi fizient ist.
Literatur Cassel CK, Cohen HJ, Larson EB, Meier DE, Resnik NM, et al. (1997) The Geriatric Medicine, 3rd ed. Springer, Wien New York Cohen JC, Feussner JR, Weinberger M, Carnes M, Hamdy RC, et al. (2002) A Controlled Trial of Inpatient and Outpatient Geriatric Evaluation and Management. N Engl J Med 346 (12), 905–912 Duke RG, Keating JL (2002) An Investigation of Factors Predictive of Independence in Transfers and Ambulation After Hip Fracture. Arch Phys Med Rehabil 83, 158– 164 Fialka-Moser V (Hrsg.) (2001) Kompendium der Physikalischen Medizin und Rehabilitation. Springer, Wien New York Nourhashemi F, Andrieu S, Gillette-Guyonnet S, Vellas B, et al. (2001) Instrumental Activities of Daily Living as a Potential Marker Frailty: A Study of 7364 Community-Dwelling Women (EPIDOS Study). J Gerontol A Biol Sci Med Sci 56 (7), 448– 453 Runge M, Rehfeld G (1995) Geriatrische Rehabilitation im therapeutischen Team. Thieme, Stuttgart Zuckerman JD (1996) Current Concepts: Hip Fracture. N Engl J Med 334 (23), 1519– 1525
Validation nach Naomi Feil Marina Kojer, Ursula Gutenthaler und Martina Schmidl Siehst Du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen. Matthias Claudius (Abendlied, 3. Strophe)
Validation akzeptiert den alten Menschen so wie er ist, gesteht ihm das Recht auf seine Realität zu und versucht, ihn einfühlsam dorthin zu begleiten, wo er zu Hause ist: in seine Gefühlswelt und in seine jeweilige Wirklichkeit. Auf diese Weise wird auch schwer Dementen geholfen, ihre eigenen Ziele zu erreichen; sie fühlen sich nicht mehr einsam und unverstanden, sondern erleben wieder Wertschätzung, Wärme und Nähe. Es geht nicht darum, ihnen „etwas beizubringen“, sie notdürftig zur Vernunft zu bringen oder sie zu verändern. Es geht vielmehr darum, ihnen dabei zu helfen, ihr Leben bis zuletzt in Würde, in der ihnen gemäßen Weise und mit guter, subjektiver Lebensqualität zu meistern.
Die 89-jährige Frau M. kommt mit wütendem Gesicht aus ihrem Zimmer. Als sie mich entdeckt, pfl flanzt sie sich drohend vor mir auf, zeigt anklagend mit dem Finger auf mich und schreit laut mit schriller Stimme: „Sie haben mir die Handtasche gestohlen! Wenn Sie da sind, fehlt mir jedes Mal etwas! Stehen Sie nicht so da, und schauen Sie nicht so blöd! Ich habe Sie genau beobachtet. Sie sind eine Diebin! Ich werde die Polizei rufen!“ Ich bin erschrocken, entsetzt, getroffen, gekränkt. Noch gestern habe ich mit Frau M. ein nettes Gespräch geführt. Sie ist eine der wenigen „vernünftigen“, einigermaßen orientierten Patientinnen. Sie weiß, wie sie heißt, wie alt sie fl ist. Sie kann lesen und schreiben, sich gut ausist, dass sie im Pflegeheim drücken und versteht alles, was man ihr sagt. Wie kommt sie plötzlich auf diese Idee? Was habe ich ihr getan? Warum beschuldigt sie gerade mich? Ich versuche, mich zu verteidigen, ihr zu erklären, dass ich ihre persönlichen Sachen nie anrühre. Ich möchte sie beruhigen. Jeder kann einmal
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etwas verlegen. Ich biete ihr an, die Tasche zu suchen. Begütigend lege ich die Hand auf ihren Arm. Frau M. zuckt wie von der Tarantel gestochen zurück und schreit empört „Rühren Sie mich nicht an! Sie sind eine schlechte Frau!“ Je mehr ich mich bemühe, desto aufgeregter und lauter wird Frau M. Ich bin ratlos, fühle mich hilfl flos, wütend, verletzt. Ich erkläre ihr, dass sie sich irrt, beteuere verzweifelt meine Unschuld. Frau M. zeigt weiter anklagend auf mich und schreit immer lauter „Diebin, Diebin!“ Ein Besucher dreht sich um und starrt mich an. Ich spüre, wie ich rot werde. Tränen brennen in meinen Augen. Von dem Lärm aufgeschreckt eilen zwei Kolleginnen zur Hilfe und befreien mich endlich aus der immer unerträglicher werdenden Situation. Sie schleppen die kreischende, um sich schlagende Frau in ihr Zimmer zurück. Eine der beiden ruft mir im Weggehen zu: „Ruf’ die Frau Doktor an! Die macht uns noch die ganze Station rebellisch!“ Ich schleiche mit gesenktem Kopf zum Telefon. Wie komme ich dazu, mir so etwas bieten lassen zu müssen? Ich beschließe, Frau M. von nun an aus dem Weg zu gehen und kein Wort mehr mit ihr zu sprechen. Was ist mit Frau M. los? Frau M. leidet an einer beginnenden Demenz. Nach Naomi Feil befi findet sie sich im Validationsstadium 1. Was bedeutet das? Sie ist zwar im Großen und Ganzen noch orientiert, beginnt aber zu spüren, dass ihr manches zu entgleiten droht. Sie leidet darunter, fühlt sich unglücklich und bedroht. Menschen in diesem Stadium fürchten nichts mehr, als ihre Kontrolle zu verlieren. Sie leiden unter alten Konflikten, fl die sie nie richtig aufgearbeitet haben, und äußern diese jetzt symbolhaft in verkleideter Form. Sie tun alles, um ihre Person abzugrenzen, und sind stets darauf bedacht, ihre Verletzlichkeit unter allen Umständen vor anderen zu verbergen. Daher müssen sie immer ihre Haltung bewahren, dürfen sich nie eine Blöße geben, nie ihr Gesicht verlieren. Sie müssen ihre Autonomie, ihre Kompetenz und die Unantastbarkeit ihrer Person betonen. Niemand darf ihnen zu nahe treten, den unsichtbaren Kreis, der sie umgibt, verletzen; daher reagieren sie auch zornig und abwehrend auf jede ungebetene Berührung. Häufig fi beschuldigen sie andere, um endlich ihre unterdrückten Emotionen ausdrücken zu können. Der augenblicklichen Empörung liegen belastende Geschehnisse aus der Vergangenheit zugrunde, und sie sind Ausdruck des Bemühens, das Nachlassen der Kontrolle vor anderen, aber auch vor sich selbst zu verbergen. So darf es z. B. nicht sein, dass allmählich die Kontrolle über die Harnblase nachlässt. Ist in der Früh das Bett nass, muss daher die Nachbarin ein Glas Wasser hineingeschüttet haben! Frau M. und ich sprechen zwei verschiedene Sprachen und merken es nicht. Ich setze voraus, dass wir einander verstehen, weil wir beide deutsch sprechen; ich bin auch überzeugt davon, dass wir beide in der gleichen (der einzig möglichen) Welt leben. Doch die Tatsachen sind andere: Wir sprechen nicht die gleiche Sprache, wir leben nicht in der gleichen Welt, wir kennen unterschiedliche „Wahrheiten“. Daher reden und agieren wir unaufhaltsam aneinander vorbei. Solange sich an dieser Situation nichts ändert, kann ich Frau M. nicht näherkommen, sie nicht verstehen, ihr Recht auf ihre Wirklichkeit nicht anerkennen. Beide fühlen wir uns unter
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Druck; beide kämpfen wir mit dem Rücken zur Wand. Je öfter sich Situationen wie diese wiederholen, desto mehr verschärfen sich die Fronten, desto unüberbrückbarer werden die Gräben zwischen uns. Mit der Zeit wird für die alte Frau aus einem verzweifelten und zornigen „Sie versteht mich nicht“ ein resigniertes „Sie wird mich nie verstehen. Niemand wird mich je verstehen. Ich bin ganz allein.“ Wenn es so weitergeht, wird Frau M. in dem Bemühen, sich zu behaupten, noch eine Zeit lang immer „lästiger“ und „unausstehlicher“ werden. Der Arzt wird versuchen, ihre „Verhaltensstörungen“ mit Hilfe von Psychopharmaka in den Griff zu bekommen. Pflegende, fl Ärzte und Therapeuten neigen dazu, Patienten wie Frau M. rasch als „lästig“, „unangenehm“ und daher über das Zumutbare belastend abzuqualifi fizieren, Begegnungen aus dem Weg zu gehen bzw. zu versuchen, zu zeigen, wer hier „der Herr im Haus ist“. Denn „alles kann man sich ja schließlich nicht gefallen lassen!“ Findet sich niemand, der flung versteht und auffängt, wird Frau M. in ihrer zunehmenden Verzweifl sie nach einiger Zeit mit und ohne chemische Hilfe „ruhiger“ werden und sich immer mehr in sich selbst zurückziehen. Im Laufe der Zeit wird aus der „lästigen“ Frau M. die immer schwerer demente Frau M. Die Situation wird für die Betreuer damit zwar ein wenig leichter, dafür lässt sich jetzt mit Frau M. auch nicht mehr „vernünftig“ reden. Verdrossen kommen sie zu dem Schluss: „Mit so schwer dementen Menschen kann man einfach nichts mehr anfangen.“ Alles scheint aussichtslos, die Arbeit weitgehend sinnlos und nur eine Last. Gut, dass jeder Arbeitstag auch einmal ein Ende hat. Immer häufi figer ertappen wir uns bei dem Gedanken: „Wie lange halte ich das noch aus?“ Eine Ausnahmesituation? Keineswegs! Mit zunehmendem Lebensalter der Betreuten nimmt die Häufi figkeit der Demenz kontinuierlich zu (Deutsches Statistisches Bundesamt 2003). In dem Ausmaß, in dem die durchschnittliche Lebenserwartung ansteigt, steigt daher auch die Zahl jener Hochbetagten, „mit denen man nichts mehr anfangen kann“. Viele von ihnen können nicht bis zuletzt zu Hause betreut werden und landen früher oder flegeheim. Diese Institutionen sind allerdings später in einem Alten- oder Pfl auf den Ansturm desorientierter alter Menschen noch immer nicht entsprechend vorbereitet: Der Großteil des Personals hat nicht gelernt, mit Dementen zu kommunizieren, fühlt sich verständlicherweise überfordert und ist auf die Dauer kaum fähig, deren Verhalten (Stationsfl flucht, Aggressionsdurchbrüche, Abziehen der Bettwäsche, Zerreißen von Inkontinenzeinlagen, …) zu ertragen. Hochbetagte Demente können in der Regel nicht mehr nach Hause entlassen werden, man wird sie erst durch ihren Tod los. Bis dahin muss man mit ihnen leben. Schwestern, Pfleger fl und Ärzte wollen ihren Patienten in der Regel weder wehtun noch schaden, sie sind nicht bösartig, sondern nur viel zu oft überfordert, übermüdet, verzweifelt, ausgebrannt. Tag für Tag versuchen sie, eine tragbare Ordnung wiederherzustellen und faire Kompromisse für sich und ihre Patienten zu fi finden. Schwestern und Pfl fleger versuchen, die Störenfriede erst mit Bitten, Erklärungen, gutem Zureden oder Ablenkungsmanövern „zur Vernunft“ zu bringen. Bleiben all diese
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Bemühungen fruchtlos, müssen sie, der Logik der Institution entsprechend, zu Erziehungs- und Straf-, schlussendlich sogar zu Zwangsmaßnahmen (Fixierung und/oder Ruhigstellung mittels chemischer Zwangsjacke) greifen. „Ausgehend von einem idealisiert gedachten Individuum, das in jeder Lage und zu jedem Zeitpunkt Herr seiner Selbst sein kann, wird die tatsächlich sich immer wieder neu in der Auseinandersetzung mit anderen vollziehende, konkrete Formung des Individuums ignoriert“ (Moeschl 1999). Chronische Unruhestifter müssen – offensichtlich zum Besten aller Beteiligten – „beruhigt“ werden. Erst wenn sie endlich ruhig sind, kann die Umwelt aufatmen. Den „Beruhigten“ selbst ist damit scheinbar auch am besten geholfen. Es geht ihnen endlich „so weit“ gut. „Normale“ Hochbetagte empfinden fi das rücksichtslose Einbrechen desorientierter Mitbewohner in ihre Intimsphäre (ein fremder Mensch liegt in meinem Bett, stiehlt Dinge von meinem Nachtkästchen, kramt in meinen Sachen herum, …) als Unverschämtheit, finden, dass solche „Wahnsinnige“ hier nichts zu suchen hätten, und gehen nach Kräften und nicht selten handgreiflich fl auf die unerwünschten Mitbewohner los. Das gesamte menschliche Umfeld setzt sich berechtigt zur Wehr. Der beschriebene Weg verwandelt, ohne darauf abzuzielen, Institutionen der Langzeitpflege fl in Bewahranstalten, d.h. in Rumpelkammern für funktionslos gewordenes, unerwünschtes Menschenmaterial (Dörner 1994; Gröning 2005). Selbstverständlich werden alle Betreuten sauber gehalten, gefüttert und, wenn sie „brav“ sind, mobilisiert. Doch je mehr die Betreuer mit der Zeit körperlich und seelisch übermüden und je mehr „Wahnsinnige“ auf einer Station herumirren, desto weniger an Güte und Zuwendung können sich gestresste und übermüdete Pflegepersonen fl und Ärzte ihren Quälgeistern gegenüber abringen. Den Betreuten selbst bleibt oft nur mehr der Rückzug in ihr eigenes Inneres. Fazit: Allen Beteiligten geht es schlecht. Die Logik unseres Zusammenlebens beruht zu einem guten Teil auf der fragwürdigen Annahme einer gemeinsamen Realität. Wenn Menschen miteinander kommunizieren wollen, setzen sie voraus, dass sie einander verstehen werden. Unter diesen glücklichen Bedingungen begann in biblischen Zeiten auch der Turmbau zu Babel: „Die ganze Erde hatte nur eine Sprache und gebrauchte die gleichen Wörter“ (Genesis 11). Als die Arbeit an dem Turm weit fortgeschritten war, trat ein zerstörerisches Ereignis ein: Eine fl Macht beschloss, „… ihre Sprache zu höhere, von uns unbeeinflussbare verwirren, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht“ (Genesis 11). Unvermutet und für alle unerwartet ging die gemeinsame Sprache verloren. Da niemand damit rechnen konnte, war wohl jeder für sich anfangs überzeugt davon, dass er sich verständlich ausdrückte, und hielt die anderen für schuldig an dem Dilemma. Die Menschen fanden den Weg zueinander nicht mehr und mussten aufhören, zu bauen. Was blieb, war Enttäuschung, Verfall, Zerstörung.
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1 Zwei Sprachen, zwei Welten Es ist das große Verdienst von Naomi Feil (Feil und Klerck-Rubin 2005; Feil 2005), uns mit Hilfe ihrer Methode vor Augen zu führen, dass ein dementer alter Mensch eine andere, nämlich seine eigene Sprache spricht und in seiner eigenen Wirklichkeit lebt. Diese Erkenntnis macht mit einem Schlag klar, dass wir den Teufelskreis der Missverständnisse nur verlassen können, wenn wir bereit sind, uns von unserer gewohnten Kommunikationslogik zu trennen. Sobald wir begreifen, dass wir und der Demente in verschiedenen Wirklichkeiten leben, leben müssen, begreifen wir auch, dass es kontraproduktiv ist zu versuchen, ihm „den Kopf zurechtzurücken“ und ihn in ein Schema zu pressen, das nicht auf ihn zugeschnitten ist und ihm Angst machen muss. Wir begreifen endlich, dass wir, wenn wir ihm (und auch uns selbst) helfen wollen, erst einmal seine Sprache erlernen müssen.
2 Wer führt? Wer wird geführt? Jeder von uns möchte gerne helfen. Üblicherweise versuchen wir das, indem wir die Führung übernehmen und uns bemühen, die Probleme hilfloser fl alter Menschen für sie zu lösen. Wir fühlen uns bemüßigt, sie über ihre offenkundigen Irrtümer gründlich aufzuklären und alles daranzusetzen, sie so schnell wie möglich in unsere Realität zurückzuführen. Was läuft in meinem Kopf ab, wenn Frau M. mich ungerechtfertigt beschuldigt, sie bestohlen zu haben? Q 1. Fehlschluss: Ich gehe davon aus, dass Frau M. mit ihren Beschuldigungen tatsächlich mich meint und davon überzeugt ist, dass ich ihre Sachen stehle. Q 2. Fehlschluss: Ich fühle mich persönlich angegriffen. Q 3. Fehlschluss: Ich halte es für nötig, mich zu verteidigen. Q 4. Fehlschluss: Ich glaube, ich muss Frau M. beweisen, dass sie sich irrt. Ich möchte Frau M. zu einem guten, gemeinsamen Ergebnis führen. Es gelingt nicht, weil ich sie nicht verstehe und sie mich nicht. Da ich mich verletzt fühle, kann ich das Toben der alten Frau nicht ertragen, habe vielleicht sogar Angst vor ihrer Wut, auf jeden Fall aber Bedenken, durch ihr Verhalten in ein falsches Licht zu geraten. Ich versuche, zu beschwichtigen, abzuwiegeln. Ich will mich möglichst rasch von der Beschuldigung und aus der unangenehmen Situation befreien. Ich will, dass der Zorn aufhört, dass die alte Frau sich beruhigt und endlich „zur Vernunft“ kommt. Ich bin überzeugt davon, dass ich besser als sie weiß, was sie jetzt braucht und was für sie (und mich) hilfreich ist. Ich will helfen, heißt für mich: Ich will führen, der Demente soll mir folgen, die Situation soll nach meinem (logischen) Lösungsmodell bereinigt werden.
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Solange ich die Wünsche und Bedürfnisse dementer Hochbetagter nicht kenne, nicht erkennen kann, kann ich nie begreifen, wo meine Hilfe tatsächlich ansetzen müsste. Erst die Erkenntnisse der Validation durchbrechen diesen Teufelskreis des Nichtverstehens und Nichtverstandenwerdens: Die Sprache dementer Hochbetagter ist erlernbar. Allerdings muss ich bereit sein, dafür genug Zeit zu investieren. Voraussetzung für den erfolgreichen Lernprozess ist, dass ich erst einmal bereit bin, meinen Führungsanspruch in Frage zu stellen. Habe ich die „Fremdsprache“ einmal erlernt, geht es sowohl Frau M. als auch mir um Vieles besser. Ich weiß, dass Menschen im Validationsstadium 1 andere beschuldigen müssen, wenn ihre Verluste zu groß werden. Sie müssen ihre unterdrückten Emotionen auf diese Weise verschlüsselt zum Ausdruck bringen. Ich weiß, die alte Frau, die mich wütend beschuldigt, meint gar nicht mich. Ihre Handtasche (für den Mann oft sein Stock) dient als Symbol für das, was ihr (ihm) zu entgleiten droht. Die Wut bedeutet wütende Gegenwehr gegen (leider unvermeidbare) Verluste, bedeutet Angst vor der drohenden Hilfl flosigkeit, Trauer über Versäumtes, … Hindere ich den alten Menschen daran, diese Gefühle auszudrücken, kneble ich ihn fl stoße ihn gewaltsam in emotional, treibe ihn weiter in seine Verzweiflung, seine Einsamkeit. Demente Hochbetagte sprechen häufi fig in Symbolen. Etwas wurde gestohlen, sie wollen nach Hause, suchen ihre Mutter, ihre Kinder oder die Wohnungsschlüssel … und meinen im Grunde etwas ganz anderes (Geborgenheit, das alte Selbstwertgefühl, die vertraute Umgebung, die Heimat, …). Auch Demente, die zu Hause leben, wollen immer wieder „nach Hause“ gehen! Es ist völlig unsinnig, am Wort kleben zu bleiben. Dagegen ist es sehr hilfreich, genau auf die Gefühle zu achten, die zum Ausdruck gebracht werden, diese Gefühle ernst zu nehmen, sich auf sie einzulassen und mit großer Behutsamkeit darauf (und nicht auf das Wort) zu reagieren. Um dementen Hochbetagten helfen zu können, müssen wir uns von ihnen führen lassen und ihnen auf ihre Straßenseite folgen.
3 Was ist Validation? Validation (auf deutsch „Wertschätzung“) ist eine Kommunikationsmethode für den Umgang mit Hochbetagten. Die validierende Betreuung und Begleitung trägt wesentlich dazu bei, jedem bis zuletzt ein Leben in Würde zu ermöglichen. Die Kommunikationsmethode eignet sich nicht ausschließlich für völlig Desorientierte, sondern auch für jene unglücklichen Menschen, die, weil sie im hohen Alter die Kontrolle über ihr Leben schwinden fühlen, unter sich selbst leiden und unter denen die Umwelt leidet. Wenn wir validieren, holen wir die alten Menschen dort ab, wo sie zu Hause sind, nämlich auf der Gefühlsebene. Wir anerkennen und respektieren sie, so wie sie sind, und wollen sie weder ändern noch eines Besseren belehren. Wenn desorientierte Hochbetagte sich verstanden fühlen und unsere ehr-
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liche Wertschätzung spüren, gewinnen sie langsam ihr Selbstbewusstsein zurück. Unser Verständnis, unsere Wärme und Nähe helfen ihnen dabei, ihre Gefühle frei zu zeigen, Problembehaftetes und Schmerzliches endlich loszulassen. Unsere Zuwendung macht ihnen Mut, wieder mehr in die Gemeinschaft der Menschen zurückzukehren, sich an alte soziale Rollen zu erinnern und wieder am Leben Anteil zu nehmen. Validation macht den Menschen nicht „gescheiter“, aber sie macht ihn lebendiger. Die Methode versetzt uns in die Lage, Q Kontakt aufzunehmen und den Boden für eine tragfähige Beziehung zu schaffen; Q Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle besser zu verstehen; Q den alten Menschen zu helfen, wieder besser Fuß zu fassen und ihren Platz im Leben zu finden; fi Q unsere Arbeit wieder als sinnvoll und befriedigend zu erleben. Demente alte Menschen bekommen auf diese Weise Gesprächspartner, die ihnen zuhören, die bereit sind, sie einfühlsam in ihre Welt zu begleiten, und die sie akzeptieren, wie sie sind, ohne ihnen ständig ihre Wahrheit und ihre Wirklichkeit aufdrängen zu wollen. Erst dann können Vertrauen und Beziehung wachsen, erst dann bauen Betreuer und Betreute wieder an etwas Gemeinsamem.
4 Die drei Grundhaltungen Hochbetagte reagieren sehr empfi findlich auf respektloses Verhalten, auf – auch gut gemeinte! – Grenzüberscheitungen. Diese Empfindlichkeit fi steigert sich mit zunehmender Kraft- und Wehrlosigkeit. Die Schlüssel zur Kommunikation mit desorientierten alten Menschen finden sich in den drei Grundprinzipien: 1. Akzeptanz: Ich akzeptiere und respektiere Dich, wie Du eben bist. Ich will Dich weder belehren noch ändern. Du hast ein Recht darauf, so zu sein, wie Du geworden bist. 2. Empathie: Ich fühle mich nicht überlegen, sondern stehe als Mensch mit Dir auf der gleichen Ebene. Ich fühle mit Dir. Dein Anliegen ist auch mein Anliegen. 3. Kongruenz: Ich begegne Dir aus der Wahrheit meines eigenen Herzens. Kommunikation mit Dir ist für mich nicht Gleitmittel für reibungslosere Abläufe, sondern Weg zum gegenseitigen Verständnis, die Suche nach einer Möglichkeit, Dir trotz aller Schwierigkeiten nahe zu sein. Diese drei Prinzipien behalten ihre Gültigkeit, unabhängig von Alter, gesundheitlicher Situation und Hirnleistungszustand. Orientiertheit bzw. Ausmaß der Desorientiertheit entscheiden nur über die Art der Begegnung, über Wortwahl und Berührung.
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5 Die vier Validationsstadien Naomi Feil unterschiedet vier Stadien: 1. Mangelhafte Orientierung: Ich will die Realität meiner drohenden Verluste nicht wahrnehmen und akzeptieren. 2. Zeitverwirrtheit: Ich ziehe mich zurück, verliere die Gegenwart aus den Augen, bewege mich auf einem freien Zeitkontinuum durch mein Leben. Kontrolle und Kommunikationsfähigkeit gehen immer mehr verloren. 3. Sich wiederholende Bewegungen: Ich ziehe mich noch mehr zurück, höre mit der Zeit ganz auf zu sprechen. Meine Worte werden immer mehr durch Bewegungen ersetzt. Meine Gefühle und inneren Bedürffi in sich wiederholenden Bewegungen aus. nisse drücke ich häufig 4. Vegetieren: Ich habe mich vollständig in mein Inneres zurückgezogen und dämmere nur noch vor mich hin. Menschen, die den Kontakt mit mir suchen, können mich scheinbar nicht mehr erreichen. Jedes Stadium umfasst eine breite Bandbreite. Ein beginnendes Stadium 2 zeigt oft noch viele Züge des 1. Stadiums, während ein „schlechtes“ Stadium 2 bereits zahlreiche Charakteristika von Stadium 3 aufweisen kann. Oft schwankt ein alter Mensch auch zwischen zwei Stadien hin und her: In der Früh ist die 95-Jährige vielleicht im Stadium 1 und beschuldigt den Pfl fleger, ihr Essen vergiftet zu haben, am Nachmittag ist sie dann im Stadium 2 und sucht verzweifelt nach ihren kleinen Kindern.
Mangelhafte Orientierung Die senile Demenz vom Alzheimertyp (SDAT) beginnt nicht plötzlich und abrupt. Sie beschleicht den alten Menschen, nähert sich allmählich, unfassbar, wie die unsichtbare Gegenwart einer dunklen Macht. Körperliche und geistige Kontrolle gehen immer merkbarer verloren. Erst ist nur hin und wieder ein klein wenig davon zu merken, doch mit der Zeit werden die Defi fizite deutlicher, schließlich sind sie nicht mehr zu übersehen. Die Vergesslichkeit nimmt allmählich immer stärker zu, die Kontrolle körperlicher Funktionen geht immer mehr verloren. Die alten Menschen spüren die Bedrohung ihrer Selbstständigkeit. Die Kluft zwischen ihrem Selbstbild und der Realität wächst. Sie wollen diesen Makel selbst nicht wahrhaben, setzen alles daran, ihn vor der Umwelt zu verbergen. Niemand darf auch nur ahnen, dass sie das Heft nicht mehr fest in der Hand haben! Jetzt geht es darum, zu zeigen, dass man mit beiden Füßen fest am Boden steht, alles weiß, niemals irrt, in einer für alle gültigen Wirklichkeit fest verankert, unabhängig und stark ist. Nach der Hypothese der „ungelösten Lebensaufgaben“ von Erik Erikson (1964, 1978) kommen, mit den zunehmenden Verlusten an Kompetenz und Kontrolle, Jahrzehnte zurückliegende Versäumnisse, unbewältigte, verdrängte Erlebnisse wieder zum Tragen und drängen, zu einem Zeit-
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punkt, zu dem die körperliche und geistige Kraft dafür endgültig verloren gegangen ist, danach, aufgearbeitet zu werden. Die Betroffenen spüren, dass „etwas mit ihnen nicht mehr stimmt“, wehren sich verzweifelt, kämpfen mit untauglichen Mitteln dagegen an. Ähnlich dem jungen Burschen, der spätabends den fi finsteren Wald quert und dabei laut pfeift, um sich von seiner Angst zu befreien und die unheimliche Stille, den Schrei des Käuzchens, das plötzliche Knacksen der Äste zu übertönen, macht der Hochbetagte „Lärm“, um sich von seinen unterdrückten Emotionen zu befreien. Je nach Situation und Veranlagung kann er dabei zwei verschiedene Strategien verwenden: 1. Er schimpft und beschuldigt andere wie Frau M. im oben angeführten Beispiel. 2. Er weint und jammert, wartet bei jeder Gelegenheit mit einer Vielzahl dramatischer Beschwerden auf und übernimmt so die Opferrolle. Dabei bleiben die alten Menschen noch weitgehend orientiert. Sie können anderen noch zuhören, logisch denken und gemeinsam mit dem validierenden Betreuer zu guten Lösungen für ihre Probleme kommen. Sie verhalten sich den Großteil des Tages angepasst, sie wissen, was sie wollen und wohin sie gehen. Ihr Streben nach Kontrolle drücken sie oft in Symbolen aus: Der alte Mann umklammert fest seinen Stock und tobt, wenn ein anderer diesen Stock auch nur berührt. Die alte Dame umklammert ihre Handtasche und drückt sie eng an sich. In der Tasche hortet sie „für alle Fälle“ alles, was sie meint, später brauchen zu können, z. B. Klopapier, Taschentücher, alte Zeitungen, Speisereste, … Wie verhalte ich mich richtig? Wie kommunizieren Validationsanwender mit diesen „lästigen“ Zeitgenossen? Gehen wir zurück zu Frau M., die mich beschuldigt, ihr Geld gestohlen zu haben. Q Das muss ich wissen: Ich weiß, dass Frau M. sehr unglücklich ist, weil ihre Selbstständigkeit von vielen Verlusten bedroht ist. Jemand anderer muss schuld daran sein, deshalb muss sie mich (oder jemanden anderen) beschuldigen, ihr Geld (ihren Schmuck, ihre Wäsche, …) gestohlen zu haben. Ich weiß, dass Frau M. gar nicht mich meint. Das Gestohlene ist ein Symbol für die Verluste, die ihr das Leben zufügt, die sie anders nicht laut werden lassen darf und an denen sie verzweifelt. Ich weiß, dass es für sie wichtig ist, ihren Schmerz herausschreien zu dürfen. Das kann ihr helfen und mit der Zeit ihr Leiden lindern. Wenn das gelingt, wird sie allmählich von selbst aufhören, andere zu beschuldigen. Q Meine Einstellung zu Frau M entspricht den Grundhaltungen der Validation: – Ich akzeptiere Frau M. so, wie sie ist. Ich weiß, dass sie nicht anders sein kann, als ihr Schicksal sie geformt hat, und will sie nicht ändern.
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– Ich fühle mit Frau M. mit. Es gelingt mir, nicht den „lästigen Zeitgenossen“, sondern den leidenden Menschen zu sehen. Ich kann meine Straßenseite verlassen und auf ihre Seite gehen. Ich kann mich in ihre Lage, in ihren Schmerz und ihre Angst einfühlen. – Ich mache ihr nichts vor. Ich spiele ihr nichts vor, sondern nehme ihren Kummer wirklich ernst. Q Einige Validationstechniken für das Stadium 1: – Ich versuche, Blickkontakt zu fi finden. – Ich wiederhole die Kernaussage in meinen eigenen Worten, z. B.: „Sie meinen, Ihr Geld ist gestohlen worden“, und zeige so, dass ich das, was sie sagt, ernst nehme. – Ich spreche im gleichen Tempo, mein Tonfall und meine Körpersprache drücken (in wesentlich abgemilderter Form) die gleiche Emotion aus. Niemand, der gerade verzweifelt, unglücklich, zornig ist, fühlt sich von seinem Gesprächspartner ernst genommen, wenn dieser freundlich lächelnd, voll Heiterkeit und in frisch-fröhlichem Tonfall auf seine Bedrängnis reagiert. fl – Ich stelle Fragen und gebe ihr damit Gelegenheit, ihrer Verzweiflung Worte zu verleihen. Am besten bewähren sich die so genannten W-Fragen: Wann? Wie viel? Wie oft? Wo? Wer? Fragen Sie niemals Warum! Der alte Mensch kann darauf keine Antwort geben, die Frage verletzt ihn, weil sie ihn zum drohenden Verlust der eigenen Kontrollen zurückführt. Mit „warum“ provoziert man Abwehr („Ich muss mich wehren, weil jemand mich, meine Worte, meine Integrität anzweifelt“) und verhindert Erleichterung. – Treten Sie dem alten Menschen nicht zu nahe! Er legt in diesem Stadium großen Wert auf Selbstständigkeit und Distanz und weist Berührung, zumindest vorerst, empört von sich. Gelingt es durch geschickte, einfühlsame Gesprächsführung, Frau M. die Gelegenheit zu geben, die Schleusen zu öffnen und sich Kummer, Wut und Angst von der Seele zu reden, wird sie sich nach wenigen Minuten beruhigen. Wird sie in ihrer inneren Not ernst genommen und immer wieder validierend aufgefangen, hört sie mit der Zeit von selbst auf, andere zu beschuldigen. Zeitverwirrtheit Nach einer Lawine von Verlusten verlieren die Menschen den Bezug zur Gegenwart und gehen immer öfter und immer tiefer in die eigene Vergangenheit zurück. Dieser Prozess wird durch die zunehmende Verschlechterung des Denkens, des Seh- und Hörvermögens wesentlich gefördert. Hochbetagte im Stadium 2 können sich nicht mehr konzentrieren und vergessen gleich wieder, was eben war. An emotional betonte Erlebnisse aus der Vergangenheit erinnern sie sich dagegen sehr gut. Tageszeit und Uhrzeit haben ihre Bedeutung verloren. In Sekundenschnelle können sie Jahrzehnte überspringen. Aus der 90-Jährigen wird wieder die junge Mutter,
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die sich um ihre Kinder sorgt, oder sie wird selbst zum Kind, das sich nach der Liebe der Mutter sehnt. Menschen und Ereignisse, die die Vergangenheit geprägt haben, sind auf einmal wieder gegenwärtig. Noch ist die Sprache erhalten, aber die Worte werden mit der Zeit undeutlicher, unter Umständen entstehen auch neue, oft sehr poetische und lautmalende Wortschöpfungen. Schritte und Bewegungen sind nicht mehr gezielt, der Blick hat etwas Suchendes, als wollte er fragen: „Wo soll ich hin? Wie geht es für mich weiter?“ Menschen im Stadium 2 verwenden sehr häufig fi Symbole: Der Schlüsselbund, den der Hochbetagte jeden Tag wieder sucht, kann für seine Sehnsucht nach allem, was er verloren hat, nach der Zeit, in der er sich in seinem Leben zu Hause fühlte, in der er sein Leben noch meistern konnte, stehen. Stets brodelt ein großer Gefühlsreichtum kaum verhüllt fläche und wartet sehnsüchtig darauf, hervordirekt unter der Seelenoberfl treten zu dürfen und sich frei zu entfalten. Zeitverwirrte, die weder gerade verzweifelt nach etwas suchen oder dringend nach Hause gehen wollen, machen ihren Betreuern in der Regel viel weniger Schwierigkeiten als Menschen im Stadium 1 und sind, auch wenn ihre Bedürfnisse nicht erkannt und nicht gestillt werden, vorerst, wenn sie nicht gerade nach Hause gehen wollen, für ihre Umgebung relativ pflegeleicht. fl Frau S. muss zu ihren Kindern gehen Frau S. ist 91 Jahre alt und lebt seit einigen Monaten im Pflegeheim. fl Regelmäßig am Nachmittag beginnt sie, ihre Sachen zusammenzupacken, und will zu ihren kleinen Kindern, die sie dringend brauchen, nach Hause gehen. Jeden Tag versuchen Schwestern, Pfl fleger oder diensthabende Ärztin, sie „im Guten“ davon abzuhalten. Sie versuchen, die alte Frau abzulenken und auf ein anderes Thema zu bringen oder ihr einen Kaffee anzubieten. Sie sagen ihr, dass heute keine Straßenbahn mehr fährt und sie bis morgen warten muss. Sie erklären ihr „vernünftig“, dass ihre Kinder längst selbstständig und erwachsen sind und am nächsten Tag auf Besuch kommen werden … . Frau S. lässt sich nicht überzeugen und höchstens für ganz kurze Zeit ablenken. Die Ärztin wechselt achselzuckend den Schauplatz, die Pflegenden fl können das nicht und werden nach etlichen vergeblichen Bemühungen immer ungeduldiger. Frau S. landete bis vor kurzer Zeit schließlich, mit einem Sitzgurt fixiert, fi auf einem Stuhl. Sie schrie verzweifelt und versuchte, den festgebundenen Stuhl am Rücken mitschleppend, zur Tür zu gelangen. Diese Vorgangsweise ist heute zwar durch das Heimgesetz nicht mehr möglich, daher wird sie eben durch weniger augenfällige Fixierungsmöglichkeiten (z. B. indem man Lehnstuhl- und Tischbeine unauffällig ineinander verhakt) ersetzt. Auch damit wird Frau S. zurückgehalten, schreit. Andere Patienten werden unruhig und beginnen, auch zu schreien. Zu dieser Zeit ist nur mehr wenig Personal auf der Station. Eine verzweifelte Schwester ruft schließlich die diensthabende Ärztin an; Frau S. bekommt ein „ärztlich indiziertes“ Beruhigungsmittel und landet schließlich, falls es erlaubt ist, mit Steckgittern im Bett.
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Wie hätte es besser gehen können? Frau S. möchte nach Hause zu ihren Kindern. Wir verstehen, was sie damit zum Ausdruck bringt: Sie sehnt sich nach einer Zeit zurück, in der sie geliebt und gebraucht wurde, in der ihr Leben erfüllt und glücklich war. Sie sehnt sich nach Wärme, nach Liebe, sie sehnt sich danach, nützlich zu sein, etwas Sinnvolles tun zu können. Der Wunsch, „zu Hause“ zu sein, steht symbolisch für das Bedürfnis nach einem erfüllten Leben, danach, ein wertvolles und geschätztes Mitglied der Gemeinschaft zu sein, eine Aufgabe zu finden und von anderen gebraucht zu werhaben, sich im Leben zurechtzufi den. Ich gehe zu ihr, berühre sie sanft, ohne sie dabei festzuhalten oder an ihr herumzuzerren, und beginne ein Gespräch über die Kinder (Wie viele Kinder haben Sie? Wie alt sind sie? Wie schauen sie aus? Sind sie brav?), über die Familie, die viele Arbeit im Haushalt. Dabei gehen wir miteinander am Gang hin und her. Wir halten einander an der Hand, mit meinem zweiten Arm umfange ich ihre Schulter. Wir gehen hin und her und plaudern. Frau S. weint, wird dann ruhiger, wechselt schließlich das Thema und erzählt mir lachend von ihrem kleinen Kurti (ich weiß aus der Biografie, fi dass er bereits in der frühen Kindheit gestorben ist), der vor ein paar Tagen alle Kirschenkerne mitgegessen hat … .
Das muss ich wissen Zeitverwirrte Menschen haben aufgehört, logisch zu denken. Sie können ihre Lebensaufgaben nicht mehr auf der rationalen Ebene bewältigen. Versuche, sie nach der Realität zu orientieren, zielen im besten Fall ins Leere. Häufi fig führen sie aber dazu, dass die alten Menschen sich in einer feindlich gesinnten Umwelt einsam und unverstanden fühlen. Wollen wir ihnen Respekt und Wärme, Nähe und Wertschätzung zeigen, müssen wir dort hingehen, wo sie zu Hause sind, d.h., wir müssen ihnen auf der Gefühlsebene begegnen. Einige Techniken für das Validationsstadium 2 Q Ich schaue dem alten Menschen in die Augen. Q Ich begegne ihm auf Augenhöhe, ich bleibe z. B. nicht vor ihm stehen, wenn er im Rollstuhl sitzt, und blicke auf ihn herunter, sondern setze mich zu ihm. Q Ich reagiere auf die Nähe bzw. Distanz, die er mir signalisiert. Ist er mit mir per Du und bedeutet mir damit, dass wir einander schon lange kennen und nahe stehen, bin auch ich mit ihm per Du. Alles andere müsste ihn irritieren und kränken. Wechselt er plötzlich zum Sie, gehe auch ich zum Sie über. Q Ich versuche, herauszuspüren, wie viel an Berührung er wünscht: Erst berühre ich ihn an der Hand, gehe dann langsam hinauf zum Ellbogen, schließlich zur Schulter. Spüre ich, dass ihm das gut tut, umfasse ich mit der anderen Hand die zweite Schulter und schließe für ihn auf diese
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Q Q
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Weise den Kreis des Gehaltenseins. Niemals berühre ich gleich zu Beginn einen so intimen Bereich, wie z. B. das Gesicht. Ich gewähre die Nähe, nach der er sich sehnt. Ich wiederhole seine wesentlichste Aussage wörtlich und mit der gleichen Emotion wie err und zeige damit, dass ich das Problem ernst nehme. Ich stelle W-Fragen und schaffe so für ihn die Möglichkeit, mehr zu erzählen. Ich gehe mit, wenn der alte Mensch „springt“ und plötzlich von etwas ganz anderem spricht. Ich verabschiede mich, bevor ich gehe, und sage, wann ich wiederkomme.
Sich wiederholende Bewegungen Werden Zeitverwirrte nicht validierend betreut, fühlen sie sich unverstanden, unglücklich und einsam und ziehen sich noch weiter in ihr Inneres zurück. Hochbetagte im Stadium 3 haben sich bereits sehr weit von unserer Welt und von den Menschen, die sie nicht verstehen, entfernt. Ihr Verhalten scheint den Betreuenden oft völlig unbegreiflich, fl unwegsam und frustrierend. Sie sind die typischsten Vertreter jener Gruppe von Dementen, mit denen man angeblich „überhaupt nichts mehr anfangen kann“. Sie sehen und hören in der Regel sehr schlecht; nur wenige von ihnen können noch ohne Hilfe gehen. Es ist praktisch unmöglich, sich auf „normalem“ Wege mit ihnen zu verständigen. Sie gehören daher zu den „nicht kooperativen“ Patienten, die mit Abwehr reagieren, wenn wir sie untersuchen oder pflefl gen wollen, die Inkontinenzeinlagen zu kleinen weißen Flocken zerreißen, sich überall festklammern und „aus heiterem Himmel“ zu unerklärlichen Aggressionsdurchbrüchen neigen. Weil sie nichts verstehen und die Ordnung stören, erhalten sie besonders oft dämpfende Medikamente. Gerade weil sie so „unwegsam“ sind, soll etwas ausführlicher von ihnen die Rede sein. Die Fähigkeit zur verbalen Kommunikation geht mehr und mehr verloren: Menschen im Stadium 3 sprechen immer seltener, ihre Sätze werden immer kürzer, später engt sich ihr Wortschatz auf einzelne Wörter ein, oder sie sprechen überhaupt nur noch Wortsalat. Zuletzt beschränken sich ihre Lautäußerungen oft auf vorsprachliche Klänge (wawawawa, rrrrrrrrrrrrr, mamamamam, …“). Schließlich verstummen sie ganz. Bestimmte, sich stereotyp wiederholende Bewegungsfolgen beginnen, die Sprache zu ersetzen. Der alte Mann klopft wiederholt auf den Tisch oder stampft mit dem Fuß auf, die alte Frau streicht mit großer Ausdauer mit der Hand über den Tisch oder faltet sorgsam ein Tuch und streicht es immer wieder mit großer Behutsamkeit und Liebe glatt. Diese Bewegungen geben den Menschen noch Halt in einem fremd gewordenen Leben, sie mildern Angst und Langeweile, schaffen Vergnügen und Bestätigung. Vertrautes, früher Gewohntes, Gefühle, Ängste, Sehnsüchte, aber auch unbewältigte Konflikte fl
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aus der Vergangenheit lassen sich auf diese Weise ausdrücken und bearbeiten. Manchmal können wir aus der Lebensgeschichte erraten, was mit diesen Bewegungen gemeint sein könnte. Oftmals erahnen wir Zusammenhänge durch die im Zuge einer längeren Bekanntschaft wachsende Vertrautheit mit dem alten Menschen. Entscheidend, um Dementen in diesem Stadium helfen zu können, ist nicht so sehr, dass wir um alle Zusammenhänge wissen, sondern dass sie sich verstanden fühlen, unsere Wertschätzung spüren und die Gefühle, die lange in ihrem Inneren versperrt waren, endlich freilassen können. Frau K. ist einsam Ich (Marina Kojer) lerne Frau K. anlässlich des Besuches in einem Pflegefl heim in Nordeuropa kennen. Wir sprechen daher unterschiedliche Sprachen. Als ich das Zimmer betrete, sehe ich die alte Frau teilnahmslos im Lehnstuhl sitzen. Ihre Augen starren ins Leere. Neben ihr sitzt eine Betreuerin, die sie die ganze Zeit an der Hand hält. Ich habe gehört, dass man Frau K. nicht alleine lassen kann, weil sie schwer dement und verhaltensgestört ist. Wenn niemand bei ihr ist, beginnt sie zu schreien und wird aggressiv. Ihr Verhalten bleibt für ihre Betreuer stets unberechenbar. In der Regel reagiert sie überhaupt nicht auf Ansprache. Aus heiterem Himmel wird sie plötzlich wild und schlägt um sich. Frau K. sitzt auf einem Stuhl, neben ihr sitzt ihre Betreuerin. Ich gehe von vorne kommend langsam auf Frau K. zu, damit sie mich kommen sieht und nicht erschrickt. Als ich vor ihr stehe, gehe ich so lange in die Knie, bis wir auf gleicher Augenhöhe sind, und versuche, mit ihr Blickkontakt zu bekommen. Dabei nehme ich ihre beiden Hände in meine Hände. Sie lächelt ein wenig, schaut mir lange in die Augen. Dann verzieht sich ihr Gesicht, sie wirkt tief traurig. Auch ich schaue sie traurig an. Ich möchte ihr damit sagen: „Ich verstehe, dass Du es schwer hast. Es geht Dir sehr schlecht. Ich möchte gerne bei Dir sein und Dich ein Stück weit begleiten.“ Sie beginnt zu weinen und zieht mich ganz nahe zu sich. Wir umarmen einander und verharren eine Weile in dieser Umarmung. Frau K. küsst mich, hält mich ganz fest an sich gedrückt und weint nun heftig. Ich beherrsche weder ihre Sprache, noch kenne ich die Lieder, die hier gesungen werden. So beginne ich, obwohl jetzt Frühling ist, ganz dicht an ihrem Ohr „Stille Nacht“ zu summen. Ihr Gesicht entspannt sich, sie drückt sich eng an mich. Nach einer Weile löse ich mich sanft aus der Umarmung und schaue ihr in die Augen. Sie schaut mich an und beginnt zu sprechen: Worte? Nur Lautgebilde? Ich weiß es nicht. Ich wiederhole, so gut ich kann, die Sprachmelodie und versuche, ihren Gesichtsausdruck zu spiegeln. Frau K. lächelt mich aus tränengefüllten Augen an und zieht mich dann wieder eng an sich. Ich summe wieder „Stille Nacht“ in ihr Ohr. Sie hält mich fest und wird ganz ruhig. Als sie mich loslässt, umgreife ich ihre Wangen, erst eine, dann beide mit meinen Händen. Nach kurzer Zeit liegt ihr Kopf ganz entspannt in meinen Händen. Sie schließt die Augen; ihr Gesicht wirkt jetzt ruhig und froh. Obwohl ich weiß, dass sie nicht deutsch
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versteht, sage ich mit weicher ruhiger Stimme „Das ist gut … gut …“. Dabei verstärke ich vorsichtig für einige Sekunden den Druck meiner Hände. Nach einer Weile löse ich meine Hände zart von ihrem Gesicht und halte sie an beiden Schultern. Wir schauen einander schweigend in die Augen. Frau K. lächelt. Dann verabschiede ich mich. Es fällt mir schwer, sie zu verlassen. Frau K. winkt mir nach und dreht den Kopf, um mir nachzuschauen, als ich aus dem Zimmer gehe. Frau A. bearbeitet ihre Lebensaufgaben Frau A., 85 Jahre alt, ist im Validationsstadium 3, zeigt aber auch noch einige wesentliche Merkmale von Stadium 2. Sie ist zeitlich, räumlich und zur eigenen Person desorientiert, harn- und stuhlinkontinent, sehr schwach und nicht mehr in der Lage, zu gehen. Ihre Tage verbringt sie teils im Rollstuhl, teils im Bett. Frau A. kam vor Jahren schwer dement und im Rückzug begriffen zu uns. Sie erfuhr seither viel Zuwendung und viel einfühlsame Nähe vom gesamten Team. Wir freuen uns darüber, dass Sie sich, wiewohl sie viel schwächer und müder geworden ist, auch nach dieser langen Zeit nicht weiter aus unserer Welt zurückziehen musste. Sie macht sich wiederholende Bewegungen, hat aber nie ganz aufgehört, mit uns auch verbal zu kommunizieren. Ihre Worte sind meist verwaschen, die Ausdrucksweise ist schwer verständlich, Inhalt oder Zusammenhang sind oft nicht mehr erkennbar. Immer wieder erfi findet sie eigene Wortschöpfungen; häufi fig spricht sie auch nur Wortsalat. Als ich (Ursula Gutenthaler) heute zu ihr kam, saß sie in ihrem Rollstuhl beim Tisch. In beiden Händen hielt sie einen Becher mit Himbeersaft. Sie leerte den Inhalt des Bechers auf die Tischplatte und verteilte ihn sehr konzentriert mit beiden Händen über den ganzen Tisch. Dazu musste sie ihren Oberkörper sehr stark vorneigen und die Arme ganz ausstrecken. Sie lachte dabei und wirkte sehr zufrieden. Der Vorgang bereitete ihr offensichtliche Freude und große Befriedigung. Ich ging auf Frau A. zu, berührte sie an der Schulter und begrüßte sie. Dabei beugte ich mich so tief zu ihr hinunter, dass ich ihr in die Augen schauen konnte. Sie blickte nicht auf, sondern arbeitete konzentriert weiter. Um besser Kontakt aufnehmen zu können, setzte ich mich ihr gegenüber an den Tisch, beugte mich vor und bewegte meine Hände und Arme im gleichen Rhythmus wie Frau A. über die Tischplatte. Nach ein paar Sekunden hob sie den Kopf, schaute mir in die Augen und lächelte mich an. Sie sagte: „Ach, Frau Westiger! … . Ich bin jetzt fertig mit dem Arbeiten! …“. Dann sehr betont: ‚KOREITEN’.“ Ich nahm ihre beiden Hände in meine Hände und sagte mit ähnlicher Betonung „KOREITEN“. Sie nickte. Einige Sekunden lang sahen wir einander lächelnd in die Augen. Dann sagte ich: „Sie haben sehr viel gearbeitet. Möchten Sie eine Pause machen? Es gibt Kaffee und Kuchen für Sie.“ Frau A. fragte höflich: fl „Möchten Sie auch etwas essen, Frau Westiger?“ Ich antwortete: „Nein danke, ich habe schon gegessen. Wenn Sie möchten, setze ich mich zu Ihnen.“ Frau A. antwortete: „Bitte, ja, bleiben Sie bei mir, Herr Westiger kommt auch heute.“
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Ich brachte ihr den Kuchen. Sie betrachtete ihn und sagte nachdenklich: „Ich habe ein Stück herausgeschnitten und umschnitten, das war rot und grün … und rot ist Arbeit … und die Frau Westiger hat das gebracht – gemacht.“ Dabei sah sie mich bedeutungsvoll an. Ich sagte: „Frau A., was hat Frau Westiger gebracht?“ Sie sah mich mit wissenden Augen an und gab ernst zur Antwort: „Das ist Nikolaus und nach meiner Schätzung kaputt.“ Ich wiederholte: „Der Nikolaus ist kaputt!“ Frau A. begann, ihren Kuchen zu essen, machte dann eine Pause und sagte: „Ja, das ist Erdäpfel und Absterben amen“. Dann suchte sie etwas auf dem Tisch. Ihr Gesicht war dabei sehr traurig. Ich nahm ihre Hände und streichelte sie. Sie schaute mich an und lächelte traurig. Ich begann, sanft ihren Hinterkopf und ihren Rücken zu streicheln. Dabei sah ich, dass ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten. Ich wischte ihre Tränen liebevoll und vorsichtig weg, nahm sie in die Arme, wiegte sie so, wie man kleine Kinder wiegt, und summte dabei ein bekanntes Wiegenlied. Frau A. sagte: „Absterben amen“. Ich fragte: „Ist das sehr schwer Absterben amen?“ Frau A. machte ein Kreuzzeichen und sagte: „Ich bin in die Kirche gegangen und habe alles ausgestanden“. Sie begann, das Vaterunser zu beten. Ich betete eine Weile mit ihr. Danach wirkte sie sehr zufrieden und entspannt. Ich blieb weiter bei ihr sitzen. Sie aß jetzt bedächtig ihren Kuchen auf und wischte danach alle Krümel vom Tisch. Dann hielt ich sie an den Schultern und verabschiedete mich. Sie sagte: „Du bist mir die Liebste, Du weißt, was man machen muss, damit alles in Ordnung ist“. Ich nickte: „Ja, Frau A., ich muss jetzt gehen … bis morgen.“ Frau A. nickte lächelnd und sagte: „Gut, meine Gute … Gute. Morgen kommen Sie zu mir, alles erledigen … absolut …“ Das muss ich wissen Menschen im Validationsstadium 3 haben sich bereits ziemlich weit aus unserer Welt zurückgezogen. Die verbale Kommunikation ist dabei ganz oder weitgehend verloren gegangen. Sie drücken sich oft weniger über Worte oder Lautgebilde, sondern mit Hilfe ihrer Bewegungen aus. Diese verkörpern häufi fig symbolhaft die für diesen Menschen lebensentscheidenden Gefühlsinhalte. Wiewohl schwer dement, spüren diese Menschen genau, ob wir ihnen ehrlich begegnen, und verschließen sich sofort, wenn dies nicht der Fall ist. Einige Validationstechniken für das Stadium 3 Q Ich nähere mich langsam und möglichst von vorne. Q Ich gehe in Augenhöhe und suche den Blickkontakt. Q Ich passe mich an das Tempo des dementen alten Menschen an. Nichts, was ich tue, geschieht abrupt. Q Die Kontaktaufnahme erfolgt primär über Berührung. Menschen im Stadium 3 sehnen sich in der Regel nach Nähe. Q Berührungen sind von kurzen einfühlsamen Sätzen begleitet.
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Q Führt der Demente sich wiederholende Bewegungen aus, nehme ich zumindest im Ansatz sein Bewegungsmuster auf und zeige ihm auf diese Weise, dass ich ihn ernst nehme und mit ihm fühle. Q Ich versuche, Worte, Wortfragmente oder Lautgebilde im gleichen Tonfall zu wiederholen. Q Ich versuche, seine Körpersprache zu spiegeln. Q Ich singe ein Kinder-, Wiegen-, oder Volkslied, das in seine jeweilige Stimmung passt. Das führt häufi fig dazu, dass der alte Mensch allmählich mitzusingen beginnt.
Vegetieren Bleiben Demente auch im Stadium 3 unverstanden, erfahren sie keine Wertschätzung und können ihre Gefühle nicht ausleben, ziehen sie sich noch weiter von der Umwelt in ihr eigenes Inneres zurück, so weit, dass wir sie nur mehr sehr schwer oder gar nicht erreichen können. Nur in Einzelfällen gelingt es, mit Hilfe von kontinuierlicher validierender Betreuung sie wieder ein Stück weit zurück ins Leben zu holen. Demente im Stadium des Vegetierens liegen meist in Embryonalstellung in ihren Betten. Sie sind scheinbar teilnahmslos, halten die Augen geschlossen oder schauen blicklos ins Leere und reagieren (fast) nicht mehr auf Ansprache oder Berührung. Oft liegen sie über lange Zeit wie lebendige fl Sie werden gewaschen, gepfl flegt, umTote in den Betten der Pflegeheime. gebettet und, so gut es geht, ernährt. Selten kommt ein Betreuer auf die Idee, mit ihnen zu sprechen oder sie in die Arme zu nehmen. Es lohnt sich, immer konsequent zu versuchen, ihnen Wärme und Nähe zu geben. Auch wenn sie schon weit weg sind: Sie sind noch am Leben, und wir können nicht wissen, was in ihrem Inneren vorgeht. Einige Male ist es uns bereits gelungen, einen dieser lebenden Toten ein Stück weit zurück ins Leben zu verlocken. Oh Du lieber Augustin … Frau J. kam direkt aus dem Krankenhaus zu uns. Sie ist schon jahrelang dement, doch bis zu ihrem letzten Krankenhausaufenthalt blieb sie noch gut kontaktierbar. Als sie zu uns kam, lag sie zusammengerollt im Bett und rührte sich fast nicht. Wenn wir ihr die Nahrung verabreichten, öffnete sie zwar ihren Mund, nicht aber die Augen. Unsere Bemühungen, ihr näher zu kommen, schlugen vorerst fehl. Dennoch gingen wir, so oft es ging, zu ihr. Jeder, der an ihr Bett trat, sprach mit ihr, berührte sie und versuchte, ihr Nähe und Wärme zu schenken. Aus ihrer Biografi fie wussten wir, dass sie immer sehr gerne gesungen hatte, daher nahmen wir uns von Anfang an vor, regelmäßig Kopf an Kopf mit ihr allgemein bekannte Lieder zu singen. Nach einigen Wochen öffnete Frau J. die Augen und schaute uns für ein paar Sekunden an. Von da an ging es bergauf. Kurze Zeit später, mittlerweile konnten wir Frau J. bereits im Bett aufsetzen, öffnete sie, wenn wir
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„Oh Du lieber Augustin“ sangen, den Mund und bewegte die Lippen mit. Bald darauf begann sie, den Refrain mitzusingen. Einige Monate nach ihrer Aufnahme lachte sie uns an, begrüßte uns mit Handschlag, aß allein und hatte wieder ein wenig zu sprechen begonnen. Das muss ich wissen Menschen im Validationsstadium 4 haben sich bereits sehr weit aus unserer Welt zurückgezogen. Auch mit der besten und liebevollsten validierenden Betreuung gelingt es nur selten, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Schon die kleinste Reaktion (ein kurzer Blickkontakt oder ein angedeuteter Händedruck) ist ein großer Erfolg. Einige Validationstechniken für das Stadium 4 Q Jede Kontaktaufnahme erfolgt durch Berührung und ist von einem kurzen einfühlsamen Satz begleitet. Je öfter die Kontakte erfolgen und je mehr Nähe und Wärme wir schenken, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines Tages doch noch eine Reaktion erfolgt. Q Berührungen im Bereich von Kopf, Hals, oberem Brustbereich werden am ehesten wahrgenommen. flegehandlungen, ärztlichen Untersuchungen und jeder anderen Q Vor Pfl Maßnahme muss erst der Kontakt gesucht werden. Immer „fragen“ die Hände erst an, ob sie willkommen sind. Q Das Singen alter Kinderliederr rührt an tiefe Schichten und hilft mit, den alten Menschen doch noch zu erreichen.
6 Zusammenfassung Die moderne Geriatrie versucht in der Regel, den Menschen die Ziele vorzugeben, die sie meint, als richtig erkannt zu haben. Die alten Menschen „müssen“ einsehen, dass wir es gut mit ihnen meinen und ihr Bestes im Auge haben. Sie müssen aus dem Bett heraus, wenn wir es für richtig halten, sie „dürfen“ keine Schmerzen haben, weil wir sie ausreichend behandelt haben, und sie „sollen“ sich „zu ihrem Besten“ wieder in unserer Realität zurechtfinden, fi wenn sie dement sind. Im Gegensatz dazu akzeptiert die Validation den alten Menschen so, wie er ist, gesteht ihm das Recht auf seine Realität zu und versucht, ihn einfühlsam dorthin zu begleiten, wo er zu Hause ist: in seine Gefühlswelt und in seine jeweilige Wirklichkeit. Auf diese Weise wird auch schwer Dementen geholfen, ihre eigenen Ziele zu erreichen; sie fühlen sich nicht mehr einsam und unverstanden, sondern erleben wieder Wertschätzung, Wärme und Nähe. Es geht nicht darum, ihnen „etwas beizubringen“, sie notdürftig zur Vernunft zu bringen oder sie zu verändern. Es geht vielmehr darum, ihnen dabei zu helfen, ihr Leben bis zuletzt in Würde, in der ihnen gemäßen Weise und mit guter, subjektiver Lebensqualität zu meistern.
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Literatur Deutsches Statistisches Bundesamt (2003) Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung Die Bibel: Das alte Testament, Genesis 11 Dörner K (1994) Über die institutionelle Umwandlung von Menschen in Sachen. In: Frankfurter Rundschau Dokumentation, 11. Okt. 1994. Zit. nach Gröning K (2005) Wenn die Seele auswandert. Forum Supervision 13 (26), 64–75 Erikson EH (1964) Insight and Responsibility. Norton, New York Erikson EH, Erikson JM (1978) Introduction: Refl flections on Aging. In: Spicker SF, Woodward KM, Van Tassel DD (Hrsg.) Aging and the Elderly: Humanistic Perspectives in Gerontology. Humanity Press, Atlantic Highlands Feil N (2005) Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen, 8. Aufl. fl Ernst Reinhardt Verlag, München Feil N, Klerck-Rubin V de (2005) Validation in Anwendung und Beispielen. Der Umgang mit verwirrten alten Menschen, 8. Aufl. fl Ernst Reinhardt Verlag, München Gröning K (2005) Wenn die Seele auswandert. Forum Supervision 13 (26), 64–75 Moeschl P (1999) Das Sterben der anderen – ein liberales Paradoxon? Humanismus, Demokratie und Sterbehilfe. Picus-Verlag, Wien
Alternative Behandlungsmöglichkeiten – Pfl flanzen, Farben und Musik bei der Betreuung älterer Menschen Evelyne Langsteiner und Gerald Gatterer
Gerade im Bereich der Altenbetreuung werden immer wieder neue Konzepte und Ideen gefordert. Zu diesen gehören etwa Maltherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie, Clowntherapie, Tiertherapie oder auch Gartentherapie. Alle diese Methoden erweitern das Spektrum der Betreuungsmöglichkeiten und sollten individuell eingesetzt werden. Wir Menschen orientieren uns an dem, was wir wahrnehmen. Was wir wahrnehmen, ist wiederum abhängig davon, welchen Reizen wir ausgesetzt sind und welche wir aufnehmen können. Wir analysieren, verarbeiten und interpretieren, um letztendlich zu reagieren und selbst einen Reiz zu setzen, um so in einen Dialog mit unserer Umwelt zu treten. Alte Menschen haben sehr oft ein eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen (z. B. durch Sehbehinderung, Schwerhörigkeit, Störungen des Bewegungsapparates, herabgesetzte Sensibilität, …), und das Leben in einer Institution bietet sehr oft eine relativ „reizlose“ Umgebung. Diese Defizite fi können zur Folge haben, dass die Freude und das Bedürfnis an Bewegung nachlässt, Denkmuster erstarren und der Mensch sich immer mehr in sich selbst zurückzieht. Dies wiederum führt zu noch weniger Wahrnehmung der Umwelt und auch des eigenen Körpers, und ein „Teufelskreis“ entsteht. Um diesen Regelkreis zu unterbrechen bzw. daraus resultierende Verschlechterungen des Gesundheitszustandes wieder zu verbessern, werden Patienten, -innen z. B. zur Physio- oder Ergotherapie zugewiesen. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass Therapeuten meist erst dann eingesetzt werden, wenn schon massive Defizite fi oder Probleme bestehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir Betreuer schon im Vorfeld vieles positiv beeinfl flussen könnten, sodass unsere Patienten, -innen erst gar nicht oder nicht so tief in diesen Kreislauf geraten. Ich möchte hier Alternativen und Ergänzungen zu den üblichen Behandlungsformen beschreiben, die in den Alltag einfließen fl können. Ich beschreibe hier nicht meine Arbeit als Ergotherapeutin, sondern meine Erfahrungen
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und Beobachtungen mit alten Menschen, welche Auswirkungen verschiedene Tätigkeiten, Materialien und Medien auf diese hatten und wie diese das Leben von alten Menschen in einer Pflegeeinrichtung fl beeinfl flussen und verändern können.
1 Gartentherapie Gärten bieten eine vielfältige Möglichkeit zur Aktivierung, Motivation und Therapie. Gerade ältere Menschen genießen den Umgang mit Pflanfl zen und deren Gedeihen. Auch die Ernte und das Genießen über alle Sinnesorgane ist wesentlicher Bestandteil der Gartentherapie. Ein Therapiegarten sollte in keiner geriatrischen Institution fehlen. Viele alte Menschen sind besonders naturverbunden. Einige sind auf dem Land aufgewachsen oder hatten einen Garten, den sie sehr oft auch wirtschaftlich nutzten. Obst- und Gemüseanbau stellte für viele unserer Bewohner einen bedeutenden Beitrag zum Leben und Überleben dar, war ein wesentlicher Teil ihrer Lebensgrundlage. An diese Erfahrungen und Lebensumstände können wir mit der Gartentherapie anknüpfen. Sehr oft möchten alte Menschen noch selbst im Garten tätig sein und aktiv mitgestalten, äußern ihr Bedürfnis aber nicht, da sie durch körperliche Einschränkungen diese Tätigkeiten gar nicht mehr in Betracht ziehen. Umso mehr sind wir Betreuer herausgefordert, versteckte Bedürfnisse und Wünsche herauszufi finden, nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese zu erfüllen. Die Natur wieder vermehrt zum Lebensraum alter Menschen zu machen, ob als aktiv Beteiligter oder als Beobachter und Genießer, dieser Gedanke wird zunehmend von Institutionen aufgegriffen. In einer Heimsituation verlieren viele Menschen ihren natürlichen Lebensrhythmus. Hier kann die Beschäftigung mit oder der Aufenthalt in der Natur positiven Einfluss fl nehmen. Natur mit ihrem ureigensten Rhythmus (Wechsel der Jahreszeiten, Wetter, Tageszeiten, Wachsen und Verändern) wirkt auf den Menschen ein. Die Tätigkeit des Gärtnerns bietet uns eine reiche Palette therapeutischer Möglichkeiten. Die Anforderungen können gering gehalten sein und sind über mittelschwere steigerbar bis hin zu hohen Anforderungen. Leichte Aufgaben können sein: Erde zerbröseln, junges Unkraut zupfen oder welke Blätter entfernen, zu den mittelschweren Tätigkeiten zählen z. B. Erde großfl flächig verteilen oder Pfl flanzen umtopfen, und hohe Anforderungen verlangt z. B. die Gestaltung eines Beetes, damit verbundene Arbeitsabläufe planen, Blumensträuße binden oder Gestecke herstellen. Gartenarbeit ist therapeutisch vielseitig einsetzbar. Im kognitiven Bereich werden z. B. Gedächtnis, Konzentration, Aufmerksamkeit und Handlungsplanung angesprochen, sensomotorisch z. B. Grob- und Feinmotorik, Hand-Hand-Koordination, Augen-Hand-Koordination, Gleichgewicht,
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Oberfl flächen- und Tiefensensibilität. Es ergibt sich eine Vielzahl an taktilkienästhetischen, olfaktorischen und optischen Sinneseindrücken, und allgemein wird bei der Tätigkeit im Freien der Stoffwechsel angeregt und der Blutdruck reguliert. Nicht zu vergessen sind die sozialen Aspekte: Gemeinsames Arbeiten im Garten verlangt Rücksichtnahme, fördert aber auch die Fähigkeit, seine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen, und unterstützt die Kontaktaufnahme und Kommunikation zwischen den Beteiligten. Als psychisch-emotionale Faktoren ergeben sich Motivationssteigerung, zunehmende Eigeninitiative sowie Steigerung des subjektiven Wohlbefi findens und der Lebensfreude. In der Institution, in der ich beschäftigt bin, werden vermehrt die Grünflächen so gestaltet, dass sich unterschiedliche Lebensbereiche ins Freie fl verlagern. Es werden Anreize gesetzt, den Aktionsradius zu erweitern, weiter zu gehen, z. B. um den Brunnen hinter dem einen Haus zu besichtigen, und weiterzuspazieren zum Gehparcours des nächsten Hauses, um den Angehörigen zu zeigen, wie gut ein paar Stufen wieder bewältigt werden. Um möglichst viele Lebensbereiche abdecken zu können, fi findet man sowohl Aktivitäts- als auch Ruhezonen. fi sich Beete, welche von den Patienten, In den Aktivitätszonen befinden -innen bearbeitet werden können. Diese Beete sind teilweise Hochbeete mit unterschiedlichen Arbeitshöhen, damit hier Tätigkeiten auch im Stehen und Sitzen möglich sind; die Wände der Hochbeete sind abgeschrägt bzw. unterfahrbar. Gepfl flanzt werden Blumen, Gemüse und Kräuter. Dadurch ergibt sich eine Fülle an Sinneseindrücken, und auch der Gedanke der Nützlichkeit kommt nicht zu kurz, denn selbst gezogene Tomaten zum kalten Abendessen haben einfach eine besondere Bedeutung. Auf verschieden gestalteten Bodenfl flächen (Kopfsteinpfl flaster, Kies, Beton, …) kann der Bewohner Gehübungen durchführen, Steigungen bewältigen lernen und Stufen steigen, aber auch Erfahrungen mit dem Rollstuhl sammeln, damit Hindernisse bewältigt werden können. Der Aufenthalt in der Wiese, hier wieder einmal mit bloßen Füßen durchs Gras zu gehen oder in der Wiese zu sitzen, ist gewünscht und wird angeregt. Mittagessen und Jause können von den Patienten, -innen im Garten eingenommen werden, und bettlägerige Patienten, -innen finden z. B. unter einem schattigen Baum einen erholsamen Platz zum Verweilen. Gruppenaktivitäten, wie Bewegungsgruppen, Spiel- und Gesprächsrunden, verlagern sich zunehmend ins Freie. Therapieeinheiten der Physio- und Ergotherapie werden nach Möglichkeit im Garten durchgeführt, wie z. B. eine Gangschulung oder sensomotorisches Training, bei dem eine Pflanze fl umgesetzt wird oder welke Blätter und Unkraut ausgezupft werden. Die Ruhezonen bieten Raum, um sich einmal zurückziehen zu können, aber auch, um mit anderen Menschen gemütlich beisammen zu sitzen. Sie sind von kleinen Ziegelmauern umgeben, welche eine gemütliche, geschützte Atmosphäre vermitteln. Teilweise sind diese Plätze durch eine Pergola beschattet, welche mit Grünpfl flanzen bewachsen ist. Diese Umgebung bietet unseren Patienten, -innen eine „reizvolle“ Bereicherung ihres Alltages.
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Nicht immer sind die Voraussetzungen zur Nutzung großer Grünfl flächen gegeben. Trotzdem muss auf die Tätigkeit mit Naturelementen nicht verzichtet werden. Auf einer Station im 2. Stock, auf der es viele Patienten, -innen gibt, denen der Weg in den Garten zu beschwerlich ist, werden jedes Frühjahr Blumenkästen mit Gemüse und Blumen auf der Terrasse angepflanzt. fl Die Kistchen werden gereinigt und mit frischer Erde befüllt, welche zuvor von den Patienten, -innen zerbröselt wird, damit sie auch richtig kleinkrümelig ist. Anschließend werden Jungpflanzen fl eingesetzt. Die Patienten, -innen, welche sich sonst vorwiegend im Zimmer aufhalten, sind dadurch motiviert, auf die Terrasse zu fahren und zu schauen, ob sich die Pflanzen fl gut entwickeln. Sie übernehmen die Verantwortung für das Gießen und teilen ihre Beobachtungen den Mitpatienten mit. Auch die Besucher werden auf die Terrasse geführt (Frau S. zu ihrer Tochter: „Ich muss Dir unbedingt zeigen, wie groß meine Paprika schon sind“), wodurch sich hier ein lebhafter Kommunikationsort entwickelt hat. Frau P., geb. 1918, wurde nach einem Schlaganfall mit daraus resultierender linksseitiger Hemiparese bei uns aufgenommen. Sie war bedingt flung über ihre verlorene Selbstständigkeit rollstuhlmobil, und ihre Verzweifl war offensichtlich. Bei alltäglichen Verrichtungen wurde sie leicht ungeduldig und zornig, ärgerte sich darüber, dass nichts mehr so funktionierte wie früher, und darüber, dass alles so langsam und umständlich geht. Sie meinte, sie sei „zu nichts mehr nütz“ und „der Herrgott hätte sie doch gleich holen können“. Frau P. war nach ihren Erzählungen eine sehr emsige Frau, die sich immer Arbeit fand. Sie führte mit ihrem Ehemann ein Obst- und Gemüsegeschäft, hatte Kinder und ein Haus mit Garten zu versorgen. Dementsprechend schwer konnte sie die veränderten Umstände akzeptieren. Sie vermied den Kontakt zu Mitpatienten, denn sie werde ja ohnehin nicht hier bleiben. Eine Entlassung erschien allerdings aus verschiedensten Gründen nicht mehr möglich. Eines Nachmittags, als Frau P. mit ihren Angehörigen in den Garten kam, wurde an einigen Hochbeeten, in denen Blumen gepflanzt fl waren, gerade gearbeitet. Sie beobachtete eine ganze Weile, schüttelte manchmal den Kopf und ließ sich dann näher bringen. „Die Erde ist viel zu trocken“ meinte sie, „und das ist alles Unkraut, das gehört weg“. Frau P. wurde von uns auf diese Begebenheit angesprochen, und sie bestätigte unsere Vermutung, dass Gartenarbeit für sie eine sehr erfüllende Tätigkeit war, betonte aber sofort, dass sie diese Arbeit ja nicht mehr durchführen kann. Frau P. und ihre Angehörigen wurden animiert, so oft als möglich in den Garten zu fahren, und auch in der Physio- und Ergotherapie verlagerten wir unsere Behandlungen teilweise in den Garten. Sie beobachtete dabei immer wieder Patienten, -innen mit ähnlichen Einschränkungen, welche sich im Garten betätigten, bis sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, selbst aktiv zu werden. Sie begann zuerst ganz „zufällig“, beim Vorbeifahren ein paar welke Blätter abzuzupfen, und verweilte immer länger an den Beeten, um ein paar Handgriffe zu tun. Sie beobachtete schon morgens das Wetter, um die anderen Patienten z. B. darauf hinzuweisen, dass sie heute nicht gießen sollten, da es höchstwahrscheinlich regnen wird. Im Laufe der Zeit
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nahm Frau P. die Angebote vom Personal und den Mitpatienten immer häufiger fi an, sie in den Garten mitzunehmen, und bald sah man sie fast täglich im Garten an den Hochbeeten beschäftigt. Frau P. hatte eine Aufgabe gefunden und dadurch Kontakte zu Mitbefiel ihr zunehmend leichter, Alternawohnern mit ähnlichen Interessen. Es fi tiven zu gewohnten Abläufen zu akzeptieren, zeigte sich geduldiger, und ihre Schimpftiraden wandelten sich allmählich zu amüsanten Meldungen. Sie lernte, ihre Defi fizite zu akzeptieren, aber was noch viel wichtiger war, sie übernahm Verantwortung, fühlte sich gebraucht und nützlich (selbst am Wochenende achtete sie darauf, die Pfl flanzen während eines heißen Sommers ausreichend zu bewässern). In der Therapie verhielt sie sich zunehmend kooperativ und konnte so einen Teil an Selbstständigkeit vor allem im ADL-Bereich wieder erlangen.
2 Musik in der Therapie und im Alltag Musiktherapie kann aktiv und passiv erfolgen. Musikstücke haben eine vielfältige Wirkung, die von Freude, über Aktivierung und Beruhigung bis zu Veränderungen im körperlichen Bereich führt. Die Biografi fie hilft hier oft, das Richtige auszuwählen. Besonders Musikstücke von Mozart haben ein breites Wirkungsspektrum und werden etwa auch bei der Therapie von Menschen mit apallischem Syndrom eingesetzt. finden Musik, vorausgesetzt sie gefällt uns, als etwas AngeWir alle empfi nehmes, verbinden Erinnerungen damit, empfi finden tiefe Emotionen beim Musikhören. Musik ist imstande, uns zu „bewegen“, verändert unseren Gesichtsausdruck, beeinfl flusst unter anderem Herzschlag, Blutdruck und Atmung – Musik „tut etwas“ mit uns. Musik hat für viele Menschen im Alltag eine sehr große Bedeutung. Singen, Musizieren oder Musikhören begleiten uns, mehr oder weniger, ein Leben lang. Über ihre Erfahrungen und Erinnerungen mit Musik können wir mit den Patienten, -innen in Kontakt treten und Beziehung aufbauen. Es ist uns möglich, mit Musik die Therapie und ihre Wirkung zu beeinflusfl sen, und allgemein lässt der bewusste Einsatz von Musik das Leben in einem Heim lebendiger und aktiver werden. In der Gruppentherapie haben wir Musik in unterschiedlicher Form eingesetzt. Einige unserer Patienten hören gerne eine bestimmte Musiksendung im Radio. Daraus ergeben sich immer wieder Gespräche unter den Mitwirkenden, damit verknüpfte Erinnerungen, sogar Lebensgeschichten werden erzählt, und nicht selten beginnt einer zu singen, und weitere Teilnehmer stimmen mit ein. Wesentlich erscheint mir hier der Aspekt, dass die Sendung bewusst gehört wird und die Patienten, -innen dies gemeinsam erleben. Musik als Begleitmusik oder Hintergrundmusik wird unterschiedlich erlebt. Teilweise trägt sie zu gemütlicher Atmosphäre und verstärkter Kom-
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munikation zwischen den Teilnehmern bei, kann aber auch als störend empfunden werden. Läuft ständig das Radio oder ein Tonband z. B. während einer Handwerksgruppe, können Konzentration und Aufmerksamkeit sinken und das Aggressionspotenzial steigen. In vielen Häusern finden regelmäßig Musiknachmittage statt. Diese gestalten sich sehr unterschiedlich und leben durch die Anregungen und fixer Programmpunkt im Heimalltag. Wünsche der Teilnehmer. Sie sind fi Ein Haus veranstaltet jede Woche einen Musiknachmittag mit Jause, an dem Bewohner anderer Häuser ebenso teilnehmen. Die musikalische Palette reicht von Heurigen- und Wienerliedern bis zu Operettenmelodien. Üblicherweise beginnen einige der Patienten, mitzusingen und oft auch zu tanzen. Eine Musikrunde, bei der Patienten vorwiegend klassische Musik hören, wird einmal im Monat angeboten. Gemeinsam wird das Musikstück angehört und anschließend besprochen. Die Bewohner selbst bringen sehr viel an Anregungen und Wissen ein. Die Teilnehmer sind meist sehr musikinteressierte Menschen, viele besuchten regelmäßig Konzerte. Dieses gemeinsame Erleben wirkt auf die Patienten sehr verbindend und kommunikationsfördernd. Sie haben dadurch die Gelegenheit, einen wesentlichen Teil ihres Selbst, ihres Lebens auch bei veränderten Lebensbedingungen weiterführen zu können. Wir haben beobachtet, dass beim und nach dem Singen bekannter Lieder allgemein die Mundmotorik angeregt wird, weniger Wortfi findungsstörungen auftreten, Aphasiker wesentlich fl flüssiger sprechen und auch Patienten mit demenziellen Erkrankungen sehr oft den Text eines Liedes einwandfrei wiedergeben. Alte Schlager, Volkslieder, Operettenmusik, Heurigenlieder, aber auch Kinderlieder sind Musikstücke, auf die unsere Patienten ansprechen, da sie im Langzeitgedächtnis gespeichert sind und mit denen sie oft emotionale Erinnerungen verknüpfen. Beim Gedächtnistraining können Bilder von Interpreten alter Schlager gezeigt werden, das passende Lied dazu soll gefunden werden (Hilfestellung kann durch eine begrenzte Auswahl erfolgen), und oft beginnen die Patienten, dieses Lied zu singen. Ein Lied anzusingen, hat einen hohen Aufforderungscharakter, Patienten stimmen mit ein und singen weiter. Sehr oft wird der Text eines altbekannten Liedes wieder erarbeitet, denn oft sind nur der Refrain oder Teile des Stückes in Erinnerung. Zum Schluss wird dieses Lied von allen gemeinsam gesungen und bei der nächsten Einheit als Einstieg noch einmal wiederholt. Singen hat Auswirkungen auf viele Bereiche. Es beeinflusst fl z. B. unsere Atmung, kann Bewegung rhythmisieren und durchgängiger machen, den Körper aufrichten, das Gedächtnis aktivieren, unsere Stimmung verändern, Schmerzen „vergessen lassen“ und Angst reduzieren. Insgesamt wirken Bewegungen mit Musik oft harmonischer und fl fließender, Patienten lassen sich mit Musik leichter auf die Bewegung ein. Frau A., gehfähig mit einer Krücke nach einer Schenkelhalsfraktur, war sehr zaghaft und ängstlich, sobald sie in der Therapie ohne Krücke, nur mit
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Unterstützung der Therapeutin, ein paar Schritte zurücklegen sollte. Sie klebte regelrecht am Boden fest, wirkte starr und unbeweglich, mehr als zwei bis drei Schritte waren nicht möglich, dann verlangte sie nach einem Sessel und konnte nicht mehr dazu gebracht werden, weiterzumachen. Im Stationsalltag ging Frau A. selbstständig mit der Krücke, teilweise, ohne diese als Stütze zu verwenden. Als wir mit Frau A. während der Therapie zu singen begannen und das gesungene Lied zum Hauptthema machten, sie damit auch „rhythmisierten“, gelang es ihr, eine weitere Strecke zurückzulegen. Unser natürliches Musikinstrument ist die Stimme, und diese können wir sehr bewusst einsetzen und durch sie sehr viel an Information gewinnen. Stimme und Tonlage teilen uns etwas über unsere Patienten mit, aber wir dürfen nicht vergessen, dass auch unsere Stimme und Tonlage wiederum ihre Auswirkung auf unser Gegenüber haben. Die Aufforderung zu einer kraftvollen, großen Bewegung muss von uns auch kräftig, laut und eventuell schnell gesprochen werden, um auf allen Ebenen authentisch zu sein, um damit die größtmögliche Information zu geben. Bewusst gesetzte Musiksignale können dazu beitragen, dass sich Patienten besser orientieren können. Wir benützen solche Signale z. B., um eine Therapieeinheit einzuleiten und abzuschließen. Das kann ein gemeinsam gesungenes Lied sein oder auch ein gespieltes Musikstück (Tonband, Schallplatte, CD), welche die Themen „Begrüßung“ und „Abschied“ haben. Auf einer Station mit demenziell erkrankten Patienten werden morgens, mittags und abends altbekannte Melodien gespielt, z. B. die Einleitungssequenz der Radiosendung „Autofahrer unterwegs“ zur Mittagszeit (jeder Österreicher über 40 kennt diese Melodie), um den Impuls zu setzen – jetzt ist Mittag, also Essenszeit. Auch altbekannte Volkslieder, in denen die Jahreszeiten Thema sind, werden zur Verbesserung der Orientierungsfähigkeit eingesetzt. Sehr oft wird Musik auch zur allgemeinen Aktivierung eingesetzt, am Beginn einer Spiel- und Bewegungsgruppe z. B. mit einem Wanderlied, einem Marsch oder auch Sprechgesang. Der Einsatz von solchen Musikstücken wirkt auf die Patienten belebend, die Aufmerksamkeit steigt, und die Aufforderung, aktiv zu sein, wird vermittelt. Eine sehr aktivierende Variante für größere Gruppen ist „Körpermusik“. Die Teilnehmer haben die Aufgabe, mit ihrem Körper ein „Musikstück“ zu spielen. Tätigkeiten, wie klatschen, mit den Fingern schnippen, auf den Oberschenkel klopfen, den Boden stampfen, pfeifen, was immer ihnen einfällt und von den Teilnehmern durchgeführt werden kann, werden in der Gruppe aufgeteilt. Der Reihe nach setzen die „Instrumente“ ein, und es entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit ein hohes Aktivitätsniveau, die Teilnehmer sind präsent. Bei erhöhten Spannungszuständen setzen wir Musik zu Beginn einer Therapieeinheit als unterstützende Komponente zur Entspannung ein. Es zeigt sich eine allgemeine Tonusregulation, die Atmung wird ruhiger und regelmäßiger, der Patient kann sich vom Stationsalltag loslösen und so die nötige Aufnahmebereitschaft zur Therapie entwickeln.
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Musik in der Therapie muss sehr bewusst eingesetzt werden und auf den/die Teilnehmer abgestimmt sein. Genaues Beobachten, Spüren und Erkennen der Reaktionen des Patienten sind notwendig, um herauszufinfi den, ob das Einsetzen von Musik die gewünschte Wirkung hat. Der eigene Rhythmus und das eigene Tempo können irritiert werden, und so wäre der Einsatz von Musik kontraproduktiv. Ich möchte hier noch darauf hinweisen, dass der Einsatz von Musik, so wie ich ihn hier beschrieben habe, nicht gleichzusetzen ist mit Musiktherapie. Musiktherapie ist die therapeutische Anwendung von Musik als klinische Behandlungsmethode, welche erprobt und etabliert ist und von ausgebildeten Musiktherapeuten auch in der Gerontologie eingesetzt wird. Die Defi finition von Musiktherapie nach der World Federation of Music Therapy (WFMT) lautet folgendermaßen: „Anwendung von Musik und/ oder musikalischer Elemente (Töne, Rhythmus, Melodien und Harmonien) durch einen qualifi fizierten Musiktherapeuten bei einem Patienten oder einer Gruppe von Patienten. Es handelt sich um einen Prozess, um Kommunikation, Beziehung, Lernprozess, Ausdruck, Organisation und andere wichtige therapeutische Ziele zu erreichen und zu verbessern; um physischen, emotionellen, kognitiven und sozialen Notwendigkeiten zu genügen. Die Musiktherapie versucht, die potenziellen Funktionen des Individuums zu entwickeln und/oder wiederherzustellen, um daraus eine bessere persönliche und zwischenmenschliche Integration zu erreichen und daraus folgend eine bessere Lebensqualität, dank eines Prozesses von Prävention, Rehabilitation oder Therapie.“
3 Maltherapie „Maltherapie“ ist oft ein weit gefasster Begriff. Der Einsatz von Farbe als kreatives Medium bietet aber viele Möglichkeiten, sich auszudrücken. Malen wird in vielen Bereichen als unterstützende Therapie, aber auch als direkte Form der Verbesserung der Stimmung und auch der Motorik eingesetzt. Gerade die durch Malen erzeugten Erfolgserlebnisse, aber auch das Aufgeben von Kontrolle sind wesentliche Elemente. Der Begriff Maltherapie ergibt sich aus der Tätigkeit selbst, welche verschiedene Berufsgruppen in der Praxis anwenden. In der Geriatrie wird Malen sehr oft eingesetzt, da diese Technik unzählige Variationen von Material und Farben bietet und dadurch eine große Patientengruppe angesprochen werden kann. Das freie Malen bietet dem Patienten eine Möglichkeit, Gefühlen und Stimmungen, Befi findlichkeiten und Bedürfnissen Ausdruck zu geben, sich mitzuteilen und in Beziehung zu setzen sowie Erlebnisse zu bearbeiten. Bieten wir Malen dem Patienten das erste Mal an, so hören wir häufig: fi „Ich kann doch nicht malen, ich habe kein Talent dazu“. Da sind wir Be-
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treuer gefragt, die richtige Technik herauszufi finden, um den Patienten an das freie Malen heranzuführen und sein kreatives Potenzial weiterzuentwickeln. Hinzuführen zu ausdrucksstarken, authentischen Werken, in denen der Patient sich wiederfi finden kann. Ein leeres Blatt Papier und ein freies Thema werden oft als Überforderung empfunden, und der Patient kann sich darauf zu Beginn oft nicht einlassen. Einfache Techniken (z. B. Wasser- und Aquarellfarben, Ölkreiden, Fingerfarben) eignen sich besonders gut zum freien Malen, da komplizierte und aufwendige Arbeiten den spontanen Ausdruck behindern können. Ausmalen von vorgegebenen Motiven wird zu Beginn gerne angenommen, gibt Struktur und lässt innerhalb vorgegebener Grenzen auch Freiräume zu. Dazu eignet sich z. B., ein Mandala auszumalen, was für viele einen beruhigenden, fast meditativen Charakter hat. Verschiedene Materialien und Farben, wie z. B. Ölkreiden, dicke weiche Stifte, Acryl- und Aquarellfarben, können hier verwendet werden. Sich über das Spiel mit Farben dem Malen annähern. Geeignete Techniken dazu sind u. a. die Crash-Technik beim Seidenmalen oder das Marmorieren, aber auch Aquarellieren eignet sich dazu. Abhängig von der Farbauswahl ist das Ergebnis jedes Mal eine Überraschung für sich, je nachdem, wie viel von einer Farbe verwendet wird, wie intensiv eingefärbt wird und auf welche Weise der Gegenstand mit der Farbe in Berührung kommt. Diese Produkte sind „Zufallsprodukte“, eignen sich, um erste Erfahrungen mit Farbe und Material zu machen, und bieten rasche Erfolgserlebnisse. fl absMalen als Ausdruck von Bewegung und Dynamik. Großflächiges, traktes Malen mit dicken Pinseln, mit den Fingern oder dicken Stiften oder Kreiden macht Bewegung und Dynamik sichtbar und kann diese fördern und verbessern. Sehr oft besteht eine gewisse Scheu, alles so „anzuschmieren“ – hier kann anfangs ein vorgegebener Weg oder eine begrenzte Fläche, welche bemalt werden soll, hilfreich sein und die ersten Hemmungen überwinden helfen. (Beim großfl flächigen Malen auf die Atmung achten). Auch dazu summen oder singen kann die Bewegung flüssiger und runder werden lassen, Hemmungen abbauen helfen, die Bewegung läuft „von selbst“, da etwaige Ängste und Schmerzen im Moment einfach „vergessen“ werden. Frau F., geb. 1910, wurde nach der Gipsabnahme (Z. n. Radiusfraktur rechts) zur Therapie zugewiesen, da sie im ADL-Bereich (besonders beim Waschen, An- und Auskleiden) zunehmend mehr Unterstützung benötigte und der gesamte rechte Arm im Alltag sehr wenig eingesetzt wurde. Sobald jemand versuchte, ihren Arm nur zu berühren, schrie sie laut auf und verweigerte jede Zusammenarbeit. Frau F. besuchte vorher regelmäßig die Kreativgruppe der Ergotherapie, wozu sie auch jetzt motiviert werden konnte. Die Gruppe (5 Teilnehmer) arbeitete mit Fingerfarben, mit dem finden Wege zueinander“. Frau F. versuchte, erste zaghafte Thema „Wir fi Spuren auf dem Papier zu hinterlassen (Hand- und Fingerabdrücke) und zeigte sich sichtlich erleichtert, dass die Teilnehmer auf sie zumalten, den Weg zu ihr suchten. Sie wagte sich zaghaft weiter und versuchte, Kontakt mit den anderen Teilnehmern zu fi finden und ihre „Wege und Spuren“ zu
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kreuzen. Am Ende der ersten Sitzung hatte Frau F. ihren Aktionsradius, wenn auch gering, erweitern können, ohne Schmerzen zu haben. Wir wiederholten ähnliche Aktionen noch mehrmals, bis Frau F. bereit war, auch weitere Therapiemaßnahmen zuzulassen. (Wir haben diese „Malerei“ nach 3 Monaten wiederholt; die Teilnehmer verwendeten die gleichen Farben wie bei der ersten Sitzung und verglichen die beiden Bilder. Frau F. erkannte auf den Bildern die Veränderung und meinte „mein Gott, ging es mir damals schlecht“). Gemeinsames Malen fördert die soziale Kompetenz. Diese Gemeinschaftserlebnisse haben sowohl Patienten, -innen und auch mir selbst immer große Freude bereitet. Dazu ist es notwendig, die zu bemalende Fläche groß genug zu halten, damit jeder seinen Platz finden kann. Es eignen sich dazu große Papierfl flächen, verschiedene Gewebe, Holzplatten und Gegenstände. Persönliche Stärken, aber auch Schwächen zu erkennen, Grenzen einzuhalten, den Anteil anderer zu akzeptieren und die eigenen Aufgaben zu bewältigen, sind die Herausforderungen. Die Kommunikationsbereitschaft der Teilnehmer wird zunehmend größer, und letztendlich ist das gemeinsame Erleben im Werk selbst sichtbar. In meiner langjährigen Tätigkeit in der Geriatrie habe ich erfahren, dass in Pfl flege-Einrichtungen und Altenheimen die ärztliche Betreuung, die Pfl flege und Therapie die wesentlichen Stützpfeiler darstellen und die Grundbedürfnisse abdecken. Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche nach sozialen Beziehungen, aktiver, sinnvoller und Sinn gebender Lebensgestaltung können durch den Einzelnen oder durch einzelne Berufsgruppen nicht ausreichend abgedeckt werden, wenn wir nicht über unsere ursprüngliche berufl fliche Tätigkeit hinaussehen. Vernetzungen unter den einzelnen Betreuungsgruppen (Berufsgruppen) sind vermehrt notwendig, die Fähigkeit, auch einmal über das Tätigkeitsprofi fil hinauszusehen, übliche Vorgangsweisen und Zuständigkeiten aufzulösen, um den uns anvertrauten Menschen mehr zu bieten als das, was sie Grundlegendes benötigen, um wirklich von Lebensqualität des Einzelnen sprechen zu können. Dass wir Wege finden müssen, um endlich kundenorientiert zu denken und zu handeln. fi Denn in erster Linie muss es doch wesentlich sein, die Bedürfnisse von Patienten zu erkennen und der Wille, diese zu erfüllen. Und zweitrangig darf die Zuständigkeit eine Rolle spielen. Die Kunst liegt wohl darin, Kompetenzen, Aufgaben und Zuständigkeiten sehr wohl festzulegen, den Spezialisten dort einzusetzen, wo sein Fachgebiet ist, aber die Grenzen fl fließend zu gestalten. Zu akzeptieren, dass es Bereiche gibt, für die keine eigene Berufsgruppe vorhanden ist, welche diese abdeckt, aber für die jeder verantwortlich und zuständig sein könnte, sodass gemeinsam etwas zustande kommen kann, mit dem der Einzelne oder eine Berufsgruppe überfordert ist. Weg zu kommen von der Vorstellung, dass wir für jede Tätigkeit, die über unsere ursprüngliche Profession hinausgeht, wieder eine Fachkraft benötigen, die diesen Bereich abdeckt. So wie wir von Berufs wegen keine Seelsorger sind, können wir uns dennoch um die Seele unserer Mitmenschen sorgen.
Alternative Behandlungsmöglichkeiten
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Literatur Bengfort, Johnen, Niepel, Ohnesorge (1997/98) Klinik Holthausen: Garten als Therapie. Klinikinterne Fortbildung Kaltenecker, Schrammel (2000/2003) Mit Musik geht alles leichter – Musik in der Ergotherapie als unterstützendes Hilfsmittel im Bereich der Geriatrie. Seminararbeit, Lehrgang 2000/2003 der Akademie für den ergotherapeutischen Dienst am allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien http://home2.worldonline.es/emtbemtb/embni1d.htm http://www.musiktherapie.de/musiktherapie.htm http://www.wissenschaftlichemusiktherapie.de/08 http://www.kunsttherapie.de/theorie&praxis-artikel-kt-entwicklung.htm http://www.kunsttherapie.de/theorie&praxis-artikel-kt-senioren.htm http://www.kunsttherapie.de/info-faq.htm http://www.ergokreativ.onlinehome.de/facharb.htm
Garten, Therapie und Pfl flege Fritz Neuhauser
1 Brisante Räume – kluge Gärten Die stationäre Altenpfl flege ist in den letzten Jahren zu einem hochbrisanten Thema geworden. Medien, Wirtschaft, Politik und öffentliche Meinung sind sich einig, dass hier ein besonderer Handlungsbedarf besteht. Kritische Medienberichte der letzten Zeit beklagten die räumlichen Gegebenheiten der stationären Pfl flege in unpersönlichen Mehrbettzimmern sowie einen Mangel an sozialen Angeboten und fordern wiederholt, dass die betreuten Menschen mehr an die Luft kommen. Reizarme Innenräume und monotone Routinen setzen tatsächlich die Menschen (auch die Mitarbeiter) einer enormen psychischen Belastung aus. Der Garten vor der Tür bleibt oft unerreicht und ungenutzt. Dieses Grundbedürfnis nach Naturkontakt erschließt der Qualitätsentwicklung in der Altenbetreuung jedoch wesentliche neue Entwicklungsmöglichkeiten mit vielfältigen Synergien.
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Dieser Ansatz fi findet auch Beachtung im neuen Wiener Stadtentwicklungsplan 2005 unter dem Kapitel „Gesundheit durch gesunde Gärten“. Gärten stehen ja immer für Veränderungen, für die Bewältigung wechselnder Herausforderungen, für flexible Anpassung, für Improvisation, für Genuss und Engagement.
2 Erfahrungen aus dem Therapiegarten „7-er Gart’l“ im Geriatriezentrum am Wienerwald (GZW) Das 7-er Gart’l ist Bestandteil der Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie am Pavillon VII im Geriatriezentrum am Wienerwald. Es ist ein Projekt der Mitarbeiter und daher auch der patriotische Name „7-er Gart’l“. Planungsphase: Fertigstellung: Nutzung: Planung:
1998–2000 2001 seit Sommer 2001 DI Stefan Schmidt
Externe Partner der Konzeptentwicklung: Brigitte Jedelsky (MA18) Höhere Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau (Schönbrunn) Universität für Bodenkultur Volkshochschule Hietzing Österreichische Kinderfreunde
Garten, Therapie und Pflege fl
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Die Idee und das Konzept der Gartentherapie sind die Antwort auf das allseits empfundene Manko an Naturkontakt und Lebensqualität für unsere hochbetagten Bewohner in Verbindung mit dem Bemühen um eine Verbesserung der Arbeitszufriedenheit. Der Therapiegarten ist auch eine Reaktion auf ausufernde Standardisierung und Bürokratisierung in der Altenpfl flege. Er stellt eine reale Aufforderung dar, die unmittelbare Umwelt wieder bewusster in die Pfl flege- und Behandlung einzubeziehen. Gerade auch weil unser palliativmedizinischer Grundgedanke die Lebensqualität im Zentrum aller Überlegungen hat. Gerade in der letzten Lebensphase! Der Therapiegarten kultiviert gemeinsame positive Entwicklungsziele auf verschiedenen Ebenen.
Unsere wichtigsten Argumente zu Beginn des Projektes Für unsere Bewohner Q Wiederherstellung der Verbindung von Mensch und Natur in jedem Krankheitsstadium (auch die Betten haben Räder); Q Sinneserfahrungen, wie Sehen, Riechen, Fühlen, …, als grundsätzliche Erlebnisqualitäten nutzen; Q Erhaltung von Mobilität, Interesse und mentaler Funktionen; Q Freude, Initiative, Sinn, Selbstwert; Q das Aufbrechen von Isolation, Förderung von Gemeinschaft; Q Einsparen von Schlaf-, Schmerz- und Beruhigungsmitteln; Q eine bessere Integration von Angehörigen, ehrenamtlichen Mitarbeitern, Kindergartenkindern und kreative Angebote durch die lokale Volkshochschule.
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Für die Mitarbeiter Q Eine positive Identifi fikation, eine selbstverantwortete Initiative für eine Verbesserung der Arbeit; Q eine Einladung zur hierarchiefreien Zusammenarbeit zwischen verschiedensten Berufsgruppen, Nationalitäten und Generationen; Q eine Verbindung lustvoller Arbeit mit Anerkennung für eine besondere Qualität; Q Prävention von Burn-out; Q Impuls für ein neues Selbstverständnis professioneller Betreuung durch die Einbeziehung der medizinisch-rehabilitativen Möglichkeiten des Freiraumes.
Der Therapiegarten als neues Kooperationsfeld – Erfahrungen Die therapeutischen Aktivitäten im Garten mit Patienten und die Tiertherapie sind im GZW schon seit einigen Jahren etabliert. Der Therapiegarten an der palliativmedizinischen Abteilung wird nun schon seit 2001 genutzt. Er hat sich in der Zwischenzeit zu einem geselligen Zentrum von Bewohnern, Mitarbeitern, Nachbarn, Angehörigen und Therapeuten entwickelt. Ein ungezwungener Ort direkt vor dem Haus, der Anregung und Abwechslung und neuen Raum für Therapien bietet, seien es nun die Pfl flanzen, die Bocciagruppe, die Tiere oder die Kinder, die hier zum Teilnehmen auffordern. Hier haben einzelne Stationen des Hauses eigene Hochbeete, die sie kontinuierlich betreuen, gemeinsam mit Patienten und oft auch mit Unterstützung der Angehörigen. Doch die therapeutische Hauptarbeit leistet der Garten sozusagen selbst, indem er die Menschen aufnimmt, einander näher bringt, sie sogar in ihren Betten an die Hochbeete heranlässt und Zeit und Aufmerksamkeit herstellt für die erfreulichen Seiten des Lebens. Indem er Appetit macht auf das Essen, einen guten Schlaf bringt und eine wirkliche Freude auf morgen. In der Praxis brachte der Garten auch eine Nutzung und eine Vernetzung von Ergotherapie, Physiotherapie, Psychotherapie, Medizin und der Pflege. fl Aktivitäten des Betriebskindergartens und der Volkshochschule treten im Garten in einen lebhaften Austausch. Mahlzeiten und Feste im Garten sind nichts Außergewöhnliches. Und immer mehr Angehörige verweilen in „ihrem“ Garten.
Aus unserer Evaluierung Katrin Scheiblhofer (Höhere Bundes-Lehranstalt für Gartenbau Schönbrunn) hat unsere Gartentherapie-Aktivitäten evaluiert und die Erwartungen und Ergebnisse einer Saison von Ärzten, Therapeuten, Patienten und Angehörigen eingeholt und verglichen:
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Nutzungspräferenzen der Patienten (Legende im Uhrzeigersinn)
Therapeutische Potenziale aus Sicht von Ärzten und Therapeuten
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Diese Ergebnisse bestätigen auch unsere eigenen Beobachtungen. Die besondere Bedeutung der Aspekte der sozialen Integration und der Partizipation in einem vertrauten lebensweltlichen Ambiente werden nicht nur von Ärzten und Therapeuten ins Treffen geführt, sondern decken sich auch mit den Befragungsergebnissen von Bewohnern und ihren Angehörigen. Funktionell-rehabilitative Aspekte und Förderung in den Bereichen Konzentration, Geduld, kognitives Training und Aggressionsabbau rangieren dagegen in den Nennungen am untersten Ende der Skala. Das Potenzial für therapeutische Zielsetzungen im Garten ist nach unserer Einschätzung noch weitaus nicht ausgeschöpft. Wir stoßen immer wieder an die Grenzen durch begrenzte Personalkapazität und sehen noch Optimierungsbedarf in organisatorischer Hinsicht. Ein guter Therapiegarten darf einem nicht merken lassen, dass man hier übt. Hier wird nicht trainiert. Hier tut man einfach, was zu tun ist.
Das wichtigste Argument für die Ärzte und Therapeuten Das wichtigste Argument des Pavillons VII ist die kontaktfördernde und die kommunikationssteigernde Wirkung des Gartens. Er dient aber auch zur Entspannung und vermag depressive Gefühle binnen Minuten zu vermindern. Wichtig ist die Distanzierungsmöglichkeit aus einer oftmals als einengend und monoton empfundenen stationären Betreuungssituation. Dieses Belastungsmoment ist bei allen Gruppen ablesbar. Der Therapiegarten schafft eine Vernetzung zwischen Menschen aller Berufsgruppen. Er bringt also wesentliche soziale, gesundheitliche und damit auch wirtschaftliche Vorteile für Institutionen. Die Angebote im Garten wecken neue Motivationen bei den Mitarbeitern und helfen hoffentlich auch, dass in Zukunft deutlich mehr als 5 Prozent der Schwestern und Pflefl ger länger als fünf Jahre in ihrem Beruf bleiben.
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Der Therapiegarten leistet Integration und Verständigung Abgesehen von der derzeit generell argwöhnischen Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Pflegeeinrichtungen, fl finden wir immer komplexere Kommunikationserfordernisse, sowohl was die Verständigung über die Hierarchieebenen der Institution betrifft, als auch innerhalb der bunten Teams in den Pfl flegestationen. Der Herkunft nach zählten wir vor einigen Jahren 77 Nationalitäten unter den Mitarbeitern und den Betreuten Menschen in unserer gesamten Einrichtung. Das ist eine wahre Herausforderung. Unsere Aktivitäten im Therapiegarten führten zu neuen Freundschaften zwischen den Mitarbeitern, zu den Patienten und den Angehörigen und zu einem zwanglosen partnerschaftlichen Dialog zwischen den Generationen und den Kulturen. Die Aktivitäten im Garten fördern sichtlich die Verbindung zwischen den Generationen, vor allem auch zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen mit ihren vielfältigen kulturellen Hintergründen; im Besonderen aber auch zu den Familienangehörigen unserer hochbetagten Bewohner. Der Garten als Therapeutikum Bei Alzheimerpatienten beobachten wir eine gesteigerte Aufmerksamkeit, die Freude des Vertrauten, das Bewusstsein von Verantwortung und Zugehörigkeit. In vielen Fällen bemerkten wir eine eindrückliche Verminderung von Unruhe, Angst, depressiven Symptomen, weniger Schmerzen, gesteigerten Appetit, bessere Orientierungsleistungen. Alles Ergebnisse, die auch wissenschaftlich erwiesen sind (R. Ulrich). Aber auch schal gewordene Schlagworte, wie Wertschätzung, Tradition von Kultur und Wissen, soziale Unterstützung, Toleranz, Förderung von Autonomie und Selbstwert, werden im Garten plötzlich zum Anfassen lebendig. Die gemeinsame Fürsorge für die äußere Umgebung erlaubt eine gesündere und attraktivere Rolle des Patienten. Sie fördern die Achtsamkeit und führen zu einer Haltung der Dankbarkeit. Gärten in Pfl flegeeinrichtungen fördern Bewegung und belohnen Aufmerksamkeit. Gärten haben ein gemächliches Tempo und versöhnen durch das Bewusstsein von Werden und Vergehen.
3 Die Geriatrie in der Krise und das Reformpotenzial im Garten Ein Therapiegarten als Modell der Pfl flege? Für die Begleitung von Patienten in den Park waren bislang keine Pflegefl minuten vorgesehen. Folglich kamen Aktivitäten im Garten nur sporadisch
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zustande und dann oft auch schnell wieder zum Erliegen. Die Aufrechterhaltung einer lebendigen Verbindung der betreuten Menschen zur Natur war im professionellen Verständnis bisheriger Modernisierungen von Pflefl gemodellen nicht mehr Gegenstand des Betreuungsauftrages und wurde somit zur Privatangelegenheit der Patienten und ihrer oftmals ebenfalls deutlich mobilitätseingeschränkten Angehörigen. Neuerdings werden in die Personalbedarfsberechnung 25 Minuten pro Patient für solche Aktivitäten einberechnet. Das verstehen wir als deutliches Signal und als Aufforderung, diesen Weg einer ganzheitlichen und integrierten Betreuungspraxis mit bestmöglicher Einbindung der unmittelbaren Außenräume weiter zu verfolgen und auszubauen.
Der Garten – die Signatur der Institution Der Garten repräsentiert ganz fraglos wesentliche lebensbezogene, ökologische und pädagogische Werte. Werte, die gerade auch in organisatorischen und sozialen Änderungsprozessen, wie wir sie derzeit in der Geriatrie erleben, als wertvolle Bezugsgrößen erhalten und verstärkt genutzt werden sollten. Der Garten ist auch reale Umwelt am Arbeitsplatz, für Patienten, für Mitarbeiter und Verwandte gleichermaßen.
Die Quintessenz von Therapiegärten – an die Adresse der Erhalter Ein Therapiegarten bringt Synergien und ökonomische Perspektiven. Darüber hinaus sind die Zugangsmöglichkeit, die Beschaffenheit und die Benutzbarkeit von Garten und Freiraum grundlegende Merkmale, in welchen sich die Werthaltung und die Orientierung von Institutionen und der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen Menschen auf unmissverständliche Weise widerspiegeln. Es handelt sich hier um ein Schlüsselkriterium für Humanität auf biologischer Grundlage. Es ist nicht möglich, Menschen die Aufenthaltsmöglichkeiten im Freien vorzuenthalten, ohne diese in ihrer gesundheitlichen und sozialen Integrität zu beeinträchtigen oder zumindest den Humanitätsstatus und die Philosophie der Institution (in weiterer Folge auch die der Gesellschaft) massiv infrage zu stellen.
Gärten sind Lebensräume und daher auch ein Instrument für Genesung! Zugänglichkeit und Nutzungsmöglichkeiten von Gärten und Freiräumen müssen daher auch ganz selbstverständlich als ein Kriterium für Ethik, Nachhaltigkeit, Effi fizienz und Wirtschaftlichkeit von Betreuungseinrichtungen erkannt und gemäß dieser Synergien entwickelt werden. Kluge Gärten kultivieren Vertrauen und bringen wirtschaftliche Vorteile.
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Denn der Therapiegarten erbringt Leistungen für Q Patienten: bessere Angebote – höhere Lebensqualität; Q Angehörige: bessere Integration – mehr Zufriedenheit; Q Bedienstete: ganzheitlichere Betreuung – mehr Freude am Beruf – bessere Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen, Nationalitäten, Generationen; Q Kinder: Förderung sozialer Sensibilität und Kompetenz; Q Arbeitgeber: weniger Fluktuation – weniger Kosten – weniger Beschwerden – gutes Image; Q Gesellschaft: Umdenken und Neubewertung von Hochaltrigkeit und soziale Integration. Als Erfolgskriterien sehen wir daher heute Q Förderung der persönlichen Begegnung zwischen den Kulturen und Berufsgruppen; Q Hebung der Lebensqualität durch Verbindung von Berufsfeld und Regenerationsfeld Garten; Q soziale Integration und Generationensolidarität; Q Begegnung von Jung und Alt; Q soziale Kompetenz; Q Zufriedenheit im Beruf und Aufwertung des Berufsfeldes; Q Stressabbau und Psychohygiene; Q Förderung von Eigenverantwortlichkeit und Autonomie; Q Natur, Kinder und Tiere als Motivation und Stimulation zwischenmenschlicher Beziehung; Q Förderung von Vertrauen und Toleranz durch lustbetonte Aktivitäten; Q therapeutische Nutzung emotional hochbesetzter, bekannter Aktivitäten; Q Erleichterung biografi fischer Arbeit durch vertraute Alltagsaktivitäten; Q Reduktion von Depressivität, Negativismus und Apathie; Q Tradition von Wissen und Werten. Im institutionellen Umfeld der Geriatrie stellt die Natur eine ganz besondere therapeutische Ressource dar. Die alten geriatrischen Einrichtungen sind geradezu gesegnet mit weitläufi figen Grünfl flächen. Durch die kritische öffentliche Diskussion hat der Freiraum sehr an Bedeutung gewonnen und bietet eine gute Option für Veränderungsprozesse und Qualitätsentwicklung. Eine Einladung im besten Sinne des Wortes, welcher der neue Wiener Stadtentwicklungsplan STEP 2005 Rechnung trägt.
4 Ausblick, Aufgaben, Entwicklungen In unserer bisherigen Arbeit entwickelte sich eine lebendige Verbindung von Kindergarten, Tiertherapie und Gartentherapie, die wir noch ausbauen wollen.
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Dieser Ansatz führte zum Konzept einer Kombination aus Tiertherapie, eines Therapiegartens und eines Kindergartens in baulicher Kopplung an eine Langzeitpfl flegeabteilung für Alzheimerpatienten (Siedler 2003). In fachlicher Hinsicht führte unser Engagement zur Kooperation mit der Österreichischen Gartenbaugesellschaft und zur Gründung eines interdisziplinären Hochschullehrganges für Gartentherapie an der Donauuniversität Krems. Darüber hinaus sind wir seit 2005 in einer guten nachbarschaftlichen Zusammenarbeit mit der Agrarpädagogischen Akademie. Auf dem weitläufigen Areal dieser Hochschule ist ein externer Therapiegarten entstanden, fi der vor allem sozialrehabilitativen Zielsetzungen für unsere mobileren Bewohner dient. An dieser Bildungseinrichtung fi findet das nun auch im projektierten interdisziplinären Forschungsfokus „Naturgestützte Therapieformen und Ökopädagogik“ (Arbeitstitel) eine fachübergreifende Vertiefung. Unsere Arbeit führte neuerdings auch zu einer wissenschaftlichen Kooperation auf europäischer Ebene. Die EU-Kommission hat im EU-Rahmenprogramm für Austausch in der Wissenschaft und Technologie COST (European Cooperation in the Field of Scientific fi and Technical Research) ein internationales Projekt zur Vernetzung therapeutischer Einrichtungen in Landwirtschaft und Gartenbau als Aktion 866 „Green-Care in Agriculture“ beschlossen. Koordiniert wird das Projekt, in welchem mittlerweile sämtliche europäischen Staaten mitwirken, von der norwegischen Landwirtschaftsuniversität in Aas (Prof. Braastad). In den kommenden vier Jahren (August 2006 bis August 2010) sollen im Rahmen der Aktion folgende drei wesentliche Aufgaben bewältigt werden: 1. Das Wissen über Einrichtungen sowie die unterschiedlichen Konzepte, die sich die Betreuung bzw. Therapie geistig, psychisch und mehrfach behinderter Menschen, Suchtkranker, dementer und pflegebedürftiger fl Personen im Bereich der Landwirtschaft und des Gartenbaus zum Ziel gesetzt haben, auszutauschen, zu verbreitern sowie deren Potenziale, Möglichkeiten, Rahmenbedingungen und Limitierungen abzuschätzen. Insbesondere geht es dabei im Allgemeinen um die positiven Wirkungen der Natur auf den Menschen als auch um die soziale Integration gesellschaftlicher Randgruppen. 2. Eine enge internationale, aber auch nationale Vernetzung der Einrichtungen zu erreichen und den Erfahrungsaustausch zu verstärken. 3. Unterstützung bei der Planung und Implementierung neuer Einrichtungen und Projekte sowie die Förderung gemeinsamer Forschungsinitiativen auf diesem Gebiet. Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass unsere Arbeit im Geriatriezentrum am Wienerwald über die Therapiegärten eine sehr beachtliche Rezeption erfahren hat und wir nun in der skizzierten Vernetzung an eine breitere wissenschaftliche Fundierung unserer Praxis gehen können. Die Gärten von Pflegeeinrichtungen fl sind außerordentlich sensible soziale Räu-
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me. Sie verbinden Menschen, vermitteln Werte und Aufmerksamkeit. Sie fördern Gesundheit und machen das Berufsfeld und die Betreuungsstätten ungleich attraktiver. Gärten treffen wohl nicht nur den Nerv des Zeitgeistes, sondern berühren offensichtlich auch die Wurzeln unseres Menschseins und finden nun über die Grenzen hinweg zunehmend Eingang in die Szenarien laufender gesellschaftspolitischer und gesundheitspolitischer Zukunftsdebatten.
Unsere Kooperationen mit externen Einrichtungen Im Aufbau der Gartentherapie besteht eine Zusammenarbeit mit folgenden externen Institutionen: Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q
Österreichische Gartenbaugesellschaft, Agrarpädagogische Akademie, HBLA Schönbrunn (Gartenbauschule), Universität für Bodenkultur, Magistratsabteilung 18, Volkshochschule Hietzing, Ergotherapie Akademie Baden, sowie einer Reihe von Therapieeinrichtungen im In- und Ausland, Andreas Niepel: www.garten-therapie.de COST Aktion 866: Green-Care in Agriculture: www.umb.no/?avd=128
Literatur Donau-Universität Krems: Gartentherapie-Lehrgang: www.donau-uni.ac.at/de/studium/gartentherapie/index.php Forschungs- und Realisierungsprojekt „Therapiegarten – Ober St. Veit – Wienerwald“: www.agrarpaedak.at/forsch/forsch.html Gartentherapie im Geriatriezentrum am Wienerwald: www.wienkav.at/kav/gzw/texte_ anzeigen.asp?id=5724 Müller C (2002) Wurzeln schlagen in der Fremde. Internationale Gärten und ihre Bedeutung für Integrationsprozesse. Oekom-Verlag, München Niepel A, Emmrich S (2005) Garten und Therapie – Wege zur Barrierefreiheit. Ulmer, Stuttgart: www.garten-therapie.de Österreichische Gartenbaugesellschaft: Gartentherapie-Lehrgang: www.garten.or.at Roger U (1999) Effects of Gardens on Health Outcomes. In: Marcus CC, Barnes M (eds.) Healing Gardens – Therapeutic Benefits fi and Design Recommendations. Wiley, New York Scheiblhofer K (2003) Der Garten als Lebenshilfe – Theorie und Praxis der Gartentherapie. Diplomarbeit. HBLV f. Gartenbau, Wien Schönbrunn Schmidt S: Landschaftsarchitekt: www.landschaftsarchitekt.at/index.php?01_aussen Siedler S (2003) Freiraum/Therapieraum. Diplomarbeit. Universität für Bodenkultur, Wien: www.gruensinn.at Simmen R, Welter R (1997) Therapie von Umweltbedingungen statt Therapie von Symptomen. In: Reiter L, et al. (Hrsg.) Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive, 2. Aufl. fl Springer, Berlin Heidelberg New York
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Welter R, Simmen R, Helwing K (2002) Anders alt werden. Mitreden – Mitplanen. CarlAuer-Systeme-Verlag, Heidelberg Wiener Stadtentwicklungsplan STEP 2005: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/step/ pdf/step-kapitel3-5.pdf Wiesinger G, Neuhauser F, Putz M (2006) Farming for Health in Austria. Farms, Horticultural Therapy, Animal-Assisted Therapy. In: Hassink J, Dijk M van (eds.) Farming for Health. Green-Care Farming across Europe and the United States of America. Springer, Dordrecht, pp 233–248
Wunderdroge Humor Bericht eines CliniClowns im Geriatriezentrum Werner Goltz
Altern wird sehr häufig fi als so negativ wahrgenommen, dass Humor ausgeschlossen wird. Gerade Emotionen, vor allem Spaß und Lachen, haben jedoch wesentliche Auswirkungen auf das Leben von Menschen auch bei Krankheit und Altern. Die ClinicClowns sind das beste Beispiel dafür. „Eine tolle Idee!“ sagen die einen: „Die alten Menschen haben eh nichts mehr zu lachen!“. „Das kann nicht gut gehen!“ sagen die anderen: „Die alten Menschen haben eh nichts mehr zu lachen!“ Humor und Lachen wird von den meisten Menschen als positiv und angenehm empfunden, viele sehnen sich nach mehr humorigen Begegnungen in ihrem Leben. Aber gerade im Zusammenhang mit schwierigen oder belastenden Situationen scheint Humor oft unvereinbar, unterschiedliche Fragen tauchen auf: Q Wie kann es möglich sein, trotz Krankheit zu lachen? Q Ist das nicht respektlos, wenn man alten Menschen als Clown begegnet? Q Hat man in einem Geriatriezentrum nicht andere Sorgen, gibt es nicht Wichtigeres zu tun? Obwohl ich von der positiven Wirkung unterschiedlicher Humorinterventionen aus eigener Erfahrung sowie durch theoretische Beschäftigung mit dem Thema überzeugt bin, finde ich es unerlässlich, über diese und ähnliche Fragen immer wieder nachzudenken und im Bewusstsein zu behalten, dass solche Bedenken gegenüber „Clownvisiten“ vonseiten des Personals, der Angehörigen, aber auch der Patienten bzw. Bewohner bestehen können. Die Achtung der Würde und der Individualität sowie das Wissen um die besondere Lebenssituation eines Menschen sind Voraussetzungen, um im Sozialbereich arbeiten zu können. Diese Grundsätze sind unabhängig, in welcher Figur und welcher Rolle man den Menschen begegnet, und sind auch unabhängig vom Alter. Natürlich gilt das nicht nur, sondern gerade
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auch für CliniClowns, selbst wenn ein Clown frecher, direkter, naiver und ungeschickter sein darf. Es ist nicht respektlos, einer Person als Clown gegenüberzutreten; respektlos wäre es, nicht die momentanen Bedürfnisse dieses Menschen wahrzunehmen und zu achten. Die CliniClowns konzentrieren sich auf die positiven und heiteren Seiten im Menschen mit der Annahme, dass jede Person humorige Anteile in sich hat, nur manchen der Zugang dazu nicht immer möglich ist. Dies ist ganz im Sinne des „Erfi finders“ der CliniClowns, Patch Adams (1997), der in den USA aufgrund seiner Erfahrungen als Patient nicht nur selbst Medizin studiert hat, sondern auch begonnen hat, als Clown mehr Humor und Lachen in den Krankenhausalltag zu bringen. Durch die Begegnung mit einem Clown werden die Patienten bzw. Bewohner animiert, die für sie angenehmen Aspekte ihres Alltags wieder zu entdecken. Das ist umso wichtiger, je mehr Humorerlebnisse von Angst, Schmerz und Krankheit überdeckt werden und Personen sich von ihrer Situation belastet fühlen. Diese sehr individuenzentrierte Vorgangsweise bedingt, dass die wesentliche Arbeit der CliniClowns nicht aus großen Auftritten besteht, sondern im intensiven Kontakt mit wenigen oder einzelnen Personen. Wir spielen daher nur selten einstudierte Bühnenstücke vor vielen Menschen, sondern halten „Clownvisiten“ ab, indem wir von Zimmer zu Zimmer gehen. Als skurrile Ärzte mit erfundenen Doktornamen treten wir den Bewohnern mit roter Nase im Gesicht und weißen, oft sehr verfremdet gestalteten Arztmänteln gegenüber. Alleine das Erscheinen dieser zwei Figuren (wir arbeiten im Team, meist eine Frau und ein Mann) ruft bei vielen bereits ein Lächeln hervor. Die wissenschaftliche Erklärung für diese Reaktion beschreibt Humor als Reaktion auf Inkongruenz, also das Zusammentreffen nicht übereinstimmender Tatsachen; in diesem Fall der Ernsthaftigkeit und Seriosität von Ärzten mit der offensichtlichen Naivität der Clowns, vereint in einer Figur. Beobachten Sie einmal die clownesken Aspekte von Situationen, in denen Personen angestrengt um Seriosität und Ernsthaftigkeit bemüht sind! Humor als Reaktion auf Unerwartetes ist ein weiterer Versuch der Wissenschaft, Humor zu defi finieren. Sichtbar wird diese Reaktion bei vielen Witzen, die durch unerwartete Wendungen oder die Konstruktion eines neuen Kontextes Überraschung schaffen. Aber auch Zaubertricks mit Überraschungseffekten rufen Humorreaktionen hervor, obwohl die Tatsache, dass Personen zersägt werden, Tiger auftauchen oder die Freiheitsstatue verschwindet, an sich noch nichts mit Humor zu tun hat. Die am meisten verbreiteten Erklärungsversuche von Humor beziehen sich auf die Fähigkeit bzw. Gabe eines Menschen, den Schwierigkeiten und Missgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen, sowie auf die Ausgewogenheit der vier Umores (der vier Körpersäfte Schleim, Blut, schwarze und gelbe Galle). Die verschiedenen Defi finitionen von Humor machen deutlich, was die Arbeit der CliniClowns in Institutionen bewirken kann. Ziel ist nicht, dass alle in schallendes Gelächter ausbrechen oder sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen, sondern vielmehr sollen die heilsamen Effekte von Hu-
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morerlebnissen genutzt werden, wie sie auch von Norman Cousins (1997) beschrieben werden. Cousins berichtet über die Selbstheilung einer schweren Erkrankung durch die intensive Konsumation von Humorerlebnissen. Oft wurde der Autor missverstanden: Die Besserung seines Zustandes hat er nicht durch stundenlanges vor sich Hinlachen erreicht, sondern durch mit Hilfe von Filmen, Witzen, Gedanken oder Begegnungen mit lieben Menschen hervorgerufene positive Stimmungen. Im individuellen Bereich beeinflussen fl Humor und Lachen die Gesundheit durch physische Auswirkungen (die Atmung wird angeregt, das Immunsystem gestärkt, der Blutdruck gesenkt, die Muskeln entspannt) und durch psychische Effekte (Humor hilft, zu dissoziieren und schwierige Situationen umzudeuten, löst Perfektionismus auf, reduziert Angst, Schmerzempfinden fi und Stress, regt die Kreativität an und eröffnet neue Möglichkeiten im Umgang mit Problemen). In der Interaktion mit anderen Menschen erleichtert Humor die Kontaktaufnahme, verbessert die Kommunikation, hält Statusunterschiede gering und hat positiven Einfl fluss auf das Klima zwischen Personen. Nicht umsonst gilt Humor als „soziales Schmiermittel“. Humor hat also entscheidenden Einfl fluss auf viele Faktoren, die Personen helfen können, mit Belastungen besser umzugehen (Goltz 2002). Die positive Wirkung von Humor wird mittlerweile nicht nur in der fl und in der Medizin geschätzt und genutzt, sondern auch in Krankenpflege der Psychotherapie und in der Betriebswirtschaft. Die Entstehung von Lachclubs und Humorgruppen, das Auftreten von Humorberatern und Lachtrainern sowie das wachsende Angebot von Humortests und Humorlernprogrammen (Hirsch 2001) sind offensichtlich Versuche, das bislang zu wenig beachtete Potenzial von Humor stärker zu nutzen. Viel wichtiger als die „Verordnung“ von Humor durch so genannte Humorexperten oder durch einen festgesetzten Zeitrahmen ist die Integration von Humor in den Alltag von Institutionen. Voraussetzung dafür ist einerseits das Wissen um die positiven Effekte von Humor, speziell in belastenden Situationen, sowie das Bewusstsein, dass lachende Mitarbeiter nicht nur weniger Gefahr laufen, auszubrennen, sondern vor allem zu einer positiven Atmosphäre auf der Station beitragen. Mit diesem Wissen ausgestattet, begeben sich die CliniClowns auf die Suche nach den humorigen Anteilen anderer Personen. Die CliniClowns Austria haben als erster Verein in Europa die Idee des „Lachens als Therapie“ etabliert und waren an der Gründung von CliniClowns Belgien, Holland und Moskau beteiligt. 1991 wurden die ersten Kinder im Wiener AKH von Clowns besucht, nicht lange danach auch im St. Anna Kinderspital. Schon bald wurde das Angebot von Kinderkrankenhäusern auf Stationen für Erwachsene ausgeweitet und umfasst mittlerweile auch Pfl flegeheime, Geriatriezentren und ein geriatrisches Tageszentrum. Die Clowns werden laufend geschult und müssen neben schauspielerischen Fähigkeiten hohe soziale Kompetenz mitbringen. Bestätigung bekommt die Arbeit der CliniClowns vorrangig nicht durch Applaus, sondern vielmehr durch die Bewohner der Demenzstation, die,
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anstatt auf der Station herumzugehen, neugierig die Clowns beobachten, sowie durch Senioren, die meinen, unsere Arbeit getan zu haben, indem sie für jede Clownsvisite Witze vorbereiten, sowie durch staunende Augen oder ein Zucken um die Mundwinkeln. Das Empfi finden von Humorerlebnissen ist unabhängig vom jeweiligen Lebensstadium, aber sehr wohl beeinfl flusst von der aktuellen Lebenssituation und den Begegnungen mit anderen Menschen. Humor ist keine Wunderdroge, stellt allerdings eine wichtige Ressource dar, um mit Belastungen leichter umgehen zu können. Gerade weil Erwachsene weniger oft und über andere Dinge lachen als Kinder, bieten Begegnungen mit Clowns Chancen, um die therapeutische Wirkung und Heilkraft von Humor (wieder) entdecken zu können. „Wer zuletzt lacht …, hat das meiste schon verpasst!“
Literatur Adams P (1997) Gesundheit. Zwölf & Zwölf, Oberursel Cousins N (1997) The Anatomy of an Illness. Bantam Books, New York Goltz W (2002) Humor und Burn-out. Master Thesis. WU-Wien Hirsch R, Bruder J, Radebold H (Hrsg.) (2001) Heiterkeit und Humor im Alter. Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Bonn
Tierunterstützte Therapie Eva Fuchswans
Tierunterstützte Therapie ergänzt das Angebot von Betreuungsmaßnahmen für ältere Menschen. Das Tier soll dabei den Menschen nicht ersetzen, bietet aber die Möglichkeit eines weiteren Zugangs zu Gefühlen, Erinnerungen und Verhaltensweisen. Das Tier kann dabei aktivieren, entspannen, motivieren oder einfach nur „zur Unterhaltung“ dienen. Besonders geeignet sind Hunde. Aber auch alle anderen Tiere bieten entsprechend ausgebildet die Möglichkeit, sie einzusetzen. In manchen Heimen, vor allem im ländlichen Bereich, werden auch Nutztiere therapeutisch eingesetzt. Wenn ein älterer Mensch aus gesundheitlichen Gründen gezwungen ist, flegeheim zu gehen, bedeutet dies eine erhebliche Änderung seiin ein Pfl nes bisherigen Lebens. Für die meisten Senioren ist die Aufnahme in ein Pfl flegeheim mit einem psychischen Trauma verbunden, wenn sie ihre eigenen vier Wände, die ihnen seit Jahrzehnten vertraut waren, verlassen müssen. Die Eingewöhnungsphase im Pflegeheim fl ist in vielen Fällen sehr schwierig. Das Personal ist überlastet und kann dem Patienten nicht so viel Zeit widmen, wie er es gerne möchte, Kinder und andere Angehörige haben wegen beruflicher fl Tätigkeit ebenfalls oft zu wenig Zeit, und manchmal gibt es überhaupt keine Angehörigen mehr, z. B. bei sehr alten Patienten. Sehr alte Patienten haben meistens auch eher betagte Kinder. Ich erinnere mich an eine hundertjährige Dame im Geriatriezentrum am Wienerwald, die relativ flott über den Gang meiner Abteilung ging und sich beschwerte, wo denn „das Kind“ heute bliebe. „Das Kind“ kam wenig später, war an die 80 Jahre alt und ging mühsam am Stock. Dennoch schimpfte die alte Dame mit dem „Kind“, warum es erst so spät gekommen war. Die alten Menschen fühlen sich im Pfl flegeheim einsam, abgeschoben und haben untereinander und auch mit dem Personal Kontaktschwierigkeiten. flegeheimen oder anderen geriatDie häufi figsten Probleme, die in Pfl rischen Institutionen auftreten, ergeben sich aus dem streng geregelten Tagesablauf, dem Gefühl, zu wenig Zuwendung zu bekommen, aus Span-
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nungen zwischen dem Personal und den Heimbewohnern, den Heimbewohnern untereinander und einem Gefühl der Minderwertigkeit aufgrund körperlicher und geistiger Behinderungen. Aus angelsächsischen Ländern (Vereinigte Staaten, Australien) ist bekannt, dass die Anwesenheit von Tieren über viele Probleme, die sich durch fl ergeben, hinweghelfen kann. Aus den Aufenthalt in einem Pflegeheim zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen wissen wir, dass sich Tiere auf die psychische und physische Befindlichkeit fi älterer und kranker Menschen positiv auswirken. Die Tierhaltung in Pfl flegeheimen bringt viele Vorteile. Tiere vermitteln Zuneigung und Zärtlichkeit, verbessern die Aufmerksamkeit und die Mobilität der geriatrischen Patienten und fördern dadurch die Selbstständigkeit im alltäglichen Leben. Tiere geben das Gefühl, gebraucht zu werden, und Sozialkontakte werden geknüpft. Die Tiere sollen den menschlichen Kontakt nicht ersetzen, aber sie können Kontakte zu anderen Menschen fördern. Tiere werten nicht, sie hören zu, ohne „gute“ Ratschläge zu geben, und spotten nicht über physische und psychische Gebrechen.
Fallbeispiel 1 Eine 82-jährige Patientin, die im Geriatriezentrum am Wienerwald aufgenommen wurde, weigerte sich, mehr als „Guten Tag“ und „Guten Abend“ zu sagen. Sie war von Geburt an schwerhörig und hatte daher auch schwer sprechen gelernt. Zeit ihres Lebens war sie wegen ihres Sprachfehlers von vielen ihrer Mitmenschen verspottet worden. Irgendwann hatte die Patientin dann beschlossen, ihre sprachliche Kommunikation nur mehr auf das Notwendigste zu beschränken. Im Geriatriezentrum lebte sie nur für sich und hatte keinerlei Kontakt zum Personal und zu den Mitpatienten. Doch eines Tages kam die Katze „Bella“ zu Besuch. Bella ist eine sehr ruhige Perserkatze, die sich auf das Bett der Patientin setzte und einfach „da“ war. Zunächst streichelte die Patientin Bella, dann begann sie, leise mit ihr zu sprechen. Allerdings vergewisserte sie sich vorher, dass kein menschliches Wesen in der Nähe war, das bei dem Gespräch mit der Katze zuhören hätte können. Die Katze „Bella“ kam nun jede Woche für einige Stunden zu Besuch. Nach einigen Monaten „Katzentherapie“ begann die Patientin, auch mit dem Personal zu sprechen. Schließlich verlangte sie, in ein anderes Zimmer verlegt zu werden, wo sie die Möglichkeit hatte, mit anderen älteren Damen in Kontakt zu treten. Die Patientin erzählte uns, dass sie durch die Katze so viel sicherer beim Sprechen geworden sei. Die Katze habe sie nicht verspottet wegen ihres Sprachfehlers, und mittlerweile sei ihr, der Patientin, der Sprachfehler auch völlig gleichgültig geworden. Wenn Tiere zu Besuch kommen, sind auch mehr „menschliche“ Besucher da, vor allem Kinder. Die Enkel oder Urenkel kommen teilweise primär, um die Tiere zu sehen; nach und nach merken sie bei diesen Besuchen,
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Abb. 1. Sprechen mit dem Tier
dass man mit der Großmutter, dem Großvater sprechen kann und dass der Umgang mit alten Menschen bereichernd ist. Die tierunterstützte Therapie dient der Beseitigung oder Verminderung von Störungen des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefi findens von Patienten unter Einbeziehung von Tieren. Prinzipiell unterscheidet man zwischen den „tierunterstützten Aktivitäten“ und der „tierunterstützten Therapie“. Unter tierunterstützten Aktivitäten versteht man Tierbesuchsprogramme oder die einfache Anwesenheit von Tieren auf geriatrischen Abteilungen. Die Tiere werden gestreichelt und dienen durch ihre Anwesenheit der Verbesserung der Lebensqualität der geriatrischen Patienten. Der Besuchsdienst wird von freiwilligen Helfern und ihren Tieren durchgeführt. Die tierunterstützte Therapie wird zielgerichtet bei verschiedenen Krankheitsbildern angewendet und von Personen, die in einem Gesundheitsberuf professionell ausgebildet sind, durchgeführt. Die tierunterstützte Therapie kann zur Verbesserung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) angewendet werden.
Fallbeispiel 2: ATL 4 – Essen und Trinken Eine 80-jährige Patientin kam stark untergewichtig im Geriatriezentrum am Wienerwald zur Aufnahme. Sie verweigerte die Nahrungsaufnahme, weil sie ihre Tochter zwingen wollte, sie zu Hause zu pflegen. fl Die Patientin
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Abb. 2. Verbesserung von Sozialkontakten in der Gruppe
erhielt Infusionen, und man überlegte bereits ernsthaft, eine Magensonde zu setzen, um die Patientin ausreichend zu ernähren. Aus der Biografie fi der Patientin wussten wir, dass sie Tiere sehr gerne mochte. Wir erwählten daher „Mica“, einen Dackelmischling, als Tischnachbarin beim Mittagessen. Eines Tages gab es Leberkäse mit Erdäpfelpüree. Die Patientin nahm das ganze Stück Leberkäse in die Hand und betrachtete es eingehend. Sie ließ zunächst den Hund vom Leberkäse abbeißen, dann biss sie selbst ab. Das ging so weiter, bis der Leberkäse gemeinsam verzehrt war. Von diesem Zeitpunkt an begann die Patientin zu essen, allerdings nur in Anwesenheit des Hundes „Mica“. Gemeinsames Essen mit Tieren setzt allerdings eine genaue tierärztliche Kontrolle der Tiere voraus. Bevor die Tiere in Kontakt mit Patienten kommen, werden sie vom Tierarzt auf Parasiten (Würmer, Flöhe, etc.) und sonstige Krankheiten, die für den Menschen gefährlich werden könnten, untersucht. Hunde werden außerdem auf ihre Eignung für die tierunterstützte Therapie getestet. Sie dürfen nicht beißen, sollen bei der Begrüßung die Patienten wegen der möglichen Sturzgefahr nicht anspringen und sollten sich gerne streicheln lassen. Seit einigen Jahren gibt es auch eine spezielle Ausbildung zum Therapiehund mit anschließender Prüfung für den Hund und seinen Besitzer (Verein „Tiere als Therapie“ – Veterinärmedizinische Universität, „Therapiehunde Österreich“ – Kontakt über das IEMT – siehe Literaturliste, Verein „Tiere helfen leben“). Die Ausbildung folgt den Kriterien, die die amerikanische Vereinigung „Delta-Society“ für Therapiehunde entwickelt hat.
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Hunde müssen, bevor sie im stationären Bereich eingesetzt werden, gegen Tollwut geimpft sein, und es muss eine Haftpflichtversicherung fl abgeschlossen sein. Die Auswahl der Therapietiere erfolgt nach der Art der Beschwerden, die behandelt werden sollen. Vögel, wie Wellensittiche, eignen sich besonders gut für Patienten mit Kontaktstörungen. Wir haben beobachtet, dass manche Patienten sehr viel mit den Wellensittichen sprechen. Die Wellensittiche reagieren mit lautem Zwitschern, worauf die Menschen noch mehr reden und auch untereinander Kontakt aufnehmen, indem sie über die Wellensittiche diskutieren. Tiere mit Fell werden vorwiegend in der Rehabilitation nach Schlaganfällen, nach Herzinfarkten, Depressionen, bei chronischen Schmerzzuständen und zur Motivation bei der Mobilisation eingesetzt.
Fallbeispiel 3: „Mobile Hasentherapie“ – ATL 8 – Sich bewegen Eine 78-jährige Patientin, die sehr adipös ist, liegt seit längerer Zeit im Bett. Sie möchte, da es ihr aufgrund ihres hohen Körpergewichts zu beschwerlich ist, am liebsten überhaupt nicht mehr aufstehen. Sie fühlt sich subjektiv wohl im Bett, liegt aber nur auf dem Rücken und bewegt sich selbstständig
Abb. 3. Mobile Hasentherapie
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fast überhaupt nicht. Nach kurzer Zeit hat sie im Bereich des Kreuzbeins flegepersonal einen Hautdefekt (Dekubitus). Die Patientin lässt sich vom Pfl nicht lagern, weil es ihr unbequem ist, auf der Seite zu liegen. Da die Patientin Tiere sehr gern hat, stellen wir ihr einen Käfi fig mit einem Kaninchen zum Bett. Der Käfi fig steht einmal auf der rechten, einmal auf der linken Seite des Bettes. Plötzlich dreht sich die Patientin von selbst im Bett jeweils fi steht, um das Kaninchen zu beobachauf die Seite, wo der Kaninchenkäfig ten. In weiterer Folge setzt sie sich im Bett auf, wenn der Käfig fi mit „Hansi“, so heißt das Kaninchen, am Fußende des Bettes steht. Die tierunterstützte Therapie wird bei verschiedenen Formen der Demenz erfolgreich eingesetzt. Es werden Gedächtnisübungen in Anwesenheit der Tiere durchgeführt, z. B. erzählen die Patienten über Tiere, die sie selbst früher einmal besessen haben. Eine weitere Übung besteht darin, dass die Patienten Schaumgummiwürfel werfen, die von den Hunden apportiert werden. Die dementen Patienten müssen sich die Augenzahl der Würfel merken und diese addieren. Die motorische Unruhe, unter der Alzheimer-Patienten häufig fi leiden, kann durch Spaziergänge mit dem Therapiehund bekämpft werden. Demente Patienten können sich besser orientieren, wenn Tiere auf der Station leben. So fi finden sie leichter in ihr Zimmer zurück, wenn sie wissen, dass z. B. rechts von der Eingangstüre zu ihrem Zimmer ein Vogelkäfi fig oder ein Käfig fi mit Meerschweinchen steht. Bei der Behandlung von Schlaganfallpatienten und Parkinsonkranken kann durch die tierunterstützte Therapie eine Verbesserung der grob- und feinmotorischen Fähigkeiten erreicht werden.
Fallbeispiel 4 Eine 75-jährige Patientin, die seit Jahren an einem M. Parkinson leidet, sitzt die meiste Zeit im Rollstuhl. Sie ist trotz medikamentöser Therapie sehr depressiv und verweigert Gehübungen. Erst als wir an das eine Ende des Gehbarrens einen Hund setzen, ist sie bereit, am Gehbarren Gehübungen zu machen. Die Freude, dass der Hund sie, wenn sie am Ende des Gehbarrens angelangt ist, begrüßt, dass sie ihn streicheln und füttern kann, ist für sie Motivation genug, die Übungen regelmäßig durchzuführen. Durch Ballspiele mit den Hunden und das Üben des Öffnens und Schließens von Halsbändern mit unterschiedlichen Verschlüssen (Schnallen, Klipsen, Knöpfen in verschiedenen Größen) konnte bei der Parkinsonpatientin die Feinmotorik an der oberen Extremität verbessert werden. Herzinfarktpatienten, die Tiere besitzen, haben eine längere Einjahresüberlebensrate als Nichttierbesitzer. Auch die Todesrate in den ersten 48 Stunden nach dem Akutereignis des Infarktes ist bei Tierbesitzern geringer, weil es bei Tierbesitzern seltener zu tödlichen Herzrhythmusstörungen kommt. Bei der Rehabilitation von Schlaganfällen können Tiere mit Fell ebenfalls sehr hilfreich sein.
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Fallbeispiel 5 Ein 85-jähriger Patient kommt nach einem Schlaganfall mit einer Halbseitenlähmung rechts und einer Sprachstörung (motorische Aphasie) im Geriatriezentrum am Wienerwald zur Aufnahme. Er ist sehr depressiv, weil er in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt ist und außerdem nur mit Mühe sprechen kann. Die Sprachstörung macht ihm am meisten zu schaffen. Er versteht zwar alles, was gesprochen wird, und möchte antworten, die Worte kommen jedoch nur sehr mühsam und lallend. Er wurde deswegen auch von Mitpatienten und von seinen Angehörigen gerügt und aufgefordert, „ordentlich“ zu sprechen. Die Mitpatienten haben ihn mehrmals gefragt, ob er betrunken sei und deswegen lalle. Wegen dieser negativen Erlebnisse spricht der Patient jetzt fast nichts mehr und verweigert auch jede Therapie. Er wünscht nur mehr, in Ruhe zu sterben. Doch eines Tages kommt „Lisa“, eine Dachsbracke. Sie wird auf das Bett gesetzt und bleibt ruhig sitzen. Der Patient beginnt zunächst, mit der nicht gelähmten Hand die Hündin zu streicheln, und weint. Lisa kommt nun jede Woche. Nach und nach versucht der Patient, auf dem warmen weichen Rücken der Hündin seine gelähmten Finger zu strecken. Wenn er unbeobachtet ist, spricht er auch leise zu ihr. Nach einigen Monaten bemerken wir, dass der Patient der Hündin ein Gebet vorspricht. Im Laufe eines Jahres gelingt es uns, mit Hilfe von „Lisa“ den Patienten so weit zu motivieren, dass er sowohl eine Physiotherapie als auch eine logopädische Behandlung akzeptiert. Heute sitzt der Patient im Rollstuhl und kann mit Hilfe einige Schritte gehen. Die tierunterstützte Therapie konnte nicht abgesetzt werden, der Patient nimmt wöchentlich an einer Gruppentherapie mit zwei Hunden teil. Sobald wir die tierunterstützte Therapie absetzten, wurde der Patient wieder depressiv. Die aufgeführten Fallbeispiele könnten zu der irrigen Annahme führen, dass die tierunterstützte Therapie in allen Fällen hilft und bei jedem Patienten angewendet werden kann. Das ist aber – leider – nicht der Fall. Die tierunterstützte Therapie ist kontraindiziert: bei Patienten, die Tiere überhaupt nicht mögen, bei Allergien und bei Patienten, die offene Wunden oder frische Operationswunden haben. Vorsichtig sollte man auch sein bei Patienten, die unter einer Therapie mit Antikoagulantien stehen, weil bereits kleine Verletzungen, wie Kratzer von Krallen, Blutungen auslösen können.
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Kontaktadressen IEMT – Institut für interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung: www. iemt.at Verein „Tiere als Therapie“, 1210 Wien, Veterinärplatz 1 (Veterinärmedizinische Universität): www.tierealstherapie.org Verein „Tiere helfen leben“: www.tiere-helfen-leben.at
Die Rolle des älteren Menschen in der Zukunft: Herausforderung oder Resignation? Gerald Gatterer
Keine Zeit war je mit einer so einschneidenden Veränderung der Altersstruktur konfrontiert wie die derzeitige. Noch nie sind Menschen so alt geworden und können dieses Alter auch relativ lange weitgehend gesund und unabhängig leben. Damit verbunden sind jedoch auch negative Aspekte des Alterns, wie eine Zunahme von demenziellen Erkrankungen und die Notwendigkeit, neue Strukturen der Betreuung für pfl flegebedürftige Menschen zu entwickeln. Deshalb muss sich zeitgemäße Seniorenpolitik diesen veränderten Grundbedingungen anpassen, um zeitgemäße und auch zukunftsweisende Konzepte zu entwickeln. Darüber hinaus sind jedoch auch gesellschaftspolitische Überlegungen hinsichtlich des Zusammenlebens und der Interaktion mehrerer Generationen notwendig. Nur dadurch können die Potenziale des älteren Menschen genützt werden und ein generationenübergreifender Dialog gefördert werden. Dies beinhaltet: Q Eine rechtzeitige Berücksichtigung der Tatsache einer „ergrauenden“ Gesellschaft, einer Gesellschaft mit langer Lebenserwartung und individuellen Bedürfnissen. Dazu erscheint es notwendig, die Potenziale, aber auch Probleme dieser Menschen wahrzunehmen, Entwicklungspotenfi durch multiprofessionelle Ansätze weitgeziale zu fördern und Defizite hend zu kompensieren. Hier könnten die Erkenntnisse der modernen Alternswissenschaften genützt werden. Q Die Einbeziehung älterer Menschen auch in politische Entscheidungen, ein Überdenken des Generationenvertrages sowie die Entwicklung neuer Konzepte der materiellen Absicherung und Beschäftigung älterer Menschen. Dort, wo das Alter eine mehr oder minder unbeeinträchtigte Fortsetzung des bisherigen Lebens ermöglicht, sollten auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden, um Interessen und Aktivitäten zu fördern. Dort aber, wo Beeinträchtigungen unterschiedlicher Art dem älteren Menschen ein selbstständiges Leben erschweren, müssen geeignete, individuelle Formen der ambulanten und stationären
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Altenhilfe entwickelt werden, um die notwendige Unterstützung zu gewährleisten. Ziel ist einerseits ein möglichst langer Verbleib in der eigenen Wohnung, andererseits jedoch auch die Schaffung von speziellen Strukturen zur Betreuung schwer pflegebedürftiger fl Menschen oder solcher mit einer Demenz und Verhaltensauffälligkeiten. Im Rahmen der finanziellen Absicherung ist es absolut notwendig, Kostentransparenz fi herzustellen. Dies beinhaltet einerseits die Berücksichtigung von Alterskrankheiten, wie z. B. Alzheimer, im Rahmen des Pflegegeldgesetzes, fl eine Neukonzeption des Pensionsalters mit gleitenden Übergängen, Job- und Timesharing, Beschäftigungsmöglichkeiten in der Pension und dem gezielten Nutzen des Wissens der älteren Generation. Q Die Verbesserung der Generationenbeziehungen durch gezielte Aufklärung der jüngeren Generation und den Abbau von Vorurteilen (alter Mensch als Kostenfaktor; reiche Pensionisten; jüngerer Mensch als Konkurrent) auf beiden Seiten. Weiters erscheint es wichtig, negative Emotionen kranken älteren Menschen gegenüber (z. B. Ekel) abzubauen. Bereits heute ist es schwierig, Pflegepersonen, fl aber auch sonstiges Personal für den Bereich der Altenbetreuung zu fi finden. Hier könnten etwa Projekte, wie Kindergärten in Pfl flegeheimen und Geriatriezentren, eine Verstärkung und Finanzierung der „Nachbarschaftshilfe“, die Einbeziehung des Themas „Altern“ in den Schulen und generell die Integration älterer Menschen mit Gebrechen in der Gesellschaft hilfreich sein. Projekte in dieser Richtung sind etwa „Leihomas“ oder „Besuchsdienste von Älteren für Ältere“. Q Eine das Alter berücksichtigende Gesundheitspolitik. Die rechtzeitige und intensive Aufklärung über Maßnahmen zur Prävention von Alternskrankheiten (Gesundheitserziehung, Hygiene, gesunde Lebensweise, Vorsorgeuntersuchungen, …) soll helfen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bösartige Neubildungen, die häufigsten fi Todesursachen, zu vermindern. Weiters ist das Mindern von Sturzrisiken und das frühzeitige Erkennen von Krankheiten, wie etwa Alzheimer und Depressionen, ein wichtiger Faktor für ein gesundes Altern. Durch gezielte Volkshochschulkurse, die Einbeziehung der Medien, das Forcieren epidemiologischer und sozialmedizinischer Forschung (multiprofessionell) und darauf aufbauender Überlegungen für die Zukunft könnten entsprechende präventive Maßnahmen verstärkt werden, was zu einer relativen Kostenersparnis auf der Behandlungsseite führen könnte. Dazu gehört auch die Entwicklung eines ebenso für ältere Menschen geeigneten Gesundheitsbegriffes, der diesen nicht als primär „defizitär“ fi darstellt. Im Rahmen der medizinischen und psychosozialen Behandlung muss die Tatsache der Entwicklungs- und Veränderungspotenziale älterer Menschen mehr Berücksichtigung fi finden, um diese nicht zu „Patienten zweiter Klasse“ werden zu lassen. Gleichzeitig muss jedoch die Notwendigkeit und Konsequenz therapeutischer Maßnahmen kritisch refl flektiert werden, um einer „Selbstzwecktherapie“ und „Behandlung“ entgegenzuwirken. Dies beinhaltet klare Qualitätsstandards und einen klaren Versorgungsauftrag, der die medizinische (therapeutische) Notwendig-
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keit, die Sinnhaftigkeit, das genaue Ziel und wirtschaftliche Aspekte mit einschließt. Q Die Berücksichtigung der Wohnverhältnisse älterer Menschen. Mit zunehmendem Alter wird die Wohnung und die Wohnumgebung zum zentralen Mittelpunkt. Insofern sollten rechtzeitig Maßnahmen zur gezielten Wohnungsadaptierung, aber auch zur Wohnungs- und Verkehrspolitik getroffen werden. Um dem älteren Menschen einen möglichst langen Verbleib in seiner Umgebung zu ermöglichen, müssen neue Konzepte der gezielten Wohn- und Betreuungsstruktur geschaffen werden. Hier haben sich Ansätze, wie „betreutes Wohnen“, Seniorenwohngemeinschaften und „Seniorenwohnungen“, bereits bewährt. Ebenfalls notwendig erscheint die gezielte, rechtzeitige Beratung älterer Menschen hinsichtlich einer Wohnungsadaptation. Ebenso wichtig wie die Wohnung ist das Wohnumfeld. Die Erreichbarkeit von Einkaufsmöglichkeiten, von sozialen Kontaktmöglichkeiten und die Anbindung an Verkehrsmittel wird mit steigendem Lebensalter zum Kriterium für „Selbstständigkeit“. In diesem Zusammenhang wird auch häufig fi die Verkehrstüchtigkeit älterer Menschen diskutiert. Hier ist jedoch zu bedenken, dass trotz aller „Sicherheitsrisiken“ ältere Menschen im Straßenverkehr sehr selten aktiv an schweren Unfällen beteiligt sind. Hingegen stellt das Auto einen Faktor der Mobilität dar, der durch nichts ersetzt werden kann. Hinsichtlich der Versorgungsmöglichkeiten zu Hause haben sich verschiedenste ambulante Dienste bewährt. In letzter Zeit bieten auch vermehrt Geschäfte ein Einkaufsservice von zu Hause an. Dieser Bereich sollte sicher noch ausgebaut werden. Q Den Bereich der Bildung, der Freizeit und der gesellschaftlichen Integration und Partizipation. Durch die bessere gesundheitliche Situation stellen ältere Menschen einen wesentlichen Faktor im Rahmen der Freizeitindustrie dar. Sie gehören zu den intensivsten TV-Konsumenten, haben ein stark gestiegenes Reiseinteresse und sind auch im Rahmen der Bildung und Kultur sehr interessiert. Insofern ist der „Marktfaktor“ älterer Mensch nicht zu unterschätzen. Dieser Trend wird sich sicher noch verstärken, weshalb auch vermehrte Angebote in diese Richtung entwickelt werden sollten. „Aktives und produktives Altern“ ist zu einem Schlagwort unserer Gesellschaft geworden. Deshalb müssen aber auch die entsprechenden Angebote geschaffen werden. Eine neue Entwicklung in dieser Hinsicht stellt das Internet dar. Ältere Menschen sind sehr wohl fähig, sich auch mit diesem neuen Medium auseinanderzusetzen. Erste Erfahrungen in Kursen zeigen, dass dadurch auch für sozial gefährdete Personen (Vereinsamung) die Möglichkeit besteht, sich aktiv auszutauschen. Q Den Ausbau und die Vernetzung ambulanter, teilstationärer und stationärer Strukturen der Altenbetreuung. Wesentlich erscheint in dieser Hinsicht auch eine klare Kundendefi finition und eine Transparenz der Angebote. Qualitätssicherung kann hier helfen, adäquate Strukturen zu planen und die Qualität der Angebote zu sichern. Durch eine vermehrte Schulung nicht professioneller Helfer und deren Entlastung durch
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teilstationäre Angebote kann auch dieses Potenzial der Betreuung besser genutzt werden. Durch eine Verbesserung der ambulanten Betreuungsstrukturen kommt es zu einem längeren Verbleib älterer Menschen flegebedürftigkeit bei einer zu Hause, jedoch auch zu einer stärkeren Pfl notwendigen Heimeinweisung. Dies erfordert jedoch genügend und speziell geschultes Personal. Ebenso müssen sich stationäre Betreuungsformen gezielt auf diese neue Situation einstellen. Bereiche für Rehabilitation und Entlassungsvorbereitung nach Hause sind ebenso wesentlich wie primär auf Pfl flege und „palliative“ Betreuung ausgerichtete Bereiche. Sie erfordern jedoch unterschiedlich ausgebildetes Personal und auch unterschiedliche strukturelle und bauliche Voraussetzungen. Wesentlich erscheint in dieser Hinsicht die Schaffung von „geschützten“ Bereichen für Menschen mit einer Demenz, um auch diesen ein Leben in größtmöglicher Freiheit bei ausreichender Sicherheit zu gewähren. Das bedeutet jedoch nicht, dass ältere Menschen sich nur auf die Gesellschaft verlassen können. Gerade in unserer heutigen Zeit ist eigene Vorsorge, z. B. etwa bei den Pensionen, ein wesentlicher Faktor für erfolgreiches Altern geworden. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kann Altern in der Zukunft nicht nur eine Herausforderung für die Gesellschaft sein, sondern auch neue Lebensperspektiven ermöglichen. Wesentlich erscheint jedoch auch hier die Zusammenarbeit aller Beteiligten (jüngere Menschen, ältere Menschen, Politiker, Wissenschaftler, Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, Architekten, etc.), um die Potenziale des Alterns zu nützen. Altern ist keine Krankheit, sondern ein multidimensionaler Prozess, der nicht nur andere betrifft. Denn „alle Menschen altern“! Auch wir selbst.
Autorenverzeichnis Mag. Martina Anditsch Klinische Pharmazeutin Donauspital A-1220 Wien E-Mail:
[email protected] Dr. med. Peter Bäurle Leitender Arzt Bereich Alterspsychiatrie/Alterspsychotherapie Psychiatrische Klinik Münsterlingen Spital Thurgau AG CH-8597 Münsterlingen Pf. 154 E-Mail:
[email protected] Prim. Pro. Dr. Franz Böhmer Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) Ärztlicher Direktor Sozialmedizinisches Zentrum Sophienspital Appologasse 19 A-1070 Wien E-Mail:
[email protected] Mag. Antonia Croy Psychotherapeutin Vorsitzende Alzheimer Angehörige Austria Reisnerstraße 41 A-1030 Wien E-Mail:
[email protected] Mag. Bernhard Dittrich Geriatriezentrum am Wienerwald Psychologisch-psychotherapeutische Ambulanz Pav. 17 Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-mail:
[email protected] Prim. Dr. Johann Donis, Dr. Cornelia Lausegger, Elisabeth Purth Neurologische Abteilung Geriatriezentrum am Wienerwald Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-mail:
[email protected]
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Autorenverzeichnis
OA Dr. Thomas Frühwald Abteilung für Akutgeriatrie Krankenhauses Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel Geriatriezentrum am Wienerwald Wolkersbergenstraße 1 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Prim. Dr. Eva Fuchswans Geriatriezentrum am Wienerwald Leitende Direktorin Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Dr. Gerald Gatterer Geriatriezentrum am Wienerwald Interim. Abteilungsvorstand Pavillon 14 – Abteilung für psychosoziale Rehabilitation/ Psychologisch-psychotherapeutische Ambulanz Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Werner Goltz, MAS Dipl. Sozialarbeiter, Sozialmanager, freiberuflich fl tätig als Erwachsenenbildner und CliniClown mit Kinder und Erwachsenen, seit Mai 2001 auch auf den Demenzstationen im Geriatriezenturm am Wienerwald E-Mail:
[email protected] Ursula Gutenthaler, DGKS Geriatriezentrum am Wienerwald Pavillon 7 – 1. Med. Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Kurt Kaufmann (Stationsleitung) Abteilung für psychosoziale Rehabilitation Geriatriezentrum am Wienerwald Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-mail:
[email protected] Dr. med. Dr. phil. Marina Kojer Ernst-Karl-Winter-Weg 8 A-1190 Wien E-Mail:
[email protected] Evelyne Langsteiner Dipl. Ergotherapeutin Faistauergasse 23 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected],
[email protected]
Autorenverzeichnis
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Prof. Dr. Martha Meyer HTW des Saarlandes University of Applied Sciences Standort UKS des Saarlandes Poststelle Geb. 52 D-66421 Homburg/Saar E-Mail:
[email protected] Gabriela Neubauer, DGKS (Stationsleitung) LSF-Graz, Gerontopsychiatrie A6 Wagner-Jauregg-Platz 1 A-8053 Graz E-Mail:
[email protected] Dr. Fritz Neuhauser 8. med. Abteilung – Geriatriezentrum am Wienerwald Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-mail:
[email protected] Univ.-Prof. Dr. W. D. Oswald Neuendettelsauer Straße 47 D-90449 Nürnberg E-Mail:
[email protected] Prim. Dr. Katharina Pils Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation Ludwig Bolzmann Institut für Interdisziplinäre Rehabilitation in der Geriatrie Sozialmedizinisches Zentrum Sophienspital Appologasse 19 A-1070 Wien E-Mail:
[email protected] OA Dr. Georg Psota, Dr. Asita Sepandj Gerontopsychiatrisches Zentrum PSD Wien (GPZ) Sechsschimmelgasse 21 (Ecke Lustkandlgasse) A-1090 Wien E-Mail:
[email protected] Dr. Michael Rainer Oberarzt, Psychiatrische Abteilung und Memory-Clinic Sozialmedizinisches Zentrum Ost – Donauspital Langobardenstraße 122 A-1220 Wien E-Mail:
[email protected] Spezialordination für Gedächtnisstörungen und gerontopsychiatrische Erkrankungen OA Dr. Michael Rainer Mag. Christine Krüger-Rainer Kognitive Trainerin Kolingasse 13/15 A-1090 Wien Ingrid Rippl Ospengasse 12 A-1200 Wien
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Autorenverzeichnis
Dr. Angelika Rosenberger-Spitzy Chefärztin Fonds Soziales Wien Akad. Gepr. KH-Managerin Guglgasse 7–9 A-1030 Wien E-Mail:
[email protected] Dr. Martina Schmidl Geriatriezentrum am Wienerwald Pavillon 7 – 1. Med. Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Prim. Dr. Ulrike Sommeregger Geriatriezentrum am Wienerwald Pavillon 5 – Abteilung für Akutgeriatrie Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Charlotte Staudinger Akad. geprüfte KH-Managerin, Leiterin des Geschäftsbereiches Strategische Planung und Qualitätsmanagement der Generaldirektion der Unternehmung Wiener Krankenanstaltenverbund Schottenring 24 A-1010 Wien E-Mail:
[email protected] Prim. Dr. Nadia Sterba, Abdulrahman Reda, Dr. Waltraud Adamcyk, Dr. Friedrich Müller 9. med. Abteilung – Geriatriezentrum am Wienerwald Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-mail:
[email protected] Univ.-Prof. Dr. Hans Georg Zapotoczky Psychiater Annagasse 12 A-1010 Wien E-Mail:
[email protected] Bernhard Zeller, DGKP Lippsiedlung 1a A-8570 Voitsberg E-Mail:
[email protected] Michaela Zsifkovics, DGKS Geriatriezentrum am Wienerwald Pavillon 7 – 1. Med. Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected]