MADDRAX Die Dunkle Zukunft der Erde Band 152
Nach dem Fall von Ronald M Hahn
Washington, Dezember 2521 Trotz des zwei...
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MADDRAX Die Dunkle Zukunft der Erde Band 152
Nach dem Fall von Ronald M Hahn
Washington, Dezember 2521 Trotz des zweifellos bevorstehenden Untergangs der Zivilisation war Sergeant Paddy O'Hara gut aufgelegt, denn: Was alle trifft, erträgt man leicht. Es war ihm nicht nur gelungen, sich an dem feiernden Volk vorbei zu schleichen, das an großen Holzfeuern auf dem verschneiten Gelände des Weißen Hauses das Verschwinden der Ordnungsmächte bejubelte – nein, er war auch in das Gebäude eingedrungen, hatte sich unter die Plünderer gemischt und in seinem alten Büro den Lageplan gefunden. Den Lageplan, der Gold wert war. Den Lageplan, der ihn an den Ort führen würde, an dem sich seine Zukunft entscheiden konnte.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten… für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch eine Art Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden… Der Krieg ist beendet – und keine Seite hat den Sieg davongetragen. Die Menschen konnten die Zündung der Bombenkette, mit der die Daa'muren den Antrieb ihrer Raumarche reaktivieren wollten, nicht verhindern – aber durch die Sabotage von Professor Dr. Jacob Smythe ging nur ein Teil der Bomben hoch. Die Strahlung reicht nicht aus, um den Wandler neu zu starten… und trotzdem wurde etwas in Gang gesetzt, das nun einen ständigen Elektromagnetischen Impuls über die ganze Erde ausstrahlt und sogar bis in die abgeschirmten Bunker dringt. Ein Impuls, der alle Technik auf Dauer zerstört und die Menschen zum zweiten Mal in ein düsteres Zeitalter stürzt! Für Matthew Drax, der zusammen mit der Cyborg Naoki Tsuyoshi von der Internationalen Raumstation aus die Truppen
am Boden unterstützte, bedeutet dies, nie mehr zur Erde zurück zu können. Er fliegt zum Mond, in der Hoffnung, dort so lange zu überleben, bis der EMP versiegt – und trifft auf einen Vorposten von Marsianern! Keine Außerirdischen, sondern die Nachfahren einer Expedition des Jahres 2009, die inzwischen den Mars bewohnbar gemacht und eine eigene Zivilisation erschaffen haben. Eine weitere Überraschung: Naoki ist die Blutsverwandte einer der ersten Siedlerinnen: Akina Tsuyoshi! Doch Naoki liegt im Sterben; der EMP hat ihre bionischen Implantate beschädigt. Während die Marsianer den Heimflug antreten und Matt gegen seinen Willen mitnehmen, regen sich auf der Erde die Besiegten. Dank daa'murischer Vorsorge halten sich radioaktiver Niederschlag und Verdunklung in Grenzen, aber die Menschheit muss bei Null beginnen. So auch in Washington, ehemals Machtzentrale des Weltrats, nun dem Chaos ausgeliefert, das entsteht, wenn sich die vormals Unterdrückten aus ihren Fesseln befreien… *** Als Paddy das Weiße Haus verließ, um zu Captain Grover zurückzukehren, die, an einem unbekannten Fieber leidend, im »Gawlden Lyon« schlief, fing es wieder an zu schneien. Er warf noch einen Blick auf die Meute, die wilde Tänze aufführte, von den gewaltigen Feuern und den geplünderten Alkoholvorräten des Weißen Hauses aufgeputscht, bevor er sich in jene städtischen Bereiche begab, in denen er noch Kultur vermutete. Die Hoffnung war vergebens. Auch in der Innenstadt herrschte die Anarchie. Über der Stadt lagen grauschwarze Rauchschwaden. Hier und da leckten Flammen den Himmel, doch sie waren weit entfernt.
Viele Menschen – es mussten Hunderte sein – waren mit schwer beladenen Karren in die Außenbezirke unterwegs. Vermutlich wollten sie die Stadt sogar verlassen. Man war hier nicht mehr sicher. Ordnungskräfte sah er nirgends. Vermutlich waren auch sie damit beschäftigt, die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich Pfründe zu schaffen. Viele Menschen fluchten. Andere weinten. In einer unendlich langen, zum Stadttor führenden Gasse musste er sich an Horden von jugendlichen Bewaffneten vorbei drängen. Hartgesichtige Wächter, die noch vor zwei Wochen mit Adleraugen aufgepasst hatten, dass kein Sozialfall das Tor überwand, hielten nun bei jedem die Hand auf, der rein oder raus wollte. Die anderen Bewaffneten, die hier herumlungerten, gehörten zum Pöbel. Offenbar bildeten sich schon Fraktionen. Irgendwann würden sie sich beim Kampf um die Macht gegenseitig erledigen. In Washington lebten zehntausend Menschen. Doch nicht alle waren am Aufbau einer neuen Welt interessierte Bürger. Ein großer Teil rekrutierte sich aus Dieben und Halsabschneidern. Der Glanz der großen Stadt hatte sie angelockt. Viele waren Schmarotzer und darauf aus, auf Kosten anderer zu leben. Andere suchten Reichtum und Macht. Wenn sie von dem Lageplan wüssten, dachte Paddy und schüttelte sich unwillkürlich, wäre mein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er musste ihn gut hüten. Er war nun der Einzige, der von dem unglaublichen »Schatz« wusste. Wer ihn in die Finger bekam, hatte Macht ohne Ende. Bislang hatten die Gendarmen des Bürgermeisters und die Winterkrieger das Oberweltgesindel in Schach gehalten. Doch jetzt gab es niemanden mehr, der diese Dinge regelte. Wer Macht gehabt hatte, war bei Nacht und Nebel geflüchtet. Es würde Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis sich neue Strukturen gebildet und sich Menschen gefunden hatten,
die mutig genug waren, den Kampf gegen die Anarchie aufzunehmen. »He, alter Mann«, sagte jemand neben Paddy und riss ihn aus seinen Gedanken. »Bleib mal stehen.« Paddy blieb zwar stehen, zuckte aber mit keiner Wimper. Er befand sich gerade unter den Arkaden am Rand eines kleinen Marktplatzes, auf dem trotz des Schneefalls allerlei Volk versammelt war und Waren feilbot. Der Knabe, der ihn angesprochen hatte, war etwa siebzehn Jahre alt und so sommersprossig, dass Paddy sich an seine Kindheit erinnert fühlte. »Ja?«, erwiderte er jovial. »Was ist denn, mein Sohn?« »Dein Rucksack«, sagte Sommersprosse. »Der gefällt mir…« Sein Ton war nicht drohend, aber nur ein Blödian mit Brillanten hätte nicht erkannt, wie der Satz weitergegangen wäre, hätte der Bursche ihn ausgesprochen: Du gibst ihn mir jetzt, sonst schneid ich dir die Kehle durch und klau ihn dir einfach. Paddy hatte im Allgemeinen nichts gegen Kinder. Er hätte selbst gern welche gehabt, aber die Bunkerführung hatte ihm keine genehmigt. Er hatte freilich sehr wohl etwas gegen Kinder, die in Achtundzwanzigjährigen Greise sahen und nicht mal auf die Idee kamen, der Passant, den sie gerade in aller Öffentlichkeit berauben wollten, könne jemand sein, dem sie weder geistig noch körperlich das Wasser reichen konnten. Aber das, dachte Paddy erheitert, ist ja eigentlich das Schöne daran: das Entsetzen im Auge des Schwachmaten, wenn er erkennt, dass sein vermeintliches Opfer ihm gleich alle Gräten brechen wird. »Was grinst du so blöde?«, fauchte Sommersprosse und zückte ein Messer. Ein Pfiff. Um Paddy herum raschelte es. Ein Blick aus den Augenwinkeln reichte dem geschulten Ex-Agenten, das zu registrieren, was einem Normalbürger
panische Angst eingejagt hätte: vier wolfsäugige Burschen und Mädchen, die aus dem Dunkel der Arkaden heran flogen, als glitten sie auf Rollen dahin. Jede Einzelne zog die Nase hoch. Vermutlich schnieften sie alle irgendwelchen Dreck. »Los, her mit dem Rucksack.« Paddy schaute Sommersprosse in die Augen. Normalerweise hätte er nun seinen Driller gezogen, den Lauf nach unten gerichtet und den Nichtsnutz gefragt, wohin er das Geschoss haben wollte: ins Gemächt oder in die Kniescheibe. Dummerweise hatte der vom Kratersee ausgehende EMP auch Washington erreicht, und so war es vorbei mit der überlegenen elektronischen Verteidigung. Solange Paddy jedoch über zwei gesunde Hände und die Reflexe eines Einzelkämpfers verfügte, konnte er sich auch auf andere Weise wehren. Seine rechte und seine linke Hand schossen vor: Die eine umklammerte wie ein Schraubstock das Handgelenk des Messerhelden, die andere umkrallte die zwei empfindlichen Anhängsel seines Fortpflanzungsorgans. »Wir wollen uns doch nicht gegenseitig wehtun, oder?«, schnurrte Paddy so leise, dass Sommersprosses Kumpane es nicht hörten. »Äh… äh…« Sommersprosses Gesicht war schamrot. Sein Blick flackerte. Er war starr vor Entsetzen. Offenbar hatte er es nicht für möglich gehalten, dass ein Mann es wagen könnte, ihn da anzufassen. Seine Finger öffneten sich automatisch. Die lange Klinge, Jahrhunderte zuvor von einem Mr. Bowie gestaltet, entfiel seiner Hand und schepperte zu Boden. »Brav, mein Sohn.« Paddy setzte ein freches Lächeln auf und fragte sich, ob Captain Grover stolz auf ihn gewesen wäre, hätte sie jetzt zugeschaut. »Und jetzt sagst du deinen Freunden, sie sollen einen auf deine Rechnung trinken gehen.« »Wa…?«
Schnelles Schalten schien nicht die Stärke dieses Kriminellen zu sein. Paddy fragte sich, warum die Zunft der Tagediebe so von Trotteln wimmelte. Wussten diese hirnlosen Wakudas denn nicht, dass es eine Kunst war, auf Kosten anderer zu leben, und dass man Unmengen von Grips brauchte, um sich so über seine Mitmenschen zu erheben? »Ich sag's nicht noch mal«, fauchte Paddy und drückte zu. Sommersprosse kreischte leise auf. Dann rief er seinen Freunden etwas zu. Der Antwort konnte Paddy entnehmen, dass sein Gegner Brainless Kid genannt wurde. Und das entsetzte ihn, denn er war bisher davon ausgegangen, dass ein Mensch, der auch nur einen Funken Ehre im Leib hatte, es sich verbitten würde, so genannt zu werden. »Und jetzt«, sagte Paddy, als Sommersprosses Kumpane sich verzogen hatten, »gehe auch ich meiner Wege, mein hirnloser Freund.« Er spuckte in den Schnee. »Sollte ich deine dumme Fresse noch mal irgendwo herumhängen sehen, polier ich sie dir, verstanden?« »Yeah.« Brainless Kid nickte heftig mit dem Kopf. »Yeah… Yeah… Hab verstanden, Mann. Yeah. Reg dich bloß nich auf. Hab verstanden.« »Gut.« Paddy ließ Arm und Eier des Burschen los, trat zurück und maß sein Gegenüber wie eine Kakerlake, die sich freuen durfte, dass sie noch am Leben war. »Und jetzt: Abmarsch!« »Yeah.« Kid wollte sich bücken, um seinen Katzendolch aufzuheben, doch Paddys linker Stiefel zuckte vor und trat auf die Klinge. »Is nich.« Kid schaute ihn mit einem fragenden Blick an. Dann schien er zu verstehen, dass Paddy nicht so dumm war wie er. Er richtete sich auf, zuckte die Achseln und schlenderte mit eingezogenem Schwanz durch die Arkaden zu dem Café, in dem seine Kumpane sich auf seine Kosten vergnügten.
Über seinem Kopf schwebte eine schwarze Textblase, die nur Paddy sah, und darin stand: DU BIST TOT, MANN. Falls du je den Grips aufbringst, mich zu kriegen. Paddy bückte sich. Der Dolch war ein schönes Stück. In den Wakudahorngriff war »Ullah ist groß« eingraviert. Paddy hatte schon von Ullah gehört, aber er interessierte ihn nicht. Waffen konnte man allerdings immer brauchen; besonders in diesen unsicheren und harten Zeiten. Paddy marschierte weiter, doch nach weniger als tausend Schritten bemerkte er, dass man ihn verfolgte. Na, wunderbar! Er blieb vor dem Schaufenster eines Retrologen stehen, hinter dem sich Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert türmten, und spähte seine Verfolger aus. Brainless Kid und seine Komplizen. Offenbar hatte er sich mit einem völlig unsportlichen und rachsüchtigen Freak angelegt. Wenn er etwas hasste, dann schlechte Verlierer! Im Weitergehen kalkulierte Paddy seine Chancen. Als drillerloser, geistig gesunder Mensch wollte er sich nicht gern mit vier oder fünf Lumpen zugleich anlegen. Auch wollte er es nicht riskieren, die Verfolger zum »Gawlden Lyon« zu führen. Noch vor einer Woche hätten Mountbattons Schergen mit jedem kurzen Prozess gemacht, der es gewagt hätte, in diesem Lokal eine große Lippe zu riskieren, doch neuerdings benahmen sie sich sehr merkwürdig. Paddy traute ihnen nicht mehr über den Weg. Deswegen wollte er mit Captain Grover umziehen. Aus diesem Grund war er heute im Weißen Haus gewesen. Um den Lageplan zu holen, den er bei seinem übereilten Ausflug damals vergessen hatte. Er wollte sich den Schatz unter den Nagel reißen und Washington verlassen. Auch im Rotlichtviertel waren die Verfolger noch hinter ihm her. Er musste sie abhängen. Er brauchte einen Unterschlupf, in dem er bleiben konnte, bis die Lümmel aufgaben. Gaben sie wider Erwarten nicht auf, musste er eben
bis zum Einbruch der Dunkelheit abwarten. Dann konnte er sie bestimmt loswerden. Paddys Blick wanderte an Häusern, Hütten und Kaschemmen entlang und fiel auf die Taverne »Hello, Goodbye.« War die Wirtin nicht eine alte Freundin von ihm? *** Als Doc Ryan den Bunker zum ersten Mal verlassen hatte, war er noch sehr klein gewesen. Elf oder so. Er erinnerte sich gut daran, denn der nächtliche Ausflug in Schutzanzügen – damals gab es das Immunserum noch nicht – an die Oberfläche war Bestandteil seiner gymnasialen Ausbildung gewesen. »Na, da schnallt ihr ab, was, Jungs?«, hatte Fahnenjunker Fong-Torres gesagt, als die kleinen Wichte aus Ebene C-03 mit offenem Mund und staunend wie am Weihnachtsmorgen zu der endlos hohen, von zahllosen Glitzerpunkten bedeckten Kuppel hinauf schauten. Bloß dass es gar keine Kuppel war, sondern ein… »Man nennt es Firmament.« »Boah!« »Sieht toll aus, nich?« »Unglaublich!« Und der altkluge kleine Ryan: »Ich weiß, was das ist, Mann.« Andere Typen – der Himmelskomiker aus der C-07 etwa – nannten das Ding da oben auch Himmel, und die glitzernden Pünktchen Sterne. Für die kleinen Köttels, die viele hundert Meter unter der Erde geboren und aufgewachsen waren, war der Anblick wahrlich eine tolle Sache. Einen hellen Tag, dachte Ryan, hätten wir damals ebenso wenig ertragen wie den Anblick der Nachfahren jener, die die Katastrophe vor fünfhundert Jahren an der Oberfläche erlebt haben.
Deswegen hatte Fong-Torres die Klasse damals nachts zur Erdoberfläche rauf gebracht. Die riesige blaue Himmelskuppel sollte den unter der Erde aufgewachsenen Bübchen keinen Schock versetzen. Das war lange her. Wie lange? Dr. Ryan seufzte. Wen interessierte das schon? Ungefähr fünfundvierzig Jahre, sagte sein Verstand. Die unerbetenen Kommentare seines Verstandes gingen ihm in letzter Zeit heftig auf die Nerven. Es brachte ihm allerdings wenig, ihn anzuknurren. Ryan war unter anderem auch Neurologe. Deswegen wusste er, dass Menschen nicht ohne Grund Stimmen hörten. Für 'ne echte Demenz fühl ich mich eigentlich noch zu wohl, dachte er. Ich hör wohl nur deswegen Stimmen, weil ich ganz allgemein zu wenig mit Menschen zusammen bin, mit denen man auch reden kann. In seiner Eigenschaft als Arzt war er zwar öfter mit Menschen zusammen, als ihm lieb war, doch die meisten hatten einen an der Waffel und wurden von ihm nur als Menschen angesehen, weil er politisch korrekt erzogen war. Es krachte und schepperte. Ryan blieb stehen und schaute sich um. »Hilfe!« Ein Schuss. Ein Klirren. »Nein!« »Stech ihn ab!« Hinter den nicht hundertprozentig auf seine tatsächliche Sehschwäche abgestimmten Brillengläsern versuchten Ryans Augen das Schneegestöber zu durchdringen. Vergeblich. Zehn Schritte in jeder beliebigen Richtung war scheinbar die Welt zu Ende. Und doch fand nicht fern von Ryan ein heftiger Kampf statt, bei dem Stahl auf Stahl schlug, Funken sprühten und heißes rotes Blut floss. Ich bin zu alt für diesen Scheiß, dachte Ryan. Es ist wohl besser, ich halt mich da raus.
Sein Weg verlief parallel zu einer Straße, der man vor mehr als fünfhundert Jahren den fantasievollen Namen »K Street« gegeben hatte. Ryan wusste nicht, wie die K Street vor dem Einschlag des Kometen ausgesehen hatte. Heute war sie jedoch kaum mehr als ein Dschungelpfad: Hier und da ragten in der winterlichen Finsternis von schmarotzendem Grün überwachsene Gebäude auf, die in der Regel aus der Ära vor der Eiszeit stammten. Sie waren fensterlos und nass und dienten wohl nur fetten Ratzen als Heim. Was freilich nicht bedeutete, dass keine Menschen in diesem Viertel lebten. Im Gegenteil: Seit Doc Ryan sich – nicht ganz freiwillig – von der Bunkergesellschaft abgesetzt und an der Erdoberfläche angesiedelt hatte, wusste er, dass sich hier in der Nacht oft jene Elemente trafen, die man hinter der Hand Scum nannte. Der örtliche Abschaum hatte wenig feine Manieren und massig Vorurteile. Er hielt die Menschen, die in dem beheizten Bunker unter der Stadt lebten, dreimal am Tag eine Mahlzeit aßen und sich duschten, für Schmarotzer. Außerdem hielt er es für ungebührlich, dass Bunkerbewohner ihm vorschrieben, was er zu tun und zu lassen hatte. Dies war vermutlich auch der Grund, warum das vermummte Dutzend da drüben zwischen den Bäumen die drei sich heftig wehrenden Schmalhänse niedermachte. Ryan, der sich heute Abend im Kreise einiger betuchter Patienten ein Gläschen genehmigt hatte, wich zurück und wurde schlagartig nüchtern. Hinter einem Baum verborgen schaute er den Nachtratten zu, die die Taschen der Toten nun durchwühlten und ihnen das Gepäck stahlen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Ryan Menschen mit der Mentalität von Aasgeiern trotz seines hippokratischen Eides skrupellos in den Hintern getreten hätte. Ja, vor dreißig Jahren, als du noch jung, schön, mutig und unsterblich warst. Heute
konnte er seiner Verachtung nur noch Ausdruck verleihen, indem er in den Schnee spukte. Und genau das tat er jetzt: desillusioniert, voller Zorn. Was ging im Hirn eines Menschen vor, der einem anderen die Zähne eintreten und dabei noch lachen konnte? Die Vermummten schienen es eilig zu haben. Sie ließen ihre Opfer liegen, steckten ihre Schwerter ein und liefen mit wehenden Umhängen in den innerstädtischen Wald hinein. Ein verhaltenes Stöhnen drang an Ryans Ohren. Er löste sich von dem Baum, in dessen Borke sich seine eiskalten Finger gekrallt hatten, und lief geduckt durch den fallenden Schnee dorthin, wo die Überfallenen in ihrem Blute lagen. Das erste Opfer war eine Frau – vielleicht fünf Jahre jünger als er. Der Mann, den er sich gleich darauf anschaute, war vermutlich ihr Sohn, doch sein Gesicht war zu sehr mit Blut verschmiert, um es genau zu sagen. Die dritte Person lebte noch. Ryan erkannte den stöhnenden Mann sofort: Dr. Karel Sirwig, ein Naturwissenschaftler von Rang. Er hatte zur Prominenz der Techno-Zivilisation gehört. Seinen nur den allerhöchsten Geheimnisträgern bekannten Denkmaschinen sagte man ungeheuerliche Fähigkeiten nach. Offenbar war es ihnen aber nicht gelungen, ihrem Erfinder zu prophezeien, auf welcher nächtlichen Straße der Mob ihn töten würde. »Hallo, Sirwig«, sagte Ryan. »Kennen Sie mich noch?« »Ja…« Sirwig spuckte Blut. »Sie sind… warten Sie…« Er kniff die Augen zusammen. »Sie sind Sergeant Sander, richtig?« Er hustete. Sein ohnehin schon glasiger Blick verdunkelte sich. »Rufen Sie den Notarzt. Jemand hat mich niedergestochen.« »Schon geschehen«, sagte Ryan. Er legte einen Arm unter Sirwigs Kopf. »Ich bin der Arzt.« Sirwig schaute ihn unverstehend an und hustete noch mal. Dann erst schien er ihn zu erkennen – was kein Wunder war,
denn sie hatten sich zwanzig Jahre nicht gesehen. »Ryan?« Seine Augen wurden groß. »Yeah.« Ryan nickte. »Doktor Ryan?« Sirwig konnte es nicht fassen. Ryan hatte den blutigen Umhang des Mannes inzwischen zur Seite geschlagen und das kleine Sturmfeuerzeug entzündet, das Trashcan Kid ihm besorgt hatte. Sirwigs Brustverletzung war nichts, worüber sich ein Chirurg ohne Instrumente bei Frost in einem Wald freuen konnte. Kein Zweifel, der Mann war tot. Er wusste es nur noch nicht. »Yeah.« »Sind Sie nicht zum Feind übergelaufen, Ryan?« »Yeah.« Ryan nickte dröge. Irgendwie hatte er keine Lust mehr, sich diesem reaktionären Schrat gegenüber zu rechtfertigen. Wenn man es genau nahm, waren nicht die Running Men der Feind gewesen, sondern die militaristischen Krücken, denen Sirwig und Genossen seit fünfundzwanzig Generationen den Steigbügel hielten. »Wo wollten Sie in dieser lausigen Nacht überhaupt hin?«, erkundigte er sich. »Nach Mexiko.« Dr. Sirwig fing plötzlich heftig an zu keuchen. »Oder noch weiter nach Süden, wo es warm ist…« »Warum denn, um alles in der Welt?«, fragte Ryan und zog den Umhang wieder über die schreckliche Wunde. »Und warum zu Fuß – und ausgerechnet in der beschissensten Jahreszeit, die man sich nur vorstellen kann?« Dr. Sirwig machte große Augen. Sie waren grün. Erstaunlicherweise wurde sein Blick nun so unglaublich klar, dass Ryan erkannte, dass seine letzten Sekunden angebrochen waren. »Sie wissen ja wirklich nichts«, sagte Sirwig. Seine rechte Hand krallte sich in Ryans gefütterte Jacke. »Hauen Sie ab! Hauen Sie ab! Wir sind hier nicht mehr sicher!« »Wo?«, fragte Ryan verdutzt. »Was?«
Sirwig bäumte sich auf. Auch seine andere Hand krallte sich an Ryan fest. Seine Beine schlugen unkontrolliert um sich. Er hustete und spuckte Blut. »Es ist alles im Eimer… unsere ganze Elektronik… Unsere Waffen funktionieren nicht mehr. Wir können nicht mehr unter der Erde leben…« Ein Ächzen kam aus seinem Mund, dann machte er die Augen zu, stieß einen leisen Seufzer aus und erschlaffte. »Was?« Ryan starrte ihn schockiert an. Dann schüttelte er ihn. »Sirwig? Sind Sie noch da?« Da der Mann nicht mehr reagierte, ließ Ryan ihn in den Schnee sinken und tastete nach seiner Halsschlagader. Nichts. Ex. Ryan schluckte. Aber irgendwie tat der arme Hund ihm Leid, auch wenn er ein Arsch gewesen war. Er wünschte niemandem einen solchen Tod. Das ist der Unterschied zwischen ihm und mir, dachte er. Hätte ich keine Skrupel, würde ich nicht in einem Rattenloch hausen. Er warf dem Toten einen letzten Blick zu. Werde auch ich mal wie eine Ratte krepieren? »He, Alter!« Ryan zuckte zusammen. Zwischen den Bäumen tauchten einige zerlumpte Gestalten auf. Im Schneegestöber waren sie kaum auszumachen, aber er sah Äxte, Sägen und Säcke in ihren Händen. »Du hast zwei Möglichkeiten!«, rief jemand. »Entweder machst du ganz schnell 'ne Mücke, oder du baumelst in 'ner Stunde am Fleischerhaken.« Ryan winkte ab. Es war besser, die Kurve zu kratzen. Er stand auf und überließ die Leichen den Metzgern. *** Doc Ryan kam Punkt 20 Uhr zu Hause an, doch das wusste er nicht, denn als Mensch, der der unterirdischen Zivilisation
viele Jahre zuvor den Rücken gekehrt hatte, war ihm der Zugang zu funktionierenden Uhren versagt. Vor dem finsteren Kasten, an dem ein handgemaltes Schild verkündete, hier praktiziere der Medikus Ephraim Knoller – sein Deckname –, lungerten verdächtige Gestalten herum. Ryan kannte sie nicht, und da sie sein Vertrauen nicht erweckten, ging er ihnen aus dem Weg. Der Umweg, den er machen musste, um von hinten in sein Heim zu gelangen, war allerdings beschwerlich, denn er führte über mehrere ungepflegte Hinterhöfe, in denen man sich, wenn man nicht aufpasste, leicht die Beine brechen konnte. Deswegen war er auch nicht besonders gut aufgelegt, als er sich halb erfroren durch den Hintereingang des alten Kastens schlich, in dem er wohnte. Die Eingangshalle war riesig, saukalt, eisglatt, finster und warf beim Gehen Echos. Fast alle Wohnungen im Haus waren leer. Auf den Korridoren suchten fiepende Ratzen das Weite. In Mauerritzen nisteten Monsterkakerlaken und Säure verspritzende Maden. In den Besenschränken nächtigte alles, was in sie rein passte – manchmal auch bewaffnete Zwerge, von denen es in letzter Zeit immer mehr in dieser Stadt gab: Gerüchten zufolge war kürzlich ein Stamm dieser eigenartigen Kreaturen aus dem Norden hierher emigriert. Das mysteriöse Knirschen, das Ryan Weg begleitete, rührte daher, dass er bei jedem Schritt Dutzende von Insekteneiern zertrat. Das Rascheln und Ächzen, das im ersten Stock zu hören war, hatte andere Ursachen. Einbrecher! Ryan blieb am Treppenabsatz stehen und lauschte in den kahlen Gang hinein. In welcher Wohnung waren sie? Vor ihm zweigten hundertsechzig – links und rechts je achtzig – Wohnungseingänge ab. Nicht mal zehn Prozent dieser Eingänge waren mit Türen versehen. Dies hatte damit zu tun, dass die Mietnomaden, die in den letzten fünfzig Jahren hier
gewohnt hatten, öfters mal den Schlüssel verloren und ihre Behausung mit den Füßen öffneten – eine alte Tradition, die sich aus dem 20. Jahrhundert erhalten hatte. Der Korridor war vierhundert Meter lang, seit 2003 nicht mehr gestrichen und seit der letzten Eiszeit nicht mehr geputzt worden. Alle Freiräume zwischen den Türen waren mit inzwischen längst verblassten Parolen und obszönen Zeichnungen bemalt. Ryan tastete nach seinem Schlüssel. Seine Wohnung befand sich sozusagen gleich um die Ecke. Wenn er flink war, konnte er die Eisentür öffnen und hinter sich verschließen, bevor die Nachtratten überhaupt mitbekamen, dass sie nicht allein im Haus waren. Dann konnte er sich den Driller greifen, den Trashcan Kid nach seinem haarsträubenden Abenteuer an der Seite Mr. Hackers bei ihm gebunkert hatte, und den Typen eins auf den Pelz brennen. Mal schauen… Ryan schob den Kopf in den Gang hinein. Etwa zwanzig Schritte weiter erspähte er auf der rechten Seite eine angelehnte Tür. Ein schmaler Lichtstreifen fiel aus dem Raum dahinter in den Korridor hinaus. Ryan sah die Nummer auf der Tür: 111. Verdammt, dachte er, das ist meine! Hinter der Tür raschelte etwas. Aus seiner Wohnung kam das Geräusch leiser Schritte. Dann hörte er gedämpfte Stimmen. Ryan dachte voller Grauen an sein kostbares YamahaChirurgenbesteck und den unersetzlichen Toshiba-Dell-Laptop, auf dessen 800-Giga-Festplatte alles medizinische Wissen des 21. Jahrhundert abgespeichert war – sein einziges Lebensmittel! Die Vorstellung, das unbezahlbare Gerät befände sich in der Hand matschhirniger Drogensüchtiger, die es womöglich für einen Schuss Ekstase an einen schrägen Otto vertickten, verursachte ihm Herzrasen. Aber nein, fiel ihm ein, die Burschen konnten es ja gar nicht finden, weil er es doch in
weiser Voraussicht hinter seinen Büchern versteckt hatte – und Bücher nahmen solche Typen für gewöhnlich nicht in die Hand. »Los, lass uns jetzt abhauen«, sagte eine heisere Stimme hinter der angelehnten Tür. »Die anderen werden bestimmt schon ungeduldig!« »Ja, doch, Tynnes!« Die Stimme kenn ich doch?, dachte Ryan. Hab ich den Kerl nicht schon mal gegen Filzläuse behandelt? Er machte einen lautlosen Schritt zurück. Im gleichen Moment knallte unter ihm eine Tür und jemand schrie: »Ey, Kid! Wat isnu? Wir kommen getz rauf!« Verdammt! Ryan überlegte fieberhaft. Er musste über die Treppe nach oben fliehen. Ach nein, geht ja nicht. Vor ein paar Wochen hatten ein paar behämmerte Jungs geglaubt, das Treppenhaus sei die richtige Umgebung, um den alten Sprengstoff zu testen, den sie gefunden hatten. Seitdem kam man nicht mehr in die dritte Etage. Also erst mal in irgendeine türlose Behausung rein und dann über die Feuertreppe runter. Ryan graute es vor türlosen Behausungen. Man wusste nie, wer sich darin häuslich niederließ. Noch mehr graute es ihn vor Feuerleitern. Vielleicht reichte es, wenn er im Dunkeln die Luft anhielt… Hier stehen bleiben und dumm gucken konnte er jedenfalls nicht. Wenn die Rotzlöffel seine Bude verließen, ohne etwas gefunden zu haben, waren sie sauer und dann saßen ihre Messer bestimmt locker. »Wat isnu, Kid?«, schrie jemand von unten. »Hättä Dockta nu Stoff odä hättä käjn?« Ryan hechtete in das kolkrabenschwarze Loch, in dem vor einem halben Jahr noch die bestiefelte Bea gewohnt hatte. Zwei sich argwöhnisch umschauende Gestalten verließen seine Wohnung. Sie schwangen einen Wok und seine Mozartbüste. Vor der Tür blieben sie stehen und grinsten sich
an: doof wie ein Meter Feldweg. Erst jetzt sah Ryan die Rauchwolke, die aus seiner Wohnung kam. Die verdammten Wichser haben meine Bude angesteckt! Er hätte die Lumpen, die nun irre lachend durch den Korridor zum Ausgang liefen, liebend gern erwürgt, denn wenn er eins im Leben nicht leiden konnte, waren es unplanmäßige Umzüge im Dezember. *** Die klatschenden Schwingen der Flugdrachen erzeugten einen Höllenlärm, doch der Wind, den sie machten, ließ Ayris Grover nach unendlich langer Zeit wieder durchatmen. Als sie die Augen aufschlug, waren die unheimlichen Reptilien weg. Schweißperlen fielen von ihrer Stirn auf ihre Nasenspitze. Ayris seufzte leise, hob den Kopf und sah die Wände wanken. Sie empfand einen so heftigen Hunger, dass ihr ein dummer Spruch aus ihrer Kindheit einfiel: »Ich könnt'n ganzes Pferd fressen.« Sie versuchte vergeblich, sich ein Pferd vorzustellen. Erneut hob sie den Kopf. Da war ein Fenster. Dahinter war die Nacht. Myriaden glitzernder Sterne am Himmel. Und ein gigantischer Silbermond. Wo bin ich Ayris versuchte sich aufzurichten. Sie kam sich vor wie ein frisch aus dem Ei geschlüpftes Vögelchen. Ihre Hände bebten. Ihr rechtes Lid zuckte. Ihr Magen knurrte. Sie lag unter einer schlichten Decke in einem schlichten Bett in einer schlichten Kammer. An der Oberwelt. Logisch. Im Bunker sieht man keine Sterne. Nächste Frage: Wieso an der Oberwelt? Als sie sich hinsetzte, fiel ihr Blick auf einen Kamin, in dem Holzscheite knisterten. Jemand kümmert sich um mich.
Es war brüllend warm. Das Zimmer war ihr fremd, kam ihr aber andererseits auch eigentümlich vertraut vor. Sie hatte es vermutlich schon oft gesehen – durch einen Schleier? Ihr wackeliger Zustand ließ sie annehmen, dass sie krank gewesen war. Wie lange? Sie schob die Decke auf die Seite und stand auf. Ihre Knie bebten zwar noch, aber ihr Kopf war klar. Und leer. Da hing ein Spiegel an der Wand. Als Ayris hineinschaute, erschrak sie. Ihr fehlten gut fünf Kilo. Die verliert man nicht in einer Nacht… Die Einrichtung war einfach. Schrank, Tisch, zwei Stühle, Waschtisch, Metallschüssel. Eine Kanne, die Wasser enthielt. An der Tür eine Querstange. Ein grob gewebtes Handtuch. Mittelalterliche Oberwelt-Gasthofqualität. Was, um alles in der Welt, hat mich hierher verschlagen? Dann fiel es ihr bruchstückhaft ein: Ihre unerwartete, aber nicht unwillkommene Versetzung. Ihr neuer Posten als Adjutantin von General… nein, Präsident Crow. Irgendetwas hatte den Präsidenten gegen sie aufgebracht. Sie hatte etwas über ihn rausgekriegt, und er hatte befürchtet, sie würde es an die große Glocke hängen. Was war es? Crows Leibwächter hatten sie aus dem Weg räumen wollen. Jemand hatte sie gerettet… Sergeant Patrick O'Hara. Der nette Paddy. Wo steckte er? Ayris öffnete den Schrank. Da hingen und lagen ihre Kleider, alle ordentlich gefaltet und zusammengelegt. Nun fiel ihr ein, dass sie an einem Abend an O'Haras Seite durch dreckige Röhren und von Ungeziefer wimmelnde Ruinen geflohen war. Da war noch jemand gewesen. Irgendein gut aussehender Fremder mit einer Davy-Crockett-Mütze und einem eigenartigen Akzent. Sein Name war ihr entfallen. Er hatte O'Hara und sie in einen Gasthof gebracht, dessen Personal ihm Untertan war. In einen Gasthof, den sie kannte. Sie war schon mal hier gewesen.
An der Seite von Präsident Crow. An der Seite des Verräters Crow… Ayris' Knie knickten ein. Sie sank vor dem Schrank auf die Bohlen und griff nach ihrer Kleidung. In dem fadenscheinigen Nachthemd wurde ihr kalt. Ihr Herz fing rasend an zu schlagen. Nun wusste sie wieder, was sie im Fieber vergessen hatte: Der Fremde, mit dem sich der Präsident verbündet hatte, war ein außerirdisches Lebewesen; ein Angehöriger jener Macht, die sich seit mehreren Jahrhunderten bemühte, die Erde zu ihrem neuen Lebensraum zu machen. Aber hatte Crow anschließend nicht behauptet, das alles wäre nur eine Finte gewesen, um einen Verräter in seinem Umfeld zu enttarnen? Doch wenn das stimmte, warum hatte man versucht, sie zu beseitigen? All das war sehr verwirrend – und vermutlich auch der Auslöser der Krankheit gewesen, die sie nach dem Betreten des unheimlichen Gasthofs aus den Stiefeln gehauen hatte. Ayris erinnerte sich nun auch wieder an ihre letzten wachen Minuten: Die Erkenntnis, sich mitten in Washington im Hauptquartier einer feindlichen Macht zu befinden und keine andere Wahl zu haben als sich des reinen Überlebens willen mit ihr einzulassen, hatte sie fertig gemacht. Noch dazu hatte sich der nette Paddy als Laufbursche eben jener Macht entpuppt. Vom Regen in die Traufe… Unter der Erde, in dem warmen und sauberen, mit allen Schikanen ausgestatteten Bunker wartete der Tod auf sie. Präsident Crow musste sie ausschalten, damit sie seinen Verrat nicht öffentlich machte. An der Oberwelt, wo Crows Agenten sie suchten, konnte sie sich ebenfalls nicht blicken lassen. Den Wahlspruch »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« wollte sie sich nicht zueigen machen. Nein, lieber steckte sie ihre Kanone ein und machte sich auf den Weg nach Süden…
Das Schwindelgefühl nahm ab. Ayris richtete sich auf, zog das Nachthemd aus und kleidete sich an. Als sie fertig war, schaute sie in den Spiegel und streckte sich die Zunge raus. Sie hatte wahrlich schon besser ausgesehen, aber die Zeiten, in denen sie die Vorzüge der Kosmetik genossen hatte, waren unweigerlich dahin. Jetzt hieß es, im entscheidenden Moment mit ungeschminktem Gesicht zu betören. Oder mit dem Driller. Sie aktivierte ihre elektronische Schusswaffe, doch das leise Winseln der Waffe blieb diesmal aus. Ayris hob sie hoch. Das LCD-Feld blieb grau und zeigte nichts an. Wäre das Magazin leer gewesen, hätte die Waffe NULL angezeigt. Aber sie zeigte gar nichts an. Ayris fluchte leise, dann setzte sie sich auf das Bett und untersuchte den Driller im Feuerschein von allen Seiten. Wie dumm, dass sie damals während der Ausbildung an diesem Ding nicht besser aufgepasst hatte, sonst wüsste sie jetzt, wo das Problem lag – und ob es zu beheben war. O'Hara fiel ihr wieder ein. Ja, der wusste bestimmt, wie man diese Scheißknarre wieder auf Vordermann brachte. Ayris stand auf, schob den Driller ins Holster und öffnete die Zimmertür. Sie hatte entsetzlichen Hunger. Wenn sie in der Gaststube keins dieser mythischen Pferde fand, gab es vielleicht ein Wakudaschwanzsüppchen mit Einlage. Je näher sie der Gaststube kam, desto mehr Erinnerungen kamen ihr: Als sie mit Crow hier gewesen war, war ihr der Laden ziemlich unheimlich erschienen – nicht zuletzt wegen der eigenartigen Gäste, die nichts verzehrten und sich auch nicht unterhielten. Als sie nun am Tresen entlang ging, spürte sie deutlich eine atmosphärische Veränderung: Die neun oder zehn Gestalten, die zumeist allein an den Tischen saßen und wie üblich in Wassergläser stierten, schienen kurz davor zu stehen, aus dem Winterschlaf zu erwachen. »Ich… äh… Ich…«
Ein Gast hob den Kopf und schaute sich wie benommen um. Ayris musterte seine bartstoppelige bleiche Visage. Der Kerl war narbig und kahl und trug wie die meisten Anwesenden eine Strickhülle jener Art auf dem Kopf, mit denen man unten im Bunker Klopapierrollen verhüllte. Ein unterarmlanges Messer hing an seinem Gürtel. Ein halbes Pfund Altmetall zierte seine Ohren, Brauen und Lippen. Offenbar wollte er beweisen, dass er vom gegenwärtigen Modetrend, der schulterlanges Haar und mittlere Reife favorisierte, völlig unabhängig war. Die anderen Gäste dachten vermutlich ebenso. Hätte ihr Blick etwas mehr Grips reflektiert, hätte Ayris sie sich gut im Söldnerheer eines Monarchen vorstellen können. Doch so wie sie aussahen, reichte es wohl nur zur ehrlosen und niemals mit Orden belohnten Tätigkeit von Meuchelmördern. »Ich… äh…« »Wat?« Eine andere Graubacke wandte sich um. Ihr Blick war wacher als üblich, aber noch nicht ganz da. Vermutlich würde sich zwischen den beiden Gestalten in Kürze ein Dialog entwickeln, an dem Ayris aber wenig interessiert war. Ihr Magen knurrte wie verrückt. Deswegen baute sie sich am Tresen auf und sagte, ohne die nervös mit den Füßen scharrenden Zombies aus den Augen zu lassen: »Kann ich bitte was zu essen haben?« Ein tückisches Lachen antwortete ihr. Dann eine rüde Beschimpfung: »Schlampe!« Ayris' Kopf fuhr herum. Die blonde Mutti hinter der Theke hielt einen Schnitzelklopfer in der erhobenen Kralle – und war gerade im Begriff war, ihre auf dem Tresen ruhende Hand zu zerschmettern. Ayris fuhr zurück. Wumm! Der Klopfer krachte aufs Holz. Die Blonde fluchte. Ayris riss ihren Driller aus dem Holster, doch die Blonde lachte nur hämisch, als wüsste sie genau, dass das Ding zu keinem Schuss mehr taugte.
Aus irgendeinem Ayris nicht bekannten Grund fegte sie hasserfüllt und den Klopfer schwingend hinter der Theke hervor. In der gleichen Sekunde zog der Mann, der als zweiter aus der Leichenstarre erwacht war, sein Messer und ging auf die Graubacke los, die ständig »Ich… äh…« brabbelte. Ayris hatte keine Ahnung, welcher Hass die Blonde antrieb und warum der eine Daa'murenvasall dem anderen an die Kitsche wollte. Während sie sich darauf vorbereitete, die durchgedrehte Frau mit dem Schnitzelklopfer abzuwehren, zuckten hier und da weitere Gäste starrkrampfartig zusammen und glotzten sich aus etwas helleren Augen an. Sie schienen die Welt nicht zu verstehen. »Tongueless Kid… du?«, keuchte einer. »Ungl… Unglll…« Tongueless Kid schien sich ebenso wenig zu freuen wie der Mann, der ihn angesprochen hatte. Mit einem Knurren zückte er sein Schwert. Der andere Mann – es war nicht auszuschließen, dass er Noseless Kid hieß, da sein Zinken so flach war wie ein platt geklopftes Ratzenschnitzel – fluchte, zog seine Klinge und spuckte sein Gegenüber an. Ayris holte mit dem nutzlosen Driller aus, doch bevor sie der Blonden einen Schlag versetzen konnte, flog aus der Gaststube ein Wasserglas auf die rauflustige Dame zu und zwang sie, sich zu ducken. Nun flogen die ersten Stühle. Vier, fünf, sechs Männer, die einander nicht leiden konnten, schlugen, als seien sie aus einem hypnotischen Schlaf erwacht, mit Fäusten und spitzem Eisen aufeinander ein. Scherben, Späne, Gardinen und ein Ohr flogen durchs Lokal. Ayris versetzte dem Kinn der Blonden einen Tritt und schwang sich hinter den Tresen, auf dem ihr geschulter Blick ein frisch gebratenes Steak erblickte. Wenn sie schon sterben sollte, dann wenigstens nicht mit leerem Magen! Sie schnappte sich das Ding mit der Linken und klemmte es zwischen ihre
Vorderzähne. Mit der Rechten knallte sie den Lauf des Drillers gegen das Kinn einer Brünetten, die, vom Kampfeslärm angelockt, mit einem Sägemesser in der Hand aus der Küche kam. »Stech sie ab, Reeda!«, kreischte die Blonde. Hinter ihr zerlegten die Zombies die Gaststube in Kleinholz. »Das ist die Schlampe, die Mobaan mitgebracht hat! Stech sie ab!« Mobaan? Das konnte nur der Daa'mure sein. Klatsch! Und noch mal unters Kinn der Brünetten. »Wahhh!« Reeda rutschte aus und fiel zu Boden. Ayris biss ein Stück Steak ab und schluckte es herunter. Die Blondine warf eine Flasche in ihre Richtung, die gegen eine Wand krachte und zu Boden regnete. Ayris klemmte sich das Steak wieder zwischen die Zähne und suchte einen Fluchtweg. Sie wollte keine Sekunde in einem Haus bleiben, in dem sie nicht willkommen war. Die Küchentür erschien ihr günstig. Sie stürzte in die Küche. Da hinten war ein Fenster! Erinnerungsfetzen sagten ihr, dass die Blonde Manee ihr schon bei der Ankunft in diesem Haus eifersüchtige Blicke zugeworfen hatte. Vermutlich glaubte die dumme Kuh, sie wollte sie bei Mobaan ausstechen. Manee und die Brünette folgten ihr. Nun schwang auch Manee ein langes Küchenmesser. Jetzt aber dalli. Ayris hob den Driller und schlug die kostbare Scheibe ein. Scherben regneten zu Boden. »Luder, dreckiges!«, schrie Manee. »Dafür mach ich dich kalt!« Ayris hätte ihr gern die Zunge herausgestreckt, aber dann hätte sie das Steak verloren. Sie schwang sich auf die Fensterbank. Ihr Herz pochte wild. Ein kalter Nordwind drosch auf sie ein. Draußen war es stockfinster. Im Schneegestöber konnte man kaum einen Meter weit sehen. Ayris sprang, landete weich und rappelte sich auf. Die
Gesichter Manees und Reedas schauten durch das zerschlagene Fenster. »Das wirst du bezahlen!«, kreischte die Blondine. Sie stieß der Brünetten in die Rippen. »Los, vorne raus! Hinter ihr her!« Ayris kicherte schadenfroh. Jetzt aber weg. Sie machte sich aus dem Staub und futterte unterwegs das Steak auf. Der Gasthof mit dem animalischen Namen »Gawlden Lyon« lag in einem Viertel mit vielen roten Laternen, doch heute Nacht sah sie kaum Licht. Lag es an der mörderischen Kälte, die sie trotz ihres Thermoanzugs spürte? Als Ayris im fallenden Schnee durch eine unbebaute Landschaft lief, hatte sie den Eindruck, als sei Washington nicht mal halb so dicht bevölkert wie am letzten Tag, an den sie sich erinnerte. Hatte sie etwas Wichtiges verschlafen? War während ihrer Erkrankung irgendwas passiert? Das Verhalten der Leute im »Gawlden Lyon« war ja ziemlich rätselhaft gewesen. Na schön, ganz dicht waren diese Typen ihr nie erschienen. Überall an der Oberwelt wimmelte es von komischen Käuzen. Manche Menschen kapierten einfach nicht, dass sich der Verzehr gewisser im Stadtbereich wachsender Pilze befremdlich auf den Geist auswirkte. Die Gäste des »Gawlden Lyon« waren ihr wie bedröhnt erschienen. Steckte der Daa'mure dahinter? Er hatte sie irgendwie unter der Fuchtel, dachte Ayris. Doch was ist passiert, dass sie jetzt so anders sind? Sie verharrte. Da drüben, wo der Mond gerade auf eine breite Fläche schien, huschten Gestalten hin und her. Wer war das? Die Schergen des Bürgermeisters? Der Fettsack ist tot, fiel ihr ein. Sergeant O'Hara hatte ihn aus dem Verkehr gezogen. Aber er hat inzwischen bestimmt einen Nachfolger. Ayris ging in die Hocke. Ihr geschulter Blick huschte hin und her. Sie brauchte unbedingt ein Dach über dem Kopf.
Wenn möglich ein Dach, unter dem jemand heizte. Die Nächte waren in diesen Breitengraden schon im Sommer eine Qual, doch jetzt war vermutlich schon Dezember. Ich darf nicht allzu lange hier rumhängen. Sie kniff die Augen zusammen und schaute sich um. Mit welchen Kräften hatte sie es zu tun? Mit Winterkriegern? Leute aus ihrer alten Einheit, die mal wieder Abtrünnige suchten? Vielleicht suchen sie sogar mich? Ayris hielt den Atem an. Genau vor ihr musste irgendwo die K Street sein. Dort standen mehrere Häuser aus der Ära vor der Eiszeit. In ihrer Winterkriegerphase hatte sie sich oft dort rumgetrieben. In einem der Häuser waren Angehörige einer Kid-Gang untergekrochen. Wenn sie es schaffte, die Straße zu überqueren, ohne den Typen in die Hände zu laufen, die da vorn… »He, kschscht…« Ayris zuckte zusammen. Sie schaute nach rechts. Und traute ihren Augen nicht: Die Blondine aus dem Wirtshaus pirschte, der Außentemperatur gemäß ausstaffiert und eine Pelzmütze auf dem Kopf, mit einem Säbel in der Hand zehn Meter von ihr entfernt zwischen den Bäumen her und winkte jemandem, den Ayris nicht sah. Die dumme Schnepfe war ihr tatsächlich gefolgt! Was, um alles in der Welt, trieb diese Frau an? Ayris legte sich flach in den Schnee. Sekunden später erspähte sie Reeda und verbiss sich einen Fluch. Die beiden waren wirklich hinter ihr her! Sie musste weg, bevor die Typen, die da vorn zugange waren, auf sie aufmerksam wurden. Frauen, die sich nachts hier herumtrieben, waren eine beliebte Beute. »He, du da!«, hörte Ayris plötzlich eine heisere Männerstimme. »Bleib domma stehn, schöne Frau!« »Wer, ich?«, fragte Reeda.
Ayris hechtete über den Stamm eines umgestürzten Baumes in Deckung und lauschte Reedas Kreischen. Offenbar kapierte die doofe Brünette jetzt, dass sie jemandem in die Falle gegangen war. »Pfoten weg, du Sau!« Ayris rümpfte die Nase. Nun, das Leben auf der Erdoberfläche war nicht nur hart, es prägte auch die Menschen und ihre Ausdrucksweise. Sie richtete sich auf und lugte über den schneeweißen Baumstamm hinweg. Unter normalen Umständen hätte sie in einer solchen Situation weibliche Solidarität walten lassen und wäre Reeda zu Hilfe geeilt. Doch die Umstände waren nicht normal. Nur eine doofe Heilpädagogin hätte darauf plädiert, einer Frau zu helfen, die ihr an die Kehle gegangen wäre, hätte sie die Möglichkeit dazu gehabt. Außerdem konnte Reeda sich ganz gut gegen den Mann wehren – denn nun schrie er um Hilfe. Aus Richtung der K Street eilten mehrere Nachtratten heran, um dem Kollegen beizustehen. Wunderbar. Ayris lief geduckt in die Richtung, aus der die Burschen kamen. Schon sah sie durch den Schneevorhang die Rückseiten einiger Ziegelsteinhäuser. Die Fenster im Parterre waren zugemauert, die Fenster im ersten Stock mit Eisenstangen geschützt. In der dritten Etage flackerte hier und da Licht. Ja, das war das Haus, in dem Trashcan Kid und seine Freunde hausten… Ayris schlich an der Wand entlang. Ob sie es riskieren konnte, die Häuser zu umrunden, sich auf die K Street zu begeben und sich der Wache zu erkennen zu geben? Sie peilte um die Hausecke. Zwanzig Meter entfernt, auf dem zugeschneiten Trümmergelände, das den Häusern der K Street gegenüber lag, stand ein frierender Posten. Er hatte offenbar kalte Füße, denn er hüpfte von einem Bein aufs andere und tanzte dabei im Kreise, sodass Ayris das auf den Umhang gestickte Symbol sah: ein bärtigen alten Knaben mit drei Augen!
Die Ullah-Sekte! Ayris fluchte, zückte ihren Driller und wich zurück, als ihr einfiel, dass er ihr nichts nützte. Während ihrer Zeit bei den Winterkriegern hatte sie von dieser neuen Vereinigung gehört. Jamal, der Anführer, war ihr nie begegnet, aber laut den Buschtrommeln sah er sich nicht als Nachtratte, sondern als Politiker, der darauf aus war, eine neue Ordnung durchzusetzen. Niemand wusste genau, welche Ziele er verfolgte, aber offenbar gab es einige Dinge, die seiner Moral so zuwider waren, dass er sie mit aller Härte bekämpfte. Ein Spitzel hatte ihn als »hochmoralischen Menschen« geschildert, der sich uralten Traditionen verpflichtet fühlte. Beispielsweise ließ er Drogenhändler vierteilen, wenn er sie erwischte. Dieben, die es wagten, seine Leute und deren Angehörige zu bestehlen, ließ er die Diebeshand abhacken. Kamen Frauen, die seinen Männern gehörten, auf die Idee, ihr Gesicht unverhüllt einem Dritten zu zeigen, ließ er sie steinigen. Jamal berief sich auf eine angeblich antike Gottheit namens Ullah, die den Menschen all diese netten Gesetze schon vor der letzten Eiszeit gegeben hatte. Kein Wunder, dass es mit der Menschheit immer mehr bergab geht… Ayris schob sich rückwärts an der Hauswand entlang, bis der Posten auf der K Street aus ihrem Blickfeld verschwand. Als sie aufatmen wollte, hörte sie ein eisernes Scharren. Ihr Nackenhaar richtete sich auf. Gleichzeitig legte sich von hinten ein fester Arm um ihren Hals. »Rrrrr…« Ayris' Muskeln spannten sich, doch ehe sie Gegenmaßnahmen einleiten konnte, wurde sie von den Beinen gerissen und durch einen schmalen Türrahmen, den sie zuvor nicht gesehen hatte, ins Hausinnere gezogen. Dass der Entführer sie einfach zu Boden fallen ließ, verdutzte sie so sehr, dass sie an Gegenwehr nicht dachte, und als er die Tür zuwarf und mit zwei unterschenkeldicken Riegeln verschloss,
wurde es so finster wie in einem Sarg und sie sah ihn nicht mehr. *** Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Geier. Jamal brauchte nur einen Blick auf die ehrlosen Klunten zu werfen, die seine Männer überwältigt hatten, um zu wissen, dass er heute Nacht noch ein gutes Geschäft machen würde. Die eine, der es tatsächlich gelungen war, seine rechte Hand zu töten, saß mit plattem Nasenbein, die Hände auf dem Rücken gefesselt, im Mund einen Knebel, heulend im Schnee und wünschte sich, nie geboren zu sein. Jamals tote rechte Hand, ein aus Sehnen und Muskeln bestehender Nichtsnutz, hatte gerade seinen letzten Seufzer getan. »Na los.« Jamal nickte Toothless Ed zu. »Nimm es dir.« Toothless Ed nahm das Abzeichen an sich, das an der Jacke des Toten prangte: Texas Rangers. Er putzte es ab und heftete es sich stolz an die Brust. Nun war er Jamals rechte Hand. Er hatte lange auf diesen Tag gewartet. Ed hatte zwar keinen Zahn im Mund, aber er war alles andere als zahnlos. Jamal brauchte ihn nur anzuschauen, um zu wissen, dass er alles tun würde, um die restlichen Angehörigen seines Ordens an Tücke und Gemeinheit zu übertreffen. Solche Leute brauchte er, solange der Feind noch nicht geschlagen war. »Ullah Ullalah«, murmelte Jamal. »Ullah Ullalah«, erwiderten seine Leute. Momentan waren zehn Mann um Jamal und Ed versammelt. Sie zogen die Nasen hoch und begafften die blonde Manee. Dass niemand auf andere Ideen kam, lag daran, dass die ansonsten attraktive Manee momentan nicht sehr anziehend aussah: Ihre Augen
waren geschwollen, ihre Schminke verschmiert. Man sah ihr an, dass sie Übles für ihre Zukunft befürchtete. Mit Recht! Bisher hatten Manee und Reeda mächtige Beschützer gehabt, doch die waren, wie Jamals Spitzel heute Abend gehört hatten, zur einen Hälfte tot und zur anderen desertiert. Die Lebenden zogen durch die Tavernen, tranken Feuerwasser und phantasierten von einem mysteriösen Fieber, aus dem sie gerade erst erwacht waren. Jamal schüttelte sich, als er an die unheimlichen Gestalten dachte, die sich im »Gawlden Lyon« um den Fremdling geschart hatten: Haudegen allesamt, doch auf unerklärliche Weise lebendigen Toten gleich, die auf einen Pfiff ihres Herrn wie dressierten Ratzen reagiert hatten. Ihr Herr, ein ausländischer Ungläubiger, war mit dem Präsidenten der Engerlinge zu einem fernen Ort namens »Kratersee« gereist, um dort Krieg zu führen. Selbst wenn sie jemals zurückkehrten; in Waashton hatten sie dann nichts mehr zu sagen. Schon bald würde hier eine neue Ordnung herrschen. Er, Jamal, würde sie mit Ullahs Hilfe durchsetzen. »Verkaufen können wir sie wohl nicht«, sagte Nasty Kid. »Bestimmt haben Sie die Krätze. Wenn Sie jemanden anstecken, müssen wir's später ausbaden…« »Also auf den Grill.« Toothless Ed ließ sein grünes Zahnfleisch blitzen. Reeda verdrehte die Augen und fiel in Ohnmacht. Manee heulte noch lauter. Ed hielt ihr den Mund zu. Als er sie wieder losließ, winselte sie um Gnade, versprach der Bande für die Verschonung ihres Lebens alles, wonach es sie gelüstete. Außerdem verriet sie, wo im »Gawlden Lyon« die Schätze all jener lagerten, die vor »Moobans« Einzug dort gewohnt hatten. Dies interessierte Jamal. Der »Gawlden Lyon« war eine berüchtigte Nachtrattenherberge gewesen. Wer einen Dieb bestahl, dem winkten bekanntlich sieben Jahre Glück…
*** Monsieur Marcel schaute zum Fenster hinaus auf die weiße Stadt. Er dachte an viele Dinge: An die lange Flucht vor den Soldaten seines Herrschers in Kanda, die er als Einziger überlebt hatte; an geheimnisvolle Völker, deren Sprache er nicht verstand; an seine hiesigen Kameraden, die ihm seit Jahrzehnten tot erschienen. Er dachte an die Gesichter der Menschen, mit denen er in Erdlöchern, Höhlen und Bunkern gewohnt und gekämpft hatte – gegen die Technos, die sich auf irgendwelche Rechte beriefen, die ihnen angeblich zustanden. Aber diese Rechte waren über fünfhundert Jahre alt und außer ihnen kannte sie niemand und wollte sie auch nicht kennen lernen. Monsieur Marcel dachte an Mr. Black und Mr. Hacker, an Honeybutt Hardy, an Mr. Eddie, Doc Ryan und viele andere der verwegenen Truppe, die sich die Running Men nannte. Alle waren sie tot oder verschollen, doch in seinem Kopf lebten sie noch. »C'est la vie, Bébé«, murmelte Marcel traurig vor sich hin. Er drehte sich um und zündete die Kerze an, die neben seinem Lager in einem Flaschenhals steckte. Ihr Lichtschein reichte zwar nicht weit, aber weit genug, um zu sehen, dass unter dem Tisch ein Ledermäppchen jener Art lag, in dem die Technos Identitätskarten und ähnlichen Kram aufbewahrten. Ihm fiel ein, dass Sabreena, in deren Gästezimmer er seit einigen Tagen wohnte, heute Nachmittag Besuch von einem Bekannten gehabt hatte. »Irgendwelche schrägen Vögel waren hinter ihm her, Marcel. Ich musste ihm für 'ne Weile Unterschlupf gewähren.« »Schräge Vögel?«
»Ich hab sie vom Fenster aus gesehen. Brainless Kid und drei, vier andere Hirnamputierte. Da hat er noch Glück gehabt, denn es gibt in dieser Gegend weitaus schlimmere Finger.« »Zum Beispiel?« »Na, Jamal und seine Unterlinge. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen. Besonders dann nicht, wenn man 'ne Frau ist.« Na ja, jedenfalls hatte Sabreenas alter Kumpel sich ein oder zwei Stunden im Gästezimmer aufs Ohr legen wollen – bis die Hirnamputierten gegangen waren. »Leider sind nicht alle verduftet«, hatte Sabreena geseufzt. »Brainless Kid hat sich versteckt. Als Paddy ging, hat er sich an seine Fersen geheftet. Ich kann nur hoffen, dass er ihn abgehängt hat…« Bei dem großen Gefecht gegen die Weltrat-Agenten war damals alles drunter und drüber gegangen. Marcel erinnerte sich an Mündungsfeuer, Tränengas und einstürzende Wände. Ein Stein hatte ihn am Kopf getroffen und von den Beinen geholt. Tage später war er unter allerlei Gerümpel zu sich gekommen. Ohne seine Kameraden. Er war an die Oberfläche gekrabbelt und hatte sich umgehört. Bald hatte er gewusst, dass er der einzige Running Man war, den man nicht erledigt oder erwischt hatte. Und dann: von einem Unterschlupf zum anderen. Raus aus der Stadt. Rein in die Stadt. Bis er hier gelandet war, bei Sabreena, die mehr Kontakte zu den Engerlingen hatte als ihm lieb sein konnte. Marcel seufzte. Denk an was anderes. Er klappte das Mäppchen auf. Der Name des Besitzers war eingeprägt: PATRICK O'HARA. Es enthielt ein Stück Papier. Ein Ausschnitt aus einem Stadtplan? Marcel schaute es sich genauer an. Es war von Hand gezeichnet. Da stand L Street, K Street, I Street, 23rd Street, 22nd Street, 21st Street und George Washington University.
Ein Haus zwischen der 22nd und K Street war mit einem geheimnisvollen X markiert. War da vielleicht ein Schatz vergraben, hoho? Darunter stand »25 Stck. Walther P1«. Monsieur Marcel schnalzte mit der Zunge. Es klang sehr geheimnisvoll. Er hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Aber er kannte die Gegend. Ein Teil der dortigen Gebäude stammte noch aus der Epoche vor der Eiszeit. Kein Tag verging, an dem die Technos nicht in irgendwelchen Kellern und Ruinen herumkramten oder die Erde umpflügten, um Dinge aus der Prä-Katastrophenzeit zu bergen. Führte ein Engerling eine solche Zeichnung mit sich, konnte man gewiss sein, dass er in einer Datenbank einen Fund gemacht hatte. Aber das, was für eine technische Zivilisation ein Schatz war, war für einen jungen Mann wie Marcel vielleicht nur ein Haufen Papier, mit dem man Feuer machen konnte. Sei's drum. Er bekam ohnehin kein Auge zu; da konnte er sich auch mal an dem markierten Ort umschauen. Marcel kleidete sich der Jahreszeit gemäß an und schnallte sein Kurzschwert um. Er huschte aus dem Kämmerchen, eilte die Treppe hinunter, durchquerte die finstere Gaststube und warf durch vergitterte Fenster einen Blick ins Freie. Die Straße lag still da. Komisch, aber im Milieu war seit zwei Wochen nichts mehr los. Marcel vermisste die Technos, die sich in ihrer Freizeit gern unter den Pöbel mischten und im Rotlichtviertel das auslebten, was sie sich unter der Erde nicht auszuleben trauten. Irgendwas schien sie aus der Stadt vertrieben zu haben. Gerüchten zufolge durchlebte die unterirdische Gesellschaft gerade eine schlimme politische Krise: Präsident Crow hatte das Land verlassen und focht an der Spitze fremdländischer Alliierter auf der anderen Seite der Erdkugel gegen Eindringlinge aus dem Weltall.
Eindringlinge aus dem Weltall! Marcel glaubte kein Wort von diesem Scheiß. Natürlich dachten die imperialistischen Diversanten in Crows Lügenschmiede sich solche Geschichten nur aus, um die Arbeiterklasse von den wirklichen Problemen abzulenken. Und die hießen nun mal Freiheit, Gleichheit und allen was zu Fressen. Das Licht des Silbermondes verlieh der Außenwelt einen fast magischen Glanz. Monsieur Marcel, der die Tür des Lokals hinter sich schloss, blieb stehen und begutachtete eine Gestalt mit einem großen schwarzen Schlapphut. Sie ging an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken und bog in eine finstere Gasse ein. Bei der Vorstellung, dass der Kerl zu einer Bande gehörte, die hier ihr Unwesen trieb, musste er frösteln. Trotzdem: Er stapfte los. Irgendwas trieb ihn an. Er hatte das Gefühl, dass er irgendwas verpasste, wenn er jetzt wieder schlafen ging. Schon kurz darauf drang Getöse und Geschrei an seine Ohren. Glas klirrte. Kettengerassel. Nachtratten in Aktion? Seit die Techno-Truppen sich nicht mehr zeigten, konnte man sich kaum noch auf die Straße trauen. Bürgermeister Fettsack war bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Sein Nachfolger hatte sich dem Volk noch nicht gezeigt. Heiseres Geschrei von rechts. Marcel verharrte. Ein Dutzend Gestalten rannte auf in zu. Wehende Umhänge – und darunter Thermoanzüge, wie die Technos sie trugen! In Leder gekleidete Nachtratten verfolgten die Rennenden; sie schwangen Schwerter, Säbel, Äxte und Keulen. Monsieur Marcel verschmolz mit einer Hauswand. Er konnte kaum glauben, was er sah. Normalerweise war es umgekehrt: da droschen die Bunkertruppen das Kroppzeug zusammen. Die Technos waren die Herren dieser Welt. Ihren Schusswaffen und ihrem kriegstechnischen Gerät wagte niemand zu trotzen.
Doch heute setzten sie sich nicht mit Drillersalven zur Wehr. Stattdessen liefen sie durch die Häuserschlucht um ihr Leben. Die johlende Meute heftete sich an ihre Fersen. Da Marcel sich sagte, dass man nirgendwo so sicher war wie in der Masse, schloss er sich ihnen an. Schnee stob auf. Der Mond stand tief. Dunstschwaden krochen über die Straße. Eine flüchtende Gestalt fiel hin und schrie auf. Ihre Stimme verriet, dass es eine Frau war. Ein Verfolger stürzte sich auf sie. Die restlichen Technos rannten weiter – vermutlich hatten sie den Schrei der Gestürzten nicht mal gehört. Auch die anderen Verfolger machten sich nicht die Mühe anzuhalten. Als die Nachtratte ein Schwert hob, um es in den Rücken Frau zu bohren, packte Marcel ihren Arm und drehte ihn, bis er brach. Der Gewaltmensch brüllte auf. Marcels Stiefelspitze knallte unter sein Kinn und schickte ihn ins Land der Träume. »Hast du dir was gebrochen?« Marcel reichte der Frau die Hand. »Nein, nein…« Sie griff verdutzt und dankbar zu. Er zog sie auf die Beine, dann erspähte er den Eingang einer Kellerkaschemme. Einige hundert Meter weiter hatten die Nachtratten die Flüchtenden nun gestellt und machten sie nieder. Wenn diese Typen ihn mit der Frau erwischten… Monsieur Marcel nahm ihre Hand und drückte sich in den Eingang der Kneipe. Die Tür war zu, was ihn nicht wunderte. Er schlug heftig gegen das Holz, doch nichts rührte sich. Auf der Straße war eine wüste Keilerei im Gange. Die Nachtratten kannten keine Gnade. Eisenketten flogen, Messer blitzten auf. In Marcels Magen breitete sich Übelkeit aus. Er verlor plötzlich das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Jemand hatte die Kneipentür geöffnet und sagte leise: »Los, kommt rein, ihr beiden!«
*** Mit der Unbekannten an der Hand ging Monsieur Marcel wie benommen eine Treppe hinunter. Etwa dreißig Männer und Frauen – nicht alle wirkten vertrauenswürdig auf ihn – bevölkerten den Laden, unterhielten sich leise und warfen hin und wieder argwöhnische Blicke zur Eingangstür hinauf. »Was ist los?«, fragte Marcel, als sie in einer Nische saßen und Feuerwasser tranken. »Sind die alle auf einen Schlag irrsinnig geworden?« Er musterte die Frau. »Und was ist mit euren Leuten? Wieso habt ihr euch nicht gegen die Lumpen gewehrt? Ihr habt doch diese tollen Kanonen.« »Die hatten wir mal. Die taugen jetzt nichts mehr.« Die Frau schaute ihn an. Sie war hübsch. Sie hatte ein kleines Näschen und klare blaue Augen. Leider war sie mindestens vierzig und hätte seine Mutter sein können. »Wie, die taugen jetzt nichts mehr?« Marcel machte große Augen. »Die können doch nicht alle gleichzeitig kaputtgegangen sein.« »Sind sie aber«, erwiderte die Frau. »Und nicht nur sie. Auch die Computer und alles andere.« Sie deutete auf den Erdboden. Marcel verstand. Sie meinte den Bunker. Das elektronische Wunderwerk, von dem Mr. Black ihm und den anderen erzählt hatte. Sie hatten diese phantastische Welt nie mit eigenen Augen gesehen, aber alle hatten sie sich lebhaft vorstellen können. »Sag bloß…« Er fühlte sich irgendwie enttäuscht. Da hatten sie nun über Jahre hinweg alles getan, um der Regierung zu schaden – und jetzt brach das System von ganz allein zusammen. »Euer Katastrophenschutz war noch nie einen Schuss Pulver wert.« »Yeah.« Die Frau nickte ihr Glas an. »Und seit alles kaputtgeht, ist eine große Absetzbewegung im Gange.« Sie
trank einen Schluck, machte »Hmmm!« und fügte hinzu: »Gewisse Kreise, denen die Ordnung vermutlich zu streng war, halten jetzt den Zeitpunkt für gekommen, sich zu rächen. – Hick.« Sie schlug sich erschreckt mit der Hand auf den Mund. Marcel grinste. »Ich bin Marcel. Wie heißt du?« »Johnny.« »Willst du mich verarschen?« »Keineswegs.« Johnny schüttelte den Kopf. »Eigentlich heiße ich Johanna. Aber der Name ist so bieder.« Sie schaute Marcel an. »Wo kommst du her, mein Kleiner? Du sprichst wie 'n Franzmann. Ich wusste nicht, dass es Menschen gibt, die wirklich so sprechen.« Mein Kleiner? »Woher kennst du meinen Dialekt, wenn du noch nie jemanden getroffen hast, der so spricht wie ich?« »Aus Filmen.« Johnny runzelte die Brauen. »Weißt du, was 'n Film ist?« »Klar.« Marcel nickte. »Mr. Black hat's mir erzählt.« Johnny machte große Augen. »Du kennst Mr. Black?« »Du kennst ihn auch?« »Als er noch klein war, hab ich mich um ihn gekümmert. Damals war er drei und ich sieben. Oder acht. Ich glaub, er war in mich verliebt. Er hat sich später vom Acker gemacht. Die Tochter unseres Präsidenten wollte ihm was Unsauberes anhängen…« Marcel nickte. »Natürlich war er unschuldig.« »Ich weiß.« Johnny zog die Augenbrauen zusammen. »Sie war schon als Kind die verlogenste Zicke der Unterwelt. Irgendwann ist sie zur anderen Seite der Erde aufgebrochen. Mit einer großen militärischen Truppe.« Marcel fand Johnny sehr sympathisch, obwohl sie ein Engerling war. Eigentlich hatte er sich immer eine Mutter wie sie gewünscht: eine Frau, die mitging, wenn man mal einen heben wollte, und die auch lachte, wenn man einen dreckigen Witz erzählte. »Wieviele Musiker braucht man, um eine
Glühbirne auszuwechseln?«, fragte er, um rauszufinden, ob sie Humor hatte. »Weiß nicht.« »Vier.« Marcel lachte sich schon im Voraus einen Ast. »Einen, der die Birne auswechselt, und drei, die derweil ein Lied darüber singen, wie gut die alte war.« Johnny lachte sich kaputt. Marcel lachte mit. Sie hatte den Witz verstanden! »Was ist aus ihr geworden?«, fragte Marcel. »Aus wem?« »Aus Präsident Crows Tochter.« »Ich vermute, Sie hat inzwischen ins Gras gebissen.« Johnny schaute Marcel an. »Was macht Mr. Black?« »Der ist auch auf der anderen Seite der Erde – glaub ich.« Marcel beugte sich über den Tisch. »Ich wäre rasend gern mitgegangen, aber damals war ich noch zu jung für solche Sachen. Hat Mr. Black jedenfalls gesagt. Was aber Quatsch ist. Honeybutt ist kaum älter als ich, und die durfte trotzdem mit.« »Honeybutt?« Marcel erzählte ihr von Kareen Hardy. Er berichtete auch, wer seine sonstigen Freunde gewesen waren, denn jetzt gab es keinen Grund mehr, es zu verschweigen: Die Running Men waren tot. Die Technos lagen im Sterben. Was Marcel neuerlich zu der Frage brachte, wieso ihre Technik so kaputt war, dass sie die Hauptstadt bei Nacht und Nebel in Scharen verließen. »Daran sind Strahlen schuld.« Johnny leerte ihr Glas und schenkte sich noch einen ein. »Irgendwas Schreckliches ist am Kratersee passiert, und nun kommen Strahlen durch die Luft zu uns rüber und vernichten alles, was elektrisch ist.« »Und was heißt das?« »Chips funktionieren nicht mehr. Driller können nicht mehr schießen. Keine Aufzüge fahren mehr. Die Heizung und das Licht gehen aus. Und so weiter.«
»Chips?« Johnny verwendete jede Menge akademische Begriffe, die er nicht verstand. »Frag mich bloß nicht nach Einzelheiten. Davon versteh ich nichts. Ich war nur Schreibkraft im Vorzimmer von Sergeant O'Hara.« Sie hob ihr Glas und prostete Marcel zu. Ihre blauen Augen waren nun weniger klar als zuvor. Marcel beschloss, seinen Plan, sich das Haus mit dem »Schatz« anzusehen, auf den nächsten Tag zu verschieben: Hier brauchte jemand seine Hilfe, und ein alter Revolutionär konnte keine angetrunkene Dame allein im Regen stehen lassen. Wenn er sich so umschaute, war es sicher angebracht, Johnny an einen sicheren Ort zu bringen, wo sie sich ausruhen und auf bessere Zeiten warten konnte. Die Nachtratten waren angesichts der Kälte bestimmt längst weiter gezogen. Auf seine Frage, ob sie seine Gastfreundschaft annehmen wolle, erwiderte Johnny freudig: »Ja, aber erst trinken wir noch einen – gegen die Kälte.« Marcel trank noch einen, sodass er nun zwei getrunken hatte. Johnny trank noch zwei, sodass sie nun neun getrunken hatte. Als sie auf der Straße standen und die Kellertür hinter ihnen zufiel, knickten Johnnys Knie ein. Zum Glück konnte Marcel sie auffangen, über seine Schulter hieven und trotz des heftig fallenden Schnees durch viele menschenleere Straßen schleppen. Dann aber ging auch ihm die Puste aus. In der 22nd Street fasste er ernsthaft ins Auge, seine neue Bekannte im nächsten Gasthof abzusetzen, der mit freien Zimmern aufwartete. Er kam zum »Gawlden Lyon«. Von dem nosferisch aussehenden Portier abgesehen wirkte der Laden äußerlich recht seriös. Erstaunlicherweise war er zu dieser späten Stunde noch hell erleuchtet. Als Monsieur Marcel mit der schlafenden Johnny über der Schulter in die Gaststube kam, glaubte er zu erkennen, dass der
Besitzer des »Gawlden Lyon« großen Wert auf Reinlichkeit legte: Zwei Kammerzofen – die eine hellblond, die andere kastanienbraun, hockten nämlich dort auf den Knien und schrubbten den Parkettboden. »Kann ich für die Dame hier ein Zimmer mieten?«, fragte Marcel den zahnlosen Mann hinter der Theke und legte Johnny vorsichtig auf einem Polstersofa ab. Erst jetzt merkte er, wie verheult die putzenden Zofen aussahen. Dann maß er die am Tresen sitzenden und trinkenden Gäste. Ihre Umhänge waren mit Porträts eines dreiäugigen Mannes verziert. Heiliger Bimbam, dachte Marcel, dem einfiel, was Sabreena ihm über die Ullah-Jünger erzählt hatte. Sag jetzt bloß nichts Falsches. Der Zahnlose hinter dem Tresen, der gerade ein Glas polierte, zwinkerte Marcel munter zu. »Ja, lass sie nur da liegen. Wir kümmern uns schon um die Schnalle.« Er hatte schütteres Haar und Blumenkohlohren, die er unter einer spitzen schwarzen Kapuze zu verbergen versuchte. Der Knabe sah nie und nimmer wie ein Gastwirt aus. Er war eher eine Nachtratte billigsten Kalibers. »Kann sie denn auch zahlen?« Der Mann, der diese Frage stellte, war plötzlich neben Marcel aufgetaucht. Auch er trug einen schwarzen Umhang, aber er war älter als der Gläserpolierer und die Burschen, die an der Theke vor den Getränken saßen. Der Mann war bleich wie der Tod, seine Augen von rötlicher Farbe, seine Visage ein einziges Meer von Pockennarben. Sein Blick war intelligent, seine Stimme klang so süffisant und ironisch, dass es Marcel kalt den Rücken hinab lief. Er wusste sofort, dass dieser Mann der Anführer einer Bande besonderen Kalibers war. Es war am besten, wenn er sich seinen Schreck nicht anmerken ließ, denn manche Typen fanden es mitunter witzig, ängstliche Menschen herumzuschubsen.
Marcel griff in die Tasche, war aber angesichts des Narbigen so fahrig, dass er den Inhalt seiner ganzen Jackentasche auf den Boden kippte: Malzbonbons, ein Stück Bindfaden, einen Bleistiftstummel und den Lageplan. »Hoppla…« Marcel ging in die Knie, doch bevor er den Plan aufheben konnte, hatte Narbenfresse einen Fuß auf das Papier gestellt. Genau in diesem Moment kam Johnny zu sich. Sie setzte sich hin und schaute sich um. »Trinken wir noch einen?« »Frauen werden hier nicht bedient«, sagte Narbenfresse. »Die dürfen nur arbeiten.« »Was?« Johnny riss die Augen auf. »Ab heute weht hier ein anderer Wind.« Narbenfresse deutete auf die Putzfrauen. Die beiden schauten unterwürfig zu Boden und rutschten, das Parkett wischend, einer Tür entgegen. »Ich… äh…« Marcel hatte den Eindruck, dass es keine gute Idee gewesen war, diesen Gasthof zu betreten. Offenbar hatte ein Inhaberwechsel stattgefunden, und der neue Wirt achtete auf Zucht und Ordnung. Allerdings hatte Marcel inzwischen gelernt, dass es angebracht war, in Gegenwart von Psychopathen keine Widerworte zu geben: Sektierer waren nicht nur sehr von sich eingenommen, sie waren auch schnell bei Hand, Opponenten als Werkzeuge des Satans zu verunglimpfen und dem Scheiterhaufen zu überantworten. Narbenfresse bückte sich und nahm den Lageplan an sich. »Was ist das?« »Keine Ahnung«, sagte Marcel. Es war nicht mal gelogen. Außerdem wollte er keine Vermutungen äußern. Er presste die Lippen fest zusammen. »'s is ein Lageplan«, sagte Johnny. Sie rülpste und stand auf. »Ich seh's ganz deutlich… Er scheint hinten durch.«
»Tatsächlich?« Marcel sah es nun auch. Er hätte Johnny gern ein bisschen erwürgt, denn eigentlich sah der Zettel nur wie ein Ausschnitt aus einem Stadtplan aus. Wenn man nicht genau hinschaute, sah man das kleine X gar nicht, das der Vorbesitzer – Mr. Patrick O'Hara – in eins der Rechtecke gezeichnet hatte, die eindeutig Häuser auf der K Street waren. Narbenfresse drehte den Plan zwischen den Fingern und begutachtete ihn von allen Seiten. »Was bedeutet das X auf diesem Lageplan? Ist dort etwa ein Schatz vergraben?« Er lachte herzlich – aber auch irgendwie tückisch. Der Zahnlose stellte das Gläserpolieren ein und reckte den Hals. Die anderen Thekengäste – ein Dutzend an der Zahl –, die dem Gespräch bisher schweigend gelauscht hatten, wirkten nun auch sehr neugierig. »Ach, Quatsch…« Johnny beugte sich vor. Sie wankte leicht. Narbenfresse war so freundlich, ihr den Plan unter die Nase zu halten. Johnny schaute ihn an. Dann nickte sie. »Ich kenn den Plan. Ich hab ihn schon mal gesehen. Ist ein geheimer Lageplan der Waffenkammer. Von 'nem städtischen MWDepot.« »Ach sooo…« Marcel nickte. Er vergaß den Plan, weil er ja längst auswendig wusste, wo sich das mit dem X markierte Haus befand, und stand auf. »Na, dann können wir ja wieder gehen.« Er nahm Johnnys Hand, doch als er sich dem Ausgang zuwenden wollte, schnippte Narbenfresse mit den Fingern. Ein Schlagetot tauchte vor Marcel aus dem Nichts auf und drückte die Spitze seines Schwertes an seinen Adamsapfel. Marcel erstarrte. Narbenfresse spitzte die Lippen. »MW-Depot?« Er schaute seine Männer an, dann fiel sein Blick wieder auf Johnny, und er kniff ein Auge zusammen. »Lass mich raten, Weib… Was könnte die Abkürzung MW wohl bedeuten?« »Me-mechanische Waffen.« Johnny wirkte nun absolut nüchtern. Vermutlich hatte ihr Entsetzen dazu geführt, denn sie
starrte den Burschen, der Marcel bedrohte, fassungslos an. Offenbar wurde der guten Frau erst jetzt bewusst, mit wem sie es hier zu tun hatten. »Mechanische Waffen?«, sagte Narbenfresse. »Na, das finde ich aber interessant…« Ich auch, dachte Marcel. Denn eins begriff er nun: In einer Welt, in der elektronische Waffen nichts mehr zu besagen hatten, konnten ein paar gut geölte Colts einen Deppen zum Herrn der Welt machen… *** »Keine Angst«, raunte eine Männerstimme an ihrem Ohr. »Ich bin's, Ihr alter Freund Paddy.« Ayris Grover atmete auf. Sie hatte Sergeant O'Hara zwar nicht unbedingt als ihren Freund gesehen, doch nun hatte er sie schon zum zweiten Mal aus der Scheiße geholt. Noch vor kurzer Zeit hatten sie in Präsident Crows Diensten gestanden: Sie als adjutantisches Mädchen für alles, er als Laufjunge. Sie hatte nicht geahnt, dass der Kaffeekocher und Frauenversteher Paddy durch die harte Agentenschule der WCA gegangen war und vermutlich mehr Leben beendet hatte als sie. Vermutlich können wir uns die Hand reichen. Ayris räusperte sich. Sie machte einen Versuch, das Dunkel mit Blicken zu durchdringen, aber es war unmöglich. Was war das für ein finsterer Kasten, in dem sie hier hockte? Die jungen Leute, bei denen sie Zuflucht hatte suchen wollen, wohnten, wenn sie sich nicht irrte, im Haus nebenan… »Was ist passiert, Paddy?« »Wo?« »In der Stadt. Seit ich die Besinnung verloren habe. Wann war das übrigens?«
»Vor Wochen. Ich hab sie nicht gezählt.« Ayris schluckte. »Wer hat sich um mich gekümmert?« »Na, wir alle.« »Wir alle? Wer ist das?« »Manee. Reeda. Ich.« »Die Weiber aus dem Gawlden Lyon? – Die wollten mich umbringen, deswegen musste ich abhauen.« »Die beiden also auch.« Paddy fluchte. »Ich hab so was kommen sehen. Seit Mountbattons Verschwinden ist alles anders geworden – auch die Zombies.« Er räusperte sich. »Bis gestern waren die Mädels noch einigermaßen brauchbar. Sie haben Sie gepflegt; Mountbatton hatte es ihnen vor seinem Aufbruch befohlen. Sie waren wochenlang im Tran. Ich hab sogar 'n Medikus geholt, Dr. Ephraim Knoller. Er hat Sie untersucht, aber nichts gefunden. Er meinte, es müsse was Psychosomatisches sein. Der Colonel hat sich die wenigsten Gedanken gemacht.« »Der Colonel?« »Mountbatton. Der Daa'mure, auf den ich dummerweise gesetzt habe. Sie wissen schon. Für den waren wir doch nur Lakaien, die ihm das Leben angenehm machen sollten.« Paddy fluchte erneut. »Ich war ja so dämlich. Er hat uns im Stich gelassen. Er ist mit Crow zum Kratersee gegangen. Als er weg war, haben seine Zombies sich langsam verändert. Sie haben sich hasserfüllt angeguckt, als wären sie Todfeinde… als wären sie gezwungen, die gleiche Luft zu atmen. Ich glaube, Mountbatton hat sie von der Straße weg hypnotisiert oder so was…« »Sie sind aufeinander losgegangen«, sagte Ayris und berichtete, was sie gesehen hatte. Paddy seufzte. »Dann sind sie jetzt wieder normal.« Er musste plötzlich lachen. »Normal? Was rede ich da nur?«
Ayris brütete eine Weile vor sich hin. Dann sagte sie: »Wo sind wir hier überhaupt? Und was haben Sie hier gemacht, bevor ich kam?« »Das ist eine lange Geschichte, Captain.« »Erzählen Sie sie mir, Sergeant.« »Ich werde sie verkürzen, Captain: Es geht um eine Ladung Schießeisen, die in diesem Haus versteckt sind.« »Schießeisen, Sergeant?« »Yeah, Captain. Mechanische Schießeisen. In Ölpapier eingewickelte, von Expertenhand gepflegte alte Knarren aus dem 21. Jahrhundert, die einen Höllenlärm machen, wenn man sie abfeuert, und die gemeine Bleikugeln verschießen.« »Wollen wir nicht mit diesem Captain-Sergeant-Scheiß aufhören?«, fragte Ayris. »Ja, jetzt wäre es mir recht.« Ayris hörte, dass Paddy sich von der Tür entfernte und in ihre Richtung kam. »Warum betonst du das ›jetzt‹ so?« »Weil du kein Captain mehr bist. Weil ich kein Sergeant mehr bin. Weil uns niemand mehr Befehle erteilt. Weil wir nie wieder in den Bunker zurückgehen können. Weil die Welt nie wieder so sein wird, wie sie war.« Ayris spürte am Luftzug, dass er sich neben ihr niederließ und sich an die Stein wand lehnte. »Was meinst du mit ›Weil die Welt nie wieder…‹« Ihre Stimme versagte. »Was habe ich verschlafen?« »Unsere Zivilisation existiert nicht mehr«, sagte Paddy leise. »Der Bunker ist verwaist. Er funktioniert nicht mehr. Die Steuersysteme haben den Geist aufgegeben: Computer, Kühlräume, Fabrikation – alles ist Schrott. Türen schließen nicht mehr, die Aufzüge fahren nicht. Es gibt weder Licht, noch Wasser noch Frischluft. Die Lebensmittelvorräte sind in wenigen Tagen in den Tiefkühltruhen verdorben. Die Toiletten waren im Nu verstopft. Es gab jede Menge Selbstmorde – besonders unter denen, die an Oberflächenangst leiden. Unter
solchen Umständen kann man Hunderte von Menschen nicht zusammenhalten. Man hat es gar nicht erst versucht. Die Disziplin war sofort flöten. Wer nicht mit Crow in Sibirien ist, hat sich abgesetzt oder ist in der Stadt untergetaucht.« Ayris hörte, dass Paddy auf den Boden spuckte. Das war nicht seine Art. »Gewisse Oberweltkreise haben natürlich schnell erkannt, dass unsere tollen Nixon-Panzer und Driller nur noch Schrottwert haben. Wer Grund hatte, sich über uns zu ärgern, hat dem ersten Techno, der des Weges kam, erst mal die Fresse poliert. Ich glaube, das ist ziemlich oft geschehen. Momentan gibt es keine Ordnung. Die Lumpen nutzen die Situation aus, um sich Vorteile zu verschaffen. Und es sind beileibe nicht nur so genannte Barbaren.« Paddy lachte bitter. »Ganz im Gegenteil: Unter denen, die sich momentan hier dicke tun und sich gegenseitig erledigen, sind auch Leute, die früher zu uns gehörten.« »Winterkrieger?« Ayris schüttelte sich. »Yeah. Die kennen sich nämlich nicht nur an der Oberwelt aus, die wissen auch, wie man sich durchsetzt. Es würde mich nicht wundern, wenn wir bald wieder eine stabile Regierung hätten.« Er kicherte ironisch. »Die wäre dann freilich schlimmer als die, die wir gerade losgeworden sind.« Er stand auf und ging umher. »Und wenn sie in den Besitz der Kanonen gelangt, die hier im Haus liegen – dann gute Nacht…« »Bist du deswegen hier? Um die Waffen zu bergen?« »Yeah. Weil ich nicht weiß, wer außer mir noch von ihrer Existenz weiß.« »Woher weißt du davon?« »Durch einen Vorgang, der über meinen Schreibtisch lief.« »Dann kann theoretisch jeder aus unserer Abteilung von den Waffen gewusst haben?« »Yeah.« »Mist. Das sind zwölf Personen.«
»Yeah. Von Vieren weiß ich, dass sie tot sind. Fünf andere sind mit Crow am Kratersee. Aber bisher hat noch keiner eine Ballerei in der Stadt vernommen. Und es hat auch noch niemand einen neuen Häuptling ausgerufen.« »Die Chancen sind also hoch, dass noch keiner an die Waffen rangekommen ist.« »Richtig.« Paddy seufzte leise. »Leider hab ich heute den Plan verloren – und wenn ihn jemand gefunden hat, der nicht völlig verblödet ist, wird er sich aufmachen, um nachzuschauen, was das X zu bedeuten hat, mit dem das Gebäude markiert ist, in dem wir uns befinden.« »Oy«, sagte Ayris. »Jetzt wird mir klar, warum es da draußen so von Nachtratten wimmelt!« »Hast du das auch gehört?«, zischte O'Hara plötzlich. »Was?« Ayris zuckte zusammen. »Wo?« Er hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. »Pssst!« O'Hara verstummte. Ayris, die es nicht wagte, sich vom Boden zu erheben, hörte den Boden unter seinen Stiefeln knirschen und merkte nun, dass er gar nicht an der schmalen Tür stand, durch die er sie ins Haus gezogen hatte. O'Hara war rechts von ihr. Nun vernahm sie es auch: ein Kratzen. Ein Scharren. Was um alles in der Welt…? Ayris schob sich langsam mit dem Po an der Wand hoch. Wenn der Tod sie in diesem muffigen Raum ereilte, wollte sie ihm stehend begegnen. Reiß dich zusammen, Grover! Du warst bei den Winterkriegern. Du hast mit wilden Bestien gekämpft – und mit Menschen, die den Namen nicht mal verdienen! Du wirst doch auf deine alten Tage nicht schon Muffensausen kriegen, wenn's irgendwo im Dunkeln raschelt? Unter normalen Umständen hätte sie die Ohren gespitzt, den Feind ausgemacht und eliminiert. Das Dumme war nur, dass sie sich ohne funktionierenden Driller nicht mehr so stark fühlte wie früher. Nicht mal annähernd so stark.
Kleider machen Leute. Waffen machen mutig. »Paddy?«, flüsterte sie. »Schschttt!« Ayris tastete sich an der Wand entlang, bis sie Paddy neben sich atmen hörte und ihre Finger über etwas glitten, das kein Ziegelstein war. Holz? Eine zweite Tür? »Paddy?« »Deckung…« Paddys Schulter zuckte. Ayris spürte, dass sie zur Seite geschoben wurde. Ein plötzlicher Luftzug sagte ihr, dass die Tür aufgegangen war. Ein Licht blitzte auf. Sie hörte einen gellenden Schrei. Und es erschreckte sie über alle Maßen, dass es ihr eigener war… *** Fallen ist keine Schande, wohl aber liegen zu bleiben. Der schwarze Tunnel nahm kein Ende. Irgendwie, irgendwo, irgendwann wurde ihm klar, dass jemand mit einem harten Gegenstand auf seinen Kopf geschlagen hatte. Und zwar auf die tückischste Weise, die man sich nur vorstellen kann: von hinten! Rechts und links schwebten schillernde Galaxien in der dunkelsten aller Nächte. Vor Monsieur Marcel, ganz am Ende des langen Schlauches, in dem sein gequälter Geist unterwegs war, war ein helles Pünktchen zu sehen. Er hörte das Klappern seiner Zähne und eine leise weibliche Stimme, die ungehalten sagte: »Nun stell dich nicht so an, du Flasche! Es ist nicht mehr weit.« Na schön, dachte Marcel. Nicht mehr weit? Das schaff ich noch! Was hatte er in seinem Leben nicht schon alles geschafft! In seinem wehen Hirn tanzten Bilder aus seiner Jugend: der Festzug durch die schneebedeckten Straßen seiner Heimatstadt im hohen Norden; die hölzerne Burg auf dem Hügel, in der
Seine Gnaden lebte und jeden Tag Karibufleisch aß, während die Dorfbevölkerung von Gras und Flechtenfusel lebte. Er erinnerte sich an die Revolte gegen Seine Gnaden und dessen schmarotzende Sippschaft. Dabei war ihm zum ersten Mal richtig warm geworden – nicht zuletzt wegen der brennenden Holzburg. Leider hatte Seine Gnaden überlebt und Schergen ausgesandt, die jeden an Fleischerhaken aufgehängt hatten, der es gewagt hatte, sich gegen ihn zu erheben. Gegen ihn, den von Gott Kukumotz eingesetzten Fürsten! Marcel und viele andere Revolutionäre hatten das Weite gesucht und waren in den Süden emigriert. Das hatte er nun davon: einen Brummschädel und den Spott einer Frau, die ihn durch den fallenden Schnee schleppte – in eine Richtung, die er sich nicht ausgesucht hatte. »Los, los«, sagte Johnny. »Da drüben ist es!« Marcel machte nur ein Auge auf. Das andere war ein wenig angeschwollen. Nicht nur sein Kopf tat weh, auch seine Rippen. Hoffentlich gelang es ihm, das Ziel zu erreichen, bevor er wieder in Ohnmacht fiel. »Sei froh, dass du noch lebst«, sagte Johnny. »Dass ich Jamal ausreden konnte, dich aufzuschlitzen.« Wären wir uns nicht begegnet, lallte Marcel stumm in seinem Inneren, wäre mir das alles nicht passiert. »Jamal ist nicht zu unterschätzen«, plapperte Johnny in sein Ohr. Dann hob sie eine Hand und schrie: »Huhu! Ihr da! Zu Hilfe!« Sie hätte die Hand lieber nicht gehoben, denn es war die, auf die Marcel sich stützte. Als er im Schnee lag und sich umschaute, sah er irgendeine Straße, an deren Rand irgendwelche Ziegelsteinhäuser in die Höhe ragten. Hinter einem vergitterten Fenster im zweiten Stock zeigten sich einige abenteuerlich frisierte junge Leute, die Johnnys Winken erwiderten.
»Kommt doch bitte raus!«, schrie Johnny. »Helft uns, bitte!« Wenn Monsieur Marcel in seinem Leben eins gelernt hatte, dann dies: Es zahlte sich nicht aus, seinen Kopf für andere hinzuhalten. Er hatte es oft getan. Es hatte nie was gebracht. Immer wenn er es tat, kriegte er eins auf die Nuss. Die Jungs hinter dem vergitterten Fenster waren sicher clevere Großstadtratten: Die wussten, dass es sich nicht auszahlte, irgendeinen halb bewusstlosen Idioten vor dem Erfrieren zu retten. Wenn sie das warme Haus verließen, dann höchstens um ihn auszurauben. Umso erstaunter war Marcel, als er kurz darauf erneut das Auge aufmachte und einen alten Knaben sah, an dessen kahlem Kopf ein langer weißer Zopf baumelte. Den kenn ich doch… »Verdammich, der sieht aber schlimm aus…« Kräftige Hände hoben Marcel hoch. Mehrere jugendliche Gesichter schauten ihn an, dann ging es in einem Affenzahn durch eine eiserne Haustür, die hinter ihm geschlossen wurde. Monsieur Marcel wurde es ganz warm uns Herz. Es gab also doch noch Nächstenliebe! Ich hob die Visage schon mal gesehen… Die beiden anderen – es waren Mädchen! – legten Marcel auf irgendwas Weiches. Der alte Zausel mit dem Zopf beugte über ihn, sagte »Hm, hm« und schob ihm irgendwas zwischen die Zähne. Marcel schluckte. Keine Minute später waren seine Kopfschmerzen weg. Er fühlte sich wunderbar leicht. In den wasserblauen Augen des Alten blitzte urplötzlich ein gewisses Erkennen auf. Er schaute Marcel mit großen Augen an und sagte: »Nee, ne?« »Doc Ryan«, krächzte Marcel. »Sie glauben niescht, wie isch misch freue, Sie zu sehön…« Sein frankokanadischer
Akzent kam wieder durch. Lag wahrscheinlich an der Droge, die der wackere Doktor ihm gegeben hatte. »Allmächtiger!« Doc Ryan wandte sich ab und hob die Arme in die Luft. »Warum muss das ausgerechnet immer mir passieren?« Monsieur Marcel sah, dass vier oder fünf abenteuerlich aussehenden Gestalten sein Lager – dem Geruch nach vermutlich ein Strohsack – umkreisten. »Wer ist das, Doc?«, fragte ein Junge mit heller Hautfarbe und abstehendem Haar. »Kennen Sie ihn? Es ist doch wohl nicht schon wieder einer von den… Na, Sie wissen schon?« »Leider doch.« Ein Stöhnen ging durch den Raum. »Ich bin keiner von denen«, hörte Marcel sich lallen. »Wen meint ihr überhaupt? Banditen haben mich zusammengeschlagen! Johnny, sag doch auch mal was!« Johnny trat vor. So benebelt Marcel sich auch fühlte, ihm blieb nicht verborgen, dass Docs Blick mit Wohlgefallen auf der Frau ruhte, die er gern zur Mutter gehabt hätte. Johnny nahm Marcels Hand und klärte die Umstehenden mit knappen Worten darüber auf, wie er sie vor den Nachtratten gerettet und sich bemüht hatte, ihr ein Nachtquartier zu verschaffen. »Jamal hat ihn mit einer Keule niedergeschlagen!«, beendete sie empört ihren Bericht. »Jamal?«, sagte einer von Ryans Freunden. »Den Namen hören wir aber gar nicht gern!« »Also wirklich!«, sagte der Doc. »Konntet ihr euch nicht mit einem anderen anlegen?« »Leider nein.« Johnny schilderte ihren Zusammenstoß mit dem räuberischen Banditen im »Gawlden Lyon« in aller Ausführlichkeit. Währenddessen untersuchte Doc Ryan den auf einer Wolke schwebenden Marcel, säuberte seine Hinterkopfwunde, pinselte sie mit irgendwas ein und
umwickelte seinen Schädel mit einem roten Verband, bis er wie Pirat aussah. Marcel fühlte sich so sauwohl, dass er nur noch an die Decke stierte und den anderen lauschte, die vor dem brennenden Kamin saßen und die Lage diskutierten. »Der Bunker ist völlig verlassen«, sagte Trashcan Kid, der Strohblonde mit dem abstehenden Haar. »Ich hab 'n paar Leute getroffen, die waren zum Plündern unten. Da soll alles pottschwarz und eiskalt sein. Die komischen Maschinen der Engerlinge stehen still.« Johnny berichtete, was sie wusste: Dass irgendwelche Strahlen alles lahm gelegt hatten. Dass die Führung der über fünfhundert Jahre alten Zivilisation die Herrschaft über ihre Untertanen verloren hatte. Dass die Bunkerbewohner sich in den letzten Wochen einzeln oder in Grüppchen davon gemacht hatten. »Aber fragt mich nicht nach Einzelheiten, ich war nur eine einfache Schreibkraft.« »Wohin sind sie abgehauen?«, fragte Peewee. Sie war von undefinierbarer Hautfarbe, hatte krauses Haar und ein kleines Himmelfahrtsnäschen. »Nach Meko.« »Wo immer das ist«, murmelte Peewee. »Im Süden.« Doc Ryan stand am Fenster und schaute in die verschneite Nacht hinaus. »Dort wäre ich jetzt auch gern, weil es da warm ist. Aber leider habe ich Blödian ja meine besten Jahre hier in dieser Scheiße vergeudet, und jetzt sind meine Knochen zu gichtig, um eine so weite Reise zu überstehen.« Johnny seufzte. »Ja, Meko!« Sie erzählte, was sie aus dem Filmarchiv über dieses Land wusste. Bald wogten vor den Augen der Anwesenden Palmen unter blauem Himmel und sorgten sich braungebrannte Señoritas um den Nachschub an fruchtigen Cocktails. Marcel, dessen Vorstellungskraft besonders groß war, schwor sich, sobald wie möglich wieder auf Wanderschaft zu gehen. War er etwa aus dem eisigen
Kanda geflohen, um den Rest seiner Tage im frostigen Waashton bei anarchistischen Debilen zu verbringen? »Was war das für ein Lageplan, den Jamal geraubt hat?«, fragte das Mädchen Loola. Loola war verdammt hübsch und offenbar Trashcan Kids Gefährtin. »Es war nur ein Ausschnitt aus dem Stadtplan von Waashton«, erläuterte Johnny. »Vor einem halben Jahr hat ein WCA-Mann im Auftrag des Präsidenten fünfundzwanzig antike mechanische Waffen in ein Oberwelt-Depot verlegt. Mit diesen Waffen sollten vertrauenswürdige Ordnungskräfte, denen man keine Driller oder gar Lasergewehre überlassen wollte, ausgerüstet werden. Dazu kam es aber nie, weil der Bürgermeister dem Präsidenten keine fünfundzwanzig vertrauenswürdige Ordnungskräfte präsentieren konnte.« Johnny hüstelte. »Das heißt, keiner von denen hat unsere Sicherheitsüberprüfung bestanden. Deswegen sollten die Waffen eigentlich von meinem Kollegen Sergeant O'Hara zurückgeholt werden. Aus einem mir unbekannten Grund ist dies aber nicht geschehen.« »Mechanische Waffen, was?«, sagte Ryan. »Wo sind diese Dinger denn eingelagert?« Marcel hätte ihm gern geantwortet, doch Peewee fütterte ihn gerade mit einem Wakudaschwanzsüppchen. »In der K Street«, sagte Johnny. »In einem Theater.« »In einem Theater?« »Im Vaudeville-Theater.« »Hör mal, Ozzie«, sagte Trashcan Kid. »Ist das nicht das Haus nebenan?« »Yeah.« Ozzie nickte. »Rechts von uns.« Er zog die Nase hoch. Marcel schaute auf. »Ach, wirklich?« War er dem Schatz schon so nahe? »Also deswegen schleichen die Lumpen da draußen rum.« Doc Ryan deutete auf die Straße. Alle stürzten zu ihm hin.
Sogar Marcel hopste trotz seines noch immer weichen Hirns ans Fenster. Tatsächlich… Da und dort sah man im Schneegestöber schwarze Gestalten. Mechanische Waffen waren wohl genau das, was die Sektierer brauchten, um das Machtvakuum zu füllen, das nach dem Abzug der Technos entstanden war. Marcel schaute Doc Ryan an. »Wir müssen verhindern, dass diese Kerle die Waffen kriegen!« »Wir müssen es verhindern?« Ryan hob seine gichtigen Hände. »Ich bin froh, wenn ich noch das Skalpell halten kann«, fauchte er, »um euch hirnlose Idioten zu versorgen, wenn ihr euch wieder mal mit Erwachsenen angelegt habt!« »Nee, nee, Doc…« Trashcan Kid, an dessen Hüfte ein Dutzend blanke Messer baumelten, zupfte an seinem Ziegenbärtchen. »Marcel hat schon Recht… Wenn die Waffen wirklich nebenan lagern und Jamal sie sich krallt, ist es mit dem schönen Leben aus.« »Mit dem schönen Leben?«, brüllte Ryan und deutete um sich. »Ihr wisst doch gar nicht, was das ist!« »Wenn Jamal in dieser Stadt bestimmt«, sagte nun Loola, »können wir unser Testament machen.« »Oder nach Meko auswandern!«, fügte Ozzie an. Peewee nickten heftig. Johnny zuckte die Achseln. »Ihr habt sie doch nicht alle!« Ryan schaute sich um. »Guckt euch doch mal an! Wer seid ihr denn?« Sein Blick fiel auf Trashcan Kid. »Vier schwer erziehbare Gören, die nicht mal Hexamethylentetramin buchstabieren können!« Er nahm Marcel ins Visier. »Eine schwach begabte Rothaut, die zwar Panzer fahren kann, aber Schwierigkeiten hat, rechts von links zu unterscheiden!« Nun war Johnny an der Reihe. »Eine – zugegeben hübsche – Frau mit tollen verwaltungstechnischen Kenntnissen, aber leider ohne Kampferfahrung!« Er deutete auf
sich. »Und ich, Bob Ryan – siebenundfünfzig, der als Einziger weiß, dass das Gute mit dem Besseren nicht mithalten kann!« Er wandte sich wieder dem Fenster zu. »Da unten hängen Dutzende von erwachsenen Schlägern rum, die von einem Burschen angeführt werden, der weiß, was er will – nämlich die Herrschaft über diese Stadt.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Lügen wir uns nichts in die Tasche, Freunde. Gegen die kommen wir nicht an. Lasst uns nach Meko abhauen. Sofort! Da ist auch das Wetter besser!« »Na ja«, hörte Marcel Trashcan Kid sagen. »Der Doc hat Recht. Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst! Ich schlage dafür, wir gehen folgendermaßen vor…« *** Nach dem fehlgeschlagenen Überfall auf den rothaarigen Engerling unter den Markt-Arkaden hatte Brainless Kid fast eine halbe Stunde gebraucht, um zu sich zu kommen. Die mordsmäßige Peinlichkeit, die ihm widerfahren war, hatte er seinen Kumpanen natürlich nicht auf die Nase binden können. Deswegen war er nur mit einem kurzen Wink an dem Café vorbei geeilt, in dem sie saßen, und hatte sich an die Fersen des Technos geheftet – den Blick stier nach vorn gerichtet, die Wangen rot glühend vor Empörung. Brainless Kid hatte in seiner achtzehn Jahre währenden Existenz vieles erlebt – empörte Eltern, fassungslose Erzieher, entsetzte Geschwister, verständnislose Ordnungshüter –, aber noch nie war ihm jemand begegnet, der sich die Frechheit leistete, einen König der Straße auf diese Weise zu brüskieren. Er hat mich angefasst!, dachte Brainless Kid. Ausgerechnet da! Und er beschloss: Er muss sterben! Ja, nur der Tod des Rothaarigen konnte diese Schande aus der Welt räumen.
Als der Techno im »Hello, Goodbye« verschwand, legte sich Brainless Kid unter einem Gerümpelstapel auf die Lauer und behielt den Eingang der Kaschemme im Auge. Deren Besitzerin, eine gewisse Sabreena, war der Waashtoner Unterwelt als Waffenhändlerin bekannt. Außerdem pflegte sie kaufmännische Freundschaften zu Politikern und Banditen, die sich unter ihrem Dach trafen, um schräge Geschäfte abzuschließen und sich in Gesellschaft fragwürdiger Damen zu begeben. Eine der Damen kam, als es dunkelte, aus dem Haus und wartete auf eine Droschke. Da Kid sie von einer anderen Lokalität her kannte, verließ er sein Versteck und machte sich an sie heran. Da die Dame die Klugheit nicht mit Löffeln gefressen hatte, fiel es ihm nicht schwer, ihr den Namen des rothaarigen Technos zu entlocken. Außerdem erfuhr er, dass der Mann, auf den er nun seit zwei Stunden in der Kälte wartete, das Haus gerade durch die Hintertür des »Hello, Goodbye« verlassen hatte. Kid machte sich schäumend an die Verfolgung Patrick O'Haras. Da es erst kurz zuvor wieder angefangen hatte zu schneien, konnte er seine Spur schnell aufnehmen. Allem Anschein nach war der Engerling in Richtung K Street unterwegs. Was wollte er da? Dort standen doch nur drei uralte Häuser, vier oder fünf Stockwerke hohe Ziegelsteinkästen, deren Räumlichkeiten so groß waren, dass man einen privaten Wald brauchte, um sie zu beheizen. So weit Kid wusste, war nur eins der drei Häuser bewohnt – und auch das nur zu einem winzigen Teil. Ein paar Rotznasen mit abstehendem Haar hatten sich dort einquartiert; Überreste einer Bande, die die Engerlinge vor ungefähr einem Jahr dezimiert hatten. Dass ein Techno Kontakte zu einer OberweltBande pflegen sollte, war Kid nicht ganz geheuer. Und doch –
die Fußspuren im Schnee ließen daran keinen Zweifel – waren die Gebäude sein Ziel. Der Schnee fiel nun so heftig, dass er die Fußabdrücke O'Haras schon verwischte. Kid legte sich mächtig ins Zeug, doch als er vor dem mittleren der drei Gebäude stand, war von den Spuren des Rothaars nichts mehr zu sehen. Und von O'Hara selbst auch nicht. »Shit!« Kid schaute an der Ziegelwand hoch. Sie war glatt, und er hatte keine Leiter. Die Fenster im Parterre waren komplett zugemauert, die im ersten Stock mit Eisengittern versehen. Darüber waren dunkle Öffnungen, durch die man einsteigen konnte. Doch leider reichte kein Baumast nahe genug an die Öffnungen heran. In der Rückseite des linken Hauses gab es eine schmale Eisentür, an der Kid erfolglos ratterte. Auch das mittlere Gebäude wartete mit einer Eisentür auf. Wäre Kid in der Kunst des Lesens bewandert gewesen, hätte er das Wort BÜHNENEINGANG über der Tür entziffern können, das vor 550 Jahren jemand dort ins Gestein gemeißelt hatte. Dafür sah er das viereckige Loch, in dem einst ein Flaschenzug montiert gewesen war. Und aus der Wand über dem Loch ragte etwa einen halben Meter weit eine Stange ins Freie. Kid fixierte diese Stange, was aufgrund des heftigen Schneegestöbers nicht einfach war. Dann nahm er seinen Rucksack ab, kramte darin herum und förderte einige Meter Seil zu Tage. Er bastelte sich ein Lasso und warf es etliche Male erfolglos in die Luft, bis die Schlinge sich endlich um die Stange legte. Kid atmete auf, zog die Schlinge fest und sich selbst dann an dem Seil in die Höhe, bis es ihm gelang, sich in das viereckige Loch zu schwingen. Seine Wut auf den Techno O'Hara war nun größer als zuvor, denn wenn Kid drei Dinge auf dieser Welt hasste, waren dies a)
Menschen, die sich über ihn lustig machten, b) Menschen, die ihn hereinlegten, und c) Menschen, die ihn zu harter Arbeit zwangen. Dennoch freute er sich, als er in dem dunklen Raum lag. Hier war es viel trockener als draußen, und außerdem sah er nun finstere Gestalten mit wehenden Umhängen, die geduckt zwischen den Bäumen hervortraten, die zwischen den Häuserblocks auf der L und K Street wuchsen. Seine Freude nahm rapide ab, denn ihm wurde urplötzlich bewusst, dass er hier in einem Revier war, dass eine andere Bande beherrschte. Wie er an den Symbolen auf den Umhängen der Gestalten erkannte – der Kopf eines dreiäugigen Mannes –, hatte er sich offenbar ins Gehege einer Gruppierung verirrt, die als gnadenlos galt: der Ullah-Kult. Dem Anführer dieser Organisation, der man nachsagte, sie strebe nach der Herrschaft über Waashton, machte keinen Unterschied zwischen Engerlingen und Nachtratten: Beide waren ihm gleich verhasst und sprangen ohne Unterschied über die Klinge. Der Anblick der Ullahner machte Brainless Kid nervös. Was hatten die Kerle vor? Hatten sie ihn gesehen? War er etwa in ein Heiligtum eingestiegen? Er rutschte eilig zurück, bis er sich irgendwo den Kopf anstieß und Sterne sah. Der Schmerz trug dazu bei, dass Kid eine Weile zähneknirschend auf dem Bauch lag. Außerdem fachte die Pein seinen Zorn wieder an. Schuld an diesem elenden Dreck war nur der verwünschte rothaarige Techno, der seine Ehre beschmutzt hatte und sich nun in einem dieser mistigen Gebäude aufhielt. Hoffentlich erwischten ihn nicht die Ullahner und opferten ihn ihrem Gott, bevor Kid sich seiner annehmen konnte… Er tastete sich im von draußen einfallenden Licht durch Gerümpel, stieß sich erst die Zehen und dann gegen etwas Metallisches, das sich als verschmutzte Öllampe erwies, in der sogar noch etwas Flüssigkeit schwappte. Kid zückte erfreut
seine Feuersteine und schlug eine Viertelstunde Funken, bis der ölgetränkte Docht der Lampe Feuer fing und er feststellte, dass er an einer faulig riechenden Holztreppe saß, die nach oben und unten führte. Was hab ich doch für ein Schwein, dachte er, zog sein Ersatzmesser aus der Unterschenkelscheide und klemmte es sich zwischen die Zähne. So, jetzt war er gewappnet. Wohin sollte er gehen – rauf oder runter? Erst mal nach oben – da waren die Fenster nicht zugemauert und man konnte Ausschau halten, was die Ullahner trieben. Kid ging vorsichtig die Treppe hinauf. Bei jedem seiner Schritte schmatzte das Holz – ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Treppe feucht war und es vermutlich nicht mehr lange machen würde. Kid machte sich jedoch keine Sorgen. Er wusste durchaus, dass er nur eine halbe Portion war. Die würde das alte Treppchen problemlos tragen… Oben in der dritten Etage fegte ihm ein kalter Wind um die Ohren. Kid näherte sich einem Fenster, schaute in den stiebenden Schnee hinaus und fragte sich, wo die Ullahner geblieben waren, denn jetzt sah er keinen der Burschen mehr da draußen. Er schob sogar die Laterne ein Stück aus dem Fenster, um zu sehen, wo sie waren. So, jetzt flink umgeschaut und dann nach oben. Kid durchquerte einen endlos langen Korridor und hielt die Laterne in zahllose Räume hinein. Außer matschigem Vogelmist enthielten sie nichts. Bei jedem Schritt knirschte und knackte es, und manchmal, wenn er mit der Laterne unverhofft um eine Ecke bog, spritzten Scharen von Monsterkakerlaken auseinander und rasten die Wände hinauf. In einigen Räumen, die aufgrund großer Löcher in der Hauswand besonders feucht waren, stieß Kid auf gigantische Pilzkolonien, die grün schillernde Insekten ernährten, die so
eklig aussahen, dass er sich schleunigst zurückzog. Anderswo begegneten ihm Ratzen, die ihn frech angrinsten, wenn er sie anleuchtete und mit ihren Schwänzen auf den Boden klopften, als wollten sie das Viehzeug in der Etage darunter vor dem Kammerjäger warnen. So, und jetzt nach unten. Die Treppenstufen schmatzten diesmal bedrohlicher als zuvor. Kid wurde es angst und bange. Im Parterre angekommen, fiel der Schein seiner Laterne auf eine Wand, an der in einem verchromten Rahmen unter Glas ein zwei mal drei Meter messendes Plakat zu sehen war. Kid blieb stehen und schaute es sich an. Es zeigte einen jungen Mann in Frack und Zylinder, der ein weißes Kaninchen an den Löffeln aus einem hohen Hut zog. Darunter stand in klotzig großen Buchstaben (die er leider nicht lesen konnte): THE VAUDEVILLE THEATER WASHINGTON PRESENTS THE SENSATIONAL SIMON O. SULLIVAN FROM BERLIN, GERMANY SEVEN TIMES WINNER OF THE WORLD'S BEST MAGICIAN AWARD! Kid wusste nicht, was ihn mehr faszinierte: Das adrett gekleidete Lebewesen aus einer längst vergangenen Zeit, das putzige Kaninchen, dessen Nachfahren es heute jederzeit mit einem Pitbull des 20. Jahrhunderts aufgenommen hätten, oder der schwarze Hut mit der steifen Krempe. Während er das Bild musterte und sich fragte, welchen Zweck es wohl erfüllte, vernahm er eine heisere Stimme, die irgendwie freudig sagte: »Na endlich.«
Kid war vielleicht nicht helle, aber er war ein Profi. Sein Daumen und sein Zeigefinger drehten den Laternendocht sofort zurück. Die Welt versank in Schwärze. »Ich wäre schon eher hier gewesen«, sagte nun eine andere Stimme, »aber ich musste den Meister noch über die hiesige Lage in Kenntnis setzen.« Die Unsichtbaren redeten nun leiser, aber Kid atmete auf. Das »Na endlich« hatte sich nicht auf ihn bezogen. Also hatte man ihn noch nicht entdeckt. Das war gut, denn jetzt wurde ihm allmählich bewusst, dass es ein großer Schwachsinn gewesen war, dem Techno hierher zu folgen, um ihn abzustechen. Wenn der Kerl sich tatsächlich in einem dieser drei Häuser befand, musste er unweigerlich irgendwann den Ullahnern in die Hände fallen. Es war völlig sinnlos, dass er hier blieb und den Burschen suchte. O'Hara war so gut wie tot. Und das Gleiche galt für ihn, wenn er sich nicht ganz schnell verdünnisierte. Vermutlich haben sie ihn längst gesichtet, dachte Kid. Ich glaub, es ist besser, wenn ich O'Hara ihnen überlasse. Einen grausameren Tod als den aus der Hand dieser Sektierer kann ich einem Techno ohnehin nicht geben… Er spitzte die Ohren, um auf dem Laufenden zu bleiben, wo die Ullahner, die dort im Dunkeln tuschelten, sich befanden, und pirschte mit der Laterne an der Hand an einer Ziegelsteinwand entlang. Nach ungefähr fünfzig Schritten stieß sein rechter Fuß gegen etwas, das am Boden lag und klirrte. Eine Flasche! Kid fluchte stumm, biss die Zähne zusammen und hielt die Luft an. Gleich darauf landete sein linker Fuß in einem Eimer. Kid verlor das Gleichgewicht und die Laterne. Das Messer, das noch zwischen seinen Zähnen klemmte, landete eine Sekunde vor ihm auf dem Boden. Das alles war mit so viel
Lärm verbunden, dass aus der Richtung, in der Kid die Ullahner vermutete, in der nächsten Sekunde das helle Licht einer Laterne aufleuchtete… *** »Flossen hoch!«, schrie Paddy O'Hara. Irgendetwas leuchtete Ayris ins Gesicht und blendete sie, dann hörte sie das Brüllen mehrerer männlicher Stimmen und sah einen sommersprossigen Burschen mit einem leicht einfältigen Gesicht, der sich vor der Tür, die Paddy gerade auf gestoßen hatte, vom Boden aufrappelte. Irgendwo hinter ihm waren andere Männer, offenbar ebenso verwirrt. Paddy O'Hara riss den rechten Arm hoch. Ayris sah seinen Driller durch die Luft segeln. Klatsch! Ein überraschter Schrei. O'Hara hatte dem Laternenträger selbige aus der Hand geprellt, sodass sie über den Boden rollte und erlosch. Augenblicklich wurde es duster. Paddy packte Ayris am Ärmel und riss sie zur Seite. Sie wurde aus dem Raum gezogen, in dem sie die letzte halbe Stunde verbracht hatte. Obwohl sie nichts sah, setzten sich ihre Beine in Bewegung. Sie verlor Paddys Hand, tastete fahrig im Dunkeln umher, erwischte sie wieder und merkte, dass sie sich in einem Raum gigantischen Ausmaßes befand. Natürlich, irgendwo in diesem alten Kasten musste schließlich der Theatersaal sein! Ein Glück nur, dass dieses Haus in einem Gebiet lag, in dem überzählige Möbel schnell im Kamin landeten. So, wie man sich hier bewegen konnte, existierte im ganzen Saal kein Stuhl mehr. Allerdings gab es hier andere Hindernisse: Ayris stieß gegen jemanden, der nach Schweiß roch und erschreckt grunzte. Ihr Knie zuckte fast automatisch hoch. »Arghh!«, entfuhr es ihrem Gegenüber.
Dann packte eine Hand von hinten ihren Hals und sie ging – alte Winterkriegertaktik – einfach in die Hocke. Im gleichen Moment flammte erst ein Zündholz und dann die Lampe wieder auf. Einer der Angreifer hatte sie gefunden. O'Hara wehrte links von ihr einen langnasigen Angreifer in einem wehenden schwarzen Umhang ab. Die Hand, die Ayris hielt, gehörte dem sommersprossigen Kerl. Seltsamerweise schien er zu erschrecken, als er sah, wen er da – wortwörtlich – am Hals hatte, machte aber keine Anstalten, weiter gegen sie vorzugehen. Das erledigte für ihn einer der anderen Typen, der sich auf Ayris stürzte und sie mit der Faust an der Schläfe erwischte. Sie sah bunte Sterne und schlug der Länge nach zu Boden. Natürlich rollte sie sich trotz des Schmerzes sofort weiter, um ihm kein neues Ziel zu bieten. Als sie wieder in seine Richtung schaute, zuckte Sommersprosses rechtes Bein hoch. Sein Stiefel traf den Mann vor die Brust, sodass er nach hinten flog, wie ein gefällter Baum zu Boden fiel und erschlaffte. In Paddy O'Haras Schwitzkasten verdrehte Langnase ebenfalls die Augen und nahm sich eine Auszeit. Ayris sprang wieder auf die Beine und wandte sich dem Burschen mit der Laterne zu, der aber offenbar keine Lust hatte, sich durch die Mangel drehen zu lassen. Er gab Fersengeld. Als er den Bühnenrand erreichte, kam ihm wohl zu Bewusstsein, dass er ohne die Lampe in der Hand, die seinen Standort verriet, weiter kam als mit ihr. Also ließ er sie fallen und schwang sich auf die Bühne. Die über den Holzboden rollende Laterne irritierte Ayris kurz. Sie überlegte, was mehr brachte: Die Verfolgung des Burschen in der Finsternis einer fremden Umgebung, oder die Erbeutung einer Lichtquelle, die man hier gut gebrauchen konnte.
Sie entschied sich für Letzteres und riss die Laterne vom Boden hoch. In ihrem Schein sah sie den Flüchtling, der sich auf der Bühne noch einmal kurz umdrehte und sich dann verdünnisierte. Er sah aus, als hätte er keinen Zahn im Mund. Als sie mit der Lampe in der Hand zu Paddy zurückkehrte, hockte dieser neben seinem langnasigen Gegner am Boden und berührte dessen Schlagader. »Ist er tot?« Paddy nickte. »Hat sich das Genick gebrochen.« Er packte Langnases Gürtel, an dem acht Messer hingen, öffnete die Schnalle und hängte ihn sich selbst um. Irgendwo hinter ihm kroch Sommersprosse auf allen Vieren über den Boden. So wie er sich im Kampf verhalten hatte, gehörte er nicht zu den restlichen Angreifern. »Fehlt dir was, Junge?«, rief Ayris und leuchtete zu ihm hinüber. »Bist du verletzt?« »Nein«, grollte er düster. »Oh, Mist«, sagte Paddy, als er ihn erkannte. »Brainless Kid…« Er stand schnell auf. »Ihr kennt euch?«, fragte Ayris. Sommersprosse kam zu ihnen herüber. Als er Paddy sah, wurde er so bleich wie eine frisch gekalkte Wand. Sein Mund öffnete und schloss sich in unbändigem Zorn. »Ihr kennt euch also«, sagte Ayris. Sie drehte sich zu Paddy um. »Hört zu… Ich hab den Eindruck, dass ihr euch nicht leiden könnt…« »Ich bin nicht nachtragend.« Paddy grinste. Er hielt Sommersprosse sogar die Hand hin. »Danke, dass du uns geholfen hast.« »Ich töte dich«, fauchte Kid. »Ich bring dich um! Ich mach dich kalt! Sobald wir hier raus sind.« Ayris brauchte ihn nur anzuschauen, um zu wissen, dass er kurz vor dem Platzen stand. In dem jungen Mann hatte sich
irgendwas aufgestaut, das ihm zu schaffen machte. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass ausgerechnet ein Mensch wie Paddy O'Hara die Ursache seines Hasses war. »Wir kommen nur hier raus, wenn wir uns nicht gegenseitig das Leben schwer machen«, sagte sie. »Ist mir schnurz!«, fauchte Kid. »Ich töte dich…« »Halt die Klappe«, sagte Paddy plötzlich gefährlich leise. »Sonst bring ich dir mal Disziplin bei.« Kid erbleichte noch mehr vor heiligem Zorn. »Hört sofort mit dieser Scheiße auf«, sagte Ayris energisch. »Los jetzt, vertragt euch!« »Niemals!« »Dann gehen wir und lassen dich hier allein zurück«, drohte Ayris. Brainless Kid schnaubte. »Waffenstillstand, okay?«, bot Paddy noch einmal an. »Okay… aber nur bis wir hier raus sind«, fauchte Kid. Ayris zupfte sich am linken Ohrläppchen und stieß einen leisen Seufzer aus. Dann deutete sie auf die Bühne, über die ihr dritter Gegner geflohen war. »Da scheint es irgendwo einen Ausgang zu geben. Wenn wir bloß eine zweite Laterne hätten, dann würde ich die Lage peilen, während ihr euch um die Waffen kümmert.« Sie dachte an die Nachtratten, die sie um die Häuser hatte schleichen sehen. Die gingen nicht so einfach weg. Die waren aus einem bestimmten Grund hier. Und nachdem sie zwei dieser Kerle ausgeschaltet hatten, würden sie bestimmt mit Verstärkung zurückkommen. »Ich hab eine Laterne«, sagte Kid. »Sie muss da drüben liegen; hab sie bei dem Kampf verloren.« Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie die Lampe gefunden und entzündet hatten. Paddy deutete auf eine schmale Türe rechts von der Bühne. »Da lang!« Er wandte sich an Ayris: »Und du willst wirklich nicht mitkommen?«
»Jemand muss die Eingänge im Auge behalten«, erwiderte sie. »Noch einmal dürfen uns die Typen nicht überraschen. Denn wenn sie kommen, dann diesmal in Überzahl.« »Okay. Wir beeilen uns.« Er und Brainless Kid liefen los. Ayris sah ihrer Laterne hinterher, bis sie in der Dunkelheit verschwanden. Hoffentlich fand Paddy die Pistolen, bevor es in diesem Gemäuer von Jamals Jüngern wimmelte. *** Jamal hatte nichts gegen die Regierung. Präsident Crow war ein Mann nach seinem Geschmack. Trotzdem war er manchmal zu nachsichtig. Etwa wenn es gegen die Nachtratten ging. Hätte man ihm das Kommando übertragen, hätten die Razzien anders ausgesehen. Jamal hätte ihre Unterschlupfe einfach in die Luft sprengen lassen. Er schaute aus dem Fenster des Pavillons, der sich auf dem fast überwucherten Grundstück gegenüber der K Street befand und dachte an Manee und Reeda. Sie hatten ganz schön gewinselt, als der Zuchtmeister sie mitgenommen hatte. Die können froh sein, dass sie uns in die Hände gefallen sind und nicht den Nachtratten. Mr. Manners, ein ehemaliger Rev'rend, der sich ihm angeschlossen und dem eigenen Irrglauben abgeschworen hatte, würde ihnen Benimm beibringen. Er hatte Erfahrung mit verlotterten Kaschemmenweibern. Am Ende ihrer Läuterung würde er sie dort abladen, wo sie hingehörten: In ein ordentliches Haus, zu einem ordentlichen Mann, der in der Wildnis lebte und dem sie mindestens sieben ordentliche Kinder gebären und diese aufziehen würden. Jamal grunzte zufrieden. Er hatte es seit dem Exodus der Technos ganz schön weit gebracht, fand er: Inzwischen terrorisierte er dreizehn Häuserblocks. Gut hundert Männer
hatten Ullahs Geboten schon den Treueeid geschworen. Wenn es weiterhin so rasant voranging, konnte er in einem halben Jahr über die ganze Stadt regieren. Und wenn sie die Schießeisen fanden, die da drüben in dem alten Haus lagerten, würde es nur halb so lange dauern, bis die neue Ordnung durchgesetzt war. Die Tür des Pavillons ging auf. Toothless Ed, seine neue rechte Hand, trat ein. Nanu? Er war schon zurück? Er war doch gerade erst zu den Brüdern hinübergegangen, die das Vaudeville sondieren wollten. Jamal wollte keine Überraschung erleben, wenn er es betrat: In vielen dieser alten Kästen lebten Monsterkakerlaken, die es sogar mit Ratzen aufnehmen konnten. Solch ekliges Viehzeug war der Alptraum seiner schlaflosen Nächte. Oft schreckte er schweißgebadet hoch, weil ihm im Traum ein Heer von Kakerlaken an den Hals gesprungen war. Deswegen wäre es ihm nicht eingefallen, das Theater ohne Vorauskommando zu betreten, das die dort nistende widerliche Brut mit Feuer und Schwert vertrieb. Jamal winkte Toothless Ed heran. Der durchquerte zackig den Raum, blieb drei Schritte vor seinem Herrn stehen und schaute demütig zu Boden. »Wie ist die Lage?« »Nun… ähm…« Ed griff in die Innentasche seiner gefütterten Jacke und reichte Jamal ein Stück Papier. »Das hier hat mein Assistent gerade gebracht. Er hat es in einem verlassenen Archiv gefunden…« Da Jamal lange Jahre als Oberweltspitzel im Dienst des Weltrats gestanden hatte, war ihm natürlich eine solide Ausbildung zuteil geworden. Unter anderem hatte er die Kunst des Lesens erlernt. »Technische Daten der Pistole P1«, las er mit leiser Stimme vor. »Kaliber: 9 mm. Hülsenlänge: 19 mm. Anzahl der Patronen im Magazin: 8. Gewicht mit gefülltem Magazin: 890
g. Kampfentfernung: bis 50 m. Größte Schussweite: 1600 m. Geschwindigkeit bei Verlassen des Rohres: 395 m/s. Gesamtlänge: 216 mm. Rohrprofil: 6 Züge und Felder, rechts. Hersteller: Walther Waffenfabrik, Germany.« »Und von diesen Dingern lagern in dem alten Kasten fünfundzwanzig Stück.« Ed schnalzte mit der Zunge und deutete auf die im fallenden Schnee kaum noch erkennbaren Ziegelsteinbauten. »Mit diesen Waffen werden wir die Welt aus den Angeln heben.« Jamal nickte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem feinen Lächeln. Es erlosch aber schon wieder mit Eds nächster Meldung: »Wir, äh, hatten Feindberührung. Irgendwer ist in dem Haus und stöbert herum. Vielleicht jemand, der sich mit Waffen auskennt und von dem Versteck weiß.« »Du meinst Winterkrieger?« »Wäre möglich.« Toothless Ed knurrte aggressiv. »Diese Leute haben ihre Spitzel in der ganzen Stadt.« Als Ex-Spitzel wusste er das ganz genau. »Mit diesen Eisenfressern ist nicht zu spaßen.« »Wie viele sind es?«, fragte Jamal. »Ich habe nur drei gesehen. Zwei Männer, eine Frau.« »Was haben sie für einen Eindruck auf dich gemacht?« Ed zuckte die Achseln. »Nun… sie haben die Brüder, mit denen ich drüben war, im Nu kalt gemacht. Die verstehen ihr Handwerk. Ich konnte ihnen gerade noch entwischen.« Jamal war sprachlos. Wie konnte dieser Mensch es wagen, den Tod zweier Brüder so beiläufig zu erwähnen? Er spitzte die Lippen. »Jemand muss hineingehen und Gleiches mit Gleichem vergelten. Aber wen könnte ich schicken…?« Nicht zufällig fiel sein Blick auf Toothless Ed, der prompt erbleichte. Aber er war geistesgegenwärtig genug, um einen Vorschlag zu unterbreiten: »Die Drachentöter, würde ich sagen!«
»Hervorragende Idee«, lobte Jamal. »Und du wirst sie anführen.« Ed schluckte schwer, wagte aber keinen Widerspruch. »Ullah Ullalah«, sagte Jamal. »Ullah Ullalah«, wiederholte Toothless und verbeugte sich, bevor er sich zum Gehen wandte. »Dann hol ich mal die Flammenwerfer und stell ein Kommando zusammen…« Jamal nickte. »Ja, tu das. Und denk daran: Der Tod des Märtyrers führt geradewegs ins Paradies!« *** Das Brüllen eines Sauriers störte den Traum, in dem Monsieur Marcel gerade Peewee an seine Brust drückte, um ihr ein Küsschen zu geben. Beim großen Bel Moondo, was war dieses Mädchen doch für ein süßer Fratz! Plötzlich riss ein Irrsinniger an seinem Hemdkragen. Marcel schlug die Augen auf und starrte in das aufgeregte schwarze Gesicht Ozzies, der wie am Spieß brüllte: »Feuer! Wach auf, Mann! Wach auf! Sie zünden uns die Hütte über dem Kopf an!« Marcel fuhr hoch. Rings um ihn herrschte ein mittleres Chaos. Jeder griff nach etwas, das er retten wollte. Trashcan Kid stand am Fenster, schwang sein Kurzschwert und fluchte. Doc Ryan, der offenbar ebenfalls kurz ein Auge zugemacht hatte, fuhr wie der Blitz in seine Kleider. Johnny, Peewee und Loola eilten von hier nach da, schulterten Rucksäcke und halfen Ryan in die Stiefel. Marcel sprang auf. Schneidende Pein durchstach seinen Schädel. Es war fast finster im Raum. Im Kamin schwelten nur noch ein paar glühende Scheite. Die Öllampen hatte man schon heruntergedreht, bevor Docs Schmerzkiller Marcel schlafen gelegt hatte. Er war zwar noch immer ein bisschen benommen, aber wach genug, um die fünf dunklen Gestalten zu erkennen,
die unten auf der Straße standen und gespannte Armbrüste auf das Haus richteten. Im nächsten Moment schossen vor Monsieur Marcels Augen fünf Brandpfeile in die Höhe und bohrten sich klackend in das Gebälk. Sekunden später hörte er das Knistern. Der Dachstuhl brannte! »Raus hier!« Johnny tauchte plötzlich neben Marcel auf, packte seine Schulter und riss ihn herum. Marcel wäre beinahe umgefallen, weil seine Beine noch nicht so schnell waren wie sein Geist. Doch schon kam Doc Ryan Johnny zu Hilfe. Während Trashcan Kid den Armbrustschützen die Zunge herausstreckte, nahmen sie Monsieur Marcel zwischen sich und eilten hinter Peewee und Loola her. Die beiden hatten den Raum schon verlassen und liefen, mit Rucksäcken beladen und Laternen in der Hand, eine Treppe hinunter. Hinter ihnen kamen Ozzie und Trashcan Kid. »Dat könn' die doch nich machen, ey!«, rief Ozzie aufgebracht, als sie im Parterre an der dicken Eisentür vorbeiliefen, durch die sie Marcel ins Haus getragen hatten. »Die könn' uns doch nich einfach dat Dach überm Kopp anstecken, ey!« Marcel fand, dass er Recht hatte, aber im Moment interessierte ihn eine andere Frage mehr: nämlich die, wohin seine neuen Freunde liefen und ob er eigentlich der einzige Mensch in dieser Runde war, der es für keine gute Idee hielt, in den Keller zu gehen: Keller neigten dazu, keine Fluchtausgänge zu haben. »He«, rief er, als ihn Doc und Johnny eine Kellertreppe hinab zerrten, »wisst ihr eigentlich nicht, dass…« »Da sind wir!« Peewee und Loola blieben stehen. Doc und Johnny ließen Monsieur Marcel so plötzlich los, dass er die Balance verlor und über den glitschigen Boden schlitterte, bis eine solide Wand ihn aufhielt.
»Wo sind wir?«, fragten Doc Ryan und Johnny wie aus einem Munde. »Aua«, sagte Marcel. Er hatte sich den Kopf angestoßen. Peewee und Loola hoben ihre Öllampen. Trashcan Kid und Ozzie, die nun im Lichtkreis auftauchten, grinsten. Marcel kniff die Augen zusammen und erblickte in der Wand, gegen die er gerade gestoßen war, eine quadratische Platte aus Eisen. Sie war mit einem Griff versehen. »Und?«, fragte Doc Ryan. »Das ist unser Fluchtweg.« Ozzie streckte eine Hand aus, packte den Griff und öffnete die Eisenklappe. Dahinter befand sich ein finsteres Loch – der Alptraum eines jeden Klaustrophoben. Doc Ryan steckte den Kopf in den engen Schacht. »Hier riecht's aber nicht sehr toll.« »Oh, nein!« Marcel, der mit seinem Stirnband wie ein Freibeuter aussah, wich zurück. »Ohne mich!« Er war zwar nicht im Geringsten klaustrophobisch veranlagt, aber er hatte eine kleine Arachnophobie (Angst vor Spinnen), die allerdings nichts gegen seine Phobophobie (Angst davor, dass man Angst kriegen könnte) war. »Da kriegen mich keine zehn Yakks rein!« »Na, hör mal«, sagte Trashcan Kid. »Ich hab gedacht, ihr Running Men seid harte Burschen!« Er wusste inzwischen über Monsieur Marcels Vergangenheit Bescheid. »Sind wir auch…« Marcel schaute sich um. Dass die kleine Bürokratin Johnny als Erste in dem Loch verschwand, verdutzte ihn. Auch Peewee und Loola zeigten keine Angst, in den Schacht zu krabbeln. Verdammt, er war doch keine Memme! Diese Schächte dienten keinen gefährlichen Ungeheuern als Unterschlupf, sondern dazu, sicher vom Keller eines Hauses in den eines anderen zu gelangen. Er musste nur fest genug daran glauben…
Nun war auch Ozzie verschwunden. Trashcan Kid zwinkerte Marcel zu, klemmte sich seine Waffe zwischen die überraschend guten Zähne und folgte ihm. Marcel hörte ihn in der finsteren Röhre schnaufen. An seinem eigenen Standort war es sehr dunkel – fast dunkler als in dem Schacht, in dessen Tiefe er die Öllaternen der Mädchen leuchten sah. Marcel schüttelte sich. Ihm fiel auf, dass er in der Eile vergessen hatte, seine Waffen an sich zu nehmen. Wenn die Nachtratten, die das Haus belagerten und den Dachstuhl in Brand gesteckt hatten, auf die Idee kamen, die Eisentür aufzusprengen, würde er ihnen wehrlos ausgeliefert sein. War es da nicht besser, er schloss sich seinen Freunden an? Gesagt, getan… Am ganzen Leibe schlotternd schob Monsieur Marcel seinen Kopf in die Öffnung. Uh, dieser Geruch! Er zog sich in den Schacht hinein, schloss Mund, Augen und Nase und lauschte mit zu Berge stehenden Haaren dem Knirschen und Knistern, das seine Bewegungen begleitete. Obwohl er nichts sah, spürte er, wie mörderisch eng es um ihn herum war. Er spürte es, weil seine Kleidung an den schwabbeligen Pilzen entlang schabte, die auf den Wänden wucherten. Er stellte sich Heere monströser Milben und Schwärme mutierter Silberfische vor, die nur darauf warteten, dass er seine Finger in eine Spalte schob, in die sie nicht reingehörten. Irgendwo vor ihm bewegten sich Trashcan Kid und die anderen relativ lautlos dahin. Marcel hörte nur ab und zu jemanden leise schnaufen. Erstaunlich, wie diszipliniert diese ungeduldigen Straßengören plötzlich waren. Vielleicht waren es aber auch gar nicht die Straßengören, die da schnauften, sondern mutierte Muränen, die irgendwie einen Zugang zu diesem Stadtteil gefunden hatten. Schließlich brandete das Meer an gewissen Stellen gegen die Stadtmauern.
Seit vor fünfhundert Jahren der Komet auf die Erde gestürzt war, wimmelte der Atlantik von genetisch veränderten Fischen… Monsieur Marcels Zähne schlugen aufeinander, und er steigerte sein Tempo, um die anderen einzuholen. Irgendwann hatte das Kriechen ein Ende und – relativ – frische Luft umströmte ihn. Marcel spürte sich von starken Armen gepackt und aus dem Schacht gezogen. Vor ihm schaukelten die Öllaternen. Die Mädchen schauten sich um. Der Raum, in dem sie sich befanden, war riesig. »Wo sind wir hier?«, hauchte Johnny. Marcel sah zu seiner Verblüffung, dass sie sich an Doc Ryans Seite klammerte. Dem Medikus schien es zu gefallen, denn er grinste wie ein Honigkuchenpferd. Marcel hatte den cholerischen alten Zausel schon immer gut leiden können: Zur Zeit der Running Men waren sie durch Dick und Dünn gegangen, und der Doc hatte ihm manches Pflaster auf die Backe geklebt. Wenn er ihn sich jetzt so ansah, musste er zugeben, dass er einen Typen wie ihn gern zum Vater gehabt hätte. »Ob du's glaubt oder nicht, meine Liebe«, sagte Doc Ryan. »Es ist ein Theater!« »Boah, ey«, sagte Ozzie. »Ein Theater!« »Ein Theater?«, fragte Loola. »Ja, ein Theater.« Ryan nickte. »Ich war schon mal in einem Theater«, warf Peewee ein. »Es war aber viel kleiner als das hier. Da hat man ein Stück aufgeführt. Es hieß Der Wolf und die drei kleinen Schweinchen.« »Was du nicht sagst«, sagte Doc Ryan. Seiner Miene nach zu urteilen dachte er momentan an andere Dinge. Er hob eine Hand hinter seine Ohrmuschel und lauschte. »Habt ihr das auch gehört?« »Was?«
»Na, das Geräusch.« Marcel trat an die eiserne Klappe, aus der er gerade gekrochen war, und schaute in den Tunnel. Er sah nichts – kein Wunder –, aber er hörte etwas, deswegen machte er »Pssst!«, und hinter ihm herrschte plötzlich Stille. »Was ist?«, flüsterte ihm Trashcan Kid ins Ohr. »Warte mal…« Marcel lauschte noch konzentrierter. Da! Am anderen Ende hallten leise Stimmen und dumpfe Schritte. Die Ullahner waren ins Nebenhaus eingedrungen und suchten nach ihnen. Jamals Jünger hatten wohl angenommen, dass sie aus dem Haus rannten, wenn über ihnen das Dach brannte. Aber da waren sie schief gewickelt. Marcel flüsterte Trashcan ins Ohr, was er vermutete. Der schob ihn zur Seite und hielt selbst sein Ohr an die Öffnung. »Hast Recht«, hauchte er dann und machte die Klappe leise zu. »Sag ich doch.« Sie hielten flüsternd Kriegsrat. »Was wollen die eigentlich von uns?«, fragte Ozzie, der kein Schnelldenker war. »Die sind mit Sicherheit ebenfalls hinter den Waffen her, und dabei sind wir ihnen im Weg«, erklärte ihm Trashcan Kid. »Für die geht es um alles oder nichts. Alles ist die Herrschaft über die ganze Stadt…« »Und nichts?«, fragte Ozzie. »Nichts ist nichts.« Ryan räusperte sich. »Wenn die Waffen einer anderen Gruppierung in die Hände fallen… Sagen wir mal, einer Gruppe anständiger Menschen… dann könnte Jamal seinen Laden dicht machen.« »Yeah, anständige Menschen«, murmelte Trashcan Kid nachdenklich und irgendwie auch sehnsüchtig. »Gibt's denn so was noch in Waashton?«
»Wie wär's zum Beispiel mit uns?«, fragte Doc Ryan grinsend. »Und wenn ihr mich fragt, sollten wir nicht darauf warten, bis die hier anrücken, sondern die Waffen bergen, bevor ein anderer sie kriegt und damit Schindluder treibt.« »Das könnte euch so passen«, sagte eine Stimme aus der Finsternis heraus. »Los, Pfoten hoch, sonst mach ich ein Sieb aus euch!« Und wie um die unerwartete Drohung zu untermauern, krachte ein Schuss. *** Eine halbe Stunde zuvor hatte Ayris sich mit der Laterne in der einen und einem erbeuteten Schwert in der anderen Hand auf die Bühne geschwungen. Zum Glück hatte sie bei den Winterkriegern gelernt, wie man mit spitzem Eisen umging: Als Oberweltlerin getarnt hatte sie an vielen Einsätzen gegen Renegaten, Opponenten des Systems und unerwünschte Einwanderer teilgenommen. Sie kannte nicht nur das oberirdische Washington und seine finsteren Hinterhöfe und Gassen, sondern auch die unterirdischen Behausungen, in denen sich die Illegalen vor den Ordnungsmächten versteckten. Inzwischen gab es niemanden mehr, der den Menschen vorschrieb, unter welchen Bedingungen sie die Stadt betreten durften. Andererseits hatte diese Entwicklung dazu geführt, dass sich kaum noch jemand darum riss, aus der Wildnis in die relative Sicherheit der Stadt umzusiedeln. Früher waren die Menschen gekommen, um von der Ordnung und Sicherheit zu profitieren, die das Regime der Technos ihnen bot. Wer heute nach Washington kam, wollte Gewinn aus der Unsicherheit schöpfen. Auch der Mann, der sich Jamal nannte, hatte vor, das momentane Durcheinander für sich zu nutzen. Wer in
Krisenzeiten einen kühlen Kopf behielt und den Eindruck erweckte, genau zu wissen, was er tat, konnte sich der Unterstützung breiter Bevölkerungskreise sicher sein. Und wenn Jamals Anhänger bald auch noch über die gefährlichsten Waffen verfügten, die der EMP übrig gelassen hatte, konnte jeder, der Ullah nicht huldigen wollte, seinen Koffer packen. Nach allem, was Ayris über die Ullahner wusste, betraf dies nicht nur einen Großteil der männlichen, sondern ziemlich genau hundert Prozent der weiblichen Bevölkerung, sofern dieser nicht bereit war, in die finsterste aller finsteren Epochen zurückzukehren. Nein, dachte Ayris. Sie hatte eine Stinkwut. Das mach ich nicht mit. Ich hab die Schnauze voll. Schon das alte System hat nichts getaugt. Noch mal lasse ich mir so einen Dreck nicht aufzwingen. In ihrer frisch erwachten Wut waren ihr Verstand und ihr Blick so klar wie nie, und dank der Laterne gelang es ihr, sich hinter der Bühne zurechtzufinden, ohne sich die Beine zu brechen. Wie sie sah, hatten irgendwelche Optimisten nach dem Ende der Eiszeit versucht, das alte Gemäuer wieder dem Zweck zuzuführen, dem es früher gedient hatte: Hinter dem zerfetzten Bühnenvorhang türmten sich Requisiten und Kulissen aller Art. Hier hinten befanden sich auch die Künstlergarderoben, kleine, verstaubte Kabuffs, die von Obdachlosen späterer Generationen als Wohnraum genutzt worden waren. Das Mobiliar hatte man dabei, wie in fast allen Häusern dieses Alters, mehrheitlich zu Brennholz verarbeitet. Dass das Theater heutzutage mehrheitlich von Nagern bevölkert wurde, zeigte sich, als Ayris eine Kammer betrat, in der mehrere Ratzen fiepend durch Wandlöcher verschwanden. Ayris schüttelte sich. Dann untersuchte sie die Löcher. Aus manchen wehte kalter Wind, was sie annehmen ließ, dass sie ins Freie führten. Aus den anderen kam ihr warmer, nach
Ratzenkot riechender Mief entgegen. Jedenfalls war kein Loch groß genug, um dem entwischten Zahnlosen einen Fluchtweg zu bieten. Wenn es hier keinen Ausstieg gab, der für einen Menschen groß genug war, war der Kerl vermutlich noch im Haus. Ein Schauer lief Ayris über den Rücken. Sie blieb stehen und spitzte die Ohren. Wieso hörte sie eigentlich nichts von Paddy und Kid? Diese Stille war doch nicht normal. Die beiden konnten sich doch auf den Tod nicht ausstehen. Hätten es da nicht wenigstens hin und wieder mal zu Wortwechseln kommen müssen? Außerdem konnte die Bergung einer Kiste, die fünfundzwanzig Pistolen enthielt, auch nicht lautlos vor sich gehen. Hmmm. Hatten die Nachtratten die beiden vielleicht schon in eine Falle gelockt? Irgendwo knarrte etwas. Dann hörte Ayris in der Ferne jemanden sprechen. Schließlich krachte ein Schuss. Und noch einer. Und noch einer. *** RYAN: Ich bin eigentlich alt genug. Viele Menschen werden gar nicht so alt. Ich hab meinen Spaß gehabt. Es ist nicht schlimm, wenn ich jetzt in die Kiste muss, obwohl ich noch ganz gern 'n paar Jahre mit diesen Rotznasen verbracht hätte. Eigentlich sind die ja ganz nett. Besonders diese Johnny… komischer Name übrigens für 'ne Frau. MARCEL: Neugier ist tödlich! Wie konnte ich nur so blöd sein, O'Haras Mäppchen aufzuheben und zu glauben, das X auf seiner Karte markiert den Standort eines Schatzes, den ich nur aufzuheben brauche. Das haste nun davon, Blödmann! Jetzt musst du sterben!
TRASHCAN KID (Fritz Wilson jr.): Ich hätte bei meinen Eltern bleiben sollen. Hätte ich was gelernt, brauchte ich jetzt nicht Tag und Nacht den strammen Max zu mimen, damit die Mädels mich für'n tollen Hecht halten. Na ja, es war 'ne tolle Zeit, aber kann man ja bekanntlich nich ewich leben… OZZIE (Oswald Eastbun): Hätt ich doch damals das Angebot des Bäckermeisters angenommen, dann stünde ich jetzt hinter 'ner Ladentheke, würde Mehl abwiegen, hin und wieder 'ne Monsterkakerlake erschlagen und seiner Tochter in den Po kneifen. Aber nein, ich musste ja unbedingt auf die Straße, um Paps zu zeigen, was für'n harter Bursche ich bin. Das hab ich jetzt davon: Ich bin so gut wie tot und hab nicht mal 'n Stammhalter in die Welt gesetzt. PEEWEE (Paula-Wilma Vandermasten): Gütiger Kukumotz, man schießt auf mich! Warum hast du mich in diese Zeit verschlagen? LOOLA (Eunice Bradley): Hätt ich damals die Aufnahmeprüfung nicht versiebt, könnte ich heute an einer hübschen kleinen Schule in Chinatown Kinder im Messerwerfen unterrichten… JOHNNY (Johanna Dylan): Ich hätte meine Visionen ernst nehmen sollen. Jetzt bin ich ihm wirklich begegnet. Dass er Arzt ist, hätte ich nie gedacht. Er sieht eher aus wie Captain Ahab… *** Patrick O'Hara hätte nicht im Traum damit gerechnet, der halbgescheite Halbwüchsige, den seine Freunde Brainless Kid nannten, könnte in der Lage sein, im ungeeignetsten aller ungeeigneten Momente auf ihn zu schießen. Er hatte dem unten im Theatersaal flüsternden Gesindel gerade zugerufen, es solle die Hände heben, als es an seinem Ohr heftig krachte. Im Licht der Öllampen hatte er gesehen,
dass sich alles auf den Boden warf – und schamrot erkannt, dass die Leuten da unten gar nicht die waren, für die er sie hielt. Ehe Paddy einen klaren Gedanken fassen konnte, ließ Brainless Kid auch noch den Kistengriff an seiner Seite los. Eine Blechkiste mit dreiundzwanzig Walter-P1-Pistolen – Kid und er hatten sich je eine für den Fall des Falles in den Gürtel gesteckt – wiegt eine Menge, besonders wenn sie einem auf die Zehen fällt. Paddy brüllte auf. Bevor er neben der Kiste zu Boden ging, erkannte er, dass Kid gar nicht auf ihn schoss, sondern auf einen zahnlosen Mann, der hinter den am Boden liegenden Eindringlingen aus einem finsteren Wandloch schaute und eine gespannte Armbrust auf sie richtete. Was, um alles in der Welt…? Die Hand des Zahnlosen schoss vor, ergriff die Klappe und zog sie zu. Kids nächster Schuss prallte jaulend von dem Eisenteil ab, flog als Querschläger durch den Saal und bohrte sich irgendwo ins Holz. »Aufhören!«, schrie einer der am Boden Liegenden. »Wir ergeben uns!« Paddy hielt seine Waffe auf die Fremdlinge gerichtet und biss stöhnend die Zähne zusammen. Irgendwo auf der Bühne ertönte das Getrampel von Stiefeln. Dann tauchte Ayris mit der erbeuteten Laterne in der einen und dem Schwert in der anderen Hand zwischen den Kulissen auf und schrie Paddys Namen. »Hier bin ich!«, antwortete er, um sie zu beruhigen. »Mir geht's gut!« Ayris sprang von der Bühne, sah die vier Männer und drei Frauen und blieb neben Paddy stehen. »He«, rief sie plötzlich, »kennen wir uns nicht?« Paddy stöhnte, setzte sich hin und sprach ein Gebet für seinen dicken Zeh.
Er hätte ihn gern gestreichelt, aber dazu hätte er den Stiefel ausziehen müssen. Er wusste aber nicht, ob er ihn dann wieder ankriegte. Kid lief derweil zu den Fremden hinüber, die sich nun aufrappelten und Ayris aus der Ferne begafften. Er schaute sich auch die Metallklappe an, die er beschossen hatte, machte sie jedoch nicht auf. Vermutlich wollte er nicht das Risiko eingehen, dass der Zahnlose noch dahinter lauerte und ihm einen Bolzen in die Brust schoss. Immerhin wissen diese Typen jetzt wenigstens, dass sie uns nicht so einfach kaltmachen können, dachte Paddy. Leider gab es noch ein kleines Problem zu lösen: Sie mussten eine Möglichkeit finden, das Theater zu verlassen, ohne dass Jamal auf die Idee kam, ihnen ein Selbstmordkommando auf den Hals zu schicken. »Ayris?«, rief einer der jungen Burschen, an dem das Bemerkenswerteste seine abstehenden blonden Haare waren. Die anderen halfen einem älteren Mann auf die Beine, in dem Paddy nun den bezopften Arzt erkannte, den er vor zwei Wochen geholt hatte, um Ayris zu untersuchen. »Dr. Knoller!«, rief er. »Sie schickt der Himmel! Schauen Sie sich meinen dicken Zeh mal an?« »Sergeant?« Der Arzt erkannte wohl seine Stimme, denn er kam sofort auf ihn zu. Die Blonde mit der Öllampe, die ihn begleitete, erinnerte Paddy an jemanden aus seinem Büro im Weißen Haus. Doch erst als sie staunend »Ephraim Knoller?« sagte, wusste er, wen er vor sich hatte. »Miss Dylan?«, sagte er. »Sie hier?« Miss Dylan richtete die Laterne auf Paddys Gesicht. »Ich werd verrückt – Sergeant O'Hara! Was hat Sie denn hierher verschlagen?« »Haben Sie sich wehgetan?« Der Arzt kniete sich neben Paddy auf den Boden und tastete seinen Fuß ab. O'Hara stöhnte
leise und schaute Ayris zu, die derweil die jungen Leute umarmte, die ihr fröhlich und erleichtert auf die Schultern klopften. Sie schien sie aus ihrer früheren Oberwelt-Existenz zu kennen. »Sieht so aus, als hätten wir das Gröbste hinter uns«, sagte Captain Grover fröhlich, als sie – drei junge Männer im Schlepptau – zu ihm zurückkehrte. Sie deutete auf die Kiste und die neben Paddy auf dem Boden liegende Pistole, die im Lichtkreis von Johnnys Laterne gut zu erkennen war. Paddy räusperte sich, dankte Dr. Knoller und stand auf. Der Zeh war nicht gebrochen, nur gequetscht. Irgendwie war ihm danach zumute, Brainless Kid aufgrund seines unbedachten Handelns zusammenzuscheißen, doch vermutlich hatte der kleine Nichtsnutz einem Akademiker das Leben gerettet. »Leider… ähm… nein«, sagte Paddy. »Es gibt da ein kleines Problem, Captain.« Dass er »Captain« gesagt hatte, war wohl ein Fehler gewesen. »Wie, nein?«, erkundigte sich Ayris. »Was ist das für ein Problem?« Paddy sah aus der Ferne, dass Brainless Kid ein Ohr an die eiserne Klappe legte. Dann hob er langsam die Hand, packte den Griff, riss sie auf, richtete seine Kanone in den Schacht und drückte ab. Irgendjemand kreischte auf. Kid knallte die Klappe zu und sagte: »So! Der Weg ist jetzt verstopft!« Ayris und Paddy schauten sich an. »Wieso«, sagte Ayris lauernd, »habe ich nur das Gefühl, dass du mir etwas verschweigst?« Sie kniete sich auf den Boden und ließ die Schlösser der Blechkiste aufschnappen. Ein Blick hinein genügte, um ihr zu zeigen, dass sie noch lange nicht aus dem Schneider waren. »Wo ist die Munition?« Sie schaute auf. »Ohne Munition können wir uns nicht gegen Jamals Männer verteidigen.«
»Oh, hab ich das noch nicht gesagt?«, erwiderte Paddy. »In der Kiste waren leider nur zwei Magazine. Und eins davon hat Brainless Kid fast verballert.« »Du willst mich verscheißern«, sagte Ayris. »Los, komm, sag, dass du mich verscheißern willst!« »Also, ich hau jetzt ab«, sagte Monsieur Marcel. »Geht jemand mit in den Süden?« Er schaute sich unternehmungslustig um. »Wohin willst du denn?«, fragte Brainless Kid durchaus nicht uninteressiert. »Ich könnte uns vielleicht ein Boot besorgen.« Trashcan und seine Freunde jubelten, und Marcel klopfte ihm auf die Schulter. »Nach Meko.« *** An manchen Tagen fragte sich Toothless Ed, ob es ein intelligenter Schachzug von ihm gewesen war, sich einer Bewegung anzuschließen, die jeden schrägen Zug religiös verbrämen musste. Früher, bevor er Jamals rechte Hand geworden war, hatte er das Gleiche getan wie heute. Es war alles nur viel einfacher gewesen: Er hatte die Menschen mit dem Schwert in der Hand überzeugt, dass es besser für ihre Gesundheit war, sich seinem Willen zu beugen. Heute musste er jede Untat mit einem Zitat aus Ullahs Heiligem Buch motivieren. Dieser Scheiß hält doch nur den Betrieb auf. Von ihm aus konnten die Philosophen und Theologen das Gegenteil behaupten, bis sie schwarz wurden: Die Macht kam nicht aus der Feder. Sie kam aus dem Schwert. Aber Jamal hatte seiner Organisation gewisse Regeln gegeben, an die man sich halten musste. Hielt man sie ein und hatte Erfolg, war Ullah einem wohl gesonnen. Hielt man sie nicht ein und es ging was schief – au, Backe!
Und jetzt war etwas schief gegangen, weil Ed vor der Aktion nicht zu Ullah gebetet hatte. Die an der Aktion beteiligten Brüder konnten es beschwören. Deswegen lag Nasty Kid jetzt tot in dem die beiden Häuser verbindenden Schacht. Nasty Kid war fett, sehr fett. Den kriegte man nicht ohne weiteres aus dem Schacht raus. Über ihnen waren die Flammen inzwischen bis in den ersten Stock hinunter gewandert. Man konnte von Glück sagen, dass das Theater eine Etage höher war, sonst würde es vermutlich auch schon brennen. Und dann kam man vielleicht gar nicht mehr an die Pistolen heran. Erstaunlich, dachte Ed, was an einem Ziegelsteinhaus alles brennen kann. Das Haus war ein weithin leuchtendes Fanal. Jeder im Umkreis von einem Kilometer konnte es sehen. Für jene, die draußen in der Kälte standen und dem Brand zuschauten, verbreitete es heimelige Wärme. Die Schaulustigen gefielen Jamal in seinem Pavillon bestimmt auch nicht. Was mach ich nur?, dachte Ed. Sie sind uns halt zuvorgekommen. Ich kann doch nicht mit Säbeln und Armbrüsten gegen Schusswaffen vorgehen. Hinter ihm knarrte der Boden. Seine Männer machten Platz, als mehrere Lampenträger die Treppe herab kamen und sich zu beiden Seiten des Ganges aufstellten. Es war Ed gar nicht recht, dass Jamal persönlich hier erschien. Normalerweise war seine Insektenphobie so schlimm, dass er fremde Häuser höchstens mal im Hellen betrat. »Wie ist die Lage?«, fragte er. Seine schwarzen Augen schauten von einer Wand zur anderen. Toothless Ed knallte die Hacken zusammen und meldete Nasty Kids Tod. »Wie ist er gestorben?« Ed erklärte es ihm. Dass er von einer Waffe erschossen worden war, die zu erbeuten sie ausgezogen waren, hätte er am
liebsten verschwiegen, aber die Männer seines Kommandos, die an der Wand gegenüber stramm standen, hatten die Wahrheit natürlich mitbekommen. »Dann sind sie uns also zuvor gekommen?« Ed nickte. »Und jetzt die alles entscheidende Frage«, sagte Jamal. »Wer sind diese Leute, dass es ihnen gelingt, ein Kommando jener auszutricksen, die Ullah dienen und ihnen deswegen überlegen sind?« Ed schaute die Männer seines Kommandos an. Wenn er je in seinem Leben leere Gesichter gesehen hatte, dann jetzt. Er fragte sich, was es da oben an der Decke und vor ihren Füßen so Interessantes zu sehen gab. Und er fragte sich, was, zum Henker, die Lobpreisung einer Gottheit zum Erfolg eines Unternehmens beitragen konnte. War er eigentlich vollkommen irre, dass er dieses Spielchen mitspielte? Früher wäre ihm nicht eingefallen zu glauben, dass überirdische Wesenheiten ihre Geschicke lenkten. »Hör zu, Joe«, sagte er so leise, dass außer Jamal niemand seine Worte hörte, und beugte sich vor. »Ich hab die Faxen dicke. Ich hab nichts dagegen, wenn du vor dem Mob als Ullahs Stellvertreter in Waashton auftrittst. Aber lass mich aus diesem religiösen Kreuzzug raus. Mir reicht die Macht, die aus meinen Pistolenläufen kommt. Ich brauch keine Tempel und Litaneien, um…« Eds Worte gerieten ins Stocken, als er erkannte, welch großen – finalen! – Fehler er begangen hatte. Als er den stechenden Schmerz in der Brust spürte und röchelnd zurück wich. »Ketzer«, zischte Jamal. »Elender Ketzer! Möge Ullah deine verbrecherischen Seele im ewigen Feuer rösten!« Die Klinge, die in Eds Brust steckte, war so lang, dass sie aus seinem Rücken wieder hervorkam.
*** Die aus dem Nachbarhaus schlagenden Flammen erwiesen sich als Segen: Gut hundert Schaulustige hatten sich trotz des fallenden Schnees auf der K Street versammelt und wärmten sich. Eine Feuerwehr gab es in Waashton nicht, und da auf dieser Seite des Blocks nur noch zwei unbewohnte Häuser standen, denen ein Feuer gefährlich werden konnte, brach auch nirgendwo Panik aus. Nachdem Paddy O'Hara, Monsieur Marcel, Ozzie, Trashcan und der sommersprossige Brainless Kid das Schloss des Haupteingangs auseinander genommen hatten, schob Ayris Grover als Erste den Kopf ins Freie. Schneeflocken umwirbelten ihre Nase, ein kalter Wind ließ ihr langes Haar wehen. Sie fühlte sich erschöpft und schmutzig, und als sie ins Freie trat, reichte der Schnee ihr bis fast ans Knie. Oberflächlich betrachtet schien niemand das bunt zusammen gewürfelte Grüppchen zu beachten, das nun das VaudevilleTheater verließ – doch der Eindruck täuschte: Schon lösten sich einzelne Personen aus den Reihen der Gaffer und gingen parallel zu ihnen unter den Bäumen her. Ayris Grover ging mit dem Schwert in der Hand vornweg. Dann kamen Peewee und Loola, Laternen in der einen, lange Messer in der anderen Hand. Trashcan und Ozzie schleppten die schwere Kiste mit den Pistolen. Dann kamen Doc Ryan und Johanna Dylan, und schließlich Paddy O'Hara und Brainless Kid – beide mit Pistolen in der Hand und einer Miene, die Entschlossenheit verriet. Sie überquerten die K Street in Richtung 22nd Street, bogen nach Südosten ab und hielten auf das Weiße Haus zu. Auch vor ihnen flackerten Feuer. Von allen Seiten drang ein babylonisches Stimmengewirr auf sie ein. Je näher sie der Innenstadt kamen, desto mehr Menschen begegneten ihnen.
Viele waren wie Lastesel bepackt und marschierten in Richtung der Stadttore. Aus den Gesprächen, die man im Vorübergehen aufschnappte, war ersichtlich, dass die Menschen der Meinung waren, die Tage Waashtons seien gezählt. So verhasst die militärisch strukturierten Technos bei den Oberweltlern auch gewesen waren, nun zeigte sich, dass der Untergang Ihrer Bunkerzivilisation auch die Stadt ins Verderben riss. Zu viele Gruppen buhlten um die Herrschaft. Zu viele Banden kochten ihr eigenes Süppchen und stritten sich anschließend darüber, wer es versalzen hatte. Banden würden kommen und gehen. Es gab keine Ordnungsstrukturen. Niemand fühlte sich verantwortlich, wenn es brannte. Niemand griff ein, wenn jemand auf offener Straße ausgeraubt oder hingerichtet wurde. Wer Phantasie hatte, konnte sich ausrechnen, was die Zukunft ihm in dieser Hinsicht brachte. Wer sich einfach nur vor der Zukunft fürchtete, belud einen Karren, nahm seine Familie und ging. Es gab keine Garantie, dass es einem außerhalb Waashtons besser ging. Aber dort, wo nur vereinzelt Menschen lebten, war die Wahrscheinlichkeit, an einer Axt im Kopf zu sterben, geringer als in diesem Moloch. Ayris fragte sich, was aus Präsident Crow und den Männern und Frauen geworden war, die vor Wochen in den Krieg gezogen waren. Hatten sie längst ins Gras gebissen? Schlugen sie sich in der winterlichen Landschaft Sibiriens noch immer mit den echsenartigen Fremdlingen herum? Hatten die Menschen überhaupt eine Chance, diese Brut zu vernichten? Und wenn die irdischen Kräfte siegten, was fand Präsident Crow wohl vor, wenn er nach Meeraka zurückkehrte? Außer Captain Grover, Sergeant O'Hara, Stabsarzt Dr. Ryan und Miss Dylan aus dem Schreibbüro war niemand mehr hier. Wie ironisch, dass drei der vier Menschen, die ihn noch kannten, Abtrünnige waren. Wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Rings um das Weiße Haus loderten riesige Feuer. Auch das Regierungsgebäude selbst stand in Flammen. Eine gewaltige Hitze hatte sich ausgebreitet und den Schnee auf dem Boden geschmolzen. Scharen betrunkener Bürger zogen grölend und tanzend um das Haus, bewarfen sich mit leeren Flaschen, rissen sich berauscht die Kleider vom Leib und gingen vor den Flammen in die Knie, als wollten sie sie anbeten. Zum Liegeplatz von Kids Schaluppe war es noch ein ganzes Stück, aber natürlich konnten sie die zwei Dutzend Sektierer, die ihnen folgten, nicht mitnehmen. Laut Brainless Kid, der übrigens Paulie hieß, war der Ort dunkel und geradezu ideal, wenn man ein Grüppchen wie das ihre ermorden, berauben und den Fischen zum Fraß vorwerfen wollte. So weit wollten sie es nicht kommen lassen. Deswegen wollten sie Jamals Brut möglichst hier abschütteln, mitten in einer großen Menschenmenge. Und zwar so. Im dicksten Getümmel, vor dem lichterloh in Flammen stehenden Weißen Haus, schnippte Ayris die Schlösser der Blechkiste auf, in der die Pistolen lagen, und Paddy und Paulie warfen sie hoch in die Luft. Die Kiste drehte sich, und die dreiundzwanzig Pistolen regneten auf das Volk herab. Schreie wurden laut; von jenen, die von den Waffen getroffen wurden, und jenen, die den Wert dessen erkannten, was da durch die Luft flog. Im gleichen Moment spritzte die Gruppe nach einem zuvor abgesprochenen Plan auseinander: Trashcan mit Loola, Ozzie mit Peewee, Doc Ryan mit Johnny, Marcel mit Paulie, Ayris mit Paddy. Der Plan schien zu funktionieren. Einige Dutzend von Schnaps und Flammen erhitzte Männer stürzten sich auf die Schießeisen, schubsten sich gegenseitig zur Seite, würgten sich und ließen Messer aufblitzen. Die frustrierten Jünger Jamals heulten auf.
Da stolperte Ayris plötzlich über eine am Boden liegende Flasche, krachte Paddy ins Kreuz und brachte ihn zu Fall. Die beiden stürzten zu Boden. Als Ayris sich abrollte und wieder auf die Beine kam, sah sie, dass Paddy entsetzt seine Hände anstarrte, und sie begriff, dass er seine Pistole verloren hatte. Sie lag vor seinen Füßen. Ein Mann, der einen dünnen Speer in der Hand hielt, entdeckte sie als Erster. Mit einem triumphierenden Ausruf stürzte er sich auf die Waffe. Paddy sprang vor, riss ihm dem Spieß aus der Hand und versetzte ihm einen Tritt gegen die Brust. Der Mann wurde nach hinten geworfen und schrie erneut, diesmal vor Schmerz. Ayris, die ihre Klinge zog, sah Paddys Pistole im hohen Bogen durch die Luft fliegen. »Da! Da!«, schrie sie geistesgegenwärtig und deutete in die Gegenrichtung. Einige Männer ließen sich tatsächlich verwirren. Es kam zu einem wüsten Gerempel. Faustschläge klatschten. Doch nicht alle Männer waren betrunken oder leicht zu täuschen. Eine ganze Meute rückte nun gegen Ayris und Paddy vor, sodass sie spontan die Abwehrstellung der Winterkrieger einnahmen: Rücken an Rücken, spitzes Eisen im Vorhalt. Paddy fluchte. »Das war's wohl, Captain. War nett, dich auch privat mal kennen zu lernen.« »Red keinen Stuss…« Ayris fletschte die Zähne. Ihre Klinge kreiste so schnell, dass einige der Kerle Lunte rochen und zurückwichen. Andere waren jedoch vom Feuerwasser so geblendet, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten überschätzten. Paddy O'Hara trat zwei keulenbewehrten jungen Männern gegen die Kniescheiben und rammte den erbeuteten Spieß einem weiteren vor die Nase. Ayris' Klinge halbierte das Billigschwert eines hageren Gesellen und zersäbelte in bester Musketiertradition einem anderen den Hosengürtel. Doch obwohl sie bewies, dass sie
nach den Wochen am Schreibtisch und im Fieberbett nicht eingerostet war, wurde allmählich absehbar, dass sie und Paddy den Rest ihrer Tage so nicht verbringen konnten. »Wir müssen abhauen«, zischte sie ihm zu. »Ja, los, du zuerst…«, gab Paddy zurück. Ayris lief los, doch der Boden war nass, denn die vielen Feuer hatten eine Menge Schnee geschmolzen. Sie rutschte aus und fiel auf die Nase. Das Schwert entglitt ihrer Hand. Paddy fluchte. Der Mob, sofern er sich nicht noch immer um die nutzlosen Pistolen aus dem Koffer raufte, schrie auf. Plötzlich knallten Schüsse. Ayris schaute irritiert auf. Schon war Paddy bei ihr und riss sie hoch. Nicht fern von ihnen standen Marcel und Paulie. Sie waren zurückgekehrt. Dass sie beide feuerten, konnte nur eins bedeuten: Marcel hatte Paddys Waffe gefunden! »Hurra!« Paddy wuchtete sich Ayris über die Schulter und rannte los. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass er so stark war. *** Der Morgen graute, und das tatsächlich grau in grau, hauptsächlich über dem Festland. Da schwebte nämlich eine dicke Rauchwolke über den brennenden Häusern von Washington dahin. Die See war spiegelglatt. Die Schaluppe glitt dahin wie ein Pfeil. Ayris war todmüde. Trotzdem hielt sie es für eine wirklich gute Idee, der eiskalten Stadt Adieu zu sagen. Im Süden konnte es nur besser sein. Und wenn es dort nicht besser war, war es wenigstens wärmer. Von ihr aus konnte Jamal sich Washington ruhig einsacken. Er musste es allerdings ohne mechanische Schusswaffen tun, denn bevor sie die dreiundzwanzig Kanonen unters Volk geworfen hatten, hatten Paulie und Marcel sämtliche Schlagbolzen ausgebaut.
»Wurde echt Zeit, dass wir verschwinden« , sagte Monsieur Marcel und gähnte. Sie wollten erst eine gewisse Strecke aufs Meer hinaus fahren, dann irgendwo ankern und sich ausschlafen. Die Nacht, die hinter ihnen lag, würden sie alle so schnell nicht vergessen. »Yeah.« Trashcan Kid grinste über das ganze Gesicht. »Auf nach Meko.« »Ich hoffe, du bereust es nicht, dass du der Zivilisation entsagst, Doc«, sagte Ayris. Ryan zwinkerte Johnny zu und erwiderte: »Ich wollte schon immer den Sonnenschein auf meiner Haut spüren, bevor ich mich in die Kiste lege.« Peewee und Loola hatten sich auf dem Boden zusammengerollt und schliefen. Das Quartett, mit dem Paulie bisher immer auf Raubzug gegangen war, würde bestimmt dumm gucken, wenn es zum Liegeplatz kam und feststellte, dass die Schaluppe fort war. Aber Paulie wollte nicht mehr hier bleiben. Er hatte beschlossen, mit anderen Freunden zusammen zu sein. Mit Freunden, die es gar nicht interessierte, welche Dinger er gedreht hatte. Die nicht immer nur soffen und Kiffetten rauchten, sondern auch schon mal musizierten. Und mit Kerlen wie Paddy O'Hara, die einem nichts nachtrugen, wenn man mal den Versuch gemacht hatte, sie auszurauben. Das wollte Paulie auch gern lernen: den Menschen nichts nachzutragen. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie: Undurchdringliche Schwärze umfing Eve. Sie hörte Schreie, Schüsse, ein Knirschen, das dumpf durch die Gänge hallte. Es gab keine Wasserversorgung mehr im Bunker, keine Frischluft, kein Licht. Eve blieben nur ihre Ohren und Hände, um sich in der Dunkelheit einen Fluchtweg zur Oberfläche zu ertasten – wo die barbarischen Lords, mutierte Bestien und die Kälte des Winters auf sie warteten und jede kleinste Verletzung den Tod bedeuten konnte. Aber alles war besser, als hier unten in den Eingeweiden des Bunkers Salisbury zu verrecken. Denn dies war…
Das Ende der Technos von Michael M. Thurner