Seewölfe 188 1
Roy Palmer 1.
Diese erbärmlich kalte Welt, in der sich der Wind in den Frosthauch des Todes verwandelte...
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Seewölfe 188 1
Roy Palmer 1.
Diese erbärmlich kalte Welt, in der sich der Wind in den Frosthauch des Todes verwandelte und das Seewasser so eisig war, daß ein hartgesottener, sturmerprobter Seefahrer von einem Moment auf den anderen so steif wie ein Brett wurde, wenn er hineinfiel - nein, diese Welt konnte einem Mann wie Batuti nie und nimmer vertraut werden. Der schwarze Herkules aus Gambia hatte nun fast alle Länder und Gewässer kennengelernt und überall Freunde gefunden. Ja, sogar im fernen China, wo man anfangs angenommen hatte, seine dunkle Hautfarbe sei aufgemalt, hatte er sich am Ende heimisch gefühlt. Sehnsucht nach Afrika hatte er eigentlich nie empfunden, denn mit der Crew der „Isabella“ fühlte er sich fester zusammengeschmiedet als mit seinem eigenen Stamm. Aber heute - seit langer Zeit zum erstenmal - mutete ihn seine Umgebung derart fremd und unheimlich an, daß er unwillkürlich an Gambia denken mußte, Gambia mit seinen sanft geschwungenen Küsten, den weißen Sandstränden und den Palmen, die sich im lauen Wind wiegten. Heute schien ihm sogar sein Schiff, die „Isabella VIII.“, fremd zu sein. „Gottverdammich“, murmelte er. Einem Geisterschiff aus Glas und Reif gleich glitt die Galeone dahin. Ihre Decks waren so glatt und tückisch geworden, daß der Seewolf Manntaue hatte spannen lassen. Die Segel blähten sich wie trockene Haut, die Pardunen und Wanten hatten sich in lange, glitzernde Eisgebilde verwandelt. Überall wuchs das Eis, obwohl die Crew fast unablässig die Brocken abklopfte. Keiner schien der Umklammerung klirrender Kälte entweichen zu können. Batutis Blick glitt über die Kuhl. Eben überquerte Carberry vom Achterdeck her das Hauptdeck, steuerte auf die Back zu und glitt auf halbem Weg fast aus. Dagegen war auch er, der allgewaltige Profos der „Isabella“, nicht gewappnet,
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und davor bewahrte ihn auch nicht der Eisenhaken, den er an seinem Gürtel trug. „Himmelkreuzdonnerwetter“, fluchte Carberry los: „Ar ...“ Er warf einen raschen Blick zum Achterkastell zurück und stellte fest, daß der Seewolf und die Rote Korsarin ihn beobachteten. „Arm und Zwirn“, stieß er hervor, obwohl er etwas anderes, Deftigeres hatte wettern wollen. Aber vor Siri-Tong sollte man — zum Teufel — so wenige Kraftausdrücke wie möglich gebrauchen, das gehörte sich einfach so für die rauhbeinige Mannschaft eines Segelschiffs, wenn eine Lady wie die schwarzhaarige Eurasierin mitfuhr. Carberry brummelte noch so einiges vor sich hin, ehe er aufs Vordeck stieg und sich ganz nach vorn an die Querbalustrade über der Galionsplattform begab, um mit dem Kieker Ausschau zu halten. Wonach? Das mochte der Teufel wissen, der dem Schiff heute sehr nah zu sein schien, wenn man Batutis düsteren Visionen von einem bevorstehenden Unglück recht geben wollte. Batuti wandte etwas den Kopf und sah Dan O'Flynn auf sich zumanövrieren. Auch Dan trug diesen eisernen Haken am Gurt, den Ferris Tucker ihm wie allen anderen Kameraden an Bord auf das Geheiß des Seewolfs hin ausgehändigt hatte. Beim Arbeiten an Deck oder aber auch nur zur Fortbewegung brauchte der Betreffende nur eine Schlinge durch den Haken zu ziehen, so daß er einerseits die Hände frei hatte und andererseits nicht mehr über Bord gehen konnte. Aber, wie schon gesagt: ausrutschen konnte man deswegen immer noch. Dan geriet aus dem Gleichgewicht, als die „Isabella“ eine neue, schlingernde Bewegung in der Dünung vollführte, und um ein Haar wäre er hart gestürzt. Er strauchelte, schoß ein Stück voran, ruderte mit den Armen und hatte sich selbst wieder in der Gewalt, als er bei Batuti anlangte. „Spätestens in einer Stunde dürfen wir wieder Eis hacken, schwarzer Mann“, sagte er grinsend. „Die ,Isabella` wird sonst zu schwer, und die Tonnenlast Eis
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drückt sie immer tiefer ins Wasser. Das Eisklopfen wird noch unsere Hauptbeschäftigung: morgens, mittags, abends und sogar nachts — wie damals, als wir vom Kap der Stürme aus mitten ins Packeis des Südpols segelten. Himmel, das liegt nun auch schon wieder fünfeinhalb Jahre zurück ...“ „Aber das war anders“, sagte Batuti dumpf. „Anders — wieso? Weil es dort unten Pinguine gab und hier nicht? Oder wie meinst du das?“ Batuti drehte den Kopf und musterte Dan auf eindringliche Weise. „Dan O'Flynn“, sagte er. „Batuti ist nicht zum Scherzen zumute.“ Obwohl er jetzt sehr gut englisch sprach, verfiel er hin und wieder doch in seine alte Angewohnheit, von sich selbst in der dritten Person zu reden. Und je aufgeregter er wurde, desto mehr Fehler beging er. „Batuti, du siehst ja richtig besorgt aus“, sagte Dan. „Besorgt und krank. Ist dir nicht gut?“ „Noch geht's mir gut“, erwiderte der Gambia-Mann mit verdrossener Miene. „Aber bald vielleicht nicht mehr. Reise steht unter einem Unstern, Dan O'Flynn.“ „Stern? Mann, Sterne gibt es hier nicht. Wir haben doch die Mitternachtssonne, hast du das vergessen?“ „Erzähle keine Witze, das bringt Unglück.“ „Batuti - fängst du jetzt schon so zu unken an wie mein Alter? Ich an deiner Stelle würde die Spökenkiekerei lieber ihm überlassen.“ Batuti wies Steuerbord achteraus, genau in die Richtung, aus der der Wind blies. „Siehst du nicht die rabenschwarze Wand?“ „Die Wolken? Herrje, wie kann man deswegen nur ...“ „Böses Unheil“, orakelte Batuti. .. so aus dem Häuschen geraten?“ vollendete Dan seinen Satz. „Wir haben schon ganz andere Wetter abgeritten. Hier, in diesen Breiten - und auch unten, am Südpol.“ „Das damals, das war anders.“ „Weil wir unser Ziel kannten?“
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„Ja, deshalb.“ „Mann, wir hatten am Kap der Stürme hoffnungslos die Orientierung verloren. Wir wußten nicht mehr, wo Norden und Süden, Westen und Osten, vorn und hinten war. Wir hatten ja kaum noch eine Ahnung, wo sich bei der ‚Isabella' die Backbord- und die Steuerbordseite befanden.“ Dan holte tief Luft. „Hast du das vergessen? Nun denk doch nicht dauernd an Meermänner, Dämonen und üble Plagegeister und die Aussicht, daß unsere ,Isabella` im Packeis stecken bleibt. Hasard hat gesagt, wir hätten keine bessere Jahreszeit als diese wählen können, uni nach Thule und vielleicht auch der Nordwest-Passage zu suchen.“ Batuti schlug den Kragen seiner wollenen, mit einem Pelzbesatz versehenen Jacke höher und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. „Sommer“, sagte er aufgebracht. „Dies soll Sommer sein? Pfui Teufel!“ „Arktischer Sommer“, berichtigte Dan. „Das ist schon ein Unterschied zum Sommer, den wir kennen.“ „Schreiben wir wirklich Monat Juli, Dan O'Flynn?“ „Ja.“ „O Gott“, klagte der Neger. „O Gott.“ „Du meinst also, wir müßten alle den Kältetod sterben?“ „Ja.“ Batuti fror und mußte sich gewaltig zusammenreißen, damit seine Zähne nicht aufeinander schlugen. „Oder Eisberg erdrückt uns.“ Er wies auf die in der Dünung treibenden Eisschollen, die am Rumpf der „Isabella“ vorbeizogen. Dan O'Flynn schüttelte den Kopf. „Die Gefahr ist wirklich gering. Das Meereis nördlich von Thule und der großen Insel, die von den Wikingern ‚Grünland' getauft wurde, bricht unter der Sonneneinstrahlung allmählich auf, die Eisgrenze weicht immer mehr zum Pol zurück. Die Schollen, die uns auf ihrem Weg zur Labrador-See entgegen treiben, sind dünn. Die Sonne frißt an ihnen, und das Eis ist so mürbe, daß der Bug unserer ,Isabella` es mühelos zerbricht. Wir haben das doch nun schon
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oft genug erlebt.“ „Ja.“ „Dann weiß ich nicht, über was du dir Sorgen machst.” „Darüber, daß es noch kälter werden kann“, sagte der schwarze Goliath. „Ist das alles?“ „Ganze Welt ist verdreht. Wohin segeln wir?“ „Mit raumem Wind nach Ostnordost.“ „Und dort liegt Thule?“ „Hasard vermutet es.“ „Ganzes Welt verkehrt und verrückt“, murmelte der Gambia-Mann. „Batuti, soll ich dem Seewolf melden, daß du gern umkehren würdest?“ fragte Dan sanft. . Batuti riß die Augen weit auf und starrte sein Gegenüber entsetzt an. „Himmels willen, nein! Was soll Seewolf von Batuti denken? Nein, spielt sich gar nix ab! Kein Wort, verstanden, Dan? Batuti ist kein Meuterer. Geht mit Crew durch dick und dünn, auch wenn der Steven abfriert!“ „Na also“, sagte Dan lachend. „So gefällst du mir schon besser. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Kerl wie du jetzt schon die Hosen voll hat.“ Batuti mußte jetzt auch grinsen. Er bückte sich etwas, zupfte an seinem Beinkleid herum und meinte: „Voll nicht. Nur zu dünn.“ „Mit anderen Worten, du brauchst ein Fell, um dir ein Paar nähen zu lassen?“ „Ja. Vom weißen Bär.“ „Na, dann laß uns hoffen, daß wir bald einen Eisbären erwischen“, sagte Dan O'Flynn. Batuti stieß ihn mit dem Ellenbogen an und deutete auf den Profos, der nach wie vor angestrengt durch seinen Kieker spähte. „Profos ist auch scharf auf Bären, will Jagd auf ihn machen.“ „Genau.“ „Wie nennen Eskimos den Eisbär?“ „Nanoq.“ „Nanoq und Nanohuaq.“ „Nanohuaq, das ist ein besonders großes Exemplar.“ „Und daraus kann man vier Paar Hosen schneidern, hat Hendrik Laas gesagt.“
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Batuti hatte sich zusehends beruhigt und sprach wieder korrektes Englisch. Dan, der immer noch unverwandt auf des Profos' breiten Rücken sah, mußte plötzlich wieder grinsen. „Na, vielleicht segelt uns Meister Petz ja auf einer Eisscholle entgegen“, sagte er. * Hasard stand dicht neben Siri-Tong an der vorderen Querbalustrade des Achterdecks und blickte ebenfalls zu seinem Profos. „Sieh ihn dir an“, sagte er. „Er ist wirklich beinah besessen von dem Wunsch, als erster einen Eisbären zu sichten. Da ich es als wahrscheinlich ansehe, daß wir bald auf die Küste von Grönland stoßen, könnte es ja auch tatsächlich passieren, daß wir einen solchen Burschen sichten.“ „Ist Grönland selbst nicht viel wichtiger für uns?“ fragte sie. „Ja, natürlich.“ „Aber der gute Edwin glaubt erst daran, daß es die weißen Bären gibt, wenn er sie wirklich gesehen hat, nicht wahr?“ „Das hat er ja nun schon-x-mal gesagt.“ Sie lachte hell auf. „Aber war denn das Fell, das Hendrik Laas ihm geschenkt hatte, nicht der beste Beweis für die Existenz von Nanoq?“ „Du weißt doch, was für ein Seemannsgarn unser Carberry spinnt.“ „Ja.” „Nun, und er glaubt eben auch von anderen Leuten, daß sie ihm im wahrsten Sinn des Wortes ‚einen Bären aufbinden'. So sehr er sich über das Geschenk gefreut hat, er nimmt bislang immer noch an, daß Hendrik Laas irgendwie maßlos übertrieben oder schlichtweg geschwindelt habe.“ „Und du? Glaubst du daran?“ „Daß es weiße Bären gibt? Ja, ich bin ziemlich sicher.“ Sie entblößte ihre perlweißen Zähne. „Er ist schon ein Dickschädel, unser Profos, das muß ich sagen. Aber andererseits finde ich es uneigennützig von ihm, daß er aus dem weißen Fell Mützen, Jacken und Hosen für die Zwillinge hat schneidern
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lassen - und für mich diese Mütze.“ Sie tippte spielerisch mit den Fingern gegen den Rand ihrer neuen Kopfbedeckung. Sie hatte ihr langes schwarzes Haar hochgesteckt und darunter verborgen und den Kragen ihrer Biberfelljacke so weit hochgeschlagen, daß er die gesamte Halspartie verhüllte. Sie sah hinreißend aus. „Armer Profos“, fuhr sie fort. „Wegen uns hat er auf seine kostbaren Eisbärhosen verzichtet. Na, vielleicht kriegt er ja auch noch welche.“ „Bedaure ihn bloß nicht zu sehr.“ „Bist du - eifersüchtig?“ „Auf Carberry?“ Hasard lächelte. „Um Himmels willen, nein. Aber lassen wir das.“ Er wandte sich dem Backbordniedergang zu und stieg zum Quarterdeck hinunter. Siri-Tong folgte ihm, bemüht, nicht auf dem harten, gefährlich glatten Belag der Planken auszurutschen. Hasard suchte das Ruderhaus auf, trat neben den Rudergänger Pete Ballie, wandte diesem den Rücken zu und überprüfte noch einmal, was er auf seiner handgefertigten Karte eingetragen hatte. Siri-Tong erschien im offenen Schott. Er drehte sich zu ihr um und sagte: „Wenn alle Daten einigermaßen präzise sind, müßten wir noch heute die Westküste Grönlands erreichen. Spätestens bis zum Dunkelwerden.“ Er lächelte plötzlich und berichtigte sich: „Nein - spätestens bis zu dem Zeitpunkt, an dem es eigentlich dunkel werden müßte.“ „Du vertraust also deiner Skizze?“ „Sie vereint in sich all das, was ich bisher über Grönland und Thule vernommen habe. Falls wir unseren Streifzug durchs Eismeer zu einem guten Abschluß bringen, ist sie eines Tages wahrscheinlich die genaueste Karte, die jemals über dieses Gebiet angefertigt wurde.“ „Vermutlich ja.“ „Nur die Beschaffenheit der Regionen nordwestlich von Labrador und der großen Bucht westlich von Labrador ist für mich nach wie vor ein einziges großes Fragezeichen.“
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„Auch jene Küste werden wir noch erkunden“, sagte sie. „Du bist jetzt also zuversichtlich?“ „Ja. Dein Forscher- und Entdeckergeist muß mich wohl angesteckt haben.“ „Vielleicht habe ich einen Fehler begangen, als ich mich nach dem Verlassen der großen Bucht nicht gleich nach Westen gewandt habe. Aber die Windverhältnisse waren dagegen.“ „Es wäre wirklich zu mühselig, gegen diesen Wind zu kreuzen“, bestätigte sie ihm. „Und außerdem wäre es ja wohl eine grobe Unterlassung, dem sagenhaften Thule keine Visite abzustatten. Dort gibt es kein Gold, wie Hendrik Laas gesagt hat, aber einen Menschenschlag, den kennen zu lernen es sich lohnt.“ „Ich muß dich wirklich angesteckt haben.“ „Aber es ist keine Krankheit.“ „Was denn?“ „Im Moment kann ich nur das eine sagen“, erwiderte sie. „Alles, was wir in dieser seltsamen Ecke Welt bisher erlebt haben — die Geschichte mit Cyril Auger und dessen Flaschenpost, mit den KaribuJägern, den Indianern am Ufer der Bucht, die Stürme, die Abenteuer, die Erlebnisse mit dem Wal — all das hat mich nur neugieriger gestimmt. Ich würde jetzt auch nicht mehr aufgeben.“ Er blickte sie ernst und offen an und sagte: „Ich danke dir. 2. Vier Glasen nach Beginn der Abendwache, die wie gewöhnlich um vier Uhr nachmittags einsetzte, war es soweit. Bill, der Moses, beugte sich ein wenig fröstelnd und mit einem Gefühl, als habe er schwere Eisklötze an Armen und Beinen hängen, über den Rand der Segeltuchverkleidung des Großmarses und brüllte: „Deck, Deck, Land Steuerbord voraus in Sicht! Sir, wir haben's geschafft!“ Er trat auf der Stelle und schlug die Arme vor der Brust zusammen, um der Kälte Herr zu werden. Dann mußte er sich wieder an der Umrandung festhalten, um nicht die Balance auf dem luftigen Posten
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zu verlieren. Die Gefahr, abzustürzen und sich auf dem Hauptdeck das Genick und sämtliche Knochen im Leib zu brechen, war noch größer als die Aussicht, im Großmars zum Klumpen zu frieren. An Oberdeck wurden Kieker auseinander gezogen und ans Auge gehoben — oder einfach nur die bloßen Augen mit der Hand gegen die Sonnenstrahlen abgeschirmt. Hasard und Siri-Tong standen an der Schmuckbalustrade des Quarterdecks. Sie spähten beide durchs Spektiv und konnten im Rund der Optik jenen schmalen grauweißen Streifen erkennen, der sich im Osten über die Kimm geschoben hatte. Das Land, das die Wikinger „Grünland“ getauft hatten... „Land“, dröhnte nun Carberrys Stimme von der Back herüber. „Woher, zum Teufel, willst du triefäugiger Hering eigentlich wissen, ob das tatsächlich Land ist, was, wie?“ „Sir“, entgegnete Bill von hoch oben. „Ich dachte mir ...“ „Du sollst nicht denken, sondern nachdenken, Sapperlot noch mal!“ „Bei allem Nachdenken, Mister Carberry — es scheint mir Land zu sein!“ „Es scheint!“ brüllte Carberry so laut, daß die ihm am nächsten stehenden Männer des Vordecks vorsichtshalber zurückwichen. „Was soll das jetzt wieder heißen — es scheint? Die Sonne scheint, du halbgarer Kabeljau!“ „Mister Carberry, Sir!“ schrie Bill zurück. „Was soll's denn sonst sein — außer Land?“ „Eis und Schnee!“ brüllte der Profos, daß man es daheim in Plymouth noch vernehmen konnte. „So müssen die Trompeten von Jericho geklungen haben“, sagte der Kutscher, der gerade mit verwunderter Miene aus dem Kombüsenschott blickte. „Oder waren es Posaunen?“ „Ist doch egal“, meinte Blacky, der nicht weit entfernt am Backbordschanzkleid der Kuhl stand. „Ruhe da unten“, röhrte die Stimme des Narbenmannes von der Back. „Bill, du dreimal verlauster Affenarsch...“
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„Edwin!” rief die Rote Korsarin. „Verzeihung, Madam!“ rief Carberry um einiges lauter zurück. „Aber es ist meine Pflicht, diesen Kerl auf eine ordnungsgemäße Ausübung seiner Aufgabe zurechtzutrimmen. Bill, he, Bill!“ „Sir?“ „Das da vorn kann Schnee oder Eis sein, vom Land losgelöst, verstanden? Man ruft erst ,Land in Sicht', wenn man sich seiner Sache völlig sicher ist, verstanden?“ „Mister Carberry, ich habe noch nie einen so flachen Eisberg gesehen“, verteidigte sich Bill. „Hast du überhaupt schon mal einen gesehen?“ „Jawohl ... „Stimmt“, gab der Profos in barschem Tonfall zurück. „Soviel wollen wir dir zugestehen. Aber was nun, wenn dein ,Land' eine riesige Eisscholle ist, was, wie?“ „Dann kapituliere ich!“ rief Bill fast verzweifelt. „Etwas anderes bleibt dir auch nicht übrig ... „Ed!“ rief der Seewolf. Carberry drehte sich seinem Kapitän zu, senkte den Kopf ein wenig und zeigte Hasard sein narbiges, häßliches Gesicht, das von den Rändern einer flauschigen Mütze gerahmt, dadurch aber keineswegs schöner wurde. „Sir?“ „Wir steuern direkt darauf zu, dann werden wir ja Gewißheit erhalten, um was es sich handelt. Pete, wir halten mehr Steuerbord.“ „Aye, Sir.“ Carberry zeigte klar, wandte sich der Crew zu und brüllte: „Anbrassen, ihr Pfeifen, wir gehen höher an den Wind! Seid ihr taub?“ Blacky grinste den Kutscher schief an und meinte: „Na bitte, jetzt hackt er auf uns herum. Ich sage dir, die Kälte bekommt ihm nicht.“ Der Kutscher nickte, verließ die Kombüse und hievte zwei mit Sand gefüllte Holzkübel heraus. Es war Sand zum Löschen der Holzkohlefeuer unter den Kombüsenkesseln. Im Gefecht benutzte man ihn auch, um den Männern an den Geschützen einen besseren Stand auf den
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Planken zu verschaffen - man streute ihn auf dem Batteriedeck aus. Warum also sollte man den Sand nicht auch dazu verwenden, das Ausrutschen auf dem elenden Eis zu vermeiden? Der Seewolf hatte natürlich sofort zugestimmt, als der Kutscher ihm diesen Vorschlag unterbreitet hatte. Jetzt, als der Koch und Feldscher der „Isabella“ emsig darum bemüht war, so viel Sand wie möglich auf dem Hauptdeck auszustreuen, verließ Hasard seinen Platz auf dem Quarterdeck und stieg zu ihm hinunter. „Ausgezeichnet, Kutscher“, lobte er. „Du solltest hinterher auch noch ein wenig Asche aus deinen Kombüsenfeuern dazutun, das hält besser.“ „Aye, Sir.“ Der Kutscher blickte nach Steuerbord. Der kalte Wind schnitt ihm ins Gesicht. „Wenn wir Sturm kriegen, haben wir einen sicheren Stand auf Deck bitter nötig, Sir. Aber ich schätze, die überkommenden Seen werden mir einen Strich durch die. Rechnung ziehen. Jeder Spritzer Wasser gefriert bei diesen Temperaturen sofort, und ich glaube, bei richtig dickem Wetter kann ich gar nicht so schnell streuen, wie sich das Deck wieder mit einer Eisschicht überzieht.“ Hasard sah ebenfalls zu der schwarzen Wolkenwand, die sich Unheil verkündend zusammengeballt hatte und nun näher und näher heranschob. „Bestimmt hast du recht“, erwiderte er. „Aber wir werden versuchen, eine schützende Bucht zu erreichen, ehe das Theater losgeht.“ Der Kutscher grinste plötzlich. „Du glaubst also auch, daß wir wirklich Land vor uns haben?“ „Ja.“ „Jesus, was ist denn bloß in den Profos gefahren?“ „Die Kälte geht ihm ans Gemüt, aber er will's nicht zugeben“, erwiderte der Seewolf. „Außerdem will er endlich einen richtigen Eisbären sehen.“ „Schön, aber deswegen braucht man doch nicht gleich so verbiestert zu sein ...“ „Was gibt es zum Abendessen?“ unterbrach ihn Hasard.
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„Eine kräftige Fleischsuppe, Sir.“ „Gut. Dazu teilst du eine Sonderration Rum aus, und zwar eine doppelte. An alle. Ich hoffe, daß das die allgemeine Stimmung wieder etwas hebt.“ „Heißen Rum?“ „Ja, natürlich. Wir müssen uns von innen aufwärmen.“ Aus dem Großmars ertönte Bills neue Sichtmeldung: „Land! Es ist wirklich Land, Sir! Ich kann's jetzt in aller Deutlichkeit erkennen, daß es weder ein Eisberg noch eine Scholle ist!“ „Hurra!“ jubelte die Crew. „Eisscholle heißt das“, sagte Carberry in grunzendem Tonfall. „Nicht Scholle. Eine Scholle ist ein platter Fisch. Aber was soll's!“ Er hob wieder sein Spektiv, äugte mit grimmiger Miene hindurch und hielt nach den „verfluchten weißen Biestern“ Ausschau. Das schneeüberwachsene, eisglitzernde Land rückte näher und näher, aber weit und breit war kein Tier zu sehen - geschweige denn eine Menschenseele. Hasard war auf das Quarterdeck zurückgekehrt, holte die Karte aus dem Ruderhaus und breitete sie vor Siri-Tong, Ben Brighton, Big Old Shane, Ferris Tucker und den beiden O'Flynns auf der Gräting aus. „Siri-Tong“, sagte er. „Männer.“ Es klang fast ein wenig feierlich. „Wenn das jetzt tatsächlich die Westküste Grönlands ist was ich kaum noch bezweifle -, dann befinden wir uns mit Sicherheit an einem Platz, den noch kein Seefahrer vor uns gesehen und betreten hat.“ „Außer Hendrik Laas und seinen Eskimos“, wandte Ben ein. „Natürlich. Ich will meine Worte so verstanden wissen: Dieses Stück Welt ist bislang von keiner der seefahrenden Nationen entdeckt worden. Nach meinen Berechnungen befinden wir uns nördlich des 75. Breitengrades, über den weder Cabot noch Frobisher noch sonst jemand hinausgekommen ist.“ „Es ist also - ein historisches Ereignis, wenn wir Thule finden?“ sagte Ferris Tucker.
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„So kann man es nennen“, entgegnete Hasard. „Himmel, wenn doch Thorfin Njal mit dabei wäre“, sagte die Rote Korsarin. „Die Fahrt hätte ihn bestimmt begeistert. Seine Vorfahren sind doch schon auf Grönland gewesen, oder?“ „Ja, wenn auch nicht so hoch im Norden. Sie haben die Südküste besiedelt und der Insel ihren Namen gegeben“, erwiderte Hasard. „Sie müssen fabelhafte Seeleute und tollkühne Kerle gewesen sein, diese Nordmänner - bei den geringen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Schon vor siebenhundert Jahren haben sie Erstaunliches vollbracht.“ „Ja, das hast du uns erzählt“, sagte Dan O'Flynn. Was er über die Fahrten der Nordmänner und die erste Entdeckung der „Neuen Welt“ wußte, hatte Hasard teils von Thorfin Njal erfahren, teils den Erzählungen des Hendrik Laas entnommen, teils in Büchern gelesen. Schon 867 war der Wikinger Naddodr auf Island gewesen, und von dort aus hatte 982 Erik Rauda als erster Wikinger nach Grönland übergesetzt, wo die rauhen Männer genau wie auf Island eine Siedlung gegründet hatten. Erst 1367 hatten sie die riesige Insel dann fluchtartig wieder verlassen. Ihre Stämme waren durch Hungersnot und den „Schwarzen Tod“, die Pest, dezimiert worden. Vier Jahre nach Erik Raudas Entdeckung Grönlands hatte der Nordmann Björn Herjolfsson dann „zufällig“ die Neue Welt gesehen, ohne sich der Tatsache bewußt zu werden, daß er Berührung mit einem neuen Kontinent gehabt hatte. Leif Erikson, der Sohn Eriks des Roten von Grönland, hatte Herjolfssons Bericht gehört und daraufhin einen abenteuerlichen Plan gefaßt nämlich, weiter nach Süden zu segeln und sich zu vergewissern, ob das Land, auf das Herjolfsson seinen Fuß gesetzt hatte, nach Süden hin eine Fortsetzung hatte. 1003 war er mit seiner Mannschaft aufgebrochen, um „eine neue Welt“ zu finden, die er später als „Helluland“ bezeichnete. Dieses Land mußte mit
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Labrador und Neufundland identisch gewesen sein. Noch tiefer im Süden hatte Leif Eriksen eine fruchtbare Region entdeckt, die er „Markland“ taufte, dann schließlich jenes legendäre „Vinland“, dem er diesen Namen wegen des dort vorgefundenen wilden Weines verlieh. In ihren Lang- oder Drachenschiffen hatten die Wikinger diese Fahrten bis 1024 fortgesetzt. In ihren „Sagas“ waren die Geschichten über die außergewöhnlichen Entdeckungsreisen enthalten. Viel später, im Jahre 1497, war von Bristol aus ein Mann mit einem Schiff und achtzehn Mann Besatzung aufgebrochen, der nicht nur seinen großen Wagemut mit einem gewissen Kolumbus gemeinsam gehabt hatte. Wie Kolumbus hatte er aus Genua gestammt und war Bürger Venedigs gewesen, bevor er nach England gegangen war. John Cabot hatte dieser Mann geheißen, und er hatte mit seiner „Matthew“ von Bristol aus zwei Fahrten quer über den Atlantik unternommen. Sie waren nicht so gut überliefert wie die des Kolumbus, diese Reisen, aber anhand einer von einem gewissen Juan de la Cosa gezeichneten Karte war für die Nachwelt festgehalten worden: 1497 hatte John Cabot Neufundland entdeckt - und dafür hatte er von König Heinrich VII. die stolze Summe von zehn Pfund erhalten. 1498 hatte er sich weiter südlich gewandt und einen Fluß namens Delaware entdeckt. Cabots Sohn Sebastian, der der wichtigste Planer späterer Reisen zur Entdeckung der Nordwest-Passage werden sollte, schien auf einer Seereise im Jahre 1509 jene große Bucht erreicht zu haben, in der auch die Seewölfe und Siri-Tong gewesen waren. Aber Hasard hatte hierüber nirgends genaue Aufzeichnungen zu finden vermocht. Es gab nur die ebenso faszinierenden wie haarsträubenden Berichte, die in englischen Hafenkneipen wie Nathaniel Plymsons „Bloody Mary“ in Plymouth kursierten - aber aufgrund solcher Erzählungen konnte man keine präzise Navigation betreiben. So konnte Hasard nur vermuten, daß Sebastian Cabot
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sich in derselben Bucht befunden hatte wie er. Die Cabots hatten weder - wie beabsichtigt - einen Seeweg nach Cathay, also Asien, erschlossen noch Gold gefunden. Sie stießen aber dennoch auf eine Quelle großen Reichtums, nämlich auf die Kabeljaugründe auf der Neufundlandbank. Zwei portugiesische Entdecker, die Brüder Corte Real, waren dem Beispiel der Cabots gefolgt und hatten Grönland und Labrador praktisch „wiederentdeckt“. Nachdem der Reichtum der Kabeljaufischerei auf der Neufundlandbank vollends enthüllt worden war, wurde er auch ausgebeutet. Von jetzt an segelten in jedem Sommer viele Seeleute dorthin; um in diesem Gebiet, das sie „Bacalaos“ nannten - nach dem spanischen Wort Bacalao für Kabeljau -, zu fischen. Sie kamen aus Dartmouth, Lissabon, Harfleur, Dieppe und St. Malo, diese Fischer, und viele von ihnen waren durch das Ausschöpfen der enormen Fanggründe, durch unbeschadetes Segeln auf glücklich gewählten Kursen und durch günstigen Verkauf zu Wohlstand gelangt. Immer wieder befanden sich Männer mit höhergesteckten Zielen unter ihnen: 1524 beispielsweise war ein gewisser Giovanni de Verrazzano von Dieppe aufgebrochen und hatte im Norden des neuen Kontinents einen Küstenstreifen entdeckt, den er „Neuengland“ genannt hatte. Zehn Jahre später hatte Jacques Cartier aus St. Malo Neufundland erreicht und segelte im folgenden Jahr, also 1535, den großen St.Lorenz-Strom aufwärts über Hochelaga hinaus, bis er durch Stromschnellen aufgehalten wurde. Bei einer dritten Reise im Jahre 1541 kehrte Chartier während des Winters nach Hochelaga zurück, das später Montreal getauft wurde. Sebastian Cabot hatte 1551 die „Merchant Adventurers Company“ gegründet und war der führende Verfechter der Suche nach einer Passage vom Atlantik zur Südsee entweder von England aus nordöstlich um Skandinavien herum oder nordwestlich durch die Straße von Bacalaos. Zunächst hatte man die nordöstliche Richtung
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gewählt, da dies leichter erschien. Aber das sollte sich als ein tragischer Irrtum herausstellen: Alle Schiffskapitäne, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, auf diesem Kurs die Passage zum Stillen Ozean und nach China zu finden, scheiterten. Jetzt, zu Zeiten der königlichen „Lissy“, richteten sich die Anstrengungen der Seeleute, der Kaperfahrer und Entdecker, nach Nordwesten, geführt durch eine Abhandlung von Sir Humphrey Gilbert, die „Discourse of a Discoverie for a New Passage to Cataia“ hieß, also „Abhandlung über die Entdeckung einer neuen Passage nach Asien“. Die in diesem Zusammenhang wirklich bedeutende erste Reise unternahm 1576 Martin Frobisher - jener Admiral Sir Martin Frobisher, der in der Schlacht gegen die Armada Seite an Seite mit den Seewölfen gekämpft hatte. Er hatte die nach ihm. benannte Frobisher-Bai entdeckt und hielt sie zunächst für eine Meeresstraße. Auf seinen beiden weiteren Reisen schließlich hatte er bis 62 Grad nördlicher Breite nichts mehr gefunden nichts außer Kälte, Wasser, Eis und Schnee. John Davis aus Dartmouth nun, einer der besten Seeleute dieser Zeit, hatte die Suche nach der Nordwest-Passage fortgesetzt. Bei seinen drei Reisen von 1585 bis 1587 hatte er 72 Grad 12 Strich nördlicher Breite erreicht, bevor er wieder nach Süden abdrehen mußte. Sein Gönner William Sandersen erzählte aufgrund von Davis' Schilderungen, daß „die Passage höchst wahrscheinlich und einfach durchzuführen“ sei. Sollte nun ausgerechnet dieser Teufelskerl und Draufgänger Philip Hasard Killigrew mit seiner „Isabella VIII.“ den genauen Verlauf der Passage entdecken? Was war es denn, das ihn dazu prädestinierte? Doch wohl nicht der Kaperbrief, den er von Ihrer Majestät Elizabeth I. höchstpersönlich empfangen hatte? Nein, der ganz bestimmt nicht. Ein Kaperbrief behütete nicht vor den Unbilden und Tücken der Natur. Auch die „Isabella“ und ihre Crew waren hier ganz
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den Gesetzen des Zufalls unterworfen und somit unterschied sie nichts von den Cabots, den Frobishers und Davis', die mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Energie nach der Passage geforscht hatten. Nein, sie hatten ihnen nichts voraus, diese Seewölfe. Sie konnten scheitern wie ihre Vorgänger. Mehr noch, ihre Reisen konnten hier ihr Ende finden. Hier, im weißen Grab der Arktis. 3. Ed Carberry stieß plötzlich einen gleichsam urweltlichen Schrei aus, der alle zusammenfahren ließ. Der Kutscher, der mit dem Sand- und Aschestreuen auf dem Hauptdeck fertig war und gerade das Abendessen zubereitete, damit in Kürze zum Backen und Banken angetreten werden konnte, kriegte einen richtigen Schreck und verschüttete um ein Haar etwas von dem kostbaren Rum. Er hatte die Flasche schon entkorkt, um die Sonderration einzuteilen - da ertönte dieser entsetzliche Laut, und er kippte beinah etwas von dem scharfen, hochprozentigen Zeug in die Fleischsuppe, die im Kupferkessel brodelte. Der Kutscher balancierte mit der Flasche wie ein Akrobat, fluchte - was er eigentlich höchst selten tat - und schaffte es dann irgendwie, die Flasche in der Luft abzufangen und zu verhindern, daß aus der Fleischbrühe eine Rumbouillon wurde. Er korkte die Flasche schleunigst wieder zu, stellte sie zurück ins Schapp und eilte auf die Kuhl, um nachzusehen, was los war. Er stieß fast mit Matt Davies zusammen, der breitbeinig und an einem Manntau festgeklinkt dastand und zur Back hochsah. Der Kutscher wäre glatt ausgerutscht und höchst unsanft gestürzt, wenn da nicht der Sand und die Asche gewesen wären, die er verteilt hatte. „Paß doch auf, wo du hin trittst“, zischte Matt, ohne den Blick von der Back zu nehmen.
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„Tut mir leid, Matt“, sagte der Kutscher. „He, was geht hier denn eigentlich vor?“ „Weiß nicht“, erwiderte Matt, der Mann mit der Hakenhand. „Ich glaube, der Profos hat einen Anfall. Vielleicht hat er einen Kälteschlag oder so was Ähnliches erlitten. Gibt's so was?“ „Nein.“ „Na, dann eben nicht. Aber ich schätze, er ist von einem Dämonen besessen oder so. Sieh doch selbst!“ Der Kutscher wollte seinen Augen nicht trauen. Auf der Back führte genau in diesem Moment Carberry so etwas wie einen Veitstanz auf. Er schwenkte sein Spektiv und stieß wieder einen jener urigen Laute aus. „Sir!“ brüllte er. Hasard verließ wieder das Quarterdeck und schritt über die Kuhl auf das Vordeck zu, gefolgt von Siri-Tong, Shane, Ferris und den beiden O'Flynns, die den Profos in einer Mischung aus Amüsiertheit und Besorgnis musterten. „Ed, was ist denn in dich gefahren?“ rief der Seewolf. „Sir, Hasard, ich hab ihn gesehen. Da!“ „Um Himmels willen, Ed ...“ „Ein weißer Bär!“ jubelte Carberry. „Ein Eisbär, so groß wie ein Ochse! Da drüben! Sieh doch mal hin!“ Hasard kletterte zu ihm auf die Back, stellte sich dicht neben ihn und setzte das Spektiv an. Das Land war jetzt sehr nahe gerückt, und durch die Linsen des Fernrohrs wirkte es so, als stünde man schon auf seinem Ufer und schicke einen Rundblick durch das Hinterland. Wohin man auch schaute — überall war die weiße, unendlich wirkende Wüste. „Da ist nichts, Ed“, sagte der Seewolf. „Doch, doch“, stieß der Profos erregt hervor. „Also, ich schwöre es dir, da hat sich was bewegt. Ein weißer Riese von Bär! Ein Prachtexemplar. Nanoq — es gibt ihn also wirklich. Hendrik Laas, dieser alte Himmelhund, hat uns doch nicht angeschwindelt. Mann, was bin ich froh!“
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„Ed, ich wäre dir dankbar, wenn du mir mal genauer beschreiben könntest, an welcher Stelle der Eisbär aufgetaucht ist.“ „Warte.“ Carberry blickte nun auch wieder durch den Kieker. Hasard betrachtete ihn etwas beunruhigt von der Seite. Natürlich hatte der gute Ed noch alle fünf Sinne beieinander, da bestand gar kein Zweifel, aber war er vielleicht einer Täuschung, einem Trugbild aufgesessen? „Verdammt und zugenäht“, brummelte Carberry. „Ja, wo ist der Bruder denn bloß geblieben?“ Er ruckte mit dem Spektiv hin und her, aber dadurch konnte er den zottigen Meister Petz auch nicht herbeilocken. Siri-Tong war den Backbordniedergang zur Back hochgestiegen und rief ihnen zu: „Habe ich richtig gehört? Geht es um Nanoq, den Eisbär?“ „Ja“, erwiderte Hasard. „Ed glaubt ihn gesehen zu haben.“ „Ich bin da ganz sicher“, sagte der Profos. „Hölle, ich seh doch keine Gespenster.“ „Na, na“, meinte der alte O'Flynn. „Sei du bloß still und mach mich nicht noch konfus, ja?“ rief Carberry ihm zu. Ferris Tucker hatte sich halb umgewandt, blickte zum Großmars hoch und schrie: „Bill, he, Bill! Hast du an Land einen Eisbären gesichtet?“ „Nein.“ „Auch nichts Ähnliches? Irgendwelches Getier?“ „Nein, Mister Tucker.“ „Der Kerl ist blind“, sagte der Profos mit furchterregendem Unterton in der Stimme. „Er hat Schlick auf den Augen, sage ich. Heda, Dan O'Flynn, du mit deinen scharfen Augen, hilf mir mal, das Biest wieder zu finden.“ „Gern“, sagte Dan. Er hob seinen Kieker in Richtung auf die Eis- und Schneeküste und blickte aufmerksam hindurch. „Aber was nun, wenn Meister Petz sich hinter einen Schneehügel verzogen hat?“ „Wir müssen ihn trotzdem aufstöbern“, sagte Carberry bissig. „Edwin“, wandte sich die Rote Korsarin an ihn. „Finden Sie
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nicht auch, daß die ganze Sache langsam zu einer fixen Idee wird?“ „Mhm?“ „Ach, schon gut, Edwin.“ „Verzeihung, Madam“, sagte Carberry. „Aber ich glaube, da hat was im Schnee geruckelt. Ich ...“ „Da ist wirklich was“, bestätigte nun auch Dan O'Flynn. „Sir“, tönte Bills ziemlich helle Stimme aus dem Großmars. „In Ordnung“, sagte der Seewolf. „Ich sehe ihn jetzt.“ Und tatsächlich: Hinter einem Schneebuckel, keine zehn Yards vom Uferstreifen entfernt, hatte sich der Koloß erhoben. Er tappte auf etwas groteske Weise ein Stück auf seinen Hinterläufen dahin, verharrte, ließ sich dann auf alle viere nieder und trottete auf das Ufer zu. Sein Fell war schneeweiß und von einmaliger Schönheit. Das einzig Dunkle an ihm waren die Nase und die Augen. Irgendwie wirkte er in seiner ganzen Erscheinung putzig — Nanoq, der Eisbär. Das Tier blieb dicht am Wasser stehen und blickte neugierig zu den Männern an Bord des dreimastigen Schiffes. „Na, habe ich recht gehabt?“ fragte der Profos triumphierend. „Ich hatte mich wirklich nicht geirrt. Wenn der Profos was sagt, dann stimmt es auch.“ Er drehte sich um und brüllte zu Bill hinauf: „Nimm dir ein Beispiel daran, du geflecktes Rübenschwein!“ „Aye, Sir!“ „Edwin“, sagte die Rote Korsarin. „Bleiben wir bei der Gerechtigkeit, ja? Als Bill vorhin Land ausgerufen hat, war es auch wirklich Land. Bill hat seine Aufgabe als Ausguck vorschriftsmäßig versehen, das müssen Sie eingestehen, wenn Sie ein vorbildlicher Profos sein wollen.“ Carberry kratzte sich kurz am Kinn, was bedrohliche Geräusche hervorrief, dann brummte er etwas, das wie „Na schön, meinetwegen, stimmt schon“ klang. „Sir!“ rief der Kutscher von der Kuhl herauf. „Soll ich jetzt den heißen Rum austeilen?“
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„Hurra!“ schrie Jeff Bowie. „Ab zum Backen und Banken! Es gibt 'ne doppelte Extraration Rum. O Mann, was für eine feine Sache ist doch so eine Muck voll brühheißem Rum!“ „Oder soll ich erst die Fleischsuppe auffahren?“ erkundigte sich der Kutscher. „Kutscher, halt die Luke, du zweibeiniger Kombüsenhengst!“ herrschte Carberry ihn von der Back her an. „Was fällt dir eigentlich ein, dich so großkotzig aufzuspielen? Wir sehen zum erstenmal in unserem Leben einen richtigen Eisbär, und du Schnarchsack hast nichts weiter auf Lager, als von deiner dämlichen Suppe zu quatschen. Weißt du, was du mit deinem Kübel voll Brühe tun kannst?“ „Edwin“, sagte Siri-Tong zurechtweisend. „Ed, jetzt reicht's mir aber.“ Mehr äußerte Hasard nicht, aber Carberry preßte daraufhin sofort die Lippen zusammen und lief um eine Nuance dunkler im Gesicht an. Es war ihm augenscheinlich äußerst peinlich, von seinem Kapitän getadelt zu werden. „Deck!“ rief Bill, der Moses. „Wir haben an Steuerbord eine größere Bucht liegen, ich kann sie von hier oben ganz deutlich erkennen. Hinter der Landzunge, vor der wir uns jetzt befinden, beginnt die Zufahrt zu der Bucht.“ Hasard wandte sich um und betrachtete noch einmal den schwarzgefärbten Himmel und die anrückende Sturmwolkenbank. Die Distanzen schienen jetzt von Sekunde zu Sekunde zu schrumpfen. Der eisige Wind hatte zugenommen, höher warf sich die Dünung der See auf. Das Wasser war von grauer, erdiger Tönung. „Smoky!“ rief der Seewolf. „Die Wassertiefe ausloten! Wir laufen in die Bucht ein!“ „Aye, aye, Sir.“ Smoky ließ sich von Al Conroy die Lotleine geben und warf sie aus. Er stieg auf die Galionsplattform hinunter, kniete sich an Steuerbord hin und sang in regelmäßigen Abständen die Tiefe aus. Einunddreißig Faden, dreißig Faden...
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„Himmel, das ist mehr als genug“, sagte der Seewolf. Er drehte sich nach achtern um und rief Blacky, der Pete Ballie im Ruderhaus abgelöst hatte, zu: „Blacky, Ruder härter Steuerbord legen, wir gehen noch höher an den Wind und segeln um die Landzunge herum in die Bucht!“ „Aye, aye, Sir!“ Carberry hatte sich umgewandt und brachte sich dicht neben seinen Kapitän. „Sir“, sagte er verhalten. „Tut mir leid, daß ich mich - äh, so habe gehen lassen. Dieser Anblick hat mich einfach überwältigt.“ „Schon gut, Ed. Das war keine Disziplinlosigkeit. Ist schon in Ordnung.“ „Danke, Sir.“ Carberry atmete sichtlich und hörbar auf, schritt zur achternen Querbalustrade der Back und schrie der Crew zu: „Wollt ihr wohl traben, ihr triefäugigen Schnecken? Anbrassen, höher an den Wind und mit Kurs Südost 'rum um die Landzunge und 'rein in die Bucht - habt ihr nicht gehört? Mann, Stenmark, glotz nicht wie eine Kuh, die gerade ein Kalb kriegt. Bewegt euch, ihr tranigen Prielwürmer, hopphopp!“ So ging das in einem fort weiter. Hasard, Siri-Tong, Shane, Ferris und die O'Flynns grinsten sich zu. Der Kutscher seufzte, hob die Schultern, ließ sie wieder sinken und verschwand in der Kombüse, um den Rum zu wärmen und zu rationieren. * In der Bucht, die geräumig genug war, um vier oder fünf Schiffen von der Größenordnung der „Isabella“ Platz zu bieten, ließ Hasard die Segel aufgeien und den Anker werfen. Die Galeone lag nun einigermaßen geschützt da. Ihre Besatzung durfte dem aufziehenden Wetter mit einiger Gelassenheit entgegensehen. Carberry trat wieder an Hasard heran. „Sir“, begann er. „Ich will es wirklich nicht mit dem Gerede um den Bären übertreiben, aber ich finde, es ist sozusagen ein, äh historischer Moment, daß wir diesem Prachtexemplar begegnet sind.“
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„Findest du? Und was willst du damit konkret sagen?“ „Daß ich hiermit darum bitte, Nanoq jagen zu dürfen.“ „Ed, das Tier ist wieder verschwunden. Offensichtlich hat es sich an unserem Anblick satt gesehen.“ „Ich werde den Bruder wieder aufstöbern, Sir.“ „Gibt es sonst noch Gründe, auf die Jagd zu gehen?“ „Selbstverständlich, Sir. Wir könnten außer dem Nanoq ein paar Robben zur Strecke bringen“, antwortete Carberry. „Wir müssen Fleisch haben. Ich weiß ganz genau, wie es um die Reserven des Kutschers bestellt ist. Was wir erlegen können, das sollten wir so schnell wie möglich an Bord der ,Isabella` schaffen.“ „Das lasse ich als Argument natürlich gelten“, sagte Hasard. „Aber ich überlege mir, ob es sinnvoll ist, noch vor dem Hereinbrechen des Sturmes an Land zu gehen.“ „Danach könnten wir Nanoqs Spur ein für allemal verloren haben.“ „Aber das Risiko, vom Wetter überrascht zu werden, ist dann geringer“, gab Hasard zu bedenken. „Ich wäre durchaus bereit, allein an Land zu pullen und nach dem Bären zu suchen.“ „Das Jagdfieber hat dich wohl gepackt, was?“ „Ja, Sir, das gebe ich zu.“ „Ich lehne es ab, daß du allein zum Ufer pullst.“ „Ist das ein Befehl?“ „Ja, Profos.“ Ferris Tucker gab dem Profos unerwartet Schützenhilfe. „Wir könnten aber doch einen kleinen Trupp zusammenstellen, beispielsweise acht Mann, die gemeinsam landen und sich nach Meister Petz umschauen. Diese Gruppe könnte sich immer so nahe an der Bucht und ihrem Boot halten, daß sie bei Einsetzen des Sturmes sofort zur ,Isabella` zurückkehren könnte. Das Risiko, von dem du sprichst, wäre also relativ niedrig.“ „Nanoq hat es dir auch angetan, oder?“
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„Ehrlich gesagt, ja. Das ist ein Nanohuaq, ein großer Bär, aus dem man vier Paar Hosen schneidern kann“, sagte Ferris. „So.“ Der Wind nahm mehr und mehr zu und zerrte an den Gestalten der Männer. Hasard sah, daß seine Kameraden vor Kälte in sich zusammenkrochen. „So“, sagte er noch einmal. „Pelze müssen also her, wenn ich richtig verstanden habe. Also schön, versuchen wir, ein wenig Beute zu machen. Ed, Ferris, ihr begleitet mich natürlich bei unserem Abstecher an Land. Und wer meldet sich sonst noch freiwillig?“ Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, war der erste, der jetzt vortrat und den Arm hob. „Ich, Sir. Das Eisland gefällt mir nicht — ist mir nicht geheuer. Aber ich hab keine Ruhe, ehe ich nicht genau beguckt habe.“ „Und du brauchst auch ein wenig Bewegung, damit dir der Achtersteven nicht abfriert“, bemerkte Blacky. „Stimmt“, bestätigte Batuti grinsend. Er hatte immer noch Mühe, sein Zittern und das Klappern der Zähne zu unterdrücken. * Außer Hasard, Ferris Tucker, dem Profos und Batuti waren Blacky, Dan O'Flynn, Shane und Stenmark mit von der Partie, als sich etwas später das eine Beiboot von der Bordwand der „Isabella“ löste und zum Nordufer der Bucht hinüberglitt. Dort drüben, auf dem der Landzunge und der Buchteinfahrt gegenüberliegenden Uferbereich, hatten der Profos und einige andere den weißen Bären zum letztenmal gesehen. Hasard nahm den Punkt als Orientierungsmarke, obwohl er eigentlich wenig Hoffnung hatte, Nanoq auf Anhieb wieder zu finden. Der Bär, der durch das Spektiv so tollpatschig und unbekümmert gewirkt hatte, verfügte sicherlich über genug Hirnmasse, um sich von der ersten Meute Zweibeiner, die sich ihm an die Fersen heftete, nicht gleich überrumpeln zu lassen. Es war gut möglich, daß er vorher noch nie Menschen gesehen hatte —
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gleichwohl hatte er gewiß den nötigen Instinkt und jene Portion Mißtrauen, die in jedem Lebewesen tief verwurzelt saß. Es würde nicht leicht sein, ihn zu stellen. Hasard rief sich alles ins Gedächtnis, was er von Hendrik Laas über die Eisbärenjagd gehört hatte. Beispielsweise hatte es keinen Zweck, auf das Tier zu schießen, wenn es sich in ein Wasserloch im Eis rettete — es würde in jedem Fall untertauchen und nicht zurückkehren, auch nicht, wenn es todwund getroffen war. Am besten vermochte man einen Eisbären auf einem Schneehügel zu stellen, wo er sich in Höhlen und Mulden zu verstecken pflegte. Aber auch zu einem solchen Angriff brauchte man eigentlich die Hundeschlitten der Eskimos, um schnell genug am Tier zu sein, es einzukreisen und ihm keine Fluchtmöglichkeit mehr zu lassen. So gesehen hatten die Seewölfe trotz ihrer Musketen und Tromblons, des RadschloßDrehlings und des SchnapphahnRevolverstutzens, die sie von Bord ihres Schiffes mitgenommen hatten, ziemlich wenig Chancen, Nanoq zur Strecke zu bringen. Sie würden es kaum schaffen, sich auf den nötigen Abstand an ihn heranzupirschen. Trotzdem hatte Hasard sich entschlossen, auf die Jagd zu gehen. Wenn er wenigstens ein paar Robben oder Walrosse oder auch nur einige Polarfüchse und Schneehühner erwischte, war ihnen schon erheblich damit gedient. Der Proviant ging allmählich zur Neige, Carberry hatte keineswegs übertrieben. Das Trinkwasserproblem bestand wegen des vielen Schnees an Land, den sie zu Wasser auftauen konnten, praktisch nicht. Aber sie mußten darauf achten, genug Fleischvorräte an Bord zu haben, weil sie nicht wußten, wie weit sie die nächste Etappe des Törns führte und wie lange es dauerte, bis sie wieder Landberührung hatten. Die kräftige Fleischsuppe des Kutschers und den heißen Rum im Leib, landeten sie mit ihrer Jolle, sprangen an Land und zogen das Boot so weit auf das verharschte Schneeufer, daß es nicht mehr abtreiben
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konnte. Dann schulterten sie ihre Flinten und marschierten los. Ben Brighton, der während Hasards Abwesenheit das Kommando über die „Isabella“ übernommen hatte, Siri-Tong, Shane, Old O'Flynn und alle anderen, auch die Zwillinge Philip und Hasard, hatten sich am Schanzkleid der Galeone versammelt und blickten den Davonstapfenden nach. Bill beobachtete vom Großmars aus unablässig das Nordufer, vermochte den weißen Bären aber nicht wieder zu entdecken. „So ein Mist“, sagte er. Philip junior, dick in seine weiße Pelzkleidung vermummt wie sein Bruder, schürzte die Lippen. „Armer Bär“, murmelte er. „Er sah so brav aus. Brav und gutmütig.“' „Ich finde es eigentlich auch nicht richtig, daß Pa ihn abschießen will“, meinte Hasard junior. „Aber er ist nun mal der Kapitän und bestimmt, was gemacht wird.“ „He, ihr zwei Klugschnacker“, sagte Old Donegal Daniel O'Flynn, der sich neben Philip geschoben hatte. „Aber über eure Mützen, Jacken und Hosen aus Eisbärfell seid ihr doch ganz froh, oder? Ihr habt euch jedenfalls nicht gesträubt, das Zeug anzuziehen.“ „Das ist doch was anderes“, wandte Hasard ein. „Nein, ist es nicht. Der Eisbär, dem Hendrik Laas dieses Fell über die Ohren gezogen hat, mußte auch erst erlegt werden. Und noch was. So herzensgut, wie Nanoq eurer Meinung nach sein müßte, ist der Bursche gar nicht. Der kann fuchsteufelswild werden. Mit einem einzigen Tatzenhieb reißt er einem ausgewachsenen Mannsbild den Kopf vom Rumpf oder haut euch Würstchen zu Mus.“ „Donegal“, sagte Siri-Tong. „Nun fangen Sie doch nicht wieder mit diesen gräßlichen Schauergeschichten an.“ „Madam“, brummte der Alte. „Es ist die volle Wahrheit, und ich will nicht, daß die beiden Knaben hier den Bären unterschätzen. So was kann nämlich bösen Ärger geben, falls sie mal so einem Viech Auge in Auge gegenüberstehen.“
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„Vielleicht greift der Bär nur an, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt“, sagte Ben Brighton. Old O'Flynn verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Und vielleicht verschlingt er einen Zweibeiner, der ihm zufällig über den Weg läuft, so ganz nebenbei als Appetithappen. Kutscher, Bären sind doch Allesfresser, oder täusche ich mich?“ Der Kutscher lächelte ein wenig und erwiderte: „Nein, du täuschst dich nicht, Donegal.“ „Na bitte. Ich habe also recht mit dem, was ich sage.“ „Müssen wir den armen Bären denn auch essen, wenn Dad ihn erschießt?“ fragte Hasard junior. „Fragt den Kutscher“, sagte der Alte gallig. Offensichtlich hatten seine Hinweise die Zwillinge in keiner Weise beeindruckt. Sie hielten den Eisbären immer noch für einen ziemlich harmlosen, ulkigen Gesellen. „Also, von Bärensteaks habe ich noch nichts gehört“, erklärte der Kutscher. „Soweit ich mich entsinnen kann, berichtete auch Hendrik Laas darüber, daß die Eskimos den Bären nur seines Pelzes wegen jagen — und des Prestiges wegen.“ „Des was?“ Matt Davies fixierte den Kutscher mißtrauisch. „Des Ansehens wegen, das ein Mann genießt, wenn er Nanoq zur Strecke gebracht hat“, sagte der Kutscher. „Was ist wohl schlimmer — ein Kampf mit einem Wal oder mit einem Eisbär?“ wollte Luke Morgan wissen, der an das zurückliegende Abenteuer mit dem Giganten der See dachte. „Man kann beides nicht miteinander vergleichen“, sagte Ben Brighton. „Das sind doch zwei völlig unterschiedliche Arten der Jagd.“ „Ja“, sagte Old O'Flynn knurrig. „Und für einen Seemann ist es immer das Ratsamste, wenn er bei seinem Element, dem Wasser, bleibt. Sonst kann er böse Überraschungen erleben.“ Er wies zum leicht ansteigenden Land hinter dem nördlichen Ufer der Bucht. Dort war der Profos bis zu den Hüften im Schnee eingesunken.
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Der Seewolf hatte schon den Rand der Uferböschung erreicht und war stehen geblieben, um Ausschau nach dem Bären zu halten, da war es passiert: Der verharschte Schnee hatte unter Ed Carberry, der seinem Kapitän nachstrebte, plötzlich nachgegeben. Der Profos hatte das Gefühl, durch dünnes Eis in einen Schacht abzusacken, und unwillkürlich stieß er einen Laut des Entsetzens aus. Dann steckte er fest, hieb mit den Fäusten auf die Schneedecke und ließ ein paar mörderische Flüche los. Dan O'Flynn verhielt in seiner Nähe, betrachtete ihn interessiert und grinste in gleichsam diebischer Freude. „Hilf mir hier 'raus, Dan, du Himmelhund?“ stieß der Profos hervor. „Na los, nun beweg dich schon, ich komme allein schlecht wieder frei.“ „Erinnerst du dich noch daran, wie ich auf dem Deck der ,Ulysses` ausgerutscht bin, Ed?“ fragte Dan gelassen. „Mann, das liegt doch schon Wochen zurück.“ „Ja?“ „Und das ist längst vergessen.“ „Wirklich?“ Dan spielte auf die Begebenheit an Labradors rauher Küste an. Dort hatten sie zuerst die Flaschenpost von Cyril Auger und später das Wrack der ZweimastKaravelle „Ulysses“ gefunden - und Carberry hatte Dan auf dem spiegelglatt gefrorenen Oberdeck ausgleiten lassen, um ihm eins auszuwischen. Carberry kämpfte sich frei, kroch aus dem Schneeloch, stapfte wütend auf Dan zu und drohte dabei wieder einzusinken. „O'Flynn, du Rübenschwein“, Wetterte er. „Bilde dir bloß nicht ein, daß du dir diese Frechheiten ungestraft erlauben kannst. Ich werde dich ...“ Abrupt blieb er stehen. Ferris Tucker, Batuti, Blacky, Big Old Shane und Stenmark waren inzwischen aufgerückt, schlugen einen Bogen um den Profos, um nicht auch einzusacken, und
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verfolgten amüsiert das Mienenspiel des Narbenmannes. „Augenblick mal“, sagte der Profos zu Dan. „Wieso krachst du eigentlich nicht auch durch die Schneedecke?“ „Das ist eine Frage des Körpergewichts“, erwiderte Dan mit hochgezogenen Augenbrauen. Er konnte wirklich sehr arrogant aussehen, wenn er wollte. „Wenn man soviel wiegt wie ein Ochse, muß man sich eben mühsam durch den vielen Schnee schaufeln, während andere, leichtere Leute, gemütlich darüber hinwegspazieren.“ „O'Flynn“, erklärte Carberry. „Ich hab's schon immer gesagt. Du bist der Sohn einer verwanzten alten Hafenhure, jawohl, das bist du.“ „He, ihr da unten!“ ließ sich jetzt der Seewolf vernehmen. „Wollt ihr wohl still sein? Wenn ihr weiter so brüllt, verscheucht ihr sämtliche Tiere im Umkreis von zehn Meilen. Ed, wolltest du dich nicht an meiner Seite halten, damit du den ersten Schuß auf den Eisbären abgeben kannst?“ „Ja, Sir.“ „Dann los.“ Carberry stieg mit etwas schwerfälligem, leicht wiegendem Gang die Böschung hinauf und verharrte neben seinem Kapitän. Plötzlich grinste er. Shane war jetzt auch eingebrochen und arbeitete sich leise schimpfend aus dem Schneeloch hervor. „Das Beste wäre gewesen, wenn wir uns Schneeschuhe gebastelt hätten“, meinte Ferris Tucker. „Damit kommt man problemlos voran. Aber dazu war ja keine Zeit.“ „Wir werden solche Schuhe herstellen, wenn wir wieder an Bord der ,Isabella` sind“, sagte der Seewolf. Er blickte über die Schulter zurück und sah, wie sich die grauen und schwarzen Wolkenformationen über der Landzunge auftürmten, wie sie sich anschickten, die Sonne zu verdecken, die hier, am Nordufer, noch die Schneedecke blendendweiß glitzern ließ. Der Wind
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heulte über die Bucht und trieb Hasard Tränen in die Augen. „Wir müssen zusehen, daß wir unseren Abstecher so schnell wie möglich zum Abschluß bringen!“ rief er gegen das zunehmende Pfeifen und Orgeln des Windes an. „Ed, ich habe den Bären nicht sichten können. Aber gehen wir bis zu der Eisbarriere dort drüben und werfen wir einen Blick dahinter, vielleicht haben wir dort Glück. Dan, komm mit nach vorn und halte die Augen offen.“ „In Ordnung.“ Hasard, Carberry und der junge O'Flynn schritten also dem kleinen Trupp voran, der sich jetzt nach Nordwesten wandte und die Distanz von schätzungsweise vierzig, fünfzig Yards zwischen der Böschung und der Eisbarriere überbrückte. Die Wolken versperrten den Sonnenstrahlen nun vollends den Weg zur Erdoberfläche. Ein pechschwarzer Schatten glitt von Südwesten her über die Landzunge und die Bucht, eilte über das Nordufer und holte die Gestalten der acht Männer ein. Die Barriere aus Eis, die eben noch im Sonnenlicht geschimmert hatte, verwandelte sich in ein düsteres, drohendes Gebilde, das mit einemmal aus Granit gehauen zu sein schien. Der Wind fegte übers Land und zerrte und rüttelte an den Männern. Hasard war mehr denn je davon überzeugt, daß ihr Unternehmen ein Schlag ins Wasser war, aber bevor er den Streifzug ganz erfolglos abbrach, wollte er wenigstens noch den Versuch unternehmen, hinter der Barriere ein Tier zu erlegen. Wenn es denn auch nicht Nanoq war, vielleicht hatten sie wenigstens ein kleines bißchen Glück und kehrten nicht ganz mit leeren Händen an Bord zurück. Carberry schritt vorsichtig dahin, um nicht wieder einzusinken, war aber doch immer noch schnell genug, um als erster an der Barriere zu sein. Er klomm geschickt darüber weg, gewandter, als es ihm jemand, der ihn nicht kannte, zutrauen mochte - und dann stand er auch schon drüben, auf der anderen Seite, ließ sich den
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Wind ums Haupt pfeifen und hielt angestrengt Umschau. Hasard und Dan kletterten über die Barriere. Ferris Tucker und die vier anderen waren dicht hinter ihnen. Schneeflocken begannen in der Luft zu tanzen. Sie wirbelten über das Ufer Grönlands, immer rascher, immer größer, immer dichter. „Ed!“ rief der Seewolf. „Hier, Sir“, ertönte Carberrys mächtiges Organ, aber seine Gestalt konnte Hasard in dem zunehmenden Gestöber kaum noch erkennen. „Wir sollten doch lieber umkehren...“ „Sir“, stieß der Profos plötzlich gepreßt hervor. „Ich hab ihn wieder im Blickfeld Nanoq ...“ „Wo ist er?“ zischte Hasard. „Auf höchstens zehn Yards Entfernung direkt vor mir“, sagte der Profos. „Ja, ich sehe ihn jetzt auch“, sagte Dan. Hasard rutschte den Hang der Barriere hinunter und stand neben Carberry. Dan war bei ihnen, Ferris, Batuti, Blacky, Shane und Stenmark drängten nach. Ja, jetzt sah auch Hasard den weißen Bären. Nanoq war ein Gigant im treibenden Schnee, eine kompakt gebaute Kreatur aus Muskeln und herrlichem Pelz, deren Konturen zu verschwimmen drohten. Noch schien er die Männer nicht entdeckt zu haben. Hasard gab seinen Begleitern ein Zeichen, kein Wort mehr zu reden. Der Wind aus Südwesten trug dem Eisbären ihre Laute zu. Sie mussten sich von jetzt an mucksmäuschenstill verhalten, wenn sie sich an ihn heranpirschen wollten. Gewiß, der Wind mit seinem Heulen deckte manches Geräusch zu, aber Hasard war davon überzeugt, daß Nanoq über ein ausgezeichnetes Gehör verfügte. Durch ein paar Gesten gab Hasard seinen Männern zu verstehen, daß sie sich in zwei Gruppen teilen sollten. Die eine - Carberry, Ferris, Batuti und Blacky - schlug einen Bogen nach Westen und schlich sich von dort aus an den weißen Gesellen heran. Die zweite - Hasard, Dan, Shane und Stenmark
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- entfernte sich in östlicher Richtung, um Nanoq von dort aus anzugehen. So trennten sie sich. Nach wenigen Augenblicken konnten sich die beiden Vierergruppen im Schneegestöber schon nicht mehr sehen. Von nun an mußte der eine vom anderen eher ahnen, wo er sich befand, und das bedeutete, daß jede Gruppe höllisch aufpassen mußte, bei einem Schuß auf Nanoq nicht die Kameraden zu treffen. Carberry, der Führer des Westtrupps, bedeutete seinen Begleitern durch Gebärden, wie sie schießen sollten: Nach Süden, zur Bucht hin. Er war sicher, daß Hasard und seine Gefährten sich genauso verhielten, denn dies war eine Taktik, die sie schon oft erfolgreich angewandt hatten. Plötzlich war Nanoq nicht mehr zu sehen. Aber im Sturm und Schneetreiben war unvermittelt sein tiefes Grollen zu vernehmen. Es klang ungemein aggressiv und konnte selbst einem hartgesottenen, kampferprobten Mann durch Mark und Bein fahren. Es schien direkt aus dem Schlund der Hölle zu ertönen. * Hasard fühlte sich jäh an eine Jagdszene erinnert, die schon Jahre zurücklag, jedoch immer noch in seinem Geist lebendig war. Der Tiger von Malakka - auch sein Grollen war der Kampflaut eines verbitterten Einzelgängers gewesen, Ausdruck eines Wesens, das vor nichts zurückschreckte, auch nicht vor der größten Waffe. Daraus hatte die Panik gerührt, die Bulbas, der Maneater, um sich verbreitet hatte. Aber tat er Nanoq nicht unrecht? Ein verbitterter Einzelgänger, der Menschen schlug - war er das wirklich? Ein Einzelgänger sicherlich, das lag in der Art dieser Tiere. Aber seine Feindseligkeit mochte lediglich das Zeichen seiner instinktiven Abwehr sein, so unheimlich das Grollen auch geklungen hatte. Er hatte sie gewittert, soviel stand fest. Hasard pirschte im Bogen um ihn herum oder besser, um den Platz herum, an dem sie ihn beobachtet hatten. Dan, Shane und
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Stenmark waren hinter ihm. Sie hatten die Waffen gezückt und die Hähne gespannt und hielten ihre Musketen im Anschlag, bereit, den Fangschuß abzugeben. Hasard hielt den sechsschüssigen Radschloß-Drehling, eine der Waffen, die sie seinerzeit von den Diebesinseln mitgebracht hatten. Carberry hatte den Schnapphahn-Revolverstutzen, der ebenfalls mit einer sechsschüssigen Trommel ausgestattet war. Sollten sie also wirklich nahe genug an Meister Petz herankommen, dann sollte die Jagd nicht an mangelnder Schußbereitschaft scheitern. Ein, zwei Fehlschüsse konnten sie sich allemal erlauben. Aber dazu mußten sie erst einmal Tuchfühlung mit dem Riesen haben. Wo steckte er? Hasard war sicher, den Platz jetzt erreicht zu haben. Der Schnee brauste wie wild über das ungastliche, Menschen abweisende Land. Aus dem Gestöber drohte ein Schneesturm zu werden. Von Nanoq waren nur noch die eindrucksvoll großen Spuren im Harsch zu erkennen, sonst nichts. Die Schneeflocken deckten die Fährte zu. Hasard folgte geduckt dem Verlauf der Fährte. Nanoq hatte sich nach Norden gewandt. Fort von der bedrohlichen Witterung, die er aufgenommen hatte. fort von den gefährlichen Zweibeinern, deren Nähe er ahnte. Nur in nördlicher Richtung konnte er fliehen, nach Westen und Süden hätten sie ihn bis ans Wasser gedrängt, und wenn er auch schwimmen konnte - sie hätten ihn vom Ufer aus noch treffen können. Im Osten mochten sich Eisbarrieren oder gar Gebirgsformationen erheben, die ihm zur Falle werden konnten - blieb nur der Norden, eine offene Schnee- und Eiswüste, in der er schnell vorankam und die Verfolger abhängte. Nein, dumm war er keineswegs, dieser Nanoq oder Nanohuaq. Aber seine Fährte entfernte sich mit leicht westlichem Drall, wie der Seewolf jetzt registrierte, und im Westen befanden sich Carberry, Ferris Tucker, Batuti und
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Blacky. Sie konnten dem Bären immer noch ein Schnippchen schlagen. Hasard hörte einen Schuß. Das peitschende Geräusch wurde vom Wind fortgetragen. Gleich darauf ertönte eine Stimme: „Wir .haben ihn!“ Es war der Profos, der da rief. Hasard drehte sich zu seinen drei Kameraden um und schrie: „Los, laufen wir, Ed scheint ihn erwischt zu haben. Beeilt euch, schneller, schneller!“ * Carberry hatte seine Marschrichtung so angelegt, daß er von Nordwesten auf Nanoq hätte stoßen müssen und somit in südlicher Richtung hätte feuern können wenn der Bär stocksteif an dem Platz verharrt hätte, an dem sie ihn vorher gesichtet hatten. Nur, wie schon erwähnt, ganz so einfältig war der Eisbär nicht. So geschah es, daß Carberry die große, ungeschlachte Tiergestalt nicht südöstlich, sondern nordöstlich von sich urplötzlich aus dem dicken Schneegestöber auftauchen sah. Nanoq lief auf seinen Hinterläufen und hatte die vorderen Tatzen drohend hochgerissen. Er stieß nur ein verhaltenes Grollen aus, das im Sturmtosen kaum zu vernehmen war, aber in seiner Haltung lag alle tödliche Gefahr dieser Welt. Ein Tatzenhieb genügte, um einem Mann wie dem Profos den Garaus zu bereiten. Carberry fand gerade noch die Zeit, den Kolben des Schnapphahn-Revolverstutzens an seine rechte Schulter zu reißen. Er zielte nur flüchtig und hatte nur noch Sekunden zur Verfügung, die ihn vom sicheren Tod trennten. Das Ungetüm wuchs wie ein Gigant aus der Schneewelt hervor, höchstens zwei Yards lagen noch zwischen ihnen - da krümmte Carberry den Zeigefinger um den Abzug der Waffe, deren Hahn er klugerweise schon vorher gespannt hatte. Der Schuß brach krachend — und Nanoq stand plötzlich still. Carberry spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.
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„Wir haben ihn!“ schrie er. Ohne den weißen Bären aus dem Auge zu lassen, transportierte er die Trommel des Stutzens eine Kammer weiter, öffnete den Schieber und spannte von neuem den Hahn. Hinter ihm rückten der rothaarige Schiffszimmermann der „Isabella“, der Gambia-Mann und Blacky mit vorgestreckten Musketen an. Nanoq taumelte ein wenig, dann ließ er sich auf seine Vorderläufe sinken, wandte sich von Carberry ab und lief nach Norden davon. Carberry wollte von neuem auf ihn schießen. Er hatte nicht feststellen können, wo er den Koloß verwundet hatte. Aber Nanoq war bereits im Schneetreiben verschwunden. Carberry stürzte ihm nach. Er sank ein und fiel fast auf den Bauch, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig fangen und wieder aus dem Schneeloch herausrappeln. Ferris Tucker war keine fünf Yards hinter dem Profos, dann folgte Batuti, der zusätzlich zu seiner Muskete noch Pfeil und Bogen mitgebracht hatte. Blacky war etwas zurückgeblieben, weil auch er im Harsch eingebrochen war und sich nur mühsam wieder hatte freikämpfen können. Von weiter rechts ertönten Schreie: „Ed! Ed! Mein Gott, wo steckt ihr denn?“ „Hier!“ brüllte Carberry aus Leibeskräften. Normalerweise hätte das genügt, sein Stentororgan auch den auf der „Isabella“ zurückgebliebenen Männern und der Roten Korsarin in den Ohren dröhnen zu lassen — aber jetzt fauchte der Sturm, der sich mit bedenklicher Schnelle zu einem handfesten Blizzard entwickelte, gegen seine Stimme an. Fast übertönte er sie. „Hierher!“ brüllte der Profos. „Ich bin ihm auf den Fersen. Er versucht zu türmen! Aber ich erwische ihn noch!“ Er hetzte voran, seine Stiefel rissen den Harsch auf und ließen ihn fetzenweise fliegen. Er rannte im verwirrend tanzenden, alles zudeckenden Neuschnee, hatte keine genaue Orientierung mehr und vermochte auch die Fährte des Bären nicht
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zu erkennen, aber dann sah er Nanoq plötzlich doch wieder vor sich. Im eiligen Paßgang strebte der Bär voran. Er stieß kleine, klagende Laute aus, wie Carberry jetzt hörte, und doch, er konnte nicht sehr schwer verletzt sein, wenn er immer noch so gut laufen konnte. Carberry hob wieder den SchnapphahnRevolverstutzen und drückte den Kolben fest gegen die Schulter. Er wollte feuern, brach unversehens aber wieder mit dem linken Fuß ein, verlor das Gleichgewicht und drohte sich zu überschlagen. Der Lauf des Stutzens bohrte sich in den harten Schnee. Carberry tobte, aber alles Fluchen nutzte ihm nichts. Er konnte sich nur wieder erheben und versuchen, den Vorsprung, den Nanoq jetzt von neuem errungen hatte, noch einmal einzuholen. Das Aufstehen fiel ihm diesmal besonders schwer, denn jedesmal, wenn er den rechten Fuß vorstreckte und auf die krustige Schneedecke setzte, sank er erneut ein. „Verdammte Sauerei!“ schrie er, und das mußte nun doch geholfen haben, denn Ferris Tucker und Batuti waren heran und hievten ihn aus dem Schneeloch. Weiter ging die Hatz. Das Jagdfieber hatte sie völlig gepackt. Sie wollten Nanoq den Fangschuß aufbrennen. Aber abgesehen von dem weidmännischen Eifer hielt Carberry es auch für seine „verfluchte Pflicht“, das wunde Tier ganz zur Strecke zu bringen. Es war weder waidmännisch noch besonders fair, den Bären unter seiner Blessur leiden zu lassen. Doch Nanoq ließ sich nicht wieder blicken. Carberry, Ferris Tucker und der GambiaMann taumelten durch den Sturm und hielten vergebens nach allen Seiten Ausschau. Nanoq schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Oder in Schnee. Oder in Eis. Carberry blieb stehen. In seinem harten Gesicht arbeitete es, die Kiefer schienen etwas zermalen zu wollen. „Also schön“, sagte er schließlich. „Eins zu null für ihn. Gut gemacht, Mister Petz. Hut ab vor so viel Gewitztheit.“ Er wandte sich zu Ferris und Batuti um und konnte
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sie in dem Wirbeln der Schneeflocken kaum noch erkennen. Der jaulende Sturmwind drohte ihn umzuwerfen. „He!“ schrie er. „Wo steckt Blacky?“ „Ist zurückgeblieben“, gab Ferris zurück. „Und die anderen?“ „Sie scheinen den Kontakt zu uns verloren zu haben.“ „Sir!“ brüllte Carberry gegen die Urgewalten an, die sich mehr und mehr entfesselten. ;,Hallo! Wo seid ihr?“ „Hier!“ war die Stimme Hasards irgendwo zu vernehmen – irgendwo in dem weißen Inferno. „Wir kommen!“ schrie Carberry. „Wir müssen zurück zum Boot!“ rief Hasard. „Alle Mann zur Jolle! Wir pullen zur ,Isabella` zurück!“ „Aye, Sir!“ riefen die drei gleichzeitig. Wenige Augenblicke später fiel der Blizzard in seiner vollen Wut und Gnadenlosigkeit über sie her. 5. Blacky erschien plötzlich wie ein Geist neben Hasard. Beinah rempelten sie sich an, und wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätten sie wahrscheinlich darüber gelacht. So aber winkten sie sich nur zu, verharrten einen Moment nebeneinander und warteten schweigend auf Carberry, Ferris Tucker und Batuti. „Ed!“ schrie Hasard dann noch einmal. „Hier, Sir!“ „Himmel, beeil dich! Ferris und Batuti sind doch bei dir, oder?“ „Natürlich. Lauft ihr schon vor, wir richten uns nach dem Klang eurer Stimmen und finden das Boot!“ brüllte der Profos. „Wir waren nicht weit auseinander!“ rief nun Blacky seinem Kapitän ins Ohr. „Die drei müssen gleich auftauchen.“ „Gut, dann kehren wir jetzt um“, sagte Hasard. Er lief mit Blacky zu Dan O'Flynn, Shane und Stenmark, die in ihren schneebedeckten Monturen wie Wesen von einer fremden Welt aussahen. Dann hasteten sie gemeinsam zu der Eisbarriere, um über sie hinwegzusteigen und sich zur
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Jolle am Ufer der Bucht zurück zu begeben. Der Blizzard schien sich auf sie zu stürzen und sie niederzwingen zu wollen, als sie die Barriere hinter sich gebracht hatten. Ungefähr auf halbem Weg von der Eismauer bis zum Boot packte er sie, warf sie zu Boden und hieb ihnen die riesigen Schneeflocken wie Eisstücke ins Gesicht. Hasard richtete sich unter erheblichen Anstrengungen wieder auf, ruderte mit den Armen, um im Sturm die Balance zu halten, und blickte sich nach den Männern um. Blacky, Dan, Shane und der Schwede krochen von der Seite her auf ihn zu. „Wir müssen es schaffen!“ brüllte er sie an. „Los, hoch mit euch! Verdammt, wir werden diese paar Yards doch wohl noch hinter uns bringen!“ Das Tosen des Blizzards wischte seine letzten Worte davon wie den Neuschnee, den er in rasendem Tempo weiter landeinwärts trug. Hasard taumelte gegen den Wind an, packte Blacky, der sich jetzt gleichfalls wieder aufgerappelt hatte, am Arm und zog ihn mit sich fort. Blacky klammerte sich seinerseits an Dan fest, der nach Shanes Arm fingerte. Stenmark folgte dem Beispiel der Kameraden und hielt sich an Big Old Shane fest. Es sah grotesk, fast albern aus, wie sie so durch das Wüten des Blizzards stolperten, aber sie wußten, daß dies die einzige Möglichkeit war, sich nicht aus den Augen zu verlieren und eine einigermaßen standhafte Front gegen den Sturm zu bilden. Endlich erreichten sie die Jolle. Hasard sah durch das Wabern und Wirbeln der weißen Flocken, daß sich am Nordufer der Bucht Eisschollen: ineinander geschoben hatten. Der Wind hatte sie bis hierher gepreßt. Sie rieben sich knirschend und knackend aneinander — und schnitten den Weg zur „Isabella“ ab. Aber es wäre ohnehin nicht möglich gewesen, zum Schiff zurückzukehren. Zu bewegt war das Wasser in der Bucht jetzt, zu schlecht die Sicht. Die „Isabella“ war schon nicht mehr zu erkennen. Hasard und
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seine Männer hätten riskiert, mit der Jolle zu kentern, falls sie sie überhaupt über die Eisschollen zum Wasser gebracht hätten, oder .in eine völlig falsche Richtung zu pullen. „Kippt die Jolle um“, befahl er deshalb seinen Männern. „Wir kriechen darunter in Deckung und warten, bis das Schlimmste vorbei ist.“ Er packte selbst mit an, und mit i vereinten Kräften richteten sie das Boot in Windrichtung auf. Der Blizzard entriß es fast ihren Händen. Es fiel aufs Dollbord und hätte um ein Haar Dan O'Flynns rechtes Bein erwischt. Bei der Wucht, die in der Bewegung saß, hätte die Jolle Dan das Bein glatt brechen können. „Verdammt und zugenäht“, wetterte Dan. „So ein Mist aber auch!“ „Komm schon!“ rief Hasard ihm zu. „Duck dich und hilf uns.“ Blacky, Shane, Stenmark und er hatten sich hingekauert und damit begonnen, Schnee unter die Backbordseite der Jolle so zu schichten, daß ein Schlupfloch freiblieb, durch das sie einzeln robben konnten, um ins Innere des Notunterschlupfes zu gelangen. Etwas später rückten sie unter den Duchten der Jolle zusammen und schaufelten unter ihren Leibern harten Schnee hervor, der die Finger vor Kälte fast schmerzen ließ. Sie warfen ihn ins Freie und vergrößerten auf diese Weise ihre Höhle. „Himmel, wo bleiben bloß Ed, Ferris und Batuti?“ fragte Hasard. Draußen orgelte der Blizzard in seiner ganzen Macht über die Bucht weg. Hasard wurde das beklemmende Gefühl nicht los, daß dem Profos und dessen beiden Gefährten etwas zugestoßen war. Er richtete sich auf, so weit es ging, und tastete den Bootsraum ab. Schließlich hatte er gefunden, was er suchte: eins der Taue, die in beiden Beibooten der „Isabella“ ständig mitgeführt wurden. Es war länger als die Festmacherleine und maß fast eine halbe Kabellänge. Das eine Ende dieses Taus wickelte er sich um die Taille, knotete es sorgsam fest, prüfte den Sitz und sagte dann zu den Kameraden: „Hört
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zu, ich will 'raus und sehen, was mit Ed und den anderen beiden ist. Wenn ich einmal an dem Tau rucke, heißt das, daß ich sie gefunden habe. Ziehe ich zweimal, brauche ich Hilfe. Dreimal bedeutet: Ihr müßt an dem Tampen ziehen, um mir dabei zu helfen, zurück zur Jolle zu finden.“ „Ich komme mit“, sagte Big Old Shane. „Auf keinen Fall.“ „Sir“, sagte Stenmark dumpf. „Du kannst uns nicht verwehren, dir behilflich zu sein.“ „Ich verbiete es euch. Das ist ein Befehl.“ „Aye, Sir“, murmelten sie, während er aus dem Schlupfloch kroch und sich wieder hinaus in das Toben und Zürnen des Wetters wagte. Er richtete sich auf und marschierte mit dem heulenden Wind im Rücken in die Richtung, aus der sie soeben gekommen waren. Er überlegte jetzt auch, wie er Ben Brighton und den anderen auf der „Isabella“ wohl ein Zeichen geben könne, daß er mit dem Gros seiner Männer das Beiboot erreicht hatte. Es war unmöglich. Ben hatte bestimmt den Großmars räumen lassen, doch selbst wenn Bill, der Moses, noch auf seinem Posten gewesen wäre, hätte er in dem dichten Treiben weder den Seewolf noch die Jolle noch sonst irgend etwas am Nordufer der Bucht zu erkennen vermocht — geschweige denn ein Handzeichen. Rufen lohnte sich auch nicht, denn die „Isabella“ lag zu weit entfernt. In dem Orgeln des Schneesturms wäre selbst Carberrys Gebrüll bis dorthin nie und nimmer zu vernehmen gewesen. Carberry, Ferris und Batuti — was war ihnen passiert? Hasard stapfte durch den Schnee. Die weiße Schicht stieg höher und höher. Einmal brach er fast bis zu den Schultern ein, arbeitete sich wieder heraus, sank wieder ein und wurde von den weichen Massen, die der Wind in Sekundenschnelle auftürmte, beinahe begraben. Hasard hatte Mühe, sich aus eigener Kraft zu befreien. Er biß die Zähne zusammen, kämpfte mit Händen und Füßen und kam endlich
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wieder voran. Bis zur Hüfte reichte ihm der Neuschnee jetzt, er watete hindurch wie durch den tückischen Morast eines Sumpfes. Das Tau war hinter ihm in der weißen Last verschwunden. Hasard sah Schnee, nichts als Schnee rund um sich herum und mußte jetzt befürchten, die Orientierung zu verlieren. Mit einemmal wurde ihm klar, was Carberry, Ferris Tucker und den GambiaMann daran gehindert hatte, bei dem Rückzug zum Boot zu ihm zu stoßen. Ja, nur das konnte es gewesen sein — und er, Hasard, konnte sich eines massiven Selbstvorwurfes nicht enthalten. „Ed!“ schrie er. „Ferris! Batuti!“ Sie antworteten nicht. Hasard wankte weiter. Er trug schwere Stiefel, dicke Hosen aus Büffelleder, eine fellgefütterte Jacke und eine Mütze, die er sich auf dem Kopf festgebunden hatte, aber der eisige Wind schien diese Kleidung aufzuschlitzen und ihm unter die Haut zu fahren. Er fror erbärmlich. Er spürte Verzweiflung in sich aufsteigen — und der Blizzard verhöhnte ihn mit seinem teuflischen Lied. * Siri-Tong hatte die Zwillinge beim Einsetzen des Blizzards in eine Kammer des Achterkastells hinunterbegleitet. Philip und Hasard junior hatten sich zwar zunächst gesträubt, aber als Ben Brighton ihnen den Befehl erteilt hatte, das Oberdeck schleunigst zu räumen, hatten sie natürlich gehorchen müssen. So leisteten sie Sir John, dem Aracanga, und Arwenack, dem frierenden Bordschimpansen, in der Kammer des Achterdecks Gesellschaft und schimpften und zitterten mit ihnen um die Wette. Ja, nicht einmal die weiße Pelzkleidung schien jetzt, da der Wind so schneidend und erbarmungslos durch sämtliche Ritzen in der Außenhaut der „Isabella“ fuhr, auszureichen. Oder war es die Angst, die auch die beiden Jungen nun so beben ließ? „Ich hab keine Angst“, sagte Philip.
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„Ich auch nicht“, beeilte sich Hasard zu sagen. „Aber es ist arschkalt geworden, wie der Profos sagt ...“ „Kann der Kutscher denn nicht seine Feuer anheizen?“ „Geht nicht!“ rief Philip. „Schwankt zu doll!“ „Wo Dad bloß steckt ...“ „Der wird sich schon in Sicherheit gebracht haben“, meinte Philip zuversichtlich. „Und wenn er an Bord zurückkehrt, bringt er den toten Bären mit, verlaß dich drauf!“ Siri-Tong war weitaus weniger optimistisch, was das Schicksal des Seewolfs und der anderen Männer an Land betraf. Sie eilte in diesem Moment durch den Mittelgang des Achterdecks nach vorn, stieg den Niedergang hoch, öffnete das Schott — und hörte Ben Brighton rufen: „Los, fiert das zweite Beiboot ab! Nein, wir können nicht tatenlos hier 'rumhocken, während Hasard und den anderen wer weiß was passiert. Lieber nehme ich ein Bad in dem Eiswasser der Bucht, als daß ...“ Den Rest seiner Worte nahm der Sturmwind mit. Siri-Tong kletterte ins Freie. Der Blizzard riß ihr das Schott aus der Hand und knallte es gegen die Querwand des Achterkastells. Sie packte wieder den Eisengriff, rammte das Schott zu und klinkte sich dann schleunigst mit ihrem Gürtelhaken an dem nächsten Manntau fest. Sie arbeitete sich zu Ben Brighton vor und rief ihm zu: „Ben, ich pulle mit an Land!“ „Madam, das ist unmöglich“, erklärte Ben. „Ben, Sie dürfen es mir nicht verbieten!“ „Sie wissen, daß ich das Kommando übernommen habe.“ „Natürlich, aber in meiner Sorge um den Seewolf ...“ „Madam — wir sorgen uns genauso wie Sie!“ „… würde ich mich auch über Ihre Befehle hinwegsetzen, Ben“, schrie sie. „Sie würden ...“ „Sie wollen mich doch wohl nicht zur Meuterei zwingen, Mister Brighton!“
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Bens Züge verhärteten sich, seine Haltung wurde steif. „Madam, das gibt noch Ärger, ich schwöre es Ihnen. Hasard hat mir ausdrücklich aufgetragen, auf Sie und die Kinder besonders achtzugeben.“ „Sie vergessen, wer ich bin, Ben Brighton!“ „Sie bestehen also darauf, uns zu begleiten?“ „Ja!“ „Auf Ihre eigene Verantwortung!“ schrie er. „Und der Seewolf wird uns beiden die Leviten lesen!“ Er wandte sich um und hangelte in den Mantauen zu den Männern hinüber, die unter allergrößten Schwierigkeiten die hartgefrorene und schneebedeckte Persenning von dem zweiten Beiboot lösten. Siri-Tong folgte ihm und griff selbst mit zu. Ihre Miene war nicht weniger verbissen als die Ben Brightons. Ja, sie bewies wieder einmal, wer sie war: eine harte und unbeugsame Frau, todesmutig und von hundert Erfahrungen geprägt, Kapitän eines Schiffes, Herrin über eine Meute wilder Kerle - eine Korsarin ohne Furcht und Tadel. Sie hätte mit Thorfin Njal und ihrer Mannschaft des Schwarzen Seglers Gott und die Welt riskiert, um dem Seewolf beizustehen. Und sie konnte auch hier, in ihrer Gastrolle an Bord der „Isabella”, nicht tatenlos bleiben. So half sie mit, das Boot mit seinen Taljen hochzuhieven und außenbords zu befördern, es in Lee abzufieren und dann mit den Männern in die Jolle zu schaffen, was für eine Lebensrettung der im Blizzard Verschollenen notwendig sein konnte: Waffen und Munition, Äxte, Pickel und Piken, Taue und ein Dutzend Pechfackeln, die man vielleicht trotz allen Windes im Schutz einer Höhle oder Mulde entfachen konnte, falls es notwendig war. Al Conroy, der von Ben Brighton für die Aktion mit ausgewählt worden war, steckte sich auch vorsichtshalber ein paar „Höllenflaschen“ zu, jene Flaschenbomben, die, mit Pulver, Blei, Eisen und Glas gefüllt, in scheinbar
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ausweglosen Situationen oftmals wahre Wunder vollbrachten. Sicher ist sicher, dachte Al, man kann ja nie wissen. Bootsführer und Leiter des Trupps war Smoky. Außer Siri-Tong und Al Conroy waren Matt Davies, Jeff Bowie, Luke Morgan und Bob Grey seine Begleiter. Ben hätte gern selbst das Unternehmen zur Rettung der Kameraden geführt, aber auf Hasards ausdrückliche Order hin hatte er sich von Bord der „Isabella“ nicht fortzurühren. Die sieben enterten an der Jakobsleiter in die Jolle ab. Im Toben des Blizzards ließ sich dies natürlich nur unter erheblichen Komplikationen abwickeln - die „Isabella“ schwankte und krängte stark nach Lee, das Boot tanzte auf den Wogen der Bucht und schien jeden Augenblick zu kentern. Die Jakobsleiter bewegte sich wild hin und her und knallte in unregelmäßigen Zeitabständen gegen die Bordwand der Galeone. Sie war hartgefroren und glatt, und so wurde allein das Abentern in die Jolle zu einem lebensgefährlichen Unternehmen. Hinzu kam das verheerende Schneegestöber, das den sieben fast völlig die Sicht nahm. Matt Davies rutschte auf einer Sprosse der Jakobsleiter aus und wäre fast abgestürzt, wenn Siri-Tong, die unter ihm hangelte, nicht geistesgegenwärtig seinen Arm gepackt hätte. Matt baumelte an der tanzenden Leiter und klammerte sich mit aller Kraft fest. Seine Füße suchten Halt, fanden ihn auf der nächsten Sprosse - und der ins Stocken geratene Zug konnte weiter nach unten absteigen. Matt war bleich unter seiner Mütze geworden. Er wandte den Kopf und rief der Korsarin ein hastiges „Danke, Madam“ zu. Sie nickte nur knapp. Hölle, dachte er, es ist doch erstaunlich, wieviel Kraft die Frau hat. Wer hätte das gedacht! Sie kletterten auf die schneebedeckten Duchten des Bootes, kauerten sich hin und griffen zu den Riemen. Siri-Tong stieß den einen Riemen so gegen die Bordwand der „Isabella“, daß sie Abstand von der
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Galeone gewannen. Sie setzte sich hin und pullte selbst mit - allein schon, um Ben Brighton und allen anderen zu zeigen, daß sie in der letzten Zeit wegen des Aufenthalts auf der „Isabella“ als „Gast“ keineswegs verweichlicht war. Smoky hatte die achtere Ducht eingenommen, bediente. die Ruderpinne und steuerte die Jolle zwischen den Eisschollen hindurch, die jetzt in immer größerer Zahl auf den Wellen schaukelten. Sie waren größer und dicker geworden, diese Eisteppiche, und es schien ganz so, als wollten sie die Blicht und deren Einfahrt zustopfen. Wenn sich das Packeis formte, konnte die Flucht in die Bucht für die „Isabella“ zur Tragödie werden: Nicht nur, daß sie dann gefangen gesetzt war, nein, das Eis würde auch so viel Druck ausüben, daß der hölzerne Rumpf zerquetscht wurde. Smoky mußte höllisch darauf achten, daß sie nicht mit einer Scholle kollidierten. Er bediente die Ruderpinne mit der rechten Hand, und in die linke nahm er eine Pike. Eine kluge Vorsichtsmaßnahme, denn als plötzlich eine dicke Scholle bedrohlich auf die Backbordseite der Jolle zuschoß, stach der Decksälteste der „Isabella“ mit der Pieke zu. Die Spitze bohrte sich in das Eis, drückte dagegen und brachte das scharfkantige Gebilde von seiner Richtung ab. Nah schob es sich am Heck des Bootes vorbei. Smoky grinste grimmig und zog die Pike wieder zu sich heran. Der Schnee deckte im Fauchen des Blizzards die sieben Gestalten zu, er legte sich auf und zwischen die Duchten und bildete einen flauschigen Teppich. Er lastete immer schwerer in der Jolle und erhöhte ihren Tiefgang auf bedenkliche Weise. „Smoky!“ rief die Rote Korsarin. „Wir müssen den Schnee aus dem Boot schöpfen!“ „Bob, übernimm du das!“ schrie Smoky. „In Ordnung!“ Bob Grey ließ den Riemen los. Luke Morgan übernahm ihn und pullte fortan also mit zwei Riemen. Bob zerrte einen kleinen hölzernen Kübel unter einer
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Ducht hervor und begann, die weiße Pracht in das eiskalte Wasser zu befördern. Von der „Isabella“ schallte verschwommen ein Ruf herüber, aber keiner von ihnen verstand ihn. Smoky bedeutete seinen Gefährten weiterzupullen. Vielleicht hatten Ben Brighton und die anderen auf der „Isabella“ Zurückgebliebenen nur gehört, daß er geschrien hatte, und wollten in Erfahrung bringen, was los war. Die Jolle schwankte bedrohlich in den Wogen. Das eisige Wasser sprühte SiriTong und den Männern in die Gesichter, die Tropfen froren auf der Haut. Der Wind heulte mit unverminderter Kraft und setzte der Jolle schwer zu. Faustdick waren die Schneeflocken, dicht an dicht wirbelten sie, und weder die „Isabella“ noch das Ufer der Bucht waren jetzt zu erkennen. Die Jolle schien sich plötzlich im Nichts zu befinden. Smoky versuchte, den ursprünglich gewählten Kurs strikt einzuhalten, doch der Sturm und die aufgewühlten Fluten warfen die Jolle derart hin und her, daß er bald nicht mehr wußte, in welche Himmelsrichtung sie überhaupt fuhren. Und doch schien das Nordufer der Bucht so nahe gewesen zu sein. Bob schöpfte emsig den Schnee aus dem Boot, aber genauso schnell schien sich die Jolle wieder damit zu füllen. Bob begann zu fluchen. Noch nie hatte er einen solchen Schneesturm erlebt. Das Klima daheim in England war im Winter auch nicht gerade lau, aber solch eine Schnee- und Eishölle, nein, in der würde Elizabeths Reich auch in tausend Jahren nicht einmal versinken. Soweit Smoky und die anderen sich entsinnen konnten, war es nicht einmal am Kap der Stürme so schlimm gewesen. Hier, in Grönland, schien der Schnee in wenigen Stunden alles unter sich begraben zu wollen. Wenn das Eis erst die Bucht zugeriegelt und ganz zugedeckt hatte, wuchsen die Schneeberge auch auf den Schollen und bauten sich bis zu den Masttoppen der „Isabella“ auf. Sie alle würden darin untergehen und ersticken. „Smoky!“ rief Matt Davies plötzlich. Er hatte sich kurz dem Bug zugewandt und
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etwas gesehen. „Hölle und Teufel, wir fahren genau ins Eis hinein!“ Smoky drückte die Ruderpinne herum. Die Jolle bäumte sich auf einer heranrollenden Woge auf, legte sich längsseits zum Wind und drohte querzuschlagen. Die Korsarin und die Männer verlagerten ihr Körpergewicht zur anderen, erhöhten Bootsseite hin und konnten das Unheil noch einmal abwenden. Sie fluchten jetzt alle zusammen. Der Schreck war ihnen tief in die Knochen gefahren. Hier zu kentern und ein Bad in den Fluten zu nehmen, hieß zu sterben. Kein Mensch konnte es in dem eisigen Naß länger als ein paar Sekunden aushalten. Außerdem würde sich ihre Kleidung voll saugen und sie wie Blei in die Tiefe sinken lassen. „Wir scheinen dem Ufer nah zu sein!“ rief die Rote Korsarin. „Die Eisschollen haben sich davor ineinander geschoben. Smoky, wenn wir nur ein Stück hineinfahren können, gelangen wir vielleicht sicheren Fußes an Land.“ „Versuchen wir's“, schrie der Decksälteste der „Isabella“. „Matt, Jeff und Luke, ihr pullt weiter. Wir anderen greifen uns die Piken und sehen zu, daß wir die Schollen auseinanderdrücken!“ Bob Grey setzte den Schöpfkübel ab und besorgte sich eine der Piken. Al Conroy und Siri-Tong folgten seinem Beispiel. Smoky unterstützte sie von der Heckducht aus mit der Pike, die er schon vorher benutzt hatte. Sie stemmten die Piken gegen die Ränder der ineinander verkanteten und verschachtelten Eisbrocken, preßten mit aller Kraft dagegen und trachteten, eine Lücke zu schaffen und mit der Jolle einzudringen. Beim zweiten Versuch gelang es. Knirschend öffneten sich die Schollen. Matt, Jeff und Luke bewegten die Riemen. Die Jolle schob sich in die Passage, dann schoren die Bordwände an den scharfen Eiskanten entlang und die Riemenblätter kratzten auf dehn Schollen, ohne dem Boot noch mehr Fahrt zu verleihen. Allmählich drohte das Boot ganz zum Stillstand zu gelangen.
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Eine Welle hob es hoch und warf es ein Stück voran. Siri-Tong und die sechs Männer zogen unwillkürlich die Köpfe ein, duckten sich und schlossen die Augen. Es krachte, als die Jolle mit ihrem Rumpf auf die Eisschollen schlug, aber das Geräusch wurde Gott sei Dank durch das brechende Eis und nicht durch den Rumpf verursacht. Mit den Piken arbeiteten sie sich weiter voran, bis sie einen Punkt erreicht hatten, von dem aus sie über das dick übereinander geschichtete Eis marschieren konnten. Siri-Tong kletterte als erste aus der Jolle, tastete sich ein Stück über die unwegsame, borkige Fläche, die schon dick mit Schnee bedeckt war, dann winkte sie den Kameraden zu. Sie hatte sich ein Tau um die Hüften geschlungen, und Smoky hielt das andere Ende des Taus, um sie wieder an Bord zerren zu können, falls sie einbrach. Aber sie brach nicht ein. Die Eisdecke schien fest genug zu sein, um ein problemloses Vorankommen zu gewährleisten. Hier und dort beulte sich die Fläche noch unter dem Wogen des Wassers auf, aber wo das Eis am dicksten war, hatten die Fluten keinen Einlaß mehr. So war der Weg, den die sieben bis zum Ufer hinnehmen konnten, praktisch vorgezeichnet. Sie brauchten nur ihren Fuß auf die reglos daliegenden Eiszonen zu setzen. Smoky und die fünf anderen Männer verließen nun auch das Boot. Es behagte ihnen gar nicht, daß die Korsarin ihnen vorexerzierte, wie die Situation zu meistern und die Aufgabe zu bewältigen war. Sie fühlten sich in ihrem Stolz angegriffen. Deshalb übernahm Smoky nun schleunigst wieder die Führung und geleitete seinen Trupp sicher bis zum Ufer. Eigentlich konnte man wegen des Schnees schon gar nicht mehr erkennen, wo die Grenze zwischen Eisschollen und eigentlichem Ufer lag, aber als sie an die Böschung gelangten, auf der sie kurz vorher den Profos bis zu den Hüften hatten einsacken sehen, wußten sie, daß sie nun auf dem Land standen.
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Gebeugt stemmten sie sich gegen den Wind und suchten in westlicher Richtung nach dem Boot, das Hasard und die anderen benutzt hatten. Sie fanden es nicht. Plötzlich war ein unterschwelliges Geräusch in der Luft, das das Orgeln des Blizzards begleitete. Es ließ sich nicht feststellen, woher diese Laute kamen – dieses Dröhnen und Knirschen, dieses Krachen und Knacken. Keiner von ihnen wußte, welchen Ursprungs es war. „Mann!“ rief Al Conroy Smoky zu. „Was zur Hölle ist denn das bloß? Das hört sich ja an wie ...“ „Wie was?“ „Wie ein Vulkanausbruch!“ „Hier gibt es keine Vulkane!“ schrie Smoky. „Bist du ganz sicher?“ „Ach, zum Teufel, ich weiß gar nichts mehr.“ „Irgendetwas stimmt hier nicht, Smoky!“ brüllte Al Conroy. „Mann, wem sagst du das?“ „Verdammt noch mal, ich glaube... „Daß Hasard und die sieben anderen und das Boot wie ein Spuk verschwunden sind, das meinst du doch, oder?“ „Smoky!“ brüllte Al. „Ich glaube, die Erde bebt!“ Smoky blieb stehen und starrte ihn entgeistert an. Siri-Tong, Luke Morgan, Bob Grey, Matt Davies und Jeff Bowie hatten Al ebenfalls die Gesichter zugewandt. Jeff öffnete vor Verblüffung den Mund, schloß ihn aber schnell wieder, weil es ihm hineinschneite. Sie spürten es jetzt alle: Der Untergrund, auf dem sie standen, hatte zu vibrieren begonnen. 6. Bis zu der Barriere aus bizarren Eisgebilden hatten Carberry, Ferris Tucker und der Gambia-Mann es geschafft, aber dann war der Blizzard wie mit Himmelspeitschen über die Insel gefegt und hatte sie am Weiterkommen gehindert. Es war lebensgefährlich, jetzt noch zu
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versuchen, sich bis zum Ufer und zur Jolle zu begeben. Glücklicherweise hatten sie eine Höhle gefunden, die ihnen gerade Platz genug bot, daß sie sich hineinhocken konnten. So kauerten sie jetzt nebeneinander, während draußen der Sturm seine böse Sinfonie heulte und der Eingang der Höhle mit Schnee zuwuchs, und brüteten vor sich hin. „Also gut“, sagte der Profos schließlich. „Es war eine Scheiß-Idee, vor dem Sturm noch nach dem verdammten Bären zu suchen. Aber es ist nun mal passiert. Der Bruder ist uns entwischt, wir müssen ein Wetter über uns ergehen lassen, das es wahrhaftig in sich hat - aber Gott sei Dank ist ja keiner von uns verletzt. Hasard und die anderen haben es bestimmt bis zur Jolle geschafft, und sie werden sich wohl unter dem Boot verstecken. Sie warten auf uns, und wir brauchen hier bloß auszuharren, bis das Schlimmste vorbei ist. Dann brechen wir wieder auf. Von hier bis zum Boot haben wir's ja nicht weit.“ „Ed“, wandte Ferris nun ein. „Bist du ganz sicher, daß diese Eisbarriere dieselbe ist, die wir vorher überquert haben?“ „Daran besteht doch gar kein Zweifel.“ „Vielleicht doch.“ „Du willst sagen ...“ „Daß wir im Kreis gelaufen sind, die Orientierung verloren haben und ganz woanders untergekrochen sind, als wir anfangs geglaubt haben“, meinte der rothaarige Schiffszimmermann. „Ich habe mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen. Plötzlich waren Hasard, Dan, Shane, Blacky und Stenmark einfach weg. Wir haben noch ein paarmal nach ihnen geschrien, aber offenbar haben sie uns nicht gehört. Der Weg bis zu den Eisfelsen schien mir länger zu sein als die Distanz, die wir bis zur Barriere hätten zurücklegen müssen, und - nun, ich denke ganz einfach, daß wir wegen des verfluchten Schneetreibens in einer anderen Ecke gelandet sind als beabsichtigt.“ „Verdammich“, entfuhr es Batuti. „Also, wenn das zutrifft“, murmelte der Profos, „dann müssen wir ganz neu planen. Dann müssen wir ausharren, bis wir wieder
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einigermaßen vernünftige Sicht haben und das Ufer der Bucht sehen können, sonst tappen wir wie die Idioten stundenlang in der Gegend herum, ohne unsre Jolle und unsre gute dicke alte Lady ,Isabella` wieder zu finden.“ „Genau das befürchte ich“, sagte Ferris. „Schöner Mist“, sagte Carberry. „Das macht die Lage komplizierter. Dieser lausige Sturm könnte aber schnell vorbei sein.“ „Ich fürchte, er dauert noch einige Zeit an.“ „Siehst du das alles nicht zu schwarz?“ „Ein Blizzard kann Tage dauern. „Und das hier ist ein Blizzard?“ „Darauf kannst du Gift nehmen“, sagte Tucker. „Hendrik Laas hat uns anschaulich beschrieben, wie urplötzlich ein solcher Schneesturm heranbrausen und ausbrechen kann. Die Eskimos lassen sich dann samt ihren Tieren einschneien und kehren erst wieder ans Licht der Sonne zurück, wenn alles vorbei ist.“ „Hendrik Laas, Hendrik Laas - allmählich geht mir der Bursche auf die Nerven. Er hat übertrieben.“ „Mit Nanoq hat er auch nicht übertrieben.“ „Ja, das ist richtig ...“ „Alles meine Schuld“, sagte der GambiaMann aus seiner Ecke der Eishöhle heraus. „Wäre ich bloß an Bord geblieben! Ich hab euch Unglück gebracht!“ „Batuti, hör auf“, fuhr der Profos ihn an. „Wir sollten jetzt keinen Quatsch reden. Was soll diese Unkerei?“ „Batuti mag Grönland nicht“, stammelte der Neger mit weit aufgerissenen Augen. „Haßt Schnee und Eis und Mitternachtssonne! Böse Geister haben es gemerkt und rächen sich jetzt dafür.“ „Batuti“, sagte Carberry. „Eins kannst du deinem Profos glauben - dich trifft gar keine Schuld. Es war meine eigene Dummheit, daß uns das passiert ist, und jetzt nehme ich die Konsequenzen auf mich. Nur sollten wir nicht durchdrehen. Wenn wir ruhig bleiben und die Nerven bewahren, finden wir aus diesem Schlamassel auch wieder heraus.“
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„Wir sollten ein Loch in den Schnee graben“, schlug Ferris vor. „Damit wir genügend Luft zum Atmen haben. Wer weiß, wie lange wir es hier aushalten müssen. Ich fange am besten gleich damit an.“ Er saß dem Eingang der niedrigen Grotte am nächsten und beugte sich ein wenig nach links, um mit dem Freilegen des schneeverschütteten Eingangs zu beginnen. Er schaufelte mit den Händen etwas Schnee in die Höhle, beschloß dann aber, die gesamte Masse lieber nach außen zu stoßen, weil er sonst den ohnehin schon winzigen Raum nur noch verkleinerte. Nie hätte er gedacht, daß sich schon solche Mengen Schnee vor der Höhle häuften! Mit bloßen Händen wollte es ihm nicht gelingen, die Öffnung wieder freizulegen. Eine Zentnerlast schien von außen gegen ihren Unterschlupf zu drücken. Ferris löste die schwere Zimmermannsaxt von seinem Gurt. Er war jetzt froh, sie nicht auf der „Isabella“ zurückgelassen zu haben, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Mit dem Stiel der Axt stocherte er in dem Schnee herum. Das Holz war lang genug, ein Luftloch wurde frei. Er brauchte es jetzt nur noch zu erweitern und fortan immer wieder von den Flocken, die es außen zu verschließen drohten, zu befreien. Plötzlich hielt er inne, denn in das Getöse des Sturms hatte sich ein anderes Geräusch gemischt. Das war wie ein fernes Donnergrollen oder der Böller einer riesigen Kanone, ein unheimlicher Laut, der rasch näher rollte. „Schockschwerenot“, sagte der Profos. „Was, zum Teufel, hat das jetzt wieder zu bedeuten?“ „Böse Geister“, stieß Batuti aus. „Sie fliegen mit Sturm ...“ „Fang bloß nicht wieder mit deinen beschissenen Geistern an!“ polterte Carberry los. „Ich will davon nichts mehr hören, verstanden?“ „Batuti schweigt ...“ „Ja, das ist wohl das Beste“, knurrte der Profos. „Ich bin sowieso schon auf der Palme wegen dieser schief gelaufenen Bärenjagd, da brauche ich nicht auch noch
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dein Gejammer, und überhaupt, ich kann es nicht leiden, wenn Kerle wie du plötzlich Old O'Flynn, diesem Spökenkieker, nacheifern ...“ „Still“, sagte Ferris. Carberry brach ab und lauschte wie Tucker und der Gambia-Mann dem Knacken und Krachen, das jetzt die gesamte Region zu erfüllen schien. Als dann ganz merklich der Höhlenboden zu vibrieren begann, schien es um Batutis Fassung gänzlich geschehen zu sein, aber der Gambia-Mann preßte die Lippen zusammen und sprach kein Wort. Carberry schaute Ferris Tucker alles andere als begeistert an, seine Augen weiteten sich immer mehr. „O verdammt“, preßte Carberry hervor. „Das hört sich ja wie—wie ein Erdbeben an.“ „Das ist kein Erdbeben“, behauptete Ferris. „Das ist was anderes.“ „Aber was?“ Es donnerte und krachte, und irgendwo schien etwas zu zerbersten. Ein lang gezogenes Ächzen überlagerte sekundenlang das Orgeln des Blizzards, ein Ruck lief durch den Unterschlupf der drei Männer — und dann war plötzlich nur noch das Sturmheulen zu vernehmen. „Ferris“, sagte der Profos, dessen Beherrschung jetzt fast dahin war. „Bohr das Loch größer. Wir wollen mal nachsehen, wie es draußen aussieht.“ „Gut.“ Ferris stocherte wieder mit dem Axtstiel in der Öffnung herum und drückte den Schnee brockenweise ins Freie. Rasch wuchs der Durchlaß, aber Licht drang von außen nicht herein, denn die Wolken deckten immer noch alles zu und ließen den Polartag zur finstersten Polarnacht werden. „Laß mich vorbei“, sagte Carberry. „Ich unternehme einen kleinen Streifzug und kehre dann zurück.“ „Da gehe ich aber auf jeden Fall mit“, erklärte Ferris. „Kommt gar nicht in Frage.“ „Profos“, meldete sich Batuti mit kehliger Stimme. „Batuti übernimmt das. Will Schicksal herausfordern. Ich gehe 'raus.“
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„Mensch, benehmt euch doch nicht wie die albernen kleinen Jungs“, sagte Carberry. Er zwängte sich an dem Rothaarigen vorbei, kroch durch die Öffnung in die sturmgepeitschte Schneelandschaft hinaus und versuchte, in seiner näheren Umgebung irgendetwas zu erkennen. Das war unmöglich. Schrille Musik wie aus tausend defekten Orgelpfeifen dröhnte über das Land weg, der Schnee wirbelte wilder als je zuvor, die Flocken glichen kleinen Derwischen, die sich ein Vergnügen daraus bereiteten, den Menschen zuzusetzen. Und alles versank unter der weißen, tödlichen Schönheit. Carberry wollte sich aufrichten, aber der Sturm blies ihn, den mächtigen Kerl mit Schultern so breit wie ein Schapp, glatt wieder um. Er gelangte keine drei Yards weit und mußte kapitulieren. „Dreck“, fluchte er. „Was hast du bloß für einen Bockmist gebaut, Profos!“ Er konnte es sich selbst nicht verzeihen und spuckte seine ganze Wut in den Schnee, aber davon wurde auch nichts besser. Der Wind geißelte sein Gesicht und seine unbedeckten Hände, und er erkannte mit endgültiger Gewißheit, daß ein Mann in diesem Inferno nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder gab er auf und verreckte in der Landschaft, oder er hielt sich so lange versteckt, bis das Schlimmste vorbei war. Sie konnten wirklich von Glück sagen, daß sie die Eisgrotte gefunden hatten. Carberry kroch zur Höhle zurück und zwängte sich hinein. Ferris Tucker war etwas dichter an den Gambia-Mann herangerückt, und so nahm der Profos nun den Platz unmittelbar am Durchlaß ein. „Hast du etwas herauskriegen können?“ fragte Ferris, obwohl er nicht die geringste Hoffnung darauf hatte. Carberry schüttelte den Kopf. „Möchte wirklich wissen, was das für ein merkwürdiges Krachen und Knacken gewesen ist“, brummelte er. „Also, an ein Erdbeben glaube ich nicht. Aber was war's dann?“ Er wußte nicht, daß er die Antwort darauf schon recht bald auf drastische Weise erhalten sollte.
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Eine Sturmbö von unvorstellbarer Wucht fegte heran, riß Hasard von den Beinen und katapultierte ihn vier, fünf Yards weit über den Schnee. Hasard war auf dem Bauch gelandet und drehte sich in der Bewegung. Er streckte die Arme aus, krallte seine Finger in den Schnee und bremste auf diese Weise. Die Flocken bedeckten seinen Rücken, seine Beine, seinen ganzen Körper. Er sank etwas in den weichen Untergrund ein und drohte ganz verschüttet zu werden. Auch er hatte das Krachen und Beben natürlich bemerkt, und seine Sorge um Carberry, Ferris Tucker und Batuti war nur noch gewachsen. Schwer atmend richtete er sich wieder auf. Der Wind packte seine Gestalt von neuem, Hasard stemmte sich dagegen und kämpfte gegen einen unerbittlichen, dämonenhaften Gegner. Er sank wieder tiefer ein und konnte praktisch nur noch kriechen. Dennoch gelangte er an die Eisbarriere, hinter der sie vorher Nanoq, den Eisbären, aufgestöbert hatten. Obwohl der Blizzard ihm schwer zusetzte, forschte Hasard das Hindernis aus schneebedecktem Eis fast in seiner ganzen Länge ab, aber er fand keine Spur von den verschwundenen Männern. „Ed!“ brüllte er. „Ferris! Batuti!“ Wieder erhielt er keine Erwiderung. Nur der orkanartige Wind hieb ihm seine jaulende Melodie um die Ohren. Hasard trat vor Wut mit dem Stiefel gegen einen spitz aufragenden Eiszapfen. Der Zapfen brach ab, und die Bruchstelle wurde hurtig von dem alles verdeckenden Schnee zugeschichtet. In seinem Zorn hätte er am liebsten die ganze Barriere zerstört, aber er hielt inne und schalt sich selbst einen Narren. Was nutzte es ihm, derart aufzubrausen und sich auszutoben? Es war ein reiner Energieverlust, und Carberry, Tucker und den Gambia-Mann konnte er dadurch nicht herbeizaubern. Er suchte noch eine Weile herum,' dann brach er ab. Es hatte keinen Zweck. Er
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konnte stundenlang nach den Vermißten fahnden, er verausgabte sich nur und hatte keinerlei Erfolg. Selbst wenn sie zehn Yards von ihm entfernt lagen oder irgendwie untergekrochen waren, brauchte er eine Ewigkeit dazu, sie aufzustöbern. Nein, es hatte so wirklich keinen Zweck. Er stieg von der Barriere und kämpfte gegen den Wind an. Als der Sturm die Oberhand zu gewinnen drohte, packte er das Tau mit beiden Händen und zerrte daran. Nur mit Mühe konnte er es aus dem Schnee heben - so tief war es schon eingeschneit. Dreimal ruckte er daran, dann straffte sich das Tau. Blacky, Dan, Shane und Stenmark hatten das Zeichen empfangen. Sie holten das Tau jetzt Hand über Hand durch und halfen ihrem Kapitän, zu der Jolle zurückzufinden. Der Seewolf glaubte seinen brennenden Augen nicht zu trauen, als plötzlich links von ihm Gestalten aus dem weißen Inferno hervortaumelten. Schon glaubte er, die Verschollenen gefunden zu haben, schon wollte er einen freudigen Laut ausstoßen da bemerkte er, daß er Smoky und Al Conroy vor sich hatte. Gleich darauf erschienen auch Siri-Tong, Jeff Bowie, Matt Davies, Bob Grey und Luke Morgan. Bob stürzte plötzlich, vom Sturm geschüttelt, und landete dicht vor den Füßen des Seewolfs. Hasard zog wieder an seinem Tau, damit seine Kameraden unter der Jolle mit dem Durchholen der Leine innehielten. Bob rappelte sich unterdessen wieder auf. „Ihr?“ rief Hasard den anderen zu. „Was, in aller Welt, treibt ihr denn hier?“ „Wir sind, mit der zweiten Jolle herübergepullt, um nach dem Rechten zu sehen“, gab Siri-Tong zurück. „Wo stecken die anderen?“ „Unter der Jolle, die wir umgekippt haben. Aber nicht alle ...“ „Was, es fehlt jemand?“ stieß Smoky entsetzt aus. Hasard rief ihnen zu, was sich ereignet hatte. Zum Schluß fügte er noch hinzu: „Ich kann nur hoffen, daß sie wie wir irgendwo Schutz vor dem Blizzard
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gefunden haben. Los, laßt uns jetzt zur Jolle gehen. Wir können dort vorläufig nur auf eine Wetterbesserung warten.“ „Wo liegt eure Jolle?“ fragte Siri-Tong. Hasard wies in die Richtung des Taus. „Himmel!“ rief sie. „Da haben wir ja in einer völlig falschen Richtung gesucht.“ „Mehr noch, ihr hättet euch fast auch verlaufen!“ schrie er gegen den Sturm an. „Wie leicht man hier die Orientierung verliert!“ „Zum Teufel, Siri-Tong, was hast du hier überhaupt verloren?“ rief er plötzlich. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, daß er ja angeordnet hatte, die Zwillinge und die Korsarin hätten die „Isabella“ nicht zu verlassen. „Hat Ben dir nicht gesagt, was ich ihm befohlen hatte?“ „Doch .. . „Und?“ „Ich habe mir Sorgen um dich bereitet, große Sorgen, das mußt du doch verstehen.“ „Und du hast dich über meine Anweisungen hinweggesetzt!“ schrie er. „Darüber unterhalten wir uns noch ausführlich.“ „Hör mal zu, Mister Killigrew“, begann sie - ein deutliches Zeichen dafür, daß sie im Begriff war, mächtig aufzubrausen. „Keine Diskussion“, schnitt er ihr das Wort ab. „Folgt mir zur Jolle.“ Wieder ruckte er dreimal an dem Tau. Es straffte sich wieder und zog ihn durch den tiefen Schnee zu dem Unterschlupf am Ufer der Bucht zurück. Blacky, Dan O'Flynn, Big Old Shane und der Schwede lugten unter dem Dollbord der umgestülpten Jolle hervor. Ihre Gesichter waren erwartungsvoll, sie wollten den Seewolf und die unerwarteten Neuankömmlinge mit Fragen bestürmen. Aber dann lasen sie an Hasards Miene ab, daß er nicht in der Verfassung war, große Erklärungen abzugeben. „Grabt!“ rief er ihnen nur zu. „Siri-Tong, Smoky und die anderen hier kriechen mit zu uns unter das Boot.“ Die Männer begannen zu schuften. Smoky und seine Bootsmannschaft griffen sofort mit zu, und so war binnen kurzer Zeit ein
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genügend großer Hohlraum geschaffen. Sie robbten alle unter die Jolle und hockten sich zusammen. Hasard schwieg eine Weile, dann lieferte er einen knappen Bericht von der mißlungenen Suche nach Carberry, Ferris Tucker und dem GambiaMann. „So ein Mist“, sagte Dan O'Flynn. „Daß man aber auch gar nichts tun kann! Andererseits - der Profos, Ferris und Batuti sind keine unmündigen Schwachköpfe. Sie finden schon einen Weg, sich gegen den Blizzard zu schützen.' „Und wenn sie eingeschneit sind?“ fragte Smoky. „Das glaube ich nicht.“ „Glauben ist nicht wissen“, sagte Stenmark zu Dan. „Dieses Beben“, ließ sich jetzt Al Conroy vernehmen. „Was war das? Habt ihr es auch bemerkt?“ „Natürlich“; erwiderte Hasard. „Ich will nicht unken, das liegt nicht in meiner Art, aber ich habe den Verdacht, daß uns noch eine böse Überraschung bevorsteht.“ * „Smoky, Al, Blacky und Dan!“ rief Hasard. „Sir?“ „Der Sturm hat etwas nachgelassen.“ „Ja, den Eindruck habe ich auch“, sagte Smoky. „Ihr könnt jetzt versuchen, mit der zweiten Jolle zur ,Isabella` zu pullen und Ben Brighton und die anderen über alles zu unterrichten.“ „Aye, aye, Sir.“ „Paßt auf, wenn ihr über die Eisschollen klettert.“ „Wir könnten uns mit Tauen aneinander festbinden“, schlug Dan vor. „Ja, das ist eine gute Idee.“ „Falls einer einbricht und untergeht, ziehen die anderen ihn sofort wieder heraus“, sagte Dan. „Gut, macht es so.“ „Sir, wie spät ist es eigentlich? Hast du keine Ahnung?“ erkundigte sich Shane. „Hölle, man verliert jedes Zeitgefühl.“
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„Ich schätze, die erste Nachtwache hat inzwischen begonnen. Fragt Ben.“ „Ja.“ Es war Blacky, der jetzt sprach. „Dann brechen wir also auf.“ „Ben soll einen Drehbassenschuß abfeuern, falls er mich und die anderen Kameraden hier braucht“, sagte der Seewolf. „Zwei Schüsse, falls er und die Crew sich in Gefahr befinden. Vielleicht hat das Eis die ,Isabella` schon festgesetzt. Ich will es nicht hoffen, aber wir müssen auf alles gefaßt sein.“ „Ja, Sir.“ „Wenn ich nichts höre, bleibt ihr zunächst an Bord. Falls wir Verstärkung brauchen, lassen wir eine Höllenflasche hochgehen. Die Explosion ist jetzt bestimmt bis zum Schiff hin zu vernehmen. Al, laß uns deine Flaschenbomben bitte hier.“ „Hier.“ Al kramte die präparierten Flaschen aus seiner dicken Kleidung hervor und händigte sie seinem Kapitän aus. Hasard nahm die Flaschen entgegen, nickte den vier Männern noch einmal zu, und sie verließen einer nach dem anderen das Schlupfloch unter der Jolle. Smoky, Al Conroy, Blacky und Dan O'Flynn gelangten in dem tiefen Schnee kaum besser voran als zuvor, aber sie hatten mit nicht mehr ganz so starkem Wind zu kämpfen, und auch das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen. So fanden sie den Weg zu der zweiten Jolle, banden sich wie vereinbart aneinander fest und kletterten vorsichtig über die Eisschollen, die sich mit unglaublichem Druck am Ufer ineinander gerammt hatten, zu dem Boot, das nach wie vor an seinem Platz lag. Es war sogar mit seinen Bordwänden an den Schollen festgefroren, und sie mußten es erst mühselig lösen. Dies war der gefährlichste Teil ihres Unternehmens. Bislang war keiner von ihnen eingebrochen, aber hier drohten jetzt die Schollenkanten nachzugeben. So mußten sie trachten, so viel Distanz wie möglich zu der Jolle zu halten, sich weit vornüberzubeugen und in dieser grotesken Haltung mit den Händen an den
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Dollborden zu rucken, um das Boot zu lösen. Schließlich hatten sie es geschafft. Sie kletterten auf die Duchten, begannen sofort eifrig zu pullen und beförderten das Boot mit dem größtmöglichen Tempo zur „Isabella“ hinüber. Wie ein Schemen konnten sie die Dreimast-Galeone durch das Schneegestöber erkennen. Als sie ziemlich nah heran waren, rief Smoky: „Wahrschau! He, Ben, wir sind's!“ „Alles in Ordnung?“ ertönte Bens Stimme. „Alles nicht, aber laß uns erst mal an Bord.“ „Kommt längsseits!“ Sie ließen das Boot in Lee bis an die Bordwand der „Isabella“ gleiten und stellten zu ihrer Erleichterung fest, daß die Galeone noch nicht im Packeis gefangen war. Es konnte noch alles ein glückliches Ende nehmen und sich zum Harmlosen hin wenden, wenn sie auch Carberry, Ferris Tucker und Batuti wieder fanden. * „Also, wenn mich nicht alles täuscht, hat der Blizzard seine dickste Wut ausgetobt“, sagte Carberry. „Das wurde aber auch Zeit. He, Ferris, du scheinst mit deiner Wettervoraussage doch nicht recht zu behalten. Von wegen ein paar Tage! Ich wette, in ein paar Stunden ist alles vorbei.“ „Ich will's hoffen.“ „Mir ist da etwas eingefallen.” „Nur heraus damit.“ „Jetzt, da das Brüllen des verdammten Sturmes nicht mehr so laut ist, könnten wir ein paar Schüsse abfeuern und Hasard und die anderen auf uns hinweisen. Sie warten auf uns, vielleicht suchen sie auch schon nach uns. Vielleicht schaffen sie es ja, uns aus dieser Klemme zu helfen, ohne daß wir lange herumsuchen müssen, um den rechten Kurs wieder zu finden.“ „Ed“, sagte Ferris Tucker. „Das ist weiß Gott ein brauchbarer Vorschlag.“ „Aber das Donnerrumpeln und Krachen“, ließ sich Batuti vernehmen. „Was war das?
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Ich begreif nicht, woher das kam. Sicher waren's wirklich böse Geister. Profos, laß Batuti 'raus.“ „Und was passiert dann, wenn ich fragen darf?“ „Dann holen Geister und Dämonen Batuti, und alles wird wieder gut.“ „Ach, du willst dich also opfern?“ „Ja.“ Carberry hob seine Rechte und ballte sie wie spielerisch im matten Licht der Eishöhle. „Batuti, siehst du diese Faust?“ fragte er auffallend ruhig und auch gar nicht mal besonders laut. „Ja.“ Wie sollte man diese mächtige ProfosFaust, die von der Crew manchmal mit einem Schmiedehammer, mal mit einer Ankerklüse und gelegentlich - wegen ihrer Größe - auch mit dem Huf eines dicken Gauls verglichen wurde, denn wohl auch übersehen? Selbst einer, der „Schlick auf den Augen“ hatte, wie der Profos zu sagen pflegte, konnte sie nicht ignorieren. Wo diese Faust hinschlug, da wuchs kein Gras mehr — und da fiel vielleicht auch kein Schnee mehr. „Batuti, diese Faust hier hau ich dir gleich zwischen die Zähne, o ja, das tue ich wirklich, wenn du weiterhin verrückt spielst.“ „Sir?“ Der Gambia-Mann hob verwundert die Augenbrauen. Richtige Prügel hatte Carberry ihm eigentlich so direkt noch nie angeboten. „Und wenn dir die Zähne dann einzeln aus der Luke fallen, kannst du dir die Arbeit machen, sie alle wieder einzusammeln!“ brüllte Carberry, daß es in der Höhle dröhnte und Ferris Tucker sich die Ohren zuhielt. Batuti fuhr zusammen und hockte plötzlich kerzengerade und stocksteif da. „Aye, Sir. Jawohl, Sir.“ „Batuti, hiermit stelle ich dir die sehr ernste Frage, ob du neuerdings unter die Hosenscheißer gegangen bist?“ „Nein, Sir.“ „Was ist dann los?“ Batuti grinste plötzlich und sah wieder einigermaßen geläutert aus. „Schwarzer
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Mann braucht neue Hosen aus Fell von weißes Bär“, sagte er und zupfte mit klammen Fingern an seinem Beinkleid herum. „Leere Hosen natürlich.“ „Jawohl“, grollte der Profos. „Darauf bin ich auch ganz scharf, du Stint, und ich hoffe, wir treffen unseren Freund Nanoq wieder, wenn der verteufelte Sturm erst nachgelassen hat. Wohin hat sich der Bruder eurer Meinung nach verzogen, hm?“ „Wahrscheinlich hat er auch eine Höhle gefunden und sich darin zusammengerollt“, sagte Tucker. „Deiner Meinung nach scheint es hier ja eine ganze Menge Höhlen zu geben.“ „Ed, würdest du es für möglich halten, daß der Bär sich im Bedarfsfall auch mal selbst so ein Loch gräbt?“ „Du meinst, so eine Art Iglu?“ „Nicht ganz, aber das ist ja egal. Würdest du es ihm zutrauen?“ „Nun, er scheint ein schlauer Bursche zu sein.“ „Und es ist bestimmt nicht der erste Blizzard, den er erlebt“, sagte Ferris. „Also, er kommt gewiß nicht darin um“, versetzte der Profos. „Das wolltest du sagen, wenn ich dich richtig verstanden habe. _Na, früher oder später werden wir wohl wieder auf ihn stoßen.“ Mit diesen Worten kroch er ins Freie, hob den Schnapphahnstutzen, den er inzwischen nachgeladen hatte, legte an und zielte in die Luft. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und der Schnee tanzte in quirligen Bewegungen durch die Luft, aber das ganze Treiben war nicht mehr so wild wie vorher und ließ es wenigstens zu, daß man aufrecht stand. Carberry drückte ab, transportierte die Trommel eine Kammer weiter, spannte erneut den Hahn und betätigte den Schieber. Er zielte irgendwohin in den Himmel über Grönland, krümmte den Finger noch einmal und gab den nächsten Schuß ab. Das Krachen der Waffe war von seiner Hoffnung begleitet, die Laute würden von Hasard und dessen Begleitern gehört werden. Obwohl der Wind aus Südwesten die Geräusche tiefer ins Landesinnere trug,
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mußten sie doch wenigstens leise am Ufer der Bucht zu vernehmen sein. Carberry senkte den Stutzen und wartete auf eine Antwort. Plötzlich glaubte er eine Bewegung hinter seinem Rücken wahrzunehmen. Er fuhr herum und spähte aus schmalen Augenschlitzen in die Richtung, aus der er die Bewegung registriert hatte, sah aber nichts. Er behielt den Stutzen vorsichtshalber im Anschlag, doch rundum in der weißen Endlosigkeit des Sturmes schien es nichts, aber auch gar nichts zu geben, das seinen Argwohn erregen konnte. Ärgerlich zog er die Augenbrauen zusammen. Er schob seine breite Unterlippe vor und gab einen unwilligen Laut von sich. Teufel, waren seine Nerven denn so strapaziert, daß er jetzt schon Visionen hatte? Dann aber wehte ihm das tiefe, drohende Grollen entgegen. „Nanoq“, flüsterte er. Daß der Profos flüsterte, war schon sehr ungewöhnlich. Er tat das nur, wenn er besonders zornig war – oder wenn ihn etwas maßlos überraschte. Ja, er war geradezu betroffen, daß der Eisbär wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, dazu noch ganz in ihrer Nähe. Er preßte den Kolben des Stutzens gegen seine Schulter, zielte in die Richtung, aus der er das Grollen vernommen hatte, und drückte ein drittes Mal ab. Eine weiße Qualmwolke puffte im Krachen der Waffe hoch, der Mündungsblitz fuhr aus dem Lauf und stieß die Ladung vor sich her, der Kolben rammte gegen Carberrys Schulter. Carberry lauschte in den Sturm. Täuschte er sich, oder war da ein Knurren gewesen, ein Zeichen des Entsetzens und der Wut? „Ed!“ rief Ferris aus der Höhle heraus. „Komm doch mal 'rüber!“ rief der Profos zurück. „Ich kann dich nicht verstehen ...“ Carberry drehte sich um und winkte ihm zu, aber Ferris schien durch das anhaltende Schneegestöber nichts davon zu sehen.
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„Hierher!“ schrie Carberry schließlich. „Hölle, seid ihr denn taub und blind, ihr beiden?“ Sie kamen, brachten ihre Musketen mit und zeigten besorgte Mienen. Der Profos hatte sich wieder in die Richtung gedreht, aus der das Knurren des Eisbären erklungen war, und hielt angestrengt Ausschau. Er konnte jedoch nichts entdecken. „Nanoq“, sagte er, ohne den Kopf zu wenden. „Er war wieder da. Ich glaube, er will sich dem Zweikampf stellen.“ „Was hast du vor?“ fragte der rothaarige Schiffszimmermann. „Willst du ihm nachstellen?“ „Auf die Gefahr hin, daß wir uns wieder verlaufen und die Höhle auch nicht wiederfinden?“ „Batuti geht mit Profos“, sagte der Gambia-Mann. „Ferris Tucker kann bei Höhle bleiben und uns ein Zeichen geben, damit wir zu ihm zurückgehen können.“ „Nein“, protestierte Ferris. „Ich begleite unseren Profos, und du kannst hier Posten schieben, Batuti.“ „Batuti ist kein Feigling“, sagte der schwarze Herkules. „Himmel, das hat doch auch keiner behauptet!“ rief Carberry. „Hört mal zu, ich glaube, es hat keinen Zweck, die Jagd wiederaufzunehmen. Es wäre Wahnsinn. Noch ist der Sturm zu heftig, klar?“ „Ja, da hast du recht“, erwiderte Ferris. „Wir kriegen später bestimmt noch die Chance, Nanoq eins auf den Pelz zu brennen. Ich hab das so im Gefühl.“ „Hört ihr was?“ sagte Batuti. Sie lauschten und konnten nun das Aufpeitschen von Musketenschüssen vernehmen - dreimal hintereinander. „Hasard und die anderen“, sagte der Profos. „Hölle, das klingt aber verdammt weit entfernt, obwohl der elende Wind uns die Laute doch zutragen müßte.“ „Das klingt zu weit entfernt“, bemerkte Ferris Tucker, und die beiden blickten ihn ziemlich entgeistert von der Seite an. 8.
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Nichts konnte den Seewolf halten. Er hatte den Unterschlupf unter der Jolle sofort verlassen, als der erste Schuß des Schnapphahn-Stutzens ganz leise an ihre Ohren gedrungen war. Ja, er kannte das Bellen dieser Waffe ganz genau. Es unterschied sich deutlich von dem Krachen herkömmlicher Musketen, Arkebusen und Tromblons. „Das ist der Profos!“ rief er. Das Tau immer noch um die Hüften gewickelt, robbte er aus dem schützenden Schneeloch hervor, raffte sich auf und lief los. Er brachte sich mit Sprüngen voran in dem dick liegenden, tiefen Schnee eine anstrengende Art der Fortbewegung, die man nicht lange durchhielt. Im Laufen jagte er einen Schuß in die Luft. Und dann waren auch Smoky, Shane, Stenmark, Al Conroy und die Rote Korsarin hinter ihm und gaben Kugeln ab, die Carberry, Ferris und Batuti hören sollten. Hasard stürzte, erhob sich wieder, schüttelte den Schnee ab, jagte weiter, als ginge es darum, einen Wettlauf zu gewinnen. Keuchend gelangte er wieder an die Eisbarriere, kletterte hinüber, lauschte nach neuen Schüssen, hörte aber nichts. Er orientierte sich an den feinen Lauten, die vorher zu ihnen herübergedrungen waren, und lief in nordwestliche Richtung. Dann blieb er abrupt stehen. Er wankte ein wenig und mußte die Arme bewegen, um nicht vornüberzukippen. „Allmächtiger“, murmelte er. „Allmächtiger Gott im Himmel, das darf doch nicht wahr sein.“ Siri-Tong war als erste neben ihm. Er nahm den Radschloß-Drehling in die linke Hand und streckte die rechte aus, um sie zu bremsen. „Paß auf“, rief er ihr zu. „Sonst stürzt du ins Wasser.“ „Was sagst du da? Ins Wasser? Aber das kann doch nicht ...“ „Und doch ist es so. Sieh selbst.“ Er wies auf das schwärzlich glänzende, schwappende Wasser, das ganz nah vor ihren Füßen gurgelte und schmatzte. Hunderte, Tausende, Millionen von
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Flocken senkten sich auf die Fluten, verlöschten darin und verwandelten sich in Wasser, als wären sie nie Schnee gewesen. Siri-Tong hatte sich zu den heranstürmenden Männern umgedreht und warnte sie durch Gesten und Zurufe. Sie alle blieben wie vom Donner gerührt stehen und richteten ihre verstörten Blicke auf das eiskalte, bedrohlich wirkende Wasser. „Jetzt haben wir die Erklärung für das Beben und Krachen“, sagte der Seewolf. „Im Sturm hat sich eine riesige Eisfläche vom Land gelöst und ist davongetrieben und Ed, Ferris und Batuti befinden sich darauf.“ * Sie hatten sich wieder in der Eishöhle zusammengekauert, und Ferris Tucker hatte es übernommen, mit dem Stiel seiner schweren Zimmermannsaxt dafür zu sorgen, daß der Durchlaß weitgehend schneefrei blieb. „Das Gestöber läßt mehr und mehr nach“, sagte er. „Allmählich tritt wirklich eine Wetterberuhigung ein. Wenn es nicht wieder umschlägt, müßten wir hier bald heraus können.“ „Wäre es nicht doch besser, Hasard und den anderen entgegenzulaufen?“ fragte Batuti. „Mann, wir würden nur wie die blinden Ochsen durch die Landschaft trotten und sie am Ende doch verfehlen“, erwiderte der Profos. „Will dir das nicht in den Kopf?“ „Doch, aber dann ...“ „Dann sollten wir wenigstens wieder ein paar Schüsse abgeben, das meinst du doch, oder?“ „Richtig“, antwortete der Gambia-Mann. „Sir, darf ich?“ „Einverstanden“, sagte Carberry. „Nimm aber den Stutzen. Ich habe ihn wieder nachgeladen. In deiner Muskete ist ja nur ein Schuß. Es ist besser, wenn du zwei oder drei in die Luft feuerst.“ Batuti kroch an ihnen vorbei und nahm dabei den Schnapphahn-Revolverstutzen aus Carberrys Hand entgegen. Er robbte
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nach draußen, richtete sich auf und sandte weisungsgemäß drei Feuerstöße in den Himmel. Er nahm den Stutzen wieder herunter, harrte aus und lauschte angestrengt, konnte aber keine Erwiderung hören. „Was ist los?“ sagte Ferris Tucker. „Warum meldet sich Hasard nicht? Er müßte doch schon näher heran sein.“ „Ich versteh das nicht“, murmelte Batuti. „Soll ich noch mal schießen?“ „Nur zu“, forderte der Profos ihn auf. „Drei Schuß hast du ja noch.“ Batuti drückte also ein viertes Mal in die stürmische Luft ab, aber auch jetzt schien sein Zeichen an die Kameraden ungehört zu verhallen. Mißmutig blickte er sich um. Dieser erbärmliche, ausweglose Zustand wie lange sollte er noch dauern? Konnte man die Entwicklung der Dinge denn nicht forcieren? „Batuti klettert in die Barriere hinauf“, verkündete er. „Vielleicht ist das Schießen von oben besser zu vernehmen.“ „Genehmigt!“ rief Carberry. „Entferne dich aber nicht zu weit. Bau keinen Mist, Batuti, verstanden? Wir haben schon Pech genug gehabt und können uns keinen weiteren Fehler leisten.“ „Aye, „Sir“, sagte Batuti. „Batuti paßt auf wie Luchs.“ So schritt er an der Höhle vorbei und kletterte in den scharfkantigen, bizarr geformten Eisformationen hoch, die in der Dunkelheit wie Felsen wirkten. Er mußte aufpassen, daß er nicht ausrutschte und sich irgendwo verletzte. Die Gefahr, auf einen aufragenden Eispickel zu stürzen, war groß genug. Manche Stalagmiten waren so dick und spitz, daß sie einen Menschen durchaus durchbohren konnten. Batuti hatte sich den Stutzen an dem Lederriemen über die Schulter gehängt, um beide Hände fürs Klettern freizuhaben. Unwillkürlich fragte er sich, warum er mit seiner Muskete auch den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen in der Höhle zurückgelassen hatte, aber dann wischte er den Gedanken daran wieder fort, denn er sagte sich, daß er ja nur ein weiteres Zeichen abgeben wollte, nichts weiter. Er
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wollte nur noch ein Stück höher steigen und dann die fünfte Trommelkammer des Stutzens in den Himmel entleeren. Er blickte zurück und konnte drei, vier Yards unter sich den Einlaß der Höhle erkennen - und Carberry, der sich davor aufgebaut hatte und gespannt und vielleicht auch ein wenig besorgt dem Gambia-Mann nachspähte. Batuti grinste. Er würde es Carberry schon zeigen, daß er jetzt keine Bedenken mehr hatte wegen der bösen Geister, die seiner Meinung nach auf Grönland hausten. Der Aberglaube war tief verwurzelt in Batuti, aber die Augenblicke der Furcht waren nur kurz gewesen, jetzt überwog sein Draufgängertum. Kälte hin, Eis und Schnee her, was war denn das für ein Korsar, der sich allein von dem unheimlichen Aspekt und all den Gefahren, die im Eisland lauern mochten, abschrecken ließ? Batuti erreichte ein sockelähnliches Gebilde aus Eis, auf dem er verharren konnte. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, nahm den Stutzen von der Schulter und spannte den Hahn, um den Schuß abzufeuern. Sein Zeigefinger näherte sich langsam dem Abzug, berührte ihn und zog sanft durch. Wieder entlud sich die sechsschüssige Waffe brüllend. Carberry, der unten stand und den Gambia-Mann nicht aus den Augen ließ, konnte den Mündungsblitz aufzucken sehen. Batuti sah sich prüfend um und überlegte sich, ob er auch die sechste Kugel opfern sollte. Von Süden drang immer noch kein Laut herüber, der darauf schließen ließ, daß der Seewolf und die Kameraden die Alarmzeichen vernommen hatten. Da stimmt doch was nicht, dachte der schwarze Goliath, vorhin haben sie uns gehört und zur Antwort geschossen - und jetzt schweigt wieder alles. Er wollte wieder schießen, aber bevor er den Stutzen erneut an die Schulter hob, geschah es. Vom Sockel aus führte ein schmaler, nicht sonderlich steiler Hang aus schneebedecktem Eis bis zu einer Kuppe
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hinauf - und genau auf dieser Kuppe tauchte jetzt die Erscheinung auf - ein weißes Gesicht mit kleinen, knopfartigen Augen, rundlichen Ohren und einer schwarzen Nase. Ein Maul öffnete sich unter der Nase und stieß das Grollen aus, das jedem Mann die Nackenhaare sträubte und ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und war er auch noch so hartgesotten. Batutis Augen weiteten sich so sehr, daß sie aus den Höhlen hervorzuquellen drohten. „Böser Geist“, keuchte er. „Verdammich noch eins, bist du also doch erschienen ...“ „Batuti!“ schrie der Profos, der das Grollen ebenfalls vernommen hatte. Batuti hatte sich im selben Augenblick gefangen, fuhr herum und riß den Stutzen hoch. „Nanoq, nimm dies!“ rief er. Nanoq, der Eisbär, richtete sich auf und zeigte die Vordertatzen mit den gefährlichen Krallen. Wie er dort hinaufgelangt war, wie gut er überhaupt klettern konnte — diese Frage stellte Batuti sich nicht. Er zielte und drückte ab, aber in diesem Moment hatte der Bär sich bereits über den Rand der Kuppe befördert und schickte sich an, den Hang hinunterzurutschen. Donnernd löste sich der Schuß. Er sengte um Haaresbreite über Nanoqs gesenktes Haupt weg. Das Tier brüllte auf, gab sich einen Ruck und schlidderte den Hang hinunter, der auf den Sockel führte. Es sah aberwitzig aus, wie er da nach unten rutschte, aber der Gambia-Mann empfand das durchaus nicht als lustig. Jetzt war auch der sechste Schuß aus der Trommel des SchnapphahnRevolverstutzens heraus, die Waffe war nutzlos geworden und taugte nur noch zum Wegwerfen. Batuti ließ sie fallen und verfluchte sich selbst, daß er Pfeil und Bogen in der Eishöhle gelassen hatte. Er hätte sich deswegen ohrfeigen können. Nur ein Messer hatte er noch im Gurt stecken. Das zückte er jetzt, um sich damit dem Bären entgegenzuwerfen. Nanoq rutschte genau auf ihn zu.
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„Batuti, zur Seite!“ brüllte Carberry von unten. Ferris Tucker war aus der Höhle herausgefegt, als säßen ihm die Teufel der Hölle im Nacken. Er hatte die beiden Musketen mitgebracht, und die legten die beiden Männer nun auf den weißen Bären an. Nanoqs Lichter glommen haßerfüllt. Batuti konnte jetzt sehen, daß seine rechte Schulter von Carberrys Schuß verletzt worden war. Die Blessur hob sich wie ein rotes Signal von seinem herrlichen weißen Pelz ab. Batuti rückte zur Seite. Nanoq fauchte und stieß noch einen anderen, seltsamen, kreischenden Laut aus, dann war er heran. Batuti wollte mit dem Messer zustechen, glitt jedoch aus und stürzte von dem Eissockel. Carberry feuerte auf den Bären. Nanoq heulte auf und schien zusammenzuzucken. Er zog den Kopf ein und wagte sich nicht weiter vor, aber durch den Schwung, den ihm die Abfahrt auf dem Eishang verliehen hatte, geriet er doch noch ein paar Zoll weiter nach vorn — genug, um Batuti auf dessen Sturz in die Tiefe zu folgen. Ferris drückte ebenfalls ab, und die Muskete krachte gehörig los, aber genau wie Carberry war er nicht davon überzeugt, dem Tier auch nur einen Streifer verpaßt zu haben. Zu schlecht war die Sicht in dem Gestöber, zu kurz die Zeit, die sie fürs Zielen zur Verfügung hatten. „Ed, lade du nach!“ schrie Ferris. Carberry begann sofort, wenigstens die eine Muskete wieder mit Pulver und Blei zu füllen. Ferris zückte indes seine riesige Zimmermannsaxt und hastete damit auf die Eisspalte zu, in die er Batuti hatte hineinfallen sehen. Auch Nanoq stürzte hinein, und es war ein dumpfer Laut des Aufpralls zu vernehmen. Nanoq grollte und fauchte, und Ferris und der Profos mochten sich nicht ausmalen, wie es jetzt wohl um den armen Batuti bestellt war. Batuti war wie durch ein Wunder dem Schicksal entgangen, von einem der
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gefrorenen Stalagmiten aufgespießt zu werden. Nur eine Handbreite neben einem dieser todbringenden Gebilde landete er im Schnee, der seinen Aufprall abfing und bremste. Der Schnee, über den sie so sehr gewettert hatten - er wirkte jetzt als Dämpfer, denn er war weich und gefügig und nahm Batutis Gestalt wie ein flauschiges Bett auf. Wäre er nicht gewesen, hätte der Mann aus Gambia sich wahrscheinlich das Genick gebrochen. Batuti überrollte sich im Schnee und wälzte sich fort von der Eiswand, die vor ihm aufragte. Dabei behielt er das Messer fest in der Faust. Dann senkte sich ein gigantischer Schatten auf ihn nieder, und er konnte sich eines verzweifelten Aufschreis nicht erwehren. Er richtete sich etwas auf und vollführte einen Hechtsprung zur Öffnung der Gletscherspalte hin - und das war seine Rettung. Er entging Nanogs niedersausendem Körper und wurde buchstäblich im letzten Augenblick davor bewahrt, von dem Giganten zerquetscht zu werden. Nanoq strampelte mit den Läufen, drehte sich und war beängstigend schnell wieder auf den Beinen. Er brüllte, daß es einem durch Mark und Bein ging. Batuti sah es nicht, aber er spürte, daß der Bär ihm nachsetzte. Er fuhr herum, hob wieder das Messer - und sah den Angeschossenen tatsächlich auf sich zuwanken. Ja, die Verletzung hatte ihn rasend vor Wut werden lassen. Der Schmerz ließ ihn die letzten Schranken der Furcht und Vorsicht, die zwischen ihm und den Zweibeinern waren, vergessen. „Batuti!“ schrie Ferris Tucker hinter dem Rücken des Gambia-Mannes. Batuti wich etwas nach links aus, ohne diesmal Gefahr zu laufen, den Halt zu verlieren und abzustürzen. Er befand sich ja jetzt auf ebenem Untergrund und brauchte in dieser Hinsicht nichts mehr zu befürchten. Aber. da war Nanoq, der Bär. Erschreckend nah war er ihnen, und es schien nichts zu geben, das sie vor seiner
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blinden Wut, seinem grenzenlosen Haß bewahren konnte. Nanoq richtete sich auf. Wie er so auf seinen Hinterpfoten heranrückte, wirkte er doppelt so groß wie zuvor und noch gefährlicher. Batuti war stehen geblieben und hielt sein Messer bereit zum Stoß. Aber Nanoq schoß plötzlich auf ihn zu, hieb mit der einen Tatze zu und traf seinen Arm. Batuti schrie diesmal nicht. Der glühende Schmerz, der ihm durch den Arm fuhr, schien ihn zu lähmen. Er nahm es kaum wahr, wie er die Waffe aus den Fingern verlor, wie sich sein Jackenärmel auftrennte wie dünnes Seidengeflecht, wie Blut aus der Wunde rann. Er stand nur mit geöffnetem Mund da und dachte daran, daß er wohl doch recht gehabt hatte mit seinen Bedenken gegen Grönland und dessen Geister und mit der Behauptung, daß er der Jagdexpedition nur Unglück brachte. Nanoq schickte sich an, den schwarzen Mann in eine tödliche Umarmung zu nehmen. Ferris Tucker stieß den alten Kampfruf der Seewölfe aus. „Arwenack!“ schrie er, und damit stürzte er sich auf den weißen Feind. Er hieb mit der Axt zu, und zwar halb von der Seite, so daß er Batuti nicht gefährdete. Er trachtete, Nanogs Schädel zu treffen, doch wieder zuckte seine Tatze geradezu unheimlich schnell vor. Sie erwischte den rothaarigen Schiffszimmermann zwar nicht am Arm oder an der Hand, aber sie fuhr gegen den hölzernen Stiel der Axt und brachte sie von ihrem Weg ab. Soviel Wucht saß in diesem Hieb, daß das scharfgeschliffene Eisen fast ganz zu seinem Besitzer zurückkehrte und in sein Gesicht hieb. Ferris konnte nicht anders, er mußte zurückspringen, sonst hätte ihn das eigene Werkzeug lebensgefährlich verletzt. Batuti hatte sich mittlerweile auch rückwärts bewegt und war bei Carberry angelangt. Dem Profos war es gelungen, mit rasend schnellen Griffen Pulver in den Lauf der einen Muskete zu füllen, die Bleikugel nachzuschieben und dann die Ladung festzustopfen.
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Die zweite Muskete, von Ferris Tucker fortgeworfen, lag im Schnee und versank allmählich unter den lautlos fallenden Flocken. Der SchnapphahnRevolverstutzen befand sich nicht weit entfernt, aber es war völlig sinnlos, ihn jetzt aufzuheben. Kein noch so erfahrener Schütze hätte es fertig gebracht, die Trommelkammern in diesen wenigen Augenblicken neu zu füllen. „Achtung!“ schrie der Profos. „Batuti, ich schieße! Ferris, laß ihn nicht wieder an dich heran. Zieh dich zurück!“ Batuti wandte sich taumelnd ein wenig ab und senkte den Kopf. Carberry war mit großen, weiten Schritten an ihm vorbei, baute sich vor dem zornigen Bären auf und zielte so ruhig wie möglich mit der Muskete auf dessen Herzgegend. Es war das sicherste, dem Tier ins Herz zu schießen. Carberry hätte auch auf seinen Kopf anlegen können, aber die Aussicht, den entscheidenden Punkt doch zu verfehlen, war groß — und er hatte doch nur den einen Schuß. Ferris Tucker wich immer noch zurück, um aus der Schußlinie zu geraten. Batuti hielt sich keuchend den wunden Arm. Es wirbelte rot und schwarz und grün vor seinen Augen, und er spürte Übelkeit und Schwäche in sich aufsteigen. Der Profos drückte ab. Krachend stieß die Muskete ihre Kugel aus, und mit der gleichen Vehemenz, wie sie ihre Ladung aus dem Lauf trieb, preßte sie dem Profos auch den Kolben gegen die Schulter. Nanoq ließ sich im selben Augenblick wieder auf die Vordertatzen sinken. Ob er geahnt hatte, daß Carberry auf sein Herz feuern würde, oder ob es reiner Zufall war — es blieb dahingestellt. Tatsache war, daß Carberrys Kugel fehlging. Sie erwischte nicht einmal den Kopf des Bären. „Zurück!“ schrie Ferris Tucker. „Zurück in die Höhle, es hat keinen Sinn, er bringt uns alle um!“ Er packte Batuti am gesunden Arm und zerrte ihn mit sich fort. Carberry riß seine Pistole aus dem Gurt. Sie war die letzte geladene Schußwaffe,
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die ihnen zur Verfügung stand - Ferris und Batuti hatten keine Pistolen. Es war zweifelhaft, ob er dem Bären mit der Pistole ernsthaft Schaden zufügen konnte, denn so eine Pistole hatte - so schön sie auch verziert und mit Perlmutteinlagen versehen sein mochte zwei entscheidende Nachteile: erstens- war ihre Ladung schwächer bemessen als die einer Flinte, zweitens konnte man damit bedeutend schlechter zielen als mit einer Muskete. Carberry trat als letzter den Rückzug zur Höhle an. Nanoq schob sich auf ihn zu. Ein leises Brummen drang aus seinem Rachen. Nanoq hatte immer noch nicht aufgegeben, aber er war vorsichtiger geworden. Vielleicht hatte er es allzu deutlich gespürt, wie der Musketenschuß über seine Stirn hinweggerast war - und das erhöhte seine Vorsicht jetzt doch wieder. Ed Carberry vergewisserte sich durch einen Blick über die Schulter, daß Ferris und der Gambia-Mann jetzt in der Höhle waren. Er überlegte sich, ob er stehen bleiben und dem Bären zwischen die Augen feuern sollte, sobald dieser auf weniger als zwei Yards heran war - die richtige Distanz, um auch mit der Pistole etwas auszurichten, aber nein, es war selbstmörderisch. Nanoq hatte Schnelligkeit bewiesen. Im letzten Moment konnte er so flink wie ein zubeißender Wolf vorzucken, und ein Biß, ein Tatzenhieb genügte, um Carberry zu töten. Carberry stapfte rückwärts zur Höhle. Nanoq duckte sich, kroch flach, geschmeidig, angriffsbereit dahin. Carberry hatte sich die leergefeuerte Muskete am Lederriemen über die Schulter gehängt. Er verfügte außer dieser Waffe und der Pistole noch über einen Schiffshauer, und er fragte sich, ob er, wenn er die Pistole abgeschossen hatte, nicht mit diesem breitklingigen Entermesser auf den Eisbären losgehen sollte. Aber er hatte ja gesehen, was Ferris' Axt gegen die Wut des Tieres ausgerichtet
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hatte. Genauso verhielt es sich mit dem Schiffshauer. Nein, so hatte er keine Chance. Nicht unter diesen Bedingungen. Nanoq konnte ihre momentane Schwäche ausnutzen und sie umbringen, wenn er wollte. Aber würde er sich bis in die Höhle wagen? Würde er das wirklich tun? Carberry beschloß, den letzten Schuß noch nicht abzugeben. Er bewegte sich zum Eingang der Eisgrotte, bückte sich, zwängte sich mit dem Allerwertesten zuerst und mit dem Kopf zuletzt hinein. „Kommt er?“ fragte Ferris Tucker hinter ihm. „Himmel, Ed, ich kann es nicht glauben, daß ein Tier so weit geht ...“ „Warte es ab“, sagte der Profos gepreßt. „Wir können nur hoffen, daß er sich abschrecken läßt.“ Er blickte aus schmalen Augen zu dem drohend schleichenden Tier hinüber und zielte nach wie vor mit der Pistole in der ausgestreckten Hand auf dessen Schädel. Es hatte keinen Zweck, nicht auf diese Distanz. Die Pulverladung der Pistole war nicht stark genug, um der Bleikugel einen solchen Drall zu verleihen, daß sie durch die Schädeldecke des Riesen schlug. Praktisch war die Kugel vergeudet, solange der Abstand so groß wie jetzt blieb. Es gab nur noch eine Möglichkeit, daß sich nämlich Nanoq wieder auf seine Hinterbeine stellte und die Brust für den Fangschuß darbot. Aber das tat er nicht. Plötzlich, ohne ersichtlichen Anlaß, wandte er sich ab. Mit einem verhaltenen Grunzen trottete er davon. Carberry glaubte in dem Schneetreiben zu verfolgen, wie er mit dem Maul etwas vom Boden auflas und mit sich fort trug, aber er vermochte nicht zu sehen, was es war. „Er ist weg“, sagte er aufatmend. „Na, ein Segen. Teufel auch, so einen höllischen Gegner habe ich mein Lebtag nicht gehabt.“ „Er wird zurückkehren“, sagte Ferris Tucker. „Ja, aber bis dahin haben wir zu einem neuen Gefecht gerüstet“, sagte der Profos grimmig. „Wie geht es Batuti?“
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„Sir“, ließ sich der schwarze Goliath leise vernehmen. „Is' nicht so schlimm, das. Hab schon dickere Dinger verdaut. Kleiner Kratzer am Arm, das ist alles. Nicht der Rede wert. Bin gleich wieder in Ordnung.“ Ferris untersuchte die Blessur und stellte fest, daß es sich bei dem „kleinen Kratzer“ um eine deftige Fleischwunde handelte. Die Krallen der Bärentatze hatten Batutis rechten Jackenärmel aufgeschlitzt und zerfetzt und eine ansehnliche Furche in die dunkle Haut gegraben. Blut sickerte pulsierend aus der Wunde hervor. „Zum Auswaschen und Verbinden haben wir nichts“, murmelte Ferris. „Aber bringen wir erst mal den Blutfluß zum Stoppen. Danach sehen wir weiter. Mit sauberem Schnee könnten wir die Verletzung wenigstens notdürftig waschen, und ein paar Stofffetzen schneiden wir aus unserer Kleidung zurecht.“ Carberry spähte immer noch aus dem Höhlenloch ins Freie. Der Eisbär war im abklingenden Sturm verschwunden. Wohin? Lief er nur ein Stück, um dann zu warten und sie zu belauern? Es war anzunehmen. Ferris warf einen Blick auf Carberrys breites Kreuz und die Muskete, die an dem Schulterriemen hing. „Ed, du könntest mir den Lederriemen des Schießeisens geben“, sagte er. „Du kannst ihn bestimmt entbehren, und ich binde damit Batutis Arm ab.“ „In Ordnung.“ Der Profos nahm die Muskete von der Schulter, setzte sich hin und löste den Trageriemen von den Halterungen der Muskete. „Apropos Musketen“, brummte er. „Wir müssen die anderen wiederholen. Und den Schnapphahnstutzen auch. Wenn wir die Flinten wieder laden, haben wir beim nächsten Angriff von Meister Petz genügend Zunder, um ihn zur Strecke zu bringen, das schwöre ich euch.“ „Warte noch mit dem Hereinholen der Waffen“, sagte Ferris. „Ja, gut.“ „Täusche ich mich, oder hat das Heulen des Blizzards nachgelassen?“ „Es stimmt, Ferris. Bald klart es auf.“
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„Fein“, sagte der Gambia-Mann grinsend. „Dann hauen wir weißes Bär um und bringen den Hundesohn zur ,Isabella`.“ „Leg du dich erst mal hin und laß dich verarzten“, meinte Ferris Tucker. „Ich bin zwar nicht der Kutscher, aber mit deinem kleinen Kratzer' werde ich auch fertig, wetten?“ „Ja“, sagte Batuti gedehnt. „Ich glaub's.“ „Hier, du alter Klamphauer“, wandte sich der Profos an den Schiffszimmermann. „Hier hast du den Riemen. Warte, ich helfe mit, ihn richtig schön strammzuziehen. Batuti, bald spürst du deinen Arm nicht mehr und denkst, er ist dir abgefallen. Ist das nicht fein?“ „Feine Sache“, sagte der schwarze Herkules. Während sie ihn so gut wie irgend möglich versorgten, ließ draußen das Schneegestöber immer mehr nach. Die Wolkendecke riß auf, gerade so, als könne sie es der Mitternachtssonne jetzt nicht mehr verwehren, auf Grönland herabzuscheinen. Das Licht siegte über die Dunkelheit und alles Unheil. Auch über die Bedrohung Nanoqs? 9. Ben Brighton und die anderen an Bord der „Isabella VIII.“ konnten jetzt wieder das Nordufer der Bucht sehen. Sie erkannten die Eisschicht, die sich dort wie eine menschenabweisende Mauer gebildet hatte, entdeckten auch wieder die Böschung, auf der Carberry in den Schnee eingesunken war - und natürlich erblickten sie auch das erste Beiboot, das nun mit dem Seewolf, der Roten Korsarin, Jeff Bowie, Matt Davies, Bob Grey, Luke Morgan, Shane und Stenmark im langsam ruhiger werdenden Wasser der Bucht auf die Galeone zuglitt. Smoky, der Ben und den übrigen Kameraden alles berichtet hatte, sagte leise: „Sie sind also gescheitert. Mein Gott, woran mag das nur liegen? So weit können der Profos, Ferris und Batuti doch nicht entfernt sein.“
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„Warten wir ab, was der Seewolf uns zu sagen hat“, erwiderte Ben. Kaum war Hasard an Bord seines Schiffes aufgeentert, wandte er sich an Dan O'Flynn. „Würdest du mir bitte ein Stück Papier und den Federkiel holen? Ich will euch aufzeichnen, was passiert ist.“ „Sofort“, sagte Dan. Er verschwand im Achterdeck und kehrte wenig später mit dem Gewünschten zurück. Hasard setzte sich ermattet auf den Rand der Kuhlgräting, nahm das Papier zur Hand und begann eine Skizze anzufertigen. Er malte die Umrisse der Bucht sehr präzise auf und gab auch das Nordufer mit der Eisbarriere genau wieder. „Aber du zeichnest das Nordufer ja als Landzunge“, sagte Ben Brighton. „Es ist auch eine Landzunge. Hinter der Barriere beginnt eine Gletscherzone - und wir haben es nicht gewußt, nicht einmal geahnt wegen des vielen Schnees, der das Eis bedeckt.“ „Und wie hast du es trotzdem herausgefunden?“ „Das ist ja das Drama. Eine riesige Scholle muß sich im Blizzard vom Festland gelöst haben. Das Eis an den Ufern Grönlands bricht um diese Jahreszeit überall ab und treibt dann in Form von Eisbergen und Schollen nach Süden. So auch diese Gletscherzone - der Sturmwind hat genügt, ihr den letzten Schubs zu verleihen, wenn ich es mal so ausdrücken darf. Das Brechen und Knacken, das Krachen und Zittern, das wir alle wahrgenommen haben - das war der Eisberg, der sich auf Fahrt begeben hat.“ „Und unsere drei Männer sitzen auf dem Eisberg?“ Ben Brightons Miene war mehr als verdutzt. „Das ist doch nicht zu fassen! Wir müssen sie da 'runterholen!“ Hasard erhob sich von der Gräting. „Sofort den Anker lichten, Männer. Ich habe gesehen, daß die Eisschollen, die vom Südwest in die Bucht gedrückt worden sind, uns noch genügend Spielraum lassen. Wenn wir geschickt genug manövrieren, sind wir schnell heraus und können auf offener See auf nördlichen Kurs gehen. Ich glaube nicht, daß die Abdrift nach Süden
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stark genug ist, Carberrys Eisberg mit in Richtung auf die Davis-Straße zu nehmen. Jedenfalls ist sie es auf keinen Fall hier, in Küstennähe. Vielmehr preßt der Wind den Berg weiter nach Norden hinauf.“ „Alle Mann klar zum Manöver“, leitete Ben den Befehl weiter. „Das Beiboot hochhieven, den Anker lichten und Segel setzen!“ Die Männer stoben auseinander. Auf dem jetzt kaum noch schlingern- den Schiff konnten sie sich mittlerweile ohne die Manntaue bewegen, zumal der Sand und die Asche, die der Kutscher ausgestreut hatte, die Planken ziemlich rutschfest gemacht hatten. Etwas später segelte die „Isabella“ hart am Südwestwind aus der Bucht, fiel ab und umrundete das Kap der nördlichen Landzunge. Gary Andrews war als Ausguck in den Großmars aufgeentert und hielt nach dem Eisberg Ausschau. Hasard und Siri-Tong hatten sich auf die Back der Galeone begeben und bedienten sich ebenfalls ihrer Spektive, um die Umgebung zu erkunden. Hasard und die Korsarin sichteten den Eisberg mit den Verschollenen nirgendwo, und genauso wenig Erfolg hatte Gary Andrews. „Dan!“ rief der Seewolf. „Enter du in den Vormars auf. Vier Augen sehen von dort oben mehr als zwei! Es ist mir so lieber.“ „Aye, aye, Sir.“ Dan, der beim Trimmen der Segel mitgeholfen hatte, verließ sofort seinen Posten, eilte zu den Fockwanten, schwang sich auf die Rüsten und enterte an der Luv auf. Im Nu hatte er den Vormars erreicht und zog sein Fernrohr auseinander, um die Kimm nach dem Eisberg abzusuchen. Hasard spähte durch das Spektiv noch einmal zur Landzunge zurück. Er hoffte, irgendwo dort in der weißen Einöde noch einmal die Gestalt Nanoqs, des Eisbären, zu entdecken, aber das Tier schien verschwunden zu sein. Verschwunden — oder mit Ed Carberry, Ferris Tucker und Batuti auf dem Eisberg? „Hölle und Teufel“, sagte er.
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Siri-Tong ließ den Kieker sinken und sah ihn von der Seite an. „Was ist denn? Hast du etwas gesehen?“ „Nein. Aber mir ist eingefallen, daß der Eisbär unseren drei Männern dichter auf der Pelle sitzen könnte, als wir alle glauben. Da ich annehme, daß Ed ihn durch einen Schuß verletzt hat, dürfte es ziemlich sicher sein, daß Nanoq halb blind vor Schmerz und rasend vor Wut durch die Gegend irrt.“ „Das kann ich nicht glauben! Du meinst, er nimmt an der Irrfahrt auf dem Eisberg teil und belauert sie?“ „Wir müssen damit rechnen.“ „Du meine Güte, hoffentlich finden wir sie bald“, sagte die Rote Korsarin. „Ich habe Carberrys fürchterliches Gebrüll nie sonderlich geschätzt, aber jetzt fehlt es mir. Ja, es ist unheimlich still an Bord der ,Isabella` geworden.“ * Batuti grinste zuversichtlich und tat so, als wäre ihm im Grunde überhaupt nichts geschehen. Aber irgendwie schien er doch bleich unter seiner dunklen Hautschattierung geworden zu sein. „Seht gut“, sagte er. „Kann ich jetzt eine Runde schlafen? O Mann, ist richtig gemütlich in dieses alte Mist-Höhle geworden.“ Carberry und Ferris Tucker betrachteten ihr Werk. Mit dem Lederriemen hatten sie Batutis rechten Oberarm abgebunden, und der Blutfluß hatte tatsächlich aufgehört. Mit Schnee hatten sie die Wunde notdürftig ausgewaschen und einen Verband aus Streifen von Carberrys Hemdstoff dem Gambia-Mann um den wunden Arm gewickelt. „Du kannst dich ausruhen“, erwiderte Ferris auf Batutis Frage. „Aber denk daran, daß du anfrieren kannst. Ich warne dich. Du mußt dich alle paar Minuten kurz bewegen und um eine Handbreite den Platz wechseln, sonst bleibst du am Eis kleben.“ „Ich denke daran.“ „Wie fühlst du dich?“ „Prächtig.“
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„Hör auf. Sag lieber die Wahrheit.“ „Schmerzen gehen am besten von Rum oder Whisky weg ...“ „Rum oder Whisky haben wir aber nicht“, sagte Carberry barsch. „Was glaubst du denn, wo du bist, du Himmelhund? Im Achterdeck der ,Isabella` etwa? Oder im Lotterbett einer Hafenhure? Teufel auch, ich schwör's dir, es wird eine ganze Zeit dauern, bis wir solchen Luxus wieder mal genießen dürfen. Aber beschwer dich nicht über dein Los, Batuti.“ „Tu ich ja auch nicht.“ „Es hätte uns schlimmer treffen können“, sagte der Profos, um sich selbst Hoffnung zu verschaffen. „So, ich krieche jetzt 'raus und sammle die Kanonen wieder ein, die ihr Kameraden einfach weggeschmissen habt. Wird Zeit, daß wir die Dinger wiederkriegen. Vielleicht sind sie ja schon wer weiß wie tief eingeschneit, und ich muß sie ausbuddeln. Hasard würde schön fluchen, wenn er seinen kostbaren Stutzen nicht wiederkriegen würde.“ „Warte. Wir laden die Muskete, und dann gehe ich mit 'raus und gebe dir Rückendeckung, während du die zweite Muskete und den Stutzen holst.“ „Meinetwegen. Ist wohl wirklich besser so.“ Carberry setzte sich also auf seinen Hosenboden, holte das Pulverhorn zürn Vorschein und füllte eine gute Portion Pulver in den Waffenlauf ein. Ferris praktizierte eine Bleikugel in den Lauf, und dann stopfte der Profos mit dem Ladestock kräftig nach, bis die Ladung richtig festsaß. Carberry kroch nach draußen, stand auf und blickte sich erstaunt um. Die Sonne schien die Wolken zu schmelzen, es wurde heller und heller, und der Wind ließ nach, bis er nur noch handig von Südwesten herüberwehte. Es hatte ganz aufgehört zu schneien. Carberry blinzelte ein wenig, dann hob er den Kopf und schaute an dem mächtigen Getürm aus Eis und Schnee hoch, das sie für eine simple „Barriere“ gehalten hatten. Er sah den Sockel, auf dem Batuti während des Angriffs von Nanoq gestanden hatte, und dieser Sockel, das registrierte er erst
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jetzt, lag gut und gern zwanzig Yards unter den höchsten Spitzen des Berges., „Nun sieh dir das an, Ferris“, sagte der Profos. Ferris hatte sich vor dem Eingang der Höhle aufgebaut und hielt ebenfalls nach allen Seiten Ausschau. „Ein richtiger Berg“, murmelte er. „Wer hätte das gedacht?“ Carberry begann nach der zweiten Muskete und dem Schnapphahnstutzen zu forschen. Er hatte sich die Stellen gemerkt, an denen sie zu Boden gefallen waren, und hier kniete er sich jetzt hin und grub mit beiden Händen, aber die Waffen tauchten nicht aus dem Schnee auf. „Das ist ja verdammt merkwürdig“, sagte er. „So tief können sie nun auch wieder nicht liegen, die Scheiß-Flinten. Bin ich blind, oder habe ich den falschen Platz ausgesucht?“ Er fluchte vor sich hin und grub noch eine Weile herum, dann gab er es auf. „Nichts zu machen“, stieß er wütend aus. „Also, das kann ich mir nicht erklären.“ Er richtete sich auf, verharrte aber plötzlich wieder in der Bewegung. „Nicht erklären Mann, Ferris, jetzt kommt mir ein Verdacht!“ „Spielst du etwa auf den Bären an?“ „Ja. Was nun, wenn er sie weggeschleppt hat?“ „Unmöglich.“ „Ferris, ich habe schon Wale kotzen sehen.“ Der rothaarige Schiffszimmermann wollte dazu eine passende Bemerkung abgeben, aber plötzlich stand auch er stocksteif da und hob verwundert den Kopf. „Potztausend“, sagte er. „Spinne ich, Ed, bin ich schon halb durchgedreht - oder schwankt es hier wirklich?“ „Es schwankt? Du meinst - wie auf einem Segelschiff?“ „Ja, so ungefähr.“ „Mann“, stieß der Profos aus. „Wir müssen feststellen, woran wir sind. Ich marschiere jetzt los und kundschafte die Gegend aus.“ „Ich komme mit.“ „Und Batuti?“
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„Er ist in der Höhle ziemlich sicher. Wir verschließen den Eingang mit etwas mehr Schnee und lassen ihm die Pistole da. Ich nehme die Axt mit, außerdem Batutis Pfeile und den Bogen. Du hast die Muskete und deinen Schiffshauer.“ „Gut, ich bin einverstanden“, sagte der Profos. „Beeilen wir uns.“ 10. Viermal war das Stundenglas auf dem Quarterdeck der „Isabella“ wieder umgedreht worden, und es ging jetzt auf Mitternacht zu. Die Galeone war nach Hasards Berechnungen jetzt gut zwanzig Meilen nach Norden hinauf gesegelt. Aber trotz der inzwischen guten Sichtverhältnisse war der Eisberg nach wie vor nicht gefunden worden. Hasard überlegte sich, ob er vielleicht zu voreilig gehandelt hatte. Hatte er sich am Ende getäuscht? Saßen Carberry, Tucker und der Gambia-Mann vielleicht gar nicht auf dem treibenden Eis-Giganten gefangen, sondern warteten auf dem Festland darauf, von ihren Kameraden an Bord zurückgeholt zu werden? „Sir!“ rief Dan O'Flynn plötzlich. „Deck! An Backbord haben wir einen Eisberg, ganz weit hinten an der Kimm, aber der treibt nach Süden!“ „Das kann nicht unser Eisberg sein“, urteilte der Seewolf. „Er kann nicht erst nach Norden gezogen sein, dann einen Bogen schlagen und sich in die entgegengesetzte Richtung wenden.“ „Unser` Eisberg“, sagte Siri-Tong, die immer noch neben dem Seewolf auf der Back der Galeone stand. „Wie sich das anhört. Und was tun wir, wenn der Berg von der nördlichen Landzunge der Bucht aus gar nicht nach Norden, sondern gleich nach Süden abgetrieben ist?“ „Ich mag gar nicht daran denken“, erwiderte er. „Aber ich habe inzwischen beschlossen, nicht mehr als dreißig Meilen nach Norden zu segeln. Haben wir bis um drei, vier Glasen nach Mitternacht immer noch nichts entdeckt, kehren wir um, kreuzen gegen den Wind und forschen die
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Küste Grönlands systematisch in südlicher Richtung ab. Schneller als wir kann der Eisberg auf keinen Fall sein.“ „Ja.“ Sie sann eine Weile nach, dann sagte sie: „übrigens, du wolltest mich noch wegen meiner eigenmächtigen Handlungsweise ins Gebet nehmen. Weil ich im Blizzard an Land gepullt bin, meine ich ...“ „Ach, hör doch auf. Wer denkt denn jetzt daran?“ erwiderte er. Sie hüllten sich beide wieder in Schweigen, und auch die anderen am Oberdeck sprachen kaum ein Wort. Bill, der Moses, drehte auf dem Quarterdeck wieder das Stundenglas um und kündigte durch Glockenschlag an, daß eine halbe Stunde vorbei war — da meldete sich Gary Andrews vom Großmars aus. „Deck, Segler ho! Backbord voraus!“ rief er. Dan O'Flynn hatte gerade zur Steuerbordseite hinübergespäht, deshalb hatte er die Erscheinung diesmal nicht als erster gesichtet. Er drehte sich nun nach Backbord, blickte durch den Kieker und sah das fremde Schiff zur selben Zeit wie Hasard und Siri-Tong, die von der vorderen Querbalustrade der Back aus ebenfalls eifrig Ausschau hielten. Ja, da war wirklich ein Schiff an der Kimm, ein langer Kahn mit einem einzigen Segel, soviel konnten sie alle erkennen. Sein Bug war geschwungen und weit hochgezogen. Irgendwie hatten sein ganzes Aussehen, die Beschaffenheit des Rumpfes und die Höhe und Stellung des Mastes etwas Veraltetes an sich. Hasard konnte es nicht genau erkennen, aber er hatte den Eindruck, daß das Schiff zusätzlich durch Riemen voranbewegt wurde. Es lief gute Fahrt und hielt nördlichen Kurs. „Ein Schiff“, sagte er. „Hier oben. Nein, Eskimos sind das nicht. Hendrik Laas hat mir immer wieder versichert, daß sie nur Kajaks und Umjaks haben und damit allenfalls an den Küsten entlangstreifen.“ „Hasard ...“ „Ja?“
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„Hat Hendrik Laas dir auch beschrieben, wie die Drachenboote und Knorren der Nordmänner aussahen?“ „Du meinst, das Schiff dort könnte Wikingern gehören?“ „Ja.“ Er setzte wieder das Spektiv an und beobachtete den fremden Segler. „Unglaublich. Daß sie hier oben noch herumspuken — davon weiß also nicht einmal Hendrik Laas etwas. Old O'Flynn wird natürlich wieder behaupten, das sei ein Geisterschiff, aber ich würde brennend gern mit diesen rauhen Kerlen dort Verbindung aufnehmen..“ „Deck!“ schrie Dan O'Flynn. „Sie luven an und laufen nach Nordwesten ab. Mit uns wollen sie anscheinend nichts zu tun haben. Sie haben uns garantiert auch gesichtet, aber jetzt verholen sie sich.“ Das fremde Schiff verschwand in der Tat hinter der westlichen Kimm. „Wir bleiben in Küstennähe“, sagte der Seewolf. „Die Suche nach unseren Kameraden geht vor. Wenn der Südwest den Eisberg irgendwo weiter nördlich gegen das Ufer gedrückt hat, müssen wir ihn innerhalb der nächsten zwei Stunden vor uns haben.“ „Lieber Wind“, murmelte die Rote Korsarin. „Warum hilfst du uns nicht, den Profos, Ferris Tucker und Batuti wieder zu finden?“ Es klang fast wie ein Gebet. Nur wenige Minuten später vernahmen sie einen Schuß. Das Geräusch, das so ähnlich klang, als habe man ein Stück Fleisch in siedendes Öl geworfen, drang von Norden zu ihnen herüber. * Ed Carberry und Ferris Tucker hatten den Berg aus Eis und Schnee umwandert, stets auf der Hut, immer darauf vorbereitet, mit Nanoq, dem weißen Feind, zusammenzutreffen. Jenseits des Berges hatten sie keine Spur des Bären gefunden, aber sie hatten den Rand erreicht, von dem aus es, steil und glatt vielleicht einen halben Yard weit bis auf das tiefblaue Wasser hinabging.
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Betroffen blieben sie stehen und sahen sich an. „Augenblick mal“, sagte der Profos dann. „Damit ist noch nichts bewiesen. Wir sind wieder an der Küste des Festlandes gelandet, nachdem wir die Orientierung verloren hatten, und wenn. wir in östlicher Richtung gehen, stoßen wir vielleicht auf die Bucht.“ „Wie wäre es, wenn wir nach Westen liefen?“ fragte Ferris. „Nach Westen?“ Carberry kratzte sich am Kinn, legte sein Gesicht in kummervolle Falten und sagte schließlich: „Tja ...“ Sie entschieden sich doch für Osten. Gut eine Viertelmeile weit waren sie gelaufen, da wußten sie es: Sie befanden sich wirklich auf einem Eisberg. Das Ufer aus Eis und Schnee hatte einen Halbkreis beschrieben, und wieder waren sie um den Berg herumgewandert, diesmal auf seiner anderen Seite. Verdrossen schwiegen sie, stopften die Hände in die Taschen und marschierten durch die Kälte. Ferris war es, der plötzlich die Abdrücke im Schnee entdeckte. Er stoppte, stieß den Profos mit dem Ellbogen an und wies ihn so auf die Fährte hin, die von rechts, vom Berg aus, kam und vor ihnen her verlief. Große Fußstapfen waren das, so groß, daß Carberrys Fuß, der auch nicht gerade klein war, hineinpaßte und noch Spielraum hatte. Nanoq, der Bär, war wieder da. Gleichzeitig hoben die Männer die Köpfe. Sie hatten das Aufpeitschen der Pistole vernommen, und es bedurfte keines Kommentars, sie wußten genau, was passiert war. Es hatte keinen Sinn, sich falschen Hoffnungen hinzugeben. Nanoq hatte Batuti aufgestöbert und angegriffen. Sie begannen zu rennen und folgten dem Verlauf der Fährte. Sie stolperten, drohten einzusinken, zu fallen, fluchten und brachten sich doch immer wieder voran. Carberry spannte den Hahn der Muskete; Ferris nahm Batutis Bogen zur Hand und legte einen Pfeil an die Sehne. Sie umrundeten den aufragenden Ostbuckel des Eisberges, hasteten auf der
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Spur des Bären weiter - und sahen dann plötzlich den Schneehaufen, unter dem sich ihre Höhle verbarg. Nanoq, der Rächer, Nanoq, der Verletzte, hockte vor dem Eingangsloch und hieb immer wieder mit der einen Tatze hinein. Batuti mußte die Pistole auf seinen Schädel abgefeuert haben, aber die Kugel war nicht tödlich gewesen. Im Näherlaufen konstatierten Ed und Ferris, daß der Bär auch am Kopf blutete, aber das schien ihn nicht daran zu hindern, denjenigen anzugreifen, der ihm die neue Wunde verpaßt hatte. Batuti schrie jedoch nicht. War er schon tot? Carberry blieb fünf Yards von dem Bären entfernt stehen, legte an und zielte diesmal sehr sorgfältig. Ferris pirschte sich weiter rechts noch etwas näher an das Tier heran, achtete aber darauf, nicht in die Schußlinie des Profos' zu geraten. Er verharrte, hob den Bogen und spannte die Sehne. Carberry schoß, der Schuß brach mit einem lauten Donnerhall: Ferris ließ den Pfeil von der Sehne schwirren. Nanoq wankte, ließ von der Höhle ab, wandte sich heulend ihnen zu und richtete sich blutend und mit dem Pfeil im Nackenfell auf. Er hatte immer noch genug Energien, um sich ihnen entgegen zu werfen. Er mußte ein Nanohuaq sein, ein besonders großer Bär, denn daß mehrere Kugeln und ein Pfeil ihm nicht den Tod brachten, war mehr als eine Überraschung. Es war ein böser, diabolischer Traum, daß er aufrecht auf sie zustapfte, die Tatzen erhoben, um sie zu erschlagen. Es war ein Traum, der ein sehr konkretes Ende hatte, dessen Name Tod lautete. Carberry ließ die Muskete fallen: Ferris Tucker warf den Bogen und die Pfeile fort und griff zu seiner Zimmermannsaxt. Sie stürzten beide todesmutig auf Nanoq zu, denn dies, das begriffen sie in diesem Augenblick beide, war die einzige, letzte Chance, sich gegen den Koloß zu behaupten. Carberry hätte den Schiffshauer gezückt und ging den fauchenden, grollenden, um
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sich hauenden Bären von der linken Körperseite an. Ferris griff ihn frontal an und riskierte die tödliche Umarmung der Tatzen, die ihn mühelos zermalmen würden. Aber Nanoq wurde durch Carberry abgelenkt, und Ferris Tucker schwang die Axt rechtzeitig hoch und hatte genug Zeit zum Zuschlagen. Er legte alle Kraft in diesen ein- zigen, vernichtenden Hieb auf Nanoqs Haupt, riß die Axt wieder an sich, sprang zurück und schrie auch dem Profos zu: „Ed, zurück!“ Carberry zog das Entermesser aus der Wunde, die er dem Tier beigebracht hatte, wandte sich so schnell wie möglich ab und war mit Ferris Tucker Zeuge, wie der weiße Bär im Schnee zusammenbrach. Nanoq zuckte nicht mehr, er legte sich nur ganz ruhig auf die Seite und hörte auf, sich zu bewegen. Seine Augen wurden blicklos. Er hatte aufgehört, seinen Haß gegen die Menschen aus- zutoben, und jetzt - ja, jetzt empfanden die Männer Mitleid mit ihm. Ferris Tucker eilte um den Körper des Eisbären herum zur Höhle, bückte sich und steckte seinen Kopf in die Öffnung. Da sah er statt eines toten einen sehr lebendigen, messerschwenkenden Gambia-Mann, der wie der Teufel höchstpersönlich grinste und sagte: „Wurde aber auch Zeit, daß ihr kamt. Verdammich, mit Messer konnte Batuti weißen Bär nur kitzeln, mehr nicht.“ „Es ist vorbei, Batuti“, sagte Ferris. „Er ist - tot?“ „Ja.“ „He, ihr müden Sprotten!“ schrie draußen der Profos. „Seht euch das an! Das ist zu schön, um wahr zu sein! Ho, die heiße Fleischsuppe des Kutschers wartet auf uns - und ein paar Becher voll Rum!“ Batuti kroch zu Ferris, und dann spähten sie beide von der Höhle aus nach Süden. Dort segelte die „Isabella“ stolz wie ein Schwan heran, und aus ihren Masttoppen wurde bereits signalisiert, ob alles in Ordnung sei auf dem treibenden Eisberg sie war ein rettender Engel in der weißen, kalten, erbarmungslosen Wildnis.
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