KLEINE
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WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
YITALIS PANTENBURG
BEI DEN RENTIE...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
YITALIS PANTENBURG
BEI DEN RENTIERHIRTEN IN LAPPLAND
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
Markkina ja juhla Strahlend steigt die Sonne zu ihrem flachen winterlichen Tage bogen über dem schneeflimmernden Land der Lappen auf. Kein Lüftchen weht. Der Rauch über den Feuern der Renhirten am Waldesrand kräuselt in der eiskalten klaren Luft fast senkrecht hoch. Von vielen Seiten streben in stiebender Fahrt die Karawanen der bootartigen „Pulkkas" und Schlitten dem großen umzäunten Pferchrund im Walde zu. Weitausgreifend jagen die Rentiergespanne dahin. Erwartungsfroh versammeln sich die pelzgekleideten Menschen der lappischen Wildmark an der überlieferten Stätte; denn heute beginnt das große Ereignis des „Poro-Erotus" — die Scheidung und Zählung der Rentiere. Es ist ein Fest für alle, die in tagelanger Fahrt durch die tiefverschneite ödmark von weither zureisen, für Alte und Junge. Vielleicht sind die heiratslustigen Burschen und Mädchen am meisten mit dem Herzen dabei. Denn wann und wo käme man im Ablauf des Lappenjahres noch einmal zu solch einem Tag des Wiederbegegnens und Kennenlernens zusammen? Es ist „Markkina ja juhla" — Markt und Fest zugleich. Wochenlang haben die Frauen eifrig für die Männer, für sich und die Kinder, die schon mitziehen dürfen, genäht. Und was haben erst die größeren Mädchen nicht alles getan, um sich farbenfroh und schön zu kleiden, die bunten Muster für Handschuhe und Bänder zu stricken, Pelzwerk zu nähen und mit den buntesten Wollstreifen zu besetzen! Das leuchtet in Gelb, Rot, Orange und Grün. Gegen das reine strahlende Weiß des Schnees wirkt die Tracht der Lappen besonders farbenprächtig. Männer, Frauen und Kinder tragen jetzt im Winter einen weiten, tief herunterreichenden Kittelrock, die Kolte, aus dickem blauem Tuch, das mit farbschönen Streifen verziert ist; darüber den halblangen Überwurf aus Rentierpelz, „peski" genannt. Ein sehr breiter, schwarzer Gürtel hält ihn zusammen. Die Metallplättchen und breitköpfigen Nägel, mit denen der lederne Gurt beschlagen ist, glänzen in der wärmenden Sonne. Am Leibgurt hängen das schwere breite Messer und in einem Bebalter aus Hörn oder Röhrenknochen das Nähzeug, das man unterwegs immer zur Hand haben muß. Wenn man diese Menschen in 2
ihrer ausladenden Gewandung sieht, denkt man Wunders, wie dick die Bäuche selbst recht junger Lappen sein müssen. Aber das scheint nur so. Sie haben auf dem Leib über dem Gürtel alles untergebracht, was warm, trocken und wohlverwahrt gehalten werden soll: Tabak, Pfeife, Feuerzeug, Geldtasche und manch andere nützliche Dinge. Die Beine stecken in engen Hosen aus starkem Tuch; sie sind außerdem durch Lederbeinkleider geschützt, die bis zum halben Oberschenkel hinauf reichen. Unten ist die Beinbekleidung durch sehr bunt gewebte, lange Bänder mit iden federleichten Fellschuhen verbunden. Strümpfe kennt man nicht; die Füße umhüllt trockenes Heu, das wundervoll warm hält. Und dann die Kopfbedeckung: Bei dem Stamm finnischer Lappen, den wir anläßlich der großen Festtage besucht haben, sind es die „Vierwindecken-Mützen", vierzipfelige Gebilde, die innen mit Daunenflaumfedern ausgestopft sind und um den Stirn- und Schläfenteil feine Fell- und Wollstreifen als Zierbänder tragen. Die einzelnen Lappenstämme haben verschiedenartige Kopfbedeckungen; die schwedischen Lappen zum Beispiel ziehen Schirmmützen mit feuerroten Wollquasten über, ihre Frauen haben als Kopfputz und Kopfschutz buntverzierte Hauben. Das Mannsvolk, die Rentierbesitzer und ihre zähen „Poromiehet" — die Hirten —, sind schon seit einiger Zeit unterwegs, um die Herden und Trupps der immer ziehenden Rene zu sammeln und sie in mühevollem Auftrieb in Richtung des Scheidungsplatzes zu lenken. Weil im Verlaufe des Jahres die Tiere durch Unwetter oder Wolfsrotten oder durch andere Anlässe oftmals versprengt werden und auch Rene aus fremden Herden sich der eigenen Herde zugesellt haben, muß der ganze Rentierbestand einmal im Jahre „geschieden" und gezählt werden. Man will sich zugleich über den Stand des Vermögens, das nach der Stückzahl der Tiere bewertet wird, unterrichten. Jeder Besitzer weiß sehr genau über jedes ihm gehörende Ren Bescheid; er erkennt es an seinem von den Behörden nur ihm zuerkannten Zeichen, das in die Ohren eingekerbt oder eingeschnitten wird. Es gibt zahlreiche Kerb- oder Schnittformen, und sie sind in die amtlichen Bücher eingetragen. Schon Tage vor dem Fest der Rentierscheidung ist Herde um Herde bei dem großen Sammelplatz eingetroffen. Mit kräftigen
Bohlen und Stangen ringsum gesichert, liegt das umhegte Gelände halb versteckt im Walde. Jeder herankommenden Herde gleitet auf Skiern ein Erster Hirte voraus. Es ist nicht leicht und es gehört viel Geschick, große Umsicht und viel Mühe dazu, den Leithirsch durch das weitoffene Tor in das Zaunrund hineinzutreiben. Ist das endlich gelungen, folgen willig die anderen Tiere. Sobald die letzten Rene eingebracht sind, werden schnell die Balken vor die Pferchöffnung geschoben. Ein Bild hinreißenden Lebens bietet sich dem Fremden, der zum erstenmal beim Poro-Erotus der Lappen dabei sein darf. Aber auch für die Eingeborenen, die sich leidenschaftlich und neugierig an das Gatter drängen, ist die Scheidung und Zählung ein äußerst aufregender Vorgang. Die ihrer Freiheit beraubten und durch die vielen Menschen höchst beunruhigten Tiere beginnen verstört rundum zu jagen. Mit angstgeweiteten Lichtern und offenen, bebenden Äsern kreisen sie immerzu trabend am Balkenzaun entlang. Über das wogende vielzackige Gestrüpp der Geweihe wirbelt der Schneestaub, erhebt sich der Dunst der warmen Leiber. Wie das Geklapper tausender Kastagnettenpaare klingt das eigenartige Klicken der Hufe. Es dauert lange Zeit, bis sich die Tiere ein wenig beruhigen. Schon klettern die Renhüter behend und unternehmungslustig über die Umzäunung, Frauen und Kinder zwängen sich zwischen den Absperrbalken durch. Es beginnt die harte Arbeit des Einfangens. Nach den Besitzerzeichen ihrer Herren spähend, durchforschen die unfehlbar scharfen Augen der Poromiehet das Gewimmel der Tiere, während die Wurfleinen Bucht um Bucht sorgsam aufgeschossen werden. Zischend fährt jetzt hier und dort das Lasso durch die Luft und fängt sich an einem Geweih. Gleich packen die behandschuhten Fäuste der Hirten zu und holen die Fangleine Hand um Hand wieder ein. Aber solch ein starker Renhirsch gibt sich nicht gutwillig drein. Wild bockt er, macht rasende Sprünge, nicht selten geht er den Hirten mit dem Horngewaff an. Der Renhüter —• nicht faul — greift nach einem Vorderlauf mit der einen, blitzschnell nach dem Geweih mit der anderen Hand und zerrt das Tier zum Eingang des Pferches. Verzweifelt wehrt es sich, aber es hilft 5
nichts. Zuletzt bequemt sich der Gefangene in einen der „Konttoris" — das sind die kleineren Krale, die an den großenPferch anschließen und in denen die Rene, je nach der Ohrenmarke ihres Besitzers, gesammelt werden (s. Abb. S. 3). „Heij-heij, Antti, was machst du denn da?" schreit Paavo, der Hirte aus dem Nordtal. Er stemmt die Fäuste in den tiefgegürteten Peski, den Fellüberwurf, und lacht und lacht, aber er rührt keine Hand, um Antti beizuspringen. Alle, die in der Nähe sind, halten inne und drehen sich um. Ein herzhaftes Gelächter schallt durch das Rund. Was gibt es schöneres für einen Lappen, als unbeschwert zu lachen! Das tut man viel und gern, auch über allerlei fautsdicke Lügengeschichten, die sich diese Naturkinder mit viel Erfindungsgabe und Humor zusammenreimen. Antti bietet auch einen zu komischen Anblick . . . Prustend und wild mit Armen und Beinen rudernd, liegt der breitschultrige Kerl unter einem Ren, das er gerade in den Kral seines Herrn hineinbugsieren wollte. Aber das Ren hat ihn neben sich her hergezerrt. Antti ist mitsamt dem Hirsch im wilden Kampf zu Boden gepurzelt und sucht sich verzweifelt von der auf ihm liegenden Last zu befreien. Da die Männer das Schauspiel genießen und den Spaß weiterverfolgcn wollen, springt die reizende Marjatta hinzu, packt entschlossen und mit sicherem Griff den Hirsch bei seinem Geweih und hilft dem Burschen wieder auf die Beine. Es ist ihm nicht ganz recht, gerade der Marjatta „kiitos pallion" — .Danke schön' — sagen zu müssen. Denn alle Leute wissen, daß Marjatta so gut wie verlobt mit ihm ist. Anttis Vater ist ein reicher Sippenältester der „Vierwindecken-Mützen". Aber die wackere und unbefangene Marjatta freut sich, daß sie Antti und den Zuschauern ihren Mut und ihre Sachkunde beweisen konnte. Ihre Wangen glühen vor Eifer, als sie jetzt gemeinsam mit dem Verlobten den Hirsch zum Konttori des Vaters schleppt. Von allen Seiten klatscht man ihr Beifall, und Antti scheint sehr stolz auf Marjattta zu sein. Er faßt sie um die Hüften und schwingt sie galant über den Zaun. 6
Oft genug wird einer allein mit einem kräftigen Hirsch nicht fertig. Dann müssen eben andere helfen. Die präclitig gekleideten, immer heiteren Madchen packen tüchtig mit zu, was von den Burschen nicht ungern gesehen wird; denn die Arbeit des „Scheidens" ist ein sehr anstrengendes Geschäft.
Am Lagerfeuer Inzwischen haben die Lappenfrauen mitten im Schnee ein Feuer entfacht. Darüber hängen schwarzberußte Kessel, in denen dick der Kaffee brodelt, unentbehrliches und beliebtestes Getränk des Lappenvölkchens. Freilich pflegen sie den Kaffee sehr kräftig zu salzen, was nicht gerade nach dem Geschmack der Fremden ist, denen man den dampfenden Trunk gastfreundlich anbietet. In einem andern riesigen Topf wird fette Renfleischsuppe siedendheiß bereitgehalten. Da findet sich nach und nach jeder einmal ein, um sich zu stärken und ein Schwätzchen zu halten. Lustiger Zuruf geht hinüber und herüber, wenn sie da im Schnee sitzen, Markknochen abschlecken und große Brocken schmatzend vertilgen. Über dem Schmausen erzählen sie sich die tollsten Geschichten. Die meisten gehen natürlich um die Rene. Die Jungburschen haben die Köpfe zusammengesteckt; denn eben gibt Matti, der listigste unter den Renhirten, eines seiner Histörchen zum besten. Er ist nicht weit von der „Dreireichsecke" zuhause, wo Finnland, Schweden und Norwegen zusammenstoßen. Im vergangenen Winter schlich Matti heimlich über die Grenze auf norwegisches Gebiet und sprengte aus der Herde eines reichen „Poroparoni" — eines Rentierbarons, der kein Lappe ist — einen kleinen Trupp Tiere ab. Die Rene bekam Matti unbehelligt ins Finnische herüber. Er und sein Gefährte Toivo schlachteten sie unverzüglich ab und verkauften Felle und Fleisch um guten Preis an einen Händler. Rentierstehlen gilt unter den Lappen seit je als beinahe ehrenwerte Sache, als eine Art Sport, der gern betrieben wird. Nur — man darf sich nicht dabei erwisdien lassen. Am besten geht es mit
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den Renkälbern, solange sie noch nicht gemarkt, also noch nicht mit dem Zeichen ihrer Mutter versehen sind. Dem Besitzer der Muttertiere gehören von rechtswegen die Neugeborenen, auch wenn sie in der Freiheit zur Welt gekommen sind. Zuweilen faßt man den Dieb, wenn er seine Beute durch die Wälder davontreibt. Weniger die Buße, die der „Lensmanni", der Gerichtsherr des betreffenden Bezirks, dem Dieb auferlegt, ist dem Ertappten so peinlich, sondern weit mehr die allen offenbare Tatsache, daß er nicht schlau genug zu Werke gegangen war. Was seine Ehre angeht, so ist der Lappe darin äußerst empfindlich. Man muß seine Gewohnheiten und Anschauungen kennen, um bei ihm nicht durch Unbedachtsamkeit ins Fettnäpfchen zu treten. Eine große Zeitung der finnischen Hauptstadt Helsinki hatte einen Reporter in den Norden entsandt, damit er den Großstädtern das Neueste aus dem Lappenlande berichten sollte. Zumeist geben die Lappen dem Fremden, und wäre er noch so neugierig, bereitwilligst Auskunft. Der Zeitungsmann geriet bei seinen Interviews an den verrunzelten Tavetti, der sonst als sehr freundlich galt und Herr über etliche Tausend Rene war: „Wieviel Tiere zählt denn deine Herde?" fragte der Reporter und zückte schon den Bleistift. Aber diese Frage hätte er hier im Lappenlande niemals stellen dürfen. „Ei ei" — ,nei nein' — „das ich nicht wissen", radebrechte der Alte mit undurchdringlicher Miene in kaum verständlichem Finnisch — er hatte das Finnische noch nicht in der Schule gelernt, wie die Lappen Finnlands es heute lernen. Auch die Umstehenden zeigten verschlossene Gesichter. Die Situation rettete der staatliche Aufsichtsbeamte, der seine lappischen Schutzbefohlenen in dieser Hinsicht genau kannte: „Der Tavetti hat ganz recht", sagte er. „Denn das kann niemand genau wissen, weil doch die Herden viel und weit umherstreunen und manche Tiere Vielfraß und Wolf zum Opfer fallen." Und dann zog der Beamte den Journalisten beiseite und machte ihn darauf aufmerksam, daß es als äußerst unhöflich gelte, einen Lappen nach der Zahl seiner Rene zu fragen; das sei genau so unangebracht, als wenn in Helsinki irgendein völlig Fremder von einem 8
Eingesessene« wissen wolle, was er verdiene und wie hoch sein Vermögen sei. Rentiere sind für diese letzten Nomaden Europas der wichtigste Besitz. Ohne sie hätten die Lappen in der Vergangenheit ihren Bestand niemals erhalten können. Dem Lappen gibt das Ren alles, was er braucht: Zugkraft und Tragkraft, Felle für Kleidung und Schuhwerk, Lederdecken und Verschniirung für seine Zeltbehausung, Decken für die Schlafstatt, Werkzeug aus Geweih und Knochen, Fleisch, Fett und Milch als Beitrag zur Ernährung. Durch den Verkauf kommt der Lappe auch zu dem für ihn so wichtig gewordenen Geld; denn auch die Lappen haben heute Bedarf an mancherlei Dingen des modernen zivilisatorischen Lebens, an einem Teekessel etwa, an einer Uhr oder an einem Außenbordmotor für ihre Boote — und auch für Wohnung und Schule. Immer mehr Familien gewöhnen sich daran, im Winter ihre Lager zu verlassen und in der Stadt zu wohnen, wo die Kinder Unterricht erhalten. Gesünder ist zweifellos das Nomadenleben in den Kohten aus Stangen und Fellen. Die drei nordischen Staaten, Norwegen, Schweden und Finnland, geben sich viel Mühe, die Eigenart und Existenzgrundlage ihrer nördlichsten Landeskinder zu erhalten. In den Internatsschulen lernen die lappischen Naturkinder die Landessprache und manches Nützliche dazu. Leider dringen mit der besseren Zugänglichkeit ihrer Wohnsitze durch Autostraßen, Bahnen und Flugzeuge mehr und mehr auch unerwünschte Gewohnheiten ein. Sie bringen viele wenig erfreulichen Begleiterscheinungen, „Touristen-Industrie" und allerlei Ungutes und schlechte Sitten in die Welt der Lappen.
* Solange es noch hell genug ist, geht die wilde Jagd durch den Pferch unentwegt weiter, bis die letzten Rene eingefangen und gezählt sind. Die Tiere, deren Eigentümer nicht feststellbar sind, werden versteigert. Der Erlös dient dazu, den Wildschaden, der durch die Renherden im Besitztum der Kolonisten angerichtet wird, wieder gutzumachen. Wenn die Konttoris gefüllt sind und das Pferchrund leer ist, kommt der letzte Akt, ein notwendiger und trauriger zugleich, das 9
Schlachten vieler vorher bestimmter Tiere. Meist ist es ein Viertel der Bestände, das zum Schlachten ausersehen ist. Felle und Fleisch bringen viel Geld ein. Der weiße Schnee färbt sich rasch purpurrot. Die Haufen der ausgekühlten Decken und Fleischstücke werden unter den geschickten Händen der Männer rasch zahlreicher und höher. Morgen wird man sie für die Aufkäufer, die sich eingefunden haben, auf Schlitten zur nächsten Straße hinfahren. Dort stehen schon die Lastautos bereit und bringen die Produkte aus der lappischen „Haustier"-Zucht zur Bahn oder an die Küste. Die Gilde der Feinschmecker zählt seit langem schon Rentierzunge und Rentierbraten zu den hochgeschätzten Delikatessen. Tief senkt sich früh schon die klirrend-kalte subarktische Winternacht über den Platz der Rentier-Scheidung und über Wälder und Tundren. Hochauf lodern die Balkenfeuer vor den Kohten, den fellüberzogenen Stangenzelten. Längst liegen die Kinder wohlgeborgen und müde vom Herumtollen unter den molligwarmen Felldecken. Nur die Großen sitzen noch zusammen, bespredien die Ereignisse des Tages und tauschen ihre Erlebnisse aus. Sie freuen sich der Muße und lassen die Rentierkeulen aus den Kesseln die Runde madien. Das heiße Fett rinnt ihnen über Kinn und Peski. Und immer wieder füllen die Frauen glühendheißen Kaffee in die Holzbecher. Ganz still aber werden alle, wenn einer der würdigen Alten anhebt, eine der grausigen Sagen von den bösartigen Stallos, von Unholden, die im Lappenland ihr Wesen treiben, oder eine der hübschen Märchengeschichten und Tierfabeln zu erzählen. Obwohl die Lappen längst Christen geworden sind, übt doch ihre Umgebung mancherlei Einfluß auf sie aus. Vor allem die Älteren haben sich noch nicht ganz vom Einfluß früher verehrter und gefürchteter Götter und Unholde freimachen können. Solange Lappen mit ihren Renherden durdi die einsamen Weiten der Tundren ziehen, wird es wohl so bleiben. Die jungen Leute interessieren die ernsthaften Dinge der Alten nur wenig. Da spinnen sich heimliche zarte Fäden an zwischen Juho und Inkeri, zwischen Kyllikki und Tuuri, zwischen Antti und Marjatta. Doch selten entsdieidet zwischen Lappen die wirkliche Zuneigung bei der Bindung fürs ganze Leben. Hierzulande kommt es 10
vor allem auf die Zahl der Rene an, die jeder Teil in die Ehe bringt. Kein reicher Lappenvater wird seine Tochter gutwillig einem noch so tüchtigen und prächtigen Renhirten geben, der arm an Tieren ist. Hoch zieht schon das gleißende Schifflein des jungen Mondes durch das flimmernde Lichtermeer der Sterne, und das Nordlicht läßt seine farbenschönen Flammenvorhänge in immer neuen wundersamen Bildern über den Polarhimmel flattern . . .
Jahrhundertelang auf der Flucht Während das Lagerfeuer verglüht, laßt uns einmal in Gedanken das Land durchstreifen, in dem das Lappenvolk beheimatet ist und laßt uns nachforschen, was aus der Vergangenheit von ihnen überliefert i s t . . . Ohne Grenze verschwimmt die leichtgewellte Tundra in blauender Ferne. Hier und dort, mehr in den Niederungen, stehen zwischen Moosen, Flechten und harten Gräsern ein paar windzerzauste, krüppelige Büsche. Kaum noch erkennt man an ihnen, daß sie zur Familie der Birken und Nadelhölzer gehören. Die kurze Wachstumszeit des polaren Sommers reicht nicht aus, um sie zu wirklichen Bäumen gedeihen zu lassen. Moorigbraune Seen und Sümpfe, deren Wasser nicht in den ewig gefrorenen Boden versickern kann, sind in die Landschaft eingesprenkelt. Vielfach gewundene Adern ungebärdiger Flüsse ziehen sich durch dieses grenzenlos erscheinende Land. Sie verströmen ihre Wasser nordwärts ins Eismeer, gen Westen zum Nordatlantik hin, südwärts in den Bottnischen Golf, die Meeresbucht im Norden der Ostsee. Viele Wintermonate lang liegt das Wohngebiet der Lappen, das weite Land am nördlichsten Ende Europas, unter einer tiefen Decke aus Schnee und Eis. Im Süden geht die Tundra allmählich in die Grenzzone der Buschbirken über; sie vermischen sich schon bald mit den ersten Vorposten des hochstämmigen Nadelwaldes, der weiter südwärts mit harzknorrigen, zähen Kiefern beginnt. Noch tiefer im Süden schließt sich wieder Wald an, in dem sich jetzt auch die schmalästige nordische Fichte zeigt. Weithin schimmert hier der Boden in sanftem Lila —11
es sind die nordischen Moosglöckchen, die hier blühen. Die zierlichen Blümchen überziehen die Erde der Nadelwaldzone zuweilen in dichter Decke und sind oft eingewoben in die silbrig graugrünen Teppiche des Rentiermooses. Der lappische Wald selber ist ziemlich licht, und seine Stämme brauchen viel mehr Zeit zum Großwerden als die Nadelhölzer bei uns in Mitteleuropa oder im Inneren Skandinaviens und Finnlands, wo der Wald nicht mehr aufzuhören scheint; er reicht in Finnland über mehr als tausend Kilometer bis hinunter zum Finnischen Golf, an dem die Olympiastadt Helsinki liegt. In Norwegen und Schweden erstreckt er sich bis zu deren Südküsten an Ost- und Nordsee. Er ist hier zu einem einzigen grünblauen Meer von Wipfeln geworden. Hier und da ragen Höhenrücken und Rundkappen auf aus härtestem Fels, den die Gletscher der Eiszeit glattgeschliffen haben. In ferner Vorzeit lebten die Lappen inmitten dieses herrlichwilden Landes der Wälder, Seen, Flüsse und Moore. Diese vorgeschichtlichen Lappen waren kleine kurzbeinige Menschen. Weit südlich von ihnen hatten an den Küsten Norwegens, Schwedens und Finnlands schon sehr früh die Vorfahren der heutigen Skandinavier und Finnen ihre Jagdgebiete. Ihre streifenden Jäger wagten sich eines Tages nach Norden vor und trafen dort auf die kleinwüchsigen, fremdartigen Menschen. Niemand weiß so recht, woher der Name des Lappenvolkes kommt. Sie selbst nennen sich „Same"; die Landschaft, die heute ihre Heimat ist, heißt bei ihnen „Lappmark". Wir nennen sie Lappland und bezeichnen mit diesem Namen alle Gebiete, die von den Lappen bewohnt sind, und zwar in allen Staaten, in denen Angehörige .dieses eigenartigen Völkchens wohnen. Es sind die nördlichsten Teile von Finnland, Schweden und Norwegen und die Nordwestecke Rußlands. Es gibt viele Vermutungen darüber, woher die Lappen einst gekommen sind. Manche meinen, sie hätten einmal in grauer Vorzeit im Ural oder an der oberen Wolga gelebt. Ihre Sprache zeigt Merkmale, die auf eine Verwandtschaft mit dem Finnischen, Estnischen und Ungarischen hinweisen. Heute gibt es unter den Dutzenden verschiedener Sippen und Stämme zwischen dem Weißen Meer und dem Atlantik, zwischen dem Nördlichen Eismeer und Mittelschweden, 12
in dessen Waldbergen die südlichsten Lappen wohnen, fast fünfzig verschiedene Dialekte. Die Unterschiede in manchen Mundarten sind so groß, daß die Lappen solcher entgegengesetzten Sprachlandschaften sich nicht miteinander verständigen können. Man zählt heute rund dreißigtausend Angehörige des Lappenvolkes. Die meisten — etwa neunzehntausend — sind norwegische Staatsangehörige; in Schweden gibt es etwa sechstausend Lappen, in Finnland zweieinhalbtausend, auf der russischen Kola-Halbinsel wurde ihre Zahl auf sechzehnhundert geschätzt. Gibt es schon unter den wenigen Tausend schwedischen Lappen sehr große Unterschiede in Kleidung, Sitten und Sprache, so sind sie zwischen den finnischen und russischen Lappen noch sehr viel größer. Lappen und Rentiere sind heute untrennbare Begriffe, aber ursprünglich sind die Nomaden des Nordens keine Rentierzüchter und Rentierhalter gewesen. Sie waren Jäger und Fischer und streiften durch die Wälder, die ihnen Nahrung boten. Vielleicht sind die Fischer-Lappen, die man an den Fjorden Finnmarks, der nördlichsten Provinz Nord-Norwegens, antrifft, Nachfahren jener Urzeitlappen, denn diese Finnmarkfischer besitzen auch heute noch keine Rene. Das vom Golfstrom bespülte Meer mit seinen eisfreien Buchten und Fjorden bietet diesen nördlichsten Lappen reiche Fischbeute; das meist felsige Binnenland böte Rentieren nicht genügend Weide. Wann die Angehörigen der stärkeren und kriegerischen Stämme — aus dem mittleren Rußland die zähen hellen Finnen, aus Südskandinavien die großen weißen Nordmänner — auf ihren Jagdzügen und auf der Suche nach neuem Land nordwärts vorgerückt sind, weiß niemand mehr. Gewiß waren sie erstaunt, als sie so weit im Norden auf jenes damals fast zwergenhaft kleine Volk trafen, dessen Angehörige kaum einmal über ein Meter sechzig groß wurden. Diese frühzeitlichen Lappen waren von ganz anderer Rasse als die Eroberer, hatten braun-lederne Gesichtsfarbe, runde Gesichter, pechschwarzes Haar und fast mongolische schmale, tiefdunkle Augen, während heute viele Lappen infolge häufiger Mischungen oft mehr den Nordländern als jenen Vorfahren gleichen. Sehr bald merkten die draufgängerischen Finnen und Skandinavier, daß die Lappen ungefährlich waren, da sie keinerlei kriege13
rischen Neigungen und Fähigkeiten besaßen. Sie setzten den Eindringlichen fast keinen Widerstand entgegen, .vielleicht weil ihre Kraft in sehr früher Vorzeit schon durch andere Unterdrücker und Überwinder gebrochen worden war. Aus den Sagen der Lappen schließt man, diese frühesten Feinde könnten die Tschuden gewesen sein, ein Stamm finnischer Herkunft im nordwestliehen Rußland, der sehr wild und räuberisch gewesen sein muß. Aber es gibt heute keine Spuren mehr von diesen Tschuden. Wahrscheinlich sind sie im Laufe der Jahrhunderte in den Finnen, den finnischen Kareliern oder den Russen völlig aufgegangen. Widerstandslos wichen die Lappenstämme allmählich nach Norden in neue Lebensräume aus. Ihre Stärke lag darin, daß sie gelernt hatten, sich durch Zähigkeit und durch Härte im Erdulden gegenüber der Unbill des rauhen nördlichen Klimas zu behaupten. Es gibt ein bezeichnendes Wort des großen schwedischen Naturforschers Carl von Linne, der ein warmer Freund und ein erfolgreicher Erforscher des Lappenvolkes gewesen ist; er sagte von seinen Schützlingen: „Der Lappe ist zum Leiden geboren wie der Vogel zum Fliegen." Im Laufe vieler Jahrhunderte drangen die nordischen Jäger noch weiter vor. Ihnen folgten skandinavische und finnische Siedler. Sie errichteten feste Behausungen aus ganzen Baumstämmen, rodeten das Waldland und breiteten sich bis zur Grenze des kolonisierbaren Landes aus, bis dorthin, w» der Wald zu Ende war, wo die Tundra und in Nordeuropa schon fast die Arktis begann. Wieder zogen sich die bedrängten und geduldigen Lappen auf schmalen Fährten zurück. Vielleicht benutzten sie bei ihrem Rückzug auch die Wasserläufe der rauschenden Wildflüsse, jene nördlichsten Flüsse mit so merkwürdigen Namen wie: Tornionjoki und Muonionjoki, Inarinjoki und Kemijoki, Tanojoki und Onlujoki, Lakselv, Kaliälv, Luleälv, Piteälv und Umeälv. Man sagt, daß die Lappen, solange sie noch in südlicheren Waldzonen gewohnt hatten und der Jagd nachgingen, reichen Pelzhandel getrieben hätten, da die Wälder voll des Wildes gewiesen waren. Hoch im Norden aber fehlten solch ergiebigen Pelztiergründe, und 80 seien die Lappen darauf gekommen, die vorhandenen Wildrentiere zu züchten und sie neben dem Fischfang zur neuen LebensU
grundlage zu machen. Die Rene wurden so zu den letzten Tieren, die sich der Mensch dienstbar gemacht hat. Sie sind zugleich die einzige Hirschart, die vom Menschen gezähmt worden ist. Aber die Ruhe in der Zurückgezogenheit des hohen Nordens sollte nicht lange währen. Eines Tages — es war um das Jahr 1000 — erschienen am Horizont des Meeres unter gestreiften Segeln Drachenboote, die Kurs auf die grauen, ewig meerumbrandeten Felsinseln vor der nordnorwegischen Küste nahmen. Manches Boot steuerte auch in die Mündungen der blauen Forde, jener tief ins Binnenland einschneidenden Wasserwege in Gestalt von steilen Talgründen, die zumeist in der Eiszeit von den stürzenden, schürfenden Wassern aus dem Gebirge herausgeschnitten und dann durch Absinken des Landes unter den Meeresspiegel getaucht worden waren. Die Fremden, die das Lappenvolk erneut beunruhigten, waren die Wikinger, die in jener Zeit plötzlich an vielen Küsten Europas erschienen und viele Landstriche unsicher machten. Es waren erfahrene Seefahrer, geübte Fischer und berühmte Meerjäger. Von den Eilanden und von den Küsten des Lappenlandes aus trieben sie Fisch- und Meerestierfang, an Land wohl auch, gewiß nicht mit sehr viel Neigung, ein wenig Viehzucht und Landwirtschaft. Aber sie merkten bald, daß man mit weit geringerer Mühe zu Wohlstand kommen konnte; und sie begannen, die Einwohner des Landes, die unablässig wandernden lappischen Rentierhirten und Herdenbesitzer zu „besteuern". Sie verstanden es schon, dieser „Besteuerung" einen freundlicheren Namen zu geben; sie sei das Entgelt für den „Schutz" den sie den Lappen angedeihen ließen, so sagten sie. Aber niemand aus dem Lappenvolke hatte um diesen „Schutz" gebeten. Die Wehrlosen mußten sich in das Unvermeidliche fügen, zahlten die geforderten Kopfsteuern, indem sie Felle lieferten und Abgaben aus der Rentierjagd und der Rentierzucht leisteten. Die Lappen haben oft versucht, von der drückenden Belastung freizukommen. Es entsprach nicht ihrer dulderischen Sinnesart, sich mit Gewalt zur Wehr zu setzen; aber ein Ausweg blieb ihnen: Sie konnten sich in noch unzugänglichere Gebiete zurückziehen, wohin ihnen die steuereintreibenden Fremden meist nicht folgen konnten. 15
Viele mieden die Küstenstriche der Wikinger und suchten Weidegebiete tiefer im Nordosten. Aber das Unheil traf sie auch hier. Es dauerte nicht sehr lange, da tauchten auch hier „Steuereinnehmer" auf. Diese Gruppe der Ausbeuter kam vom Osten, von den Küsten des heutigen Finnlands, aus Schweden, von Karelien und vom Weißen Meer herüber. Es waren im Gegensatz zu den Wikingern landfahrende Männer, die weite, sehr beschwerliche Wege hinter sich gebracht und reißende Ströme und wildes Ödland durchquert hatten. Im lappischen „Steuerland" machten sie sich breit und begannen, sehr zum Ärger der Wikinger, die Lappen ebenfalls mit Kopfsteuern zu belegen. So kam es, daß die geplagten Lappen jahrhundertelang oftmals an drei Herren zugleich Steuerabgaben zu entrichten hatten. Wie erleichtert mußten sich diese Menschen vorkommen, als man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in den Lappmarken die Grenzen zwischen den Staaten des europäischen Nordens festlegte und als die drückende Abgabenwirtschaft ein Ende fand. Endlich konnten die Lappen ein unabhängiges Leben führen. Und heute bemühen sich alle Staaten, zu deren Gebieten Lappmarken gehören, das Unrecht, das den Lappen angetan worden ist, wieder gutzumachen. Sie wurden Staatsbürger, sie erhielten Rechte auf Weidegründe, man errichtete eigene Schulen für sie, betreute sie durch Beamte, die mit ihren Verhältnissen vertraut waren, schaffte Altersheime und ließ ihnen in Notlagen 'die gleiche Hilfe zukommen wie jedem anderen Staatsbürger, der ihrer bedurfte. Eine Zeitlang versuchte man sogar, die frei ziehenden Lappen seßhaft zu machen; aber alle Ansiedlungspläne haben sich nicht als gut erwiesen. Lappen sind gewohnt, viel im Freien zu sein. Wenn sie ständig in festen Häusern wohnen, stellen sich alsbald mancherlei schlimme Krankheiten und Verfallserscheinungen ein. Die Nomaden des Nordens haben ihr Leben weitgehend dem ihrer Schützlinge, der halbwilden Polarhirsche, angepaßt. Immer ist die Masse der Rentiere auf der Wanderung. Im Frühjahr hinauf in die frische Luft der Berge und der Fjorde, wo sie nicht mehr von den sommerlichen Mücken gequält wurden, die in den arktischen Gebieten in Milliardenschwärmen auftreten und eine der schlimmsten Plagen 16
für den dort lebenden Menschen sind. Im Herbst ziehen Herden und Hirten wieder zurück in die Wälder. Je zahlreicher die Herden wurden, um so mehr gaben ihre Hirten Jagd und Fischerei auf, um 6ich ganz den nur halbzahmen Tieren zu widmen. Aber nicht alle Rene haben im Frühjahr den Trieb in die Berge. Einer besonderen Art dieser Polarhirsche machen die feuchte sommerliche Wärme in den bewaldeten, sumpfigen Tälern und die Mukkenplage wenig aus. Ihre Besitzer behalten 'deshalb auch im Sommer die Weidegründe zwischen den Mooren und in den Wäldern bei. Es sind die Waldlappen. Im Gegensatz zu denWander-oderdenBerglappen müssen sie ihre Herden besonders sorgsam beaufsichtigen, damit sie nicht in die Weidegründe anderer Rentierbesitzer des Waldlappengebietes geraten. „Sidia" heißen die Weidebereiche der Waldlappensippen. So gibt es drei große Gruppen von Lappen: Wander- oder Berglappen, — es sind die eigentlichen Nomaden, die jahrüber von einem Weideplatz zum anderen ziehen; Waldlappen, die heute meist feste Wohnsitze haben; und jene Fisdierlappen, die ganz oben an den Küsten leben und keine Rentiere züchten.
Der gezähmte Hirsch und das Eiszeilren Das Rentier oder Ren, das der Zoologe „Rangifer" nennt, gehört zu den Tieren, die besonders kennzeidinend für die hochnordische Landtierwelt sind. Seine eigenartigen Merkmale, nicht zuletzt die hochentwickelte Form seines Gemeinschaftslebens machen das Ren zu einem sehr interessanten Tier. Bei den meisten Völkern der in der Polarwelt beheimateten Völker ist es in den Dienst des Mensdten geraten. Schon früh wurde es gezähmt und gezüchtet. Aber man kann es trotzdem nicht als eigentliches Haustier bezeichnen; denn audi das in Herden gehaltene, von Hirten beaufsichtigte Ren zeigt immer noch Züge des Wildes. Es ist nicht richtig, Ren oder Rentier oder die Mehrzahl Rene oder Rener mit zwei „n" zu schreiben. Das Stammwort leitet sich nämlich nicht von „Rennen" her, obwohl nicht bestritten werden soll, daß
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das Ren ein guter Läufer ist. Der Name Ren kommt vom altnordischen „hrein", dem Wort für Hirsch. Aus „hrein" entwickelte sich skandinavisch „ren", angelsächsisch „rein", „reiner"; das Wort Rentier ebenso wie „reindeer" ist die Verbindung des nordischen Stammwortes mit der germanischen Bezeichnung Tier, die in alter Zeit im Gegensatz zu Vieh das freilebende Wild oder auch Hirsch bedeutete. Heute heißt der Polarhirsch im Schwedischen „ren" oder „rendjur", im Nordwegischen auch „reinsdyr". Nur der Finne hat einen ganz anders klingenden Namen; er nennt das Ren Poro. Die älteste schriftliche Kunde über ein im Norden lebendes Tier, das „tarandos" genannt wird und in der Beschreibung einige Ähnlichkeit mit dem Ren aufweist, stammt von dem griechischen Philosophen Theophrastus, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte und in zahlreichen naturkundlichen Büchern von den Tieren berichtete, die ihm bekannt waren oder von denen ihm Reisende erzählt hatten. Dann aber müssen wir zwölfhundert Jahre überspringen, bis wieder eine Nachricht über das Ren zu uns dringt. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. rühmt sich der kühne nordnorwegische Seefahrer und Entdeckungsreisende Ottar von Haalogaland, der bis ans Weiße Meer vorgedrungen war, daß er eine Herde von sechshundert Rentieren sein eigen nenne. Wir erfahren auch, daß er in seiner Herde sechs Lockrene besaß, mit deren Hilfe er wilde Rene einzufangen verstand. Leider hat uns der Wikinger nicht auch überliefert, wie dieses Locken vor sich ging. Ein halbes Jahrtausend später: In Schweden zieht der aus Frankreich stammende Graf Gaston III. auf die Wildrenjagd, und er weiß mancherlei vom Polarhirsch zu berichten, den er Rangier nennt. Die erste eingehende und lange Zeit als unübertrefflich geltende Einzeldarstellung des Rens aber ist viel jüngeren Datums; sie stammt von dem schon genannten Schweden Carl von Linne. Er hat in seinem berühmt gewordenen Werk „Die Pflanzenwelt Lapplands", das im Jahre 1732 erschienen ist, die in Nordeuropa lebende Renart erstmals wissenschaftlich beschrieben. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich weitere Naturforscher und Polarreisende mit den im Norden Europas, Sibiriens und im nördlichsten Amerika heimischen Renarten. 18
Diese arktisdie Hirschart, dessen Zähmungsgeschidite den Archäologen sehr große Mühe macht — es gibt viele Schriften über die Vergangenheit dieses Gefährten des Menschen —, ist in ihrer Wildform viel besser und sicherer erforscht. Die Bodenschiditen aus der vorletzten Eiszeit vor etwa 200 000 Jahren nnd die Schichten aus der letzten Eiszeit seit etwa 100 000 Jahren haben viele Funde von Rentierknochen zutage gefördert, und heute weiß man, daß das Rentier in den letzten Eiszeiten eine der verbreitetsten Wildarten ganz Europas und eine der begehrtesten Jagdbeuten des vorgeschichtlichen Menschen gewesen ist. Und nidit nur das: Als die ersten Höhlenmalereien und -Zeichnungen der Späteiszeit in den Höhlen Südfrankreichs und Spaniens zum Erstaunen der Welt entdeckt wurden, zeigte sich, welch große Rolle das Rentier im gesamten Leben der Eiszeitjäger gespielt haben muß. In allen Stellungen fand man es abgebildet: weidende Rene mit wunderbar wiedergegebenen vielästigem Geweih, sichernde Tiere mit hochaufgerichtetem Haupt, sich beschnubbernde Rentiere, lange Ketten von Renen, die, dicht hintereinandergereiht, so wie sie es auch heute noch auf ihren Wanderungen tun, zu besseren Weideplätzen ziehen; auf Felsen gemalt oder in Steinplatten und Knochen geritzt, fand man Bilder vielköpfiger Herden, Zeichnungen von unübertrefflicher Naturnähe. Mammute, Wollnashörner, Mosebusochsen, aber audr Schneehasen, Polarenten und die kälteliebenden Lemminge waren die mitteleuropäischen Zeit- und Lebensgenossen der vorgeschichtlichen Wildrene. Mit den zurückweichenden Gletschern und der Erwärmung des europäischen Klimas ist dann auch das Ren, das die Kälte liebte, in den Norden gezogen, wo es heute mit acht Arten und aditzehn Formen die Tundren und Wälder der Nordteile der Alten und der Neuen Welt bewohnt.
Der Polarzone angepaßt Beim Ren führen beide Geschlediter Geweihe, im Gegensatz zu allen anderen Hirsdiarten, bei denen nur das männliche Tier den präditigen Kopfschmuck trägt. Daher bezeichnen die Fadizoologett das Ren als den „fortgeschrittensten*' Hirsch. 19
Die Althirsche werfen nach Beendigung der Brunftzeit, gegen Ende November, die jüngeren erst ausgangs des Winters ihre Geweihe ab. Die Renkuh, deren Stirnwaffe etwas kleiner ist als die der männlichen Stücke, wirft erst im Mai, nach der Setzzeit. Während dieser Zeit braucht sie das Geweih noch zur Wehr gegen ihre Feinde, gegen das befiederte und behaarte Raubwild, das dem Kalb nach dem Leben trachtet. Die schlimmsten Gegner sind Wolf und Vielfraß, Doch bedient sich das Ren bei der Verteidigung neben dem Geweih auch seiner sehr harten Vorderschalen an den kräftigen Läufen. Das Ren wird etwa zwei Meter lang und am Widerrist, am vorderen, höchsten, nach hinten abfallenden Teil des Rückens, etwa 1,20 Meter hoch; ausgewachsene Hirsche der größten Arten erreichen ein Gewicht bis zu drei Zentnern. Die Renkühe sind meist etwas kleiner. Die Nahrung der Rene ist mannigfaltig und besteht aus allerlei Pflanzen, Gräsern, Kräutern, Blättern von Birke und Weide, aus Beeren und vornehmlich im Winter auch aus Rentierflechte. Auf Pilze ist das Ren wegen ihres Stickstoffgehaltes geradezu gierig. So ungewöhnlich es klingen mag: Von den Zahmrenen der Tschuktschen weiß man, daß sie auch gerne Fleisch fressen. Und von den ostsibirischen Jukagiren berichten die russischen Sibirienforscher Bunge und Baron Toll, daß dieser Stamm seine als Reittiere hart arbeitenden Rene mit forellenartigen Fischen zu füttern pflegte. Zuweilen machen sich Rene auch über Nestvögel her, die sie erhaschen können, und über Kleinnager, wie die Tundrenwühlmaus, den Lemming. Bei Schnee, auch wenn er über einen Meter tief ist, gelangt das Ren durch Scharren mit den Vorderschalen an seine Nahrungsquellen. Aus anscheinend recht magerer Nahrung vermag es sich im kurzen arktischen Sommer noch eine beachtliche Reserve für den langen Winter zuzulegen. Das Wildbret schmeckt vorzüglich; es erinnert an das Fleisch von Rotwild und Wildschaf. Auch das Fett des Rens ist bei vielen begehrt. Die Natur hat das Ren mit vortrefflichen Eigenschaften ausgestattet, damit es das harte Klima der arktischen und subarktischen Zonen bestehen und sich auch den widrigsten Verhältnissen anpassen kann. Darin kommt ihm höchstens noch das arktische Wildrind, der Moschusochse, gleich, der in Nordgrönland, auf den kanadischen 20
Nordinseln und, leider in nur noch wenigen Rudeln, auf dem kanadischen Festland und neuerdings durch Verpflanzung aus Ostgrönland auch in Alaska heimisch ist. Keine noch so tiefe Temperatur, kein noch so eisiger Sturm, der über die freien Tundren oder über die baumlosen skandinavischen Hochflachen, die Fjelle, rast, läßt die beißende winterliehe Kälte an den Renkörper selbst heran. Der überaus dichte Pelz aus langen,
Rast unterwegs. Schnell ist das Zelt aufgeschlagen 21
in sich gewellten, luftgefüllten Grannenhaaren sdiützt das Ren in idealer Weise. Deshalb ist der Polarhirsch audi ein vorzüglicher und schneller Schwimmer; weder reißende Stromschnellen, weite Strekken, nodi auch treibeisbedeckte Meeresteile sind Hindernisse für Rene. Zweimal im Jahre wird das Fell im Einklang mit dem großen Temperaturabfall zwischen Sommer und Winter gewechselt. In der warmen Jahreszeit ist seine Farbe dunkelgraubraun, die Bauchseite licht, zuweilen fast weiß; in der kalten Jahreszeit wird der Pelz viel heller, bis weißgrau. Doch gibt es bei den verschiedenen Arten vielerlei Unterschiede. Das Spitzbergenren ist im Winter fast schneeweiß. Die einzige das ganze Jahr über weiße Art ist das Peary-Ren. Das sehr dicke Haarkleid des Rentiers kann nur im Norden selbst zur Ausrüstung der dort lebenden Menschen verwendet werden. Dort ist es so gut wie unentbehrlich. Der Pelz verliert jedoch sehr sdinell die Haare, da sie, mit Ausnahme der Haare an Kopf und Läufen, aus deren Fell man vor allem Schuhwerk macht, leidit brechen. Die starke Haut ergibt ein ausgezeichnetes Leder. Die sdiönsten und weichsten Wildlederhandsdiuhe werden aus Rentierfellen angefertigt. Auf den sehr breiten, zweigespaltenen Hufen, natürlichen Schneetellern, eilt das Ren behend, fast sdiwerelos über den trügerischen Moorboden und über den tiefen, lockeren Schnee dahin. Man nennt es auch das „Wüstenschiff des Nordens" und vergleicht es mit dem breithufigen Kamel, dem „Schiff" der Sandwüsten heißer Zonen. Der Schritt ist ein ruhiger, etwas schleppender Trott; beim Traben fällt seine wiegende und schaukelnde Bewegung auf. Diese fördernde Gangart vermag das Ren bei guten Schneeverhältnissen viele Stunden lang beizubehalten, das Karibu sogar tagelang. Wenn die Tiere sich verfolgt wissen, entwickeln sie eine geradezu erstaunliche Geschwindigkeit. Der Verfasser hatte auf der finnischen Eismeerstraße einmal flüchtende Rene vor seinem Kraftwagen; das Tachometer zeigte kurzzeitig mehr als 30 Kilometer in der Stunde an. Das Ren kann sich auch bei schnellem Lauf gleich sicher auf Firn und auf stark abschüssigen Halden bewegen. Mit seinen sdiarfkantigen Sdialen klettert es flink, gleichsam wie auf Steigeisen, steile Geröllhänge hoch und schreitet sidier auf glattem Gletschereis. Seine Läufe
sind derart gelenkig, daß es sich der hinteren Läufe als „Hände" bedienen kann, wenn es lästige Bastfetzen im Geweih abzustreifen sucht oder wenn es sieh am Vorderrumpf kratzt, um das Eis vom Windfang zu beseitigen. Innerasiatische Nomadenvölker haben schon in grauer Vorzeit das Ren als Reittier benutzt. Die Lappen legen ihm als Saumtier schwere Lasten auf und spannen es vor ihre bootartigen Schlitten, die „pulkkas", „atikios" oder „ackjas". Es erweist sich als ein unübertreffliches Zugtier bei den weiten Wanderungen der Lappen über die schneeüberzogenen, wüstenartigen Tundren. Die reichsten Lappen haben Herden, die zweitausend, zuweilen auch etliche Tausend mehr zählen. Nur sie selbst wissen genau, wieviel Rene sie ihr eigen nennen. Drei- bis vierhundert Rene muß ein Lappe mindestens besitzen, um mit den Seinen davon leben zu können.
Rene in der Alten und Neuen Welt Man nimmt heute mit guten Gründen an, daß die verschiedenen Renformen in Europa, Asien und Amerika eine einzige Art darstellen, die den zoologischen Namen Rangifer tarandus trägt. Nach ihren großen Lebensräumen unterscheidet man meist die altweltlichen von den neuweltlichen Renarten, nach der Umwelt, in denen sich die Tiere bewegen, die Tundrarene von den Wald- und den Gebirgs(Fjell-)renen. Die südlichste Gegend, in der Rene noch vorkommen, liegt im Ural — etwa auf der gleichen Höhe wie Frankfurt am Main. Die meisten altweltlidien Rene in Nordeuropa und Nordamerika sind Tundrarene. Unter ihnen findet sich auch der kleinste aller Polarhirsdie, das bekannte Spitzbergenren. Eine besonders große Form lebt in Nordost-Labrador. In Amerika ist auch der nördlichste Polarhirsch zu Hause, das Peary-Ren oder Zwergren, das nadi seinem Entdecker, dem nordamerikanischen Polarforsdier Peary benannt ist; es lebt an den rauhen Nordküsten von Ellesmere-Land und Grant-Land. Die Rentiere Nordamerikas, die Karibus, durchziehen in Riesenherden die Tundren oder leben in Trupps in den Wäldern und Berglandschaften. 23
Ein Gebirgs(Fjell-)ren gibt es auch noch in der Alten Welt, im südnorwegischen Hochgebirge. Auch das in Grönland beheimatete Rentier zählt zu den „echten" Fjellrenen, weil es aus den eisfreien Küstensäumen auf die Höhen klettert, zuweilen auch weite Züge über das Inlandeis zu den herausragenden Bergspitzen unternimmt. Unter den verschiedenen Arten ist das arktische Ren, das Ren der Lappenherden, am meisten verbreitet, sowohl in der Alten als auch in der Neuen Welt.
Immer auf Wanderschaft Das in der freien Wildmark lebende, also nicht gezähmte Ren ist sehr scheu und wandert fast beständig. Es besitzt eine vorzügliche Witterung, auf sein „Gesicht" kann es sich weniger gut verlassen. Da es sehr schnell zieht, ist eine nach unseren Regeln „waidgerechte" Jagd auf dieses stolze Hochwild zwar recht reizvoll für den naturbegeisterten Jäger, aber auch überaus beschwerlich. Anders spielt sich die „Jagd" der Eingeborenen ab, der Eskimos, Indianer oder der sibirischen Völker. Ihnen kommt es einzig auf die Fleischbeschaffung an, und zwar in möglichst großen Mengen. Die Jäger kennen in ihren Gebieten die Wechsel der großen Rentierzüge, treiben die Herden nach bestimmten, seit alters geübten Methoden aus versteckten Postenketten in Seen oder Engpässe hinein und veranstalten in der wimmelnden Masse der aufs höchste beunruhigten Tiere regelrechte Metzeleien. Nähmen sie nur so viel, wie sie wirklich benötigen und ließen sie nicht oft riesige Mengen wertvollen Wildbrets einfach verrotten, stände es um ihre Wintervorräte besser. Doch führt die mehr und mehr polwärts vordringende Zivilisation und die ihr folgende staatliche Aufsicht zu einem klügeren Verhalten gegenüber diesen wertvollen Wildbeständen. Alle Rentierarten lieben das Leben in Gemeinschaften, die zuweilen sehr groß sind. Die gleiche Geselligkeit findet man bei keiner anderen Hirschart. Beim norwegischen Fjellren leben sommerüber Kühe, Kälber und Junghirsche in kleineren Familien oder Trupps zusammen. Stets übernimmt ein besonders erfahrenes weibliches 25
Tier die Führung und zugleich die Aufgabe, über die Sicherheit des Rudels zu wachen. Erst mit dem Einsetzen der Brunftzeit finden sich die erwachsenen Hirsche bei den Rudeln ein, und es kommt zwischen ihnen und dem weiblichen Anhang oft zu sehr heftigen Kämpfen. Die Hirsche trennen sich entweder nach der kämpferischen Zeit oder nach dem Kalben wieder von den Rudeln und bilden eigene Trupps von etwa drei bis fünf Stücken. Im Winter vereinigen sich alle Rudel zu oft großen Herden miteinander. Der Verfasser beobachtete Herden von einigen Hundert, einmal sogar von mehreren Tausend Rentieren im einzigen Wildrengebiet Nordeuropas, dem Hardanger Vidda und den anschließenden Gebieten in Südnorwegen. Die größten Wildrenherden der Welt aber leben in den Gebieten an der Hudson-Bay in Nordost-Kanada. Nach zuverlässigen Schätzungen sollen dort hunderttausend bis zweihunderttausend Tiere in einem einzigen Verband zusammen wandern. Bei solchen Herden können männliche oder weibliche Leittiere die Führung haben; Züge in solch riesigen Verbänden bieten ein unvergeßliches Bild, sie lassen sich nur noch mit den Wanderungen großer Vogelzusammenschlüsse im Nordteil der Erde vergleichen. Der Wandertrieb steckt auch noch in den Herden der Zahmrene. Die Masse der europäischen Zahmrene verbringt den langen Winter zumeist in den Wäldern und zieht zum Frühjahr in hochgelegene, möglichst offene und vom Wind beständig überwehte Gegenden oder auch an die offene Küste und zu den vorgelagerten Inseln, wo sie am ehesten Ruhe vor den Stechmücken und Bremsen, vor allem der gefährlichen Rachenbremse und Dasselfliege, finden. Ausgangs des Sommers wandern die Rene wieder zurück in ihre Winterstandräume. Ursache für die Wanderungen sind nicht nur die Mückenplage, sondern auch die große Hitze im Polarsommer. Auch diese Renzüge gehören zu den großartigsten Erscheinungen des Tierlebens. Seit undenklichen Zeiten gehen sie vor sich. Das Wanderleben der Tiere bestimmt auch das Leben der Hirten. Sie ziehen mit ihren unstet schweifenden Tieren hin und her. Große Zahmrenherden gibt es in Nordeuropa und in den nördlichen Teilen der Sowjetunion. In Nordamerika sind sie erst seit 26
der Wende zum 20. Jahrhundert vertreten. In den gleichen Gebieten, mit Ausnahme Lapplands, kommen aber auch noch viele Stämme wildstreifender Rene vor. Geraten Zahmrene zwischen die ungezähmten der freien Wildbahn, so verwildern sie und gehen dem Besitzer für immer verloren. Die Hirten sind stets darauf bedacht, die Wildrene fernzuhalten, weil vor allem die männlichen Tiere viel Unruhe unter die Herdenrene bringen. Rene brauchen keine Ställe und keine Stallfütterung, um zu gedeihen. Nur wenige Hirten und ein paar Hunde beherrschen bequem fünf- bis sechstausend Tiere. Die Rentierzucht in Alaska ist ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür, wie sehr sich die Renhaltung lohnen kann. Der in den neunziger Jahren aus Sibirien eingeführte Zahmrenstamm von rund anderthalbtausend Stück hat sich bis heute auf den stattlichen Bestand von einigen.Hunderttausend vermehrt. Alaska ist heute in der Lage, große Mengen Renfleisch auszuführen.
Das große Rennen Kehren wir nach der zoologischen Abschweifung noch einmal zu unseren Lappenfreunden zurück, die wir am Tage der denkwürdigen Rentierscheidung verlassen haben. Wir begegnen ihnen diesmal beim Fest des „Poropäivä", dem großen Sportfest, zu dem alle Lappen aus dem Umkreis vieler Hundert Kilometer zusammengeströmt sind. Das Poropäivä-Fest findet meist im Anschluß an die Rentierscheidung oder auch zu Ostern statt. Die weiten Nordlandwälder haben allen Brillantenschmuck auf Eiskristallen angelegt. Aus allen Richtungen der Windrose kamen sie heran, die kleinen Raiden, die Karawanen der von Rentieren gezogenen Schlitten und Pulkkas mit vier, sieben oder gar zwölf Fahrzeugen und den besten Renen aus den jeweiligen Herden. Viele setzen auf Aslak und Paavi, andere auf Eemeli; aber wer etwas von Rentieren und vom Fahren hinter Polarhirsdien versteht, der gibt mit Sidierheit dem Lappen Jivari den Preis. Heute sollen die großen Pulkkarennen gefahren werden. Man braudit nicht sehr viel von den Gespannen zu verstehen. Man weiß 27
es gleich: Dieser muß ein edler „Renner" sein und jener dort drüben; oder dieser wilde Schneeweiße mit dem prächtigen Kopf und dem vielzackigen Geweih. Ich gehe zum Halteplatz, dem „Parkplatz" der Rentiergespanne. Im stillen will ich sie mir einprägen, von denen ich glaube, sie seien heute mit unten am See. Nachher werde ich sehen, wieviel richtig war von meiner Vermutung. Doch nicht sehr viele Tiere sind zur Zeit dort angebunden. Wahrscheinlich werden sie jetzt über kurze Strecken bewegt, damit sie eingelaufen sind. Unten auf der Eisfläche des meergroßen Sees sieht man gleich unter all den anderen den Jivari mit seinem schneeweißen Ren. So tollkühn und so geschickt wie Jivari mit seinem Gespann ist sonst keiner heute. Das weiße Ren hebt den Kopf mit der schweren Geweihkrone schnuppernd in die Luft und niest dann einmal ganz gewaltig, daß die bunten Wolltroddeln am neuen Ledergeschirr zu tanzen beginnen. Ihm paßt es gar nicht hier. Unmißverständlich lupft es sein Achterteil in wilden Luftsprüngen. Biegsam weiß Jivari dem angreifenden Gehörn auszuweichen. Auch als sich der Weiße auf die Hinterläufe hebt und mit den harten Vorderhufen seinen Meister betrommeln will, ist Jivari durchaus Herr der Lage und bringt den Widerspenstigen wieder auf alle Viere. Die Jungen freuen sich toll über diese Spässe. Mit lautem Geschrei und Gepolter begleiten sie das Schauspiel. Sie wissen warum: Es gibt für die Zuschauermassen nichts Spannenderes, als wenn ein paar Tiere durchgehen. Und Jivari ist den Burschen keineswegs böse, ihm ist jede Gelegenheit recht, zu zeigen, was er kann. Das weiße Ren ist außer Rand und Band. Fest stemmt Jivari sich gegen die ziehende Gewalt, den breiten Zügel hat er einige Male um den Arm gewickelt. Jetzt verlagert er sein Gewicht, immer bereit, sich sogleich wieder aufzufangen. Er hat es ja oft genug geübt, einem störrischen, stangenden Hirsch seinen Willen aufzuzwingen, zuletzt noch am Tage der Scheidung, bei der Zählung der vielen Tausend Rene. Einige Dutzend Meter weiter gibt der Weiße es auf; er hat seinen Meister gefunden. Mit gelassener Miene kehrt Jivari an den Srart28
platz zurück und stimmt in das allgemeine Gelächter über einen Gegner ein, den sein Ren schon weit mitgenommen und hingeworfen hat. Der Gestürzte wird in scharfem Tempo ein gutes Stück über die glatte Bahn hingeschleift. Schon viele Wochen vorher haben die jungen Burschen ihre besten Fahrhirsche aus den Herden herausgefangen, sie ordentlidi eingefahren und ihnen genau bemessene Mengen Futter gegeben, damit sie nicht zu dick und zu träge würden. Im übrigen hat ein jeder seine
Lappenjungen Im festlichen Gewand 29
eigene Behandlungsart und Zuchtweise, die er nicht verrät. Alle Vorbereitungen gleichen dem geheimnisvollen Getue vor einem Pferderennen. Auch das Rennen selbst spielt sich in ähnlicher Weise ab. Es gibt verfehlte Anläufe, mißglückte Starts und heiße Endkämpfe. Komische Zwischenfälle sind bei den Zuschauern ebenso begehrt wie draufgängerische Höchstleistungen. Und diese Lappen können lachen und juchzen, wenn einer der Kämpen, hochaufgerichtet im schwankenden Pulkka stehend, plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät, stürzt, in einer Wolke von Schnee verschwindet, viele Dutzend Meter weit mitgenommen wird und sich endlich wie ein Schneemann aus der weißen Masse herausschält. Freunde rufen den Freunden zu, um sie anzuspornen. Die Fahrer hetzen ihre Tiere. Wie erwartet jagt der fast zierliche, schwarzäugige Jivari allen sogleich davon. Wie von der Sehne eines Bogens geschnellt, fliegt er über den glitzernden See. Schneestaub wirbelt über die Fahrspur, lange Atemfahnen wehen in der glasklaren Polarluft. Mensch und Tier beseelt ein Wille — und mit großem Vorsprung gehen sie durchs Ziel. Jivari ist der Held des Tages. Die Bewunderung ist um so größer, als diesmal ein Weißer das Rennen gewonnen hat. Weiße Rene sind zwar sehr selten und wegen ihres Felles begehrenswert, aber gute Renner sind sie meist nicht. Solch ein Ereignis gibt Gesprächsstoff genug für viele Abende am Lager- und Hüttenfeuer, wenn der Alltag die Menschen Lapplands wieder in seinen harten Dienst gezwungen hat.
Umschlaggestaitung: Karlheinz Dobsky Fotos: Archiv L. Kattwinke], Vitaiis Pantenburg, Suomen Matkailijayhdistys
L n x - L e s e b o g e n 2 3 9 (Erdkunde) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Mur*au, Oberbayern, Seidl-Park •— Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth