Rainer Kampling (Hrsg.)
,,NUN STEHT ABER DIESE SACHE IM EVANGELIUM ... '' Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus
Schöningh
We Remember-A Reflexionon the Shoa: An der weltweiten Reaktion auf das vatikanische Papier vom 16. März 1998 zeigt sich, wie virulent die Frage nach der möglichen Verwicklung der Kirche in die Verbrechen an den jüdischen Europäern noch heute ist. Gerade weil der Antijudaismus in den christlichen Kirchen durch Jahrhunderte ungefragt in Geltung war, müssen sich die Kirchen nun nach ihrem Anteil an der Etablierung von Judenhaß und seinen fürchterlichen Folgen fragen lassen. Und da antijüdische Verleumdung und antijüdischer Terror häufig genug unter Berufung auf die Schrift geschah, brach spätestens nach der Shoa die Frage auf, ob nicht das Neue Testament selbst, das Buch der Kirche und der Nächstenliebe, bereits den kirchlichen Antijudaismus begründet und legitimiert hat. Dieser Frage stellen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes.
Der Herausgeber: Rainer Kampling, Prof. Dr. theol., geb. 1953, Studium der Kath. Theologie, lat. Philologie und der Judaistik an der WWU Münster. Nach Promotion (1983) und Habilitation (1991) seit 1992 Professor für Biblische Theologie an der Freien Universität Berlin.
ISBN 3-506-74253-1
Rainer Kampling (Hg.) "Nun steht aber diese Sache im Evangelium ... "
"Nun steht aber diese Sache im Evangelium ..." Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus
Herausgegeben von
Rainer Kampling
2. Auflage
Ferdinand Schöningh Paderbom · München · Wien · Zürich
Ums<:hlagabbildung: Ecclesia ex circumcisione und ex gentibus. Mosaik, Rom um 430.
Blbllogl'llfllcbe Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über hn,p:/ldnb.ddb.de abrutbar.
Umschlaggestahung: INNOVA GmbH, D-33178 Borehen 2. Auflage (unveränderter Nachdruck), 2003 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier 9 ISO 9706
C 1999 Ferdinand Schöningh, Paderbom (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz I, D-33098 Paderbom) Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung in anderen als den gesetzlichen zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriflliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderbom ISBN 3-506-74253-1
Der
Freien Universität Berlin im funfzigsten Jahr ihres Bestehens
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................................... 9
Franz Mußner Was macht das Mysterium Israel aus? ..................................................... 15
Dorothea Sattler Gottes Wort und der Menschen Worte. Systematischtheologische Überlegungen zum Schriftverständnis ................................ 31
Rainer Kampfing "Und er ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge" Jesuanisches zur Frage nach dem Ursprung des christlichen Antijudaismus .......................................................................................... 53
Hubert Frankemölle Antijudaismus im Matthäusevangelium? Reflexionen zu einer angemessenen Auslegung ...................................... 73
Matthias Blum Antijudaismus im lukanischen Doppelwerk? Zur These eines lukanischen Antijudaismus .......................................... I 07
Klaus Scholtissek Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag ............. 151
Michael Theobald Der "strittige Punkt" (Rhet. a Her. 1,26) im Diskurs des Römerbriefs. Die propositio 1, 16f und das Mysterium der Errettung ganz Israels ...... 183 Gerhard Dautzenberg Alter und neuer Bund nach 2Kor 3 ........................................................ 229
Peter Fiedler Antijudaismus als Argumentationsfigur. Gegen die Verabsolutierung von Kampfesäußerungen des Paulus im Galaterbrief ............................ 251
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Inhaltsverzeichnis
Lorenz Ober/inner Antijudaismus in den Pastoralbriefen? ................................................... 281 Knut Backhaus
Das wandemde Gottesvolk - am Scheideweg. Der Hebräerbrief und Israel ................................................................... 301 Heike Bee-Schroedter
Die Shoah als Herausforderung an das traditionelle Selbstverständnis historisch-kritischer Exegese. Religionspädagogische Impulse für eine kontextuelle bibeltheologische Hermeneutik.......................................... 321
Vorwort "Nun steht aber diese Sache im Evangelium ... " Mit diesen Worten leitete Franz Mußner in seinem Werk "Traktat über die Juden" 1 seine Überlegungen zum Umgang mit Mt 27,25 ein. Und er fahrt fort: ..... und christliche Theologie muß zusehen, wie sie mit ihr zurecht kommt." Nun sind an die zwanzig Jahre seit diesem Satz vergangen, und christliche Theologie ist immer noch nicht von dieser Aufgabe entbunden. Daß sich Franz Mußner noch in die Pflicht genommen weiß, zeigen seine Reflexionen, die diesem Sammelband vorangestellt sind. Aus der anfangs zögerlichen Beschäftigung mit der Frage nach dem Verhältnis von Neuern Testament und dem christlichen Antijudaismus2 ist längst eine Fragestellung der neutestamentlichen Wissenschaft geworden, die vom Rand her in das Zentrum rückte. Denn diese Frage berührt das Selbstverständnis der sich auf die Bibel gründenden Christen zutiefst, da allein die Frage nach einem wie immer gearteten Zusammenhang von Evangelium und Shoah das Wort von der Frohbotschaft beschädigen kann. Doch lag und liegt in der Beschäftigung mit dieser Frage eine Möglichkeit zum besseren Verstehen der biblischen Botschaft. Gewiß hat zu Beginn der Diskussion das Interesse, die zutiefst gestörte Beziehung zwischen Juden und Christen zu verbessern, die exegetische Arbeit gefordert, aber es erwies sich, daß diese Frage, obschon oder weil sie so lange in der christlichen Theologie vernachlässigt wurde, nun da sie offen gestellt wurde, zum Anfang selbst und damit zur Wurzel des christlichen Glaubens fiihrte. An und in der Exegese bewahrheitet sich die neutestamentlich begründete Aussage, daß 197~ das Zitat findet sich 309. mancher Eirueden halte ich diesen Begriff innerhalb der theologischen Rede rur wwemchtbar, da sich in den Kirchen die einhellige Meinung herausgebildet hat. daß die vorgeblich biblisch-theologisch begrOndete Judenfeindschaft als irrig zu verwerfen ist, wahrend der Antisemitismus als Äußenmg des Hasses eine schwere Verfehlung darstellt. Bisweilen wird die Kritik geäußert, diese Unterscheidung diene rein apologetischen Interessen: Der cluistliche Antijudaismus sei strukturell nicht vom Antisemitismus zu lDlterscheiden. Olme auf die Richtigkeit dieser Behauptung einzugehen. zu der sich manches sagen ließe, sei zur &wagung gegeben, ob man nicht mit dieser These eine Sllndige Prasenz des Antisemitismus gleichsam als Kontinuwn westlicher Geschichte behauptet und somit - gewiß ungewollt - ein Argwnent aus dem F\Dldus des Antisemitismus selbst \Dlterstntzl 1 München
2 Trotz
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die Hinwendung zu Israel ein Innewerden und Gewahrwerden der Kirche und dessen, wovon und woraus sie lebt, mit sich bringt. Das Anliegen, den chrisdichen Antijudaismus, seinen Ursprung und sein System zu erforschen, kann und will nicht von der jejetzigen Beziehung zum Gottesvolk Israel absehen, aber es ist ebenso ein ekklesial bestimmtes, da es exemplarisch die einfache und zugleich schwierige Frage nach dem stellt, was die Botschaft des Evangelium in Wort und Tat der Christen zu einer Erfahrung des von Gott fiir die Menschen Gewollten werden läßt. Das große Wort von der Bezeugung des Evangeliums wird man jedenfalls in Hinblick auf die Geschichte des christlichen Antijudaismus nur noch in Demut und im Wissen des eigenen Versagens gebrauchen können. Es ist kaum abzustreiten, daß die exegetische Arbeit auf diesem Gebiet für all die, die nicht daran erinnert werden wollen, was im Namen des Evangeliums geschah, eine Zumutung darstellt, da hiermit auch die Grundlagen kritisch angefragt werden. Und dennoch kann eine Bezeugung des Glaubens wahrhaftig nur geschehen, wenn sie Metanoia miteinschließt und die Frage zuläßt, ob und wann der falsche Weg eingeschlagen wurde. Nur so darf man hoffen, den wahren Weg des Evangeliums zu gehen. Innerhalb der katholischen Theologie hatte die Erklärung von Nostra Aetate 4 bahnbrechende Bedeutung. Kaum daß Paul VI. sie am 28. Oktober 1965 unterzeichnet hatte, wurden bereits Vorschläge zur Umsetzung gemacht. Vorarbeiten, wie etwa das Buch von Gregory Baum, Die Juden und das Evangelium3, konnten nun weiter vorangetrieben werden. Es ist sicherlich nicht zufällig, daß es gerade Exegeten waren, die frühzeitig die sich stellenden Aufgaben angingen und interreligiös und interkonfessionell zu lösen versuchten. So trafen sich im Frühsommer 1966 in Arnolsdhain jüdische, evangelische und katholische Bibelwissenschaftler - als katholischer Vertreter nahm Franz Mußner teil -, um über antijüdisch bzw. antisemitisch klingende Texte des Neuen Testaments zu diskutieren. Noch heute lassen die Vorträge und Diskussionsdokumentationen4 erkennen, daß im Prozeß der Arbeit arn Text die Frage nach dem Schriftverständnis stets präsent war. Wenn die Texte eine ihrer Intention konträre Rezeptionsgeschichte erfuhren, war die Frage notwendig zu stellen, inwieweit das vorgegebene Schriftverständnis diese Rezeptionsgeschichte förderte und ermöglichte. Da damit zugleich nach dem Vorverständnis derer gefragt wurde, die die 3
Dt. Einsiedeln 1963. W. f.cKER.TIN.P. LEVINSOHNIM. STOHR (Hg.). Antijudaismus im Neuen Testament Exegetische Wld systematische Beitrage (ACID 2). München 1967. 4
Vorwort
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Texte interpretierten, wurde offensichtlich, daß die historisch-kritisch arbeitenden Exegeten sich selbst und ihre Arbeit zu wenig auf die historische Bedingtheit hin befragt hatten. Weder die Arbeit von Gerhard Kittel mit ihrer Sympathie für die rassistischen Theorien der Nationalsozialisten noch die offen antisemitischen und nationalsozialistischen Machwerke eines Walter Grundmann wurden damals offen diskutiert. s Gleichwohl wurden schon auf dieser Tagung Probleme aufgezeigt, die in den kommenden Jahrzehnten die Diskussion beherrschen sollten. Unlöslich mit den hermeneutischen Implikationen verbunden, wurde weiterhin danach gefragt, ob die Antijudaismen sich der Intention der neutestamentlichen Autoren verdanken und damit zum Bereich der Textproduktion gehören, oder ob sie erst in der Rezeption über die Texte gelegt wurden, so daß von einem Mißverstehen auszugehen ist. Um die Frage eines strukturellen Antijudaismus von der eines subjektiven zu trennen, waren und sind Einzeluntersuchungen zu den verschiedenen Epochen der Auslegungsgeschichte notwendig, die verstehen helfen, warum das antijudaistische Vorverständnis so ausgesprochen zählebig ist. Weiterhin zeigte die exegetische Arbeit an Einzeltexten, daß auch die "großen" Themen des Neuen Testaments, wie etwa Christologie und Soteriologie, Rechtfertigung und Gnade, Gesetz und Glaube, nicht von der Untersuchung ausgenommen werden konnten. Daß die Debatte auch zu einem verstärkten Interesse an der Erforschung der Ursprünge der christlichen Religion führte, sei erwähnt. Nun vollzog und vollzieht sich diese exegetische Arbeit der letzten dreißig Jahre nicht aber von den innerkirchlichen Entwicklungen abgetrennt, sondern beide stehen in einem gegenseitigen Prozeß, in dem die Exegese viele Anregungen erhält, aber auch gibt. Es wird zu wenig berücksichtigt, daß gerade die vielfach gescholtene historisch-kritische Exegese viel zur kirchlichen Orientierung beiträgt und sehr nahe an der Praxis ist, die es neu zu bestimmen und zu leben gilt. Dreißig Jahre sind auch in der Wissenschaft eine lange Zeit, vielleicht ein Zeitmaß, um das Getane zu sichten und zu bedenken und zugleich weiter an den aufgegebenen Fragen zu arbeiten. Es gibt freilich in dem Bemühen, den Antijudaismus aus dem christlichen Denken zu verbannen, keinen Stillstand und kein Zurück. Für das eine sorgt die Notwendigkeit, die eigene Position auf biblischer Grundlage je neu zu
s Vgl. aUerdings: W. KOMMEL, Jesusforschung seit 1950, ThR 31 ( 1965/66) 1546, 289-315: 301.
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reflektieren und in die Diskussion einzubringen6 , für das andere die Lebendigkeit, mit der dieser Prozeß sich in den Kirchen vollziehe. Daß auch in der exegetischen Diskussion keine Ermüdung eingetreten ist, dokumentiert dieser Band. Als ich an die Planung ging, dachte ich primär an eine Bilanzierung. Doch, wie sich zeigt: Die Exegese ist zu lebendig und zu engagiert, als daß sich die Zeit anhielten ließ. So ist auch dieses Buch ein Beitrag zur aktuellen Diskussion. Und daß zwar im Anliegen Gemeinsamkeit besteht, aber nicht immer in methodischen, theologischen und historischen Fragen und Interpretationen, belegt, daß die Exegese von der Schrift lebt, die Exegeten aber von der guten Kontroverse. Die gemeinsame Sache, die Schrift zu erklären im Bedenken auf Kirche und Israel, erfordert die Bereitschaft, eigene Positionen kritisch zu befragen und sich und seine Thesen befragen zu lassen. Man kann angesichts der Herausforderung der jahrhundertealten Geschichte des christlichen Antijudaismus kaum erwarten, daß in seiner theologischen Aufarbeitung völlige Übereinstimmung herrscht. Daß die Exegese auf das innertheologische Gespräch angewiesen ist, kommt durch den dogmatischen Beitrag von Dorothea Sattler und den religionspädagogischen von Hei/ce Bee-Schroedter deutlich zum Ausdruck. Übrigens bietet der Titel des dogmatischen Beitrags auch eine Erklärung dafür, aus welchem Grund an diesem Band nur Katholikinnen und Katholiken mitarbeiteten. So wie der Antijudaismus seine eigenen konfessionellen Ausprägungen hat, so zeigt sich bei der theologischen Reflexion auch ein spezifisches Erinnertwerden an die eigenen hermeneutischen Voraussetzungen und Traditionen. Daß sich in jenen
6 Die
QualiW dieser Diskussion sollte nicht danmter leiden. daß der Antijudaismus zu einem autorit.aren Argument wird, mit dem man jede anders lautende Meinung abqualifiziert. Die Diskussion wird sinnlos, wenn sie mit Vorvena1eilungen operiert Wer meint, daß die christologischen Wld trinilarischen Sätze sehr wohl auch in einer Theologie ohne Antijudaismusdas Trennende zu Israel ausmachen (lcOnnen). sollte nicht gleich mit dem Verdikt belegt werden. er stelle die jüdisch - christliche Versöhnung in Frage. Es gibt auch in der Theologie keine Roeklcebr zum reinen konfliktfreien Anfang. der wohl nie existierte. Denn aus der eigenen Dogmen- und .Kin:hcogeschichte kann man sich nicht einfach davon machen. 7 Diese Einschatzlmg gilt troiZ der teilweise in historiscb - theologischer Hinsicht enttäuschenden Erldänmg: Wir erinnern: Eine Reflexion aber die Shoah vom 16. Man 1998~ vgl. dazu: 0. BLAscHKE, Nicht die Kirche als solche? Anfragen eines Historikers an die vatikanische ,,Reflexion über die Shoa", Blätter filr deutsche W1d internationale Politik 4 3 ( 1998) 862874~ R. l
Vorwort
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ein Wandel vollzogen hat, ist offensichtlich; eben dies kann man hier exemplarisch nachprüfen. Der vorliegende Sammelband wurde am Seminar für Katholische Theologie zu einer Zeit fertiggestellt, als sich an der Freien Universität Berlin große Wandlungen anbalmten. Auch unser Seminar war und ist davon nicht unberührt. Es gehört gewiß zu den Merkwürdigkeiten eines Professorenlebens in dieser Zeit, daß man des Morgens die Existenz seines Faches verteidigen muß und am Nachmittag erf~ daß man zur Fertigstellung dieses Buches einen namhaften Zuschuß von der Universität erhält. Nun, da der Bestand des Seminars an der Freien Universität gesichert und der Sammelband mit ihrer Unterstützung fertiggestellt ist, bleibt es, denen Dank zu sagen, die dabei halfen. Zunächst möchte ich meinen Mitarbeiter, M. Blum, nennen, der mir viel der organisatorischen Arbeit abnahm und dankenswerterweise für einen Kollegen "einsprang", der seine Zusage zurückziehen mußte. P. Cersovsky gebührt Dank dafür, daß er die technische Redaktion betreute. Vielleicht wird er irgendwann herausfinden, warum nicht alle Exegeten den gleichen griechischen Schriftsatz benutzen. R. Kober half viel beim Lesen der Korrekturen. Kollegin Sattler, die Kollegen Schlegelherger und Weinrieb waren und sind mir wichtige Gesprächspartner, an deren gutem Widerspruch und Zuspruch ich mich immer wieder freue. Besonders muß und will ich die Geduld des Schöningh-Verlags, und dort insbesondere die von Herrn Jacobs loben. Sie wurde hart erprobt. Darf und kann man in diesen Zeiten einer Universität ein Buch widmen? Ich denke ja; dieses geschieht trotz all der Probleme, die eine Neustrukturierung mit sich bringt. Denn in den fünf Jahren, in denen ich an der FU tätig bin, hat es zahlose Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen auch anderer Disziplinen gegeben, von denen ich viel lernen durfte. Ein Ergebnis dieser Gespräche war und ist die Erkenntnis, daß die Universität, an der ich tätig bin, ihren Namen zu Recht trägt und allen Gefährnissen zum Trotz Ehre macht. Berlin-Dahlem im September 1998 Rainer Kampling
Was macht das Mysterium Israel aus? FRANZ MUSSNER
Die Rede vom "Mysterium Israel" ist eine genuin theologische Rede. Der Begriff "Mysterium" kommt von dem griechischen Wort ~oo'tftpLov, das "Geheimnis", "Geheimlehre" bedeutet. Im Neuen Testament begegnet das Wort vor allem in der paulinischen Literatur an einundzwanzig Stellen, aber nur in Röm 11,25 ist der Begriff "Geheimnis" von Paulus in eine Beziehung zu Israel gebracht, und zwar in bedeutsamer Weise: "Denn ich will euch, Brüder, über dieses Geheimnis nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht auf eigene Einsicht baut: eine teilweise Verstockung ist Israel widerfahren, bis die Vollzahl der Heiden eingegangen ist [sc. in das Reich Gottes, in das messianische Reich]~ und so wird ganz Israel gerettet werden". Die Anrede "Brüder" in diesem Text betont die Dringlichkeit der folgenden Aussagen. Und die Formulierung: "damit ihr nicht auf eigene Einsicht baut", weist darauf hin, daß dieses Geheimnis, von dem der Apostel hier spricht, "nicht seinem oder der ,Brüder' Wissen entspringt, sondern Offenbarung des göttlichen Ratschlusses ist, die allein die wahre Erkenntnis verleiht. über Israel kann man nicht ohne Annahme der Offenbarung im Mysterium reden. Alle historischen, soziologischen und psychologischen Erkenntnisse von diesem Volk reichen nicht dazu, ja führen irre. Israel ist letztlich selbst ein Mysterium". 1 Dieser Satz führt uns zu der Frage: Inwiefern ist Israel "letztlich selbst ein Mysterium"? Darauf seien folgende stammelnde Antworten versucht: I. Zum "Mysterium Israel" gehört die Erwählung Israels zum Volk JHWHs, des Ewigen Der Ewige hat Israel erwählt. Warum gerade Israel, dieses in der Wüste herumziehende Nomadenvolk, und warum zuvor schon sein ,)tuf' an Abraham ergangen ist, entzieht sich menschlicher Einsicht. Das ist und 1 H.
ScHLIER. Der Römerbrief, Freiburg/Basel/Wien 2 1979,338.
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bleibt ein Mysterium. Das Alte Testament redet an vielen Stellen von dieser Erwählung, besonders auch im Buch Deuteronomium. So in 7,6-8: ,,Ein für JHWH, deinen Gott, geheiligtes Volk bist du. Dich hat JHWH, dein Gott, erwählt, um ihm als Volk des Eigentums anzugehören unter allen Völkern, die auf dem Erdboden wohnen. Nicht weil ihr zahlreicher seid als alle Völker, hat sich JHWH zu euch herabgeneigt und euch erwählt~ denn ihr seid das kleinste von allen Völkern, vielmehr weil JHWH euch liebte und weil er den Schwur hielt, den er euren Vätern geschworen hat [... ]"~ IO,l4f: "Siehe, JHWH, deinem Gott, gehört der Himmel und der Himmel des Himmels, die Erde und was darüber ist. Nur deinen Vätern hat sich JHWH zugeneigt, indem er sie liebte, und er erwählte ihre Nachkommen nach ihnen, nämlich euch, aus allen Völkern, wie es heute der Fall ist'\ 14,2: "Denn ein heiliges Volk bist du für JHWH, deinen Gott, und dich hat JHWH erwählt, daß du als Volk sein besonderes Eigentum seist unter den Völkem auf dem Erdboden". Zweimal wird in diesen drei Texten die Liebe Gottes zu Israel als Motiv seiner Wahl genannt, aber warum Gott gerade dieses Volk "liebt", das Volk der Juden, ist rational nicht zu ergründen, das ist absolutes Mysterium. Während der Zeit des babylonischen Exils beantwortet der sog. Deuterojesaja die Frage, ob es für Israel überhaupt noch eine Zukunft gibt, mit der prophetischen Ansage (41,8-1 0): "Du aber, Israel, mein Knecht, du Jakob, den ich erwählt habe, Sprößling Abrahams, meines Freundes! Du, den ich von den Enden der Welt geholt, den ich rief von den äußersten Winkeln, zu dem ich sprach: Mein Knecht bist du, ich habe dich erwählt und nicht verworfen. Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir! Blicke nicht ängstlich, denn ich bin dein Gott! Ich stärke dich, ja, ich helfe dir~ ja, ich stütze dich mit meiner hilfreichen Rechten". Auch das Neue Testament kennt und anerkennt die Erwählung Israels. Zum Erweis dafür nenne ich folgende Texte: Apg 13,17-19: "Der Gott dieses Volkes Israel hat WlSere Väter erwählt und das Volk in der Fremde im Land Ägypten erhöht. Mit erhobenem Arm hat er sie von dort herausgeführt. Fast vierzig Jahre hat er
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sie in der Wüste getragen, sieben Völker hat er vernichtet im Land Kanaan und ihr Land ihnen zum Erbe gegeben". Sechs zusammengehörige Topoi erscheinen in diesem Text: 1. Gott als der Erwählende, 2. Die Väter Israels als die Erwählten Gottes, 3. Israel als "Volk" Gottes, 4. Hinweis auf den Exodus, 5. Hinweis auf die Landnahme, 6. Das Land Kanaan als Erbbesitz für Israel. Das Ganze könnte als ein Summarium der alttestamentlichen Erwählungstheologie bezeichnet werden. Röm 11,28f: ,:Zwar mit Blick auf das Evangelium sind sie (die Juden) Gegner euretwegen (der Heiden wegen), aber mit Blick auf die Wahl (die ehemalige Erwählung) sind sie Geliebte um der Väter wi//en. Denn unwiderruflich sind die Gnadengaben und der Ruf Gottes". Drei wichtige Stichworte: "Wahl" - ,,Geliebte" - "Ruf', bezogen auf Gottes Handeln an Israel, den Juden. Bei den "Gnadengaben" denkt der Apostel vermutlich besonders an die Vorzüge Israels, von denen er in 9,3-5 spricht. Ergänzend bringe ich dazu Zitate aus dem Buch von Schalom BenChorin2: Die Erwählung Israels. Er schreibt: "Der Gedanke der Erwählung Israels kann als ein Leitmotiv der Hebräischen Bibel angesehen werden, das sich durch alle Teile des Alten Testaments hindurchzieht". 3 "Israel bleibt für weite Schichten des Judentums - und für biblisch orientierte Christen - das Volk der Erwählung." Er fahrt fort: ,,Es gibt aber keine Erwählung ohne Verheißung und keine Verheißung ohne Verpflichtung. Nur ein Israel, das die Bundestreue wahrt, hat den legitimen Anspruch auf Erwählung und Verheißung, die in der Realität des Tages bewährt werden müssen". 4 "Die Erwählung Israels ist gleichsam ein Gradmesser für die religiöse Lebendigkeit der Juden". 5 "Nur ein hörendes Israel wird sich seiner Erwählung bewußt. Ein hörendes Israel kann einen hörenden Gott erleben, der seine Gebete vernimmt. Wo aber nicht nur Gottesfinsternis, sondern auch Gottestaubheit seinen Bundespartner Israel ergriffen hat, kann seine- GottesStimme nicht mehr gehört werden. Das ist die tragische Situation, der wir uns konfrontiert sehen". 6 Denn Scha/om Ben-Chorin muß leider konstatieren: ,,Das Judentum hat weithin dieses Erwählungsbewußtsein Sch. BEN~HORIN. Die Erwahlung Israels. Ein theologisch-politischer Traktat, MOnchenl Zürich 1993. 3 Ebd., 13. 4 ~lxl., 173. 5 Ebd., 149. 6 Ebd., 176. 2
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verdrängt oder verloren". 7 "Nur ein Israel, das geistlich nicht tot ist, kann die Zeugenschaft der Erwählung realisieren [... ]. So lange derbewußte und unbewußte Zusammenhang von Existenz und Erwählung in diesem Volke gegeben bleibt, ist auch seine Zukunft verbürgt". 1 Ich fuge dem hinzu: Ohne Wissen um die Erwähltheit durch Gott besteht fur den Juden die Gefahr, sein Identitätsbewußtsein zu verlieren, ähnlich wie im Fall der Assimilation. Denn eine Folge der Erwählung Israels durch Gott ist seine Sonderexistenz, die im Alten Testament wiederholt ausdrücklich angesprochen wird, so in besonders eindringlicher Weise in der Erzählung über den Seher Bileam (Num 22, 1-24,25). Der Seher Bileam wird von Balak, dem König von Moab, beauftragt, das Volk Israel, das sein Lager in den Steppen von Moab aufgeschlagen hatte, zu verfluchen: "[ ... ] verfluch' mir dieses Volk~ denn es ist zu mächtig für mich". Aber Bileam wird vom "Engel des Herrn" daran gehindert, Israel zu verfluchen~ stattdessen spricht er in einem Orakelspruch zum König Bala.k: "Aus Aram führe mich Balak her, der König von Moab vom Ostgebirge: ,Geh, verfluche mir Jakob! Geh, drohe Israel!' Doch wie soll ich verwünschen, wen Gott nicht verwünscht, wie soll ich drohen, wem JHWH nicht droht? Denn vom Gipfel der F eisen sehe ich es, von den Höhen aus erblicke ich es: Dort, ein Volk, es wohnt fur sich, es zählt sich nicht zu den Völkern" (23,7-9). Vgl. dazu auch Dtn 4,34: "Oder hat je ein Gott versucht, sich ein Volk mitten aus einem anderen Volk herauszuholen?'', 2 Sam 7,23f: "Welches andere Volk auf der Erde ist wie dein Volk Israel? Wo wäre ein Gott hingegangen, um ein Volk fur sich als sein Volk freizukaufen und ihm einen Namen zu machen und für dieses Volk große und erstaunliche Taten zu vollbringen [... ]. Du hast Israel auf ewig zu deinem Volk bestimmt, und du, Herr, bist sein Gott geworden". Und vor allem 7 Ebd., I
63. Ebd., 151.
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Ez 20,32: "Niemals soll geschehen, was euch eingefallen ist, als ihr sagtet: Wir wollen wie die anderen Völker sein, wie die Völkerstämme in anderen Ländern, und wir wollen Holz und Steine verehren". Damit ist vom Propheten eine Urversuchung des Judentums angesprochen, die zur Zerstörung des Mysteriums Israel fuhren könnte und die den Namen "Assimilation" trägt. "Unter Assimilation versteht man die vollkommene Anpassung der Juden an Sprache, Sitten und Gebräuche der Völker, unter denen sie wohnen". 9 Wenn der Prophet Ezechiel davor warnt und zwar mit einem Gottesspruc~ dann stehen natürlich konkrete Erfahrungen mit der jüdischen Exilsgemeinde in Babylonien dahinter. Es gab immer auch Gegenreaktionen auf Assimilationsbestrebungen, so in der vorchristlichen Zeit im Aufstand der Makkabäer gegen die syrische Herrschaft. Es gab auch in der Neuzeit im Zusammenhang von Aufklärung und Emanzipation doch immer auch warnende Stimmen aus der Überzeugung heraus, "daß die Assimilation Selbstzerstörung des Judentums bedeutet" 10. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Streit zwischen Theodor Herz/ und Wa/ter von Rathenau, über den der jüdische Historiker R. Kallner eine lehrreiche Doppelbiographie geschrieben hat. 11 Während der Jude W von Rathenau in seiner Broschüre ,,Höre Israel" den Juden die "Anartung" (an die Völker) empfahl, hatte der Jude Th. Herz/ den Juden die Sammlung in einem "Judenstaat" empfohlen, als Frucht der Erkenntnisse, die ihm in Paris der Dreyfus-Prozeß einbrachte. Der jüdische Philosoph Leonard H. Ehrlich hat sich in seinem bedeutenden Buch Fraglichkeit der jüdischen Existenz 12 mit der Frage befaßt: Was konnte und könnte die jüdische Existenz in Frage stellen? Die Fraglichkeit jüdischer Existenz ist nach ihm insofern ein Phänomen des Judentums, als in dasselbe "die Modeme" eingebrochen ist. ,,Die Modeme als solche stellt das Judesein in Frage, d.h. nicht nur, indem gesellschaftliche Bewegungen und politische Entwicklungen dem Juden seine Existenz bewußt, mitunter sogar programmatisch strittig machen, sondern auch, und vielleicht insbesondere, indem Modeme als die Bedingung irgendeiner Existenz überhaupt gilt, so auch die eines 9
R. PFlsTERE.R, Von A bis Z. Quellen zu Fragen wn Juden und Christen. Gladbeck 1971.50. 10 Ebd., 55 mit vielen Belegen. 11 Vgl. R. KALLNER, Herzl und Rathenau. Wege jüdischer Existenz an der Wende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1976. 12 L.R EHRUCH, Fraglichkeil der jüdischen Existenz. Philosophische Untersuclnmgen zum modernen Schicksal der Juden. Freiburg/MOnehen 1993.
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Juden". 13 Es geht nach l!:nrlich um "das Phänomen der fraglichen Möglichkeit Wld doch Wlentrinnbaren Notwendigkeit, in der modernen Welt als Jude zu gelten". 14 Nach ihm sind es Aufklärung, Emanzipation und Assimilation, die "auf je eigene Art und Weise auf die Fraglichkeil jüdischer Existenz verweisen". 1s Denn diese drei BewegWlgen erschweren und gefiihrden genuin jüdische Existenz, so daß der Jude sich vor die Aufgabe gestellt sieht, sein Judeseintrotz dieser Gefährdungen der jüdischen Identität durchzustehen, zumal sich zeigte, daß die Modeme als "unentbehrliches Geleise eines Lebens in unserer Zeit überhaupt" das eigentliche Jude-Sein "ins Unerhebliche, ins Irrelevante, ins Altmodische, ins zeitweise Rituelle und Lippenbekenntnishafte, [... ] ins Störende und Fremdartige und unberechenbar Unmodische" 16 zu verdrängen droht. Ehrlich fragt deshalb: Was ist denn das, was Substanz, Wesen und Geltung des Judentums ausmacht? Und er verweist in seiner Antwort auf "das uralte Selbst-Verständnis des Judentums als ,Am Jisrael'" 17 ~ auf "die unbedingte Beziehung zu Gott als Seinsgrund"11~ auf "das Bewußtsein des Auserwähltseins" 19, das mit der Zeit "in ein Bewußtsein der Verheißung der Erlösung und ein Bewußtsein dessen, daß das jüdische Volk in der erwarteten Erlösung eine besondere Rolle hat", mündef0 ~ auf das Leben nach der Halacha. "Die Lebensbedingungen der Modeme haben aber dieses Jude-Sein faktisch Wld zum Teil auch radikal, seiner Möglichkeit nach, in Frage gestellt". 21 Ich frage: Ist also der Jude ein Anachronismus und deshalb auch meine Rede vom "Mysterium Israel" Unsinn? Mit dieser Frage hängen zwei weitere Fragen zusammen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, wenn wir das "Mysterium Israel" weiter bedenken wollen. Diese zwei Fragen lauten: Ist der BWld Gottes mit Abraham Wld mit dem Volk Israel arn Berg Sinai ein bleibender BWld? Und: Warum muß es den Juden post Christum noch geben? Mit diesen zwei Fragen hängen weitere Probleme zusammen, die es zu bedenken gilt.
13
Ebd.. 15.
14Ebd., 22.
Ebd., 29. Ebd., 109. 17Ebd., 73. II Ebd., 75. 19 Ebd., 76. 20 Ebd., 77. 21 Ebd., 77. IS
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ll. Zum ,,Mysterim Israel" gehört der bleibend gültige Bund Gottes mit Israel und die bleibende Existenz des Juden bis zum Ende der Zeiten 1. Gott hat mit Abraham einen Bund geschlossen. Davon erzählt vor allem Gen 17, 1-21. Dreizehnmal ist in diesem Text vom "Bund" die Rede, und dreimal wird dieser "Bund" als ein "ewiger Bund" bezeichnet, als ein "Bund" also, der für immer gilt. Geschlossen wird dieser Bund nicht bloß mit Abraham, sondern zugleich mit der Nachkommenschaft Abrahams: "Ich schließe meinen Bund zwischen mir und dir samt deinen Nachkommen, Generation um Generation, einen ewigen Bund' (17,7). 2. Am Berg Sinai stiftet Gott mit dem "ganzen Volk" Israel einen Bund im "Blut des Bundes" (vgl. dazu Ex 24, 1-8). 3. Im Ps 105,6-10 findet sich ein lobpreisendes Echo auf den Bundesschluß Gottes mit Abraham: "Bedenkt es, ihr Nachkommen seines Knechtes Abraham, ihr Kinder Jakobs, die er erwählt hat. Er, der Herr, ist unser Gott. Seine Herrschaft umgreift die Erde. Ewig denkt er an seinen Bund, an das Wort, das er gegeben hat für tausend Geschlechter, an den Bund, den er mit Abraham geschlossen, an den Eid, den er Isaak geschworen hat. Er bestimmte ihn als Satzung für Jakob, als ewigen Bund für Israel". 4. Auch im Neuen Testament findet sich ein solches Echo im Benediktus des Zacharias, des Vaters Johannes' des Täufers, in Lk 1,68-79. Es beginnt mit einem Lobpreis: "Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels!" (V. 68). Und gepriesen wird er deshalb, weil "er das Erbarmen mit den Vätern an uns vollendet (hat) und an seinen Bund gedacht (hat), an den Eid, den er unserem Vater Abraham geschworen hat" (VV.72.73). 5. Das Alte Testament weiß allerdings auch von häufigen Bundesbrüchen Israels, so etwa der Ps 78.V.10: "Gottes Bund hielten sie nicht, sie weigerten sich, seiner Weisung zu folgen'\ V.11 : "Sie vergaßen die Taten des Herrn, die Wunder, die er sie sehen ließ" (nämlich während des Exodus und der Landnahme); V.37: "Ihr Herz hielt nicht fest zu ihm, sie hielten seinem Bund nicht die Treue"; VV.56-58: ,,Doch sie versuchten Gott und trotzten dem Höchsten, sie hielten seine Satzung nicht. Wie ihre Väter, fielen sie treulos von ihm ab, sie wandten sich ab wie ein Bogen, der versagt. Sie erbitterten ihn mit dem Kult auf den Höhen und reizten seine Eifersucht mit ihren Götzen". Und im Ps 81, 12 heißt es: "Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimmte gehört; Israel hat mich nicht gewollt". JHWH wurde von Israel als ein Oktroi emp-
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funden, und er war es auch. JHWH entsprang nicht der "Judenseele". Was sagt der Prophet Jesaja über sein Volk? "Sie sind ein trotziges Vol~ mißratene Söhne, Söhne, die auf die Weisung des Herrn nicht hören. Sie sagen zu den Sehern: Seht nichts!, und zu den Propheten: Erschaut für uns ja nicht, was wahr ist, sondern sagt, was uns schmeichelt, erschaut für uns das, was uns täuscht. Weicht nur ab vom rechten Weg, verlaßt den richtigen P{ad, laßt uns in Ruhe mit dem Heiligen Israels!" (Jes 30,9-11; 2 Kg 17, 1-8). Gott selbst aber redet anders: "So spricht der Herr, der die Sonne bestimmt zum Licht am Tag, der den Mond und die Sterne bestellt zum Licht in der Nacht, der das Meer aufwühlt, daß die Wogen brausen Herr der Heere ist sein Name: Nur wenn jemals diese Ordnungen vor meinen Augen ins Wanken gerieten- Spruch des Herrn-, dann hörten auch Israels Nachkommen auf, für alle Zeit vor meinen Augen ein Volk zu sein" (Jer 31,3 Sf). "Ich traue dich mir an auf ewig, ich traue dich mir an um den Brautpreis von Gerechtigkeit und Recht, von Liebe und Erbarmen, ich traue dich mir an um den Brautpreis meiner Treue: Dann wirst du den Herrn erkennen" (Hos 2,21 f). 6. In Jer 31 ,31-34 wird vom Propheten ein neuer Bundesschluß Gottes "mit dem Haus Israel und dem Haus Juda" angekündigt, der nicht ist "wie der Bund war, den ich mit euren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war - Spruch des Herrn. Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe- Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den anderen belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen - Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr". Die Alttestamentler streiten unter sich, ob mit der Rede vom ,,neuen Bund" in Jer 31,31 ein völlig neuer Bund Gottes mit Israel gemeint ist, oder ein erneuerter (erneuter) Bund; und ob beim erneuerten (erneuten) Bund an den Abrahamsbund oder den Sinaibund gedacht ist. Unbestritten ist jedenfalls zweierlei: Der "neue Bund" von Jer 31 ,31 ist ein Sündenvergebungsbund (V.34 b) und Gott stellt sein Volk Israel nicht für immer beiseite, er verwirft sein erwähltes Volk nicht, sondern
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hält ihm die Treue: Er steht zu seimem Bund mit Israel, einst geschlossen mit seimem Vater Abraham. 22 7. Auch das gehört zum ,,Mysterium Israel", und das führt uns wieder zum Römerbrief des Apostels Paulus. Ich erinnerte schon an die prophetische Ansage des Apostels in Röm 11,26: ,,ganz Israel wird [einst) gerettet werden", und er fährt fort mit Zitaten aus dem Alten Testament, die für ihn prophetischen Charakter besitzen: "Wie geschrieben steht Kommen wird aus Sion der Rettende, wegnehmen wird er die Gottlosigkeiten von Jakob, und dies [ist] zu ihren Gwtsten [a{Yroic; ist Dat. comm.: zu Gwtsten Israels, der Juden] der von mir [gestiftete] Bund, wenn ich hinwegnehme ihre Sünden" ( 11 ,26b f ). Der Apostel spricht hier ganz eindeutig von einem "Bund" zu Gwtsten der Juden, versteht diesen (ähnlich wie Jeremia) als Sündenvergebungsbund und bringt diesen "Bund" in zeitlichen Zusammenhang mit dem Kommen des Retters aus Sion, mit dem höchst wahrscheinlich nach der Meinung der meisten Exegeten der Parusiechristus gemeint ist. Der Parusiechristus wird ,,ganz Israel" retten, also auch jene Juden, die dem Evangelium gegenüber "verstockt" sind, die Jesus und das Evangelium ablehnen. Und diese "Rettung" involviert einen "Bund" mit Israel. Die Frage ist hier wieder: Ist dieser Bund der ,,neue Bund" von Jer 31,31 oder der reaktivierte Bund Gottes mit Abraham und seinen Nachkommen bzw. der reaktivierte Sinaibund? Von einem neuen Bund spricht der Apostel in Röm 11,27 nicht. Zum Sinaibund gehört die Tor~ denn die Bundesschließung am Berg Sinai war unlöslich mit der Toragabe an Israel verbunden. Von der Tora ist aber in Röm 11,27 keine Rede. So bleibt der Abrahamsbund, der ein "ewiger [ewig dauernder] Bund" mit der ganzen Nachkommenschaft Abrahams ist, der aber in Röm 11,27 als ein Sündenvergebungsbund ausgelegt wird, und den Gott bei der Parusie des Messias fur das Volk der Juden endgültig bestätigen wird. Ich ergänze deshalb in dem Nominalsatz von Röm 11,27 ein konstatierendes "ist": "und dies ist zu ihren Gwtsten der von mir [gestiftete] Bund, wenn ich hinwegnehme ihre Sünden". Bei den "Sünden" denkt der Apostel vermutlich vor allem an die häufigen Bundesbrüche Israels, von denen im Alten Testament so oft die Rede ist. Und warum handelt Gott so an seinem erwählten Volk Israel, an den Juden? Diesem "ungehorsamen und widersprechenden Volk", wie Paulus in Röm 10,21 zusammen. mit Jes 65,2 konstatiert? Der Apostel weist schon im 22
Vgl. F. MUSSNER, Gottes "Bund" mit Israel nach Rom 11,27, in: H. f'RANKEMOu.E (Hg.), Der ungekOndigte Bund? Antworten des Neuen Testaments (QD 172), FreiburWßasel/Wien 1998, 157-170.
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folgenden Vers ( 11, I) die vielleicht in der Christengemeinde von Rom kursierende Meinung mit aller Entschiedenheit zurück, Gott habe sein Volk für immer "verstoßen": J..Lll yivot'to! "auf keinen Fall", ,,nicht hat Gott sein Volk verstoßen, das er zuvor erkannt hat!" (11 ,2), d.h. erwählt hat. Mögen die Juden auch Gegner des Evangeliums sein, so sind sie doch mit Rücksicht auf die einst erfolgte "Wahl" die bleibenden "Geliebten" Gottes "um der Väter willen"! "Denn unreuig sind die Gnadengaben [Gottes für Israel] und der Ruf Gottes": Gott bereut es in seiner unglaublichen Güte und Barmherzigkeit nie, daß er Israel, das Volk der Juden, zu seinem erwählten Volk gemacht hat. Der Jude bleibt der Liebling Gottes! Das gehört zum Mysterium Israel. 8. Ich frage weiter: Gehört auch die "Verstockung" der Juden Jesus Wld dem Evangelium gegenüber zum Mysterium Israel? Der Apostel spricht ja von ihr ausdrücklich in Röm 11,7 und 11 ,25. Er stellt fest, daß auch die Juden das Evangelium hören konnten, "aber nicht alle gehorchten dem Evangelium" (10,16); "sie stießen sich an dem Stein des Anstoßes", den Gott in Sion hingelegt hat (9,32b f.), d.h. an dem gekreuzigten Christus. Paulus bemerkt in 1 Kor 1,23: "Wir verkündigen Christus als gekreuzigten, für die Juden ein mcavooA.ov", ein Skandal, ein Ärgernis. Es leuchtet dem Juden nicht ein, daß das Heil Israels und der Welt ausgerechnet von einem gekreuzigten Handwerker aus dem DorfNazareth in Galiläa kommen soll. Auch für die Heiden ist "das Wort vom Kreuz" J.lOlPia, Torheit (ebd.). Das kann man zur Not psychologisch verstehen, aber der Apostel begnügt sich nicht mit Psychologie, vielmehr operiert er theologisch. Er sucht nach dem letzten Grund, der eigentlichencausafür die "VerstockWlg" Israels, der Juden, dem Evangelium gegenüber: "die übrigen aber wurden verstockt, wie geschrieben steht [nämlich in Dtn 29,3 und Jes 6,9f]: Es gab ihnen Gott einen Geist des Tiefschlafes, Augen zum Nichtsehen und Ohren zum Nichthören bis zum heutigen Tag" ( II, 7b f. ). Das ist Theo-Logie, Gott ist das Subjekt in diesem Satz; man kann sich drehen und winden wie man will, man kommt um dieses Subjekt nicht herum. Das heißt aber: Gott selber ist der letzte Grund, die eigendichste causa für die "Verstockung" Israels dem Evangelium gegenüber; m.a W.: Gott selbst hat nach seinem geheimnisvollen Willen diese "Verstockung" verfügt; "er erbarmt sich, wessen er will, er verhärtet, wen er will" (9, 18). Es bestätigt sich, was der Apostel gegen Ende seiner Ausführungen über das Endheil Israels in Röm 9-11 schreibt: "Wie unerforschlich [sind] seine Beschlüsse und wie unergründlich seine Wege! Denn wer hat den Gedanken [die Logik] des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber
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gewesen?'' (ll,33b f). Die Antwort kann nur lauten: Niemand! Die ,,Logik" Gottes ist eine andere als die Logik der Sterblichen. Man vergesse dabei nicht, daß Paulus diese eben zitierten Sätze schreibt mit Blick auf die geheimnisvollen Wege Gottes mit dem Volk Israel, mit dem Volk der Juden. Und deshalb sage ich: Gerade auch die sog. Verstockung Israels dem Evangelium gegenüber gehört zum unergründlichen Mysterium Israel. 23 9. Diese "Verstockung" stellt uns vor eine unbestreitbare Tatsache, nämlich diese, daß es den Juden bis heute gibt. Hätten die Juden in ihrer Gesamtheit, hätte "ganz Israel" damals das Evangelium angenommen, dann gäbe es den Juden als Juden nicht mehr. Es gibt ihn aber bis zum heutigen Tag als Juden. Franz Rosenzweig hat in seinem berühmten Werk "Der Stern der Erlösung" bemerkt: ,))ie jüdische Geschichte ist, aller weltlichen Geschichte zum Trotz, Geschichte dieses Rests, von dem immer das Wort des Propheten gilt, daß er ,bleiben wird"'. 24 Israel ist "mehr[ ... ] als eine Idee[ ... ]. Denn wir leben. Wir sind ewig, nicht wie eine Idee ewig sein mag, sondern wir sind es, wenn wirs sind, in voller Wirklichkeit. Und so sind wir dem Christen das eigentlich Unbezweifelbare[ ... ]. An uns können die Christen nicht zweifeln". 25 Der Jude ist da, man kann an ihm nicht vorbeigehen, man kann ihn nicht übersehen. Durch Auschwitz und die Entstehung des Staates Israel ist der Jude mehr denn je in das Weltbewußtsein gerückt. Die Tatsache aber, daß der Jude immerzu da ist, läßt notwendigerweise eine Frage aufkommen, nämlich diese: Warum muß es den Juden post Christum noch geben? Die Dauerexistenz des Juden durch die Geschichte hindurch ist ja ein Rätsel. Und da die Juden das von Gott selber erwählte Eigentumsvolk Gottes sind, ist uns, um mit Abraham J. Besehe/ zu sprechen, die Judenfrage von Gott selber gestelltu'. Nochmals frage ich: Warum gibt es den Juden immerzu neben der Kirche, und ganz gewiß bis zum Ende der Tage? Ich antworte zunächst: Der Jude garantiert die Konkretheit der Heilsgeschichte. 27 "Heilsgeschichte" ist nichts Supra23
Vgl. F. MussNER, Israel in der ,,Logik" Gottes nach Röm 9-11, in: DERs., Dieses Geschlecht wird nicht vergehen. Judentum und Kirche, Freiburg 1991, 61-63~ Vgl. dazu auch noch: DERs., Israel in der "Logik" Gottes nach Rom 9-11 tmd im Denkgebirge Hegels. in: W.M. NEIDEIJF. HARn. (Hg.), Person W1d Fwdction (Gedenbchrift zum hundertsten Geburtstag von Jakob Hommes ). Regensburg 1998, 63-78. 24 F. RosENZWEIG. Der Stern der Erlösung, Den Haag 4 1976, 450. 25 Ebd.' 461. 26 Vgl. AJ. HEscHEL.,Israel. Echo der Ewigkeit. deutscll, Neu1circben-Vluyn 1988, 82. 27 Vgl. dazu F. MussNER, Wanun muß es den Juden post Christum nocll geben?, in: OHRs.• Geschlecht, 51-59.
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naturales ohne Anhalt in der konkreten Geschichte der Menschheit; sie vollzieht sich in ihrem Raum und in ihrer Zeit. Und gerade der Jude hält in besonderer Weise die Heilsgeschichte bei der Geschichte, da er kein Phantom in ihr ist. Es gibt ihn, es gibt ihn unter uns, und so ist der Jude "dem Christen das eigentlich Unbezweifelbare" (F. Rosenzweig). Der Jude, der neben der Kirche in der Welt existiert, ist darüber hinaus der lebendige Hinweis auf das Noch-nicht-Endgültige der Heilsvollendung. "Israel ist der weltgeschichtliche Zeuge fiir dieses Noch-nicht des göttlichen Willens. Er repräsentiert mit seinem Nein den eschatologischen Vorbehalt selbst". 28 Die bleibende Existenz des Juden, auch des atheistischen, unter den V ölkem und neben der Kirche ist in sich ein Mysterium. "In der Welt der Völker steht Israel in einer abgründigen Einsamkeit, nur Jahwe zugehörig[ ... ]. Die Existenz und der Weg Israels in der Völkerwelt ist das große Mysterium, von dem die Psalmen als dem geheimnisvollen Wunder sprechen". 29 Nach E. Uvinas, dem großen jüdischen Philosophen und Talmudinterpreten, bedeutet Judentum: -
Ent-heidnung der Welt Eine extreme Möglichkeit - oder Unmöglichkeit - der Menschheit Ein Aufplatzen der Welt Eine Schlaflosigkeit im Bett des Seins Ein Ausgestoßenwerden aus der "Weltlichkeit der Welt" 30 "Judenlocke, wirst nicht grau" (P. Celan, Gedicht Mandorla).
10. Hat auch das Land Erez Israel mit dem Mysterium Israel zu tun? Das ist eine schwierige Frage, aber man darf einer Antwort nicht aus dem Wege gehen. Die Literatur zum Thema ,,Israel und sein Land" ist immens. 31 Im Alten Testament begegnet an vielen Stellen die sog. 28
F.-W. MARQUARDT, ,,Feinde wn unsretwillen". DasjOdische Nein und die christliche Theologie, in: P. VON DER Os-mN-SACKEN (Hg.), Treue zur Tora (FS f G. Harder), Berlin 1m, 174-193: 192. 29 H.-J. KRAus, Theologie der Psalmen, Neukircben-Vluyn 1979,71. 30 Vgl. E. LSVINAS, Eigennamen. Meditationen über Spache und Literatur, deutsch, München 1988, 62. 31 Wenigstens sei auf die folgenden Publikationen hingewiesen: R. RENDToRFF, Israel und sein Land (IEH 188), MOneben 1975~ A. ÜHLHR, Israel. Volk und Land. Zur Geschichte der wechselseitigen Bezidumgen zwischen Israel und seinem Land in alttestamentlicher Zeit, Stuttgart 1979~ G. Sn:MBERGER. Die Bedenhmg des ,,Landes Israel.. in der rabbinischen Tradition, Kairos 25 (1983) 176-1~ B. SPRINGER. Die Landverheißung - ein Element der Bundestheologie im Alten Testament, Kairos 26 (1984) 54-65~ K.E. WCLFF, "Geh in das Land,
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Landverheißung. Ich zitiere einige Texte. Gen 12, 1: Gott spricht zu
Abraham: "Geh fort aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde". Das ist das Land Kanaan. Nach Gen 12,7 gibt Gott dem Abraham die Verheißung: "Deiner Nachkommenschaft werde ich dieses Land geben". Ex 6,8: ,,Ich will euch in das Land bringen, über das ich meine Hand zum Schwur erhoben habe, es Abraham, Isaak und Jakob zu geben; ich will es euch zum Besitz geben - ich bin JHWH." In der Rückschau des Ps 105 auf die alten Heilstaten Gottes an Abraham und an seinem Volk wird in bedeutender Weise die Landgabe mit dem ,,Bund" zusammengesehen: Gott "bestätigt ihn (den Bund) als gültig für Jakob, für Israel als ewigen Bund: ,Das Land Kanaan will ich dir geben, als zugemessenes Erbteil"'. Freilich bleibt der Besitz des Landes gebunden an den treuen Gehorsam Israels gegen die Weisungen der Tora, wobei besonders auch die soziale Gestaltung des Landbesitzes von den Propheten betont wird (vgl. etwa Jes 5,8; Jer 7,3.5-7). Die Verbannung aus dem Land ist die Strafe Gottes für Bundesbruch und soziale Ungerechtigkeit. Aber weil Gott seinen Verheißungen treu bleibt, verheißt er durch den Mund des Propheten die Rückkehr ins Land: "Gedanken des Heils und nicht Gedanken des Unheils [hege ich], um euch eine hoffitungsvolle Zukunft zu bereiten [.. .]. Ich wende euer Geschick und sammle euch aus allen Völkern und aus allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe [... ] und bringe euch zurück an die Stäue, von der ich euch weggeführt habe" (Jer 29, 11.14). Gott erneuert also die Landverheißung. Duen Höhepunkt besitzt diese erneute Verheißung wohl bei Tritojesaja (Jes 62,3f): "Du wirst zu einer prächtigen Krone in der Hand des Herrn, zu einem königlichen Diadem in der Rechten deines Gottes. Nicht länger nennt man dich ,Die Verlassene' und dein Land nicht mehr ,Das Ödland', sondern man nennt dich ,Meine Wonne' und dein Land ,Die Vermählte'. Denn der Herr hat an dir seine Freude, und dein Land wird mit ihm vermählt". das ich Dir zeigen werde...". Das Land Israel in der frOhen rabbinischen Tradition und im Neuen Testament, FrankfurtiBem/New York/Paris 198~ J. ScHARBERT, Die Landverheißung an die Vater als einfache Zusage, als Eid und als 8tmd, in: R BARTELMUS u.a. (Hg.), Konsequente Traditionsgeschichte (FS f Kl. Baltzer), Freiburp/Schw./Göttingen 1993,337-354.
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So scheint mir, daß auch das Thema ,,Land Israel" mit dem Mysterium Israel zu tun hat. Auch der heutige Staat Israel? Die Palästinenser würden sicher antworten: Auf keinen Fall! Für die Juden aber ist das Verheißungsland eine quasi-sakramentale Größe. Der Staat Israel aber ist nicht irgendwo entstanden, sondern im biblischen Verheißungsland, das Gott einst Abraham und dem Volk Israel zugesagt hat Abraham J. Heschel schreibt in seinem schon erwähnten Buch: ,)las Verhältnis des jüdischen Volkes zum Land Israel ist in sich selbst lebendige Geschichte. Geradeso wie brennende Liebe zwischen Menschen sehr real und mächtig sein kann, auch wenn sie nicht zusammen an einem Ort im Raum weilen, so ist die Liebe des jüdischen Volkes für das Land ein fortdauerndes mächtiges Zusammensein, selbst wenn es entfernt davon lebt, ein reales Bindeglied, ein geistliches Zuhausesein, eine nie ermüdende Umarmung, eine nie endende Hoffitung". 32 Und er bemerkt weiter: ,))er Staat Israel ist nicht die Erfüllung der messianischen Verheißung, aber er macht messianische Verheißung glaubhaft". 33 Das scheint mir richtig zu sein. Heschel fragt: "Was ist die Bedeutung des Staates Israel? Seine bloße Existenz ist eine Botschaft". 34 Eine Botschaft wofiir? Ich möchte antworten: Eine Botschaft, daß Gottes Landverheißungen in Erfiillung gehen werden (nicht daß sie schon erfüllt sind!). Der Staat Israel kann dafür ein Zeichen sein. Meine persönliche Meinung ist die: Ohne den Willen Gottes, des Gottes Israels, gäbe es den Staat Israel nicht. Und wenn es Gottes Wille ist, daß die Juden in das Land der Väter zurückkehren können - und der Staat Israel hat mit dem Land der Väter zu tun -, dann wird auch kein Teufel die Juden aus ihrem angestammten Land mehr vertreiben können. So scheint mir, daß auch der Staat Israel irgendwie - ich drücke mich höchst vorsichtig aus - mit dem Mysterium Israel zu tun hat, trotz aller innerjüdischen Probleme, die es im Staat Israel gibtls.
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A.J. HEscHEL, Israel, 82. Ebd., 142. 34 Ebd., 144. JS Vgl. dazu die herwrragende Analyse von J. BREMER, Die Diesseitigen Wld die Jenseitigen. Israels Mythen im Widerstreit Masada und der ~Tage-Krieg, FAZ, Nr. 153, Samstag 5. Juli 1997. 33
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ID. Das Mysterium Israel und Auschwitz Ich frage: Hat denn auch das schreckliche Geschehen der Schoah, für das der Name "Auschwitz" steht, mit dem "Mysterium Israel" zu tun? Eine schwierige Frage. Und wenn man nach einer Antwort sucht, dann kann es nur Gestammel sein, ähnlich allen Antwortversuchen auf die Frage: "Wo war Gott in Auschwitz?" Das Wort JHWHs, gesprochen zu den Verbannten in Babyion durch Deuterojesaia: "Siehe, ich läutere dich wie Silber, ich prüfe dich im Glutofen des Elends" (Jes 48, l 0), hilft hier nicht weiter. Man ist geneigt, Leonard H. Ehrlich zuzustimmen, wenn er in seinem schon erwähnten Buch schreibt: ,,Kein der Überlieferung entnommener Sinn kann in der Zerstörung und Vernichtung [ "Schoah" = Vernichtung!] zu finden sein. Der Tod der Juden hat nichts bezeugt". 36 Aber vielleicht hat Auschwitz doch etwas "bezeugt", nämlich den sub contrario handelnden Gott Israels, der mit seinem Volk in die Gaskammern der Konzentrationslager hinabstieg. Ich schrieb: "Gott wurde in Auschwitz selbst das sub contrario. Das sub contrario wurde in Auschwitz die Gestalt Gottes, ein geheimnisvolles ,Sichselbstzunichtewerden' (H. Blaumeiser) Gottes, und das bedeutet: Absolutes Schweigen und absolute Verborgenheit Gottes. JHWHs Liebe zu seinem (erwählten) Volk Israel ist so groß, daß er mit Israel in die Hölle von Auschwitz hinunterstieg und das Schweigen der Toten teilt, bis er es bei ihrer Auferweckung brechen wird. 37 "Ich werde mit euch in dieser (ägyptischen) Knechtschaft sein, und ich werde mit euch in den Knechtschaften der Weltreiche sein" (bBer 9b). Gottes Erwählung Israels zu seinem Volk und sein ewiger Bund mit ihm haben auch für JHWH selbst, den "Gott Israels", Konsequenzen! Weil er Israel erwählt hat, steht er durch alle Zeiten und Ewigkeiten hindurch in Treue zu seinem Volk und nimmt an seinen Freuden und Leiden teil. ,,Denn unreuig (sind) die Gnadengaben und der Ruf Gottes" (Röm 11 ,29). Auch Auschwitz gehört hinein ins Mysterium Israel. Die Erwählung brachte Israel kein Glück. Das gehört zur geschichtlichen Erfahrung des Juden bis zum heutigen Tag. Die Erwählung brachte ihm immer wieder Leid, besonders auch im 20. Jahrhundert, in den todbringenden Ausbrüchen des Antisemitismus, der m.E. seine letzten Wurzeln in der mit der Erwählung gegebenen Sonderexistenz des jüdischen Volkes 36
L.H. EHRLicH, Fraglichkeit., 236.
Vgl. F. MussNER., JHWH. der sub contrariohandelnde Gott Israels. in: Th. SOoiNG (Hg.). Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments (FS f W. ThOsing). MOnster 1996. 25-33: 32( 37
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inmitten der Gojim hat, denen diese Sonderexistenz der Juden ein Ärgernis ist. Und weil es in der Welt das Mysterium Israel gibt, das es zu erkennen und zu bedenken gilt, darf es für Kirche und Theologie keinen Platz mehr für Antisemitismus geben. Der Jude, jeder Jude, ist ,,Geheimnisträger"! Deshalb ist die Mahnung des Apostels bleibend gültig: ,,Denke nicht hochmütig (über die "verstockten" Juden], vielmehr fürchte dich!" (Röm II ,20b). Stehe in Ehrfurcht vor Israel, weil es das Mysterium Israel gibt, hineingestiftet in die Menschheitsgeschichte von Gott selber, dessen Wege lt. Röm II ,33 "unergründlich" sind. "Wer hat die Logik des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?'' Niemand! ,,Zuerst kam Gottes Vision von Israel, und dann erst kamen wir in die Welt [... ] Israel existiert nicht, um zu sein, sondern um die Vision Gottes lebendig zu erhalten. Unser Glaube mag hart geprüft werden, aber unser Schicksal ist in der Ewigkeit verankert. Wer vermag zu prophezeien, wie unsere Geschichte ausgehen wird? Aus dem Wunder sind wir gekommen, ins Wunder werden wir zurückkehren". 31
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A.J. HEscHm., Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-
\nuyn21989,323,326.
Gottes Wort und der Menschen Worte Systematisch-theologische Überlegungen zum Schriftverständnis DOROTHEA SATTLER
I. Die Fragestellung und ihre christlich-ökumenische Geschichte a Die Relevanz der Frage nach der Heiligen Schrift in der ökumenischen Bewegung "The Bible is a collection of many varied books which in their two collections are held together by one subject. We meet in them one and the same God in his dealings with his whole creation, with the nations and with individual people. It is he who creates the unity in the diverse testimonies of Old and New Testaments. " 1 Diese von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen Ende der 70er Jahre formulierte Aussage faßt zusammen, was gegenwärtig als eine gemeinsame Grundüberzeugung der christlichen Konfessionen in ihrem Verständnis der biblischen Schriften gilt: In den unterschiedlichen, von Menschen verfaßten, geschichtlich-situierten und daher (auch) mit den Methoden der historischen Kritik auszulegenden alt- und neutestamentlichen Zeugnissen spricht der eine Gott sein wirksames Wort. Ausdrücklich stimmten die bei der dritten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1961 in Neu-Delhi versammelten Delegierten einer Erweiterung der Basisformel ihrer Arbeit zu: "der Heiligen Schrift gemäß" ("according to the Scriptures") will der 1 Faith
and Order, The Significance oftbe Old Testament in its Relation to the New, Bangalore 1978, in: E. FLESSEMAN-vAN LEER Oig. ), The Bible. lts Authority and Interpretation in the Ecwnenical Movemenl FO Paper 99, Genf 1980, 5~76: 66.
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gemeinsame Glaube der christlichen Kirchen sein. Die ökumenische Bewegung hat im 20. Jahrhundert große Anstrengungen unternommen, zu einem gemeinsamen Schriftverständnis zu finden, um auf dieser Basis Annäherungen auch in einzelnen theologischen Fragestellungen erreichen zu können. 2 Die Erneuerung der römisch-katholischen Schrifthermeneutik ereignete sich zunächst zwar ohne enge Verbindung mit der weitgehend von den reformatorischen Kirchen und später zunehmend auch von den orthodoxen Kirchen getragenen ökumenischen Gremienarbeit Dennoch lassen sich Einflußnahmen etwa auf die Gestalt entsprechender Aussagen des 2. Vatikanischen Konzils nachweisen. 3 Immer wieder waren ökumenische Gesprächs runden, an denen in der nachkonziliaren Zeit auch römisch-katholische Theologen beteiligt waren, auf internationalerA bzw. nationaler Ebene damit 2
Vgl. M. 1-IAUDEL, Die Bibel und die Einheit der Kirchen. Eine Untersuchung der Studien von "Glauben und Kirchenverfassung", Göttingen 21995 (Lit}. DP.Rs., Schrift, Tradition und Kirche. Ein unnötiger Stolperstein der Ökumene, Cath (M) 50 ( 1996) 23-33~ T. BERGERIE. GELDBACH (Hg.), Bis an die Enden der Erde. Okwnenische Erfabnmgen mit der Bibel, ZOrich/Neukirchen-Vluyn 1992~ S. MEURER, Die Bibel als ökumenisches Bindeglied, ÖR 27 (1978) 164-172~ H.R WEBER, The Bib1e in Today's Ect.anenical Movemeot, ER 23 (1971) 335-346. 3 Vgl. A. ßucKENMAIER, ,,schritt und Tradition" seit dem Vatikanmn ß. Vorgeschichte und Rezeption. Paderbom 1996 (Lit}. H.-J. KüHNE, Schriftautoritat und Kirche. Eine kontroverstheologische Studie zur BegrUndung der SchriftautoriW in der neuen:n katholischen Theologie, Göttingen 1980. 4 Vgl. auf internationaler Ebene vor allem: GEMEINSAME EVANGEL.ISCH-LlJlliERlSCHE RCMI.scH-KArnoLISCHE KOMMISSION, Das Evqelimn und die Kirche. Malta-Bericht (1972), Nr. 14-25, in: H. MEYER u.a. (Hg.), Dolrumente wachsender Übereinstinunung (= DWÜ), Bd. 1, Frankfw11Paderbo 1983, 252-255; REfoR.MmRTER WamUNIYSFJ
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befaßt, das Verständnis von Offenbarung, Schrift, Tradition und Lehramt in ökumenischer Perspektive zu reflektieren. Sie wurden durch die theologischen Studien interkonfessionell besetzter ökumenischer Kreise unterstützt. 6 Oft standen Bestrebungen, größtmögliches Einvernehmen über das Schriftverständnis zu erreichen, am Beginn der Arbeit bilateraler Dialogrunden. 7 In den letzten Jahren haben diese Bemühungen an Bedeutung eher noch gewonnen: Angesichts der in vielen Einzelfragen - insbesondere der Ekklesiologie und der Ämtertheologie - festgefahren wirkenden ökumenischen Gesprächssituation scheint nur eine neuerliche Grundlagendiskussion die Aussicht zu bieten, Schritte voranzukommen. b. Thematische Schwerpunkte im christlich-ökumenischen Gespräch Im Zentrum des ökumenischen Interesses an einer gemeinsamen Schrifthermeneutik standen mit einer gewissen Beständigkeit zwei Fragestellungen, die nicht ohne Verbindung zueinander sind: (I.) das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie (2.) die Möglichkeit einer (Ietzt-)verbindlichen kirchlichen Schriftauslegung. Bei der genaueren Betrachtung des erstgenannten Fragebereiches wurde offensichtlich, daß nur eine umfassende Klärung des Schriftverständnisses eine Verständigung erwarten ließ: die Entstehung der schriftlichen Glaubenszeugnisse in einer Gemeinschaft von Menschen und damit die der Schriftwerdung vorausgehende Überlieferung kam in den Blick (die "Tradition" vor der Schrift); die bereits in biblischer Zeit beginnende Bezugnahme der Schriften aufeinander wurde wahrVgl. die Ergebnisse der in den Gremien geleisteten theologischen Forsclnmg: K.E. SKYDSGAARI:VL. VISCHER (Hg.), Schrift tmd Tradition. Untersuclnmg einer theologischen Kommission, Zürich 1963~ G. KRF.Ms/R. MUMM (Hg.), AutoriW in der Krise, Regensburg/Göttingen 1970~ DmrrscuER ÖKUMENISCHER SruoiENAUSSCHUSS (Hg.), Verbindliches Lehren der Kirche heute. Albeitsbericht aus dem Deutschen Okumenischen Studienausschuß tmd Texte der Faith and Order-Konsultation, Odessa 1977, Frankfurt 1978~ KIRCHLICHES AussENAMr DER EVANGELJ.SCHEN KIRCHE IN DElirscHI.ANo (Hg.), Die Heilige Schrift, die Tradition tmd das Bekenntnis. Erster Bilateraler Theologischer Dialog zwischen der Rumaniseben Orthodoxen Kirche tmd der Evangelischen Kirche in Deutschland, Frankfurt 1982~ K. I<.ERn:LGE (Hg.), Die Autoritat der Schrift im ölrumenischen Gesprlch, Frankfurt 1985; W. PANNENBF.Raffh. ScHNEiDER (Hg.), Verbindliches Zeugnis. 3 Bde, Freiburg!Gottingen 1992-1998. 1 So begründet etwa die Dialogkommission der Evangelikalen und der rlJmisch-katholischen Kirche die Wahl des Themas Schriftverstlndnis als Ausgangspunkt der Gespracbe damit, daß sie, "werm sie nicht in dieser Frage zu größerem Vc:rstandnis oder Übereinstimmq gelangen, es in keiner anderen Frage tun körmen.. (Der Dialog Ober Mission [19771984), Nr. 19, in DWO 2, 396t). 6
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genommen (die "Tradition" in der Schrift)~ die Bildung des Kanons wurde als Ereignis der kritischen Aussonderung bedacht (Schrift als spezifische "Tradition" neben anderen Traditionen). Der zweite Themenkreis wurde im Sinne der Frage nach Weisen des kirchlichen Schriftgebrauchs - vorab in der Liturgie und in den vielfältigen Gestalten der kirchlichen Lehre - geweitet. Ein dritter Themenkreis, die Frage, wie das Verhältnis der beiden Testamente angemessen zu bestimmen sei, war in der Frühphase der christlich-ökumenischen Bewegung zwar zunächst durchaus im Blick. 8 In den 50er und 60er Jahren standen die Äußerungen jedoch stärker unter dem von exegetischen Arbeiten bewirkten Eindruck der Vielgestaltigkeit und Unterschiedlichkeit der einzelnen biblischen Texte, so daß eine Suche nach übergreifenden Themenstellungen nicht aussichtsreich erschien. Erst das seit den 60er Jahren von einzelnen Kirchen in intensivierter Weise geführte jüdisch-christliche Gespräch machte erneut bewußt, daß in diesem Bereich eine Neubesirmung anstand. 9 c. Kontexte der Fragestellung Überlegungen zur Schrifthermeneutik werden zur Zeit nicht nur in ökumenischen Gremien angestellt. Vertreter und Vertreterinnen der exegetischen Disziplinen stehen gegenwärtig in einem umfassenden Prozeß der Selbstbesinnung auf den Gegenstand ihrer Tätigkeit. 10 In der Liturgiewissenschaft werden Fragen der Schriftlesung und der Perikopenordnungen neu diskutiert. 11 Viele Arbeiten zur theologischen 8
EindrOcldich fonnuliert eine Studie des ÖRK von 1949 die ,,Einheit" der ganzen Schrift: "lt is agrced that the tmity ofthe Old and the New Testaments is nottobe found in any nablralistic development, or in any static identity, but in the ongoing redemptive activity of God in the history of one people, reaching its fulfillment in Christ" (Guiding Principles for the Interpretation ofthe Bible, in: E. FJ...ESSEMAN-VANI..EER [Hg.), Bible, 14). 9 Vgl. zur Einflußnalune des jüdisch
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Frauenforschung setzen sich mit der Frage auseinander, welche Verbindlichkeit einzelnen biblischen Aussagen zukommen kann. 12 Angesichts der Fülle an Einzelaspekten, die aus systematischtheologischer Perspektive beim Stichwort "Schrifthermeneutik" zu entfalten wären, kann ich hier kaum mehr leisten, als einige wichtige Erkenntnisse darzustellen, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in ökumenischen Gesprächen und in der römisch-katholischen Rezeption der Aussagen des 2. Vatikanischen Konzils festigten. Dabei wird der theo-logische Ursprung und Gehalt der biblischen Schriften zur Sprache kommen - Gott ist ihr Subjekt und ihr Objekt (Abschnitt 2.), die soteriologische Intention des schriftgewordenen Evangeliums soll bedacht werden (Abschnitt 3. ), und die pneumatologische Gestalt des Überlieferungsgeschehens soll aufscheinen (Abschnitt 4. ).
2. Gottes Wort spricht sich aus. Theo-logische Gründung des Offenbarungsgeschehens a Das Offenbarungsverständnis in "Dei Verbum"
Beständiger Bezugspunkt bei heutigen Überlegungen zu Fragen des Schriftverständnisses in der römisch-katholischen Theologie sind die Aussagen des 2. Vatikanischen Konzils in der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung (Dei Verbum). 13 Das darin entfaltete Offenbarungsverständnis wird gemeinhin mit den Attributen theozentrisch, sakramental, personal, dialogisch und aktual charakteri12
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siert. 14 Der lebendige Gott selbst erschließt sein eigenes Wesen in Zeit und Geschichte:S In Zeichen- in Taten und Worten- gibt Gott sich zu erkennen. 16 Gottesoffenbarung geschieht in göttlicher Anrede und geschöpflieber Antwort. 17 Je neu gilt es, auf Gottes Wort zu hören und sich von ihm verwandeln zu lassen. Korrigiert erscheint in dieser Konzeption das beim 1. Vatikanischen Konzil vorherrschende Verständnis der Offenbarung im Sinne einer von der menschlichen Vernunft zu ergreifenden Instruktion über Sachverhalte - eine Vorstellung, die auch in den Textentwürfen zur Offenbarungskonstitution des 2. Vatikanischen Konzils noch den Ton angab und bei den Konzilsberatungen auf Kritik stieß. 18 Beim Geschehen der Offenbarung geht es nämlich ,,nicht um ein Reden über etwas [... ], das der Person ganz äußerlich bleibt, sondern um den Existenzvollzug des Menschen, um das Zueinander des menschlichen Ich mit dem göttlichen Du, so daß das Ziel dieses Gespräches letztlich nicht Information, sondern Einheit und Verwandlung ist" 19. b. Rezeptionsgeschehen in der christlichen Ökumene Römisch-katholische Theologen haben das durch das Konzil neu gewonnene Verständnis von Gottes Offenbarung in die nachkonziliaren ökumenischen Gespräche über das Schriftverständnis eingebracht. 1971 wurde in Löwen die Faith-and-Order-Studie "The Authority of the Bible"20 verabschiedet, auf deren Gestalt auch römisch-katholische
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Diese Qualifikation des konziliaren Offenbanmgsverstandnisses kann sich auf entsprechende AusftUJrungen von JOSEPH RA1L.INGER in seinem Kommentar ZlUil L Kapitel von Dei Verbum stützen: vgl. LThK.l Erg. Bd. ll, bes. 506-515. 1s "Gott hat in seiner Gote und Weisheit beschlossen. sich selbst zu offenbaren und das Geheinmis seines Willens kundzutun'' (DV 2). 16 ,,Das Offenbarungsgeschehe ereignet sich in Tat tmd Wort. die innerlich miteinander verknüpft sind: die Werlee namlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekraftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkei~ die Worte verkündigen die Werlee und lassen das Gebeinmis, das sie enthalten. ans Licht treten" (DV 2). 17 Gott spricht die Menschen wie Fre\Dlde an und ladt sie ein, Gemeinschaft mit ihm zu leben (vgl. DV 2). 18 Die Textgeschichte von Dei Verbum ist nacbzulesen u.a. bei: E. STAKEMEIER, Die Konrilskonstitution "Über die göttliche Offenbarung"', Paderbom 2 1967; P. SMULDERS, Zum Werdegang des Konzilskapitels ,,Die Offenbarung selbst'', in: E. l· Glaube, 99-120. 9 J. RATZINGER, Konunentar, 510. Hervorbebung im Original. 2 Faith and Order, The Authority of the Bible, Löwen 1971, in: E. FLESSEMAN-VAN LEER, Bible, 42-57.
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Delegierte- u.a Joseph Ratzinger- Einfluß nahmen. 21 In Löwen wurde eine Verständigung auf die Gründung der Schriftautorität in Gottes , Willen', sich allen Menschen in allen Zeiten zu offenbaren, erreicht: "When we speak of the 'authority' of the Bible in the strict sense, we mean that it makes the Word of God audible and is therefore able to Iead man to faith. We are not thinking of its authority as a literary document nor its literary value, nor even of its authority as the oldest documentation of the apostolic message, but of the fact that men are arrested by the message of the Bible, the fact that they hear God speaking to them from the Bible. Ultimately, of course, this authority is the authority of God hirnself and not that of the Bible as a book. Authority in this sense can only be claimed for the Bible because by its witness it makes possible the knowledge of God and of his authority. Therefore it only has derived authority. " 22 Als "Schriftstück" hat die Bibellediglich eine "abgeleitete Autorität". Die primäre Autorität - Gott selbst in seiner Offenbarungswilligkeit bringt sich als wirkendes Wort, das gläubiges Vertrauen begründet, zur Geltung. Jede Zeit bedarf der Interpretation der Schrift (im wissenschaftlichen Diskurs, in geistlicher übung, im Dienst der Verkündigung), um Gottes sich selbst offenbarendes Handeln je neu zu vergegenwärtigen. Schriftauslegung ist insofern ein unabdingbares Instrument, um die göttliche Autorität der in den biblischen Büchern bezeugten Wahrheit zur Geltung zu bringen. c. Zur Frage nach der "Mitte" der (einen) Schrift Das in Löwen 1971 verabschiedete Dokument enthält auch eine Stellungnahme zur Frage nach der ,,Mitte der Schrift". 23 In konsequenter Fortführung der offenbarungstheologischen Ausrichtung des gesamten Textes wird zwischen der Rede von einer "Sachmitte" ("material centre") und von einer "Beziehungsmitte" ("relational centre") unterschieden. Diese von deutschen und holländischen Theologen eingebrachte Differenzierung wendet sich gegen die Annahme einer im statischen Sinn zu erfassenden thematisch-inhaltlichen Sachmitte der biblischen Schriften. Sie tritt dafür ein, die bereits innerbiblisch bezeugte Bezugnahme der Texte aufeinander wahrzunehmen. In der 21
Vgl. ZlU' Entstdnmgsgeschichte des Textes: M. HAUDEL, Bibel, 299-315. Authority, 47. 23 Vgl. ebd., 51. Vgl. ZlU' Diskussion wn die Möglichkeit, eine ,,Mitte der Schrift" zu bestimmen: E. ZENGER, Testament, bes. 185-189 (Lit.). 22 Faith and On/er,
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Mitte der Schrift steht die von Gott verheißene, in ihm allein begründete Hoffnung auf Leben - ewiges Leben, Leben in Fülle. Bereits in Löwen wurden Stimmen laut, die das dort intensiv diskutierte Thema der theo-logischen ,,Mitte der Schrift" in Folgestudien konkret auf die Problematik des Verhältnisses zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hin genauer bedacht sehen wollten. Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung beauftragte daher eine Theologengruppe, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Das Ergebnis der Beratungen wurde in dem Dokument ,,The Significance of the Old Testament in its Relation to the New"24 zusammengefaßt und 1978 in Bangalore approbiert. In diesem Text kommt deutlich zur Sprache, daß wesentliche Inhalte des christlichen Gottesglaubens entweder ausschließlich oder zumindest klarer in alttestamentlichen Texten bezeugt sind: Gottes schöpferisches Wirken, seine Forderung von Recht und Gerechtigkeit, sein Eintreten für die Armen, Einsamen und Unterdrückten, sein eifersüchtiger Widerstand gegen die Verehrung anderer Götter, sein Kampf gegen einen bloß äußerlichen Kult und seine weisheitliehe Weisung für ein Gelingen des alltäglichen Lebens. 25 Die römisch-katholische Theologie kann sich bei ihrem Bemühen, die eigene Bedeutung des Alten Testaments zu betonen, auf das 2. Vatikanische Konzil beziehen. 26 In Anknüpfung an die dort ausgesprochene Wertschätzung der alttestamentlichen Gotteszeugnisse und in kritischer Auseinandersetzung mit dem vom Konzil bevorzugten heilsgeschichtlichen Denken - im Sinne der Vorbereitung des Christusereignisses beziehen einzelne Theologen unterschiedlich Position. 27 Einvernehmen ist (noch) nicht erreicht. 24
Faith and Order, Significance. "It is mainly fiml the Old Testament that we come to know God as the Creator of all that is, as the Lord of bistory, as the Judge who upholds the rights of the poor and do\mtrodden. There too bis holiness, majesty and hiddenness are emphasized, bis concem with world politics. bis exclusive claim upon bis creatures and what the Old T~t claims bis jealousy. Other specifically Old Testamentnotions are the creation of man and woman in the image of God, their place in the cosmos as God's caretakers, and thc much greater attention given to nature, the waming against the constant temptation to idolatry, the fight against the deification of any part of creation and the danger of a dead, formal religi~ moreover the interest in social structures, the insistance of righteousness, the figbt against poverty and o~on, the concem with sorrow and the complaint wi.sdom for everyday live" (ebd., 72). 25
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Vgl. DV 14-16. Vgl. K. LEHMANN, Das Alte Testament in seiner Bedeutung ftlr Leben und Lehre der Kirche heute, lThZ 98 (1989) 161-170~ J. BROSSEDER, Zur Bedeutung des Alten Testaments tur eine christliche Theologie, in: A fRANZ (Hg.). Streit, 459-478~ E. ZEN
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3. Gottes Wort richtet auf, tröstet und mahnt. Soleriologischer Sinn von Thora und Evangelium a Das grundlegende Schriftverständnis: wirksames Wort Nach evangelischer wie römisch-katholischer Auffassung ist das in den alt- und neutestamentlichen Texten schriftgewordene Wort Gottes als ein wirksames Wort zu begreifen, das die Hörenden verwandeln will: Das Wort, das Gottes Mund verläßt, kehrt nicht leer zu ihm zurück, sondern es bewirkt, was er will, und erreicht all das, wozu er es ausgesandt hat (vgl. Jes 55,10f). In der liturgischen Tradition begegnet die Annahme einer soteriologischen Bedeutung der Wortverkündigung etwa in der Rede von der sündenvergebenden Kraft des vorgelesenen Evangeliums. Die Reflexion auf den Handlungssinn sprachlicher Äußerungen gilt gegenwärtig als eine wichtige Aufgabe im Kontext der Klärung des Schriftverständnisses. b. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse
In nicht wenigen Bereichen der systematischen Theologie geschieht seit den 70er Jahren verstärkt eine Rezeption von sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen. 28 Dabei wird insbesondere einer Theorie zur Erfassung der Wirkweise sprachlicher Äußerungen große Aufinerksamkeit geschenkt: der auf John L. Austin29 zurückgehenden "Sprechakttheorie". 30 sion über die wnslrittene Position von Erich Zenger vgl.: R Moo1s, Canonical Approach Wld Vielfalt des Kanons. Zu einerneuen Einleitung in das Alte Testament, lThZ 106 (1997) 39-59~ DER.s .• Eine neue •.Einleitung in das Alte Testament" und das christlich-jOdische Gesprach. 1ThZ 106 ( 1997) 232-240~ E. äNoER, Eine neue •.Einleitung in das Alte Testament'\ vor der man warnen muß?, lThZ 106 (1997) 309-315~ R MosiS, Nachbemerkungen zu dem Beitrag von Erich Zenger, lThZ 106 (1997) 316-319. RudolfMosis verweist auf weitere Beitrage zur Diskussion: vgl. ebd.• 316, Anm. l. 28 Vgl. dazu ausfilhrlich: D. SATil.ER, Wandeln Worte Wirklichkeit? Nachdenkliches über die Rezeption der Sprechakttheorie in der (Sakramenten-)Theologie. Cath (M) 51 ( 1997) 125-138. 29 Vgl. J.L. AUSTIN, How to do Things with Words (Oxford/New York 2 1975~ 11962). Eine deutsche Bearbeitung. der die englischen Ausgaben von 1962 und 1975 zugrunde liegen, besorgte Eike von Savigny: vgl. J.L. AUSTIN, Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words). Stuttgart 1979. 30 G. HINDEL.ANG, Einfilhrung in die Sprechakttheorie, Tübingen 1983~ ST.C. l..EVINSON, Pragmatik. Tobingen 1990, 227-282~ A. LINKE u.a., Studienbuch Linguistik, TObingen 1984, 182-195~ G. GREWENOORF, Art. ,,Sprechakttheorie", in: H-P. ALmAus u.a. (Hg.). Lexikon der germanistischen Linguistik. Tobingen 21980, 287-293; H. BUSSMANN, Lexikon der Spach-
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In seinem methodischen Ansatz und in seiner Zielsetzung ist John L. Austin ein früher Vertreter der linguistischen Pragmatik. Die Pragmatik fragt nach dem Gebrauch der Sprache innerhalb eines situativ bestimmten Handlungskontextes. Austins Schüler John Sear/e hat die Überlegungen des Lehrers in eigenen Beiträgen präzisiert und korrigiert. 31 Im deutschen Sprachraum wurde das Gedankengut der Sprechakttheorie insbesondere durch die Arbeiten von Dieter Wunder/ich 32 kritisch rezipiert und weitergeführt. Nicht zuletzt durch die Bezugnahme von Jürgen Habermas 33 auf die Sprachhandlungstheorie bei seiner Entfaltung der Theorie des kommunikativen Handeins fanden die Überlegungen von Austin und Searle Beachtung auch in den Sozialwissenschaften. Diese stehen heute in einem Dialog mit der Psychologie, in der die Wirksamkeit des gesprochenen Wortes mit empirischen Methoden erfaßt und in zahlreichen Theorieansätzen reflektiert wird. 34 Die Sprechakttheoretiker haben ihren Erkenntnissen eine fest geprägte terminologische Gestalt gegeben. Ausgangspunkt der Überlegungen von Austin ist sein Widerspruch zu der These, Aussagesätze konstatierten immer bereits Bestehendes. Austin wird aufmerksam auf sprachliche Äußerungen, durch die nicht etwas festgestellt, sondern etwas hergestellt wird. 35 Er bezeichnet jene Sätze, durch deren Äußerung eine Handlung vollzogen wird, als "performative" Äußerungen, die sich von den beschreibenden, feststellenden, "konstatierenden" wissenschaft, Stuttgart 21990, 726-729 (Lit.)~ G. BECK. Sprechakte und Sprachfunktionen. Untersuchungen zur Handlungsstruktur der Sprache und ihren Grenzen. TObingen 1980. 31 Vgl. J.R. SEARLE, Speech Act.s, Cambridge 1969 = Sprechalcte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt 1971~ DERs., Austin m 1ocutionary and illocutionary acts, PhRev 87 (1969) 405424~ DERs .• Was ist ein Sprechakt?, in: M. ScHIRN (Hg.), Sprechhandlung- Existenz Wahrheit. Hauptthemen der sprachanalytiscben Philosophie, Stuttgart 1974, 33-53~ DERs., Eine Klassifikatim vm illokutionsakten, in: P. KUSSMAUL (Hg.), Sprechalcttheori. Ein Reader, Wiesbaden 1980,82-108. 32 Vgl. D. WUNDERLICH, Sprechakte, in: U. MAAs/D. WUNDERLICH, Pragmatik und spliChliches Handeln. Mit einer Kritik des Funkkollegs Sprache, Frankfurt 1972, 69-188~ DERs., Zur KonventionaliW von Sprechhandlungen, in: DERs. (Hg.). Linguistische Pragmatik (Frankfurt 1972) 11-58~ DERs., Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt 1976~ DERs., Ober die Konsequenzen von Sprechhandlungen. in: K.-0. APE1. (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976, 441-462. 33 Vgl. bes. J. HABERMAS, Theorie des komml.Dlikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationali tat Wld gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt 1981,427439. 34 Vgl. exemplarisch: F. ScHutz voN THUN, Miteinander reden, 2 Bde: Allgemeine und differentielle Psychologie der Kommunikation, Reinbek 1981/1989. 35 Durch die Äußerung z.B. des Satzes: ,Jch vennache dir meine Uht' geschieht etwas, es ereignet sich Neues: Die Besitzverhaltnisse ändern sich.
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Äußerungen dadurch unterscheiden, daß sie nicht wahr oder falsch sind, sondern vielmehr gelingen oder mißglücken. Die Annahme, alle Äußerungen ließen sich als konstative oder performative erfassen, hat für Austin zu Beginn seiner Vorlesungsreihe Hypothesencharakter. Die von ihm in den ersten sieben von insgesamt zwölf Vorlesungen durchgeführte Überprüfung seiner Hypothese überzeugt ihn schließlich von der Unhaltbarkeit der von ihm zunächst angenommenen Alternative, da zum einen auch konstatierende Äußerungen Wirkungen erzielen, und zum anderen auch performative Äußerungen sich auf außersprachliche Sachverhalte beziehen. Der "propositionale Gehalt" der Aussage wird in der Bezugnahme auf "Welt" (Referenz) und in der Aussage über "Welt" (Prädikation) erkennbar. Die Theorie der Sprechakte, die Austin in seinen letzten fünf Vorlesungen entfaltet, versucht, der Erkenntnis Rechnung zu tragen, daß jede Äußerung performativen Charakter hat, d.h. eine Äußerung immer auch eine spezifische Form der Handlung ist. Gerlauerhin unterscheidet Austin drei Arten einer Handlung, die bei jedem Sprechakt miteinander verbunden sind: ( 1) "the act of saying" - den Iokutionären Akt (die Tat des Sprechenden, durch Lautbildung Worte zu artikulieren, die auf eine außersprachliche Wirklichkeit verweisen)~ (2) "the act in saying" - den illokutionären Akt (die vom Sprechenden gemeinte Art seines Handelns, der Handlungssinn der Äußerung) und (3) "the act by saying" den perlokutionären Akt (die vom Sprechenden intendierte oder auch nicht-intendierte Wirkung seiner Äußerung auf den Hörenden). Sear/e hat eine Verfeinerung der im Ansatz auch schon bei Austin zu findenden Klassifikation der illokutionären Akte, d.h. einer an Kriterien orientierten Einteilung der Dlokutionen in Gruppen vorgenommen. 36 36
Searle \Dlterscheidet filnf Klassen illolrutionarer Akte, in die sich nach seiner Meinung die meisten der IDolrutiooen einordnen lassen: ReprAsentativa, Dirdctiva, Kommissiva, Expressiva wxl Deklarativa. Das entscheidende Kriteriwn bei der Zuordnung einer Sprachhandhmg zu einer dieser Gruppen ist die Frage nach der Entsprechungsrichtung zwischen den Worten tmd der Welt Reprasentativa (wie etwa eine Behauptung) wollen mit den Worten der Welt entsprechen. Einfach gesagt Die Welt ist bereits gegeben, die Worte wollen sie in Erscheinung bringen, öffentlich machen. Dagegen intendieren Dirdctiva und Konunissiva eine (zukünftige) Angleichung der Welt an die bereits gesprochenen Worte; Direktiva appellieren (in Gestalt einer Bitte oder eines Befehls) an den Hörer, diese Entsprechung herzuste~ Konunissiva (ein Versprechen oder eine Drohung) sind als eine Selbstverpflichtung des Sprechers zu verstehen. diese Angleichung vom.mehmen. Bei Expressiva wird, so Searle, vorausgesetzt, daß eine EntsprechWJg von Worten wxl Welt vorliegt, daß z.B. der Dank begrQndet ist und filr einen Gloekwunsch ein Anlaß besteht Die Eigenart der Deldarativa schließlich ist es, in ihrem aktuellen Vollzug die Entsprecllung von Worten und Welt bzw. von
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Daneben hat Searle auch eine präzisere Bestimmung der Voraussetzungen vorgenommen, die erfüllt sein müssen, soll eine Sprachhandlung gelingen. 37 c. Relevanz im Blick auf das theologische Schriftverständnis Eine Kenntnisnahme der Faktoren, die bei der Bestimmung der Handlungsdimension des menschlichen Sprechens zu beachten sind, hat bei einer ökumenisch sensibilisierten Erörterung des Schriftverständnisses m.E. große Bedeutung: (Auch) die Worte der biblischen Schriften beziehen sich auf eine nicht-sprachliche Wirklichkeit (Referenz), über die sie eine Aussage machen (Prädikation). Auf die Gestaltung der Aussage wirken die immer zeitbedingten Wahmehmungsweisen der Sprechenden ein. Von dieser Ebene der Textaussage ist die Frage der Aussageintention der Schriftworte zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden: Biblische Texte informieren nicht einfach über objektiv Gegebenes, sie ermöglichen vielmehr einen zeitenübergreifenden Dialog zwischen den geschichtlich situierten Gotteserfahrungen der Schreibenden und den in ihrer jeweiligen Gegenwart von der ursprünglichen und (daher) normativen Gotteserfahrung je neu Hörenden. Da die besprochene Welt - die Welt Gottes, Gott selbst - nicht unabhängig von den Wahrnehmenden "vorzeigbar" ist, stellen sowohl die Schreibenden wie die Hörenden eine Verbindung zwischen der Welt und den Worten her. Ein Wort kann als eine Verheißung, ein Versprechen, eine Zusage erfahren werden, ein anderes als eine Mahnung, ein Aufruf, eine Drohung, ein drittes als Trost und Ermutigung. Welt und Worten herzusteUen: Mit ,,ich kUndige" kondige ich; wird vor Gericht ein Urteil g~ dann ist der Beschuldigte freigesprochen oder ftlr schuldig befunden. 3 Diese sogenannten "Gelingensbedingun" sind teils regulativer, teils konstitutiver Natur. Die Einhaltung der ,,Sprechaktregeln'' stelJt sicher, daß der Sprechakt sich ereignen kann. Da diese sich schwerlich allgemein ftlr alle illokutionaren Akte in gleicher Weise bestinunen lassen. arbeitet Searle zun8chst exemplarisch und beschreibt die "Gelingensbedingtmgen" des Sprechaktes eines "VetSJRChens": Vgl. J.R SEARLE, Sprechakte, 88-113. Die Systematisienmg der einzelnen Bedingungen. die erfllllt sein müssen, soll der Akt des Versprechens mittels der Äußenmg des gegebenen Salzes erlolgreich und vollständig vollzogen sein, ftUut Searle zur Angabe von vier Gnmdregeln, die das Gelingen einer Sprachhandlung gewährleisten: (1) die Regel der Proposition (eine außersprachliche Wirklichkeit muß gegeben sein: etwa bei einem Glückwunsch ein dazu passendes Ereignis~ (2) die Regel der Einleitung (ein situativer Anlaß muß vorliegen: bei einem GIOckw\msch muß der Sprecher meinen, der Hörer sei Ober das Ereignis erfreut}, (3) die Regel der Aufiichtigkeit (thematisiert die Sprecher-Hörer-Beziehq: der Sprecher ist selbst er1ieut Ober das Ereignis, ru dem er begloctwonscht~ (4) die Regel des Wesensgehalts (das illolrutionäre Ziel wird angestrebt der Sprecher will mit seinem GlUckwlmsch seine Freude zwn Ausdruck bringen).
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Das beständige Hören auf die Schrift, das Gespräch über das Gehörte in der Glaubensgemeinschaft und die vollmächtig-amtliche Auslegung der Schrift lassen sich zu den "Gelingensbedingungen" der Wortverkündigung zählen; nach sprachwissenschaftlicher Vorstellung handelt es sich dabei um Rahmenbedingungen, die gewährleisten, daß Hörende eine Äußerung im intendierten Sinne verstehen. Auch in diesem Zusammenhang leuchtet ein, daß die in der Heiligen Schrift ausgesagte Wahrheit Gottes einzig in einem kommunialen Geschehen erkannt werden kann, dessen "Gelingen" von Gott selbst gewährleistet wird: Gottes Geist vergegenwärtigt das in den geschichtlichen Erfahrungen Israels und der christlichen Jüngergemeinde offenbare Geheimnis Gottes, das nicht ein für alle Mal begriftlich erfaßt werden kann, dessen Wesen vielmehr die Zusage seines in aller Zeit wirksamen Mit-seins ist. d. Die "Inerranz" der Heilswilligkeit Gottes Die Offenbarungskonstitution des 2. Vatikanischen Konzils stellt eine enge Verbindung her zwischen der Annahme, das schriftgewordene Wort Gottes habe soteriologische Funktion, und der Rede von der Wirkung des Geistes Gottes: ,,Da[ ... ] alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen aufgezeichnet haben wollte" (DV 11 ). In dieser Formulierung wird die Inerranz der Schrift, die Freiheit von Irrtum, dem zugesprochen, was Gott selbst mit dem intendierte, was geistbegabte Menschen mit ihren Worten sprachlich zum Ausdruck brachten. Auf diese Weise gelang es dem Konzil, die Problematik der in den biblischen Schriften zweifellos enthaltenen, auf der Basis späterer Erkenntnisse zu korrigierenden "Irrtümer" in Sachaussagen von der Frage nach der "unverirrlichen" Verläßlichkeit der Heilswilligkeit Gottes zu unterscheiden. 38 Die Aussagen der Schrift sind demnach auf ihre von Gott gemeinte, unter dem Antrieb des Geistes von Menschen formulierte und in der Gemeinschaft der Glaubenden durch das Wirken des Geistes wiederzuentdeckende Intention hin zu befragen. Die normativ-ursprüngliche, deutende Anerkenntnis eines in Zeit und Geschichte begegnenden Widerfahrnisses als Handeln Gottes, das der Glaubensgemeinschaft um ihres Heils willen zu überliefern ist, setzt ein 38
Vgl. zur Vorgeschichte W1d zur theologischen Tragweite dieser Konzilsaussage: A. Gtuu..Konunentar zwn Dritten Kapitel von Dei Verbum. in: LThK2 &g.bd. ll, 548-551.
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Vorverständnis des Wesens Gottes und der Unheilssituation der Welt, aus der heraus Gott befreit, voraus. Die in den biblischen Schriften bezeugten Einzelerfahrungen stehen nicht lose nebeneinander, sie sind vielmehr als bezogen auf eine Grunderfahrung zu denken. In der alttestamentlichen Exegese39 wird der mit dem Gottesnamen JHWH verbundenen Erfahrung der Selbstzusage Gottes - einer Zusage seines wirkmächtigen Daseins in der jeweiligen Gegenwart - integrative Kraft zugesprochen, die sich auch im historischen Prozeß des Gottesglaubens Israels nachweisen läßt, deren Bedeutung jedoch darüber hinaus von ganz grundlegender Art ist: In jeder Zeit ist eine Rede von Gott "schriftgemäß" wahr, wenn sie Gottes Dasein als erfahrbare Wende der Not verheißt und darin der soteriologischen Intention der Schrift entspricht. e. Konfessionelle Eigenheiten In der lutherischen Tradition der Schriftauslegung ist die Auffassung vertraut, die einzelnen biblischen Aussagen seien in ihrer Hinordnung auf ein auch inhaltlich zu fassendes, thematisches Prinzip zu lesen, dessen Beachtung die Wahrung des soteriologischen Gehalts der Schrift ermöglicht. In den in diesem Zusammenhang vorgenommenen Bestimmungen jenes stets gültigen Maßstabs einer rechten Verkündigung des Evangeliums spiegelt sich die reformatorische Überzeugung von der christologisch-soteriologischen Sinnmitte der Schrift: Entscheidend bei der Schriftauslegung ist, "was Christum treibet'<40 - was die Anerkenntnis des im soteriologischen Sinn zu verstehenden "solo Christo" fördert. Als "Kanon im Kanon" gilt demnach das, was im neutestamentlichen Zeugnis insbesondere in den paulinischen Schriften explizit formuliert wird: die Rechtfertigung des Sünders aus Glauben allein. In der Konsequenz dieses reformatorisch-theologischen Grundanliegens liegt die Benennung der Differenzierung zwischen "Gesetz und Evangelium'"'' 39
Vgl. exemplarisch: E. Zh"NGER., Am Fuß des Sinai. Gottesbilder des Ersten Testaments, DOsseldocf 1993. 40 Die Aussage, der Blick auf das, "was Christwn treibet", sei die einzig legitime Gestalt der Schriftauslegung, findet sich in prononcierter Form in Martin Luthers Vorrede zwn Jakobusbriefundzwn Judasbriefaus dem Jahr 1522: vg]. WA DB 7, 384-387. 41 Die Konkordienformel bezeichnet den Unterschied zwischen Gesetz und Evangeli\Dil als "besonder herrlich Licht( ... ), welches dalzu dienet. daß Gottes Wort recht geteilet und der heiligen Propheten und Apostel Schriften eigentlich erldaret und verstanden" (FC V,l: BSLK 951). Die im Blick auf das Gesamtzeugnis der biblischen Schriften problematische Entgegensetzung von Gesetz und Evangeli\DD wird gegenwärtig in der refonnatorischc:n Theologie intensiv dislrutiert. In diesem theologischen KJarungsprozeß konunen insbesondere exegetische
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als des hermeneutischen Prinzips bei jeder Gültigkeit beanspruchenden Schriftauslegung: Im Licht des Christusereignisses gilt es, jede Aussage der biblischen Schriften daraufhin zu befragen, inwiefern (auch) in ihr Gottes "unverdienbare" Zuwendung zu den Sündern und Sünderinnen zum Ausdruck gebracht ist. Auch die römisch-katholische Theologie kennt den Gedanken einer alles ordnend-orientierenden, jeder einzelnen Aussage ihren Stellenwert zuweisenden Mitte des Glaubens, die nicht nur bei der Schriftauslegung, sondern vor allem auch bei der Interpretation der kirchlichen Lehrtradition in Anspruch zu nehmen ist. Das 2. Vatikanische Konzil hat den Gedanken der Gleichwertigkeit aller Lehrgestalten, der in einzelnen Texten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch zu finden war-42, aufgegeben und stellt klar: "Beim Vergleich der Lehren miteinander soll man nicht vergessen, daß es eine Rangordnung oder ,Hierarchie' der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehren gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens" (UR 11 ). Die Gemeinsame Arbeitsgruppe der röm. -katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 1990 die Ergebnisse ihrer Beratungen über die ökumenische Relevanz dieser Konzilsaussage vorgelegt und dabei auch auf das Schriftverständnis Bezug genommen: "Obwohl die Heilige Schrift als Ganzes und in all ihren Teilen göttlich inspiriert ist, haben viele in ihr insofern eine Ordnung oder ,Hierarchie' erkannt, als einige biblische Teile oder Textstellen auf direktere Weise Zeugnis ablegen von der Erfiillung der Wld theologiegeschichtliche Erkenntnisse zur Sprache. Die auch in der evangelischen ~ logie gewonnene Offenheit rur Themen des jüdisch~chen Gesprachs ennöglicht eine differenzierte Betrachtung der auch aus neutestamentlich-christlicher Perspektive \ßlVerzichtbar wichtigen Anerlcennung des Weisungswortes in Gottes Thora. Vgl. als Dokwnentation wichtiger Dislrussionsbeitrage: E. KlNoERIK.. J:iAENDI.ER (Hg.). Gesetz und Evangelium Beitrage zur gegenwärtigen theologischen Diskussion, Dannstadt 1968. Vgl. aus jODgerer Zeit F. Mn.DENBER.GER, Das Gesetz als Voraussetzung des Evangeliwns. Dogmatische und ethische Folgen eines lutherischen Theologwnenoos, in: W. KRAus (Hg.). Christen und Juden. Perspektiven einer Annaherung. Gütersloh 1997, 49-66~ H.-J. EcKsn!IN, Verheißung und Gesetz. Eine exegetische Untersuch\ßl8 zu Gal 2,15- 4,7, Tübingen 1996~ W.R ScHMioT in Zusammenarbeit mit H. Deikurt wxt A Graupner, Die Zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik. Dannstadt 1993~ H.G. GöcKERrrz, Das Gesetz in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, NZSTh 32 (1990) 181-194~ D.R DANJELS u.a.. ,.Gesett' als Thema biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 198~ P. voN DER ÜSTHN-SACKEN, Die Heiligkeit der Thora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989. Vgl. zum Ganzen bes. auch: M LIMBECK, Das Gesetz im Alten wtd Neuen Testament. Dannstadt 1997. 42 Vgl. Mortalium Animos, Enzyklika Pius XI. vom 6.1.1928, in: R. ROHRBASSER (Hg.). Die Heilslehre der Kirche. Dokwnente von Pius IX. bis Pius xn.. Fribota"g 1953, Nr. 684f
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Verheißung und Offenbarung Gottes in Jesus Christus durch den Heiligen Geist in der Kirche." 43 In der Sache wird das ",Mysterium Christi', durch das die Liebe Gottes im Heiligen Geist manifest wird"44, als das Fwulament bezeichnet, auf das alle Rede von Wahrheit zu beziehen ist. Das Dokument stellt damit die christologische Bestimmung der Mitte des biblisch begründeten Glaubens in den Zusammenhang des trinitarischen Gottesbekenntnisses, das in nachbiblischer Zeit in den Glaubensbekenntnissen begrifflich gefaßt wurde. Das Bekenntnis zu dem einen Gott der beiden biblischen Testamente und das Bekenntnis zur soteriologische Relevanz des Christusereignisses widersprechen sich nach christlichem Selbstverständnis nicht. Im Christusereignis macht der eine Gott eschatologisch-endgültig offenbar, daß seine Verheißung immer schon gültig ist - für alle Geschöpfe: "Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andem belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen - Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr" (Jer 3l,33f).
4. Gottes Wort wird verfaßt und erinnert. Pneumatologische Besinnung auf den Überlieferungsprozeß a. Geisttheologische Erneuerung in der röm. -katholischen Theologie In der neueren römisch-katholischen Ekklesiologie haben pneumatologische Reflexionen grundlegende Bedeutung. Anstoß für diese Neubesinnung waren insbesondere die Texte des 2. Vatikanischen Konzils, in denen ein sakramentales Kirchenverständnis wiederentdeckt und neu entfaltet wird: Im äußeren, sichtbaren Zeichen des gesellschaftlichen Gefüges der Kirche wirkt Gottes Geist als belebende Kraft. 4s Diese - im ökumenischen Gespräch freilich umstrittene46 - sakramentale Umschrei43 GEMEINSAME ARBEITSGRUPPE DER ROM.-KAlHOLISCHEN KIRCHE UND DES ÖKuMENiscHEN
RAn:s DER KIRCHEN, Der Begriff der ,,Hierarchie der Wahrheiten". Eine OJwmc:nisclle Interpretation. in: DWÜ 2, 753, Nr. II. Hervorhebung im Original. 44 Ebd., 757, Nr. 29. 4 s Vgl. 2. Vatikmrisches Konzil, Lumen GentilDil, Nr. I~ 8~ 48. 46 Vgl. ÜEMEINSAME EVANGF.LISC&LlTiliBRISCHE RÖMISCH-KATIIOUSCHE KOMMISSION, Kirche lUld Rechtfertigung, Nr. 118-134~ J. MEYER zu ScHI.ocmF.RN, Sakrament Kirche. Wirken
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bung des Wesens der Kirche ermöglicht es, den Dienstcharakter aller kirchlichen Strukturen und Lebensformen zu bestimmen: in immer auch unzulänglicher Weise ist die Kirche der Ort der erfahrbaren Gegenwart des Geistes Gottes, auf dessen Wirken es zurückzuführen ist, daß die Kirche ursprungsgetreu Gottes Evangelium in Worten und Taten verkündigt. Der pneumatologische Ansatz heutiger Ekklesiologie wirkt sich in dem Themenfeld Schriftverständnis, Schriftauslegung, Schrift und Tradition in vielfacher Weise aus. Er kommt zunächst in einem erneuerten Verständnis des Wesens der "Schriftinspiration" zum Tragen. 47 Die Entstehung der biblischen Schriften ist einzubinden in den geistgewirkten Gesamtprozeß der Konstitution, des Erhaltes und der Erneuerung der gottesgläubigen Gemeinde. Die Deutung geschichtlicher Ereignisse als Wirken Gottes gelingt in der Kraft des Geistes. Die Traditionsbildung vor der Formung der schriftlichen Überlieferung geschieht in einer Gemeinschaft geistbegabter Menschen. Die Schrifttexte sind die immer auch zeitbedingte Weise der Versprachlichung einer Erfahrung, die angesichts ihrer gottgewirkten Ursprünglichkeit Normativität für den Glauben der Gemeinschaft beanspruchen kann. Die in jeder Zeit erforderliche, erinnernde Vergegenwärtigung des normativen Anfangs ist Gabe des Geistes, der in der Glaubensgemeinschaft bleibend wirksam ist. b. Wirken des Geistes Gottes in Schrift und Tradition
Im ökumenischen Gespräch besteht weitgehend Konsens in der Meinung, Schrift und Tradition seien unverzichtbare theologische Größen, die jeweils in ihrer Eigenart zu erfassen sind. Anerkannt wird auch von reformatorischer Seite, daß die Tradition der Schrift vorausgeht, die Gottes im Handeln der Menschen. Freibmg/Basei/Wien 1992; B. NEUMANN, Sakrament lUld Ökwnene. Studien zur deutschsprachigen evangelischen Sakramententheologie der Gegenwart, Padernom 1997. 47 Das 2. Vatikanische Konzil hat seine Inspirationslehre in Dei Verllum 11-13 zusammengefaßt vgl. dazu H GABEL, Inspirationsverständnis im Wandel. Theologische Neuorientienmg im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils, Mainz 1991. DV 11 spricht von der Aufi.eiclmung der Bücher unter dem Anhauch des ~ Gott ist ihr Urheber. er hat sich Menschen erwählt, die mit ihren Fähigkeiten als "echte Verfasser• der Schriften dienen sollten. DV 12 betont, daß "Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menscbeoart gesprochen hat... Daher ist es erforderlich, den Aussagesinn der Texte unter BerOcksichtigtmg der zeitgeschichtlichen Umstande bei ihrer Abfassung m ermitteln. Bei jeder Einzelaussage ist auf den ,,Inhalt und die Einheit der ganzen Schritt. m achten. "unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche lUld der Analogie des Glaubens.. (DV 12).
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Schrift eine spezifische Gestalt der Tradition ist: eine Weise der Überlieferung und der Bezeugung des Glaubens in der Gemeinschaft der Glaubenden. Die unverzichtbare Bedeutung der Tradition wurde 1963 von der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung deutlich herausgearbeitet: "Our starting-point is that we are all living in a tradition which goes back to our Lord and has its roots in the Old Testament, and are all indebted to that tradition inasmuch as we have received the revealed truth, the Gospel, through its being transmitted from one generation to another. Thus we can say, that we exist as Christians by the tradition of the Gospel (the paradosis of the lcerygma) testified in Scripture, transmitted in and by the Church through the power of the Holy Spirit. Tradition taken in this sense is actualized in the preaching of the Word, in the administration of sacraments and worship, in Christian teaching and theology, and in mission and witness to Christ by the Jives of the members of the Church". 48 Das Verständnis der Heiligen Schrift als "tradition in its written form" 49 festigte sich in den nachfolgenden Dialogen. Die etwa gleichzeitig zu den Beratungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung entstandenen Ausführungen des 2. Vatikanischen Konzils zum Thema Schrift und Tradition in Dei Verbum 7-10 stellen ebenfalls einen Zusammenhang zwischen dem vor der Schriftwerdung des alt- und neutestamentlichen Evangeliums erforderlichen Tradierungsgeschehen und der nachbiblischen Tradition her. Im gesamten Prozeß der Überlieferung (im Singular) geht es um die Sorge, daß das, "was Gott zum Heil aller Völker geoffenbart hatte, [ ... ] für alle Zeiten unversehrt erhalten und allen Geschlechtern weitergegeben" (DV 7) wird. Die in den Konzilsdebatten lange Zeit heftig umstrittenen, konkreten Aussagen zum Verhältnis zwischen Schrift und Tradition versuchten zum einen, an die Lehre des Trienter Konzils anzuknüpfen, das Schrift und Überlieferungen (im Plural) im Hinblick auf ihre Entstehung und ihren Wert parallelisierte50, zum anderen aber auch eine klare Differenzierung einzubringen: "Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen Faith and Order, Saipture, Tradition and Traditions (1963), in: E. fLESSEMAN-VAN LEER (Hg.), The Bible, 20. Hervorhebungen im Original. 49 Ebd., 21. 50 Vgl. Trienter Konzil, Dekret über die Annahme der heiligen Bücher und Überlieferungen (1546): DH 1501. 48
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in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige Überlieferwtg aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten. So ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft. Daher sollen beide mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden" (DV 9). Die Tradition wird durchgängig in funktionaler Weise beschrieben: (Auch) durch sie ist Gewißheit über alles Geoffenbarte zu erreichen~ sie dient der Bewahrung, der Erläuterwtg und der Verbreitung der Schrift. (Allein) von der Schrift wird gesagt, sie sei Gottes Rede. 51 In der nachkonziliaren römisch-katholischen Theologie wurde die in DV 9 vorgenommene Differenzierwtg in der Rede von der "materialen Suffizienz" der Schrift und der (nur) formalen Funktion der Tradition begrifflich gefaßt. c. Formen kirchlicher Schriftauslegung Im ökumenischen Gespräch ist weithin anerkannt, daß nach römischkatholischer Auffassung das Lehramt "nicht über dem Wort Gottes" steht, ihm vielmehr dient, "indem es nichts lehrt, als was überliefert ist" (DV 10). Auf dieser Basis erscheint heute eine weitgehende Verständigung mit der reformatorischen Theologie über die Aufgabe des kirchlichen Lehramts möglich, auch wenn im Blick auf die Frage der Verbindlichkeit kirchlicher Lehre (ein primär römisch-katholisches Anliegen 52) bzw. der immer als möglich zu erachtenden traditionskriti-
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Korrunentatar von Dei Verbum. Joseph Ratzinger, macht auf diese Differenz ausdrücklieb aufmerksam: Denmach ist es "wichtig, daß ma über die Schrift eine eigentliche ,Ist'Definition gegeben wird: Von ihr wird gesagt. daß sie schriftlieb festgehaltenes Sprechen Gones ist. Die Tradition wird dagegen nur funktional beschrieben, von dem her, was sie tut Sie vermittelt Gottes Wort, ,ist' es aber nicht. Konunt schon auf diese Weise der Vorrang der Schrift deutlich zwn Vorschein, so zeigt er sich noch eimnal bei der naberen Cbarakterisienmg des Vorgangs der Überliefenmg, deren Auftrag das ,Bewahren. Auslegen und Verbreiten' i~ sie ist nicht produktiv, sondern ,konservativ', dienend einem Vorgegebenen zugeordner' (J. RATZ.INGER, Kommentar, Hervorhebwlg im Original). 52 Das Erfordernis, in der Kirche verbindlieb zu lehren. wird im Grundsatz auch voo reformatorischer Seite gesehen und bejaht Dies konunt in einer Studie ostdeutscher Theologen, deren Ergebnis 1980 vorgelegt wurde, eindrücklieb zur Sprache: vgl. The Authoritative
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sehen Wirksamkeit der Schrift (das primär reformatorische Interesse) noch Fragen offen sind: "Die Wahrheit der Schrift bewährt sich nur im Vollzug ihrer Wahrnehmung, so daß ohne eine solche Wahrnehrnung, deren konkreter Ort die Kirche ist, von einer Selbstauslegung der Schrift nicht angemessen die Rede sein kann. Evangelische Theologie teilt diese Einsicht und anerkennt, daß ein adäquater Schriftgebrauch nur in der Kommunikations- und Verantwortungsgemeinschaft der Kirche in der Einheit des Geistes Christi möglich ist. Das Wort und die Wahrheit Gottes wären nicht wirklich in der Welt angekommen, würden sie nicht in der Kraft eben dieses Heiligen Geistes im Glauben von Menschen angenommen und gemeinsam öffentlich bezeugt. Der Gehalt des Wortes Gottes läßt sich insofern von den irdischen Gestalten der Auslegung und der Verkündigung des Wortes nach der Hl. Schrift nicht trennen". 53 Schriftauslegung geschieht in der Kirche in verschiedenen, aufeinander verwiesenen Weisen: in der geistlichen Betrachtung einzelner, in Gruppengesprächen (Bibelteilen) und spielerischen Zugängen (Bibliodrama), in der Liturgie in Gesängen, Gebeten und vor allem in der Homilie. Schriftauslegung betreiben auch die theologischen Disziplinen - vorab die exegetischen und systematisch-theologischen. Die neuere römisch-katholische Theologie hat sich in den letzten Jahrzehnten erneut auf ihre eigentliche Aufgabe besonnen: in allem von Gott zu sprechen. Zunehmend festigt sich die Einsicht, daß die in der Regel in Einzeltraktaten präsentierte Dogmatik in ihrer inneren Verbundenheit dargestellt werden muß: das Thema der Theologie ist Gottes schöpferisches, heiligend-erlösendes und vollendendes Wirken. Protologie, Soteriologie und Eschatologie sind Dimensionen der gesamten Theologie, die theo-logisch, christologisch, pneumatologisch, ekklesiologisch und anthropologisch zu spezifizieren sind. Wenn die gegenwärtige Dogmatik die Rede von Gott als ihre primäre Aufgabe betrachtet, erfüllt sie eine Forderung des 2. Vatikanischen Konzils, das im Dekret für die Ausbildung der Priester die Erwartung formulierte, die Teaching ofthe Clnurh. A Wadeshop Report froot the Gennan Democralic Republic, ER 33 (1981) 147-165. 53 ÖKuMENI.scJ..mR ARBEITSKREIS EVANGELISCHER UND KAllfOLISCHER THEOI...OCiEN, Kanon Heilige Schrift- Tradition. Gemeinsame F.lt1ärung, in: W. PANNENBER
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dogmatische Theologie habe zunächst die biblischen Themen selbst vorzulegen. S4 Die biblischen Schriften sind nicht (mehr) ein "Steinbruch", in dem Belege für zuvor formulierte dogmatische Lehren in der Annahme zu suchen sind, solche müßten sich finden lassen, sie sind vielmehr Gottes Selbstaussage, deren Ereignis und Gehalt das Formalund Materialobjekt der gesamten Theologie ist.
S4
Vgl. 2. Vatikani.Jche Konzil, Optatam totius, Nr. 16. Diese methodische Anweisung löste
den zuvor geübten Dreischritt in der dogmatischen Methode (Lehre der Kirche - Nacllweis in Schrift und Tradition - spekulative ErheUWJg) ab: Vgl. dazu Th. ScHNEIDER, Auf seiner Spur. Ein Werlcstattbuch. Hg. von A Moos, Dosseidorf 1990, 155-158~ 286-288.
"Und er ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge" Jesuanisches zur Frage nach dem Ursprung des christlichen Antijudaismus RAINER KAMPLING
Die Anfrage Fast unbemerkt - auch in der Wahrnehmung der Theologie und der breiteren kirchlichen Öffentlichkeit - hat die historisch-kritische Methode noch einmal unter Beweis gestellt, wie unverzichtbar sie für eine selbstkritische Theologie ist. Denn ihr Beitrag im Vorhaben, den traditionellen christlichen Antijudaismus aus dem Kosmos der Theologie und der Kirchen zu verbannen, besteht vornehmlich darin, die Wurzeln, Verästelungen und Verzweigungen des Antijudaismus nachzuweisen und das Defizitäre des bisher Erreichten offenzulegen. Dabei bezeugt diese methodische Herangehensweise wiederum, daß sie auch sich selbst kritisch gegenübertreten kann und sich aus dem Prozeß der Befragung auf eigene antijüdische Voraussetzungen nicht ausnimmt. Da außer Zweifel steht, daß die Geschichte der Schriftauslegung seit den frühesten Tagen des Christentums fast ständig von antijüdischen lmplikationen belastet war, ist die Frage nach dem Ursprung und Wesen des christlichen Antijudaismus 1 zugleich ein Beitrag zur Klärung des eigenen Vorverständnisses und des Standpunktes des exegetisierenden Subjekts. Daß die Frage nach dem Antijudaismus des Neuen Testaments, in der Theologie und in den Kirchen erst nach der Schoah mit aller Mächtigkeit gestellt wurde, ist als Element und Aufgabe der jeweiligen Text- und Selbstbefragung ernstzunehmen. Denn im Prozeß eigenen Verständnis des umstrittenen Begriffs verweise ich auf meinen Artikel: Antijudaismus von Anfang an? Zur Diskussion um den neutestamentlichen Ursprung des christlichen Antijudaismus, rhs 40 ( 1997) II 0-120. 1 Zwn
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des Gewahrwerdens der historisch-theologischen Verankerung des Antijudaismus im Christentum wird man mit Gewißheit an den Moment kommen, in dem sich die Anfrage aufdrängt, ob und wie das Evangelium, an das man als Christ glaubt und auf das man sein Leben setzt, hineingewoben ist in die Geschichte der Vernichtung jüdischer Europäer in einem Land, das von sich glaubte, es dürfe sich christlich nennen aufgrund seiner christlich geprägten Kultur und Zivilisation. Zu den Folgen der Schoah gehört der Verlust jeder Sicherheit, jedes Vertrauens darauf, daß unbeschädigtes Leben möglich ist. Durch die radikale Infragestellung zivilisatorischer Zuversicht angesichts des Massenmords ist auch die Gewißheit erschüttert, daß das Christentum in der Lage ist, Leid zu mindern. Hierbei geht es nicht um die schier unerträgliche Diskussion, ob Christen genug, zu wenig oder gar nichts zur Abwehr der planmäßigen Vernichtung taten 2 - ein genug gab es nicht -, sondern um die tiefgreifende Erkenntnis, daß die Schoah auch das Christliche zutiefst beschädigt hat, da sie das je geschehene Versagen und die Schwachheit in der Bezeugung des menschenfreundlichen Gottes offenlegt und bleibend erinnert. Durch sie ist die apologetische Selbstwahrnehmung, in der, um es überspitzt zu sagen, Franziskus gegen die Kreuzzüge aufgerechnet werden konnte, zu ihrem notwendigen Ende gekommen. Indem nun eine Befragung der christlichen Theologie in Geschichte und Gegenwart auf antijüdische Elemente hin geschieht, wird dies in der Hoffilung getan, die eigentliche Möglichkeit des Christlichen fernab jeder Stigmatisierung anderer neu zu begreifen, zu lernen und zu leben. Die innertheologische Antijudaismusforschung ist zwar eine durch und durch kritische Forschung und nimmt so Impulse insbesondere aus der Frühzeit der neuzeitlichen Exegese auf, aber sie steht eben nicht nüchtern bilanzierend außerhalb der christlichen Theologie oder der Ecclesia, sondern weiß sich auf diese hingeordnet und ihnen zugehörig. Daher können diejenigen, die diese Fragestellung aufuehmen, nicht für sich in Anspruch nehmen, sie seien objektiv und stünden Gegenstand und Kontext sachlich gegenüber. Sie sind parteiisch, weil sie versuchen, Geschehenes aus der Warte der Opfer wahrzunehmen, und sie sich zugleich zu denen rechnen müssen, die zu oft bei den Siegern standen. Ob die Einforderung einer Objektivität angesichts der Schrecken der Schoah nicht grundsätzlich verfehlt ist, wird allerdings zu fragen sein. 2
Vgl. dazu meine Oberlegw1gen: L'antigiudaismo problema cristiano, ß Regno 43 (1998)
273-278.
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Wenn nun die Befragung der christlichen Theologie- und Kirchengeschichte ansteht, ist es offensichtlich, daß es Tabus, Dinge an die man nicht rührt, nicht geben kann, da nur durch eingehende Überprüfung eine Umkehr zu erwarten ist. Die Offenlegung auch verborgener Aspekte bietet die beste Gewähr dafür, daß ein unumkehrbarer Positionswechsel geschieht. Gefordert ist daher "eine geduldige, aber umfassende Sichtung der gesamten theologischen Tradition der Kirche". 3 Daß Geduld hier mehr ist als eine Tugend, nämlich eine Notwendigkeit, leuchtet angesichts des zu bearbeitenden Gegenstandes unvermittelt ein. Und wenn man dem Programm auch zuzustimmen vermag in dem Wissen, daß ein weiter Weg noch zu gehen ist, rührt es doch auch an den empfindlichsten Nerv des christlichen Selbstverständnisses~ denn falls der Hinweis auf das Gesamt der Theologie nicht nur Anzeige des Aufgabengebiets sein soll, wird man weder das Neue Testament und seine Autoren noch Jesus selbst davon ausnehmen können. Der Befragung des Neuen Testaments auf antijüdische Elemente hin, die im System des Antijudaismus mündeten, eignet zweifelsohne immer noch eine Brisanz in Kirchen, die sich darauf gründen, aber die Anfrage, ob Jesus von Nazaret selbst in irgendeiner Weise mittelbar oder unmittelbar an der Initiierung des Antijudaismus beteiligt war, überragt jene noch, da sie nicht etwa auf die Christologie und deren mögliche antijüdischen Implikationen abhebt'', sondern der Jude Jesus von Nazaret, seine Verkündigung in Wort und Tat in, an und für Israel in den Blick nimmt. Es geht hierbei nicht um eine schrankenlose Ausweitung des Begriffes Antijudaismus 5, sondern um den gewiß kühnen Versuch, sich auf die Frage einzulassen, ob nicht durch Jesus selbst Abgrenzungen und polemische Elemente in die Tradition eingeflossen sind, die je nach theologischen und sozialen Kontexten eine Eigendynamik entfalten 3 K.
HAACKER., Der Holocaust als Datum der Theologiegeschichte, in: E. BROCKEIJ. SEJM (Hg.), Gottes Augapfel. Beiträge zur Erneuerung des VerhaltDisses von Christen und Juden, Neukirchen 1986, 137-145: 145. 4 Vgl. dazu etwa: W. KRAus, Christologieolme Antijudaismus? Ein Überblick über die Diskussion. in: DERs. (Hg.), Christen und Juden. Perspelctiven einer Annahenmg, Gütersloh 1997, 21-48. W. BREUNING, Dogmatik im Dienst an der Verkündigung, hg. von E. DIRscHE.RL, WUrzburg 1995,81-100. 5 Meine früher geäußerte Kritik (vgl. R.I
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konnten, die sie dann wiederum im System des Antijudaismus rezipierbar und funktionalisierbar machten. Eingestandenermaßen mag diese Überlegung eher wie eine Zumutung, denn wie eine noch vertretbare Vermutung erscheinen, aber die Geschichte des kirchlichen Antijudaismus lehrt immerhin, daß man jahrhundertelang keinerlei Schwierigkeiten damit hatte, sich Jesus als erbitterten Feind des Judentums vorzustellen. Genauerhin sind die israelkritischen Worte Jesu in den Evangelien immer dem Literalsion nach als Legitimation angesehen worden, sie nochmals polemisch überspitzt nachzusprechen. Nun wäre es eine zu einfache Lösung, das Rezeptionsverhalten der spätantiken, mittelalterlichen und auch neutestamentlichen Exegeten als verfehlt zu erklären6 und sich so der Auseinandersetzung zu entziehen. Der kritische Vergewisserungsprozeß, ob und inwieweit diese Traditionsvorgabe noch weiterwirkt, würde damit abgebrochen und der Antijudaismus in seiner negativen Bedeutung für Kirche und Welt auf ein Verstehensproblem reduziert. Das könnte allerdings immer dann aufs neue aufbrechen, wenn man den Konsens der historisch-kritischen Forschung verläßt. Da der Antijudaismus ein gesamtkirchliches Phänomen ist und auch in den Bereichen der sogenannten Volksfrömmigkeit beheimatet ist, könnte dieser Fall eher eintreffen, als man es erwartet. Mag man demnach die Frage nach einer wie auch immer gearteten möglichen Verbindung von Jesus von Nazaret zu einem Antijudaismus der nachfolgenden Jahrhunderte für mehr als schwierig bewerten, so ist sie doch in dem Sinne legitim, daß mit ihr die These von der prägenden Kraft Jesu ernst genommen wird. Im Zusammenhang mit dem Matthäusevangelium hat V. Luz diese Anfrage an den Anfang des Christlichen7 gestellt. Er sieht in der Israeltheologie des Evangelisten eine deutliche Tendenz, die Geschichte Israels post Christum als Negativgeschichte zu gestalten, wobei Matthäus einen Widerspruch zu seiner eigenen Theologie in Kauf nehmen muß, "um auf Kosten Israels für sich und seine Gemeinde das Nein Israels zu Jesus verarbeiten zu können". 8 Die Vorform dieser Rigidität 6
Es sei daran erinnert, daß die Methoden. mit denen z.B. die KirchenschriftsUer der Christlichen Antike zu ihren antijOdi.schen Auslegungen gelangtal. eben auch die sind. mit denen die christologischen Dogmen argwnentativ aus der Schrift erarbeitet wurden. WoUte man den Antijudaismus nur wegen der Methode als hinOOlig bezeichnen. müßten k~ quenterweise ahnliehe Folgerungen ftlr den ganzen Bereich der Theologie gezogen werden. 7 U. Luz. Jesus der Menschensohn zwischen Juden und Christen. in: M. MARca et al. (Hg.). Israel und Kirche heute. Beitrage zwn christlich-jodischen Gesprlch (FS E.L. EHRLICH), Freiburg 1991,212-224. 8 Ebd.,219.
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des jüdischen Autors gegenüber denen aus Israel, die nicht seinen Glauben an Jesus als Messias teil~ vermutet U. Luz bei Jesus selbst. Es handelt sich "um jesuanisches Erbe. Es hängt mit dem unbedingten Anspruch, den Jesus für sich und seine Verkündigung stellte, direkt zusammen. " 9 Ohne die These gleich damit abzuwerten, daß man die Prämisse, nämlich den Antijudaismus des Matthäus, als verfehlt erklärt 10 oder sie dem Verdacht aussetzt, hier würden spätere christologische Debatten vordatiert, wird man durchaus anerkennen können, daß ein unstreitig kühnes, aber gleichwohl bemerkenswertes Erklärungsmodell vorgelegt wird. Denn diese Erklärung hat etwas für sich, was anderen Modellen der Entstehungsgeschichte des christlichen Antijudaismus fehlt: Sie könnte nicht nur erklären, wie es zu der Ausprägung eines eigenen Typus des christlichen Antijudaismus gekommen ist, der mit paganer Judaeophobie 11 nichts gemeinsam hatte 12, sondern auch erhellen, aus welchen Gründen dieser, wenn auch modifiziert, so langlebig war. Der Antijudaismus wäre nicht zugewachs~ sondern würde dann gleichsam zum Ursprung hinzugehören. 13 Die Suche nach dem missing link könnte damit aufgegeben werden und sich auf den Anfang begnügen. Was man als historische Rekonstruktion noch erwägen könnte, hätte für die theologische Reflexion unter bestimmten Rezeptionsbedingungen verheerende Folgen. Denn, da in Folge einer auch exegetisch zu verantworteten Entwicklung, nach der einem historisch-philologisch rekonstruierten Jesuswort die normative Glaubensrelevanz eines Herrenwortes zugesprochen wird - in völliger Übersehung der Spannung zwischen stattgehabter Geschichte und geglaubtem Ereignis, da hier geschichtlicher Grund und theologische Begründung des Glaubens an 9
Ebd., 233. FRANKEMOU...E, Matthäuskonunentar, 2 Bde., Dosseidorf 1994/1997 hat einen beachtlichen Gegenentwwf zu der traditionellen Lesart, die die Israelkritik des Mt hervorhebt, vorgelegt und den Nachweis angetreten. daß jene Engfilhrung keineswegs zwingend ist. 11 Vgl. P. ScHAffiR., Judeophobia. Attitudes toward the Jews in the Ancient World., Cambridge 1997. 12 Auch wenn es seit dem letzten Jahrhundert zu einem fast unhinterfragten exegetischen Topos geworden ist, daß Paulus im 1 Thess auf paganen Antijudaismus zurOckgreift. so ist diese Bebauptung dennoch über den Stand der Vermutung nicht hinausgekommen. da eine tatsachliche Parallele fehll Der Verweis auf Tacitus tragt da wenig aus, da odirun luunani generis einen ganz anderen Bedeutungsinhalt transponiert; vgl. dazu immer noch: W. NESTI.E, Odium hwnani generis, Klio 21 ( 1927) 91-93. 13 Es ist nicht verwunderlich, wenn U. Luz, Jesus, 212 ausdrOcklich R. RUETiiER, Faith and Fratricide. The Theological Roots of Antisemitism, New Yoric 1997 würdigt 10 H.
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Jesus als Christus Gottes ineinsgesetzt werden-, bestünde die Gefahr, daß Antijudaismus unter der Hand legitimiert wird. Offensichdich steht diese Befiirchtung im Hintergrund, wenn H. Franlcemölle solchen Überlegungen den schwerwiegenden Vorwurf macht: "[Sie] leisten der antijüdischen Lesart des Matthäusevangeliums sogar noch Vorschub, da sie den Antijudaismus nicht ins Matthäusevangelium, sondern bis auf Jesus selbst zurückführen." 14 Hier wäre gewiß Ansatzpunkt fiir eine weitgehende Diskussion, nämlich ob die Erforschung des Antijudaismus selbst u.U. zu einer Legitimierung des christlichen Antijudaismus führen kann, denn auch in der Kirchengeschichte kann man weder Hieronymus, noch Augustinus, noch den Aquinaten - immerhin Theologen, deren Autorität in anderen theologischen Kontexten durchaus noch Gewicht hat- aus der Reihe derer, die den chrisdichen Antijudaismus prägend festschrieben, herausnehmen. Freilich sollte man keinesfalls in den Fehler verfallen, den Boten für die Botschaft verantwortlich zu machen. Die Anmutung, wer in Texten Antijudaismen feststellt, sei von vomherein selbst des Antijudaismus verdächtig, zerstört die Grundlage der Kommunikation. Vielmehr wird man, falls der Diskurs es nahelegt, daß schon die frühe Phase der neutestamendichen Überlieferung Antijudaismen transponierte, in die hermeneutische Debatte um die Gültigkeit und Relevanz solcher Texte einzutreten haben und zu einer theologischen Kriteriologie zu ihrer Beurteilung finden müssen. Historisch-kritische Forschung gäbe sich auf, wollte sie sich selbst ein Such- und Sprachverbot verhängen. Nur auf den verschlungenen Wegen einer Kryptochristologisierung, die mit der Vermutung operiert, Jesus könne nicht einmal im Ansatz mit negativ Eingeschätztem am und im Christentum zusammengedacht werden, ließe sich eine Vernachlässigung der Frage nach möglichen Ansätzen eines judenfeindlichen Affekts bei Jesus von Nazaret rechtfertigen. Eine Anfrage kann nicht falsch sein, weil man ihre Ergebnisse, wie schwierige Probleme sie auch mit sich bringen mögen, befiirchtet. 15 Sie hat Anrecht darauf, gehört und beantwortet zu werden. 16 14 H.
FRANKEMOLLE, Die sogenannten Antithesen des Matthilus (Mt 5,21 tl). Hebt Matthäus fi1r Christen das ,,Alte" Testament auf? Von der Macht der Vorurteile, in: DERs., Jüdische Wwzeln christlicher Theologie (BBB 116). Bodenheim 1998, 295-328: 31 0( 15 Auch im Papier Wir erinnern un.J- Eine Reflexion ilher die Shoa vom 16.3.1998 ist das Autoritatsproblem greifbar. Das Papier wtd auch der Begleitbrief des Papstes wtterscheiden beharrlich zwischen der Kirche und den ,,8öbnen und Töchtern der Kirche". Dieses theologische Konstrukt, das in dieser Fonn seit dem Vaticanwn ll als Oberbott gelten darf: ist wn so schwieriger als der positive Aufweis fehlt, dem zu entnehmen ware, welche Position denn dann die Kirche eingenonunen hat, während ihre Söhne und Töchter abirrten. Der Beleg filr
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Freilich stellt sich sogleich die methodische Problematik, wie man sich mit dieser These auseinandersetzen karm. Zweifelsohne wäre es der gängige Weg, ihre Prämissen zu befragen und ihre Ergebnisse kritisch zu sichten. Gleichwohl soll hier ein anderer Weg gegangen werden. U Luz geht ganz offensichdich von einem Selbstverständnis Jesu aus, das prächristologische Züge aufweist, d.h., er habe eine an seine Person gebundene Entscheidung eingefordert und sich als Begegnungsgrund der Krisis verstanden. Gegen diese Vorstellung soll ein anderes Bild gezeichnet werden, das allerdings, soviel sei gesagt, keineswegs von vornherein ausschließt, daß sich an Jesus und seinem Wirken Erwartungen und Hoflhungen festmachen ließen, die in eine nachösterliche Christologie einfließen konnten. Nur ist diese Fragestellung sehr wohl vom angenommenen Selbstverständnis Jesu zu unterscheiden. Daß das zu zeichnende Bild gewiß nicht vollständig ist und sein kann, bedarf keiner weiteren Begründung. Da es auch der Versuch ist, eine Darstellung ohne Antijudaismen zu sein, wird es sich dem Verdacht aussetzen, vom eigenen Vorverständnis geprägt zu sein. Aber da bisher jeglicher Nachweis fehlt, daß es möglich wäre, als chrisdicher Exeget ohne ein bestimmtes Vorverständnis von Jesus von Nazaret über ihn zu sprechen oder zu schreiben, ist der Verdacht erträglich und erinnert daran, daß es das historische Bild von Jesus von Nazaret nicht geben kann~ denn selbst wenn man ganz von ihm schweigen wollte, wäre er in der Wahrnehmung des Glaubens gegenwärtig.
eine kirchliche Lehre vor dem Vaticanwn ll, die frei von Antijudaismus war, steht aus. Man kann nur vermuten, warwn diese Unterscheidung so konsequent geruhrt wir. Der naheliegende Grund ist gewiß der, den Antijudaismus als mit der kin:blichen Lehre lDlvereinbar zu erweisen. Es hatten bereits die tntrakonservativen auf dem Vaticanwn ß im Vorfeld der Erldarung Nastra aetate 4 geltend gemacht, daß der Antijudaismus Zl.D" Lehre der Kirche bestandig gehört habe, mithin zur traditio zu rechnen sei. Genau diese Position wird hier energisch bestritten. indem Antijudaismus als etwas der Kirche Fremdes beschrieben wird, das als Abinung von Gliedern der Kirche zu gelten hat. Antijudaismus hat demnach zwar eine lange Tradition der Gewohnheit in der Kirche, aber er gehört keineswegs Zl.D" traditio der Kirche. Niemand kann sich demnach auf diesen traditionellen Antijudaismus berufen, der vielleicht alt, aber gewiß nicht ehrwürdig ist. Man darf gespannt sein, ob diese Lösung tragfilhig ist, da in ihr auf recht bemühte Art Historisches und Theologisches, Kirche und Glaubige auseinander dividiert werden. 16 Es bedarf keines Nachweis, daß U. Luz fern jeden Verdachs ist, den Antijudaismus R>rdem zu wollen. Viehnehr wendet er konsequent das Programm der Ursachenforschung an. Wenn er dabei schonungslos auch bis in die Anßlnge zurOck fragt, dann ist dieses auch eine Schonungslosigkeit, die ihn als Exegeten selbst betrifft.
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Die Frömmigkeit des Juden Jesus Zur Frage nach Grundprinzipien des Judentums Der Ans~ nach Jesu Frömmigkeit zu fragen, um sich so ein Bild von ihm im Kontext der religiösen Praxis seines Volkes zu machen, hat den Vorteil, daß Jesus nicht sogleich mit anderen bedeutenden Heiligen Männem seiner Zeit in Beziehung gesetzt wird, sondern zunächst einmal danach gefragt wird, wie er sich zu den traditionellen religiösen Vorgaben verhielt. Freilich steht man damit vor dem gnmdsätzlichen Problem, das jeder Rückfrage nach Jesus eignet, nämlich wie man zu möglichst historisch gesicherten Annäherungen auf der Grundlage von theologisch geprägten Texten kommt; aber hier ist eine gewisse Zuversicht möglich. 17 Daß der Begriff Frömmigkeit hier einer Definition bedarf, ist allerdings selbstverständlich. 18 Mit Frömmigkeit wird eine Haltung bezeichnet, die im Glauben an den Einzigen gründet und von der her die Lebenspraxis durchgängig bestimmt wird. Frömmigkeit ist das Offenhalten des Lebens für die Wirklichkeit Gottes und seines Willen. Sie beinhaltet ein Hingeordnetsein auf Gott und auf Israel als Volk Gottes. Frömmigkeit ist ohne ein Eintreten in diese Beziehung nicht möglich, da das individuelle Erleben über sich hinaus verweist. Dabei steht außer Frage, daß es traditionelle 17 Daß
am Ende dieses Jalubunderts die Zahl der JesusbOcher fast vergleichbar ist mit der zur Zeit der Blute der Jesusliteratur zu Ende des letzten Jahrhunderts, l4ßt nicht nur erkennen. daß die Bedeutsamkeil Jesu und das Interesse an ilun keineswegs nachgelassen hat, sondern laßt auch den Schluß zu, daß nach langer Diskussionszeit ober die Kriterien der Jesusforschq die Methodilc so weit gediehen ist, daß die Darstellung des Wirkens Jesu möglich encheint Wenn ich recht sehe, ist mm nicht mehr die Frage des zu bearbeitenden Materials strittig, sondern die Interpretation dieses Materials. Allemal kann man das Buch von G. THEI· ~A MERz, Der Historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 als Zeichen eines gewissenKonsensder Forschung werten. Aus der FtU.le der neueren Jesusbücher seien hier nm die genannt, die meine Sicht mitgeprägt haben, wobei auch aus dem Widerspruch Erkenntnis eJWachsen kann: J. BECKER. Jesus von Nazaret, Berlin 1996~ J.H. CHAiu...EswoR1H, Jesus within Judaism, New York 1988~ CA. EvANS, Jesus and his Contempo~aies (AGJU 25), Leiden 1995; J.P. MEIER.. A marginal Jew. Rethinlcing the historical Jesus., 2 Bde., New York 1991/1994; E.P. SANDERS, Jesus and Judaism, Philadelphia 31991; G. VERMES, Jesus der Jude. Ein Histmker liest das Evangelium, Neukirchen 1993; vor dem brtl.Dn. man habe völlig Neues, wohlmöglich Revolutionares entdeckt, kann das informative Buch von: R. HEn..IGENlHAL, Der verfillschte Jesus. Eine Kritik der modernen Jesusbilder, Dannstadl1997 bewahren. 18 H. FR.ANKEMOI..LE, Art. Frörmnigkeit- Biblisch u. Judentum, LthK3 (1995) 1~168 ist es gehmgcn, nicht nur einen überaus kenntnisreichen Artikel zu schreiben, sondern auch ein Mustabcispiel fUr eine historische Darstellung obne Antijudaismus zu einem Thema zu bieten, das durchaus als belastet gelten darf. da gerade die "bessere Frömmigkeit" ein beliebtes Thema antijüdischer Polemik war.
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Formen der Frömmigkeit gab, die aber nicht so eng waren, daß sie nicht auch Raum für individuelle Entfaltung geboten hätte. So kann die fromme Verehrung Gottes sich fast ausschließlich mit dem Kultort verbinden, aber diese Anhindung ist keineswegs für ein religiöses Leben zwingend. Weiterhin kann sich die Frömmigkeit etwa auch in der Sorge um eine allumfassende Gesetzesobservanz entfalten, da dadurch der Wille Gottes, wie er im Gesetz festgelegt ist, geheiligt wird. Allerdings gibt es auch eine Frömmigkeitsform, in der diese Frage eher nachgeordnet ist und die lmitatio Dei in den Vordergrund tritt. Hier ist es insbesondere die charismatische Erfahrung, die zu einer eigenen Ausgestaltung verhilft. Nicht vorstellbar ist aber eine Frömmigkeit, die ohne Konsequenzen für das Handeln bleibt. Eine Frömmigkeit an sich, die sich auf eine reine Verfaßtheit des Frommen, gleichsam auf einen Gemütszustand beschränkt, ist der Bibel in allihren Teilen fremd. Die Frage nach der Praxis der Frömmigkeit Jesu im Rahmen seines historischen, sozialen und politischen Kontextes kann nur beantwortet werden, wenn man beides zueinander in Relation setzt. Allerdings steht man auch hier zunächst vor einem methodischen Problem. Es muß nicht eigens mehr bewiesen werden, daß das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels 19 kein festgefügtes religiöses Gebilde war, in dem eine der zahlreichen Gruppen die andere majorisieren konnte, als sei sie das offizielle bzw. normative Judentum. Selbst die priesterliche Tempelaristokratie war einerseits politisch durch ihre Bindung und Verpflichtungen an die römische Besatzungsmacht, andererseits durch ihr partielles Bündnis mit den Pharisäern nicht frei in ihren Entscheidungen und mußte zur Wahrung des status quo vielfache Kompromisse eingehen. Die Grundstruktur des Judenturns dieser Zeit, insbesondere wenn man noch die Vielfaltigkeil des Diasporajudenturns hinzunimmt, ist sektiererisch, d. h. verschiedene Gruppen konkurrierten um den Anspruch, alleinig legitim die Theorie und Praxis dessen, was Judentum ausmachte, zu bestimmen. Neben Einzelpersonen, deren Auftreten oft nur von kurzer Dauer war, existierten Splittergruppen und größere Gruppierungen, die trotz oder wegen der gemeinsamen Tradition sich einander das Recht absprachen, verbindlich zu interpretieren, was Israel sei. Die je eigene Lesart der Schriften wurde als verbindliche ausgegeben, wobei gegenüber anderen Gruppierungen nicht die theologische
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wird hier weitgehend der Analyse von S.J.D. COHEN, The significance of Yavneh: Pharisees, Rabbisand the end ofjewish sectarianism, HUCA 55 (1984) 27-53 gefolgt
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Denkfigur der Häresie, sondern die des Abfalls vom wahren Gott bzw. die des Selbstausschlusses aus Israel zum Tragen kam. Daß sich in diesem Klima eine polemisch akzentuierte Streitkultur entwickelte, bedarf keiner weiteren Begründung. Gleichwohl ist bei der Rekonstruktion der Situation der innerreligiösen Beziehungen im Judentum nicht nur von der Zergliederung auszugehen. Will man die Entwicklung nach 70 nicht als Akt der völligen Neuschöpfung und Neudefinition des Judentums behaupten, die keinerlei Kontinuität zur vorhergehenden Zeit aufweist - religionsgeschichtlich wäre das allemal ein singuläres Ereignis -, so wird man auch für die Zeit vor 70 Bezugspunkte beneMen müssen, die für alle Gruppierungen eine mehr oder weniger gemeinsame Größe darstellte, so daß alle Gruppen sich in Hinblick auf diese Gemeinsamkeit definieren mußten. Dabei ist keineswegs nur eine positive Bezugnahme gemeint. Auch eine kritisch-distanzierte Position mußte theologisch reflektiert und nach innen und außen legitimiert werden. Die Verweigerung einer Stellungnahme hätte den Rückzug von Kernfragen bedeutet und damit eine Isolation innerhalb der Gruppierungen und völlige Einflußlosigkeit bei dem an Neuerungsbewegungen weitgehend desinteressierten traditionelllebenden Judentum bedeutet. Ausdrücklich sei nochmals festgehalten, daß hier nicht einer These vom offiziellen bzw. normativen Judentum das Wort geredet wird. Aber in der Vielfalt des jüdischen Glaubens zur Zeit des Zweiten Tempels gibt es Bezugspunkte, an denen sich die Frage nach dem Selbstverständnis entscheiden konnte. Damit ist nicht gesagt, daß alle Gruppen zu einer identischen Interpretation gelangen mußten, aber es waren so zentrale von der Tradition vorgegebene Kristallisationspunkte, daß alle Gruppierungen sich um eine interpretierende Stellungnahme bemühen mußten. Diese zentralen Punkte werden in dem berühmten Spruch Pirque Aboth I ,2 genannt: Schimon der Gerechte war einer der letzten Männer der großen Synagoge; er sprach: Aufdrei Dingen steht die Welt: Aufder Weisung, auf dem Kult und auf den Liebeserweisungen. Für die hier zu verhandelnde Frage ist es nicht von Bedeutung, ob es sich um Schimon den Hohenpriester (31 0-291) oder seinen Enkel handelt (219-299, Ant Xll 2.5)~ die Reihung faßt überaus knapp die Grundprinzipien zusammen, die das Leben vor Gott ausmachen und zugleich welterhaltend sind. Die Thora, der Tempel und die Darm-
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herzigkeit, mithin die Menschlichkeit, sind, ob nun in Bejahung oder Vemeinung, Eckdaten jüdischer Frömmigkeit und jüdischen Lebens. Daß hier der Glaube nicht genannt wird, ist nicht verwunderlich, weil er Voraussetzung und Anteil zugleich an diesen "drei Säulen" ist. Wenn diese drei Aspekte das religiöse Fühlen, Denken und Leben von Juden bestimmten, dann auch das von Jesus von Nazaret. Dann sind damit auch die ihm vorgegebenen Größen benannt, an denen sich seine religiöse Praxis als jüdischer Frommer entscheiden mußte. Die Weisung Daß Thema "Jesus und das Gesetz" zählt gewiß nicht zu den exegetischen Themenkomplexen, die mit einer gewissen Ruhe angegangen werden. Vieles steht offensichtlich auf dem Spiel, auch konfessionelles Selbstverständnis, so daß die Sprache bisweilen schon die Brisanz verrät. 20 Die verschiedenen Entwürfe und Thesen haben annähernd Ausschlußcharakter. 21 Gewiß ist dieser Befund auch durch die je verschiedene Beurteilung der Thorarelevanz und Thorainterpretation im Frühjudentum zu erklären. Allerdings wird hier auch zu fragen sein, ob nicht der Gedanke, über Konflikterzählungen am ehesten zu Jesu Selbstverständnis zu gelangen22 , ausschlaggebend ist. Welches theologische Interesse darin liegen kann, Jesus von Nazaret als Gesetzesübertreter zu qualifizieren, wird je nach verschiedenen Verwendungskontexten zu klären sein. Offensichtlich ist allerdings die Prämisse dieses Gedankens: Wer Jesu vermeintliche Gesetzesbrüche meint positiv hervorheben zu müssen, für den ist bereits die Thora als Gottes Willen abgetan, zumindest was die Kultthora betrifft. Oder wäre vorstellbar, daß man ein Vergehen Jesu gegen eines der Dekaloggebote ebenso positiv bewertete wie etwa eines gegen das Sabbatgebot?23 Vgl. etwa die persuasive Sprache bei: J. BECKER. Jesus, 337-387~ die Überschrift lautet übrigens: ,)esu autoritative Verkündigung des Willens Gottes Wld die Thora", aber hier wird ein Gegensatz konstruiert, der nur zu deutlich die Absicht erkennen Jaßt. Denn wo ist in der Überlieferung dieser konstruierte Gegensatz belegbar, der ja nahelegt. der Wille Gottes sei nicht deckungsgleich mit der Thora? 21 Daher konunt dem Sammelband I. BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992 besondere Bedeutung zu, da er verschiedene Positiooen vereint tmd so den Rezipienten in die Lage versetzt, zu einem eigenen Urteil zu k~ übrigens ist er wohltuend frei von Polemik. 22 hn Hintergrund stehen die Erwägtmgen von: E. I
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Allemal wird bei der Behauptung, Jesus habe den Sabbat absiehdich gebrochen, unterstellt, daß er sein Tun als am Sabbat Verbotenes verstanden habe, wobei allerdings sogar J. Becker zugesteht: "Dabei hat Jesus nicht jeden Sabbat genutzt, um ihn zu brechen, wohl aber sich die Freiheit herausgenommen, es dann zu~ wenn es nach seiner Meinung angebracht war." 24 Ob hier nicht völlig aus dem Blick gerät, daß Jesus seine Heilungstätigkeit als von Gott geschenkte Vollmacht erlebte, die ihm ermöglichte, Menschen Heilung und Heil nahezubringen, wird man angesichts der Umschreibung der Wundertätigkeit "mit seiner heilenden Arbeit am Sabbat" 25 wohl fragen müssen. Die Wunder verkommen somit zu reinen Demonstrationswunder und der Mensch, dem der Wundertäter Jesus begegnet, ist Gegenstand einer provokativen Aktion. 26 U.U. kann der Verweis auf ganz andere Zusammenhänge im biographischen und sozialen Umfeld Jesu helfen, die Gesetzesthematik unter anderen Gesichtspunkten als denen der Konfrontation und der Übertretung wahrzunehmen. Der agrarisch-ländliche Hintergrund soll nämlich hier mitbedacht werden, wenn es um die Gesetzespraxis Jesu geht. Nach Dtn 23,26 gab es ein Armenrecht an landwirtschaftlichen Produkten, das zumindest einen gewissen Nahrungsbedarf decken konnte. Ob diese soziale Praxis in Zeiten neuer agrarischer Bedingungen beibehalten wurde, ist immerhin fraglich, da eine Bezeugung fehlt. Selbst da, wo man einen Hinweis auf diese soziale Einrichtung erwarten dürfte, findet sich kein Hinweis. Philo Alexandrinus erwähnt auffälligerweise diese Praxis nicht, obwohl er seiner Leserschaft die Armenfreundlichkeit des Gesetzes vor Augen fiihren will (spec leg ll, 104-110). Höchstwahrscheinlich wurde diese Gesetzesvorschrift in Zeiten erhöhter Steuerlast, Verkleinerung der Ackergründe und Mißernten einhatte( .. ). Man wird die Tradition also Jesus zuweisen können." (375) Ob der Autor an dieser Stelle überhaupt noch dan.un weiß, daß Jesus Jude war, muß offen bleiben Daß die ganze Behauptamg Sinn ergibt, wird man nicht sagen können. 24 Ebd., 3TI. N.b.: Hatte dieser Satz ow- irgendeine Ridltigkeit ftlr sich, dam würde er indirelct U. Luz' These stOtzen, da Jesus sich dann wohl als Zentrum seines eigeuentworfenen religiösen Kosmos verstanden und ohne ROcksiebt auf die religiöse Scheu anderer durchgesetzt hatte. 2S Ebd. 26
Zur eigenen Exegese der Sabbatperikopen bei Marlrus und ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. R l
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fach vernachlässigt. Die Lebenspraxis wirkt gleichsam auf die Thorapraxas em. Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß irgendein galiläischer oder judäischer Bauer hier größere Bedenken gehabt hätte. Jedenfalls hören wir nichts von einer Problematisierung dieses Themas. Die ökonomischen Bedingungen erforderten eben eine neue Praxis; durch das Institut der Armenfürsorge war dem Anspruch der Thora genüge getan. Er war damit eingelöst, ohne in Kollision mit den tagtäglichen Notwendigkeiten zu kommen. Die Thora als Weisung zum Leben war damit durchaus zutreffend interpretiert worden, da es hier eben auch um ganz konkrete Lebenserhaltung ging. Genau diese praxisorientierte und lebensorientierte Haltung findet sich in den Jesusworten wieder: ,,Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder seinen Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?" oder noch konkreter: "Wer unter euch, dem sein Sohn oder sein Ochse in einen Brunnen lallt, wird ihn am Sabbat nicht sogleich herausziehen?'' (Lk 13,15;14,5; vgl. Mt 12,ll)27 Hier wird ganz aus der Warte der Notwendigkeit her gedacht und geurteilt. Das Richtige zu tun, ist nicht Gegenstand einer komplizierten Diskussion, sondern ergibt sich aus dem, was als Aufgabe aufgegeben ist. Es bedarf schon eines recht kasuistischen Denkens, wenn man jemandem, der so denkt und argumentiert, unterstellt, er habe willentlich das Sabbatgebot gebrochen. Denn in den vorliegenden Worten wird die Gültigkeit keineswegs in Frage gestellt. Vielmehr wird selbstredend vorausgesetzt, daß an diesem Tag Hilfeleistung nicht erlaubt oder verboten werden muß, sondern daß auch an diesem Tag das Aufgegebene getan werden muß. Diese Annahme teilte Jesus gewiß mit denen, deren ökonomische Situation nicht so beschaffen war, daß sie darin ein Problem hätten erkennen können. 21 Für ihn und für jene stellte sich ganz offensichtlich überhaupt nicht die Frage, ob etwas Lebenerhaltendes verboten sein könnte. Die Offenlegung der Struktur des Sabbats begegnet auch in der Mk 2,27 wiedergegebene Sentenz: ,,Der Sabbat wurde um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Sabbats willen." Daß Jesus sich hier im Einklang mit anderen Lehrern befindet, ist zur Genüge bekannt. 29 27 Zur Analyse vgl. F. BovoN, Das Evangeliwn nach Lukas (EKK 3,2). Zürich 1996, 476-
479. 21
Vgl. U. Luz, Das Evangeliwn nach Matthaus (EKK I ,2), Zürich 1990, 238-239. Wie J. BECJ<ER, Jesus, 374f zur Ansicht gelangt. Mk 2, 27 sei im Vergleich mit dem Schimonben Menasja zugeschriebenen Wort (MekhEx 31,13(109b]) ,,prinzipieUer zu verstehen" 29
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Gleichwohl finden wir hier einen typischen Zug jesuanischer Gesetzesinterpretation: Es geht nicht um Gültigkeit oder Ungültigkeit, sondern um die Frage der Relationalität der Menschen zu Gott und der Menschen untereinander und um die heilsame Funktion des Gesetzes. Für Jesus ist die Thora als Thora Gottes menschenfreundlich; der Mensch und sein Heil und sein Heilsein sind die Grundlagen der jesuanischen Interpretation des Willens Gottes, wie er in der Thora begegnet. Wenn man einen weiteren Aspekt jesuanischer Thorainterpretation berücksichtigt, der sowohl bei der Sabbatfrage wie bei der Debatte um die Nichtigkeitserklärung der Ehe (Mk I 0, 1-12) begegnet, kann man das Thoraverständnis Jesu weiter präzisieren. Es ist der Rekurs auf die Schöpfung, auf das Prinzip des Anfangs. Die Aussage hat ihre autoritative Begründung3° in der kritischen Aufdeckung des eigentlich Gemeinten, das zeitlich Späteres in Frage stellt. Diese Position ist zunächst einmal als grundsätzlich konservativ zu benennen. Sie setzt ein Kriterium, das zwar an sich unüberprüfbar bleibt, aber sehr deutlich theologisch argumentiert. Sie gelangt auf diesem Weg zu einem Kriterium aus der Schrift, das auf die Schrift selbst angelegt werden kann. Freilich hat in diesem Konzept eine sehr eingehende Diskussion um bestimmte Einzelgebote oder Vorschriften keinen Platz. Es ist n.m.M. durchaus zu erwägen, ob hier nicht ein weiterer Einfluß galiläischer Tradition vorliegt. Daß der Ruf Galiläas, was die Thoraobservanz anging, nicht der beste ist, wird auch in dem Dictum Yochannan ben Zakkai 31 deutlich. Er hielt es nach einer Tradition des 3. Jahrhunderts achtzehn Jahre in Galiläa aus. Überliefert sind aus dieser Zeit vor 50 ganze zwei Rechtsentscheide zum Sabbath. Es nimmt kaum Wunder, daß der große Gelehrte angesichts des totalen Desinteresses an seiner Unterweisung feststellte: Ga/iläa, Galiläa du haßt die Thora < y Shab 15d > Nun haben nachfolgende Gelehrte, ob nun jüdische oder christliche, diese Aussage gerne als Tatsachenbeschreibung gelesen. Was sollte man auch von Bauern erwarten, die nicht einmal die Gutturale so ist mir weder in sprachlicher- was wäre denn am prinzipiellsten?- noch in argumentativer Hinsicht nachvollziehbar. 30 Ob J. BECKER. Jesus, 376, wegen der Berufimg auf die Scluift den Bezug zu Gen bestreitet, legt sich als Vennutlmg durchaus nahe, weil Jesus sich hier sehr wohl auf eine Autorität außer seiner selbst bezieht, was nicht in das Konzept der ,,autoritativen Vertrondigung" paßt. 31 Vgl. J. NEUSNER, A life of Yohanan ben Zakkai (StPB 6). Leiden 219m, DBRs., First centwy judaism in crisis. Yohanan ben Zakkai and the Renaissance oflbora, Nashville 1975.
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sprechen konnten< bEr 53b >,daß ihr Aramäisch in Jerusalem auf dem Markt verstanden werden konnte? Allerdings sollte man nicht übersehen, daß hier eine polemische Sentenz ganz aus der Warte des Sprechenden vorliegt, die, wenn sie tatsächlich auf Yohanan zurückgeht, zur Bewältigung des eigenen Mißerfolges dient. Man sollte mit einer gewissen Reserve an den Text herangehe~ denn wollte man den Text als Tatsachenbeschreibung Galiläas 32 lesen, so ergäben sich einige Fragen, die den Widerspruch markieren. Wie ist es dann zu erkläre~ daß in diesem Landstrich stärker als in Judäa die Besetzung der Heiligen Stadt durch Rom als Beleidigung Gottes verstanden wird? Warum nimmt der religiös-politische Aufstand hier seinen Anfang, wenn die Bewohner angeblich so desinteressiert waren an religiösen Fragen? Und warum gibt es doch gerade in Galiläa eine Zahl von Heilige~ die zumindest in den Augen ihrer Zeitgenossen sowohl fromm wie unkonventionell waren? Die Lösung dieses Widerspruchs dürfte relativ einfach sein: In Galiläa hatte sich eine Thorainterpretation und Thorafrömmigkeit etabliert, die so in den sozialen und religiösen Kontext eingebettet war, daß sie einer pharisäisch-protorabbinischen Interpretation nicht bedurfte und sich einer derartigen Beeinflussung gegenüber sehr widerständig zeigte. Nicht die Thora wurde in Galiläa gehaßt, sondern ihre Interpretation als überflüssig empfunden. Es spricht vieles dafür, daß auch Jesus diese Sicht der Einfachheit der Schrift vertrat. Diese trat offen zutage, wenn man sich an die Prämisse hielt, daß die Thora Gabe für den Menschen zu seinem Guten in der Schöpfung Gottes war. Daß dieseVorstellung einherging mit der Sicht Gottes als den sich um Israel Sorgenden, bedarf keiner weiteren Begründung. Diese Thorainterpretation lebt aus und im Vertrauen auf Gott, dessen Wohltaten man alltäglich erfahren und an dessen Gaben man sich stetig erfreuen kann. Die häufig verhandelte Frage, warum Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien so wenig über das Gesetz spricht, ist einfach zu beantworten: Jesus lebte aus einem vorgegebenen Thoraverständnis, das keiner Problematisierung bedurfte. Allerdings gibt es eine Problemzone, die in den Texten offensichtlich gegeben ist, aber kaum in ihnen explizit thematisiert wird: Es ist die Frage der Verunreinigung. Das Hauptinteresse richtet sich dabei zumeist auf Mk 7, 15~ ein Wort, das Markus als Aufhebung der SpeiseVgl. zu einer 156-172. 32
ersten
Information mit weitertnhrende:r Literatur: THElSSENIMERz., Jesus,
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gesetze verstanden hat. 33 Bemerkenswerter als dieses historisch nicht ganz gesicherte Wort ist zweifelsohne der permanente Zustand der Unreinheit in Folge der Heilungen und Exorzismen, die Jesus vornahm. Zunächst sei auf die Heilung Lepröser verwiesen. Der Kontakt mit ihnen versetzte bereits in eine Ausgrenzung~ ähnlich verhält es sich mit der Heilung der an Blutfluß leidenden Frau~ durch ihre Berührung war ebenfalls die Verunreinigung gegeben. Noch dramatischer war die Verunreinigung durch die Exorzismen: Jesu setzt sich durch sein Tun dem Bereich des Gott Widersetzlichen aus~ er tritt in Kontakt mit der Manifestation des Bösen und wird damit vom Bösen tangiert. 34 Hier wird man doch wohl auf das Selbstverständnis Jesu als Bote des Reiches Gottes als Ietzen Grund seines Verhaltens eingehen müssen. In seinem Tun, seinen Heilungen und Exorzismen, realisiert sich antizipatorisch die neue Wirklichkeit. Daher geht es zunächst einmal nicht um die Frage der Thoraobservanz, sondern um die, wie dieses Geschenk Gottes den Menschen nahegebracht werden kann. Die rituelle Reinigung tritt im Selbstverständnis einfach zurück. Die bereits zitierten Sprüche über das Verhalten am Sabbath gelten mutatis mutandis auch hier: Das Reich Gottes ist für die Menschen d~ deshalb ist die Frage, ob rein oder unrein, eine, die nicht ins Bewußtsein tritt. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, daß Jesus seine charismatischen Fähigkeiten als Begnadung verstand, die er nach dem Willen Gottes zum Heil und zur Heilung des Menschen gebrauchte. So verstanden, ist die Frage, ob Jesus bewußt die Unreinheit in Kauf nahm, wenig hilfreich. Denn es dürfte ihm kaum in den Sinn gekommen sein, daß das Vollbringen wunderbarer Taten in irgendeiner Weise das Gesetz brechen könnte, ihn aus der Nähe Gottes herausnehmen könnte. Das Charisma und seine Entfaltung ist nicht von Geboten oder Verboten tangiert: Es ist Entfaltung des Geschenkes Gottes und weist über sich hinaus auf das eigentliche Ziel Gottes, das Heil seiner Geschöpfe. Nach dem bisher Gesagten ruht die Thorapraxis Jesu auf Traditionen seiner galiläischen Heimat auf, die sie als Gabe Gottes zur Lebensgestaltung annahmen und sich offensichtlich an dem Prinzip der Lebensgabe als Zentrum und Kriterium der Praxis orientierten. Mit dieser Fokussierung war eine Richtschnur gegeben, nach der die Thora praktizierbar war~ Debatten über Einzelvorschriften waren offensicht33
Vgl. meine Untersuchung: Das Gesetz im Markusevangelium., in: Th. SOoiNG (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien ZlDD Markusevangeliwn (SBS 163), Stungart 1995, 119-150. 34 Vgl. R. KAMPLING, Jesus; ähnliche Überlegungen aber mit Überbewertung von Mk 7,15 bei: J. BECKER. Jesus, 373-383.
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lieh ein nachgeordnetes Problem. Ein weiterer Aspekt des jesuanischen Verständnisses war der Schöpfungsbezug, der das anfänglich von Gott Gegebene und Gewollte in Beziehung zur Thora setzen konnte. Es ist in Entsprechung zum galiläischen Erbe insbesondere das Gewordene, das zum Leben Gehörende, das von hieraus betrachtet werden kann. Letztendlich aber ist es die charismatische Vollmacht, die Jesu Verhältnis zum Gesetz bestimmt. Mit Begriffen wie Thoraübertretung oder Thoraobservanz ist dieses Verhältnis nicht erfaßbar, da man so dem Phänomen nicht gerecht wird, das Jesu Tun bestimmte. Wenn man emstnimmt, daß nach der gesamten neutestamentlichen Überlieferung es immer nur Gegner Jesu sind, die ihm mangelnden Gesetzesgehorsam vorwerfen, nie aber Jesus selbst oder seine Jünger sich dessen bekennen, wird man nur auf recht mäandernden Wegen zur Auffassung gelangen können, Jesus habe bewußt das Gesetz gebrochen. Vielmehr gilt, daß nach Jesu Selbstverständnis als Künder der Basileia tou Theou ein Gesetzesbruch gar nicht in den Blick kam, da die charismatische Fähigkeit ja Ausweis seiner unmittelbaren Nähe zu Gott war, die einen Bruch des Willen Gottes ausschloß. Was aber auch deutlich wurde, ist der Befund, daß der Gesetzespraxis Jesu nicht zu entnehmen ist, er habe diese Praxis aus eigenem Vermögen autorisiert. Vielmehr ist die Bindung an Gott stets gegenwärtig. Es gibt in der Frömmigkeit Jesu, die sich mit der Thora verbinden läßt, nicht die Selbstexplikation, sondern immer nur den steten Bezug auf Gott. Der Kult Das Verhältnis Jesu zur kultischen Frömmigkeit wird man eher als ein Nichtverhältnis beschreiben können, wenn man den Evangelien folgt. Der Tempel ist nach der neutestamentlichen Überlieferung der Ort der Lehre Jesu. Von einem Gebet oder Opfer im Tempel wissen wir nichts. Und doch ist die Tempelaktion Jesu, wahrscheinlich eine prophetische Symbolhandlung, Anlaß für seine Verhaftung und letztendlich für seine Kreuzigung. 35 Allerdings gibt diese Handlung nur dann Sinn, wenn Jesus davon überzeugt war, daß der Tempel in seiner gegenwärtigen Verfaßtheit nicht dem entsprach, was er sein sollte. Bei dieser Tempelaktion geht es um die Praxis des bestehenden Tempels. Vgl. TH. SOoiNG, Die Tempelaktion Jesu, TibZ 101 (1992) 36-64~ K.. MüLLE.R, Möglichkeit Wld VoUzug jüdischer Kapitalgerichtsbmkeit im Prozeß gegen Jesus von Nazaret. in: K. I<ERrn..oE, Der Proz.eß gegen Jesus (QD 112), Freiburg 1988, 41-83. 35
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Dabei bleibt festzustellen, daß Jesus mit seiner Kritik nicht allein stand. Die distanzierte Haltung zum Tempel und seiner Priesterschaft war fast allen innerjüdischen Gruppen gemeinsam. 36 Die Kritik richtete sich nicht nur auf das soziale Verhalten der Priesteraristokratie, auf ihr Gewinnstreben und die Vernachlässigung der einfachen Priesterschaft. Tiefergehend war die von echter religiöser Sorge getragene Frage, ob die Tempelpriester überhaupt befähigt und legitimiert waren, den Kult zu vollziehen, oder ob man ihnen nicht eigentlich jede Befähigung dafür absprechen müßte. Die Vorstellung vom Tempel als Ort der Heiligkeit und Heiligung ganz Israels und als Wohnort der Herrlichkeit Gottes wurde durch die bestehenden politisch-ökonomischen Verhältnisse permanent in Frage gestellt, so daß es zu einer Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit kommen mußte. Wenn Jesus in der Kritik am Tempel mit anderen Gruppierungen übereinstimmte, so läßt die Überlieferung allerdings nicht erkennen, daß er sich noch Hoffuung auf eine Erneuerung des bestehenden Tempels gemacht hat. Der Tempel ist dem Untergang geweiht. Mit G. Theißen ist anzunehmen, daß hier auch ein soziologisch-religiöser Konflikt zugrunde liegt, der im Zusammenprall von Land- und Stadtkultur zum Ausbruch kam. 37 Gleichwohl bleibt es erstaunlich, welch geringen Stellenwert der Tempel und sein Kult in der Jesusüberlieferung einnimmt. Auch wenn man mit einigem Zögern in der Tempelaktion Jesu einen geschichtlichen Kern vermutet - es bleiben dann immer noch zahllose Fragen zum Ablauf, den eigentlichen Gründen und den Folgen38 - , so wird man auch da kaum mehr entnehmen können, als daß Jesus den Tempel seines eigentlichen Sinnes beraubt sah. Mk 11, 17 wird geprägt von der Spannung zwischen eigentlicher Aufgabe und tatsächlichem Zustand des Tempels. Allerdings läßt der Text weder in seinem jetzigen Kontext, dem Markusevangelium, noch auf einer früheren Überlieferungsstufe erkennen, daß mit der Qualifizierung "Räuberhöhle" nicht das letzte Wort gesagt ist. Jedenfalls wird weder 36
Dieser Aspekt wird von S.J.D. CoHEN, significance, besonders betont; aus diesem Grund ist es u.a. auch wohl zu erldären. daß die Tempelzerstönmg nicht zu einem Desaster und Ende der jüdischen Religion filhrte. Fast alle hatten bereits vor der Zerstönmg eine kompensatorische Perspektive ftlr den Tempellrult entwickelt 37 Vgl. G. THEISSEN, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land. in: DERs., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989, 142-159. 38 Mk 11, 15-18.19 ist zweifelsohne so starlc überarbeitet, daß man kaum noch den eigentlichen Kern der Enahhmg herausschälen kann.
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von einer Erneuerung des Tempels, noch von einer Aufhebung des Urteils über den Tempel gesprochen. Zwar findet sich hier nicht eine so radikal ausgeführte Kritik an der Praxis des Tempels wie etwa in den PsSal, gleichwohl stellt das Urteil zweifelsohne eine Profanisierung dar. Eine Räuberhöhle kann nicht Haus Gottes sein. Wie auch immer: Über die Beziehung Jesu zum Kult und Kultheiligtum können wegen des fast völligen Schweigens der Quellen nur Vermutungen angestellt werden; daß sie nicht intensiv waren, darf als sicher gelten. In seiner Reich-Gottes-Verkündigung spielt der Tempel keine Rolle. In der Bildersprache des Reiches Gottes kommt er nicht vor. Negativ formuliert bedeutet das: Das Reich Gottes kommt nicht durch den Tempel oder vermittels des Tempelkults, sondern es wird Israel unvermittelt und auch den Tempel und seine Priesterschaft treffen. Das Reich Gottes ist unmittelbare Setzung der Wirklichkeit Gottes durch Gott selber. Wahrscheinlich fließen hier Elemente einer biographisch bedingten Distanz zum Tempel und die kultfreie Reich-Gottes-Verkündigung zusammen. Der Tempel war in das jesuanische Konzept des nahenden Gottesreiches nicht integrierbar. Er hatte offensichtlich seinen Platz als Ort der Begegnung im Angesicht der Gottesherrschaft verloren. Daß das Schweigen über den Tempel seine Begründung wohl arn ehesten in der theologischen Grundstruktur der Verkündigung Jesu findet, läßt den Schluß zu, daß die religiöse Ausrichtung Jesu des Tempels nicht bedurfte. An diesem Punkt ist tatsächlich eine Vernachlässigung eines Zentralbegriffs des Judentums zu finden. Aber nicht Jesus tritt an die Stelle des Tempels als Ort der Widerfahrnis Gottes, sondern in seinem Wirken verweist er auf das Heil der guten Herrschaft Gottes. Auch hier bleibt die Unmittelbarkeit und Souveränität Gottes gewahrt. Die Liebeserweise Beim Thema der Menschenfreundlichkeit finden sich zweifelsohne die bedeutsamsten Entsprechungen zwischen allen jüdischen Neuerungsgruppierungen, nämlich in der Sorge um den anderen die Güte Gottes erfahrbar zu machen. Daß bei Jesus diese Aufforderung mit einer fast realitätsfremden Zuversicht einherging, daß Gott schon fiir die Seinen sorgen werde, sei angemerkt. Er versteht das Miteinander offensichtlich in Analogie zu dem selbst erfahrenen Handeln Gottes. Die Barmherzigkeit Gottes ist Maßstab der menschlichen Barmherzigkeit (Lk 6,36); seine Vollendung ist Maßstab der menschlichen Vollendung (Mt 5,48). Die Imitatio Dei ist für Jesus dem Menschen zumutbar. Es ist durchaus berechtigt anzunehmen, daß Jesus hier von einer gelungenen Erfahrung
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her formuliert. Indem er Menschen zur Imitatio Dei auffordert, verweist er wiederum auf die Relationalität des Menschen zu Gott. Dadurch, daß er nachahmend handelt, erlebt der Mensch Gottes Barmherzigkeit in seinem eigenen Tun und hat so an ihr teil. Jesus eröflhet in seiner Aufforderung den Angesprochenen die Möglichkeit, sich auf Gott einzulassen. Dieses Erleben ist jedem grundsätzlich möglich. Nicht allein in Jesu Wirken in Wort und Tat läßt sich erfahren, wie Gott ist, sondern auch im eigenen Handeln am anderen. Die Menschen, denen Jesus von der Herrschaft Gottes spricht, sind nicht nur Objekte, sondern sie selbst können antizipierend diese neue Wirklichkeit tun. Jesus verweist auf die Praxis des mitmenschlichen Handeln als Ort der Erfahmis; es geht nicht um eine exklusive nur ihm zugängliche Wirklichkeit, sondern um die Öflhung eines jeden auf diese Wirklichkeit hin. Hier ist der Raum, Frömmigkeit vor Gott und den Menschen zu leben. Und der Antijudaismus? Die Anfrage von U Luz kann nicht mit diesen wenigen Ausführungen als erledigt gelten. Sie bedürfte gewiß einer viel weitergehenden Analyse. Gleichwohl dürfte es wichtig sein, welchen point of view man einnimmt, um die Frage zu beantworten. Hier wurde versucht, eine Gegenlesart zu entwerfen. Danach hat Jesus keineswegs sich in das Zentrum der Entscheidung geschoben. Vielmehr hat er, wie sich in der Beziehung zu den großen Traditionen Israels zeigen ließ, sich nicht nur selbst in einen Diskurs der Praxis gestellt, sondern dieses Offensein für Gott als allen Menschen zugänglich erwiesen, und zwar auch in diesen Traditionen. Die Zuversicht Jesu ist ganz auf Gott ausgerichtet und auf die Menschen, die gegenwärtig bereits in die Praxis der Basileia eintreten. Die Theozentrik Jesu ist es, die ihn daran hindert, sich selbst in das Zentrum seiner eigenen Verkündigung zu stellen. Zwar ist er der Mittler der Entscheidung für die Basileia, aber die Entscheidung fällt nicht für oder gegen ihn. Es ist eine Entscheidung für oder gegen die Basileia; der Primat Gottes geht an keiner Stelle seiner Botschaft verloren oder geht in ihr auf Die Souveränität Gottes bleibt unangetastet. Ein letztes: Der Struktur des Antijudaismus ist es eigen, ängstlich und besorgt um seine Vorrechte zu sein. Genau aber diese Grundhaltung ist Jesus fremd. Eher als in Jesus den möglichen Anfang des Antijudaismus zu sehen, sollte man erkennen, daß sein unendliches Gottvertrauen ein theologisch heilsamer Weg ist, aus den Verstrickungen des Antijudaismus zu entkommen.
Antijudaismus im Matthäusevangelium? Reflexionen zu einer angemessenen Auslegung HUBERT FRANKEMOLLE
1. Positionen in der Auslegung des MtEv Bekanntlich ist die Antwort auf die Titelfrage in der Literatur sehr kontrovers, mehr als zu anderen neutestamentlichen Texten. Dazu einige Stimmen, die sich beliebig vermehren ließen: Die erste, das gesamte Matthäusevangelium auslegende redaktionsgeschichtliche Studie von Wolfgang Trilling stellt die These auf: ,,Die Kirche ist das wahre Israel" mit der Konkretisierung zu 21,43: ,,Da das wahre Israel nur ein ,Volk' sein kann, muß dem anderen jeder Anspruch versagt werden"; die matthäisehe Gemeinde ist "in possessione". 1 Ich selbst arbeitete seinerzeit in meiner 1974 erstmals veröffentlichten Dissertation ebenfalls stark die Diskontinuität Israel Heiden heraus (unter der damals breit vertretenen Auffassung, daß der Verfasser des Matthäusevangeliums ein Heidenchrist sei). Gleichzeitig betonte ich die Kontinuität der mt Theologie mit der Heiligen Schrift Israels. Zum Verhältnis Israel- Kirche heißt es bei mir (vielfach zitiert): Matthäus "hat [... ] das Tischtuch mit Israel zerschnitten; man kämpft um das Erbe" 2. Analog zum Verständnis des Winzer-Gleichnisses in 21 ,3 3-46 verstand ich damals die "Selbstverfluchung" des Volkes in 27,24f als "eine von Matthäus in Szene gesetzte Ätiologie für das Ende ,Israels"' mit der Folge, daß durch diese "geschichtsbestimmende Selbstverfluchung ,Israels' [... ] es sein Privileg als Bundesvolk für immer verlor". 3 Antijüdisch nannte ich diese Theologie nicht 1 W.
TRnJ..ING, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des Mattbaus-Evangeliwns, Erfurt 1959~ München 31964, 213, 95. 2 H FRANKEMCLLE, Jahwe-Bund und Kirche Christi. Studien zur Form- und Traditionsgeschichte des •.Evangeliums" nach M.atthäus (NTA 10). MOnster 1974~ 21984, 200, 383f, 386 llDD Verfasser als Heidenchri~ zum Zitat ebd. 305( 3 H FRANKEMou.E., Jahwe-Bund, 210.354.
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vermutlich wegen der außerordentlich stark betonten Kontinuität im biblisch-frühjüdischen und im matthäisehen Glauben. Dagegen gehört der Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems in 22,7 nach Anton Vögtle zu den "Spitzenaussagen antijüdischer Polemik in neutestamentlichen Spätschriften"; sie "bezeugen den gegen Ende des Jahrhunderts vollzogenen Bruch zwischen Christentum wtd Judentum".4 Differenzierter, aber nicht weniger eindeutig äußert sich Ingo Broer: "Ob man gegen Mt den Vorwurf des Antijudaismus erheben muß, ist zunächst eine Frage der Definition dieses Begriffs. Versteht man unter Antijudaismus eine Theologie, ,in der das Leben des jüdischen Volkes in seinem Verhältnis zu Gott in der Gegenwart allein im Zeichen von Gericht und Tod (oder auch von beidem) und einer gegenwärtig nicht wirkkräftigen Verheißung interpretiert wird', so wird man Mt wohl in dieser Linie sehen müssen, weil er vor allem in 21 ,43 doch wohl das vertritt, was heute die Enterbungstheorie genannt wird. " 5 Die Thesen von Tri/fing werden noch jüngst dezidiert aufgenommen von Willibald Bösen, der ohne jegliche Differenzierung von Beginn des Evangeliums an eine Alternative Juden - Heiden sieht. Er betont: "Israel lehnt Jesus von Anfang an konsequent und mit aller Entschiedenheit ab". 6 Die Grundthese Trillings von der Verwerfung Israels bestätigt und vertieft U/rich Luz in zahlreichen Aufsätzen und in seinem gewichtigen Kommentar, auch wenn er dessen heidenchristliehen Standort (wie auch ich selbst jetzt) nicht teilt. Seine Grundthesen lauten: ,,Dieser Aufsatz ist unter der Voraussetzung geschrieben, daß Matthäus das heilsgeschichtliche Verhältnis Israels zur Kirche in einem Sukzessions-
4
A. VOGn.E, Die Dynamik des Anfangs. Leben und Fragen der jungen Kirche, Freiburg 1988, 173. 5 I. BR.OER., Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annahe:rung anband von zwei Texten (I Thess 2,14-16 \Dld Mt 27,24f), in: L. ÜBERLINNERIP. FIEDLER (Hg.), Salz der Erde- Licht der Welt Exegetische Studien zum Matthausevangelium (FS A. Vögtle). Stuttgart 1991, 321-355: 344 mit einem Zitat von P. voN DER OmiN-SACKEN, Grundzüge einer Theologie im christlich-jüdischen Gespräch. München 1982, 32; vgl. I. BROF.R. Das Verhältnis von Judentwn und Christentmn im ~Evangelium. Franz-Delit7sch-Vorlesung 1994, Münster 1995, 31-33. 6 So in dem Exkurs ,,Hat das jOdische Volk sich selbst verflucht?'' in: DERs., Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg 1994, 241-257: 250, der dafUr pladiert., ,.der mt These vom selbst- und gottverfluchten Volk Israel durch andere Texte, biblische wie nichtbibliscbe, entgegenzuwirken", vor allem durch Rom 9-11 (254 ).
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modell (21,43!) und nicht in einem Erweiterungsmodell versteht". 7 Zum Ende der Wehe-Rede in 23,34-39 heißt es: ,,Der Schluß der Rede hebt also die Unterscheidung zwischen dem Volk und seinen blinden Führern auf Ganz Israel wird zum Unheilskollektiv. Ähnlich haben wir dies schon in der Parabel-Rede [21,28-22,14: H.F.] beobachtet." 8 Als Intention der gesamten Passionsgeschichte wird von ihm behauptet, "daß für Matthäus Israel aufhört, eine Verheißung zu haben (21,43). Die Kirche tritt sein Erbe als erwähltes Volk an, sofern sie Jesu Gebote hält. [... ] Für die matthäisehe Gemeinde ist nun die Zeit der Israelmission abgeschlossen; sie wendet sich an der Stelle Israels den Heiden zu [... ]; die Zeit der Israelmission ist für das Matthäusevangelium nun definitiv vorbei. " 9 Radikaler werden die ,,eigenen antijüdischen Aussagen" des Matthäus, da er sie "im Namen des erhöhten Herrn Jesus" als ,,Menschensohn-Weltrichter" formuliert: ,,Das läßt den matthäisehen Antijudaismus, so sehr er in sektiererischer jüdischer Polemik wurzelt, grundsätzlicher und folgenreicher werden. Die Christologie macht also die matthäisehen Antijudaismen schlimmer". 10 Dabei ist es nach Luz nicht eigentlich der matthäisehe Jesus, sondern der historische, der für diesen zentralen Antijudaismus verantwortlich ist, ,,denn die Christologie selbst hat eine antijüdische Rückseite: Indem Jesus selbst als 7 U.
Luz. Das Matthäusevangelium und die Perspektive einer biblischen Theologie. JBTh 4 ( 1989) 233-248: 244 Amn. 22~ etwas differenzierter DE.Rs .• Die Jesusgeschichte des Mattbäns, Neukirchen-VIuyn 1993. 135. 8 DERs .• Jesusgeschichte. 139. Zur Kritik vgl. etwa P. FIEDLER. Das Matthausevangelium und ••die Pharisäer". in: C. MAYERua. (Hg.). Nach den ADBngen fragen (FS G. Dautzenberg). Gießen 1994. 199-218: 216 Amn. 35 mit weiterer Literatur. 9 DERs .• Der Antijudaismus im Matthausevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze. EvTh 53 (1993) 310-327: 316; zur Kritik vgl. BROER. Verblltnis. 36fmit Amn. 84. - Im Gegensatz dazu steht meine These: Die Leser des Matthlusevangeliwns können wahmelunen., daß die Jünger Jesu nicht auf die Sendung zu Israel verzichten doJfen. sondern erneut darauf verpflichtet ~ vgl. Maubaus-Kommentar 2. Dosseidorf 1997.75-85~ außerdem: G.N. STANTON. The Gospel ofMatthew And Judaism. B.J.R.L. 66 (1984) 264-284: 274-277; R. URo, Sheep Among the Wolves. A Study of the Mission lmWctions of Q. Helsinki 1987. 46; J.D.G. DuNN. The Question of Anti-Semitism in the New Testament Writings of the Period. in: DF.Rs. (Hg.). Jews and Christians. The .Parting of the Ways AD. 70 to 135 (WUNf 66). Tübingen 1992. 177-211: 208 und M l..oHMEYER., Der Apostelbegriff im Neuen Testament Eine Untersuchung auf dem Hintergrund der synoptischen Aussendungsreden (SBB 29), Stuttgart 1995, 364-394. 10 U. Luz. Antijudai.smus. 325. Zur hier behauptetm ldcotitat des Sprechers in allen Reden mit dem erhöhten Menschensohn-Weltrichter Wld zum Problem der sich erstreckenden Zeit zwischen Kap. 23 (Zerstönmg des Tempels und der Stadt JerusaJem) und dem Kommen des Weltenrichters zu Heil und Unheil Ober Juden und Nichljuden und seiner Rede in Kap. 24-25 vgl. meine Auslegl.Dlg in: Matthäus-Konunentar 2, 360432.
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Christus zur absoluten Größe wird, ist das Übel schon da. Wir kommen vielmehr mit unseren Fragen zu Jesus selbst". 11 Damit sind exemplarisch einige Stimmen zum vermeintlichen bzw. offensichtlichen Antijudaismus sowie zur Enterbungs-Theologie im Evangelium des Matthäus genannt 12, die sich -auch aus dem außerdeutschen Raum 13 - beliebig vermehren ließen. Da ein umfassender Literaturüberblick nicht Ziel dieses Beitrages ist, ihm es vielmehr um Reflexionen zu einer neuen, m.M.n. angemesseneren Auslegung des Matthäusevangeliums geht, so wie sie sich bei mir in den vergangeneo Jahren herauskristallisiert hat, 14 mögen die zitierten Stimmen genügen. Bei dieser Reflexion sollen nicht sofort die fiir diese Thematik bekannten Texte ausgelegt werden, wichtiger erscheinen mir sprachliche, historisch-religionswissenschaftliche, methodisch-hermeneutische und dann erst textliche Hinweise. Intendiert ist mit dieser gebotenen kurzen Darstellung, den Leser teilnehmen zu lassen an meinem Prozeß einer neuen Lesart des Matthäusevangeliums. Sie eignet sich hingegen weniger fur eine differenzierte detailreiche Begründung dafür, andere Lesarten- wie z.B. die oben zitierten- als unangemessen abzulehnen. 11
Ebd.• 327, womit U. Luz, ohne es zu sagen. deutlich die These von R Rt..JErnER, Nächstenliebe und Brudermord Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus, MOnehen 1978, vertritt. Vgl. auch DER.s .• Jesus der Menschensohn zwischen Juden und Christen, in: M. MARcus ua (Hg.). Israel und Kirche heute. Beitrage zmn cbristlich-jOdischen Gespracb (FS E.L. Ehrlich), Fretburg 1991, 212-223, wo es, 223, zmn Matthausevangelium heißt: ,,Die Keimzelle dieser Theologie liegt m.E. bei Jesus selbst". Damit sieht U. Luz ,)esu Botschaft der Liebe Gottes" in aaJSSCbließlichem Widenpruch zu seiner Gerichts-Predigt Eine solche These ist angesichts der prophetischen Botschaft der Bibel und dem genuinen Stellenwert von Gerichtsworten in der Verlcondigung Jesu unhaltbar. 12 Zu weiteren Stinunen vgl. M. GJF.LEN, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthaischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998, 467-473~ sie beantwortet die Leitfrage ihrer Untersuchung. ob das Mattbausevangeliumals ein Zeugnis urchristlichen Antijudaismus zu gelten hat. eindeutig negativ (vgl. ebd. 473). 13 Vgl. z.B. S. SANDMEL, Anti-Semitism in the New Testament?, Philadelphia 1978, 49-70~ B. PRzYBYLSKI. The Settingof Matthean Anti-Judaism, in: P. R.ICHARDSON u.a. (Hg.). AntiJudaism in Early Cluistianity I, Waterloo 1986, 181-200, S. fREYNE, Vilifying the Otber and Defining the Self Matthew's and John's Anti-Jewish Polemic in Focus, in: J. NEUSNERJE.S. FRERICHS (Hg.), To See Ourselves As Others See Us. Christians, Jews, ,.Others" in Late Antiquity, Chicago 1985, 117-143~ zu allgemeinen Übelblicken vgl. J.G. GAGER, The Origins of Anti-Semitism: Attitudes Toward Judaism in Pagan and Christiall Antiquity, Oxford/New Yorlc 1983~ J.N. SEVENSTER. The Roots of Pagan Anti-Semistism in the Ancient World (NT 41). Leiden 1975. 14 Zur Begründtmg vgl. meinen Sammelband: Jodische Wurzeln christlicher Theologie. Studien zum biblischen Kontext neutestamentlicher Texte (BBB 116). Bodenheim 1998.
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Denn ich bin immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß es "die" "richtige" Auslegung nicht gibt, sondern durchaus mehr oder weniger zahlreiche angemessene - gemäß dem Grundsatz von Umberto &o: "Auch ein ,offener' Text ist doch immer ein Text, und ein Text kann zwar unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt aber nicht jede beliebige Interpretation." 15 Ich halte auch das Matthäusevangelium für einen solchen "offenen" Text, so daß es unter dieser Perspektive auf die Beantwortung der Frage ankommt: "Wie sehen die Strukturen aus, die die Verarbeitung der Texte im Rezipienten lenken?'" 6 Als weitere zwei "basale Probleme" nennt /ser: "Was ist die Funktion literarischer Texte in ihrem Kontext?" und: "Wie werden die Texte aufgenommen?'m- von den je unterschiedlichen Lesern mit ihren sehr verschiedenen Interessen. Das heißt: Der Lese- und Auslegungsvorgang wird von mir im Rahmen von Rezeptionstheorien als ein elementar interaktional zu verstehender Vorgang begriffen, der sich weder theoretisch, noch bei der konkreten Auslegung genau beschreiben läßt. Eine reine "Rezeptionsästhetik" wäre zu erweitern im Hinblick auf die Voraussetzungen zur konkreten Rezeption verschiedener Leser gemäß dem alten, bereits von Thomas von Aquin rezipierten Axiom: "Quidquid recipitur, secundum modum recipientis recipitur" (De veritate 12,6, ad 4). Eine solche Textbetrachtung, deren Notwendigkeit durch die jahrhundertelange antijudaistische Rezeption bekannter Stellen aus dem Matthäusevangelium bestätigt wird, "wird sich auf eine Soziologie und Psychologie des Lesers einlassen müssen. Rezeptionsforschung wird sich spätestens an diesem Punkt aber auch fragen müssen, wie weit sie das Problem, wer warum wie versteht, verantwortbar als ein literaturwissenschaftliches behandeln kann und wo sie es an eine kontrollierte Interdisziplinarität abgeben muß. Die bisherige Forschung weist hier noch empfindliche Lücken auf." 18 Letzteres kann hier nicht geleistet werden~ es sollen lediglich 15 U.
Eco, Die Grenzen der Interpretation, Monehen 1992, 144. W. 1sER., Der Akt des Lesens, Monehen 31990, IV. 17 Ebd. 18 So zu Recht R. WARNING (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie Wld Praxis, München 21979, 25~ vgl. auch W. lsER, Prospecting. From Reader Response to Literary Anthropo1ogy, Baltimore/London 1989, bes. 197-284. Gute theoretische Elklarungsmodele bietet die kognitivstrulcturelle Entwickl~hologie ~ zu einer lesenswerten Einfilhrung und zur Anwendung auf neutestamentliche WWldergeschichten vgl. H. BEE-&HROEDTER. Neutestamentliche W\Uldergeschichten im Spiegel vergaogener und gegenwärtiger Rezeptionen Historisch-ecegetis:he und empirisclM:ntwicklungspsycbologische Studien (SBB 39), Stuttgart 1998~ vgl. auch ihren Beitrag in diesem Sanunelband. 16
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einige textliche und historische Hinweise fiir mein eigenes Vorverständnis angedeutet werden.
2. Zur babylonischen Sprachverwirrung bei ,,Antijudaismus" Der Begriff Antijudaismus ist ein semantisches Polysem: Wie vieldeutig er verwendet wird, bestätigen nicht nur die Veröffentlichungen zum Neuen Testament, sondern auch entsprechende Lexika-Artikel bis in die neueste Zeit hinein. 19 Da es eine Grunderkenntnis der modernen Linguistik, speziell der Semantik ist, daß Begriffe nur einen relativen Eigenwert haben (nur das platonisch-idealistische Modell ging von invariablen und überzeitlichen Inhalten aus), sie primär innertextlich abhängig sind vom Kontext und außertextlich von der Verwendung der Begriffe im jeweiligen Sprachvollzug mit seinen unterschiedlichen sprachlichen, sozialen, politischen und psychosozialen Voraussetzungen, 20 sollte jeder Exeget, der den Begriff "Antisemitismus" bzw. "Antijudaismus" verwendet, erklären, wie er ihn versteht. Hinsichtlich des Begriffes "Antisemitismus" gilt es zu beachten, daß er durch die Veröffentlichungen von J.A. Gobineau (1853/54) und von W Marr (1879) eine deutlich ethnisch-rassistische semantische Struktur hat. Für Neutestamentler sollte er deshalb m.M.n. obsolet sein, auch wenn es in Ansätzen einen solchen Antisemitismus in der Antike durchaus gegeben hat - analog zum Antipaganismus jüdischer und christlicher Autoren. 21 19 Auch
der Austausch der Begriffe ,,Antisemitismus" Wld ,,Antijudaismus" bestatigt diese Mehrdeutigkeit Vgl. etwa N.R.M. DE LANGEIC. THOMA u.a., Antisemitismus, TRE 3 ( 1978 = 1993) 113-16~ M. WEINRJCH, Antisemitismus, NHibG I e1991~ 11984) 32-50~ l BROER. Antijudaismus, NBL 1 ( 1991) 113-115~ G. DAUTZENBERGIR. KAMPLJNGIE. WEINZIERL. Antijudaismus, Antisemitismus, LThK 1 et993) 748-754. 20 Zur BegnmdWl8 vgl. S.J. ScHMIDT, Bedeutung und Begriff. Zur Fundierung einer sprachphilosophischen Semantik, Braunschweig 196~ E.W. ScHNEIDER. VariabiliW. Polysemie und Unschärfe der Wortbedeutung. Bd. I: Theoretische und methodische Grundlagen, TUbingen 1988 und in linguistischen Wörterbüchern die Artikel zu den Begriffen ,,Bedeutung", ,,Bezeichn\Dl8", ,,Sinn". 21 Vgl. etwa M STERN, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism 1-lll. Jerusalem 1976-1984~ J.N. SEVENSTER. Roots~ J.G. GAGER, Ori~ zmn Antipaganismus vgl. G. STEMBERGER. Die Beurteilung Roms in der rabbinischen Literatur, ANRW ll. 19,2 (1979) 338-396~ C. COLPE, Fonneo der Intoleranz. Altkirchliche Autoren und ihre antipagane Polemik. in: R. I
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Betont man diese sprachliche Differenzierung, ist jedoch zugleich die Kontinuität des antijüdischen Vorurteils im (theologischen) Antijudaismus und (rassischen) Antisemitismus bewußt wahrzunehmen22 und jeder V ersuch abzulehnen, aufgrund dieser sprachlichen Differenzierung die direkte oder indirekte Mitverantwortung und Schuld der christlichen Kirchen für die mörderische Barbarei des Nationalismus zu leugnen oder zu verwischen. 23 Dies bedenkend, möchte ich dennoch an der qualitativen Unterscheidung zwischen "Antisemitismus" und "Antijudaismus" festhalten. Denn es gilt: Unter Beachtung der Pauschalierungen und Generalisierungen, die notwendigerweise mit Religionen. Berlin 1996. 87-123; P. &HAFER. .)udeophobia". Attitudes toward the Jews in the Ancient World, Cambridge 1997; Z. YAvrrrz., Judenfeindschaft in der Antike. Monehen 1997. 22 So zu Recht M. WEINRICH, Antisemitismus 32( G. THEISSEN, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments. in: E. BLUM u.a. (Hg.). Die hebrlische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R Rendtodl). Neukirchen-Vluyn 1990. 535-553: 535( zur Begtilndung. daß die neuzeitliche Judenfeindschaft ihre Wmzeln in religiösen Überzeugungen hat. nahedUn in der traditiooellen theologischen Ablehnung des Judentums durch das Christentum. vgl. aus histOOscher Perspektive J.H. ScooEPs. Die Flucht in den Haß. Vom Antijudaismus zwn Antisemitismus. in: OHRs .• Deutsch-jOdiscbe Symbiose oder: Die mißglückte Emanzipation. Bodenheim 1996. 149-167; zum Begri.ffvgl. DHRs./J. ScHLoR (Hg.), Antisemitismus. Vonuteile Wld Mythen. München 1995; L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ (Hg.). Christlicher Antijudaismus Wld Antisemitismus, Frankfurt 1994. Zm historischen BegrQndtmg vgl. zuletzt Chr. MüNZ, ,J ... ) daß wir Christen sind... Ober die Geburt des Antisemitismus aus dem Geist des Christentums, Tribüne 141 ( 1997) 141-1 56; ausruhrlieber R lin.BERG, Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. I, Frankfurt 1990. 23 Dieser Vorwurf kann dem vatikanischen Dolcwnent der Koounission fUr die religiösen Bezidumgen zum Judentwn "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah" (mit einer vorlAufigen übersetzungveröffentlicht von KNA. Dolcwnentation vom 17.3.98) vom 16. .Marz 1998 mit einem Begleitschreiben von Papst Johannes Paul n. nicht erspart bleiben. Das Eingestandnis christlicher Mitschuld auch der ,,Kircbe als solcher und ihrer Amtstraget' fehlt Hinsichtlich dieses Verdrängens und Vergesseos erscheint es mir angemessen zu sein. dieses Verbalten mit dem Buchtitel von RALm GIORDANO ,,Die zweite Schuld"', Harnburg 1987, ll1 benennen. Ganz anders Papst Johannes Paut n. bei seiner Ansprache an den Zentralrat der Juden in Deutschland am 17.11.1980 in Mainz, der eine ,,Berichtigung einer falschen religiösen Sicht des Judenvolkes" durch die katholische Kirche postulierte, "welche die Verkennungen Wld Verfolgungen im Lauf der Geschichte zwn Teil mitverursochte" (zwn Zitat R. RENDroRFFIH.H. HENRix (Hg.), Die Kirche und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, Paderbom 1988, 75~ dort nicht kursiv). Hinzuweisen ist auch auf das "Wort der deutseben Bischöfe aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung des VernichtungslagersAuschwitz am 27. Januar 1995", in dem es heißt, daß "Versagen und Schuld der damaligen Zeit (... )auch eine kirchliche Dimension (... ) haben" und daß "die praktische Redlichkeit" christlichen Ecneuerungswillens ,,auch an dem Eingestandnis dieser Schuld und an der Bereitschaft. aus dieser Schuldgeschichte unseres Landes und auch \DlSCrel" Kirche schmerzlich m lernen", hänge. Jeder Leser wird feststellen, wie deutlich die neue vatikanische Elklarung über die Shoah abOOll
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Kollektivbegriffen, gekennzeichnet durch die Endsilben wie -mus oder -turn, einhergehen, erscheint mir die Umschreibung von James Parkes für "Antisemitismus" durchaus angemessen zu sein: "Was ihn von sonstigen Gruppenvorurteilen [... ]unterscheidet, ist, daß normalerweise ein Gruppenvorurteil mit zeitgenössischen Phänomenen, also mit wirklichen Geschehnissen, zusammenhängt, der Antisemitismus dagegen fast gar keine Beziehung zur tatsächlichen Umwelt hat, sondern aus einem Gewebe der Phantasie erwächst, das fortwährend durch weitere Fäden verstärkt wird. " 24 Analog möchte ich zu "Antijudaismus" formulieren: Auch bei diesem Begriff assoziiere ich eine globale, pauschalierende und totale Ablehnung aufgrund irrationaler und emotionaler Elemente, die auf Abgrenzung und Diffamierung zielen, ohne daß man konkret Juden kennt. Auch der Präposition "anti/gegen" ist diese semantische Nuance zu eigen und deshalb sowohl beim Begriff "Antijudaismus" wie "Antisemitismus" in ihrer Umschreibung berechtigt anzutreffen (vgl. Antichrist, Antikommunismus, Antithese, antideutsch, antirömisch usw.). Im Hinblick auf das Neue Testament gilt es weiter zu differenzieren, da man von ,,Christentum" und "Judentum" noch nicht sprechen kann. Gegen die Verwendung dieser, für die obigen semantischen Umschreibungen von "Antisemitismus" und "Antijudaismus" kennzeichnende pauschale Ablehnung einer Religion bzw. deren Mitglieder sind zwei Gründe anzuführen: Zum einen ist für die Entstehungszeit der neutestamentlichen Texte im l.Jh. von der Vielfalt jüdischer und christlicher religiöser Richtungen und Glaubensüberzeugungen auszugehen, die zum anderen eine je unterschiedliche Nähe bzw. Feme zu den anderen Gruppierungen impliziert. Inneljüdische Kritik, wie sie die Propheten Amos, Hosea usw. sowie Johannes der Täufer und Jesus formuliert haben, mag sie auch noch so polemisch sein, vermag ich nicht mit dem Begriff "Antijudaismus" zu verbinden. Täte man dies, "wäre es bei der weitgehenden Definition des Begriffes möglich, Antijudaismus als typisches Kennzeichen des Frühjudentums zu benennen", da man "bei fast jeder Gruppierung im Frühjudentum die Selbsteinschätzung finden kann, daß die jeweilige Gruppe allein den Willen Gottes kennt und sein Gesetz erfüllt, so daß den übrigen Juden nur die Bekehrung oder das sichere Gericht bleibt. [... ] Faßt man den Begriff so
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J. PARKES, Antisemitismus, München 1964, 94.
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umfassend, wird er zugleich zu allgemein, um überhaupt noch zur Kennzeichnung historischer Sachverhalte herangezogen zu werden. " 25 Aus all dem ergibt sich: Aus linguistischen, aber konkret auch aus sprachgeschichtlichen Gründen plädiere ich dafiir, den Begriff "Antisemitismus" generell, ebenso aber auch den Begriff "Antijudaismus" fiir die Sprechakte neutestamentlicher Theologen nicht zu verwenden, da sie selbst als "Arbeitsbegriffe" unbewußt, ohne daß Autoren und Leser es merken, frühkirchliche, mittelalterliche und moderne Assoziationen des kirchlichen Judenhasses bis hin zu seiner mindestens indirekten Mitverantwortung für die Shoah freisetzen. Begriffe wie "innerjüdische Kritik" bzw. "innerjüdische Polemik" gegen andere religiöse Gruppen oder deren Repräsentanten im Kontext einer durchaus üblichen innerjüdischen Streitkultur erscheinen mir angemessener selbst bei Worten, die sich aufgrund traditionsgeschichtlicher Topoi an ganz "Israel" richten (was im Matthäusevangelium nicht der Fall sein . e: s.u..) 26 dürft Kurzum: Wie historisch vorgegebene Texte historisch auszulegen sind, so sind auch Begriffe wie "Antijudaismus" aus der konkreten Sprechsituation, nicht jedoch aus der Rezeption und möglichen VerR. KAMPLING, Israel \Dlter dem Anspruch des Messias. Studien zur l.sraeltbematilc im Marlrusevangelium (SBB 25), Stuttgart 1992, 223~ vgl. ebd., 17-24, 221-228~ DHR.s., Antijudaismus von Anfang an?, rhs 40 (1997) 110-120: 112-114. R. KAMPuNo bevorzugt ebd., 113 eine Umschreibung rur ,,Antijudaismus" von G.I. l..ANoMuJR, Toward a Definition of Antisemitism, Belteley 1990, 57: ,,Antijudaismus (ist) eine gänzliche oder teilweise Opposition gegen das Judentum - und gegen Juden als dessen Allhanger - von Menschen, die ein konkw"rierendes System von Glaubensinhalten und Praktiken haben und (daher) bestinunte genuine jüdische Glaubensinhalte und Praktiken als minderwertig erachten (... ) Der christliche Antijudaismus war der intensivste wegen des engen Abhangigkeitsverhllltnisses des Christentums vom Judentum." Diese ,,Definition" erscheint mir als zu weit, wie die Folgenmg von R. KAMPUNO andeuten mag: ,,Ausgehend von dieser Definition wird man feststellen mflssen, daß im Neuen Testament zumindest eine Vorform des christlichen Antijudaismus gegeben ist" ( 113 ), was aber wie folgt eingeschrlnkt wird: ,,Allentings handelt es sich gewiß noch nicht um ein ausgeprägtes System, zu dan der Antijudaismus im dritten und vierten Jahrhundert g~ schrieben worden ist" (114). Ober "Vorformen" und ,,Anßlnge" läßt sich treftlich streiten. Außerdem: Hier wird zu objektivierend formuliert, so als w1re ein neutestamentlieber Text ,,an sich" antijOdisch, als käme es nicht darauf an, wer ihn - mit welchem Vorurteil- liest s.o. zur weiteren Begr\lndwlg. 26 Selbst im Johannesevangeliwn mit der bekannten globalen, negativ konnotierten Wendung "die Juden" ist von einer Differeozies\Dlg auszugehen, da es auch positive Figuren und Aussagen gi~ vgl. K. WENGST, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch uber das Johannesevangelium, MOnehen 4 1992, 128-152~ hermeneutisch retlelctiert diese textimmanente Relativier\Dlg auch G. THEISSEN, Aporien. 540-542: S41fZ\Ull Jobannesevangelium. 25
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zweckung in späterer Zeit zu interpretieren. So Wlbestritten es z.B. im Hinblick auf Mt 27,25, den Blutsruf des ,,ganzen Volkes", ist, daß sich dieser Vers ,,zu einem klassischen Schriftbeweis im Rahmen des antiken christlichen Antijudaismus [... ] entwickelte" und daß sich ,,gerade an dieser Stelle [... ] sich immer wieder die theologisch motivierte christliche Judengegnerschaft Wld ein Antisemitismus [... ] entzündete [... ], der religiöse Argumente als bequemen Vorwand benutzte"27, eine solche Rezeptions- Wld Auslegungsgeschichte kann über den Sinn des Wortlautes im Matthäusevangelium nicht entscheiden. Kann man doch feststellen, daß in der antijüdischen Geschichte des Christentums ,,annähernd jeder Text des Neuen Testaments Wlter antijudaistischen Vorzeichen gelesen wurde bzw. im Laufe einer sich entwickelnden Tradition mit entsprechenden Topoi verbunden werden konnte." 28 Hier ist klar zu sehen: Die in nachneutestamentlicher Zeit, vor allem seit dem 4.Jh. konsequente antijudaistische Lektüre neutestamentlicher Texte und der Zusammenhang von Schrift und Antijudaismus ist ,,nicht die Geschichte der WirkWlg der Texte, sondern primär die Geschichte ihrer Rezeption, d. h. wie sie von den Exegeten ausgelegt, in welchen Zusammenhängen sie benutzt [... ] wurden. " 29 27 Das
erste Zitat stanunt von R. I
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Was hier zur Verzweckung neutestamentlicher Texte für den nachneutestamentlichen Antijudaismus angedeutet wurde, gilt selbstverständlich auch für deren Auslegung nach der Shoah. Die Ausrottung fast des gesamten europäischen Judentums kann und sollte Exegeten hermeneutisch sensibler machen für bzw. gegen die jahrhundertelange antijudaistische Auslegung auch von Texten aus dem Matthäusevangelium, ohne sie durch "Auschwitz" aufgrunddes schlechten Gewissens projüdisch determinieren zu lassen. Aneignung biblischer Texte sollte deutlich von deren Auslegung unterschieden werden, so daß es für mich als Exegeten nicht darauf ankommt, "mich mit ,meinen' kommentierten Texten zu identifizieren"30, sondern möglichst jene Strukturen im Text offenzulegen, "die die Verarbeitung der Texte im Rezipienten lenken" ( W Jser). Dabei gilt es selbstkritisch anzumerken, daß diese Wahrnehmung trotz aller methodischen Reflexion selbstverständlich wiederum auch von den je unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen des Auslegers als Leser abhängig ist. 31 Auch der historisch-kritisch arbeitende Exeget, dem der Text historisch aus einer fernen Vergangenheit vorgegeben ist, kann nicht ohne Vorverständnis und ohne Interesse Anwalt des historisch fremden Textes sein. Keineswegs kann er denwie vielfach formuliert wird - "ursprünglichen Textsinn" "an sich" erfassen, da seine Wahrnehmung nie losgelöst von seiner eigenen Person, konkret seiner je eigenen Perspektivität, seiner eigenen Motivation und seinen eigenen Lebenskontexten erfolgt. Dieses ist nüchtern als nicht willentlich beeinflußbare Gegebenheit zu akzeptieren und entsprechend bei der Auslegung von Texten zu reflektieren. Die Artikulation dieser hermeneutischen "Brüchigkeit" vermisse ich in der Regel in der wissenschaftlichen Literatur. 32 Mein Anliegen bei der als der Geschichte gewordene Prozeß inuner wieder neuer lmd inuner wieder anderer Lesungen." Hier wird zwar ,.Wirlcungsgeschichte" starleer leserorientiert als in Bd L 78-82 wnschrieben. gerade dadurch aber wird der Begriff so allgemein. daß er nicht mehr das angibt. was er meint. 30 So U. Luz. Matthäus In. vn. \Wbei ihm dies bei der Webe-Rede von Kap. 23 "oft nicht leicht fiel". Ich vennag dies gar nicht, da meine Situation als Christ lmd das Verblltnis meiner Kirche bzw. des Christenb.Dns zwn Judentum mit der des Matthausevaogeliwns nicht zu vergleichen ist. 31 Zum Ausleger als Leser vgl. H. FRANKEMCLL.E, Matthaus-Konunentar I, Dosseidorf 1994, 34-76, bes. 42ffund die dort genannte Literatm. 32 So trennt D. SANGER., Die Verkondigung des Gekreuzigten und Israel. Studien zmn Verhältnis von Kirche und Israel bei Paulus lmd im frühen Christentum (WUNT 75), Tobingen 1994, durchgehend Autor und Rezeption (vgl. etwa 3f, 8-13~ nach ihm gibt es einen "vm allen möglichen spateren Auslegungen unabhangigen Textsinn'~ der Exeget bat das ,,sich in" den Texten "verbergende Sinnpotential" zu erbeben). Älmlich M Gml.EN, Kmflikt, ~
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Lektüre des Matthäusevangeliums war es, soweit wie möglich alle die Rezeption der ersten Leser instrumentierenden Lenkungen durch den Text dem heutigen Leser bewußt zu machen. Auch wenn ich diese Leserlenkungen, wie ich sie wahrnehme, nicht mit der Autorintention identifiziere, verstehe ich meinen Ansatz streng textorientiert. Ist man sich dieser interaktionalen Eigenart auch wissenschaftlicher Textwahrnehmung jedoch bewußt, lassen sich für mich daraus einige wichtige Erkenntnisse ableiten, die lediglich stichwortartig benannt seien, da sie andernorts ausführlich begründet wurden.
3. Zur Funktion neutestamentlicher Texte im historischen Kontext 3. 1 Gegenstand der biblischen Exegese sind Texte, entstanden in einmaligen historischen Situationen, die als Elemente einer Kommunikation etwas bewirken wollten. Daher sind sie umfassend als kommunikative Sprachhandlungen, als Texte-in-Situation und als Texte-inFunktion zu interpretieren. 33 Ich verstehe das Matthäusevangelium als innerjüdische Auseinandersetzung- geschrieben in der Zeit nach 70, da die Tempelzerstörung (vgl. 22,7; 24,2) bereits Vergangenheit ist und gemäß jüdischen Topoi in Aufnahme des Modells vom gewaltsamen Geschick der Propheten als Strafe gedeutet wird. 34 Im Kontext der innerjüdischen Abgrenzung zwischen der matthäisehen Gemeinde und der nach 70 erstarkenden, sich normativ verstehenden pharisäischen
meinem Matthäus-Konunentar wirft sie vor, ,,nicht beim Text tmd der in ilun begegnenden Intention des Autors.. anzusetzen, sondern zu versuchen. "die Emlhlung aus der Perspelctive der Erstadressaten zu rczipic:n::n und zu erldaren.. (ebd. 14), so als ob dies GegensAtze sind 1.Dld die Autorintention objektiv im Text vorgegeben sei. 33 Zu meiner Begründung vgl. H f'RANKEMOu.E, Biblische Handlungsanweisuogen. Beispiele pragmatischer Exegese, Mainz 1983, mit Textbeispielen aus dem Matthausevangeli~ I. Petrusbrief 2. PetJUsbrief Judasbrief(NFB 18.20). WOIZburg 1987, 2199&, Der Brief des Jakobus 1-ll (ÖTK 17/1-2). Goterslob/Würzbm"g 1994. 34 Zur BegrQndung vgl. H.J. ScHoEPs, Die Tc:mpelzeBtOruog des Jahres 70 in der jOdischen Religionsgeschichte, in: DER.s., Aus frühchristlieber Zeit, Tobingen 1950, 144-183~ S. LAuERIH.P. ERNsT (Hg.). Tempellrult und TempelzerstOrung (70 n. Chr.) (FS C. Thoma) (JudChr 15). Frankfurt 1995, bes. 167-176 (P. DsaruLNJoo). 207-212 (J. NEusNBRIC. THOMA), 247-255 (J. MAlER~ H.M OOPP, Die Deutung der Zerstönmg Jerusalems tmd des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n. Chr. (TANZ 24), Tübingen/Basel 1998.
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Synagoge kann eine solche Deutung nicht als "antijudaistisch" charakterisiert werden. 3s 3.2 Literarische Stilformen und Gattungen im Matthäusevangelium sind insgesamt aus dem damaligen jüdischen Kontext zu interpretieren, mögen sie in unseren Augen - etwa im Hinblick auf die Pharisäer und Sadduzäer in der Wehe-Rede in Kap. 23- auch verzerrend, destruktiv, pauschalierend und maßlos polemisch erscheinen. In der jüdischen Literatur lassen sich viele ähnliche Beispiele finden, Texte, verfaßt von Theologen gegen religiöse Gruppen sowie zwischen Gruppen, die grundsätzlich auf derselben Ebene stehen. 36 Was für uns "antijudaistisch" klingt (vgl. Jes 56,10f~ 57,4-9~ lQS 1,10fu.a), ist- historisch betrachtet - als innerjüdische Polemik zu werten. Solche Texte sind einer Funktionsanalyse zu unterziehen, d.h. es ist nach ihrer handlungsorientierten Wirkabsicht zu fragen. Unterstellt man ihnen diese, so liegt es nahe, sie - analog zu den Worten über das Gericht durch Gott oder den Menschensohn - nicht als lediglich konstatierende Beschreibungen eines Ist-Zustandes zu werten, sondern sie als dringenden Appell für ein bestimmtes sittliches Handeln zu interpretieren. So sind polemische Formulierungen bei einem solchen Verständnis paränetisch, als Warnung vor einem unerwünschten zukünftigen Zustand zu verstehen, entsprungen einer starken Motivation, die Leser zur Besinnung und zu einer neuen Identität zu bewegen. 37 Aus der linguistischen Literatur ist die Unterscheidung zwischen "informativen" und "performativen" Aussagen zu übernehmen, denn die Nichtbeachtung dieser Unterscheidung hat in der Geschichte der Kirche fatale Folgen für die entsprechenden Menschen gehabt, nicht zuletzt für Juden. (So sind Sätze wie Mt 7,14~ 22,14 und andere Gerichts-Worte nicht als Information zu lesen.) 3. 3 Das hellenistische Judentum und seine Literatur ist lebensgeschichtlicher Kontext für Matthäus und die übrigen neutestamentlichen Theologen. Diesen Aspekt gilt es vor allem deswegen zu betonen, weil deren Ausblendung verheerende Folgen für die Verhältnisbestimmung JS Zw- weiteren eigenen Begrundlmg der konkreten Situation der matthai.schen Gemeinde aus dem Jahre 1982 vgl. H. fRANKF.MOu...E. Handlungsanweisungen. 209-217. 36 Zu Beispielen innerjüdischer Fremd- und Selbstkritik, die fbr Mt 23 signifikant ist. vgl. H. FRANKEMOLLE, Handlungsanweisungen, 147-153~ BROOR., Antijudaismus, 347-350~ DER.s.• Verhältnis, 27-31; C. THOMA, Judenhaß: Schicksal fbr Völker uod Religionen, in: DE.Rs., Das Messiasprojekt 1beo1ogie JodisciKhristlicher Begegnung. Augsburg 1994. 175-217, bes. 196ff 37 Zu einer Funktionsanalyse der bibliscben Endzeitau~ vgl. K.. F.lu.F.MANN, Endzeiterwartungen im fi1lhen Christentum. Tobingen/Base1 1996, 103-134.
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des hellenistischen Judentums zum hellenistischen Christentum Wld umgekehrt hat: In einem solchen Mangel an religionsgeschichtlichem Bewußtsein sehe ich letztlich die Ursache für die im Kontext der Christologie bekannte These vom "Antijudaismus" als "linke Hand der Christologie"38 . Wenn die Christologie "immer die Kehrseite des Antisemitismus" war, dann ließe sich, wenn diese These zuträfe, nicht nur nach Auschwitz, sondern überhaupt keine Christologie treiben, ohne als christlicher Theologe automatisch antijudaistisch zu sein. Hier gilt es, das hellenistische Judentum in seiner Brückenfunktion zum heUenistischen Christentum zu sehen und deutlich zu betonen, daß das hellenistische Judentum mit seinem differenzierten Gottesbild und mit seinem Glauben an die Hinneigung Gottes zur Welt in verschiedenen Wirkweisen (middot, Hypostasen) für Juden keineswegs "wesensfremd" war. 39 Gegen solche Ausblendungen jüdischer Theo-logie, die eine fundamentale Voraussetzung für neutestamentliche Christologjen (also auch für die im Matthäusevangelium40) darstellt, ist etwa mit dem jüdischen Religionswissenschaftler David Flusser zu betonen: "Jesu Lehre war jüdisch, Wld das gleiche gilt für die Christologie und alle ihre Bestandteile.''41 Durch das Bewußtsein dieser gemeinsamen Wurzeln sind Christen zwar nicht gegen "Antijudaismus" gefeit, könnten aber zu einem angemesseneren Selbstverständnis kommen, das nicht auf Kosten jüdischen Selbstverständnisses formuliert wird. 38
R.R. RUErnER. Nlchstenliebe, 229. So E. DREwERMANN, Publik.-Fonun vom 21.11.1997, 31. Ausgeblendet bzw. starlc tmterbewertet werden heUeni~ Denkkategorien auch in dem an sich verdienstvoUen Buch von H. KONG, Das Judentum, München 1991, der vierlumdert Jahre heUenistisch gepragte jüdische Glaubenserfahrungen wie folgt charakterisiert ,,Aber all diese Bemühungen blieben letztlich Episode" ( 155). Damit wird also das pharisäisclHJonve Judentum, das nach 70 überlebte, letztlieb zum religionswissenschafteben Maßstab in Glaubensfragen gemacht Sein dezidierter Ansatz bei einer Christologie "von wten" (vgl. ebd. 427ft) dürfte hier seine Begründung haben. - Gänzlich ausgeblendet werden die heUenistisch-jodischen Wurzeln der Christologie auch in dem umfangreichen Werk von A. Gluu..MEJER. Jesus der Ctuistus im Glauben der Kirche. Bd. 1: Von der Apostolischen Zeit bis zmn Konzil von Chalcedon (451), Freiburg 1979, bes. 79f, 128; vgl. DERs., Fragmente zur Christologie. Studien zum altkirchlichen Christusbild, hg. v. Th. HAnmw.P.R., Freiburg 1997, 81-111; auch hier werden die Begriffe "biblisch-jüdisch" tmd ,,heUenistisch" als strikte Gegensalze verstanden Wld HeUenisierung wird so erst rur die nachneuteslamentliche christliche Theologie reserviert Dies ist sprachgeschichtlich und glaubensgeschiehtlieb schlicht falsch. 40 Z.W. Begründung vgl. H FRANKF.MOLLE, Wurzeln, vor allem die Beiträge Nr. 24 und 14-15. 41 0. FLUSSER., Das Schisma zwischen Judentum und Christentum, EvTh 40 (1980) 214239:216. 39
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3.4 Die primäre Funktion des Matthäusevangeliums- m.E. angemessen als Element einer Kommunikation zwischen dem Autor des Evangeliums und seiner Gemeinde zum Zweck einer innerjüdischen Abgrenzung gegenüber der pharisäisch orientierten Synagoge einerseits und zu einer eigenen gemeindlichen Identitätsbildung als Judenchristen mit universaler Ausrichtung andererseits umschrieben - änderte sich radikal in der heidenchristliehen Rezeption vom 2.Jh. an. Ich messe dabei dem offensichtlich antijudaistischen Vorverständnis dieser Leser der dritten und vierten Generation entscheidende Bedeutung zu gegenüber der Auffassung von Luz, der dieses durch eine antijudaistische "Wirkungskraft" des Textes selbst verursacht sieht. Unterstützung finde ich durch Kamplings Beobachtung, daß zur damaligen Zeit den Auslegungen der Kirchenväter zufolge42 "annähernd jeder Text [nicht nur aus dem Matthäusevangelium: H.F.] des Neuen Testaments unter antijudaistischen Vorzeichen gelesen wurde. ''"'3 Willkür der Leser? Sind Texte eine black box? Auch wenn im Kontext der Rezeptionsästhetik die prinzipielle Virtualität jedes Textes und seiner Strukturen zu betonen ist, hat jeder Leser und Ausleger bei der Rezeption jene Strukturen zu beachten, durch die die Verarbeitung der Texte gelenkt wird. Losgelöst vom Leser und seiner Perspektive kann jedoch kein Text "an sich" erfaßt werden. Dieses Wechselspiel bleibt. Im folgenden seien einige textliche Hinweise gegeben, die bei mir eine neue Lesart im Kontext der bislang angedeuteten sprachlichen, hermeneutischen und historisch-religionswissenschaftliehen Aspekte freisetzten. Sie sind elementare Prinzipien für mein gegenwärtiges Textverständnis mit der Voraussetzung, daß in der Hermeneutik und Methodik sich das Vorverständnis der Textauslegung, d.h. diese selbst entscheidet. 1. Ich verstehe das Matthäusevangelium wie alle Texte als textum, d.h. als "Gewebe" in seiner übergreifenden Gestalteinheit Einzelne Verse haben ihre Funktion im Hinblick auf das Textganze. Dieses stammt von einem Verfasser, der seinen Text mit einer bestimmten Wirkabsicht an bestimmte Adressaten richtet. Adressaten des Matthäusevangeliurns als einheitlicher Text sind unbestritten Christen. Die Dies scheint der gnmdlege:nde Denkansatz bei U. Luz zu sein. wenn er die "Wirkungsgeschichte" ZlUß hermeneutischen Maßstab macht. auch wenn er starker als frOher die Produktivität der Leser (vgl. IIL VIll) grundsatzlieh venmscblagen möchte. 43 R. I
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Figuren in der erzählten Welt (matthäischer Jesus, Pharisäer u.a.) sind auf ihre erzählerische Funktion fiir diesen christlichen Text zu befragen. 44 Wenn folglich aus der Tradition stammende, gegen andere Juden gerichtete Gerichts-Worte (vgl. das Ende der großen Redekompostionen sowie Kap. 23-25) und der Vorwurf der "Heuchelei" sich nicht mehr gegen Jude~ sondern gegen Christen wenden (zur "Heuchelei" der Christen vgl. 7,5; 24,51 ), dann haben die aus einer anderen kommunikativen Situation stammenden Texte jetzt eine primär paränetische Funktion zur Stabilisierung christlichen Glaubens und christlicher Lebensführung, ohne zu verkennen, daß diese innerchristliche Stabilisierung polemisch mit einer Abgrenzung nach außen gegen die pharisäische Synagoge einhergeht. 45 Als real-historische Leser von Kap. 23 sind die Christen der matthäisehen Gemeinde anzusetzen, als Hörer der matthäisehen Rede in der erzählten Welt sind es gemäß den Leserlenkungen in 23,1 "die Volksscharen und seine Jünger.. , nicht jedoch "die Pharisäer (21 ,45; 22,15.34.41) und die Schriftgelehrten (21,15)'". 46 Letztere sind es nicht einmal als Figuren in der erzählten Welt. Daß nicht mit ihnen, sondern über sie gesprochen wird, verändert die pragmatische Wirkabsicht von Kap. 23 als Element von Kap. 1-28. 47 2. Elementar wurde fiir meine neue Lektüre des Matthäusevangeliums die Beobachtung bei den narrativen Analysen, daß der Adres44
Zwn MarlcusevangelilDll vgl. die hermeneutiscbe Wld methodologisch lesenswerte Studie von H.J. I
postuliert U. Luz, Mattha•as m, 291 wie bei Jesu Lehre im Jerusalemer Tempel als ,,anwesend". Es wirdjedoch in 23,2-7 aber sie geredet. ebenfalls in 23,13-33 gemäß der vorgegebenen Tradition, aber auch gemäß antiker Rhetorik (vgl. H. F'RANKF.MOLJ.E, ,.Pharisäismus". 179). 47 Vgl. auch G. THEISSEN, Aporien, 540-542 mit der hermeneutisch wichtigen These, daß "die textimmanente Relativienmg antijOdischer Aussagen" im NT ,,im Kmtext der jeweiligen Schrift" zu beachten ist (ebd. 540).
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sat des Wirkens Jesu keineswegs - wie man Ende der 60er Jahre allgemein meinte48 - ,,Israel" als Einheit, als kollektives mixturn compositum ist, das die Führer als Ganzes repräsentieren, sondern daß man differenzierend von sehr unterschiedlichen Reaktionen der handelnden Figuren auszugehen hat. Dabei gilt es zu betonen, daß "das Volk/die Volksscharen" durchgehend positiv konnotiert werden können (zu 27,25 s. u. ). Da sie, wie vielfach in der Bibel vorgegeben (Nurn 27, 17~ 1 Kön 22,17~ 2 Chr 18,16~ Jdt 11,19~ Ez 34,5-6.8~ vgl. Sach 10,2) "wie Schafe, die keinen Hirten haben", dargestellt werden (9,36), Jesus als ihr eigentlicher Hirt gedeutet wird (2,6 als Zitat von Mi 5,1), können die religiösen Führer "des Volkes.. vom Leser nur als angemaßte Führer verstanden werden, keineswegs als dessen wahre Repräsentanten. Die mt Christologie verhindert dies. Wie Christen nur einen einzigen Vater haben, den im Himmel, und nur einen einzigen Lehrer und Katecheten, Christus (23,8-10), so auch nur einen Hirten. Er ruft Menschen in seine Nachfolge~ alle Jünger (4,19~ 10,38; 16,24)- einschließlich Petrus (16,23)- bleiben in dieser Nach- und Unterordnung. Dies impliziert die Konzeption einer geschwisterlichen Gemeinde ohne hierarchisch verstandene Ämter. 49 Insgesamt ist auffallig, daß "Israel" nie als eigentlicher Adressat des Wirkens oder des Redens Jesu belegt ist, sondern nur in besprechenden Textpartien vorkommt (2,6.20.21~ 8,10~ 9,33~ 10,6.23~ 15,24.31~ 19,28~ 27,9.42). Als "Unheilskollektiv" bzw. ,,Heilskollektiv.. wird Israel nicht thematisiert, vielmehr ist festzustellen, daß bei den Gerichts-Worten (vor allem in der Gerichts-Rede in Kap. 24-25) an die individuelle Verantwortung appelliert wird. so Dies betrifft Juden und Nichtjuden, da erst in 25,31-46 über Heil und Unheil aller Menschen end-gültig entschieden wird. Das heißt: Mit der Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Ablehnung Jesu als Boten Gottes ist keineswegs das definitive, heilsgeschichtliche Ende "Israels" gekommen, vielmehr haben Christen ihr Zeugnis vor allen Menschen, also auch vor Juden, gemäß den Weisungen Jesu zu leben. Zum anderen haben "Juden" (28,15) auf die 48
Meinungsbildend war hier vor allem R WALKER. Die Heilsgeschichte im ersten Evangc>liwn. Göttingen 1967, 11-74 mit der These von ,,Israel als Einheit des Bösen" (38ff in der Überschrift). 49
Zur weiteren Begründung vgl. H. FRANKEMOu..E, Amtskritik im Matthäusevangeliwn?, Bibi 54 ( 1973) 247-262. so Zur BegrtlndWlg vgl. meine Ausleg\Dlg im Matthäus-Konunentar 2, 390430~ auch die Wendwlg "dieses Geschlecht" (11,16~ 12,39.41.42.45~ 16,4~ 17,17~ 23,36~ 24,34) meint weder im Matthäusevangeliwn noch in der Bibel ,,ganz Israel", sondern zielt auf Eingrenzung und Differenzienlllg vgl. meine Auslegung zu den Stellen.
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Auferweckung als Zeichen auch für sie (vgl. 27,63 mit 12,39b.45c und 16,4) zu reagieren. Das heißt: Auch im Matthäusevangelium (vgl. Röm 9-11) wird über das Judentum post Christum nachgedacht, da die Erzählung mit einem open end schließt: Dem Leser wird so eindringlich bewußt gemacht, daß er in der Zeit zwischen der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 und der Parusie lebt und folglich sein Handeln und das Wirken anderer unter dem sogenannten eschatologischen Vorbehalt steht. 3. Stark eingewirkt auf meine jetzige Lektüre des Matthäusevangeliums hat sodann meine Wahrnehmung judaistischer und alttestamentlicher Literatur zur Vielfalt der biblischen und frühjüdischen Theologien, zur ständigen Aktualisierung in der hebräischen und griechischen Bibel, zur Schriftgemäßheit neutestamentlicher Konzeptionen und zu einer biblischen Theologie. 51 Thematisch bedeutsam wurden vor allem Beiträge zum Verhältnis von JHWH zu Israel und den Völkem und zu dem damit implizit gegebenen Verhältnis beider zueinander, d.h. zum Verhältnis von Partikularismus und Universalismus, zur Bedeutung der Tora für Israel und die Völker, zum "Neuen" Bund im "Alten", zur Theologie der Septuaginta und zu den griechisch-frühjüdischen Schriften usw., die mich - kurz gesagt - zu der Überzeugung führten, die Leserlenkungen im Matthäusevangelium auf die Heilige Schrift so zu deuten, daß das Matthäusevangelium - intertextuell gelesen - als Element der glaubens- und lebensgeschichtlichen frühjüdischen Überlieferung verstanden werden kann. Dies gilt nicht zuletzt für die spezifisch matthäisehe "Jesus"- ( 1,21) und "Immanuel" -Christologie ( 1,23) in ihrer eschatologischen Relevanz hinsichdich der Verkündigung und der Praxis Jesu Irnmanuel und der soteriologischen Bedeutsarnkeit seines gesamten Wirkens und seines Todes. Gerade die theozentrische Rückbindung in dieser hohen Christologie bestätigt mir ihre universale Relevanz - etwa in der Toraauslegung für die Jünger Jesu, für Israel und die Völker. 52 Wo liegen die Grenzen der Motiv-Einspielungen und Rezeptionen biblisch-frühjüdischer Traditionen? Um die Willkür genialer Ahnungen zu begrenzen, 53 ist auf die Strukturen im matthäisehen Text, die seine 51
Vgl. meinen Sanunelband. Jodische Wmzeln christlicher Theologie. Zw- Begrondlmg vgl. meinen Aufsatz ,,Die Tora Gottes filr Israel, die Jünger Jesu und die Völker nach dem Matthausevangeliwn", in: DER.s., Wmzeln, 261-294. 53 Eindeutig Obertrieben halte ich W. GRIMM. Die Verkündigl.Ulg Jesu und Deuterojesaja, Frankfurt/Bem 21981, der bei ,,einer ganzen Reihe dtjes Bilder' (SAmann., SAen. Ernten, der Starlee und seine Beute, Licht der Welt, Motte, Verbinden von Wunden. Lösegeld, Mahlzeit in 52
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Verarbeitung im Rezipienten lenken, möglichst genau zu achten. Welche Textsignale halte ich im Hinblick auf den "Antijudaismus"-Vorwurf gegen das Matthäusevangelium für auffällig? Dazu einige knappe Hinweise. Sie können um so kürzer ausfallen, da ich auf bisherige Veröffentlichungen begründend zurückgreifen kann.
4. Ausgewählte Leserlenkungen durch den matthäisehen Text Im Kontext der angedeuteten Sensibilisierung für die Offenheit des matthäisehen Textes und im Bewußtsein dessen, daß die unbestrittenen philologischen Methoden der Texterschließung im Sinne von Wa/ter Benjamins These ,,Methode ist Umweg" nur ein Zugangsweg zum Sinnpotential des matthäisehen Textes sind, seien folgende Beispiele benannt: 4.1 Verwerfung und Enterbung "Israels"? Zu Mt 21,33-46 Das Verständnis dieses Gleichnisses wurde bis in die 70er Jahre hinein stark geprägt von der ersten redaktionsgeschichtlichen Arbeit zum Matthäusevangelium von Wolfgang Trilling mit einer deutlichen Substitutionstheorie. Danach geht es um "die Schuld Israels" und um sein Verhältnis zur "Gottesherrschaft": "Gott hat sie Israel gewährt und wieder entzogen", "ein anderes Gottesvolk als das auserwählte Israel", womit "nur die Kirche gemeint sein kann", tritt an seine Stelle. S4 Noch stärker prägend - auch fur meine damalige eigene Deutung - war die These von Odil Hannes Steck zum gewaltsamen Geschick der Propheten, das sie ohne Differenzierungen ständig durch Israel zu erleiden hatten, woraus für ihn folgte, daß die Verse 21,33ff "gegen das Judentum als solches und ganzes" zielten mit der Folge, daß "das Judentum nach 70 definitiv gerichtet" sei. 55 Entgegen diesen Stimmen zur Enterbungs- und Verwerfungs-Theologie gab es auch einige wenige der Basileia) behauptet, daß Jesus sich "offenbar' ihrer "bedient bar' (304). Eine Konkordanz zwn AT belegt leicht die Beliebigkeil vieler dieser und anderer Bilder bei vielen Theologen im AT. S4 W. TRIILING, Israel, 65, 61. ss O.H. STECK. Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistis Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, Neukirchen 1967, 289, 2~ zu meiner Rezeption vgl. Jahwe-Bund, 247-256.
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andere. 56 Durch welche Leserlenkungen instrumentiere ich den Text heute? Wie im gesamten Matthäusevangelium wird in 21,33ff deutlich zwischen den "Volksscharen" und den in 21,45 als Adressaten genarmten ,,Hohenpriestern und Pharisäern" unterschieden. Das eingespielte Bibelzitat aus Jes 5, I f LXX sehe ich weiterhin als wichtige Leserlenkung, jedoch nicht im Sinne einer allegorischen Identifizierung des Weinberges mit "Israel", da in Mt 21,33ff der Weinberg nicht unfruchtbar ist und daher auch nicht zerstört wird~ vielmehr werden die Pächter bestraft. Die Tendenz zur Individualisierung im praktischen Verhalten erscheint mir elementar! Gerade der bibelkundige Leser liest eine ganz andere Geschichte als in Jes 5, 1-7. Und der aufmerksame Leser des Matthäusevangeliums weiß seit 9,36, daß "die Hohenpriester und die Pharisäer" nicht Repräsentanten des "Volkes" sind. Sie lehnen gemäß dem deuteronomistischen Prophetenmodell die von Gott zu "Israel" gesandten Propheten, einschließlich Jesus, ab - und werden dafür bestraft (21 ,41 ). Mit dem Begriff "euch", denen gemäß Vers 43 "das Gottesreich weggenommen wird", sind kontextuell eindeutig die angemaßten Führer des jüdischen Volkes zu identifizieren~ das "Volk", dem es "gegeben wird", bleibt zum einen semantisch offen, zum andem aber wird es definiert durch das Bringen der Frucht. Der Leser des Matthäusevangeliums wird sich daran erinnern (vgl. 7,21-23~ 12,46-50~ 15,21-28 u.a), daß für die Beziehung der Menschen zu Jesus Immanuel bzw. zu Gott und seiner Herrschaft keine völkischen Aspekte eine Rolle spielen. Was zählt, ist einzig und allein ein der Basileia gemäßes Tun. Aus all dem folgt: Das Gleichnis impliziert keine antijüdische Tendenz, wohl enthält es eine innerjüdische Kritik gegen die sogenarmten Führer des Volkes. Mit der gegen sie gerichteten Vorstellung vom gewaltsamen Geschick der Propheten, die m.E. auch in alttestamentlichen Texten nicht als konstatierende und lediglich informative Rede zu werten ist, will der Text offensichtlich vielmehr die Adressaten (auf der Ebene des Evangeliums sind es die christlichen Gemeindemitglie-
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VgJ. etwa R WALKER, Heilsgeschichte, Göttingen 1967, 81-83; F. MUSSNER, Die bösen Winzer nach Matthäus 21,3346, in: W.P. EcKF.RTu.a. (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament, München 1967, 129-134. Dagegen bält U. Luz an der kollektiven VerwerfwJsstheore f~ vgJ. DERs., Paspel.1ive einer biblischen Theologie, 244 Amn. 22; DERs., Jesusgeschichte, 139; Matthäus Ill, 215-229, bes. 225, 228f
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der) gewinnen und zur Umkehr rufen. 57 "Im ganzen ist das Gleichnis von den bösen Winzern kein Beweis für eine Diskontinuität des Gottesvolkes im Sinne einer Abrogation und Substitution", zumal nach biblischen Vorgaben die Bestrafung bestimmter Volksteile oder einer ganzen Generation (s.u.) ,,noch keine definitive Verstoßung und kein Verlust der Erwählung und der mit ihr verbundenen Verheißungen" ist. 58 Es braucht nicht belegt zu werden, daß 21,33-44 in heidenchristlicher Rezeption (bis heute) jedoch antijüdisch verstanden wurde. 59 Betrachtet man diese Diskrepanz zwischen einer solchen bewußt innerbiblischen pragmatischen Textauslegung und den üblichen antijüdischen Rezeptionen in der nachneutestamentlichen Zeit, so ist der Wertung Kamplings durchaus zuzustimmen: "Antijudaismus hat seinen Entstehungsort [... ] im Prozeß der nachgeordneten Rezeption und nicht in der Textwerdung. "60 Matthäus ist nicht zu einem "der Väter der später dominierenden kirchlichen ,Sukzessionstheorie', nach welcher die Kirche Israel als Heilsvolk abgelöst hat", zu machen mit der Begründung: "Wir haben[ ... ] den Text, so wie er nun einmal in der Bibel steht, ernst zu nehmen."61 Bei einem solchen wirkungsgeschichtlichen Verständnis wird elementar der Text als virtuelle Größe ausgeblendet und das Wechselspiel zwischen Text und Leser verwischt. Der hier behauptete objektiv vorgegebene Textsinn (unter Ausblendung der Rezeption je unterschiedlicher Leser) ist für einen Leser- auch für einen Exegeten - nicht zu erfassen.
Zm weiteren Begründung vgl. H. FRANKE.MOu..E, Matthä~Konunentar 2, 328-339 und die ebd. von mir rezipierte Literatur besonders von B.S. CJ.m.os, Theologie der einen Bibel. l Grundstrukturen Freiburg u.a 1994, 394404 \md U. MEu... Die ,,anderen" Winzer, Ttlbingen 57
1994. 58
H. SaiREcKENBER.G, Adversus-Judaeos-Texte, 120( vgl. auch H. MEioo..EIN, Die Jesusgeschichte-synoptisch gelesen. Stuttgart 1994, 181f, 185f~ C. THOMA, Messiasprojekt, 202205, der jedoch ebd., 204 die "Warn-Botschaft an die jodischen Führe(' meint als ,,Antijudaismus" interpretieren zu sollen (entgegen meiner Deutung; s.o.). 59 Zu den Belegen vgl. H. SaiREcKENBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 237, 239, 244, 317, 355, 360, 366~ vgl. auch U. Luz. Matthaus III. 220f. 60 R. KAMPUNG, Antijudaismus, 116, der trotz dieser klaren Unterscheidlmg - olme Beachtung der Rezipienten- meint ,,feststellen" zu ,,müssen. daß im Neuen Testament zumindest eine Vorfonn des christlichen Antijudaismus gegeben ist" (ebd. 113; vgl. auch 114), so als ob dieser objektiv im Text ,,an sich" vorliegt 61 U. L uz, Matthäus III. 228f
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4.2 Antijudaismus in der Wehe-Rede in Kap. 23? "Seit eh und je fußt der religiös und theologisch motivierte Antijudaismus besonders stark auf dem Kapitel 23 des Matthäusevangeliums, und da vor allem auf den sieben Weherufen über die Schriftgelehrten und Pharisäer (23,13ft)". 62 Die ohne Zweifel scharfe Polemik wird dadurch historisch relativierf3, daß man biblische und frühjüdische, hier vor allem qwnranische Parallelen heranzieht. Die Sprechsituation nach der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem (vgl. 23,23) ist zu beachten und die damals einsetzende Profliierung der für die Zukunft wichtigen großen Richtungen der pharisäischen und judenchristliehen Theologie. Sodann ist an die "textimmanente Relativierung"64 uns antijudaistisch erscheinender Aussagen zu erinnern, hier näherhin an die positive Rolle der Schriftgelehrten und Pharisäer für die Tradierung der Tora (vgl. 23,2-3). Da ich mich andernorts ausführlich zur Traditionsgeschichte des ganzen Kapitels (in der die Schriftgelehrten und Pharisäer in Q in der Tat direkt angeredet waren) und zur rhetorischen Funktion der Rede über abwesende Figuren geäußert habe, 65 möchte ich weiterhin das Kapitel in synchroner Perspektive als Teil des gesamten Matthäusevangeliums als innerchristliche Selbstkritik verstehen und als Warnung an ein falsches christliches Selbstverständnis. In ihr dient der Hinweis auf die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem als Strafe Gottes für die Ablehnung Jesu Immanuels zur Stabilisierung des eigenen Bewußtseins, dann aber auch als Warnung. Mögen die einzelnen Textteile in der Vorgeschichte des Matthäusevangeliums polemisch und anklagend gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer gerichtet gewesen sein, aufgrundder Leserlenkungen in 23,1 richtet der matthäisehe Jesus sich "an die Volksscharen und an seine Jünger" und spricht über die Pharisäer. Narrativ entspricht diese Figurenkonstellation der in Kap. 21,33-46. 66 62
H 8cHR.EcKENBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 114 mit entsprechenden Belegen. Zu diesem Prinzip vgl. G. THE!SSEN, Aporien, 542-547; zu Belegen vgl. die in Amn. 34 genannte Literatm. 64 Vgl. G. THEISSEN, Aporien, 540-542. 65 H fRANKEMOI.l.E, ,,Pharisäismus", in: DF.Rs., Handlungsanweisungen 133-190", zusammenfassend vgl. jetzt Matthaus-Konunentar 2, 360430. Nach SANGER. VerkUndigwlg, 43 Amn. 37 wurde von mir die These, daß die Wirkabsicht der in Q vorliegenden Traditionen tmd die des matthaischen Textes ,,auseinanderklaffen", "überzeugend demonstriert". 66 Gegen U. Luz, Matthaus m, 291. Seine Antwort auf die Frage, ob Antijudaismus in Mt 23 vorliegt (395f), bleibt merklich schillernd, da zwn einen (395 Amn. 40) dogmatischorthodox bestinunt wild. daß die Beschneidmag als character indelebilis zu deuten sei, die matthäisehe Gemeinde also nicht aufhörte, Israel zu sein, zwn anderen die Führer ,,als 63
Antijudaismus im Matthausevangelium?
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Demnach ist auch Kap. 23 als Element des ganzen Evangeliums in seiner pragmatischen Dimension als eine innerjüdisch-judenchristliche Kritik zu deuten, die in der Rezeption von Judenchristen nicht antijüdisch gedeutet werden konnte, wie dies spätere heidenchristliche Kirchen meinten tun zu können. 4.3 Antijüdische Tora-Kritik durch den matthäisehen Jesus? Ohne früher breit ausgeführte Begründungszusammenhänge fiir die weitere Gültigkeit der Tora auch für die Jünger Jesu zu wiederholen, 67 sei als elementare Grund-Lage an die universal orientierte Jesus-Immanuel-Christologie erinnert. Da Gott seine Selbstoffenbarung dem mt Text zufolge in absoluter Weise an Jesus Immanuel als Sohn gebunden hat ( 11 ,25-27), ist dessen Botschaft und Praxis nicht nur zeitlich als von universaler Gültigkeit, sondern auch im Hinblick für alle Menschen, für Juden und Nichtjuden, zu deuten. Diese christologische Grundlegung bestätigt sich in der Verkündigung der Weisungen Gottes in der "Lehre auf dem Berg" (Kap. 5-7) - gemäß der unmißverständlichen Leserlenkung in 5, 17: "Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen". Wohl gibt es deutliche Neuakzentuierungen des matthäisehen Jesus in den sogenannten "Antithesen" (die es nach modernem Verständnis nicht sind), wohl gibt es Kritik am Fehlverhalten einzelner, wohl gibt es eine Gewichtung innerhalb der Tora (vgl. 23,23), jedoch keine Aufhebung. Ein Komparativ (vgl. 5,20) ist ein Komparativ, der als Radikalisierung, grammatisch jedoch nicht als ausschließende Alternative zu interpretieren ist. Differenzierungen gegenüber anderen Gruppen sollen offensichtlich der Stabilisierung der eigenen Identität innerhalb der jüdischen Glaubensgemeinschaft dienen. Sobald heidenchristliche Gemeinden meinten, diese Identität antijüdisch interpretieren zu müssen, wurde aus der innerjüdischen Polemik Apo.\Uten Wld nicht mehr als Juden" von matthäischer Seite angesehen WOrden (395), Matthäus wxi seine Gemeinden (Plural!) ,,im Obergang von Israel zu einer weithin schon zu einer Große neben Israel gewordenen beidencluistlich dominierten Kirche [ ... ] geschichtlich stehen" (396). Mit Recht verweim er ebd. darauf, daß durch heidencbristliche Rezeption Kap. 23 antijüdisch gelesen wurde. Der zweimaligen globalen Behauptung, in der beideocbristlichen Kirche sei das Matthausevangeliwn insgesamt ,.zu einem antijüdischen Buch" geworden. vermag ich nicht zuzustinunen. 67 Vgl. die Aufsätze ,,Die Tora Gottes ftlr Israel, die JQnger Jesu Wld die Völker nach dem Matthäusevangelium" tmd ,,Die sogenannten Antithesen des Matthaus" (5.2lft), in: H. FRANK.EMOI.l.E,
WlU"leln. 261-328.
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gegen Schriftgelehrte und Pharisäer eine "Antithese" (auch im Sinne Markions, der den Begriff "Antithesen" als erster benutzte)- und zwar in ausschließlichem Sinn. Die weitere Geschichte der christlichen Überheblichkeit, so als habe das Christentum Nächstenliebe und Feindesliebe erfunden (obwohl es sich gerade durch Jahrhunderte hindurch speziell gegenüber Juden nicht so verhalten hat), ist bekannt. Generell ist im Kontext der These einer möglichen antijüdischen Tora-Kritik durch den mt Jesus auf einen Aspekt hinzuweisen, der bislang (fast) sträflich übersehen wurde: die weisheitstheologische Linie in der "Lehre auf dem Berg" vor allem in 5,3-10.13-16 und 6, 19-7,27. Nicht alle Logien, die heidenchristliche Ausleger gesetzeskritisch meinten interpretieren zu müssen, sind so zu verstehen; viele angeblich torakritische Logien sind weisheitliehe Mahnungen, die keineswegs in Konkurrenz zur Tora-Theologie verstanden wurden, sondern von ihren Verfassern als eigener Weg der Frömmigkeit verstanden worden sein dürften. Nicht anders beim mt Jesus. 68 Was das Verhältnis von weisheitstheologischen Mahnungen und taratheologischen Weisungen vor allem in der Logienquelle und im Matthäusevangelium betrifft, steht die Forschung noch ganz am Anfang. Wenn nicht alles täuscht, liegt z.Z. ein Schwerpunkt der Jesusverkündigung bei weisheitlieh begründeten, ethischen Mahnungen69, die von ihrer Herkunft her zunächst indifferent gegenüber der Geltung der taratheologischen Weisungen sein können. Wie Sir 24 (vgl. bes. Vers 23) belegt, können jedoch bereits im Frühjudentum Tora und Weisheit miteinander verbunden werden; eine ähnliche Konzeption - erweitert um prophetische Logien - sehe ich in der "Lehre auf dem Berg", in Kap. 5-7 des Matthäusevangeliums. Im übrigen stimmt die universale Geltung beanspruchende weisheitstheologische Linie mit der universal orientierten Jesus-Immanuel-Christologie überein. 68
H. fRANKF.Meu.E, Matthaus-Konunentar I, 207-215, 254selbst im toratheologischen Teil der ,,Lehre auf dem Berg" (5,2147) ist die weisheitstheologisch, wn Zustimnnmg des Hörers werbende argumentative, weisheitliehe Struktur nicht zu übersehen (etwa in der 4Ai. Antithese in 5,33-47). Anregend tnr diese weisheitstheologische Deutung der ,,Lehre auf dem Berg" \WfeO rur mich D. Zw.ER, Die weisheitliehen .MahnsprOche bei den Synoptikern (flb 17). Worlburg 19'n, 152-154~ M KüeHLER, FrohjOdische Weisheilstraditionen, Freiburg/Göttingen 1979, 526-534, 551 f und G. DAI.J17ENBERG, Gesetzeskritik und Gesetzesgehorsam in der Jesustraditioo, in: K. KERTELGE (Hg.). Das Gesetz im Neuen Testament (QD 108). Freiburg 1986, 46-70: 62-69; 175-221 meine weisheitstheologische Deutung des Begriffes "Gesetz<' im Jakobusbrief 69 Vgl. jetzt M EBNER. Jesus- ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß (HBS 15), Freiburg 1998. 268~
Zur weiteren Begründung vgl.
Antijudaismus im Matth(Jusevangelium?
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4.4 Kollektivschuld ganz Israels am Tode Jesu? Zu 27,25 "Der Satz ,Sein Blut komme über uns und unsere Kinder' hatte für die Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen eine verhängnisvolle Bedeutung. Gerade an dieser Stelle entzündete sich immer wieder die theologisch motivierte christliche Judengegnerschaft und ein Antisemitismus, der religiöse Argumente als bequemen Vorwand benutzte. Im 2./3.Jh. beginnt die antijüdische Exegese dieser Stelle. [... ]Sie sieht hier ganz Israel als schuldig am Tode Jesu kollektiv verflucht". 70 Von nun an hört der Vorwurf gegen alle Juden, Christusmörder und Gottesmörder zu sein, nicht mehr auf (was die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil- endlich!- dezidiert ablehnte). Daß Mt 27,25 an sich nicht antijüdisch verstanden werden muß, allerdings antijüdisch ausgelegt wurde, wird auch von jüdisch-fachwissenschaftlicher Seite deutlich betont. 71 Weiche textlichen Gründe sprechen für eine Auslegung, die möglichst frei ist von antijudaistischen Stereotypen und Vorurteilen? Vor allem historische, näherhin rechtshistorische Argumente, dann aber auch kontextuelle, in jüngster Zeit vermehrt narrativ-strukturanalytische werden fiir eine angemessene Deutung ins Feld geführt. 12 Im einzelnen sind zu nennen, ohne dies hier am Text begründen zu können:
70
H.
ScHREcKENBERG,
Adversus-Judaeos-Texte, 129; ähnlich R KAMPI..ING, Bausteine, 123
wtd ausruhrlieh DERs., Blut Christi. 71 So vom angesehenen Josephus-Forscher L.H FELDMAN: referiert von C.
THow.. Messiasprojekt J96f. der ebd, 323-334 Ober die juristisch \md historischen Aspekte der Kreuzigung von Juden und Ober die eingeschnlnkte Mitsprachcmoglicbkeit jodischer Behörden in der Kapitalgerichtsbarkeit angemessen referiert, olme nlher auf Mt 27,25 einzugeben. Lesenswerte Überblicke ober jüdische Deuttmgen zwn Tod Jesu und zw- Schuldfrage liefern W. VOGLER, Jüdische Jesusinterpret.ationen in cbristlicher Sicht, Weimar 1988, I 12-137, bes. 130ff und besonders Ch. KURlH, Der Proz.e8 Jesu aus der Perspektive jOdischer Forscher. Ober1egungen zum Vorwwf der Schuld der Juden am Tod Jesu, Kul 13 (1998) 46-58. Dieser Beitrag und der von W. STEGFMANN, Gab es eine jüdische Beteiligung an der Kreuzigung Jesu?, ebd., 3-24 körmte und sollte die Diskussion wn den Prozeß Jesu auch im deutschen Sprachraum neu bel~ vor allem sollte jüdische Literatur vennehrt wahrgenommen werden. Einen Oberblick liefert D.R. CATCHPOLE., The Trial of Jesus. A Study in the Gospels and Jewish Historiography from 1770 to the Present Day, Leiden 1971; vgl. jetzt Ch. CoHN, Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, Frankfurt 1997. Seine These, der Sanhedrin ware zwar beteiligt gewesen, habe aber Jesus retten wollen, bedarf ebenso einer kritischen Reflexion und Dislrussion wie die These von STEGFMANN, wonach Jesus ohne jüdische Beteiligung von den Römern gefangengenonunen und hingerichtet worden sei. 72 Zur eigenen Deutung vgl. H. FRANKEMcu.E, MattbA•L<~-Kommentar 2, 394-412 und OERs., Der "wtgelcQndigte BWKt', in: DE.Rs., Wt.UZeln, 329-364. Zu einer angemessenen
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a) Sowohl auf jüdischer wie auf christlicher Seite verstärkt sich die Tendenz, die Verhandlung vor Pilatus mit der Verurteilung Jesu (27, 11-26) nicht als historisch konstatierende und informative Erzählung zu interpretieren. Immer mehr kommt man zu der Überzeugung, daß diese Verse keine historischen Fakten wiedergeben woUen. Schon früh wurde die beschränkte, mögliche Anzahl bei der Wendung "das ganze Volk" im Hinblick auf alle damals lebenden Juden, auf die in Israel oder auf die in Jerusalem reflektiert. Die "fragliche Historizität" wird narrativ "augenfällig", wenn man die vorausgesetzte "akustische Kommunikation" mitbedenkt und das "ohne ein chormäßiges, Einübung voraussetzendes Sprechen der Menge" von "kaum mehr als ein paar Hundert Menschen" konstatiert. 73 b) Juristisch ist die Alleinzuständigkeit der römischen Statthalter in J udäa in der Kapitalgerichtsbarkeit festzuhalten, die im übrigen auch in 27,26b vom Leser wahrgenommen werden kann. Daß der Judenfeind Pilatus gemäß biblischer Vorgabe in 27,24 "die Hände in Unschuld wusch" (vgl. Dtn 21,6f; Ps 26,6 u.a), dürftenjudenchristliche Leser als extravaganten Erzählzug instrumentieren können, der nur von der Bibel her in seiner narrativen Funktion angemessen verstanden werden kann. c) Spätestens seit der Arbeit von Wolfgang Trilling aus dem Jahre 1959 ist es ein Topos der Matthäus-Forschung, daß wir es in 27,25 "mit einem dogmatischen Theologumenon zu tun [... ] haben". 74 Es deutet, was Matthäus und die Rezipienten seines Werkes erlebt haben: Die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahre 70, die- wie es im biblischen und nachbiblischen Judentum üblich war75 - als Strafe Gottes interpretiert wurde, im Matthäusevangelium als Strafe für die Ablehnung der Boten Gottes zu Israel (vgl. 23,34-35) und speziell zu Jerusalem (vgl. 23,37), vor allem als Strafe für die Ablehnung des letzten Boten Jesus lmmanuel (vgl. 21,41; 22, 7) - mit der Folge, daß "diese Generation" (23,36) und Jerusalem (23,38) durch Tod und Zerstörung bestraft werden. Ähnlich deutet z.B. Josephus die Zerstörung des Tempels durch Gott als Strafe fiir das frevelhafte Verhalten der Zeloten während des jüdisch-römischen Krieges an diesem heiligen Ort (Bell 6, I 09f, 124ft). "Das Deutungsschema ist hier wie dort dasselbe". Auch wenn wir heute solche Stellen im NT "unerträglich finden, Deutung vgl. jetzt auch M GIELEN, Konßilct. 374-387~ sie versteht allerdings die Wendung .,das ganze Volk" identisch mit ,,alle", also ohne bibeltheologischen Bezug (ebd. 383-386). 73 H. ScJiREcKENBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 130. 74w. TRILLING, Israel, 72. 75 Zur Literatw" vgl. oben die Anm. 32.
Antijudaismus im Matthausevangelium?
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so muß man doch aus F aimeß gegenüber den urchristlichen Autoren sagen: Ihre Polemik ist nicht schlimmer als das, was damals üblich war."76 d) Für meine eigene Textwahrnehmung am wichtigsten geworden sind narrativ-kontextuelle Beobachtungen zu den handelnden Figuren in der erzählten Welt des Matthäusevangeliums. So kann der Leser wahrnehmen, daß "die Volksscharen/das Volk" von Anfang an offen und positiv zu Jesus stehen (4,23-25; 7,28; 8,1; 9,8.33; 13,2.54; 14,13; 19,2; 20,29; 21, 11.46; 26,5), während die Mitglieder des Synedrions kontinuierlich und von Anfang an, koste es, was es wolle, den Tod Jesu ohne triftigen religionsjuristischen Grund herbeifuhren wollen (vgl. 26,3-5.47.59.66; 27,1; vgl. auch 12,14). Da Jesus lmmanuel vorab als "der Hirt meines Volkes Israel" für die Leser eingefiihrt wurde (vgl. die Einspielung von Mi 5,3 in Mt 2,6), sind "die Volksscharen [ ... ] wie Schafe, die keinen Hirten haben" (9,36 in Rezeption wiederum biblischer Vorgaben) zu deuten. Das legt es für die Leser nahe, die sogenannten "Führer" an dieser Stelle nur als solche zu betrachten, die es ihrem eigenen Selbstverständnis nach sindn, nicht jedoch im Verständnis des "Volkes", schon gar nicht im Verständnis des Autors der Erzählung. Diese Deutung, die den Lesern offensichdich nahegelegt werden soll, wird unterstützt, ruft sich der Rezipient in Erinnerung, daß diese "Führer" die Volksscharen/das Volk "fürchteten" (14,5; 21 ,26.46; 26,4f) und sich auch noch nach der Auferweckung Jesu vom Volk distanzieren (27,64). 78 Das einzige Mal, wo die Volksscharen mit den religionspolitischen Führern in einer Sache übereinstimmen (27,20), wird dieser Stirn76 G.
THEISSEN, Aporien, 543~ BROER, Antijudaismus, 336f interpretiert dieses jaluzehntelang belegte Vorgehen von Exegeten als ,,Ent.lasb.mgsversuche", die s.Mn. ,,nicht entscheidend weiterzuhelfen vermögen". Dies mag fbr die antijudaistische Auslegungsgeschichte durch Heidenchristen zutreffen, tbr ein angemessenes Verstandnis eines historischen Textes jedoch nicht Die Beantwortung der Frage: Wer spricht was zu wem in welcher Situation und tmter welchen Bedingtmgen? ist filr letzteres elementar. Zur Begr1lndung vgl. H. FRANKEMCI..LE, Handlungsanweisungen und meine Konunentare zu 1-2 Petrusbrief, Judasbrief und Jakobusbrief n Zur weiteren Begründung vgl. M. GIELHN, KonO.ikt, ~ ein zentrales Ergebnis ihrer Untersuchtmg lautet, daß die religiösen und politischen AutoriWen Israels keineswegs als Repräsentantendes Volkes fimgi~ allein in 27,11-26 hinsichtlich der Jerusalemer Offiziellen sieht sie eine ,,Ausnahme" (vgl. 374-387,472 Amn. 26). 78 M GIELEN, Konßikt, mterscheidet durchgehend zwischen den in Gali1Aa positiv zu Jesus stehenden Volksscharen und denen in Jerusalem (ab 23,39). was mM.n. aufgnmd der Leserlenlrungen bezOglieh der narrativen Rolle der "Volksscharen" und der ,,FOhn:r' nicht zu halten
ist
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mungswechsel auf die Mitglieder des Synedrions zurückgeführt, da diese "die Volksscharen überredeten/verführten/beschwatzten". Daraus kann der Leser erschließen, daß die "Volksscharen" hier ausnahmsweise offensichtlich keineswegs von ihm als in Freiheit und Souveränität handelnde Subjekte wahrgenommen werden sollen. 79 Daß der Überredung der Volksscharen eine der Wahrheit verpflichtete Argumentation fehl~ kann der Leser erneut aus 28, 14 erschließen: Wider besseres Wissen wollen die Hohenpriester und Ältesten auch Pilatus "überreden/beschwatzen", falls ihm die Lüge, Jesu Jünger hätten seinen Leichnam gestohlen, zu Ohren kommen sollte. Daraus läßt sich schlußfolgern: Die in 27,20 genannten "Volksscharen" sollen vom Leser als Opfer politischer und religiöser Lüge und Verfiihrung betrachtet werden. Sodann ist bei einer synchron vorgehenden, narrativen Analyse darauf hinzuweisen, daß "das ganze Volk" in 27,25 "durch die erzählte Handlung klar begrenzt [... ] ist", da "vom Verhalten eines begrenzten Personenkreises" erzählt wird. 80 Dem ist zuzustimmen, auch wenn damit noch nicht alles gesagt ist, da bei den ersten Lesern die biblische Konnotation aufgrund der zahlreichen biblischen Motive im ganzen Matthäusevangelium, speziell auch an unserer Stelle mittubedenken ist. Dennoch meint "das ganze Volk (pas ho Iaos) semantisch nicht wie in Apg 3,9 "die zufällig im Tempelbezirk von Jerusalem weilenden" Menschen. 81 Dagegen spricht die biblisch-jüdische Intertextualität des Matthäusevangeliums, d.h. seine durch und durch jüdisch-biblisch orientierte sprachliche und thematische Verwobenheit. e) Selbstverständlich ist intertextueU darauf hinzuweisen, daß in der hebräischen und griechischen jüdischen Bibel "Volk" bzw. "das ganze Volk" keineswegs überall theologisch qualifiziert gedacht ist, als feste Bezeichnung fiir "Israel" figuriert, auch wenn in der Septuaginta eine deutliche Konzentration auf ,,Israel" festzustellen ist. Dies entspricht dem Begriff Iaos im Matthäusevangelium, wie der Leser durchgehend feststellen kann (vgl. 1,21; 2,4.6; 4,16.23; 13,15; 15,8; 21,23; 26,3.5.
79 U. Luz, Matthaus 1-lll. interpretiert alle anderen Stellen zu "Volksscharen" umgekehrt von 27,25 her tmd lallerstellt dabei. daß sie in voller Verantwortung und Freiheit sich gegen Jesus entscheiden. Hier werden die narrativen Lesersignale auf den Kopf gestellt! 80 K. HMCKER. ,,sein Blut über lUlS". Erw8glUlgen zu Matthaus 27,25, Kul I ( 1986) 47-50:
50Amn. 12. 81 So H. ScJ..IR.BcKENBEG, Adversus-Judaeos-Texte, 130~ eine solche Deutung halte ich fbr
einen ,,Entlastungsversuch".
Antijudaismus im Matthausevangelium?
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47~
27,1), wobei die Zitat-Einspielungen in 2,6; 4,16~ 13,15 und 15,8 besonders erkenntnisleitend bei der Rezeption sein dürften. Biblisch-intertextuell vorgegeben ist auch der Ritus des Händewaschens (vgl. Dtn 21,6; Ps 26,6; 73,13), ebenso die Formel "sein Blut komme über sein Haupt" (vgl. Jos 2,19~ 2 Sam 1,16; 1 Kön 2,32; Jer 26,15; 51,3 5). Wichtig ist die im Matthäusevangelium und in der Bibel belegte Wendung vom "unschuldigen Blut" (vgl. Dtn 21,1-9; 27,1526), demzufolge der Leser erschließen kann, daß die Rufenden in 27,25 für den Fall, Jesus sterbe unschuldig, bereit sind, die Verantwortung fiir das vergossene Blut Jesu selbst zu übernehmen. An der Tatsache, daß "das ganze Volk" narrativ ruft (analog zu Dtn 27, 11-26), kann m.M.n. nicht gedeutelt werden, ebenso nicht an der kultrechtlichen Terminologie. Aber: Was folgt aus dieser intertextuellen, literarhistorischen Perspektive? Wenn das Denkmodell innerjüdisch ist, sollten auch die Folgerungen im innerjüdischen Denkhorizont bleiben. Das heißt: In diesem Kontext dürften die ersten Leser die Konsequenz dieser Übernahme mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahre 70 als abgegolten verstanden haben (vgl. 21,41; 22,7; 23,35-38). Eine "Selbstverfluchung", wie immer noch zu lesen ist, liegt hier m.E. nicht vor, betrachtet man die gerade vorgestellte Rekonstruktion der biblischen EinspieJung und die narrative Struktur der vorliegenden Verse als angemessen für das Textverständnis. Vor allem träfe eine solche "Selbstverfluchung", selbst wenn sie vorläge, nicht alle Juden für immer und ewig, da biblisch die Strafe durchgehend auf "diese Generation" beschränkt ist. Ein "Unheilskollektiv", wie ebenfalls oft zu lesen ist, sind die in 27,20-25 versammelten Juden folglich nicht. Ebenso gilt: "Ein immer gültiges heilsgeschichtliches Gesetz läßt sich" aus 27,25 "nicht ableiten. Im übrigen hat Matthäus (als einziger der Synoptiker) ausdrücklich festgehalten, daß eben das in V. 26 [zutreffend ist 25: H.F.] zitierte Blut Jesu ,für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden' (Mt 26,28). Israel ist damit genausowenig vom Heil ausgeschlossen wie die Heidenvölker, denen sich die matthäisehe Gemeinde zuwendet, sich des Heils sicher sein können. " 82
82
H. MEioo..EIN, Jesusgeschichte, 215, 216, der mit dieser angemessenen Deutung jedoch die These vertritt, daß mit dem Gericht Ober die Stadt ,,auch das gesamte Judentum" betroffen ist (ebd. 216). BROER, Antijudaismus, 336fbalt diesen ,,soterio1ogischen Entlastungsversuc" I:Ur textlich nicht angemessen, was mit der vcx-getragenen Sicherheit wohl nicht behauptet werden kann. Immertrin entspricht diese soteriologische, universale Bedeutung des Blutes Jesu
genereU seiner Sendung zu Juden Wld Nichljuden.
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Intertextuell bietet demnach die Erzählung von der Verhandlwtg vor Pilatus in 27,11-26 eine christliche Deutung der für das jüdische Volk weitreichenden Katastrophe der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahre 70. 83 4. 5 Zusammenfassung zu den Leserlenkungen Die vorstehenden Hinweise zum Thema "Antijudaismus im Matthäusevangeliurn?" sind als exemplarische Fallanalysen gedacht, um gegen antijudaistische Stereotype bei der Auslegung zu sensibilisieren. Sie ließen sich - nicht zuletzt im Kontext der Tara-Diskussionen erweitern und differenzieren. 14 Wer jüdische Gesetze als Zustandsbeschreibung rezipiert, wer Wehe- und Gerichtsreden oder apokalyptische Topoi als informative, objektiv beschreibende Rede deutet, nicht jedoch als performative und persuasive Reden, die zu einem erneuernden Verhalten auffordern wollen, erliegt m.E. einem antijudaistischen Stereotyp, macht er doch bei seiner Auslegung dieser Texte genau das, was für stereotype vorurteilsbehaftete Wahmehmung von sozialer Wirklichkeit kennzeichnend ist: Er blendet den konkreten Entstehungskontext von Beurteilungen völlig aus und überträgt diese pauschalierend auf andere Personen ohne Beachtung der Folgen solcher Rede für die eigene Sprechsituation und die jetzt lebenden Betroffenen. Der gleiche Vorwurf ist auch denen zu machen, die undifferenziert von "dem Judentum" oder "den Juden" religionsgeschichtlich sprechen oder auch von "Matthäus bzw. der matthäisehen Gemeinde und dem Judentum", wie es allenthalben bis heute auch in wissenschaftlichen Kommentaren geschieht. Ähnlich der, der die Aufgabe der Schriftgelehrten und der anderen jüdischen Theologen darin sieht, daß sie nur die Tora und die Überlieferung auslegen, während von Jesus behauptet wird, daß er "aus unmittelbarer Autorität" verkündigt (wobei die an Einsicht, 83
Ob damit auch innerchristliche Kontroversen angesprochen sind und der Vorwwf, am Blut Jesu schuld zu sein (analog zu I Kor II ).7)- wie G. THEISSEN, Aporien, 544 vermutet - , wage ich aufgrund der von mir wahrgenonunenen Leserlenkungen zu bezweifeln. Allerdings ist filr Heidenchristen mit dem Katechismus des Konzils von Trient (Pars I, caput V, ~o XI) darauf hinzuweisen, daß die &1lndigen Christen mehr Schuld am Tode Christi haben als die paar Juden, die dabei~ diese "wußten" in der Tat ,,nicht, was sie taten" (Lk 23,34), wahrend wir unsererseits es nur zu gut wissen. Mit Recht wird dieser Text zitiert in: Hinweise ftlr eine richtige Darstellung VOO Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche, veröffentlicht am 24. Juni 1985~ zum Text vgl. R. RENoroRFFIH.H. HENRix (Hg.), Die Kirchen und das JudentLan. Dokumente voo 1945-1985, Paderbom/München 1988, I0 I. 14 Zur BegrUndung vgl. H. FR.ANKEMOLLE, Tora, in: l>ERs., Wurzeln, 261-294.
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Klugheit und Vernunft appellierenden weisheitliehen Traditionen ohnehin ausgeblendet werden). Auch die übliche Deutung der Auferweckung Jesu einzig als Beginn der apokalyptisch geglaubten Auferweckung gehört m.M.n. 85 in die unbewußte Kategorie antijüdischer Auslegung, die ihren glaubensgeschichtlichen Stellenwert erst im Kontext der damaligen unterschiedlichen religiösen Erfahrungen und Hoffnungen gewinnt. Dennoch gilt Bei aller kontextuellen, historischen, juristischen und intertextuellen Differenzierung ergibt das historische Mehr-Wissen noch keineswegs eine neue angemessene, eventuell antijudaistische Lesart. Dennoch ist das Bemühen um die argumentativen und narrativen Strukturen des Textes die not-wendige Voraussetzung, um die Not der Juden, die sie durch Jahrhunderte hindurch nicht zuletzt durch Christen erleiden mußten, abzuwenden. Erst so gewinnen Heidenchristen wiederum ein Gespür dafür, daß es im Matthäusevangelium um innerjüdische Auseinandersetzungen und um eine innerjüdische Abgrenzung zwischen der universal orientierten matthäisehen Gemeinde und der national orientierten pharisäischen Synagoge geht. Beide sind offensichtlich bemüht um Stabilisierung nach innen, die nur durch eine Abgrenzung nach außen zu erreichen ist. Dies gilt als ein soziologisches Gesetz. 86 Daß sie auch kritisch und sogar polemisch geschieht, den anderen karikierend, entspricht damaligen Sprachmustem. Auch in der innerchristlichen Auseinandersetzung im Neuen Testament sind sie unschwer zu finden. 87 Antichristlich verstehe ich letztere ebenso wenig wie antijüdisch/antijudaistisch die ersteren, da es sich hier wie dort m.M.n. um gruppeninterne Kritik handelt. "Antijudaismus" scheint mir folglich nicht vom Text "an sich" vorgegeben zu sein. 88 Vielmehr spricht die oben skizzierte, an den Leserlenkungen des Textes soweit wie möglich orientierte alternative Lesart dafür, daß eine antijüdische Auslegung der nachfolgenden christlichen Generationen wesentlich durch deren Rezeptionsbedingungen und Rezeptionsintentionen bedingt war und ist. Dieser hermeneutische Grundsatz gilt selbstverständlich auch für meine eigene heutige Textwahrnehmung in der Situation "nach Auschwitz" und im christlichjüdischen Dialog. Die Tatsache, daß die oben vorgelegte Deutung der Texte - gegen eine antijudaistische - aufgrund der Leserlenkungen 85
86
Zur Begründung vgl. H. FRANKEMOU..E, Auferweckung. in: DER.s., Wurzeln. 209-232.
Zur BegrQndung vgl. E. ScHwARZ, ldentiW durch Abgrenzung, Frankfurt/Bem 1982. Zum 2. Petrushrief und Judasbrief vgl. etwa H. FRANKEMCll.E, 1. Petrushrief 2. Petrushrief Judasbrief. 73-87, 123-130 und die Einzelauslegung zu den bekannten Stellen. 88 Diesen Eindruck vermittelt der an sich lesenswerte Aufsatz von G. THEISSEN, Aporien. 87
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durch den Text als begründet und plausibel erscheint, läßt eine antijudaistische Rezeption eben als Rezeption des Lesers, nicht aber als WirkWlg des Textes selbst erscheinen. Diese Reflexion berührt die zu Beginn des Aufsatzes entfaltete hermeneutische überzeugWlg, daß ein Text nie losgelöst vom WahrnehmWlgsvorgang und damit von der Perspektive des Lesers erfaßt werden kann.
5. Innerjüdische Kritik und (heiden)christlicher Antijudaismus Am Ende kann an den Anfang angeknüpft werden, da der Kreis sich schließt. Wenn man nach der Lektüre der von Schreckenberg aufgelisteten Texte des Neuen Testaments, die in nachneutestamentlicher Zeit antijudaistisch ausgelegt wurden, "fast zu dem Ergebnis kommen [... ] kann [... ], daß annähernd jeder Text des Neuen Testaments unter antijudaistischen Vorzeichen gelesen wurde bzw. im Lauf einer sich entwickelnden Tradition mit entsprechenden Topoi verbWlden werden konnte" -entsprechend dem "unmittelbaren Verwertungsinteresse der jeweiligen Autoren" 89, dann ist beim Thema "Antijudaismus im Matthäusevangelium?" bzw. überhaupt im Neuen Testament zu Wlterscheiden zwischen Auslegung (eines historisch vorgegebenen Textes) und Aneignung (etwa durch uns heute). Wer vom antijudaistischen Vorverständnis kritische innerjüdische Texte liest, kann sie nur antijudaistisch verstehen. Daraus folgt: In der Hermeneutik, weniger in der Methodik entscheidet sich das Vorverständnis der Textauslegung, d.h. diese selbst. Das jeweilige hermeneutische Vorverständnis macht sensibel für neue methodische Zugangswege (etwa in der narrativen Analyse, in der kontextuellen und historisch-glaubensgeschichtlichen Einbindung u.a). Dabei gilt es zu sehen, daß die glaubensgeschichtliche und historische Situation theologische Texte des Neuen Testaments auch in ihrer Sachaussage begrenzt. Die Frage, die sich an dieser Stelle verstärkt stellt, ist, wie wir heute in der heidenchristliehen Kirche solche Texte rezipieren und ihre R.l
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Funktion für systematische Theologie, kirchliche Verlautbarungen, religionspädagogische Entwürfe und liturgische Texte bestimmen. Zwei Wege erscheinen mir angemessen zu sein. Der erste, der im Neuen Testament bereits vorgegeben ist, versteht die innerjüdische Kritik auch, primär oder ausschließlich an die christliche Gemeinde gerichtet. 90 Die Schwierigkeiten dieses Weges sind nicht zu übersehen, da vermutlich wohl die judenchristliehen Leser diese durchgehende Transparenz auf die eigene Gemeinde hin instrumentalisieren konnten, spätere heidenchristliche Leser aber wohl nicht mehr, da sie keine jüdische Identität mehr bewahrten, vielmehr auf deren Kosten und unter deren Verdrängung in der Regel die heidenchristliche Identität meinten formulieren zu müssen. Dennoch stehen diese Texte im Matthäusevangelium~ sie bedürfen daher nicht nur der historischen Auslegung auch für breitere Kreise, sondern einer kritischen Aneignung. Maßstab für eine solche kritische Aneignung als zweiten Weg vermögen nur neutestamentliche Texte zu sein, die auf biblisch-jüdischer Grundlage die Kontinuität des Gottes der Bibel mit seinem Volk Israel thematisieren, wie dies in Röm 9-11 der Fall ist. 91 Dies ist der Weg 90
Dies läßt sich an dem lange mißverstandenen Kap. 23, der Wehe-Rede im Matthausevangelium. belegen:, zur BegründWtg vgl. R F'RANKBMOu.E, ,,Pbarisaismus", in: DF.Rs., Handlungsanweisungen. 133-190-, vgl. auch G. THEISSEN, Aporien, 543( Aus der paulinischen Literatur vgl. die Auseinandersetzu des Paulus im Galaterbriefmit christlichen Judai.sten. 91 Neben dem Matthausevangeliwn halte ich Röm 9-11 keineswegs fllr einen AusoaluneText Zur Begründung dieser in der gegenwartigen F
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aller christlichen offiziösen und offiziellen Veröffentlichungen zum Verhältnis von Judentum und Christentum seit dem Holocaust. Denn: Die Christen aus den Völkem (wie wir) haben nicht das Recht, eine innerjüdische Polemik (wie sie im Matthäusevangelium vorliegt) theologisch zu perpetuieren. Aus heidenchristlicher Perspektive ist theologische Sachkritik gemäß der Metapher vom Balken und Splitter (Mt 7,3-5) an israelkritischen Texten des NT zu üben. Will man inhaltlich so etwas wie die "Mitte der ganzen Schrift" angeben, so wäre auf jene Wahrheit hinzuweisen, "die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte", wie es die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung des Zweiten Vatikanums (Nr. 11) formuliert. Wohl keiner dürfte behaupten wollen, daß polemische Verformungen jene von Gott geoffenbarte Wahrheit enthalten. Gerade bei der Auslegung israelkritischer Texte aus dem Matthäusevangelium stellt sich daher die Frage einer sachgemäßen Hermeneutik mit der Konsequenz einer theologischen Sachkritik in aller Schärfe. 92 Was die Verlautbarungen aller Kirchen hermeneutisch faktisch geklärt haben (durch die Rezeption allein von Röm 9-11 ), wäre nicht zuletzt auch von Exegeten des Neuen Testaments ebenfalls hermeneutisch zu klären, es sei denn, sie verstehen sich nur als historisch-kritische Exegeten, die den Text "an sich" auslegen (als wenn dies geht!), nicht aber als Hermeneuten. Dieser Bewußtseinsprozeß steht noch ganz in den Anfängen. Um ein altes Wort aufzunehmen: Historisch-kritischer, d.h. auch hermeneutischer müßten die Exegeten sein!
92
Zur weiteren Begrundung vgl. H. fRANKF.Mou..E• .JodisdH:hristlcher Dialog. in: DERs., Wurzeln. 407430~ vgl. auch G. THEISSEN. Aporien, 550-553.
Antijudaismus im lukanischen Doppelwerk? Zur These eines lukanischen Antijudaismus MATTHIAS BLUM
"Es gibt einige Bücher, deren Bedeutung nicht klar wird, bevor nicht das letzte Kapitel gelesen ist, zum Beispiel Detektivgeschichten. Die Apostelgeschichte ist ebenfalls ein solches Buch [... )" 1 In der Diskussion um einen vermeintlichen Antijudaismus des lukanischen Doppelwerkes ist dem letzten Kapitel der Apg ebenfalls eine besondere Bedeutung zuzusprechen. Ist doch die "Verstockung" Israels (Apg 28,26t) für einige Exegeten Anlaß zu behaupten, die Kirche habe Israel nun als "wahres Israel" abgelöst und Israel könne eine Heilsmöglichkeit nun nicht mehr zugesprochen werden. 2 ,,Die geläufige Ansicht in der modernen Auslegung äußert, daß nach Paulus letzter Ausführung das Volk Israel keine Möglichkeit mehr hat, gerettet zu werden. " 3 Doch lassen die letzten Verse des letzten Kapitels der Apg eine solche abschließende Interpretation überhaupt zu, wie sie noch zugespitzter J T Sanders mit der Wendung "final solution" bietet?4 1 Ch.K.
BARREn, The End ofthe Acts, in: H LICHrnNBERGER (Hg.), Geschichte- Tradition - Reflexion (FS M Hengel}, Bd. m: Frilhes Christentum, Tobingen 1996, 545-555: 545: "There are some books whose meaning does not beoome clear ti11 the last chapter bas been ~ dedective stories, for example. Acts is another such ~ [.. .f' 2 Vgl. beispielsweise E. liAENc:HEN, Judentwn und Christentwn in der Apostelgeschichte, ZNW 54 (1963) 155-187, wiederabgedruck in: DERs., Die Bibel und wir. Gesammelte Aufsätze~ Bd. 2, Tübingen 1968, 338-374.~ G. 1..oHFINK, Die Sanunluog Israels. Eine Untersuchung zur lukanischen Ekklesiologie (SANf 39}, MOnehen 1975. 3 H. VAN DER SANDT, Acts 28,28: No salvation for the people of Israel?, EThL 70 (1994) 341-352: 343: "The standard view in modern researchisthat after Paul's last statemeot in Acts the people oflsrael no Ionger have the opportunity tobe saved." 4 Vgl. J.T. SANDERS, The Salvation of the Jews in Lukc>Acts., in: Ch.H TALBERT (ed.), Luke-Acts. New Perspectives froot the Society of Biblical Literature Seminar, New York 1984, 104-128: 109: "Acts 28:25-28 is Luke's finaljudgment on the Jews, after wbicb it would be foolish, in Luke's opinion, to waste any further missionary etrort on them." Und vgl. weiter DER.s., ebd., 115: "A final solution ofthe Jewish problern bas been indicated."
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War es fiir Lk überhaupt vorstellbar, daß Israel fiir immer vom Heil ausgeschlossen sein sollte? Oder werden in eine solche Interpretation nicht bereits bestimmte Vorstellungen über das Verhältnis von Kirche und Israel hineingetragen etwa auf dem Hintergrund ekklessiologischer Überlegungen, welche den ,,Bruch" der Kirche vom Judentum voraussetzen und von einer geschichtlichen Situation des Urchristentums ausgehen, in der die Bedeutung des Judenchristentums fiir die erzählte Zeit in der Apg negiert wird - Überlegungen, die möglicherweise ihrerseits von einem antijudaistischen Vorverständnis geleitet sind? Diese Fragen entsprechen der Variationsbreite in den Ausführungen der einzelnen Exegeten, von denen einige meinen, einen Antijudaismus bei Lk konstatieren zu können, während andere einen solchen Antijudaismus für Lk negieren. 5 Die Variationsbreite in der Auslegung und die Annahme, daß ein antijudaistisches Vorverständnis bereits eine einseitige Auslegung intendieren könne,6 lassen es notwendig erscheinen, einige hermeneutische Prolegomena nicht nur zum Begriff des Antijudaismus selbst, sondern auch zum Verständnis und zur Aufarbeitung potentieller Antijudaismen voranzustellen. Im Rahmen der hermeneutischen Prolegomena werden also zuerst begriffsgeschichtliche Reflexionen bezüglich der Termini AntijudaismuslAntisemitismus verhandelt, um dann grundlegende hermeneutische Voraussetzungen fiir eine Auseinandersetzung über potentielle Antijudaismen anzuschließen. Eine skizzierende Darstellung ausgewählter bisher erschienener Beiträge zum lukanischen Antijudaismus soll eine Grundlage fiir die sich daran anschließende Auseinandersetzung mit dem vermeintlich lukanischen Antijudaismus bilden.
5
Vgl. die Aufsatze von H. MERKEL, Israel im luk.anischen Doppelwerk. NfS 40 (1994) 371-398 und M. REsE, ,.Die Juden" im lukaniscben Doppelwert. Ein Bericht Ober eine längst nötige ,,neuere" Diskussion, in: C. BussMANNIW. RAoc (Hg.). Der Treue Gottes trauen. Beiträge zmn Werk des Lukas-, fbr Gerbard Schneider, Freiburg 1991, 61-79. die einen Oberblick über die Diskussion bieten. 6 Vgl. in diesem Zusammenhang die Forderung R KAMPI.INGS: ,,Eine vornehmliehe Aufgabe der exegetischen Antijudaismusforschung ist es, das antijudaistische Vorurteil in der Exe>gese selbst aufmdecken. Deon auch die Exegese partizipiert an einem Vorverstandnis, das durch die AuslegtmgSgeschichte geprägt wurde, die eben von Antijudaismus nicht frei war." R l
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1. Hermeneutische Prolegomena 1.1. Begriffsgeschichtliche Reflexionen Es ist nicht zu umgehen, einem solchen Aufsatz einige begriffsgeschichtliche Reflexionen voranzusteUen, denn nur wenn angefiihrt wird, was unter Antijudaismus bzw. Antisemitismus verstanden werden soll, können entsprechende Annahmen wie jene, daß im lukanischen Doppelwerk kein Antijudaismus konstatiert werden könne oder jene, daß der Antijudaismus im konstitutiven Sinn zum Christentum gehöre, adäquat nachvollzogen werden. In diesem Aufsatz wird die von G./. Langmuir vorgegebene Definition zugrundegelegt, nach welcher Antijudaismus als "eine gänzliche oder teilweise Opposition gegen das Judentum- und gegen Juden als dessen Anhänger - von Menschen, die ein konkurrierendes System von Glaubensinhalten und Praktiken haben und bestimmte genuine jüdische Glaubensinhalte und Praktiken als minderwertig erachten", verstanden wird. 7 Der Vorteil der von Langmuir vorgeschlagenen Definition ist gleichzeitig auch ihr Nachteil; sowohl Vorteil als auch Nachteil liegen in der Weite des Begriffs. So ist es von Vorteil, die Definition relativ weit zu fassen, um so entsprechend viel unter ihr subsumieren zu können. Dieses kann jedoch ebenso zum Nachteil gereichen, wenn das unter der Definition Subsumierte zur Unbestimmtheit neigt. Antijudaismus ist von Antisemitismus aufgrund der den Begriffen zugrundeliegenden zeitlichen Abfolge zu unterscheiden, da der Begriff Antisemitismus erst im 19. Jh. entstanden ist und für die Konstruierung eines rassischen Systems in Anschlag gebracht wurde: "schon im Wort den rassisch konstruierten Gegensatz zwischen ,Semiten' und anderen (,Ariern') anzeigend". 8 Die Entscheidung für den Gebrauch des I...ANoMMuiR. Toward a Definition of Antisemitism. Berkeley/Los Angeles/Oxford, 1990, 57: "Anti-Judaism I take to be a total or partial opposition to Judaism - and to Jews as adherents of it- by people who accept a competing system ofbeliefs and practices and consider certain genuin Judaic beliefs and practices as inferior." Ich schließe mich der Übersetzung der Definition durch R. KAMPI.ING, Antijudaismus, 113 an. 8 J. HEIL, ,,Antijudaismus" und ,,Antisemitismus''- Begriffe als Bedeutungstrage, Jahrbuch filr AntisemitismusforschWlg 6 ( 1997) 92-114: 99. Die bewußt aufgrund der zeidichen Abfolge gewählte Differenzierung von Antijudaismus und Antisemitismus ist einer Differenzierung in einen theologisch verstandenen Antijudaismus und einen säkular verstandenen Antisemitismus in parallelem historischen Verlauf vorzuziehen. welche über die Begriftlichkeit die Phaoomeoe verzerren kOnnte. Vgl. J. HEIL, ,,Antijudaismus", 104: ,,Auch die Scheichmg von Antijudaismus (theologisch) und Antisemitismus 7 G.l
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Begriffs Antijudaismus gegenüber dem Begriff des Antisemitismus liegt also in deren zeitlicher Abfolge und nur bedingt in der inhaltlichen Unterscheidung. "Nur bedingt" insofern, als daß einerseits mit der Konstruierung eines rassischen Systems durch den Begriff Antisemitismus eine grundlegende inhaltliche Differenz wohl vorgegeben wird, 9 andererseits jedoch inhaltliche Kontinuitäten nicht von der Hand zu weisen sind, unabhängig davon, wie man diese - ebenso wie die Brüche - bewerten mag. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht somit auch die Frage, inwieweit ein theologischer Antijudaismus an der Genese des Antisemitismus partizipiert, gleichwohl mit dem Begriff Antisemitismus auch eine bewußte Absetzung gegenüber einem theologisch verstandenen Antijudaismus auf vermeintlich wissenschaftlicher Basis angestrebt wurde. Trotz dieser bewußt intendierten "wissenschaftlichen" Abgrenzung durch die Vertreter des Antisemitismus zeigt eine historische Analyse jedoch auch den Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungsformen der Judenfeindschaft auf, "daß nämlich eine Stigmatisierung der anderen den Boden bereitet hat und die Juden ein Stein des Anstoßes geblieben sind." 10 "Und das bedeutet eben auch", wie E. W Stegemann betont, "daß die vormodernen Formen, insbesondere die christliche Judenfeindschaft, heute nicht mehr vom modernen Antisemitismus und nicht mehr von der Shoah losgelöst in den Blick genommen werden können. " 11 (sakular) als sich gegenseitig stimulierende Vorurteilssystem in paraUelern historischem Verlauf verzerrt Ober die Begrifllichkeit die Phänomene, denn es kann nicht jede antike und
mittelalterliche Judenfeindschaft, sobald sie nicht direkt an (christliche) Theologie gebunden ist, als Antisemitismus bezeiclmet und damit einzig das Handeln ohne Ansehen der Ideologie zum Wesensmerlemal von Antisemitismus erhoben werden." Vgl. hinsichtlich des Problems der Definition ebenfalls: J.O.G. DuNN, The Questioo of Anti-semitism in the New Testament Writings ofthe Period, in: DERs. (ed.), Jews and christians: the parting ofthe ways A.D. 70 to 135 (WUNT 66), Ttlbingen 1992, 1n-211: 179-182. 9 Ich folge hier der Ausfbhrung J. HEn.s, mit der er zu Recht betont, daß die "Wende hin zu einer nachreligiösen, rassischen Fonnulienmg der Judenfeindschaft [... ) als der wesentliche Einschnitt in der Geschichte der Judenfeindschaft in der Geschichte der Neuzeit verstanden [wird] und[ ... ) auch begrifilich darge.\1ellt werden [muß)." J. HHn., ,,Antijudaismus", 105. Entsprechend betont HHn., ebd., daß die Bezeichnung vormoderne Judenfeindschaft "ohne Verwendwlg des Antisemitismusbegriffs'' auszukoounen habe. 10 E.W. S"ffiGEMANN, Judenfeindschaft. Zwischen Xenophobie und Antisemitismus, Kul 10 (1995) 152-166: 153. II Ebd., 153f E.W. STEGEMANN betont in aller Offenheit, ebd.: "Wer meint, vonnodemen christlichen Antijudaismus heute wiederholen zu dorfen oder gar aus GrOnden der christlieben IdentiWsbil
Anlifudaismus im lukanischen Doppe/werk?
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Mit der Diskussion um die begriffsgeschichtliche Vermeidung des Antijudaismusbegriffes stellt sich natürlich ebenfalls die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Antijudaismusbegriff schon für die neutestamentlichen Schriften zu veranschlagen oder ob etwa nicht besser von inneijüdischer Polemik die Rede sein sollte, um nicht - bedingt durch die Rezeptionsgeschichte - etwas in den Text hineinzulesen, was in der Form noch gar nicht angelegt ist. 12 Auch werm diese Gefahr durch die Rezeptionsgeschichte zweifelsohne gegeben ist, sollte die begriffliche Verwendung doch beibehalten werden, um mögliche Oppositionen und Konflikte nicht vorschnell begriffsgeschichtlich zu entschärfen. Ein vorsichtiger Gebrauch ist jedoch angezeigt.
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Vgl. etwa in grundsätzlicher Hinsicht H. SCI-IREcKENBERG, Die christlichen AdversusJudaeos-Texte und ihr literarisches und histmscbes Umfeld (1-11 Jb.), Frankfurt 1982 (1. Aufl.), 84: ,.Die Frage nach Antijudaismus und Antisemitismus im Neuen Testament ist methodisch verfehlt und schon im Ansatz absurd. Die Vertreter dieser Ansicht zielen auf ein biblWstisches Mißverstehen einzelner neutestamentlicher Redeweisen, die vielmehr im Lichte eines einßlhlsamen historisch kritischen Verstehen m sehen sind. Bis tief in die zweite Halfte des I . Jh. ist das Christentwn eine inneljodische Entwicklung und die vermeintlich antijüdische Apologetik und Polemik des Neuen Testaments ist vor allem Ausdruck eines Ringens inneljodischer Gruppierungen \D1l die Messiasfrage und das Reich Gottes." Vgl. ehenfalls CA EvANs, Faith and Polemic: The New Testament and First-centwy Judaism, in: DERs. et al. (ed. ), Anti-Semitism and Early Christianity. Issues of Po1emic and Faith, Minneapolis 1993, 1-17: 11: "In my judgment viewing the New Testament and the first two generatioos of early Christianity as anti-Semitic is hopelessly anachronistic (... ] Early Christians did not view themselves as betonging to a religion that was distinct from Judaism. New Testament Cbristianity was Judaism - that is, what was believed to be the true expression of Judaism." Und vgl. in bezugauf das lukanische Doppelwerk etwa D.L. TIEDE, ,,Figbting against God": Luke's Intelpretation of Jewish Rejection of tbe Messiah Jesus, in: CA EvANS et al. (cd.). AntiSemitism and Early Christianity: Issues of Polemic and Faith, Minneapolis 1993, 102-112: 104: "In its historical setting, it is impossible forthisnarrative tobe aoti-Jewish, at least not anti-Jewish in the way it willlater be used by a dominant cultme of gentile Christianity." Vgl. aber demgegenober ebenfalls D. FLUSSER, Der Gekreuzigte und die Juden, in: DERs., Entdeclamgen im Neuen Testamenl Bd. 1: Jesuswme und ihre Überlieferung, Neukirchcn-Vluyn 21992, 197-209: 197: ,,Aus leider fUr den Außenstebendcn durchsichtigen apologetiscben Gtünden entstehen dazu noch pseudohistorisc Konstruktionen, \D1l das schwere Leiden der Juden durch die Christen als eine Entgleisung m entschuldigen. Diese Theorie wird weitergegeben, und vom jüdischen Gesprachspartne wird verlangt. er solle mit der gutgemeinten Entschuldigung glOcklich leben. Das körmte man vielleicht noch irgendwie ertragen, aber was soll dazu ein Wissenschaftler sagen? Leider kann es ilun leicht passieren. daß, wenn er ein Jude ist und es z.B. sein wissenscbaftliches Gewissen nicht erlaubt, ,Antijudaistica' im Neuen Testament als ,prophetische Scbeltreden' dankend entgegenzunebme sein christlieber Kollege aggressiv wird! Soll darm der jüdische Wissenschaftler \D1l des lieben Friedens willen die einfache Wahrheit, die aus den Texten spricht, verleugnen?"
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1. 2. Henneneutische Voraussetzungen Die hermeneutische Voraussetzung sei mit der Option der nicht-antijudaistischen Hermeneutik benannt. Mit dieser prononciert nichtantijudaistischen Hermeneutik wird das Bemühen um ein Verständnis der Schrift benannt, welches einen vorhandenen Antijudaismus kritisch reflektiert und einer möglichen Weiterführung eines solchen Antijudaismus entsagt~ die kritische Reflexion sollte dabei über ein "bloßes Verstehen" der neutestamendichen Antijudaismen hinausgehen. 13 ,,Es geht bei der Frage nach dem Ursprung des Antijudaismus mithin um die Schrift als Glaubensurkunde und um ein Verständnis der Schrift, das diesen Antijudaismus nicht fortschreibt, um eine nicht antijudaistische Hermeneutik." 14 Daß es bei der Frage nach dem Ursprung des Antijudaismus mithin um die Schrift als Glaubensurkunde gehe, benennt darin einen Sachverhalt, der bei dieser Auseinandersetzung immer auch bedacht und verhandelt werden muß: In welcher Weise berührt ein wie auch immer konstatierter Antijudaismus den christlichen Glauben in seinem Selbstverständnis und welche Konsequenzen hat dieses möglicherweise? Entsprechend formuliert D. Marguerat: "Es handelt sich um die Frage, in welchem Fall der Antijudaismus ein perverser Effekt der Lektüre der Schriften ist, ein sekundärer unerwünschter Effekt irgendeiner Art und in welchem Fall der Antijudaismus- und das ist der Fall, welcher noch mißlicher ist - eine innere Gegebenheit der Schrift ist." u Handelt es sich bei einem Antijudaismus um einen "perversen Effekt" der Lektüre der Schriften, der als "sekundärer, unerwünschter Effekt" als eben unerwünscht benannt und entsprechend korrigiert werden kann, so berührt ein aus der inneren Gegebenheit der Schrift konstatierter Antijudaismus unmittelbar das Selbstverständnis chrisdichen Glaubens. Entsprechend konstatiert Langmuir: "Ein Pro-
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Vgl. G. THHISSEN, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments, in: E. BLUM et al. (Hg.). Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R Rendtortl). Neukirchen-Vluyn 1990, 535-553: 549: .,Vielleicht dürfen wir uns daher nicht mit dem Versuch begnügen, die neutestamentlichen Antijudaismen zu verstehen. Wir müssen sie bewteilen. Damit kommen wir zur Notwendigkeit von Sachkritik." 14 R KAMPL.ING, Antijudai.smus, 112. 15 D. MARGUERAT, Le Nouveau Testamentest-il anti-juif? L'example de Matthieu et du Iivre des Actes, RThL 26 (1995) 145-164: 145:., D s'agit de savoir dans quel cas l'antijudalsme est Wl effet pervers de Ja lecture des Eaitures, Wl effet secondaire indesirable en quelque sorte., et dans quel cas l'antijudalsme aqxtsente- ce qui est bienplus embarrassant- une dmnee interne a l'Ecriture."
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blem, das zu lösen bleibt, ist, wie Christen Christen bleiben können und Antijudaismus vermeiden können." 16 Mit der Frage nach der "inneren Gegebenheit" eines christlichen Antijudaismus wird nun eine Debatte angesprochen, in welcher gerade auf diese fundamentale "innere Gegebenheit" verwiesen wird. Eine solche innere Gegebenheit wäre möglicherweise durch lukanische Alltijudaismen gegeben, da in dem lukanischen Doppelwerk das Verhältnis Kirche und Israel auf dem Hintergrund der Frage nach der theologischen Identität der Kirche das vorrangige Thema ist, an welchem die ekklesiologischen Betrachtungen ansetzen. Daß der christliche Antijudaismus theologisch essentiell im Hinblick auf das NT sei, wurde, wenn auch mit unterschiedlichen Ausrichtungen sowohl von R. Ruether als auch von U. Wilc/cens herausgestellt. 11 Während Ruether ihre theologische Verortung des christlichen Antijudaismus in der Christologie jedoch grundlegend problematisiert, verweist Wilc/cens vielmehr auf die wesentliche Bedeutung der urchristlichen Judenpolemik "auch für das gegenwärtige Christentum.'" 8 Dieses Wilckenssche Verständnis, welches sich gegenüber jeder religiösen Diffamierung verwahrt und nur auf die Profliierung des eigenen Glaubens verweisen möchte, 19 wird gerade wegen dieser unterscheidenden Begründung nicht geteilt. Denn es bleibt fraglich, ob diese Unterscheidung, daß die antijudaistischen Motive des NT wohl zur Profliierung des eigenen Glaubens bejaht werden können, aber nicht zur religiösen Diffamierung der Juden gereichen sollten, in dieser Form aufrecht erhalten werden kann, ist doch eine solche Diffamierung in den antijudaistischen Motiven implizit schon angelegt. 20 Daß zwischen der antijüdischen Polemik und der I...ANGMuiR. Definition, 62: ,.,A problernthat yet remains tobe solved is how Christians remain Christians and avoid anti-Judaism." 17 Vgl. R. RUElliF.R. NAchstenliebe und Brudennord: Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus, München 1978~ DIEs., Christologie und das VerhaltDis zwischen Juden und Christen. Cooc (D) 29 (1993) 85-93~ U. WILCKENS, Das Neue Testament und die Juden. EvTh 34 ~1974) 602~ 11. 1 Vgl. U. WII..CKENs, Neue Testament, 609. 19 Ebd., 611. 20 Die Tragfiihigkeit dieser Unterscheidung wird von U. WII..CKENS auch in einem neueren Aufsatz ( 1998) unhinterfragt vorausgesetzt U. WII..CKENS, Monotheismus und Christologie, JBTh 12 (1998) 87-97. So schreibt Wn.cKENS, ebd., 97: ,.Die Shoah an diesem Volk [Juden~ MBJ in der Mitte unseres zu Ende gehenden Jalubunderts ist nicht nm eines der schlimmsten Verbrechen der Geschichte der Völker, sondern sie ist ftlr cbristlicbes Urteil die abgründigste Sünde gegen den einzig~ Gott selbst. nämlich die Verkehrung des von i1un aufgetragenen Streits um die Wahrheit seines Wesens als Liebe in grausamen Haß." WJL. CKENS setzt somit voraus, daß der Streit in Liebe ausgetragen werde, obgleich er, ebd., 96f, 16 G.I.
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christlichen Identitätsbildung ein Zusammenhang besteht, wie dies Wilclrens in seinem Aufsatz auch herausstellt, ist gesondert zu verhandeln, hatte doch die Nähe zum jüdischen Identitätsverständnis fiir die Juden stets auch negative Auswirkungen. 21 Es ist deutlich geworden, daß mit der potentiellen Konstatierung eines theologischen Antijudaismus eine Reihe von Problemen aufgeworfen werden, die den christlichen Glauben in seinem Selbstverständnis berühren und damit ebenfalls eine Reihe von Fragen nach der Verortung und Gewichtung und insbesondere nach der Aufarbeitung eines solchen Antijudaismus aufwerfen. In der exegetischen Aufarbeitung neutestamentlicher Antijudaismen finden sich im allgemeinen zwei Varianten von Relativierungen der Antijudaismen: So wird entweder auf eine textimmanente oder auf eine historische Weise der Versuch unternommen, die entsprechenden Antijudaismen zu relativieren. 22 So betont G. Theißen im Rahmen der textimmanenten Relativierung antijüdischer neutestamentlicher Aussagen: "Die antijüdischen Aussagen des Neuen Testaments sind im Kontext der jeweiligen Schrift bzw. aller Schriften eines Verfassers zu lesen. Neben den antijüdischen Aussagen gibt es andere. Wir finden eine
ebenfalls betont, daß es auf dem Hintergrund dieses Streits von Kirche Wld Synagoge wn die Erkenntnis und Anerlrenntnis des einzig-einen Gottes zwischen der Kirche und Israel kein Verhältnis frelmdschaft.liclHI.istanzierter Toleranz geben körme, "wie es sonst in der zur Einheit zusanunenwachsenden Völkerwelt unserer Gegenwart dem Verhältnis zwischen verschiedenen Religionen angemessen isf•. Doch muß Wn..CKENS nicht Toleranz voraussetzen, wenn er einen Streit in Liebe fordert? So scheint WD...CKENS die Möglichkeit eines Streites zwischen Kirche und Synagoge mn die Erkenntnis des einzig-einen Gottes in Liebe vorauszusetzen. ohne zu beachten, daß dieser Streit häufig nicht in Liebe ausgetragen wurde, sondern von Diffamierung begleitet wurde und ohne zu beachten, daß die Forderung nach einer Austragung des Streites in Liebe doch zu einem großen Teil ein neuz.eitliche Toleranzverständnis, welches Wn..cKENS aufgnmd seines Glaubensverstandnisses meint negieren zu müssen, implizit zugrunde legt. 21 Vgl. in diesem Zusammenhang die Feststellung J.D.G. DuNNs, Two Convenants or CllW!? The lnterdependence of Jewish and Cbristian ldentity, in: H. LICHI'ENBERGER (Hg.), Geschichte -Tradition- Reflexion (FS M. Hengel); Bd ID: Frühes Christentum. Tübingen 1996, 97-122: l 0 l: ·'The reality is that dwing tbe fint three or four centuries of tbe common area Judaism was not on the rdJl:at. withdrawn into itself Quite the contrary. The boot was more often on the other foot- a still smalJ and struggling Cbristianity trying to give itselfthe greater credibility by defining itself more shalply over against tbe strooger, more establi.shed Judaism. One could almost make the rule: tbe fien::er the invective, the weaker tbe cause defended, the stronger the Judaism attacked." 22 Vgl. G. THEISSEN, Apmen, 539. Die von G. THEISSEN ebd. angeruhrte dritte Variante der S)111bolischen Relativierung soll hier nicht zur Diskussion gestellt werden.
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starke Spannung zwischen positiven und negativen Urteilen. " 23 Diese Spannung ist Ausdruck der Ambivalenz positiver und negativer Aussage~ welche daran erinnert, daß die Genese christlicher Religion sowohl Bindung an als auch Distanzierung von ihrer jüdischen (Mutter-)Religion kennzeichnet. Denn die neutestamentlichen Schriften sind Dokumente "der Bindung und der Loslösung zugleich". "Sie sind Zeugnisse des Frühjudentums und zugleich Beleg für den Weg aus dem Verband des Judentums."24 Die Reflexion über die eigene christliche Identität erinnert somit immer auch an die dilemmatische Situation der Befindlichkeit zwischen Juden und Nichtjuden. Die textimmanente Relativierung neutestamentlicher Antijudaismen sollte jedoch nicht zu einer Bagatellisierung der antijudaistischen Elemente etwa auf dem Hintergrund von Röm 9-11 führe~ da damit das historische und theologische Profil der einzelnen neutestamentlichen Schriften bewußt eingeebnet werden könnte. 25 Die historische Relativierung antijüdischer Aussagen erklärt und deutet die antijüdischen Vorwürfe als "übliche" innerjüdische Polemik, wie sie in innerjüdischen Konflikten in Anschlag gebracht wurden. Im Rahmen dieser Relativierung ist dem Selbstfindungsprozeß der christlichen Kirche eine große Bedeutung zuzusprechen. Die Notwendigkeit auf den historischen Ort der neutestamentlichen Antijudaismen zu verweisen, ist damit unbedingt gegeben. Doch ob aufgrund dieser historischen Relativierung die Entstehung der Antijudaismen auf die dann dem NT nachfolgende antijudaistische Rezeption und nicht auf den Prozeß der Textwerdung selbst zurückgefiihrt werden kann, bleibt fraglich und ist im einzelnen zu erhellen. 26 Grundsätzlich kann das Problem antijüdischer Tradition jedoch nicht nur als ein Problem ihrer Ausleger verstanden und erklärt werden. 27 Auch wenn die Notwendigkeit einer 23
G. THE~,Aporien, 540.
24
R.l
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historischen Verortung evident ist, ist zu betonen, daß die Historisierung potentieller neutestamentlicher Antijudaismen im Rahmen innerjüdischer Polemik die Charakterisierung antijudaistischer Aussagen als antijudaistisch aufgrund der Beachtung28 ihrer auch antijudaistischen Rezeptionsgeschichte nicht obsolet macht.
2. Zur Debatte um einen möglichen Antijudaismus bei Lukas Die Debatte über einen möglichen Antijudaismus bei Lukas weist eine große Vielfalt an Beiträgen auf, welche sich durch kontroverse Annahmen auszeichnen, so daß ein Konsens über einen möglichen Antijudaismus bei Lukas nicht konstatiert werden kann. 29 Bereits mit der
Holocaust: Einsichten tmd Versuche, StuUgart 1980,71-89:77: "Damit behaupte ich nicht, daß die antijodische Tradition nur ein Problem der Ausleger tmd nicht ihreJ Texte ware. Tatsachlich nimmt der Antijudaismus schon im Neuen Testament seinen Anfang." Vgl. tbr die Rezeptionsgeschichte R. I
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Betrachtwtg der zugrundeliegenden Textzeugen stellt sich die Frage nach einer antijudaistischen Tendenz etwa der westlichen Version. 30 Es finden sich sowohl Beiträge, die einen lukanischen Antijudaismus konstatieren, wie auch solche, die eine derartige Annahme gänzlich negieren. Andere wiederum verweisen auf das Nebeneinander von positiven und negativen Aussagen über Israel. So resümiert L. Gaston: "In any case the paradox remains that Luke-Acts is one of the most proJewish and one of the most anti-Jewish writings in the New Testament."31 Wieder andere wie F Mußner kommen zu dem Fazit, daß der ",Antijudaismus' des Lukas [ ... ] theologisch [ist], nicht politisch oder rassisch bedingt." 32 An das Fazit eines theologischen Antijudaismus schließt sich unweigerlich die Frage nach der Theologie des Lukas an. Eine antijudaistisch bedingte Theologie wäre dann als eine Theologie zu verstehen, die den theologischen Selbstfindungsprozeß der christlichen Kirche in bewußter Abgrenzung gegenüber der jüdischen Mutterreligion versteht. Da der Selbstfindungsprozeß der christlichen Kirche sich zwar unmittelbar auf der theologischen Ebene vollzieht, aber sich nicht auf die theologische Identitätsfindung beschränkt, mutet eine Unterscheidung in einen wohl theologisch konstatierten, aber politisch negierten Antijudaismus allzu künstlich an. Und häufig verbergen sich hinter den theologischen Konflikten soziale Konflikte. Die Diskussion über einen potentiell lukanischen Antijudaismus berührt damit auch in fundamentaler Weise die Frage nach dem Selbstfindungsprozeß der christlichen Kirche. Wenn J. Jervell herausstellt, daß das theologische Verständnis der Apg "entscheidend" davon abhänge, "wie man ihre jüdische Prägung interpretiert", 33 so ist analoges für einen potentiellen Antijudaismus zu
Overbecks zur Auslegung der Apostelgeschichte im 19. Jahrhundert. Göttingen 1975 tmd dessen Ausftlhrungen Ober den ,,nationalen Antijudaismus der AG" bei Overbeck ( 121 f). 30 Vgl. C.K. BARRErr, Js there a theo1ogicaJ tendeocy in Codex Bezae?, in: E. BESTIR.Mc.L. WILSON (ed.), Text and Interpretation. StuWes in the New Testamentp-esented to Matthew Black, Cambridge 1979, 15-27. Vgl. E.J. EPP, The ,,Ignoranz Motiv• in Acts aod Antijudaic TeDdeneies in Codex Bezae, HfhR 55 (1962) 51-62. Auf die Frage narh der Hedrunft des westlichen Textes bzw. was denn "westlich" in diesem Zusammenbang bedeute, sei nicht weiter eingegangen. 31 L. GASTON, Anti-Judaism and the Passion Narrative in Luke and Acts, in: P. RICHARDSON (ed.), Anti-Judaism in Early Christianity. Vohune 1: Pau1 and the Gospels. Toronto 1986, 127153: 153. 32 F. MussNER, Die Erzahlintention des Lukas in der Apostelgescbichte, in: DERs., Dieses Geschlecht wird nicht vergeben. Judentum und Kin:be, Freiburg 1991, 101-114: 114. 33 J. JERVEI.L, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 50.
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betonen. Es ist ein Unterschied, ob die jüdische Prägung der Apg als ein historisches Moment und das Judenchristentum entsprechend als eine Randerscheinung der Kirche verstanden wird, als Teil eines Urchristentums, dessen heilsgeschichtliche Phase schon vergangen ist oder ob der jüdischen Prägung der Apg eine größere Gewichtung beigemessen wird insofern, als daß diese Prägung und mit ihr die Darstellung des Judenchristentums eine paränetische und vorbildhafte Funktion erfiillen soll. Potentiell konstatierte Antijudaismen würden im ersten Fall in konstitutiver Weise für die Genese des Urchristentums interpretiert werden können - auf dem Hintergrund eines sich bewußt vom Judenchristentum abgrenzenden bzw. abgegrenzt habenden Heidenchristentums - , während im zweiten Fall die potentiell verorteten Antijudaismen auf dem Hintergrund eines immer noch bedeutsamen Judenchristentums, welches noch nicht im Heidenchristentum aufgegangen ist, sondern dem allmählich entstehenden Heidenchristentum noch als eine eigenständige Größe gegenübersteht, zu interpretieren wären. Die Topoi Judenchristentum/Heidenchristentum deuten jedoch die Problematik an, welche sich bereits mit der Beschreibung des Selbstfindungsprozesses der christlichen Kirche und vor allen Dingen mit der Beschreibung des Auseinandergehens der Wege (parting of the ways )34 ergibt. 3s Denn so betont C. Colpe, die Darstellung eines historischen Objekts drücke ein historisches Objekt nicht einfach aus, sondern konstruiere ihrerseits dieses auch erst. 36 Und entsprechend führt Colpe 34
Vgl. J.D.G. DuNN (ed}, The Parting ofthe Ways A.D. 70 to 135 (WUNf 66), Tübingen 1992. lS Vgl. diesbezüglich nur C. COLPE, Das deutsche Wort ,Judenchristen" und ihm en~ chende bistorisehe Sachverhalte. in: DERs., Das Siegel der Propheten: Historische Beziehungen zwischen antikem Judentum. Judenchristentum. Heidentum und frOhem Islam. Berlin 1990, 38-58: 38: "Unter den Transformationen in der Religioosgeschichte ist diejenige, die vom Judentmn zmn Christentmn geftlhrt hat, vielleicht inuner noch der historisch schwierigste Fall, obwohl ihr mehr Untersuchungen als anderen Transfmnatiooen gewidmet sein dürften. Der Begriff ,Judenchristentmn' drückt oft nicht mehr als die Schwierigkeit dieses Tatbestandes aus." Und vgl. ferner DBR.s., Die Ausbildung des Heidenbegriffs in antikem Judentum und frOher Kirche und das Zweideutigwerden des Chri.stentmns, in: DF.Rs., Das Siegel der Propbeten: Historische Beziehungen zwischen antikem Judentum, Judenchristentmn, Heidentum und frOhem Islam. Berlin 1990, 90-122: 90f: ..,Der Begriff des Heidentmns ist unentbehrlich. In i1un kmunt zmn Ausdruck, daß die cbristliche Religim die Norm aller Religionen ist.· Diese Worte enthalten eine Voraussetzung. in der sich noch heute Theologen, Etlmologen, Übersetzer, Historiker und Dissidenten jeder Provenienz gegenseitig bestarken können." (C. Cot.PE zitiert zu Beginn E. S'IRASSF.R, ,,Der Begriff des Heidentums"~ vgl. ebd. Amn. 1) 36 Vgl. C. CoLPE, Wort, 38.
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weiter aus: "Der häufig geübte Gebrauch, Judenchristentum im Gegensatz zu Heidenchristentum zu definieren, trägt nicht viel aus, weil in das letztere mit dem Heidenbegriff auch noch ein grober Anachronismus hineingekommen ist. " 37 Weiterhin ist von der Thematik die Frage nach der Herkunft des Autors nicht zu trennen: War Lukas Judenchrist und war der Charakter seines Werkes explizit jüdisch oder war er Heidenchrist, der eine heidenchristliche Schrift für Heidenchristen verfaßte? Und waren die Leser/innen Judenchristen, Heidenchristen oder mitunter sogar Heiden?38 Mit den divergierenden Positionen über einen möglichen lukanischen Antijudaismus einschließlich seiner Negierung korrespondieren die unterschiedlichen Erklärungen desselben. Diese Positionen und ihre Erklärungen im einzelnen noch einmal vorzustellen, erscheint nicht sinnvoll, da bereits M Rese, H. Merke/ und J.B. Tyson in ihren Beiträgen diese Arbeit geleistet haben. 39 Exemplarisch sei jedoch kurz auf drei Positionen und ihre Erklärungsmuster hingewiesen. 40 In unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage nach einem möglichen lukanischen Antijudaismus steht die Frage nach der Erlösung des jüdischen Volkes. Kann dem jüdischen Volk Erlösung zuteil werden? Ist die Hoffnung auf Rettung für das jüdische Volk noch berechtigt? H. Räisänen reflektiert in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Position R. C. Tannehil/s das Problem der Rettung bzw. der Erlösung Israels im lk Doppelwerk. 41 Die von Tannehili ausgemachte
37
Ebd., 41. Vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls die Ausftlhrungen von J.D.G. DuNN, Two Convenants, 107-113: "What's in a Name?'' 38 Vgl. beispielsweise K. LONING, Das Geschichtswerk des Lukas~ Bd. 1: Israels Hoffnung und Gottes Gebeimnisse., Stuttgart 1997, 10: ,,Lukas schreibt ftlr ein heiden:hristliches Publikum, das sich knapp eine Generation nach der ZerstOnmg des Jerusalemer Tempels seiner eigenen kulturellen Identität vergewissem muß." Und vgl. ebenfalls P. POKC>RNY, Theologie der lulcanischen Schriften (FRLANT 174). Göttingen 1998, 39: ,,Das lokanisehe Doppelwerk ist ftlr die Heidenchristen zu ihrer Erbauung und Katechese bestinunt (... f' Vgl. dagegen J. JER.VFlJ., Apostelgeschichte, 90: " Es geht dann also bauptsächlich wn judenchristliehe Leser und ehemalige Gottesftlrchtige. In diesem Milieu waren die .Judendu'islen das bestimmende Element Gerade ftlr solche will Lukas ihre cluistliche Legitimität aufZeigen. dass sie das Gottesvolk, Israel sind, auch und gerade dann, werm Nichtjuden Anteil am Heil Israels bekonunen." 39 Vgl. M RESE, ,,Die Juden"; H. MERKEL, lsrae~ J.B. TYSON, Jews. 40 Vgl. auch die Zusammenfassung von M. RESE, ,,Die Juden". 41 Vgl. H. RAisANEN, The Redemption of Israel. A Salvation-Historical Problem in LukeActs, in: P. LUOMANEN (ed.), Luke-Acts: Scandinavian Perspectives. Helsinki 1991, 94-114.
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Erlösung des jüdischen Volkes - gekennzeichnet durch die Erlösung Jerusalems - sieht Räisänen in der lk Erzählung nicht erfüllt, denn diese ende mit der Feststellung, daß die Juden blind und taub seien und so bleiben würden, während die Heiden hören würden und Rettung erlangten (Apg 28, 26-28). 42 Doch habe Tannehili nach Räisänen ein reales Problem aufgezeigt, wenn dieser (Tannehill) betone, daß die Erfüllung der Schriftprophetie nur schwer vereinbar sei mit einem Verschwinden der Hoflhung der Restitution des Volkes Israel. 43 Die deshalb von Tannehili herausgestellte Lösung in der Hoflhung für Israel aufgrund von Lk 13,34-35 und Apg 3,19-21 teilt Räisänen jedoch nicht. Nach Räisänen gingen Aussagen, welche auf den ersten Blick eine spezielle Hoflhung fur das jüdische Volk - fur "Israel qua Israel" - vorzuschlagen schienen, zu einem mehr individualistischen und spirituellen Blick der Rettung über; Räisänen verweist dabei auf Lk 1,77; 4,16ff; 19,38; 24,21.44ff; Apg 1,6ff; 2,39; 3,24ff; 13,32ff; 15,14ff; Apg 26. 44 Die Begegnung mit dem Messias teile Israel in zwei Teile. Die Sprache Israels (,,lsrael-language") werde verwendet, um auszudrücken, daß der Messias Rettung ebenso zu den Heiden bringen werde. Juden, die Jesus nicht akzeptierten, würden von dem Volk Gottes ausgeschlossen und verdammt. 45 Auch wenn Tannehili nach Räisänen richtig erkannt habe, daß fur Lukas die Notwendigkeit bestehe, absolute Kontinuität zwischen der alten biblischen Religion und seinem lukanischen Christentum aufzuzeigen, folge daraus nicht, daß Lukas eine spezielle Hoflhung fur Israel aufrecht erhalte. Das unlösbare theologische Problem bleibe erhalten. 46 Wenn Tannehili die realisierte Hofthung für Juden und Heiden herausstelle, vergesse er das lukanische Bedürfhis nach Legitimation. So sei es ein Anliegen des Lukas zu zeigen, daß seine christlichen Ansichten die wahre Interpretation der Bibel seien. Auch wenn die lukanische Sprache eine sehr positive Haltung gegenüber dem Judentum suggeriere, sei seine Haltung in Wirklichkeit sehr ambivalent. 47 Lukas sei in seiner übertriebenen Kontinuität antijüdisch, indem er einen Keil zwischen die alttestamentliche Vgl. dazu ebenfalls R.C. TANNEHILL, ,,Israel in Luke-Acts: A Tragic Story'', JBL I04 (1985) 69-85. 42 Vgl. H. RAisANEN, Redemption, 94. 43 Vgl. ebd., 95. 44 Vgl. ebd., 106. 45 Vgl. ebd., 106. 46 Vgl. ebd., 106. 47 Vgl. ebd., 110.
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Religion und das gegenwärtige Israel treibe. So versuche er nicht, Sympathie für das tragische Schicksal der Juden zu gewinnen; vielmehr bekämen die Juden nur das, was sie verdienten. Und so kommt Räisänen zu dem Fazit, daß Lukas aktuell eine "Disqualifikation der jüdischen Religion" präsentiere. 48 Mit der Reflexion Räisänens liegt damit eine Ausführung vor, die die lukanische Haltung gegenüber dem Judentum als grundsätzlich ambivalent und letztendlich antijüdisch charakterisiert. Die von Räisänen konstatierte lukanische KontinuiW in der Anhindung an die ad Religion ist für Räisänen kein Hinweis auf positive Aussagen über das Judentum, sondern erklärt sich in der Legitimationsbedürftigkeit des Lukas, und die vermeintlich im lukanischen Doppelwerk anklingenden und von Tannehili herausgestellten Hoffuungen auf Rettung des Volkes Israel werden letztendlich nach Räisänen durch die ablehnende Haltung der Juden gegenüber dem Messias Jesus desavouiert. Die Juden, die Jesus als Messias nicht anerkennen, sind zutiefst schuldig, werden vom Volk Gottes ausgeschlossen und sind verdammt. Die Juden erkennen den verheißenen Messias in Jesus nicht, deshalb ist die lukanische Haltung, so könnte man nach Räisänen folgern, letztendlich eine antijüdische, wenn sie die Jesus nicht anerkennenden Juden als feindselig bezeichnet und für verdammt erklärt und ihnen damit das Heil abspricht. Liegt damit nun lukanischer Antijudaismus vor, der die Verdammung der den Messias Jesus nicht anerkennenden Juden proklamiert? In das Argumentationsmuster dieses - Lukas unterstellten - Antijudaismus fügt sich das Motiv von der bleibenden Verstockung Israels. So enthalte nach K. Löning die erzählerische Realisierung des Lukas ihre Dynamik wesentlich durch das Leitmotiv der Verstockung Israels, beschreibe doch Lukas immer auch die Geschichte dieser Verstockung.49 Und am Ende der Apostelgeschichte erschienen die Juden als gegenüber der Judenchristenheit abgespaltene orientierungslose Gruppierung, von der Paulus nach Apg 28, 25-37 feststellte, daß sich an ihr die prophetische Voraussetzung der Verstockung Israels erfiillt habe. 50 Mit dieser Feststellung der endgültigen Verstockung Israels werde der Ausblick auf eine Zukunft eröffuet, die nur noch durch die
Vgl. ebd.. 110: "What a disqualification ofthe Jewish religioo Luke actually presents." LONING, Das Evangeliwn und die Kultwert Heilsgeschichtliche und kulturelle Aspekte kirchlicher RealiW in der Apostelgeschichte, ANRW ß. 25,3 (1984) 2604-2646: 48
49 Vgl. K.
2606f 50
Vgl. ebd., 2607.
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Heidenmission bestimmt ist. 51 Damit konstatiert Löning einen Zusammenhang für Lukas zwischen der Verstockung Israels und der Heidenmission,. obgleich er keinen originären Zusammenhang feststellt, derm fiir die Eröffnung der Heidenmission zeichne Lukas allein Gottes Willen verantwortlich. 52 Nach Löning diene die Verstockungstheorie der Entlastung der christlichen Missionare von der Verantwortung für den Bruch zwischen heidenchristlicher Kirche und Judentum. 53 Jedoch könne dann die Heidenmission zu einem "weiteren Movens der Verstockung des Diasporajudentums" werd~ indem die Eifersucht der Juden provoziert werde. 54 Für Löning vertritt Lukas aber weder eine "undifferenzierte Ablösungstheorie", nach der die Kirche das neue Volk Israels sei und das Judentum ein Relikt einer überholten heilsgeschichtlichen Epoche, noch eine "undifferenzierte Identifikationstheorie" auf dem Hintergrund der Kirche als dem wahren Judentum. ss Löning verhandelt den Topos von der bleibenden Verstockung Israels auf dem Hintergrund der Identitätsproblematik der Kirche und damit auf dem Hintergrund der Frage nach der theologischen Legitimität der Kirche, die bestimmt ist durch die Spannung und Diskontinuität zwischen der ursprünglichen Anhindung der Kirche an das Judentum und dem realen Bruch zwischen Heidenchristentum und Judentum. 56 Der zur Beantwortung dieser Problematik von Lukas nach Löning vorgetragene Erweis der Kontinuität von der jüdischen Religion über die Judenchristen bis zu den Heidenchristen beinhalte auch den Respekt der Heidenchristen vor der jüdischen Kultur. Diese Fordenmg nach Respekt gehe jedoch nach Löning über eine apologetische loten51 Vgl. ebd., 2616~ vgl. ebenfalls DERs., Das Verhllltnis zwn Judentum als Identitätsproblem der Kirche nach der Apostelgeschichte, in: L. liAGEMANN et al. (Hg.), ,,Dlr alle aber seid BJ1lder' (FS A.Th. Khowy), Würzburg 1990, 304-319: 304: ,,Die Apostelgeschichte ist nicht als Beitrag zu einem Dialog zwischen Juden und Christen entstanden. Das Gegenteil trifit eher zu: Ihr Verfasser Lukas läßt am Ende der Apostelgeschichte Wlfllißverständlich erkennen, daß nach seiner Einschatzung die Zeit der christlichen Judenmission beendet ist und die Kirche in der Region, die Lukas vor Augen hat, definitiv zu einer heidenchristliehen Kirche geworden ist. Zwischen dieser Kirche und der Synagoge gibt es keine konstitutiven Beziehungen mehr." 52 Vgl. ebd., 2617f. SJ Vgl. ebd., 2619. 54 Vgl. ebd., 2618. ss Vgl. ebd., Evangeliwn, 2612. S6 Vgl. K. LöNING, Geschichtswerk, 22: ,,Das Problem, mit welchem sich das lk Werk auseinandersetzt.. ist vielmehr der garstige Graben der historischen DiskootinuiW der von Lukas erinnerten Geschichte, der die Frage nach der christlichen ldentiW überhaupt zu einem Problem werden Jaßt. das eine historische Antwort erfordert." K. LoNlNG grenzt sich damit bewußt vom Conzelrnannschen Aufweis der heilsgeschichtlichen Epochen ab.
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tion hinaus: "Die paulinische Mission nach dem Apostelkonzil zeigt in der lukanischen Darstellung beeindruckend, daß gerade die Verkündigung selbst, also der soteriologisch grundgelegte Vorgang der Heilsvermittlung durch das Wort des Evangeliums (vgl. Apg 15,7), ohne eine wenigstens elementare Überbrückung des Grabens zwischen jüdischer und hellenistischer Welt gar nicht möglich ist, weil das christliche Kerygma ohne seine jüdischen Voraussetzungen nicht einmal verstanden, geschweige denn angenommen werden kann." 57 Und Löning betont weiter: "Der Respekt vor der religiösen Kultur des Judentums beruht nicht zuletzt auf der Anerkennung der hier sichtbar werdenden bleibenden Verwiesenheil der heidenchristliehen Kirche mit ihrer Mission und ihrem Selbstverständnis auf dem Vorrang Israels in seinem Hoffhungswissen. Dies ist gerade im Hinblick auf das Ende der Apostelgeschichte zu betonen. " 58 Im Anschluß daran verweist Löning darauf, daß es nicht sachgerecht sei, "Lukas Antijudaismus oder gar Antisemitismus zu unterstellen. " 59 Obgleich Löning eine solche Unterstellung also nicht teilt, schließt er sich dennoch in bewußter Absetzung von der AnnahmeMußners, nach der für Lukas das Judentum nicht für immer vom Heil ausgeschlossen sei, der für "einen christlich-jüdischen Dialog unbequemeren Lesart" und damit einer Formulierung Sanders an, "nach der Lukas kein Interesse an dieser Frage hat, sondern mit Apg 28, 25-28 ,a final solution ofthe Jewish problem' formuliert." 60 Löning gewinnt also in bezug auf die Interpretation des Endes der Apg eine mit Räisänen vergleichbare Interpretation in dem Sinn einer absoluten Aussage des Paulus in Apg 28, 26-28. Räisänen interpretiert das Ende der Apg insofern als eine absolute Aussage, als daß nun damit die Juden für immer vom Heil ausgeschlossen seien, während nach Löning Lukas zwar kein Interesse an der Frage nach einem bleibenden Heil der Juden habe, aber darin eine absolute Aussage trifft, daß die Zeit der Judenmission endgültig beendet sei und die Kirche zu einer heidenchristliehen Kirche geworden sei. Eine Charakterisierung der lukanischen Haltung als antijüdisch, wie sie noch Räisänen trifft, lehnt Löning jedoch ab. Denn für Lukas steht nun die Frage nach der theo-
S7 SB
59
K. l..ONING, Verhältnis, 318f. Ebd., 319.
Vgl. ebd., 319, Arun. 32. Ebd., 305, Anm. 2. K. LoNING nennt ebd., 319, Amn. 32, ,,8anders' Fmnulierung ,final solution' eine Entgleisung". Damit dürfte K. LONINo die Aussage SANDERS in der Sache fl1r zutreffend halten, obgleich er natürlich die Fonnulienmg selbst abldml 60
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logischen Legitimität der Kirche, die keine konstruktiven Beziehungen mehr zur Synagoge unterhält, im Vordergrund. Einen anderen Zugang in bezug auf die Frage nach einem lukanischen Antijudaismus wählt D.L. Tiede. Tiede reflektiert jene gängige Lukasrezeption kritisch, nach der Paulus' dreimalige Hinwendung zu den Heiden (Apg 13,46; 18,6; 28,28) als Demonstration der Verhärtung der Herzen der Juden und der nun den Heiden zugesagten Rettung verstanden werde. Dies ist für Tiede der Stoff des Antisemitismus und Antijudaismus in der christlichen Geschichte. 61 "Die Erzählung des Lukas wird so gelesen als ein grundlegender Mythos der christlichen Ursprünge, wobei der Triumph der christlichen Mission zu einer Prahlerei auf Kosten Israels wird."62 Nach Tiede geht es in der lukanischen Erzählung jedoch darum, die Mission der Heiden in bezug auf die Erfüllung der Versprechen Gottes an Israel zu rechtfertigen; die Mission der Heiden sei also das größere Problem der Erzählung. D. L. Tiede vergleicht die lukanische Erzählung mit anderer jüdischer Literatur des späten ersten Jahrhunderts d. Z. (Josephus, 2 Baruch) hinsichtlich der Bedeutung der Zerstörung Jerusalems und des Judäischen Konflikts etc. Tiede konstatiert für diese Quellen, daß für diese die Zerstörungen Folge göttlicher Bestrafungen seien, daß Gott, der gerecht ist, daß sündige Israel bestrafe, aber daß eine Restitution Israels auch immer vorgesehen sei. Und in diesem Spektrum des judäischen Konflikts sei die lukanische Erzählung nicht mehr oder weniger antijüdisch als andere Quellen. Das lukanische Doppelwerk sei von derselben Frage über das göttliche Gericht an Israel betroffen und es biete eine spezielle Diagnose der Sünde, welche Zerstörung brachte und Reue verlangte. So habe Israel die Zeit seiner Heimsuchung durch Gott nicht erkannt. 63 Lukas porträtiere ein geteiltes Israel und die Erzählungen von den Jesus ablehnenden jüdischen religiösen Führern könnte als solche antijüdisch gelesen werden. Doch, so betont Tiede, im weiteren Zusammenhang zeige Lukas ein komplexes Bild zwischen den alternativen jüdischen Gruppierungen auf, von der jede meinte, das wahre Israel zu sein. Die Jesus ablehnenden jüdischen religiösen Führer treten also nach der Argumentation Tiedes in Konkurrenz zu anderen Gruppen - eben als Sadduzäer gegenüber den Pharisäern - und von daher
61
Vgl. D.L. TIF.DE. Lulce's Interpretation, 103. Ebd.• 103: "Lulce's story itselfis read as the foundational myth ofChristian origins where the triumph of the Cbristian mission becomes a boastat Israels expense... 63 Vgl. ebd .• 107. 62
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könne ihre abgrenzende Haltung innerhalb der jüdischen Parteiungen nicht als antijüdisch verstanden werden. Das prophetisch-deuteronomistische Geschichtsverständnis ist insbesondere in Krisenzeiten in Israel - von dem Ruf nach Reue gekennzeichnet. und die Reue, zu welcher Lukas Israel aufrufe, sei der Glaube an den Messias Jesus. ,,Beide, dieser Aufruf zum Glauben und die Betonung der Einbeziehung der Heiden, läßt die lukanische Erzählung uneinig erscheinen mit jenen Juden, Pharisäern und anderen, welche Jesus nicht als den Messias akzeptierten, sondern vielmehr die Beachtung der Tora als notwendigen Inhalt von Reue verlangen."64 Nach Tiede handelt es sich also letztendlich um innerjüdische Konflikte, um Treulosigkeit und Reue, um die Frage, wie Gott Rettung und Restitution ermöglicht. Die lukanische Erzählung ist also, folgt man Tiede, auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung innerjüdischer Gruppierungen zu verstehen, von denen sich die einen dem Glauben an Jesus, den Messias, anschließen, während die anderen sich diesem Glauben verweigern. Mit der Einordnung vermeintlich antijüdischer Aussagen als Zeugnis allgemein üblicher Aussagen der Auseinandersetzung verschiedener jüdischer untereinander konkurrierender Gruppierungen relativiert Tiede auf historischer Ebene diese vermeintlich antijüdischen Aussagen, welche an sich durchaus antijüdisch verstanden werden könnten. Durch diese historische Relativierung verlieren diese vermeintlich antijudaistischen Aussagen zwar nicht an Schärfe, aber doch ihre vermeintlich antijudaistische Ausrichtung. Tiede weist damit ein fundamental anderes Ergebnis als Räisänen auf. Positive und negative Aussagen erwähnt E. Haenchen. So hebe nach Haenchen die Absage des Paulus an die Juden hervor, daß Israel endgültig verworfen sei und durch die Heiden ersetzt werde. 65 Nach Haenchen schildere Lukas die Juden in der Apg "mehr und mehr als die erbitterten Feinde der Christen": ,,Diese antijüdische Frontstellung konnte Lukas nicht einfach aufgeben. •<66 Und die Gemeinsamkeit in der Auferstehungshofthung mit "der strengsten Richtung im Judentum, die Übernahme der hl. Schrift des Judentums, lasse das Christentum als das wahre Judentum erscheinen, so sollte dieses doch der "Duldung der christlichen Mission" dienlich sein. 67 Die negativen Aussagen über die 64
Ebd., 111. Vgl. E.HAENamN, Judentum, 185. 66 Ebd., 187, Arun. 44. 67 Ebd., 187, Arun. 44. 65
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Juden betonen damit nach Haenchen implizit die Trennung zwischen Juden und Christen. Haenchen bietet damit ein Erklärungsmuster für die Apostelgeschichte an, nach dem die Chris~ ausgezeichnet als das "wahre Israel", die Rolle der Juden übernehmen, welche als verworfen und damit bedeutungslos gelten. Die Bedeutung der Juden besteht danach allein darin, daß die Christen als das "wahre Israel" an das Judentum ursprünglich verwiesen bleiben, während das Attribut "wahres Israel" nach außen - beispielsweise gegenüber Rom - eine apologetische Funktion aufweist. Nun macht M Rese bezüglich der Haenchenschen Ausfiihrungen darauf aufinerksarn, daß der von Haenchen festgestellte ,merkwürdige Widerspruch' zwischen negativen und positiven Aussagereihen über die Juden in der Apostelgeschichte nicht aufgelöst werde. 68 Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Widerspruch nicht gerade deshalb als ,merkwürdig' beschrieben und implizit als gravierend ausgemacht werde, weil die negativen Aussagereihen als Aussagen von absoluter und pejorativer Negativität, die die Verworfenheit Israels betonten, vestanden werden, welche sich - sind sie einmal vorausgesetzt - nur schwer mit den positiven Aussagereihen vereinbaren lassen. "Das Hauptproblem der Israelthematik bei Lk"69 sei das Nebeneinander der positiven und negativen Aussagen, wie H. Merke/ anmerkt. Bleibt somit die "alte Frage" 70 nach dem Verhältnis von positiven und negativen Israeltexten im lk Doppelwerk bestehen?
Vgl. M REsE, ,,Die Juden", 66. M RESE, ebd., 67, macht weiterhin drauf aufinerlcsam. daß ÜVERBBCK eine F.lklarung ftlr die positiven und negativen Aussagen Ober "die Juden" biete: "vor allem aus den Absichten des Verfassers der Apg lUld ihrer Abfassungszeit" Und ÜVERBECK konunentierend setzt M RBSE. fort: ,JD)er Verfasse~" der Apg [konnte) einerseits mit den positiven Aussagen die AbhAngigkeit der Christen vom Judentmn und seinem Gesetz ohne jeden Abstrich anerkennen. wahrend er durch die negativen Aussagen lDlterstrich. daß sich die Christen vom jüdischen Volk äußerlich losgelOst hatten." Und M. RESE betont ebd.: "Overbecks Erklärung hat den Vorzug, deutlicher als andere auf den ,Antijudaismus' der Apg 68
~ewiesen zu haben. ..
H. MERJca, Israel, 381. 70
Ebd., 379.
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3. Antijudaismus im lk Doppelwerk? 3 .I. Antijudaismus im Lukasevangelium? "Der Vorwurf des Antijudaismus stützt sich stark auf die lukanische Passionsgeschichte. " 71 Entsprechend formuliert C.A. Evans: "While scholars have readily recognized that Luke especially emphasizes Jewish responsibility for Jesus' death (with the Romans portrayed as passive and reluctant participants), the question lingers as to whether or not the evangelist' s portrait constitutes anti-Semitism. "n Und N.A. Beck konstatiert in diesem Zusammenhang: "The impression is given that for Luke anti-Jewish invective was more important than was historical clarity, since the administration of death by crucifixion was a Roman prerogative in the occupied provinces during this period. " 73 Weist die durch die lukanische Passionserzählung aufgezeigte jüdische Beteiligung am Tod Jesu eine antijudaistische Komponente auf oder wird sie sogar durch diese Komponente geleitet? Die Passionserzählungen der Evangelisten divergieren in ihren Darstellungen und abgesehen von der Tatsache, daß Jesus unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, divergieren ebenfalls die Annahmen der Exegeten darin, wer den Anstoß zur Verurteilung Jesu gegeben habe und aus welchen Gründen er hingerichtet wurde. Die Beteiligung der jüdischen Behörden ist historisch ebenso umstritten, wie es auffällt, daß die Rolle des Volkes in den Evangelien einerseits als Sympathieträger für Jesus dargestellt wird, während das Volk andererseits seine Kreuzigung fordert. W Stegemann schließt eine jüdische Beteiligung am Tod Jesu historisch aus/4 während B. Wander betont, daß ein jüdisches Interesse an der Auslieferung Jesu aber bestanden haben müsse. 7s
71
Ebd., 394.
n C.A. EvANS, Is Luke's view of the Jewish Rejection of Jesus Anti-Scmitic?, in: D.D. SYLVA (ed.), Reimaging the Death ofthe Lukan Jesus(BBB 73), Frankfurt 73 N.A. BECK., Mature Christianity: The Recognition and Repudiation
1990,29-56:29. of the Anti-Jewish Polemic ofthe New Testament, Londonfforonto 1985, 179. Vgl. e.benfaHs RE. BROWN, The death ofthe Messiah: from Gethsemane to tbe grave: a commentary to the passionnarratives in the four Gospels, Vol. 1, New York 1993, 389: "Diagnosting the exteot to which Luke's PN is anti-Jewish is complicated and has produced an abundant literatw-e." 74 Vgl. W. STEGEMANN, Gab es eine jüdische Beteiligung an der Kreuzigung Jesu?, Kul 13 (1998) 3-24: 21: ,,Historisch möglich ist eben auch, daß Jesus ohnejüdische Beteiligung von den Römern gefangengenommen und hingerichtet worden ist." Und vgl. ebd.: ,)esu Schicksal kann allerdings ganz und gar ohne die Beteiligung irgendeiner jodiscben Instanz Jerusalems
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Grundsätzlich ist jedoch "die historische Rekonstruktion des Prozesses Jesu von der theologischen Frage nach der Bedeutung des Todes Jesu zu trennen", wie Ch. Kurth zu Recht betont. 76 Das bedeutet, daß über die Tatsache der Kreuzigung Jesu durch Pontius Pilatus hinaus keine historisch gesicherten Aussagen bezüglich der Umstände des Todes Jesu getroffen werden können, wahrend die Evangelien tendenziell eine jüdische Mitbeteiligung an Verhaftung und Verurteilung Jesu darstellen. "Angesichts der Quellenlage ist also eine fundamentale Infragestellung jüdischer Mitschuld am Tode Jesu keinesfalls aus der Luft gegriffen oder nur Ausfluß theologischen Wunschdenkens [... ] Historisch gesichert ist in der Tat nur, daß Pontius Pilatus, Roms Statthalter im damaligen Judäa. Jesus mit der römischen Todesstrafe der Kreuzigung belegt hat. Diese schreckliche und schändliche Kapitalstrafe der römischen Besatzwlgsmacht haben dessen Soldaten ausgefiihrt. Weder von einer Tötung Jesu durch ,die' Juden, noch von einer Schuld ,der' Juden kann gesprochen werden. Allenfalls steht die Frage nach einer indirekten Beteiligung damaliger jüdischer Instanzen Jerusalems an der Verurteilung Jesu zur Debatte."77 Wenn also eine jüdische Beteiligung an Verhaftung und Verurteilung historisch nicht eindeutig bejaht werden kann bzw. sogar gänzlich in Zweifel zu ziehen ist (W Stegemann), stellt sich die Frage nach der Art der Darstellung der jüdischen Beteiligung und ihren Motiven bei Lukas. erldart werden, docll es kann nicht erklärt werden ohne die entscheidende Verantwortung des römischen Statthalters." 15 Vgl. B. WANDER. Trermungsprazesse zwischen FrOhem Chrislentwn tmd Judentum im I. Jahrhundert n.Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Himichtung Jesu tmd der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (fANZ 16), Tobingen 1994, 64: ,,Natorlich muß in Reduumg gestellt werden, daß die jOdischen Behörden nicht die Rolle bei der Verurteiltmg Jesu gespielt haben, die ihnen die Endredaktion der Evangelien zuschreibt Ein jüdisches Interesse an der Ausliefenmg Jesu muß aber trotzdem bestanden haben." 76 Ch. KURrn, Der Prazeß Jesu aus der Perspektive jodiSther Forscher, Kul 13 ( 1998) 4658: 55. Nach Ch. KURrn, ebd., stellen ,,die Passimsberichte aus verschiedenen Gründen eine aux interpretum" dar: ,,Zum einen venniscben sich in ihnen, wie in kaum einem anderen Evangelientext, die venchiedenen Ebenen des Erzlhlers, der erzlhlten Sache und der Zeitwnstande, aus denen oder zu denen sie seschrieben sind; ZlUil anderen enthalten sie sozusagen eine theologische Quintessenz. die aber zugleich in ein geschichtliches Geschehen eingekleidet ist, welches wiederum historisch kawn rekomtruierbar ist .. 77 W. S1Ear.MANN, Beteiligung. 8. Vgl. ebenfalls ebd., 6: ,,ZU diesen Einsichten- daß ,die' Juden Jesus nicht getötet haben, oder daß ,die' Juden. sei es die Generation Jesu, sei es überhaupt das jOdische Volk kollektiv, nicht Schuld sind an Jesu Hinrichtung- sollte es also eigentlich keiner größeren exegetisdlen Anstrengungen mehr bedürfen."
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Nach Lk wird Jesus vor dem Synhedrium verhört (Lk 22,66-71), während Mt und Mk von einem Prozeß erzählen. Das Verhör durch die Synhedriumssitzung am Morgen hat die Messianität Jesu zum Gegenstand, während nach der Überführung Jesu durch die ganze Versammlung zu Pilatus die Vorwürfe um politische Unruhestiftung und Aufruf zum Steuerboykott ergänzt werden (23,2f). Pilatus kann jedoch "keine Schuld an diesem Menschen finden" (23,4) ebensowenig wie Herodes, der Jesus deshalb zu Pilatus zurückbringen läßt. Pilatus betont dann weitere drei Mal, daß er kein Verbrechen feststellen könne, welches mit der Todesstrafe geahndet werden müsse, und befürwortet deshalb die Auspeitschung und Freilassung Jesu (23,13-25). 78 Pilatus hatte die Hohenpriester, die Oberen und das Volk (labe;) zusammenrufen lassen (23,13). Doch auf seinen Einwand gegen die Todesstrafe schrieen alle zusammen (tratJ.li'Ä.~I.~ adv.): "Weg mit diesem~ gib uns den Barabbas los!" (23,18) und in V. 21 und V. 23 erfahrt die entgegnende Auffordenmg zur Kreuzigung noch eine Steigenmg in der Zunahme des Geschreies bzw. der Stimmen (ai cpwval.). Während in V. 18 die Schreienden noch mit "alle zusammen" näher beschrieben werden, werden diese in V. 21 und V. 23 nur noch mit der 3.Pers.PI. (sie schreien, bzw. ihre Stimmen) benannt. Als Jesus dann zur Kreuzigung abgeführt wird, folgt ihm eine große Volksmenge (noÄ.u nJ..t;ao<; -rou laou) und Frauen, die ihn beklagten und beweinten (23,27). Es ist auffällig, daß Pilatus unmittelbar nach der Überführung Jesu durch die ganze Versammlung (änav -ro nH\'toc;) (23,1) nicht nur zu den Hohenpriestern, sondern auch zum Volk spricht (npix; ... Kal. -roix; lSxÄ.Otu;) (23,4), obwohl vorher nur Älteste, Hohepriester und Schriftgelehrte erwähnt wurden. Weiterhin ist nicht genau ersichtlich, wer im einzelnen das Geschrei mit der Auffordenmg zur Kreuzigung aufhimmt. Daß alle zusammen um die Freilassung des Barabbas schreien (V. 18), ist ein Hinweis auf das gemeinsame Geschrei sowohl von Hohenpriestern als auch der Volksmenge. Weiterhin ist es auffällig, daß die Situation durch das sich steigemde Geschrei der Hohenpriester (?) und der Volksmenge (?) an Dramatik gewinnt, während wenig später das eben noch die Kreuzigung fordernde Volk nun in einer großen Volksmenge zusammen mit den Jesus beklagenden Frauen hinter dem zu kreuzigenden Jesus hergeht. Sollte die große Volksmenge nun ebenfalls wie die 78 Wenn H. MERKEL. Israel, 394 anmerkt. daß Pilatus nur bei Lukas "dreimal die Schuldlosigkeit Jesu" erklare, so tri1ft dies die Fn.ahlung nicht genau. derm Pi1atus kann nur lu!ine &JuUd, die die TodtWtrafo zur Folge hatte, finden (V.ll: o\&v ahuw ecw.hou~ so will er Jesus doch in jedem Fall auspeitschen lassen.
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Frauen die Klage angestimmt haben? Dann würde sich die Frage anschließen, warum das Volk die Kreuzigung Jesu gefordert habe. Daß das Volk ebenfalls klagt, wird nicht ausdrücklich gesagt, aber es wird erwähnt, daß das Volk bei der Kreuzigung anwesend ist (V. 35), während (nur!) die Oberen (V. 35) und die Soldaten (V. 36) Jesus verspotten. Sollte also das Volk doch um Jesus geklagt haben und möglicherweise gar nicht in das Geschrei mit der Aufforderung zur Kreuzigung eingestimmt haben, das dann allein von den Hohenpriestern und den Oberen aufgenommen wurde?79 Dies dürfte jedoch auch nicht sehr wahrscheinlich sein, denn Pilatus ruft in V. 13 die Hohenpriester und die Oberen und das Volk zusammen (ouyKaA.ro~~V04;) und somit dürfte ein Zusammenhang gegeben sein zwischen dem ,,Zusammenrufen" (V .13) und dem "zusammen Schreien" (V. 18). Es wird deutlich, daß nach Lukas vor allen Dingen die Oberen und die Hohenpriester ein Interesse an der Kreuzigung und am Tod Jesu bekunden~ so erfahren die Leser/innen schon zu Beginn der Passionserzählung (22,2) von der Absicht der Hohenpriester und Schriftgelehrten, Jesus zu beseitigen (avfA.woLV}, "denn sie fürchteten das Volk". 80 Lukas scheint demgegenüber die Rolle des Volkes im Zusammenhang mit der Passion Jesu als eine ambivalente Rolle anzuführen 81 - wenn man voraussetzt, daß stets von ein und derselben Volksmenge die Rede ist. Die wiederholten Erklärungen des Pilatus, daß sowohl er als auch Herodes keine Schuld Jesu, die die Todesstrafe nach sich ziehen würde, ausmachen könnten und der Ausspruch des Hauptmannes nach der Kreuzigung (23,47) haben die Funktion, die Unschuld Jesu zu betonen. 82 Und die Unschuld Jesu kann nur von der Person festgestellt 79 In
einem analogen Duktus argumentiert JA WEAnmRLY, Jewish Responsibility for the Death of Jesus in Luke-Acts (JSNf.S 106), Sheffield 1994,64. 80 Vgl. G. 8cHNE.IDER, Das Evangelium nach Lukas (ÖTK 3!2), Gotersloh 21984,440: ,,Die Führer müssen das Volk ,rurchten', weil es zu Jesus hält. Die Fnahlung hebt deutlich auf den Gegensalz ab, der zwischen Synhedristen tmd Volk im Verhaltnis zu Jesus besteht." Vgl. ebenfalls J.A WEA1HERLY, Responsibility, 70: "Luke emphasizes the Jerusalem Ieaders' involvement in the crucifixioo by repeatedly contrasting it with Jesus' popular support" 81 Vgl. D.P. MoEssNER, The ,Leaven of the Pharisees' and ,This Generatioo': Israels Rejectioo of Jesus According to Luke, in: D.D. SYLVA (ed), Reimaging the Death ofthe Lukan Jesus (BBB 73), Frankfurt 1990, 79-107: "For within the intcractioo ofCharacters and events of the plot development Luke simply has not provided bis readers with an adequate or at least consistent explanation of the Iaos' demand for Jesus' Death." 82 Vgl. M.L. SlRAuss, The Davidic Messiah in Luke-Acts: The Proolise and its Fultillment in Lukan Cluistology (JSNf.S II 0), Sheffield 1995, 330: "The motiv of Jesus' innocence, present in all the Gospels, becomes in Luke a ccntral theme of the trial and auciflXioo."
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werden, die auch die potentielle Schuld feststellen würde und die Kapitalgerichtsbarkeit ausübt, also von Pilatus bzw. von Herodes. Entsprechend formuliert W Stegemann: "Mir scheint, daß die deudich erkennbare apologetische Tendenz gegenüber Rom notwendiger Weise dazu führen müßte, jemand anderen für die Hinrichtung Jesu verantwortlich zu machen. Da das Faktum der Kreuzigung nicht aus der Welt zu schaffen war, konnte eine Entlastung Jesu von dem durch diese Hinrichtungsart sich nahelegenden Vorwurf antirömischer Rebellion natürlich am besten durch den römischen Präfekten selbst geschehen, der Jesus für unschuldig erklärt. " 83 Ob die apologetische Intention so weit reicht, daß sie ebenfalls Pilatus und damit Rom entlastet, wie dies häufig angenommen wird, ist fraglich. 84 Denn Pilatus will Jesus immerhin auspeitschen lassen, während Herodes Jesus verspottet (23,11). 85 Die dreimalige Aufforderung auch durch die Volksmenge, Jesus zu kreuzigen, ist bewußt im Hinblick auf die Dramatik der Situation so W. STEGEMANN, Beteiligw1g, 19. Vgl. ferner B. KINMAN, Jesus' entry into Jerusalem: in the context of Lukan theology and the politics of his day (AGJU 28), Leiden 1995, 175f: "Inasmuch as Jesus was similary characterized at various times, the possibility for a misunderstanding about the nature of bis authority and mission was great. Misunderstandin of a political nature would have been easy to get when the political connotations of entries in the ancient world, especially their imperial overtones (... ), are remernbered" Und ferner ebd., 178: "The account relates to Luke's political concems in that Jesus is seennot to offer wbat be seen as an tmauthorised legal opinion, an act which, bad he done it, could habe been viewed as seditious." Vgl. des weiteren J.B. GREEN, The Death of Jesus, God's Servant, in: D.D. SYLVA (ed.), Reimagiog the Death of the Lukan Jesus (BBB 73), Frankfurt 1990, 1-28: 20: "Luke certainly is interested in presenting Jesus as an i.nnocent victim in the midst of what can only be described as a travesty ofjustice." 84 Vgl. ebd., 20: ''We may ask, on the other band, whether an appeal to Luke's political apologetic here teUs the whole story. This is doubtful." 85 Vgl. J.B. WEAlliERLY, Responsibility, 95: ''The pronolmCCIDelll of Jesus' innocence by Pilate (Lk. 23.4, 14-IS, 22) and Herod (23.1Sa) is commooly seen as exonerating them ofany culpability in the crucifixion (... ] But Pilate' s threefold pronouncement of Jesus' innocence may serve pwposes other than Pilate's own vindication. Luke's interest in Jesus' innocence of all charges is clear, as has already been noted. Pilate •s pronouncement makes that point plainly but may nevertheless irnply nothing about bis own guiltlessness. In fact, by pronouncing Jesus innocent three times and then tuming him over to be crucified. Pilate appears all the more culpable for having knowingly tumed an innocent man over to execution." Und entsprechend resümiert J.B. WEAlliERLY, ebd., 96: ''Luke is concemed to show that Jesus is innocent before Rome, and that concem may reflect bis respect for Roman law. But the irnplication of the narrativeisthat Pilate's actions were a perversionofthat law." Vgl. ebenfalls R.E. BROWN, death. 390: "The primaly motive in this portrayal is not the exculpation of the R01118Ds, rather we leam from the examples of Pilate, Herod, the wrongdoer on the aoss, and the centwion that anyone (Jew or Gentile) who judges in an unprejudiced marmer could inunediatlely see that Jesus was a just man." 83
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stilisiert worden, denn die Volksmenge wird überdies als zurückhaltend beschrieben, sie spottet nicht, sondern äußert nach dem Tod Jesu vielmehr Zeichen von Mitgefühl (23,48). ,,Die Menge stand doch die ganze Zeit, als Jesus in Jerusalem war, an seiner Seite."16 Es kann jedoch auch "einfach sadistischer Pöbel"17 gewesen sein, der mit seinem Geschrei in die Aufforderung zur Kreuzigung einstimmte. Ein sadistischer Pöbel, der einen Teil der Volksmenge ausmachte, während ein anderer Teil der Volksmenge schweigend und anteilnehmend den Erklärungen des Pilatus und der Kreuzigung beiwohnte. Jesus mußte nach dem Lukasevangelium leiden (öt i): "Denn ich sage euch: Es muß das an mir vollendet werden, was geschrieben steht: ,Er ist zu den Übeltätern gerechnet worden.' Denn was von mir geschrieben ist, das wird vollendet." (22,37 - nur Lk). Entsprechendes erklärt Jesus den Ernmausjüngern und legt ihnen die Schrift aus: "Mußte nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?" (24,26) Ebenso klärt er wenig später alle Jünger auf (24,24). Lk zeichnet mit dem leidenden und unschuldig verurteilten Jesus ein Bild von Jesus als leidenden Gerechten: "Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: ,Das war wirklich ein gerechter Mensch."' (23,47)18 Die Ernmausjünger erklären gegenüber dem noch unerkannten Auferstandenen: "Wie ihn unsere Hohenpriester und Oberen zur Verurteilung zum Tode übergeben haben und ihn haben kreuzigen lassen." (24,20) Damit zeichnet Lk die Rolle der Hohenpriester und Oberen durchweg negativ. Daß sie als oberste Repräsentanten und Führungspersönlichkeiten der jüdischen Religion nicht den erkennen, der ihnen nach ihrer Schrift als Messias angekündigt wird, nämlich Jesus, deutet die besondere Tragik ihrer Rolle an, die Lk ihnen zuschreibt. Indem Lukas die Rolle der jüdischen Oberen und Führungspersönlichkeiten durchweg negativ zeichnet, ermöglicht er damit auch eine antijudaistische Lesart der Passionserzählung. Es kennzeichnet die Tragik dieser Rolle, daß durch sie die Möglichkeit einer antijudaistischen Lesart zwar nicht unmittelbar intendiert, wohl aber angelegt ist. Lukas 86
D. FLUSSER, Der Gekreuzigte, 200. folge hier einer Überlegtmg D. FuJSSP.RS, die dieser jedoch nicht filr Lk zur ~ sioo stellt. Vgl. D. FLUSSER., Der Gekreuzigte, 198: "Wanun kann es nicht möglich gewesen sein, daß es damals \Ulter den Juden einen rohen Pöbel gegeben hat?'' 81 Vgl. diesbezoglieh auch die Ausftlhrungen voo J.B. GREEN, Death, 19~ Vgl. ebenfalls J.T. CAROLL., Luke's Crucifixion scene, in: D.D. SYLVA (ed). Reimaging the Death of the Lukan Jesus (BBB 73), Frankfurt 1990, 108-124: 116-118. 87 Ich
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stellt Jesus als leidenden Gerechten dar. Jesus mußte leiden und ist unschuldig verurteilt worden. In diesem Rahmen ist die jüdische Beteiligung an der Verurteilung Jesu zu sehen. "Luke emphasizes Jewish resonsibility for Jesus' death, not because of anti-Semitic hatred, but because of his desire to place the Messiah' s death firmly within the framework of biblical (i.e., Israelite) history." 89 Für das Lukasevangelium lassen sich weder Antijudaismen konstatiere~ noch läßt sich die Annahme erhärten, daß Lukas von einer antijudaistischen Komponente geleitet war~ die Möglichkeit einer antijudaistischen Lesart ist jedoch angelegt. Und diese Möglichkeit kann dann schnell dazu führen, daß die antijudaistische Lesart bestimmend wird. So ist die negative Darstellung der jüdischen Oberen in der lukanischen Passionserzählung oftmals Anlaß, von der durch Lukas betonten Verantwortlichkeit der jüdischen Oberen an der Kreuzigung Jesu auf die Schuld der Juden am Tod Jesu zu schließen. Diese Annahme jüdischer Schuld am Tod Jesu veranlaßt wiederum viele Exegeten dazu, ihren Auslegungen die Schuld der Juden am Tod Jesu zugrundezulegen und diese Annahme dann auch für solche Stellen in Anschlag zu bringen, in welchen nicht expressis verbis von einer Beteiligung oder Verantwortung jüdischer Oberer an der Kreuzigung Jesu die Rede ist. So wird die Bitte Jesu am Kreuz "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34) oftmals im Sinn der Bitte um Vergebung für die Juden verstanden, obwohl von diesen nicht wörtlich die Rede ist, 90 da sich die Bitte auf die kreuzigenden römischen Soldaten beziehen dürfte. Auch ein in bezug auf diesen Vers vermeintlich wohlmeinender Bezug auf die Juden, der den Akt der Vergebung und Verzeihung hervorheben möchte, 91 verweist darin nur wieder auf die Schuld der Juden am Tod Jesu. 3. 2. Antijudaismus in der Apostelgeschichte? Während im Lukasevangelium die negative Darstellung der jüdischen Oberen - vornehmlich in der Passionserzählung - Anlaß für eine antijudaistische Auslegung sein kann, bieten die in der Apg erhobenen Vorwürfe über einer jüdische Beteiligung bzw. Verantwortung am Tod Jesu ebenfalls Anlaß für antijudaistische Auslegungen. "In Acts, per89 C.A. EVANS, view, 55. 90 Vgl. N.A BECK. Christianity,
179f ''Luke's addition (in certain textual traditions),
'Father, forgive them. for they do not know what they are doing', maintains the impression that the Jews were doing the crucifying, [.. .)" 91
SoC.A. EVANS, view, 52f.
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haps more emphatically than any other New Testament writing, the Jews are blamed for the death of Jesus. In this sense there is an unmistakable anti-judaic strain in Luke's presentation of early Christian preaching. ' 092 Doch Wilson führt ebenfalls weiter aus: "Yet the matter does not rest there. Allong with this central accusation Luke is careful to include a number of mitigating factors. ' 093 Von den Reden in der Apg, die die Tötung Jesu gegenüber den Juden zum Vorwurf erheben, sei Apg 2,23 exemplarisch angeführt. In Apg 2,23 spricht Petrus von der Tötung Jesu durch die Bewohner Jerusalems, welche er in V. 22 erneut mit ,,.Dtr israelitischen Männer, hört diese Worte" anspricht. So heißt es in V. 23: "diesen, der nach Gottes festgesetztem Ratschluß und Vorherwissen ausgeliefert worden war, habt ihr durch die Hand der Gesetzlosen kreuzigen und töten lassen" Die Passion Jesu erfolgt nach dem Plan Gottes, denn Jesus wurde nach Gottes festgesetztem Ratschluß (poul1l) und Vorherwissen (11'poyvwaL<;) ausgeliefert. Damit schließt die Rede des Petrus an den Duktus der Passionsdarstellung im Lukasevangelium an (ÖE l). Petrus weist in V. 22 auf die von Jesus ausgeübte Wundertätigkeit hin, die Jesus als einen von Gott "beglaubigten" Mann auszeichnet, während er in V. 24 die Auferweckung Jesu herausstellt. Nach G. Schneider "haben [wir] es bei dieser Form des Kerygmas mit einem frühen Verkündigungsschema zu tun, das im Grunde auch die Darstellungsform der Evangelien bestimmt und das den Tod Jesu in Verbindung mit seiner Auferweckung als Heilshandeln Gottes versteht. " 94 Petrus erwähnt in diesem Kerygma also nicht nur den Tod Jesu allein 92 S.G. Wo..soN, The Jews and the Death of Jesus in Acts, in: P. RICHARDSON (ed.), AntiJudaism in early christianity. Vol. 1: PauJ and tbe gospels, Waterloo 1986, 155-164: 163. Vgl. ebenfalls L. GASTON, Anti-Judaism and the Passion Namdive in Luke and Acts, in: P. RlcHARDroN (ed.), Anti-Judaism in early christianity. Vol. 1: Paul and the gospels, Waterloo 1986, 127-153: 130: "In any case, nowhere in the Nf is the place of the Jews in the crucifixion of Jesus so strongly sb'essed as in Acts." 93 S.G. Wo..soN, Jews, 163. 94 G. ScHNEIDER, Die Apostelgeschichte, I. Teil (liThK V), Freiburg 1980. 271. R PF.scH, Die Apostelgeschichte (EKK V/I), ZUrich 1986, 121, benennt die GegenüberstellWlg der Tötungsaussage und Auferweckwlgsaussae als sogenanntes Kontrastschema der Altesten Christologie. Vgl. ebenfalls R BAUCKHAM, Kerygmatic summaries in the speeches of Acts, in: B. WlllfERJNGTON, ffi (ed.). History, literature, and society in tbe Book of Acts, Cambridge 1996, 185-217: 190: "Luke neither composed his kerygmatic summaries ex nihilo nor reproduced a source. The form he used provided him with traditional materials which he could vary and supplement in accordance with his narrative contexts and litenuy purposes." Und vgl. ferner ebd., 216: "Luke's kerygmatic summaries are not, as such. SUII1IDIII'ies of bis own gospel. They are attemps to repa~t what the apostets preached"
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als solchen, sondern führt den Tod Jesu in unmittelbarem Zusammenhang mit dessen Wundertätigkeit und mit seiner Auferweckung durch Gott an; es liegt mit den Versen 22-24 zudem ein einziger Satz vor. 95 Somit dürfte die primäre Intention des Petrus in der Verkündigung des Heilshandeln Gottes liegen, in welcher er das paradoxe Schicksal Jesu, des Messias, der gekreuzigt und auferweckt wurde, erklärt. Petrus spricht die Zuhörer nur in dem V. 23 b mit dem Ausspruch "diesen [... ) habt ihr durch die Hand der Gesetzlosen kreuzigen und töten lassen" unmittelbar in der 2. Pers. PI. (ihr) an. Mit den gesetzlosen (lbqw&.) dürften die römischen Soldaten gemeint sein. Nach dieser Verkündigung des Petrus wurde Jesus durch die Hand römischer Soldaten gekreuzigt, während die Verantwortung den Zuhörern (ihr) zugeschrieben wird. Der Hinweis auf die Kreuzigung durch die Gesetzlosen hat einige Exegeten zu dem Kommentar veranlaßt, daß trotz der Beteiligung der Heiden an der Tötung Jesu die (Jerusalemer) Juden dieser Verantwortlichkeit nicht enthoben seien. ,,Die Beteiligung der Heiden an der Tötung Jesu hebt die Hauptverantwortung der (Jerusalemer) Juden nicht auf"96 Wie ist der Ausspruch des Petrus nun näher zu erklären'P7 J. Jerve/1 charakterisiert den Ausspruch als "eine sehr scharfe Anklage". "Die Juden haben ihren Messias mit Hilfe gottloser Heiden getötet. " 98 Ob dieser Vorwurf ein apologetisches Interesse gegenüber Rom verfolgt, wie dies beispielsweise W. Schmitha/s anmerkt, 99 ist zu bezweifeln, da die Römer mit dem Attribut der Gesetzlosen nicht positiv umschrieben werden. Petrus stellt mit der direkten Anrede an die Zuhörer einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und den Zuhörern her. Wenn Petrus den Zuhörern die Verantwortung am Tod Jesu zuschreibt, dürfte er nicht die unmittelbare 95
Vgl. A. WEISER, Die Apostelgeschichte (ÖTK 5/1), GUtersloh 1981,92: ,,In einem lamstvoU gebauten Satz konunen zunAchst sein Erdenleben. sein Tod und seine Auferwecklmg zur Sprache (Verse 22-24)." 96 G. ScHNEIDER, Apostelgeschichte, 272. Vgl. ebenfalls H. CoNZELMANN, Die Apostelgeschichte (HNT 7), TUbingen 2 1972, 35: ,J)adurch, daß sieb hier der Heilsplan erftlllt, wird die Schuld der Juden nicht vennindert." Vgl. ebenfalls F. MussNER., Apostelgeschichte (NEB 5), WUrzburg 1984, 23~ R. PEscH., Apostelgeschichte, 121~ J. ZMIJBwsKJ, Die Apostelgeschichte (RNl), Regensbwg 1994, 138: ,.Dieses ihr Handeln gegen Gottes Messias ,wider besseres Wissen' im ihre Schuld." 97 Vgl. R.F. O'Tcxu, Retlections on Luke's Treatment of the Jews in Luke-Acts, Bib 74 ( 1993) 529-555: 542: "Luke holds tha1 specifically the Jerusalem Jews are responsible for Jesus' death, and the more important question is how Luke used this guilt7' 98 J. JERVF.U.., Apostelgeschichte, 145. Vgl. ebenfalls A WEISER, Apostelgeschichte, 92, der von einem schweren Vorwmf gegenOber den Hörern schreibt 99 Vgl. W. ScHMmw.s, Die Apostelgeschichte des Lukas (ZBK 3,2), Zürich 1982, 36.
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Beteiligung an der Auslieferwtg Jesu an die Römer meine~ da er die Zuhörer nicht als unmittelbar Beteiligte ausmachen kann. Der Vorwurf dürfte daher auf das Nicht-Erkennen Jesu als Messias zielen, das bis zu der Auslieferwtg Jesu an die ihn kreuzigenden Römer führte. Indem Petrus diesen Vorwurf in der direkten Anrede an die Zuhörer anführt, fordert er diese damit nun auf, Jesus, der von Gott auferweckt wurde, als Messias anzuerkennen. 100 Im Mittelpunkt der Verkündigung des Petrus steht die Auferstehung, 101 welcher der Hinweis auf Gottes Ratschluß und Vorsehung vorausgeht, der erklärt, warum der von Gott durch Wunder Beglaubigte getötet wurde. 102 Doch obgleich Petrus die Auslieferwtg Jesu als Gottes Ratschluß und Vorsehung erklärt, bleibt der Vorwurf an die für die Auslieferwtg Verantwortlichen bestehen. Diesem Vorwurf eignet die Tragik, daß die, die Jesus aufgrwtd ihres Glaubens (,,Israelitische Männer"N. 22) als Messias hätten erkennen müssen, diesen nicht nur nicht erkannt habe~ sondern sogar in den Tod ausgeliefert haben. Mit dem in direkter Anrede an die Zuhörer ergehenden Vorwurf und der Eingliederwtg dieses Vorwurfes in die Verkündigung der Wundertätigkeit und Auferweckung Jesu fordert Petrus die Zuhörenden indirekt auf, Jesus als den Messias zu erkennen und an ihn zu glauben. Die Aufforderwtg, Jesus als Messias zu erkennen, findet sich dann expressis verbis in V. 36, in dem der Vorwurf der Kreuzigung noch einmal wiederholt wird: "So soll das ganze Haus Israel erkenne~ das Gott ihn zum Herrn und Gesalbten gemacht hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt." Lukas fiihrt nach der Rede des Petrus die Reaktion der Zuhörer an (V. 37): "Als sie das hörten, ging ihnen ein Stich durch das Herz, und sie sprachen zu Petrus und den übrigen Aposteln: , Was sollen wir
100
Vgl. J.R. Wn.at, JOdische Schuld am Tode Jesu - Antijudaismus in der Apostelgeschichte?, in: W. HAuaECKIM. BACHMANN (Hg.). Wort in der Zeit Neutestamentliche Studien (FS K.H. Rcngstorf). Leiden 1980, 236-249: 239: ,,Der Sinn dieser predigthaften Zuspitztmg ist aber nicht. eine Alleinschuld der Juden zu konstatieren. Vielmehr wird einerseits die jüdische Vcranlassung der Kreuzigwtg pogrammatiscb angegeben [... ] Andererseits soU Erscbottenmg bei den Hörern Uber die Ungeheuerlichkeit des Vergebells bewirkt werden (V. 37). Denn die Pointe, sowohl in V. 23 als auch in V. 36, liegt nicht in der Identifizienmg der Schuldigen." 101 Vgl. J. lERVFll, Apostelgeschichte, 145: ,,Der Schwerpunlct der Christologie ist die Auferstehung, der Tod ist Durchgang zu dieser eigentlich heilenden Begebenheit" 102 Vgl. J.T. SQuiREs, The plan ofGod in Luk~Acts (SNTSMS 76), Cambridge 1993. Vgl. ebenfalls H.D. BUCKWALlF.R, The cbaracter and purpose ofLuke's christology (SNTSMS 89), Cambridge 1996, 112: "The notions of divine and scriptural fulfillment is fundamental to tmderstanding Luke's assessment of Jewish and Gentile guilt in Jesus' death."
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nm, Brüder?"' Die Zuhörer erkennen den Vorwurf an, ihnen geht ein Stich durch das Herz. Am Schluß seiner Rede (V. 38t) fordert Petrus die Zuhörenden zur Umkehr und zur Taufe auf. Er ermahnt sie, sich zu bekehren: ",Laßt euch retten von diesem verdrehten Geschlecht!"' Mit dem "verdrehten Geschlecht" (Dtn 32,5; Ps 77,8) sind die Zuhörer gemeint, beziehungsweise jene unter ihnen, die sich nicht bekehren; das Geschlecht ist das jetzige Israel. 103 In seiner Missionsrede führt Petrus den Vorwurf der Kreuzigung an, um dem unrechtmäßigen Handeln der Kreuzigung Jesu das Heilshandeln Gottes gegenüber zu stellen und um damit die Zuhörer zur Umkehr aufzurufen. Der im Rahmen des Kerygmas angeführte Vorwurf will die Zuhörer nicht nur über die Unrechtmäßigkeit der Kreuzigung belehren, sondern will bei diesen durch die direkte Anrede (ihr) ebenfalls eine bestimmte Wirkung erzielen: die Zuhörer sollen den von Gott auferweckten Jesus als Messias anerkennen. Es ist deshalb auch davon auszugehen, daß der Vorwurf nicht von einer antijudaistischen Komponente getragen wird, da einerseits die Zuhörer direkt angesprochen werden und nicht vom Gottesvolk Israel als ganzem die Rede ist und da andererseits die Zuhörer zur Umkehr aufgerufen werden. 104 Der Vorwurf ist deshalb auch stets im Rahmen des Kerygmas zu lesen und zu verstehen (V.22-24: ein einziger Satz), da eine isolierte Betrachnmg zu der Annahme gelangen könnte, dem Vorwurf würden antijudaistische Motive zugrunde liegen. Die Tönmgs- bzw. Auslieferungsaussagen finden sich ebenfalls in unterschiedlichen Variationen in den anderen Reden wieder. Es ist auffällig, daß diese Aussagen mit einem relativischen Anschluß ("der"/ Öv, neben 2,36; auch in 3,13: 4,10; 5,30 10,39) angeführt werden; möglicherweise liegt eine der Auferweckungsformel analog tradierte Überlieferung zugrunde, die von Lukas unterschiedlich eingesetzt wird. 10s Neben Apg 2,23.36 werden auch in Apg 3,13; 4,10; 5,30 die Zuhörer 103
Vgl. J. JERVFJL, Gottes Treue zwn wttreuen Volk, in: C. BussMANNIW. RADL. (Hg.), Der Treue Gottes trauen. Beitrage zwn Welk des Lukas', ftlr Gerbard Sclmeider, Freiburg 1991, 15-27. Vgl. ebenfalls F. MussNF..R, Apostelgeschichte. 26, der das Attribut wie folgt konunentiert: ,.Motiv der Krisis und der Scheidung. die die Missionspredigt Wlter den Juden bringen wird."
Vgl. J.R. WD...CH. Schuld. 248: ,,Die Anklage des Propheteomordes ist nicht faktisch aufzufassen, sondern als eine Unterstreichung des emstm Bußappelk, [... ) Das eigentliche Anliegen der Anklage wegen der Tötlmg Jesu ist der BußappeU an Juden und Halbproselyten. Sie bat mit einer Ven.ateihmg des Judentums nichts gemein:' lOS Vgl. K. KuEscH., Das Heilsgeschichtliche Credo in den Reden der Apostelgeschichte (BBB 44), Köln/Boon 1975,84. 104
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als Subjekte (4,&t'i'c;) direkt angesprochen und damit zur Umkehr ermahnt. An zwei Stellen findet sich das Motiv der Unwissenheit: "Aber ich weiß, Brüder, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, wie auch eure Führer." (3, 17) "Denn die Bewohner von Jerusalem und ihr Vorsteher haben, ohne es zu wissen, die Worte der Propheten erfüllt [... )" (13,27). In Apg 3 schließt sich die Äußerung des Petrus direkt an die vorausgehende Scheltrede an. Petrus stellt in seiner Rede der Verherrlichung Jesu die Auslieferung und Verleugnung vor Pilatus gegenüber (V.I3), er wirft den Zuhörern vor, daß sie den Heiligen und Gerechten belastet und die Freilassung eines Mörders gefordert haben (V.l4) und daß sie den Fürsten des Lebens getötet haben (V.l5). In dieser Scheltrede wird der Vorwurf an die Zuhörer noch eingehender vorgetragen und wiegt noch schwerwiegender als in Apg 2,22-24. Die sich daran anschließende Äußerung des Petrus, daß die Zuhörer in Unwissenheit gehandelt haben, läßt die Intention erkennen, die Zuhörer nun durch die Rede belehrt zu haben und damit zur Umkehr zu motivieren. Entsprechend setzt Petrus mit dem Aufruf zur Buße und Umkehr seine Rede fort (V. 19). Dem sehr massiven Vorwurf, der die Unrechtmäßigkeit derjenigen, die Jesus ausgeliefert haben und fiir seinen Tod verantwortlich sind, herausstellt, wird in der Scheltrede das Heilshandeln Gottes, der Jesus auferweckte, gegenübergestellt. Der Vorwurf ist damit im Rahmen dieser Kontrastierung zu verstehen, die Zuhörer sollen als nun Wissende umkehren. Diese Intention wird durch die direkte Anrede an die Zuhörer (ihr) jeweils unterstützt. Die den Zuhörern eingeräumte vormalige Unkenntnis dient jedoch nicht der Entschuldigung des unrechtmäßigen Verhaltens, sondern der Erklärung der Auslieferung Jesu an Pilatus. Denn wäre mit dem Aufweis der Unwissenheit eine Entschuldigung beabsichtigt gewesen, hätte Petrus den Aufruf zur Buße und Bekehrung schwerlich an die Intention der Sündenvergebung geknüpft (V.19). 106 Anders argumentiert F Mußner, der von einer Minderung der Schuld "in ganz bedeutender Weise" wie auch des ",Antijudaismus' des Lk" schreibt. 107 Doch ist die mit dem Vgl. J. JERVELL. Apostelgeschichte, 166~ W. ScHMmw..s. Apostelgeschichte, 45; R. PEscH., Apostelgeschichte (Apg 1-12), 154: ,"Unkenntnis' als Nicht-Anerkenntnis Gottes in seinem geschichtlichen Handeln (vgl. Röm 2,4) ist keineswegs entschuldig~ denn Jesus war ja ,von Gott ausgewiesen' (vgl. 2,22) (... ]Der Hinweis auf die ,Unwissenheit' dient also nicht der Entschuld.iglmg. sondern der Akzentuienmg der neuen Situation". 107 F. MussNER. Apostelgeschicble. 30. Vgl. ebenfalls zur Thematik der Ignoranz bei Lukas P. DoBL.E, The Paradox ofSalvation: Luke's Theology ofthe Cross (SNTSMS 87), Cambridge 1996,214-223: 216: "This reference to 'ignorance' apparcotly diminishes the hearen' guilt in sofaras they recognise what they have done and repent (Acts 2.37-42~ 5,12-16; (... ])." 106
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Vorwurf einhergehende massive Kritik schon als antijudaistisch zu bezeichnen? 108 Der sehr massiv vorgetragene Vorwurf der Scheltrede ist von der Intention getragen, die Zuhörer mit der Unrechtmäßigkeit der Auslieferung zu konfrontieren und diese dadurch zur Umkehr zu motivieren. Die Scheltrede hat nicht ihren Zweck in sich selbst, sondern ist vielmehr als Hinführung zum Buß- und Umkehr-Aufruf zu verstehen.109 Daneben geht mit den Vorwürfen immer der Verweis einher, daß das Geschehen nach dem Ratschluß Gottes bzw. nach den prophetischen Ankündigungen erfolgt sei~ 110 dies ist weder mit einer antijudaistischen Motivation noch mit einem antijudaistischen Verständnis der Rede vereinbar. Petrus konfrontiert die Zuhörer zwar mit massiven Vorwürfen, aber er möchte sie auch als seine Brüder (V. 17), die in Unwissenheit waren, zur Umkehr bewegen~ eine rein antijudaistische Ausrichtung der Scheltrede wäre dieser Intention jedoch entgegengesetzt. Auf der anderen Seite ist es evident, daß eine isolierte Betrachtung dieser Rede aufgrund der massiven Vorwürfe eine antijudaistische Interpretation nahe legen kann, als auch antijudaistische Einstellungen bestärken und verfestigen vermag. Eine antijudaistische Interpretation hat oftmals einen pejorativen Gebrauch dieser und anderer Reden zur Folge, welcher dann wiederum allen Juden die Verantwortung am Tod Jesu zuschreibt. Eine solche Zuschreibung findet sich bei Lk jedoch nicht, da entweder die Zuhörer direkt angesprochen werden (ihr) oder nur von bestimmten an der Auslieferung beteiligten Juden die Rede ist wie in Apg 13,27: die Bewohner Jerusalems und ihre Vorsteher werden angeklagt, nicht aber das Volk. Die Reden, die die Tötungs- und Auslieferungsaussagen enthalten, zielen auf die Umkehr der Zuhörer. Eine historisch-kritsch arbeitende Exegese hat deshalb stets auf diese Ausrichtung und damit auf den Zusammenhang hinzuweisen, in welchem die Vorwürfe vorgetragen werden, um einem möglichen antijudaistischen Verständnis vorzubeugen. Jedoch können die Vorwürfe, nachdem sie des Zusam108 Vgl. CA EvANs, Death, 34, der im Rahmen der Auseinandersetzu mit Apg 7,51.()() fragt "ls such harsh critici.sm (remcmbering for a moment the Hebrew prophets) nccessarily anti-Semitic?" 109 Vgl. S.G. Wn..soN, Jews, 163: '1n addition, each declaration of Jewish culpability is tied to a cal1 for repentance and an offer of divine forgiveness". 110 Vgl. E. RIOIARD, Jesus' Passion and Death in Acts, in: D.D. SYLVA (ed.), Reimaging the Death ofthe Lukan Jesus (BBB 73), Frankfurt 1990, 125- 152: 150: "lbe death of Jesus along with bis resurrection is invariably related by Luke to tbe plan ofGod for the salvation ofhumanity. Even the most minute detailsofthat story (e.g., the ro1e of Judas) fall under prophecy (scriptl.Ue) or God's foreknowledge."
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menhanges enthoben worden sind, eine antijudaistische Interpretation nach sich ziehen. Damit stellt sich die Frage, ob die Tötungsausage, welche in der Apg stets im Zusammenhang mit der Auferweckung Jesu vorgetragen wird, auch allein vorgetragen wurde. Die Annahme, daß mit dem relativischen Anschluß öv eine tradierte Überlieferung der Tötungsaussage vorliegt, läßt die Vermutung eines isolierten Gebrauches der Tötungsaussage eher unwahrscheinlich erscheinen. Denn eine relativisch vorgetragene Aussage bedarf notwendigerweise eines übergeordneten Satzes. Dieser übergeordnete Satz thematisiert in den Reden der Apg entweder die Verherrlichung Jesu oder seine Auferweckung durch Gott und fuhrt den Zuhörern damit ihre Unwissenheit und die Unrechtmäßigkeit ihres Verhaltens vor Augen. Ein isolierter Gebrauch der Tötungs- und Auslieferungsaussage, der einer antijudaistischen Interpretation Vorschub geleistet hätte, dürfte daher nicht vorgelegen haben. Das Ende der Apg bietet ebenfalls Anlaß, die Annahme eines lukanischen Antijudaismus zu diskutieren. 111 Lk schildert in Apg 28,17-31 die Auseinandersetzung des Paulus mit den Juden in Rom, in deren Verlauf er die Verhärtungsworte nach Jes 6,9-10 (LXX) anführt mit der seine Rede abschließenden Aussage, daß die Heiden im Gegensatz zu den auf das Evangelium nicht hörenden Juden hören werden (28,28). Wird damit die Verwerfung des Volkes durch Gott in endgültiger Weise zum Ausdruck gebracht? Und hat Lk Israel nun endgültig abgeschrieben? 112 Der Unglaube der Juden wird als Blindheit charakterisiert, aber ist Blindheit mit Verwerfung gleichzusetzen? Und welche Relevanz hat in diesem Zusammenhang das Versprechen Gottes an das auserwählte Volk? Bleibt das Versprechen Gottes unerfüllt aufgrund des Unglaubens Israels oder wird es erfüllt nur an denen, die an Jesus glauben? Und bezieht sich das Verdikt der Blindheit auf alle Juden oder nur auf einen Teil Israels? 113 Und ist dieses Verdikt und die Hinwendung zu den Heiden ein Hinweis auf die endgültige Trennung der
Vgl. die Einfuhrung zu diesem Aufsatz. Vgl. D.R. ScHwARTZ, God. Gentiles, and Jewish Law: On Acts 15 and J~ phus"Adiabene Narrative, in: H. LICHmNBERGER (Hg.). Geschichte- Tradition- Reflexion (FS M. Heoge1), Bd. 1: Judentum, Tübingen 1996, 263-282: 278: "(T)he wbo1e two-volwne wodc is 'inc1uded' between an opeiÜJl8 promise thal all natioos shall see the salvation of God (Luke 3:6) 8ld the closing report thal the evangelist of salvation gave up on the Jewisb peopk and tumed to the other people.s, who will indeed be saved (Acts 28:26-28)." 113 Vgl. die Diskussion bei V. Fusco, Luke-Acts and tbe Cuture of Israel, NovTest 38 ( 1996) 1-17, der einen Überblick Ober die gegenwärtige Diskussion bietet (3ff). 111
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,.Kirche vom Judentum", wie dies von einigen Exegeten konstatiert wird? 114 Paulus ruft, nachdem er drei Tage in Rom ist, die Leiter der Juden zusammen (V.17). Er redet sie mit ,,Brüder'' an und erklärt ihnen gegenüber· seine Unschuld (V.l7b-20). So habe er nicht gegen das Volk und die Sitten der Väter gehandelt, dennoch wurde er von Jerusalem an die Römer ausgeliefert, welche ihn freilassen wollten. Paulus wird damit zu Beginn seines Aufenthalts in Rom dargestellt als einer, der ganz im Verband des Judentums steht: Er ruft zuerst die Leiter der Juden zusammen und redet sie mit "Brüder" an. Doch der Protest der Juden führte dazu, daß er weiter in Gefangenschaft blieb. Er habe deswegen an den Kaiser appelliert; dies jedoch nicht in der Absicht, sein Volk anzuklagen.m Aus diesem Grund (öLa -rau'tTiv ouv -ri)v ah(av), so führt Paulus weiter aus (V. 20), habe er die Ersten der Juden zusammenrufen lassen. Und er präzisiert (V. 20b): "Denn ich trage diese Fessel um der Hoffnung Israels willen." Unter der Hoffnung, die nicht näher erläutert wird, ist die Hoffnung auf Auferstehung "als Ausdruck der messianisch-eschatologischen Hoflhungen" 116 zu verstehen. J. Jerve/1 kommentiert: "Betont werden das Tragische und Paradoxale: Der Jude Paulus ist in Gefangenschaft wegen der Juden und seines Judentums.'' 117 Die Annahme liegt nahe, daß die Juden über den Vorfall bereits informiert sind, diese erklären jedoch, keinerlei offizielle Information erhalten zu haben (V. 21). Sie bitten Paulus vielmehr, seine Meinung über das Christentum kundzutun (V.22): "Wir würden aber gern von dir selbst hören, was du denkst. Denn von dieser Sekte/Partei ist uns bekannt, daß sie überall Widerspruch findet." Mit der Bitte eröffnen sie Paulus die Möglichkeit, von der Erklärung seiner Unschuld zur Verkündigung überzugehen. Lukas situiert die abschließende Verkündigung des Paulus damit an dem Ort des Diaspora- und Welt114
Vgl. beispielsweise F. MussNE.R, Apostelgeschichte. 157: ,J)eshalb körmte man als Überschrift über die Perikope setze1r ,Die endgültige Trermung der Kirche vm1 Judentum."' Vgl. ebenfalls R. PEscH, Apostelgeschichte. 310: ,.Die Zuhmft der Kirche gehört den Heidenchristen." Vgl. des weiteren D.M. SWFEILAND. Luke the Christian, in: E. RIOWID (ed.), New Views on Luke and Acts, Collegeville 1990, 48-63: 59: "Using Acts 13:46~ 18:3 and 28:28 in particular. many would argue that Luke bas abuKb1ed the hope of converting Israel and that he understands the Christian rnission to be directed exclusively to the Gentiles." IIS Diese Überliefenmg steht im Widerspruch ZU Apg 25,13ff, nach der Paulus gegen eine Ausliefenmg nach Jerusalem Widerspruch einlegte und der Entscheidung des Kaisers wtterstellt zu werden begelute. 116 Vgl. J. JERVEll, Apostelgeschichte, 624f 117 Ebd., 625.
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judentums, in dem Paulus noch nicht verkündigt hatte, in Rom. An einem vereinbarten Tag verkündet Paulus den Juden dann auf der Grundlage des Gesetzes des Mose und der Propheten vom Morgen bis zum Abend das Reich Gottes und suchte sie von Jesus zu überzeugen, d.h. von der Messianität Jesu (V. 23). Die Dauer der Verkündigmtg unterstreicht die Bedeutung der Situation. Und während sich nun die einen von dem, was Paulus sagte, überzeugen lassen (e1rd8o~o ), bleiben die anderen ungläubig (~1rl.atouv) (V. 24). Die Verkündigung des Paulus stößt also weder auf einhellige Zustimmung noch auf einhellige Ablehnung. Diejenigen unter den Zuhörern, die sich überzeugen ließen, dürften damit zum Glauben an Jesus Christus gefunden haben. 118 Die Wahl des Verbs umattwf'ungläubig sein", welches die Ablehnenden charakterisiert, betont diese Annahme durch ihren oppositionellen Charakter (amattw - 1TLattUw). Denen, die nicht glauben, stehen die, die sich überzeugen ließen und damit glauben, gegenüber. 119 Entsprechend schließt der folgende V.25a dann an diese Aussage an. Die Juden gehen - uneinig untereinander (aa~wvoL) - auseinander. Es ist deshalb nicht richtig zu sagen, daß Israel als ganzes im Unglauben beharre, 120 da einige gläubig geworden sind. In Rom ereignet sich nun das, was sich vorher in Jerusalem, Kleinasien und Griechenland ereignete. Dem Auseinandergehen wird die Zitation eines Schriftzitates (Jes 6,9-10 LXX) durch Paulus vorangestellt, in dem die sogenannte Verstockung ausgesagt wird (W26-27). Die Ungläubigen konfrontiert Paulus mit einem Schriftwort, nach welchem sie das Wort des Propheten Jesaja über die Verhärtung erfüllen. Der Text findet auch in den Evangelien Verwendung (Mt 13,14f~ Mk 4,12; Joh 12,40), um die Verhärtung gegenüber der Predigt zu weissagen. 121 Auch wenn in dem 118
Diese Schlußfolgcnmg wird von einigen Exegeten nicht geteilt So kommentiert R. PEscH, Apostelgeschichte, 309: "Von einer Bekehnmg eines Teils ist nicht die Rede" Vgl. ebenfalls G. ScHNEIDER, Apostelgeschichte ß, 417~ J. ROLOI'F, Apostelgeschichte, 374. Anders CA EvANS, view, 37: "First, there is no good reason not to tmdersland those who were persuaded (wu9Ew) as actual believers." 119 Vgl. D. RAVENS, Luke and the Restoration of Israel (JSNT.S 119), Sheffield 1995, 238: "lbere are a munber of instances in Luke-Acts wbe:re nu9o means to 'convert', although the objective of the conversion depends upon the context" 120 So J. ROLOFF, Apostelgeschichte, 374: ,,Noch einmal zeigt sich, daß Israel als ganzes im U~auben behant" 1 1 Vgl. F. BovoN, ,,schön hat der heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Valern gespuchen" (Act 28,25). 'lNW 75 (1984) 226-232: 229: ,,Aber verglichen mit der synoptischen Tradition macht unser Zitat (... ] einen zweiten Umzug: der erste war von der Schrift in den Mund Jesu (dh. in die synoptische Überliefenmg)~ der zweite durch den Willen des Lukas vom Munde Jesu (... ) in den des Paulus."
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nach dem Septuagintatext angeführten Schriftzitat das Volk als solches angesprochen wird, können hier nur die Ungläubigen gemeint sein, da die Erwähnung der Uneinigkeit in den vorausgehenden Versen sonst keinen Sinn ergebe. tn Die Nicht-Anahme des Glaubens an den Messias Jesus bleibt nicht ohne Konsequenzen, denn das Heil ist von dem Hören abhängig. Welche Bedeutung hat das "schwergewichtige Verstockungsurteil am Schluß des Buches" nun genau? 123 Zeichnet sich das Urteil nun durch einen letztgültigen Charakter aus oder ist es eher nur als typisch anzusehen? Die Annahme eines endgültigen Urteils ist insofern nicht nachvollziehbar, als daß sich die Verstockungsaussage nur auf einen Teil Israels, d.h. die nicht an den Messias Jesus Glaubenden bezieht. Da mit der Verstockungsaussage eine Aussage getroffen wird, wie sie in analoger Weise in anderen Gebieten ebenfalls schon getroffen wurde (7,51-53, 13,45f/Kieinasien, 18,6/Griechenland), 124 liegt eine typische Verwendung nahe. Auf eine typische Verwendung deuten auch die letzten beiden Verse der Apg hin. Die Apg endet mit einem kurzen Bericht über den weiteren Aufenthalt des Paulus in Rom. Dort verweilte Paulus noch zwei Jahre in seiner Mietwohnung und lehrte ungehindert vom Herrn Jesus Christus mit allem Freimut (VV3031 ). Paulus empfing in seiner Mietwohnung alle, die zu ihm kamen. Daß der Text keinen Anlaß biete anzunehmen, "daß Lukas mit der abschließenden Notiz der Apostelgeschichte nicht mehr Juden gemeint hat und ,alle' exklusiv nur auf Nich~uden bezogen habe," merkt R. Kampling an. "Vielmehr endet die Apostelgeschichte mit dem Beispiel des Paulus, der alle aufhimmt." 125 In seiner typischen Verwendung zielt das Verstockungswort auf Buße und Umkehr der nicht an den Messias Jesus Glaubenden~ 126 eine hoffnungsvolle Perspektive scheint 122
Vgl. J. JERVEU., Apostelgeschichte, 627: ,,8elbstverständlich gilt das Wort nicht den gläubiggewordenen Juden, V 24, Ober die er nichts sagt. weil das überflüssig ist." Vgl. ebenfalls R. I
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gegeben. 127 Darauf deutet auch die Doppeldeutigkeit des nach der Septuaginta zitierten Jesaja-Wortes am Ende (V. 27) ~ das sowohl positiv als auch negativ gelesen werden kann. Der Schluß von V. 27 ,,KUL ~Tri.Otpf~I.V [Konj. ], Kal Laa~l. [Fut.] au-ro\)(;" kann unabhängig von ~~nonf'damit nicht" so gelesen werden, daß "sie sich bekehren (mögen) und ich sie heilen werde" oder im Anschluß an ~1\nonf'darnit nicht" so verstanden werden, daß "sie sich nicht bekehren und ich sie nicht heilen werde." 128 Paulus schließt seine Rede mit dem Hinweis, daß den Heiden das Heil Gottes gesandt wurde (V.28): "Es sei euch nun kund, daß zu den Heiden dies Heil Gottes gesandt wurde; sie werden auch hören." Die Heiden werden hören, während die Juden bzw. einige unter ihnen als nicht an den Messias Jesus Glaubende nicht hören. Die Gegenüberstellung 129 erfolgt hier, um noch einmal zu betonen, daß Gott auch die Heiden des Heils teilhaftig werden läßt; der mittelbar intendierte Aufruf zur Buße und Umkehr erfahrt durch diese Gegenüberstellung noch eine Verstärkung. 130 Ebensowenig wie das Verstockungswort letztgültig zu verstehen ist, ist die Hinwendung zu den Heiden nicht als endgültige Abwendung von den Juden zu verstehen. 131 Denn die Hinwendung zu den Heiden bedeutete nicht, daß Paulus nicht mehr in den Synagogen predigte (14,1; 16,13;17,1.10.17; 18,4.19; 19,8). 132 Das VerstockWtgswort, das oftmals Anlaß fiir eine 127
Vgl .J. ZMIJEWSKI, Apostelgeschichte, 886: ,,Auch das Verstoclcungswor Jes 6,9f (in VV. 25b-27) scheint zumindest nicht gegen diese hoffinmgsvoUe Perspektive zu sprechen." 128 Vgl. F. BovoN, heilige Geist. 230. Der Haupttext bietet hn.ot"E+woa.v im Konjunktiv und UUqaaL im Futur, wahrend die Textvariantenjeweils die Allgleichung an den Modus des anderen Verbs suchen (s. Nestle-Aland27/Apparat ZlD" Stelle). Wahrend der Konjunktiv die Anhindung an das 1'~110tE und damit auch die Negation nahelegt. ist mit dem Futw- auch eine voo l'~lfO'tE lUiabhangige Lesart gegeben. Vgl. ebenfaUs M.-1. SEEWANN, "Verstoclrung", "Verbärtung" oder ,,Nicht-Erkennen''? Überlegw~gen zu Rom 11,25, Kul 12 (1997) 161-172: 169, die im Anschluß an Jes 6,9-10 betont "Obwohl negativ fonnuliert, ist ,das Rezept' hier genau angedeutet, und zwar in der notwendigen Reihenfolge: Einsicht/Erlcennen, Umkehr,
Heilung/Rettung vom Herrn." 129
Vgl. D. RA YENS, Luke, 242: "The prcmise that the Gentiles will hear is a contrast to, not a consequence of, Jewish deafuess." 130 Vgl. RF. O'TOOLE, Refiections, 547: "The threat tbat this salvation has been sent to the Gentiles who will hear continues tbe challenge to the Jews to take this offer of salvation seriously or miss out while otbers reap the benefit" 131 Vgl. J.B. TYSON, Jews. 36f "Acts 28.28 is the last of three announcements about turning to Gentiles (cf. 12.46~ 18,6). It is true that after both of the first two announcements Paul retumed to present the Cbristian message to Jews." J.B. TYSON betootjedoch auch (ebd.), daß die letzte Ankündigung ein besonderes Gewicht trage. 132 Vgl. R VANDERSANDT, Salvation, 344: ''Why would he turn away from God's people in Acts 28,28 while, in comparison with Israel's attitude in previous situations, its response is
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antijudaistische Auslegung war, 133 benennt weder die Verwerfung der Jude~ 134 noch intendiert es diese ebensowenig wie ihren endgültigen Ausschluß vom Heil. 135 Der abschließende Charakter des Endes der Apg gründet nicht in dem vermeindich endgültigen Verstockungswort, sondern wird durch die Angabe des paulinischen Aufenthaltsortes zum Ausdruck gebracht. Mit dem Aufenthalt und der Verkündung des Paulus in Rom hat sich das Wort Jesu vom Zeugendienst bis an das Ende der Welt ( Apg 1,8) erfüllt. 136 Lukas stellt mit dem Ende der Apostelgeschichte (VV. 30-31) noch einmal Paulus in seiner Rolle als de~ der Jesus Christus verkündigt, heraus. 137 Ein letztes Wort über Israel und die Juden findet sich am quite irenic?" Vgl. ebenfalls J.D.G. DuNN, Question., 192: "This raises the further possibility tbat this final tuming ofPaul to the Gentiles is no morefinal than the earlier tumings (.. .]". 133 Vgl. P. POKORN'i', Theologie, 5lf: ,,Lukas hat die durch Schriftzitate belegten negativen Aussagen Ober die Juden Ubemonunen (... ): von dem Eckstein. der ZlDD Stein des Anstoßes geworden ist( ... ) oder über die Verstockung (... ).Hier sind wirklieb die Wurzeln des christlichen Antijudaismus zu suchen, wobei jedoch die Absicht nicht primar negativ war." 134 Vgl. C.A EvANs, view, 37: ''Secondly, Is. 6:9-10 is not quoted to show tbat God has rejected Israel. The passage sirnply does not say this." Vgl. ebenfalls D. MAR.GUERAT, The End of Acts and the Rhetoric of Sileoce, in: SlE. PORTER!Th.H ÜLBRICHT ( ed. ), Rhetoric and the New Testament: Essays from the 1992 Beideiberg Conference (JSNT.S 90), Sbeffield 1993, 74-89: 86: "In the first place, the most surprising obsemation is that in spite of the bardness of the word of judgment of lsa. 6.9-10, neitber Paul's discourse (according to Luke) nor the discourse of the narrator concludes by shutting off Judaism.'' D. MAR.GUERAT betont jedoch auch, daß die Zeit der Missionsendtalg an Israel als Volk vorbei sei (ebd., 87). 135 Vgl. F. MUSSNER, Apostelgeschichte, 160: ,,Doch beachte man, daß das Verstockungszitat in Apg 28,26.27 keine Verwerfimg der Juden durch Gott oder ihren definitiven Ausschluß vom Heil, ja nicht eirunal eine Gerichtsandrohung ausspricht" 136 Vgl. D. MARGUERAT, End, 86: "We shall also see that the second pn:dication that was left open in the book of Acts, namely the testimony to the Ri.sen one l.Ulto the qcrrov ril:; y~l.8), towers above this final summary, in which it finds an anticipated fulfibnent, as it were." Vgl. ebenfalls J. WJNANDY, La Finale des Actes: Histoire ou Theologie, EThL 73 (1997) 103-107: 103. Anders W. REINHARDT, Das Wachsb.an des Gottesvolkes: Untersuchungen zwn Gemeindewacbstu im lukanischen Doppelwelk auf dem Hintergrund des Alten Testaments, Göttingen 1995, 307: ".Die Enden der Erde' sind aber mit der Welthauptstadt Rom nach damaligem Verstandni.s nicht erreicht Rom ist vielmehr nur ein neues Sprungbrett, vom dem aus die Verlcondigung des Evangeliums die ganze damals bekannte Welt erfllllen soU." Vgl. ftlr eine weitere Diskussion ebenfalls P. POKORNY, "... bis an das Ende der Erde" Ein Beitrag llUD Thema Sanunl\Dlg Israels und christliche Mission bei Lukas, in: DERs./J.B. SoucEK, Bibelauslegung als Theologie (WUNf 100). TUbingen 1997,315-325. 137 Vgl. D. MARGUERAT, End, 86. Vgl. ebenfalls W.MF. BROSEND, ß, The means of absent cnds, in: B. WrrnERINGTON, m (ed.), History, literature, and society in the book of acts, Cambridge 1996, 348-362: 361: "Paul for all bis heroism, for all the focus upon him in Acts 13-28, is not the centrat character ofLuke-Acts: Jesus is. At some point, in some way, Luke needs to retmn the reader's attention to bis centrat character.''
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Ende der Apg nicht, insofern ist dieses Ende auch als ein offenes Ende zu charakterisieren. 138 Aber das Heil ist Israel nicht entzogen, Lukas erwartet die Erfüllung der Hoffuung Israels in der Zukunft. 139 Die Vorwürfe in den Reden der Apostelgeschichte und die harschen Worte des Paulus gegenüber seinen jüdischen Zuhörern haben jedoch zu einem negativen Ansehen derselben geführt, so daß der Anlaß einer antijüdischen Polemik ebenso wie einer antijüdischen Haltung fiir viele Leser gegeben war. 140 "In diesem Sinn haben diese Dokumente eine Rolle in einer tragischen Geschichte gespielt." 141 3. 3. Abschließende Bemerkungen Lukas situiert das Auftreten Jesu ganz im jüdischen Rahmen, 142 noch der auferstandene Jesus legt die Schriften aus (Lk 24,25-27). Jesus bleibt im Lukasevangelium auf palästinischem Boden, er betont die bleibende Gültigkeit des Gesetzes (Lk 16, 17). 143 Jesus setzt sich weder kritisch mit den Reinheitsgeboten auseinander, noch äußert er sich kritisch gegen den Sabbat oder gegen die Erlaubnis zur Ehescheidung. Ebenso wird die Urgemeinde nach Apg 1-7 im Rahmen des Judentums dargestellt. Und auch Paulus wird in der Apg als ein gesetzeseifriger Mann geschildert, der die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des Abfalls vom väterlichen Gesetz stets zurückweist. Lukas berichtet von Kon138
Vgl. W.S. KURZ.. The opeiM2)ded nature ofLuke and Acts as inviting canonical actualisation. Neotest 31 (1997) 289-308. Vgl. ebenfalls R.C. TANNEHIIL. The nanative unity of Luke-Acts: A literary interpretation: Volwne 2: 1be Acts of the Apostles. Minneapolis 1990. 352: "The resulting tension. especially apparent in the tensioo between the promise in the Antiach sennon and the bitter words at the end of Acts. is not resolved in the narrative." Und vgl. ferner ebd.. 356( ''We are reminded of ooe otbe:r lllfulfilled expectation by tbe scene of Paul preaching to the Jews of Rome: the promise of salvatioo to the Jewish peop1e. This expectation not only requires more time~ its realizatioo has become problematic becanse of Jewish rejectioo. Here lies the real openness of the ending of Acts. [... ) Because God is God. hope remains that Gocfs compreheosive saving purpose will somebow be realized" Vgl. weiterbin D. MARGUERAT. Testament. 1620: 139 Vgl. die Diskussioo und das Fazit bei V. Fusco. Luke-Acts. 8. 140 Vgl. J.B. TYSON. Jews. 38: "Tragically many flesh and blood readers have also found in these texts a justification not only for anti-Jewish polemic but even for oppessive and violent fonns of anti-Semitism." 141 J.B. TYSON.lmages. 188: "In this sense these documents have played a role in a tragic history." 142 Vgl. auch P. POKORN'i'. Theologie. 59: .,Die Weise. aufwelche Lukas die Schrift zitiert (.. ·} verrät, wie er in der jOdischen exegetischen Kultl.a' zu Hause war." 43 Vgl. H MERKE~.. Das Gesetz im lukanischen Doppelwerk. in: K. BACKHAus/F.G. UNTERGASSMAIR (Hg.). Scluift und Tradition (FS J. Ernst). Paderbom 1996. 119-133.
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versionen von Juden und Gottesfürchtigen. 144 Und er stellt die heilsgeschichtliche Priorität Israels mehrfach heraus (Apg 2,39; 3,20.25.26; 13,23.26.46), Israel ist das auserwählte Volk. 145 "Das Volk ist aber kein Volk der Treue. Das ist immer so in der Geschichte des Volkes gewesen. Wie die Geschichtsresümees in Apg 7 und 13 zeigen, ist die Geschichte des Gottesvolkes von Gottes Verheißungen, Führungen und Wohltaten und von der Sünde des Volkes bestimmt." 146 Die Zuschreibung der Verantwortung für die Kreuzigung Jesu an die jüdischen Oberen im Lukasevangelium, der Vorwurf an die Zuhörer in den Reden der Apg, Jesus zur Kreuzigung ausgeliefert zu haben, und das von Paulus nach Jes 6,9f zitierte Verhärtungswort gegenüber den jüdischen Brüdern im letzten Kapitel der Apostelgeschichte sind Zeichen der Untreue eines Teils des Volkes. Die Beachtung der kontextuellen Einordnung und typischen Verwendung dieser Passagen, die nicht in einem letztgültigen Sinn zu verstehen sind, hat jedoch gezeigt, daß dabei weder Antijudaismen zugrunde liegen noch daß eine antijudaistische Lesart angemessen ist. Doch auch wenn eine antijudaistische Motivation, d.h. u.a ein Ausschluß vom Heil der jüdischen Zuhörer bzw. des Volkes Israel für die lukanischen Darstellungen nicht konstatiert werden kann, muß das Volk Israel nach Lukas das Heil, welches Christus für Israel ist, tätig annehmen. "Wenn Gott an seinem Volk handelt, bleibt er sich selbst treu und wirkt in der Kontinuität seines Heilswillens, der auf Israel zielt. Freilich vertritt Lukas keinen Heilsautomatismus und weiß darum, daß das Volk Israel dieses Heil auch tätig annehmen muß oder daran scheitern kann (Lk 1,50; 2,34f), aber dies stellt die entschiedene machtvolle Heilstat Gottes für Israel nicht in Frage." 147 144
Vgl. die Aufreihung bei J. .lERVEU., Treue, 23f Vgl. ebd., 24, Amn. 38, den Hinweis Jervells: "Wie man angesichts dieser häufigen Notizen von einer ablehnenden lDld feindlichen Haltung des Volkes kollektiv reden kann, bleibt ein Rätsel" Vgl. ebenfalls W. REINHARDT, Wachstum. 284: "Gerade die Tatsache, daß ausgerecbent die letzte Wachstumsnotiz des' Apg von ,Zehntausenden' oder ,WIZShligen' Juden spricht, die ,gläubig geworden sind', sollte die These widerlegen, daß filr Lukas die Juden endgültig verworfen seien lDld sich die Verkündigung fortan nurnoch an Heiden wende." 145 Vgl. J. JER.VEU., 1be future of the past Luke's vision of salvation history and ist bearing on bis writing ofhistory, in: B. WrrnERINGTON, m(ed.), History, literature, and society in the book ofacts, Cambridge 1996, 104-126: 123: "Luke lcnows that extra Israel nul/o mlus esf' 146 J. JERVEU., Treue, 20. 147 R. l
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4. Ausblick Die Anmerkungen über das Ende der Apostelgeschichte zeigen, daß die unter 2. vorgestellten Ausführungen H. Räisänens und K. Lönings aufgrund der Absolutheit ihrer Aussagen insbesondere im Hinblick auf das Ende der Apostelgeschichte zu hinterfragen sind. Von einem Übergang zur Heidenmission, wie diesen noch Löning für das Ende der Apostelgeschichte konstatiert, kann deshalb nicht in selbstverständlicher Weise ausgegangen werden. Die Ausführungen D. L. Tiedes machen deutlich, wie das grundlegende Verständnis des lukanischen Doppelwerkes die Interpretation selbst bestimmen kann; und die Ausführungen betonen insbesondere die notwendige Beachtung der kontextuellen Auslegung. Das noch von H. Merke/ konstatierte "Hauptproblem der Israelthematik bei Lk" 148, nämlich das Nebeneinander der positiven und negativen Aussagen, ist so auf dem Hintergrund der Israelbezogenheit der lukanischen Theologie einerseits und der kontextuellen Auslegung der negativen Aussagen andererseits erklärbar, da diese in ihrer kontextuellen Bezogenheit ohne eine antijudaistische Motivation verständlich sind. Denn die negativen Aussagen sind nicht von der primären Intention geleitet, ihre Adressaten in abwertender Weise zu diffamieren bzw. ihnen das Heil abzusprechen, sondern von der Intention, mit harschen Worten zur Buße und Umkehr zu ermahnen. Einen Antijudaismus um der Heiden willen wird man deshalb bei Lukas nicht konstatieren können. Wird jedoch der kontextuelle Rahmen verlassen, kann den einzelnen Textpassagen schnell ein Verständnis zugrunde gelegt werden, welches über den kontextuellen Rahmen weit hinausgreift und nur noch den negativen Charakter der Aussagen als solchen betont, so daß ein diffamierendes und pejoratives Verständnis dann bestimmend wird. Ein solch dekontextualisiertes Verständnis führt mitunter zu Verallgemeinerungen, wie an dem Topos der Schuld der Juden am Tod Jesu deutlich wird. Eine antijudaistische Interpretation und Verwendung liegt dann nahe. Eine historisch-kritisch arbeitende Exegese hat deshalb sowohl auf den kontextuellen Bezug vermeintlich antijudaistischer Aussagen zu verweisen als auch auf die lsraelbezogenheit der lukanischen Theologie149, um einem antijudaistischen Verständnis des lukanischen Doppelwerkes vorzubeugen. Daß die hier verhandelten neutestamentlichen 148
H. MERKEL, Israel, 381.
149 Vgl. P. PoK<>RNY, Theologie, 40: ,,Diese Dimension der lukanischen Theologie wurde oft durch die Betonung eines lukanischen Antijudaismus verdeckt"
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Passagen eine antijudaistische Auslegung erfahren haben, wie dies die Rezeptionsgeschichte zeigt, wirft aber auch die Frage auf, ob eine antijudaistische Interpretation nicht dennoch in den entsprechenden Passagen schon angelegt ist. Denn die den negativen Aussagen zugrundeliegende massive Kritik ist zwar von der Intention bestimmt, die Adressaten zur Buße und Umkehr zu motivieren, da Lukas ein starkes Interesse an der Umkehr jüdischer Zuhörer hatte, aber die negativen Attribute dieser Aussagen gewinnen doch dann an Bedeutung und werden verabsolutiert, wenn die eigentliche Intention nicht mehr im Vordergrund steht bzw. nicht mehr gesehen wird. 150 Die negativen Aussagen können also immer auch antijudaistische Konnotationen auslösen. Die hermeneutische Problematik der zugrundeliegenden Fragestellung steht damit erneut im Mittelpunkt.
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Vgl. diesbezüglich auch die Feststellung P. POKORNYS, Theologie, 59: ,,Es ist ein Paradox der Geschichte, daß gerade die lulcanischen Schriften zur Grundlage des Kanons voo Markion geworden sind und daß man aus ümen sp1Uer die antijüdischen Argumente geschöpft hat"
Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag• KLAUS SCHOLTISSEK
Nach jahrelanger Vorbereitwlgszeit veröffentlichte der Vatikan am 16.3.1998 ein Schreiben mit dem Titel: "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah.. 1, das Stellung bezieht zum Verhalten der Katholischen Kirche in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem von dieser faschistischen Diktatur systematisch betriebenen Genozid an den europäischen Juden. Dieses Schreiben, dem ein internationales Symposion vorangegangen war, ist die vorerst letzte offizielle Stellungnahme seitens der Katholischen Kirche zur jüngsten Vergangenheit und den hiermit angesprochenen Fragen nach Schuld auf Seiten der Christen, nach dem jüdisch-christlichen Verhältnis überhaupt (vgl. Nostra aetate 4) und insbesondere auch nach der Bedeutwlg judenfeindlicher Aussagen im Neuen Testament. Die Erschütterung durch die nationalsozialistisch herbeigeführten Katastrophen bewirkte und bewirkt eine Besinnung und Umkehr der Christen, die sich in kirchenoffiziellen Verlautbarungen3, in praktischen Initiativen auf den verschiedensten Ebenen und nicht zuletzt in wissenschaftlicher Ausein-
• Ich wi<.bne diesen Aufsatz Prof Dr. H. Schünnann (Erft.ut). der in diesem Jahr seinen 85. Geburtstag und den 60. Jahrestag seiner Priesterweihe feiern durfte. 1 Vgl. die Dolrumentation ,.Wir erinnern: Eine Reflexion Ober die Shoah", HesKorr 52 (1998) 189-193. 2 Vom 30.10.-1.11.1997 diskutierten die Teilnebmer zwn Thema: ,,Radici dell'antigiudai.smo in ambiente cristiano"~ vgl. den Bericht von K. &Hu8ERT, Drei Tage im Vatikan - Ein Anlaß zwn Nachdenken, BiLi 71 ( 1998) 30-32~ Heft 111998 von ,,Bibel und Liturgie" ist ein Tbemenheft: Die christlichen WlDZeln des Antijudaismus (mit Beitragen VOO K. ScßuBERT WldG. ~ Lit).
Vgl. R ~IH.H. HENRIX (Hg.), Die lGrchen und das Judentum. Dokumente von 1945-85, Paderbom/Monchen 2 1989~ vgl. auch G.13oDENooRFBR., Die Schuld der Christen am Holocaust Zu den Dokumenten der katholischen Kirclle nacll dem Zweiten Vatikanwn, BiLi 71 (1998) 10-24. 3
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andersetzung4 dokumentiert. Dieser Prozeß kirchlicher und theologischer Umkehr im Blick auf die zeitlich und sachlich erste ökumenische Herausforderung ist keineswegs abgeschlossen, im Gegenteil: Er steckt gewissermaßen noch und wieder neu in den Anlangen. s Maßgeblichen Anteil an dem Unverständnis, den Ausgrenzungen und den Verwerfungen seitens der Christen während der nahezu zweitausendjährigen Geschichte von Juden und Christen haben neutestamentliche Aussagen, die entweder antijüdisch sind - was durchaus kontrovers diskutiert wird- oder- und daran besteht kein Zweifel- antijüdisch gelesen wurden und deshalb einem christlichen Antijudaismus Vorschub leisteten. 6 Das JohEv, das M Brumlik als das "antijüdischste Vgl. u.a.: die Trilogie von F. MussNER, Traktat über die Juden. München (1979) 2 1988~ DERs., Die Kraft der Wuael. Judentum - Jesus - Kirdte, Freibw"g 1987~ DERs., Dieses Geschlecht wird nicht vergehen. Judentum und Kirdte, Freibw"g 1991; und das von J.J. PBrucoowsKJIC. THOMA hg. Lexikon der jodisclH:hristlicben Begegnung, Freibw"g 1989 (übenub. und erw. Neuansgabe 1997 [Herder Spektrum 4581]) (vgl. ebd. (11989] 16-21: C. THOMA, Art. Antijudaismus); W. KRAus (Hg.), Christen und Juden Perspektiven einer Annaherung. Güteniob 1987~ G.B. GINZELIG. FESSLER (Hg.), Die Kirdte und die Juden. Versuch einer Bilanz, Gertingen 1997. s Vgl. die Aussage in dem neuen Dokument Reflexion, S. 190: ,,In der Tat ist die Bilanz dieser Bezidnmgc:n (zwischen Christen und Juden) wahrend der 2000 Jahre c:bc:r negativ gewesen" 6 Vgl. die Reflexionen von R. KAMPLINO, Antijudaismus von Anfang an? Zur Dislrussion Ober den neutestamentlichen Urspnmg des christlichen Antijudaismus, rhs 40 ( 1997) II 0-120 (Lil ). Der Titel des Beitrages von E. STBGEMANN: ,,Die Befreiung der Theologie vom Antijudaismus als wissenschaftliche Aufgabe" (in: Jud. 48 [ 1992) 214-225) nennt prognanmatiscll die Herausforderung nicht nur der bibelwissenschaftlieben Disziplinen. Vgl. auch D. SANGER, Neues Testament und Antijudaismus. Versuch einer exegetischen und hermeneutischen Vergewisserung im innen:bristlicben Gesprach. KuD 34 (1988) 210-231 (Lil); vgl. ebd. 222: "Wir haben es historisch betrachtet im Neuen T~t dmcltweg mit einem innerjüdischen Konflikt zu tun. zu dessen Charalcterisien.mg die Invektive Antijudaismus und antijOdisch Wltauglich und zudem falsch sind'~ ebd. 228 spricht D. SANGER mit der Terminologie von G.I
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Evangelium" bezeichnet haf, trägt mit der pauschalisierenden Rede von "den Juden" und der Deutung "der Juden" als herkünftig "aus dem Vater, dem Teufel" (8,44) zu dieser unseligen Geschichte des bewußten und/oder unbewußten Nichtverstehens bei. Die antijüdische Wirkungsgeschichte des JohEv darf gleichwohl nicht das Urteil über die intentio auctoris und operis des JohEv selbst präjudizieren. Terminologisch spricht viel dafür, den Begriff "Antisemitismus" (geprägt ca 1879 von W. Marr) dem 19. und 20. Jahrhundert vorzubehalten, für die Antike dann von "Antijudaismus" zu sprechen. 8 Der vorliegende Beitrag sucht die Sicht des JohEv auf "die Juden" zu erhellen: Dazu werden ( 1.) der antike zeit- und geistesgeschichtliche Kontext der joh Aussagen über "die Juden" kurz angesprochen, (2.) Interpretationsansätze in der Johannesforschung namhaft gemacht, (3.) die joh Israeltheologie reflektiert und (4.) mit der joh Schriftauslegung ein konkreter und weitreichender Problemzusammenhang beleuchtet.
1. Antijudaismus in der Antike9 Religiöse bzw. kulturelle Intoleranz in der Antike ist ein vielschichtiges Problem, das oft durch eine erheblich selektive Fremdwahrnehmung Vorstelbmg~
186-193: Antijudaismus in der vor- tmd nebenchristlichen An~ 193-217: Der spatantike christliche Antijudaismus [olme JohEv)). 7 M BRUMI.JK. Jobannes: das judenfeindlichste Evangeüum. Kul 4 (1989) 102-113~ vgl. ebd. 104: ,,Im achten Kapitel des Evaogeüums schließen reügiose Unnotive und nur poütiscb Wld sozialpsychologisch erklärbare Wahnvorstellungen zu einer konsequenten Salanologie zusammen, die den Juden in einer nicht anders als protorassistisc zu bezeichnenden Doktrin nicht mehr die mindeste Chance laßt." Vgl. G. BAUM, Die Juden Wld das Evangeüwn. Eine Überprüfung des Neuen Testaments, Zürich 1963, 14, 145f. der im Evangelisten Johannes den "VatJ::r des Antisemitismus der Christen" erkennt 8 Mit C. COLPE, Art. ,,Antisemitismus", DNP 1 (1996) 790-792 (Lit). G. DAlJI'ZENBERG, Art. ,,Antisemitismus I. Vorchristlich u. im NT', LThK3 1 (1994) 748-750 (Lit), verwendet ,,antisemitisch" ftlr Zeugnisse in der Antike und ,,antijOdisch" ftlr Stellen im Nf (vgl. ebd. 749)~ R I
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bedingt ist und sozialpsychologisch wie kulturell von Identitätsbildungen durch wechselseitige Abgrenzung mitbestimmt ist. 10 So begegnen uns (in sich wiederum komplexe) ägyptische 11 , griechische12 und römische 13 Antijudaismen 14, die zunächst auch auf die als jüdische Teilgruppe wahrgenommenen Christen einwirkten 15, jüdische Antipaganis-
Problem von Toleranz und Intoleranz mit Blick auf die christliebe Tradition vgl. eintbhrend den Sammelband: I. BRCERIR ScHI..OTBR (Hg.). Christentum und Toleranz, Dannstadt 1996. 11 Gegen die agyptischen und gricdrischen Vorurteile wendet sich Flavius Josephus in "Contra Apionem", vgl. hierzu austbhrlich den Sammelband: Josephus' Contra Apionem. Studies in its Character and Context with a Latin Coocmlance to the Pmtion Missing in Greelc (AGJU 34). ed. by L.H FFl.DMANIJ.R.I.BVI.SON, Leiden 1996 (Lil~ vgl. auch Ch. GERBER, Ein Bild des Judentums fl1r Nichljuden von Flavius Josephus. Untersuchungen m seiner Schrift "Contra Apionem" (AGJU 40). Leiden 1997. 12 Vgl. E. GABBA, The Growth of Anti-Judaism or the Greek Attitude towards the Jews, in: The Cambridge History of Judaism. Vol. 2: The Hellenistic Age, ed. by W.D. DAVIESIL. FINKElSTEIN, Cambridge 1989, 61~56~ J.G. GAOER. Judaism as Seen by Outsiders, in: Early Judaism and its Modem Interpreters. ed. by R.A. IHNHOJOEN (Hg.), Chm1licber Antijudaismus und jüdiscber Antipaganismus. Ihre Motive und HinteJgrOnde in den tntcn drei Jahrhunderten (Hamburger Theologische Studien 3), Harnburg 1990, 6-22. Ein guter Überblick Ober die römische Wahrnehmung des Judentums findet sich bei K.L. Noorn. UCRS, Das Judentum und der römische Staat. Minderheitenpolitik im antiken Rom. Dannstadt 1996 (SteUenhinweise zu antiken A~ Lil). Vgl. auch Philo Flacc und Gai. Zuletzt: D. Fl..AcH, Plinius und Tacitus über die Christen. in: Imperium R00l81lwn. Studien ZW" Geschichte und Rezeption (FS K. Christ). Wiesbaden 1998, 218-232. 14 Vgl. die QueUensammlungen: M STERN, Greelc and Latin Authors on Jews and Judaism. Vols. I-m (Publications of the Israel Academy of Seiences and Hwnanities), Jerusalem 1: (1974) 4 1992~ ll: (1980) 2 1992~ ID: 1984~ L.H F'm.oMANIR. MEYHR (ed.), Jewish Life and Thought among Greeks and Rmums. Primary Readings, Edinburgh 1996, bes. 305-395 (Lil). Vgl. auch: L.H. ~. Jew and Gentile in the Ancient World Attitudes and Interactims from Alexander to Justinian, Princetoo 1993~ L.H ~. Studies in Hellenistic Judaism (AGJU 30), Leiden 1996, 177-236,277-288,289-316. 15 Vgl. Tacitus Ann XV 44~ Suetm Claud 25,4. Vgl. H.R SEELIGER., Gemeinsamkeiten in der antijüdischen und antichristliehen Polemik in der Antike, in: H. FROONHOFEN (Hg.). Antijudaismus, 88-94 (mit vielen T~ Lil). hier 93: .,Wir sehen also in einer ganzen Reihe von Punkten - kollektive Misanthropie, Atheismus, Eselsverehruog, Ritualmorde, mangelndes Alter - hinsichtlieb der Juden wie Christen gleicbe Vmateilsstruktur wirksam werden" 10 Zum
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men sowie Antijudaismen 16 und Antipaganismen im aufstrebenden Christentum bzw. der Alten Kirche. 17 Zur Vervollständigung polemischer Kapazitäten und Ausgrenzungen ist gerade auch fiir den jüdisch-christlichen Streit im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung auf innerjüdische Gruppenbildungen und Verwerfungen hinzuweisen. In diesem Zusammenhang wird besonders auf Positionen in Qumran-Schriften im Gegenüber zu der Jerusalemer Priesteraristokratie aufmerksam gemacht, wo die Gegner als Söhne Belials bezeichnet werden (vgl. I QS li; 4Q 174 ill). 18 /. Broer kommt aufgrund dieses und anderer frühjüdischer Zeugnisse (vgl. TestDan 5,5619; JosAs 12,7-1020 ; Jub 15,33 21 } zu dem Schluß, daß die polemischen 16
Vgl. hierzu: H. 8cHREcKENBERG, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte Wld ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11. Jhd.) (EHS 23.172), Frankfurt a.M. (1982) 3. erw. Auß. 1995~ R. KAMPI..ING, Neutestamentliche Texte als Bausteine der spAteren Adversus-Judaeos-Literatur, in: H. F'ROHNHOFBN, Antijudaismus. 121-138; 0. LJMOR!G.G. STROUMSA (ed.), Contra Judaeos. Ancient and medieval polemies between Christians and Jews (fSMJ 10), Tübingen 1996 (Lit), vgl. bes. ebd. 1-26: G.G. STROUMSA, From Anti-Judaism to Antisemitism in Early Cbristianity?", SLE. Wn.soN, Related Straogers. Jews and Christians 70-110 C.E., Minneapolis 1995 (hier 71-80: zmn JohEv}. M. SIMON, Verus Israel. A Study of Relations between Christians and Jews in the Roman Empire (135-425), Oxford 1986 (pro: conflict-theory). Kritisch zu ilun nimmt Stellung: M.S. TAYLOR. Anti-Judaism and Early Christian ldentity. A Critic ofthe Scholarly Consensus [StPB 46], Leiden 1995 (hier: eine Forschungstypologie fbr die Ursachen des christlichen Anti-Judaismus in der Alten Kirche: competitive anti-J~ contlictual anti-Judai~ inberited anti-J~ symbolic anti-J~ kritisch zu ihr wiederum: J.C. PAGET, Anti-Judaism and Early Christian ldentity, ZAC 1 [1997] 195-225)~ W. HORBURY, Jews and Christians. In Contact and Controversy, Edinburgh 1997. Daß sich der aufkommende christliche Antijudaismus schm im NT durchaus des paganen Antijudaismus bedient, zeigt K. liAAcKER, Elemente des heidnischen Antijudaismus im Neuen Testament, EvTh48(1988)404418. 17 Vgl. hierzu die Beitrage des Sanunelbandes: H. FROHNHOFEN (Hg.), Christlicher Antijudaismus W1d jOdischer Antipaganismus. Due Motive und Hintergr11nde in den ersten drei Jahrhunderten (Hamburger Theologische Studien 3), Harnburg 1990. 18 Vgl. u.a. R. ScHNACKENBURG, Das Johannesevangeli\Dil (HThK 4/2), Freiburg i. Br. (1971) 4 1985, 288-290 (mit weiteren Stellenhinweisen}, R. I.BISTNER., Antijudaismus im Johannesevangelium? Darstellwlg des Problems in der neueren Auslegungsgeschichte und Untersuchung der Leidensgeschichte (Theologie Wld Wirklichkeit 3), Bem/Frankfurt a.M. 1974, bes. 145~ H. SaiRF.cKE.NBERG, Adversus-Judaeos-Texte, 137. Die Qumran-Scbrifte werden hier mit den von J. MAlER, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer. Bd. 1: Die Texte der Höhlen 1-3 und 5-11 (liTB 1862)~ Bd. ß: Die Texte der Hohle 4 (liTB 1863}. Bd. ill: Einfbhnmg, Zeitrechnung, Resi*r t.md Bibliographie (liTB 1916), Göttingen 1-ß 1995. m1996, vorgelegten Sigeln Wld Zählungen ritiert 19 Vgl. den W<Xtlaut: ,,Wenn ihr voot Herrn abfallt, werdet ihr in aller Bosheit wandeln und die Greuel der Heiden vollbringen und Unzucht treiben mit den Frauen der Gesetzlosen. Und in jeder Bosheit wirken in euch die Geister des Irrtums. Ich las in der Schrift Henocbs des Gerechten, daß euer Herrscher der Satan ist Wld daß alle Geister der Bosheit Wld des Ober-
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Aussagen des JohEv durchaus im Rahmen des damals im Judentum Möglichen bleiben. 22
2. Interpretationsansätze in der Johannesforschung Die joh Sicht auf Israel und "die Juden" ist in der Joharmesforschung der letzten Jahrzehnte vielfältig angesprochen und diskutiert worden. Aus der Fülle der Stellungnahmen23 werden die folgenden Interpretamuts Levi zu Diensten sein werden. mn sich mit den Söhnen Levis eifiig zu befassen. mn zu erreichen. daß sie vor dem Herrn sOndigen" (= JSHRZ lß/1 95). 20 Vgl. den Wortlaut .1..7) Erlöse mich, bevor ich ergriffen werde von cbl(en, die da) verfolgen mich. (8) Wie nämlich ein unmündiges Kindchen, sich filrchtend, flieht zu seinem Vater, und der Vater, ausstreckend seine Hlnde, reißt es (weg) von der Erde und umarmt es an seiner Brust, und das Kindchen schlingt seine Hande \DD den Nacken seines Vaters [... ) so auch du (selbst), Herr, strecke aus deine Hände auf mich wie ein kinderlieber Vater 1.Dld reiß mich (weg) von der Erde. (9) Sieh nämlich, der Löwe der wilde der alte verfolgt mich, denn er (selbst) ist Vater der Götter der Ägypter, und seine Kinder sind die Götter der (Götzen)bildwahnsinnigen. Und ich (selbst) habe Haß gefaßt (auf) sie, da sie Kinder des Löwen sind, und warf alle von mir und verdarb sie. {19) Und der Löwe. ihr Vater, ergrimmt, verfolgt mich" (= JSHRZ ll/4 665f). 21 1m Wortlaut: ,.Und jetzt will ich dir mitteilen, daß die Kinder Israels in dieser Ordnung das Verttauen entttluschen werden und ihre Kinder nicht beschneiden werden gernaß diesem ganzen Gesetz. Denn in bezugauf das Fleisch ihrer Beschneidung werden sie Auslasser sein in der Beschneidung ihrer Sölme. Und alle Sölme Beliars werden ihre Sölme ohne Beschneidung lassen. wie sie geboren wurden"(= JSHRZ D/3 409). 22 Vgl.l. BROBR. Juden, 17~ vgl. DERs., Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Anoabcrung anband von zwei Texten (1 Thess 2,14-16 und Mt 27,24f), in: L. ÜBERUNNHRI P. FIEIX.ER (Hg.), Salz der Erde- Licht der Welt (FS A. Vogtle), Stuttgart 1990, 321-355: 347349 (mit Hinweis aufPsSal4,1-12; Sir 50,25f, Arist 152). 23 Vgl. u.a: E. GRAssER, Die antijOdische Polemik im Jobannesevangelimn (1964/65), in: OHRs., Der Alte Bund im Neuen (WUNf 35), TObingen 1985, 135-153 (Lit.); DBRs., Die Juden als TeufeissOlme in Job 8,37-47 (1967), ebd. 154-167~ RE. BROWN, The Gospel according to .John. A new translation with introduction and conunentaiy (AncB 29.29a), New Yodc 1966/1970, 1: LXX-~ R. LEISTNER. Antijudaismus (vgl. ebd. 17-67 den auslegungsgeschichtlichen Durchblick von F.Ch. BAUR bis H. CONZELMANN ftlr die christlichen und voo S. HIRscH bis F. ROSENZWEIG ftlr die jodischen A~ Lit); F. HAHN, ,,Das Heil konunt von den Juden". Erwlgwlgen zu Job 4,22b ( 1976), in: DERs .• Die Verwwzeh.mg des Christmtwns im Judentwn. Exegetische Beitrage zum cbristlich-jOdischen Gespdch. hg. von C. BREYTENBACH, Neukirchen-VIuyn 1996, 99-118~ DERs.• ,,Die Juden" im Jobannesevangeli\DD (1981). ebd. 119-12~ J. BEl1nER, Die ,)uden" und der Tod Jesu im Johannesevangeli\DD ( 1978), in: DERs., Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 59-76 (Lit~ F. MussNER, Traktat, 49-51, 281-293~ H. THYEN, ,,Das Heil kOODDt von den Juden'\ in: Kirche (FS G. Bomkamm), TObingen 1980. 163-184~ W. TRD.LING, Gegner JesuWidersacher der Gemeinde- Repräsentanten der "Welf'. Das Johannesevangelimn und die
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tionsansätze zusammengestellt, die sich in der Sache bzw. bei den Autoren vielfach überschneiden. 24 Mit der Frage, ob das JohEv antijüdisch25 sei oder nichf6, ist prima facie noch keine hilfreiche Kriteriologie gewonnen, da der Begriff
Juden ( 1980), in: DERs., Studien zur Jesusoberliefenmg (SBAB I), Stuttgart 1988, 209-231 ~ K. WHNGST, Bedrangte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Jobannesevangeliwn, München (1981) 4 1992~ J. AsHTON, The ldentity and Function of the lOYMIOI in the Fourth Gospel, Nf 27 (1985) 40-75~ DERs., Understanding the Fourth Gospel, Oxford 199111993, 124-159~ W. PRATSCHER. Die Juden im Johaonesevangeliwn, Bil...i 59 (1986) 177-185~ F. PORSCH, Johannesevangeliwn (SKK 4), Stuttgart (1988) 21989, 98-102~ DERs., ,,Ihr habt den Taufel zum Vate(' (Joh 8,44). Antijudaismus im Jobannesevangeliwn?, Bi.Ki 44 ( 1989) 50-57~ L. ScHENKE, Der Dialog Jesu mit den Juden im Johannesevangeliwn. Ein Rekonstruktionsversuch, NfS 34 ( 1988) 573~3~ E. S"IEGEMANN, Die Tragödie der Nahe. Zu den judenfeindlichen Aussagen des Johannesevaogeliums, Kul 4 (1989) 114-122; l BROER, Juden, 12-18; D.M. SMI1H, Judaism and the Gospel of John, in: J.H Clwu.EswoR1H (ed. ), Jews and Christians. Exploring the Past, Present and Future, New York 1990, 76-~ DER.s., John, in: J. BARCLAY/J. SWEET {eds.), Early Christian Thought in its Jewish Context (FS MD. Hooker), Cambridge 1996, 96-111~ M liENoEL, Die johanneiscbe Frage. Ein Lösungsversuch (mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. Frey) (WUNT 67), Tübingen 1993, 288-298 (,,Die Auseinandersetzu mit den Juden"); M OE JoNGE, The cmflict between Jesus and the Jews and the radical christology of the Fourth Gospel, PRSt 20 (1993) 341-355~ 0. NEUHAUS (Hg.), Teufels Kinder oder Heilsbringer - die Juden im Johaonesevangeliwn (Amoldshainer Texte 64 ), Frankfiut a.M. 1993~ N.A. BE.CK, Anti-Jewish Polemic in John and in the Johannine Epistles, in: DERs., Mature Christianity in the 21st Century, New York 1994, 285-312~ P. GRa.ar, Les Juifs dans I'Evangile selon Jean. Enquete historique et retlexion theologique (CRB 34), Paris 1995; G. S'JRECKBR, Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. und hg. v. F.W. HORN, Göttingen 1996, 514-520. M Risst, Die ,)uden" im Jobannes-evangeliwn, ANRW IL 26,3 (1996) 2099-2141 (Lit); J.C. O'NBILL. The Jews in the Fourth ~1, IBSt 18 (1996) 58-74. 2 Einzelne Positionen werden in der Forschtmg mit dem Verdacht behaftet, apologetisch ,,Entlastungsstrateen" zu betreiben. Letztlich ist es der Text des JobEv se1bit, von dem hel" soweit als möglich lDlvoreingenommen die PlausibiliW einer Hypothese zu p11fen ist. 25 So u.a.: M BRUMI..IK, Johannes", G. BAUM, Juden. 26 So u.a.: I. BROER. Juden, 17( F. VCXJGA, Antijudaismus im Johannesevangeliwn?, ThGl 83 (1993) 81-89-, G. STRBCKBR, Theologie, 520", M. DE JoNGB, Conßict; M HHNGm., Frage, 297~ J. MAcHUGH, ,,In Hirn was Life", in: J.D.G. DuNN (Hg.), Jews, 123-158: 158: ,J ... ) I do not think the Fourth Gospel can be called polemically anti-Jewish"; J.D.G. DuNN, Tbe Question of Anti-semitism in the New Testament Writings of the Period, ebd. 177-211: 195203: ,,ls John ,anti-semitic'?", ebd. 203: "The Fourth Gospel is still operating within the context of inter-Jewish factional dispute. It is clear beyond doubt that once the Fourth Gospel is removed tiom that context. and the constraints of that context, it was aU to easily read as an anti-Jewish polemic and became a tool of anti-semitism. But it is higbly questionable wbether the Fourth Evangelist bimself can fairly be indicted for eilher anti-Judaism or anti-semitism." Vgl. J.H. CHARLBSWORlH, Exploring opporttmities for rethinking relations among Jews and Christians, in: OHRs., (ed.), Jews and Cluistians. Exp1oring the past, present and future, New
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"Antijudaismus" selbst definitionsbedürftig ist27 und die Autoren diesen Begriff de facto unterschiedlich gebrauchen. 28 Für diejenigen Exegeten, die mit einer literarkritisch en detail rekonstruierbaren, mehrschichtigen Wachstumsgeschichte des JohEv rechnen, verteilen sich die Positionen zu "den Juden" auf die jeweiligen Schichten und verändern sich zwischen diesen. 29 Diesen hypothetischen Differenzierungen wird hier nicht im einzelnen nachgegangen. Gegenstand des Untersuchungsinteresses ist zunächst und primär der kanonische Endtext des JohEv. 30
York 1990, 37-53, der ebd. 49 das JohEv als das am meisten jüdische Evangelium beui~
so auch P. GRmm, Juifs, 187. 27 Eine m E. zu weite Definition von ,,Antijudaismus" gibt G.l LANGMUlR.: ,,Antijudaismus (ist) eine ganzliehe oder teilweise Opposition gegen das Judentwn - und gegen Juden als dessen Anhinger - von Menschen. die ein konkurrierendes System von Glaubensinhalten und Praktiken haben und (daher) bestimmte genuine jüdische Glaubensinhalte und Praktiken als minderwertig erachten" (G. I. l.ANGMUIR., Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley 1990, 57 (Übersetzung übernommen vm R I
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(a) "Die Juden" als Repräsentanten für die ungläubige Weltl 1 Eine klassische Position sieht in der pauschalen Verwendung ,,die Juden" die Absicht des Evangelisten, diese als repräsentative Vertreter des Unglaubens, auf den das Evangelium getroffen ist und weiterhin trifft, zu charakterisieren. Dann bezieht sich die Wendung "die Juden" nicht direkt und exklusiv auf das jüdische Volk, auf das Gottesvolk Israel, sondern auf alle diejenigen, die sich dem Glauben an das Evangelium verschließen. 32 E. Grässer deutet "die Juden" im JohEv als stilisierte Vertreter einer Religion, die für den Christusglauben keinen Raum hat. 33 (b) Der Synagogenausschluß als Ursache für die Polemik des JohEv Der im JohEv so deutlich betonte Synagogenausschluß der joh Christen (vgl. 9,22; 12,42; 16,2) wird sozialgeschichtlich und ekklesiologisch als Kristallisationspunkt wechselseitiger Ausgrenzungen und Verwerfungen angesehen. Unter dem Eindruck und zur Bewältigung dieser Erfahrungen sei das JohEv geschrieben. 34 Enthielten die birkat haminim zur Zeit der Abfassung des JohEv schon die 12. Bitte mit dem Ausschluß der minim und der nozrim und wenn ja, waren damit wirklich die Christen gemeintl 5, oder in einem allgemeineren Sinn alle Abtrünnigen36?
So: E. ÜRASSE.R., Polemik, bes. lSOf, DERs., Juden. 16Se T. ÜNUKJ, Zur literatursozi~ logischen Analyse des Johannesevangeliums, AJBI 8 (1982) 162-216: 179, 1~ R BuLTMANN, Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen ( 10 1941-21 1986) 17 1962, 59f 59: ,,Die loo&I\ot sind eben das jndiscbe Volk nicht in seinem empirischen Bestande, sondern in seinem Wesen'~ F. MussNER, ZQH. Die Anscbauung vom ,,Leben" im vierten Evaogelium tmter Berücksichtigung der Johannesbriefe (MThS.H 5). Monehen 1952, 59f, M. HENam., 31
FT,297. 3
Auf der Seite der Auslegeoden kann damit ein gewisses Entlastungsinteresse verbunden sein. Davor warnt W. TRD..LING, Gegner Jesu. Freilich laßt sich auch umgekehrt argumentieren: Wie konunt es, daß der Evangelist "die Juden" so glatt in diese repaseotative Roße einrocken lassen kann? 33 E. GRAssER, Polemik, 145. 34 Vgl. hierzu vor allem die Position von K. WENGST, Gemeinde, bes. 183f. Skeptisch zu einem zeitgeschichtlichen Sitz im leben der joh Judenpolemik äußert sich G. S'IRECKBR, Theologie, 519f. 35 So: H THYEN, Heil, 181. 36 So: G. SmMBERGER, Die sogenannte ,,Synode von Jabne" und das fi1lbe Christentum. Kairos 19 ( 1977) 14-21.
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C. Thoma wertet den jüngsten Beitrag von D. Flusser31 zu den Ur-
sprüngen und dem Werdegang des sogenannten .,Ketzersegens" aus: Danach haben die .,Verwünschungen von Abweichlern eine beachtliche vorchristliche Geschichte"38 (vgl. 1 QS V 10-20). ,,Die Qumraner waren Ausgestoßene oder freiwillig Ausgewanderte. Im Zusammenhang mit ihnen muß es Verwünschungen, Exkommunikationen, ,Ketzersegen' gegeben haben. [... ] In den ältesten Versionen des Ketzersegens ging es immer um die Verwünschung von zwei Sorten von Feinden. Einerseits waren dies die das Judentum ins innere Chaos, in die Zerrissenheit und gegenseitige Aggressivität hinein treibenden Feinde. Dies konnten bald Pharisäer, bald Sadduzäer, bald Epikuräer, bald Judenchristen, bald Apokalyptiker, bald Qumraner, bald Samaritaner, bald Apostaten, bald Gnostiker etc. sein. Der rabbinische Allgemeinbegriff dafür war min/minim (Häretiker)." 39 K. Wengst geht davon aus, daß das Ct1t()(J\)Va:yroyoc; in 9,22; 12,42 und 16,2 auf die Einfügung des sogenannten ,,Ketzersegens''40 in das Achtzehn(bitten)gebet Bezug nehme. Dabei unterscheidet er sorgfältig zwischen der Einfügung des "Ketzersegens", den er mit G. Stemberge1'*1 als nicht unmittelbar gegen die Judenchristen gerichtet sieht, und der Deutung der sich darin artikulierenden Abgrenzung des Mehrheitsjudentums seitens der joh Christen als .,Synagogenausschluß". 42 Für K. Wengst ist es "wahrscheinlich [... ], daß die johanneische Ge37 Vgl. D. FLUSSER, Mi
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meinde, soweit sie aus Juden bestand, von der entstehenden jüdischen Orthodoxie als Ketzer betrachtet wurde, [... ] erkennt man die schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die solche Einschätzung mit sich brachte, wird verständlich, daß der Evangelist diese Erfahrung mit a1tOCruvayroyO<; YEvEoSa\ auf den Begriff bringen konnte. ' 043 Auch für M. Bengel ist sowohl die sogenannte ,Synode' von Jabne als auch die dort angeblich vorgenommene Einfügung der Verfluchung der "Häretiker" ( C .. j .. 0 ;"'1 n::> i ::l) in das Achtzehngebet historisch unsicher. 44 Die auf die Judenchristen(= nozrim) bezogene Erweiterung dieses Fluches ist wahrscheinlich später anzusetzen, so daß dieser Text selbst nicht eindeutig für die joh Polemik gegen "die Juden" herangezogen werden kann. Freilich ist nach der Einschätzung von M. Hengel die Erweiterung des Achtzehngebetes um die Verfluchung der "Häretiker" und der nozrim "nur die letzte Konsequenz auf einem an Auseinandersetzungen und Leiden reichen Weg' 045 • M Bengel verweist auf das Stephanusmartyrium, die mit weiteren Verfolgungen verbundene Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus unter Herodes Agrippa I. (43/44 n.Chr.; Apg 12,1-3), die Verfolgung der Judenchristen durch den vorchristlichen Paulus von Tarsus, die Ausstoßung von christusgläubigen Juden aus der Synagogengemeinschaft bei den paulinischen Gemeindegründungen, die Paulus am eigenen Leib gewaltsam erfahren hat (vgl. 2 Kor 11,24-25; vgl. I Thess 2,14) und die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus mit einer Anzahl weiterer Judenchristen durch
K. WENGST, Gemeinde 103( Vgl. ahnlieh Ch. Dm'TzFm.BJNGER. Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden (WUNf 95), Tübingen 1997, 167-177. 44 Vgl. M HBNoa, Frage, 288-290. Vgl. die Studien von: P. ScHAFER, Die sogenannte Synode voo Jabne. Zur Trenmmg voo Juden und Ctuisten im erstenilweiten Jahrhundert n. Chr. (1975). in: DERs., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 45-64~ G. STEMBERGER., J~ W. HORBURY, The Benedictioo ofthe Minim and Early Jewish-Christian Controversy: JibS 33 (1982) 19-61~ K. WENGST, Gemeinde, 89-104. Vgl. auch: J. MAlER., Geschichte, 75( 115-117 (Lil}, B. WANDER. Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentwn und Judentwn im 1. Jahrhundert n. Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Hinrichtung Jesu und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (TANZ 16), TUbingen 1994, 272-275~ C. THOMA, Messiasprojekt, 339-352~ U. SoiNELLE, Einleitung, 544f. G. STRECKER, Theologie, 518f. P.W. VAN DER HORST, The Birbt ha-minim in Rea:nt Research, ET 106 (1994) 363-368~ s.c. MIMouNJ, La ,,Birbt ha-minim": une priere juive cootre 1e judeo-chretiens, RSR 71 ( 1997) 275-298. 45 M. HENGEL, Frage, 290. Dann wäre die spätere Ergänzung des Achtzehngebetes ein indirektes Zeugnis ftlr erfahrene Gegnerschaft der joh Christen. 43
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den Hohenpriester Hannas ll., den Sohn des Hannas aus Joh 18,13 (vgl. Jos Ant XX 200; Eus Hist m 5,2-3). 46 Auch unabhängig von der Frage nach der Datierung der Erweiterungen im Achtzehngebet ist der - als solcher gedeutete - Synagogenausschluß der joh Christen theologisch wie sozialgeschichdich ein Problem, das die joh Christen zur Auseinandersetzung zwang (vgl. die sogenannten Kryptachristen im JohEv). 47 In 16,2 kündigt Jesus nicht nur den Synagogenausschluß, sondern auch die gegnerische Meinung an, durch die Tötung der Christen Gott einen heiligen Dienst zu erweisen. Letztlich wird beides zusammenzuhalten sein: die zeitgeschichdich doppelte Minoritätensituation der joh Christen gegenüber der Synagogengemeinschaft und der römischen Weltmacht (und ihrem kulturellen Hegemonialanspruch) und damit verbunden die theologische Bewältigung dieser Situation in "welt"-geschichtlicher Ausfiihrung. 48 (c) Die johanneische Polemik als innerjüdisch zu verstehender Konflikt Aus dem vorstehend genannten geschichtlichen Entfremdungsprozeß kann die joh Polemik als ,,Tragödie der Nähe" bestimmt werden. 49 Demnach ist es gerade der jüdische Charakter der joh Theologie und die jüdische Herkunft der joh Christen, die zum verletzten und verletzenden Streit führt. Die joh Polemik gegen führende Parteien der Juden bzw. "die Juden" wächst gerade aus dem Erbe, auf das sich die joh Christen berufen, auf das sie nicht verzichten wollen und können, dem sie sich um ihrer eigenen Identität willen verpflichtet wissen (vgl. 46
Zu JOdischen Reaktionen auf die christliche Bekenntnis- und Gemeindebildung zwischen 30-150 n. Chr. vgl. die Studie von C.J. SETZER. Jewish responses to Early Christians. History and Polemics, 30-150 C.E., Minneapolis 1994. Vgl. auch die Darstelhmgen von: J. MAlER. Jüdische Auseinander9etzu mit dem Christentmn in der Antike (EdF I 77), Dannstadt 1982~ J. BLANK. Antijudaismus im Neuen Testament? ,,Die Anfllnge der Nazoraerselcte bis zmn Ende des zweiten Tempels", in: FROHNHOFEN, Antijudaismus, 50-63~ B. WANIER, Trenn~
prozesse. 47 Auch wenn man nicht die gesamte Johannes-Auslegung von K. WHNGST, Gemeinde, teilt, hat er zw-echt auf die trawnatische Bedeutung des Synagogenauschlu tnr die joh Christen aufinerksam gemacht (vgl. ebd. 89-104). 48 Was leistet der Hinweis auf die zeitgeschichtliche Bedingtheit der joh Judenpolemik eine Entschuldigung. ein sachgerechtes Verstehen? Vgl. die Problemanzeige von D. VETIER. Relativierung des fi1lhchristlichen Antijudaismus als Historie? PIAdoyer fllr eine Umkehr von den bösen Wegen der Geschichte und Kin:heogeschichte (1989). in: DERs., Das Judentmn und seine Bibel. Gesammelte Aufsätze (Religionswissenschaftche Studien 40), WOrzburg/Alten~e 1996, 246-255. 4 Vgl. den Titel des Beitrages von E. S'IEGEMANN, Die Tragödie der Nahe.
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4,22). so H. Thyen sieht in den joh Christen "eine judenchristliche Minderheit, die betroffen und bedroht vom Synagogenausschluß ringt um das ihr bestrittene Erbe" 51 . (d) "Die Juden" als die fUhrende Schicht der Juden Mehrfach vertreten wird die Auslegung, mit "die Juden" sei nicht Israel als das jüdische Volk insgesamt, sondern die "fiihrende Schicht" der Juden auch als aktuelle Gegner der joh Christen angesprochen. s2 J. Beutler unterscheidet zwischen einem pejorativen Sprachgebrauch "der Juden", der auf die Pharisäer und Hohenpriester bezogen ist, und einem positiven, der das jüdische Volk meinf3: "Theologisch gesehen sind die ,Juden' für den Vierten Evangelisten in ihren politischen Führern Repräsentanten der ungläubigen , Welt', als Volk aber das zum Glauben berufene Israel, dessen Religion sich im Glauben an den Messias und Gottessohn Jesus vol/endet."S4 Eine Variante dieser Position vertritt W Lütgert, der meint, mit "die Juden" sei der nach dem Gesetz lebende Teil des jüdischen Volkes gemeint.ss (e) "Die Juden" als Judenchristen
M. Rissi wertet gerade die Vielschichtigkeit und die Differenzierungen im gesamten joh Sprachgebrauch so aus, daß der Evangelist mit der Wendung "die Juden" eine spezifische Gruppe meine. Er deutet 8,3031 auf Judenchristen innerhalb der joh Gemeinde, die sich neben ihrem Christus-Glauben auch auf ihre ethnische Abrahamskindschaft berufen, was der Evangelist ausschließen wolle. 56 Seines Erachtens gibt es im JohEv deshalb keinen Antijudaismus, weil mit "die Juden" keine Gruppe außerhalb der joh Gemeinden, sondern zur Häresie neigende 50
Vgl. J. BBlJTLER, Juden, bes. 75( Vgl. auch R LBISTNER, Antijudaismus, 145.
sI H. l'HYEN, Heil, 183. s2 In diesem Sinne urteilen: R. ScHNACKENBURG, Das Jobannesevangeliwn (HThK N/1), Freiburg i. Br, (1972) 7 1992, 146-148, 275f, F. MUSSNER. Traktat, 288~ R. l..msTNBR, Antijudaismus, bes. 144f, U.C. VON WAHLDE, The Johannine ,)ews... A Critical Survey, NfS 28 (1982) 33-60. Kritisch hierzu: H. THYEN, Heil, 169~ I. BROER, Die Juden, 12-14~ C. DIBBOLD8cHEuERMANN, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuclnmg ZlDD Verhör dl.at:h Pilatus (Job 18,28-19,16a)(SBB 32), Stuttgart 1996, 190-192, 246f, 285f. 53 Vgl. J. 8Etm.ER, ,)uden.., 7()( 54 Ebd. 73. 55 Vgl. W. Llri'GERT, Die Juden im Johannesevangeliwn, in: Neutestamentliebe Studien ftlr G. Heimici (UNf 6), hg. v. A. DElssMANN/A. WINDtsCH. Leipzig 1914, 147-154. 56 Vgl. M. Rlss1, Juden, 2112f et passim.
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Judenchristen angesprochen seien. 57 Diese Beobachtung erhebt M Rissi zum Schlüssel seiner gesamten Auslegung. Dabei muß er freilich einige Vorkommen von "den Juden" als redaktionell ausklammem (u.a die Stelle~ die über den Synagogenausschluß handeln58) und verliert damit an Überzeugungskraft.
(f) Johanneischer Antijudaismus: "die Juden" als von Gott verworfenes Volk M. Brumlik interpretiert das JohEv als Dokument einer geschlossenen antijüdischen Frontbildung: .,Im achten Kapitel des Evangeliums schließen religiöse Urmotive und nur politisch und sozialpsychologisch erklärbare Wahnvorstellungen zu einer konsequenten Satanologie zusammen, die den Juden in einer nicht anders als protorassistisch zu bezeichnenden Doktrin nicht mehr die mindeste Chance läßt. " 59 Für den jüdisch-christlichen Dialog müsse das JohEv deshalb ausscheiden. 60
3. Israeltheologie im Johannesevangelium Die komplexe Israeltheologie des JohEv, zu der neben den jüdischen Gruppen (.,die Juden", .,die Pharisäer", "die Ratsherm", "die Hohenpriester", "die Diener", "die Menge") und vielen Einzelpersonen insbesondere die jüdischen Institutionen (Tempel, Schrift, Gesetz61 , Feste, Synhedrium) zu berücksichtigen sind, ist gekennzeichnet durch folgende teilweise in Spannung zueinander stehende Aussagereihen62 : 57
Vgl. ebd. 2136. Vgl. ebd. 2133-2135. M. BRUMLIK, Johannes, 104~ vgl. ebd. 108: ,,paranoides Feindbild''. 60 Ebd. 111 f. 61 Zur joh Deutung des Gesetzes vgl. S. PANCARo, The Law in the Fourth Gospel. The Torah in the Gospel, Moses and Jesus, Judaism and Christianity according to John (NT.S 42), Leiden 1975~ M KOTn.A, Umstrittener Zeuge. Studien zur Stellung des Gesetzes in der johanneischen Theologiegeschichte (AASF.DHL 48), Helsinki 1988~ A. ÜBERMANN, ErlU.ISB 59
1~50..59. 6
bn JohEv finden sich auch in anderen thematischen Zusammenhangen (vgl. nur die präsentisch- und die futurisch-eschaogiscben Aussag~ vgl. jüngst die umfassende Forschungsgeschichtevon J. FREY, Die johanneische Eschatologie llbre Probleme im Spiegel der Forschq seit Reimarus [WUNf 96], Tübingen 1997) in Spannung zueinander stehende bzw. prima facie gegensätzliche Positionen, die einen hohen Aufwand an hermeneutischer Entzifferungsarbeit verlangen. Literarlaitische Lösungsvorschlage sollten erst dann versudlt werden. wenn der vorliegende Text tatsichlieh keine andere Option zulaßt. Dieses Urteil widerspricht nicht einem traditionsgeschichtlichen Wachstumsprozeß des corpus evangelii, sondern rectmet
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( 1) Es finden sich Passagen, die die Gottesgeschichte Israels betonen und in diesem Sinne heilsgeschichtlich argumentieren (vgl. 1,17"3 ; 4,2264 : "das Heil aus den Juden"; vgl. 10,35: die "unauflösbare Schrift"). Der Evangelist stellt an herausgehobenen Stellen ,,Israel" als Würdeprädikat heraus (vgl. 1,31.47.49; 3,10; 12,13). Hierzu passen auch die positiven Aussagen über den Glauben "vieler aus den Juden" (vgl. 8,30-31; 11,45; 12,11), "vieler aus dem {jüdischen) Volk" (vgl. 2,23; 7,31; 19,38-39), .,vieler aus den Ratsherren" (12,4265 ; vgl. 7,26.48), über die Parteinahme von einigen Pharisäern (vgl. 9,16) und von "Dienern" der Pharisäer und Hohenpriester (vgl. 7,45-46) für Jesus. Darüber hinaus werden die Zeugnisse des Mose66, des Jesaja67, der Abrahamskindschaft68, Johannes des Täufers und nicht zuletzt der Schrift insgesamf9 positiv in Anspruch genommen. Auch das joh Motiv der Sammlung des Gottesvolkes (vgl. AO.oc;, e9voc; und tiKva 'tOU 9tou in 11,47-53; vgl. 10,16; 17,20) ist heilsgeschichtlich entfaltete lsraeltheologie.
damit, daß der joh Fortschreibungsprozeß primar nicht von miteinander konkurrierenden Wld sich gegenseitig widersprechenden theologischen Positiooen vorangetrieben wurde, wie es die klassische Literarlaitik am JohEv oft unkritisch vorausgesetzt hat. 63 Die Ausleger streiten darüber, ob der Parallelismus in 1,17 antithetisch oder synthetisch awrrulegen ist. E. GRAssER, Polemik, bes. 140-143, 146f, pladiert tnr eine antithetische Auslegung Wld wteilt zusammenfassend:,,[ ... ) es steht überall die Tom als die Summe der synagogalen Gesetzlichkeit - oder genauer: als Chiffre des verkehrten jüdischen Wesens gegen Christus, den Messias des christlichen Bekenntnisses" (ebd. 143). Freilich kann er auch zugestehen, daß es nicht die Tora, sondern der Unglaube ist, der blind macht tbr das in der Tora liegende~ vgl. ebd. 144( DERs., Juden, 160. Für einen synthetischen Parallelismus plädieren mit guten Argwnenten H. THYEN, Heil, 173-177 (zur Verstarlamg seiner heiJs.. geschichtlichen Deutung von 1,17 weist er zu Recht auf 12,24 hin: Erst nach dem Tod des Weizenkornes wird der Wunsch der "Griechen" sich erfilllenJ, A ÜBERMANN, Erfillhmg, 5356. In 1,17 kann ~ dun:haus als passivum divinwn gelesen werden. 64 Gegen R. BULTMANN, Job, 139, der 4,22 einem kirchlichen Redaktor zuordnet, ist u.a mit F. HAHN, Heil, die UrsprOnglichkeit von 4,22 festzuhalten (vgl. ebd. seine DlD"cbsicht der Forschungsgeschichte). Vgl. auch: K. HAACKER, Gottesdienst ohne Gotteserkermtnis. Joh 4,22 vor dem Hintergrund der jüdisch-samaritanischen Auseinandersetzu in: B. 8ENziNo u.a (Hg.). Wort tmd Wirldichkeit (FS E. Rapp), Meisenheim 1976, 110-126. Auch H. THYE.N, Heil, 170, deutet 4,22 heilsgeschichtlich: Aus judenchristlicher Sicht werde mit Blick auf die noch ungläubigen Samariter gesprochen. FOr eine synchrone Auslegung des JohEv halt 4,22 auf Fall fest, daß das ,,Heil", namlich Jesus Christus, bc upv louöaic.ov ist. 6 12,42 spricht be:zeicbnenderweise von der Fmdlt der Ratsbenn vor den Pbarislem. 66 Vgl. 1,17.45~ 3,14~ 5,45.46~ 6,32; 7,19.22.23; 8,5•; 9,28.29. 67 Vgl. 1,23; 12,38.39.41. 68 Vgl. 8,30-58. 69 Zur joh Schrifttheologie vgl. die Ausfuhrungen \Dlter 4.
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Die kritische Rückfrage der Hohenpriester und Pharisäer an ihre "Diener", die Jesus entgegen ihrem Auftrag nicht festgenommen hab~ in 7,48 (,,Ist denn einer von den Ratsherren zum Glauben an ihn gekommen oder von den Pharisäern?'') steckt - wie die Ratssitzung nach 11,47-53 70 - voller Ironie 11 : Die vermeintliche geschlossene Ablehnung Jesu ist ein Irrtum. Die Leser wissen aus dem unmittelbaren Kontext, daß ein Ratsherr, nämlich Nikodemus, der betont mit "einer von ihnen" vorgestellt wird, Partei ergreift fur Jesus (7,51-52; vgl. 3,1; 19,38-42). In 9,16 ist sodann auch davon die Rede, daß einige aus den Pharisäern fur Jesus Partei ergreifen; nach 12,42 kommen viele von den Ratsherren zum Glauben. Auch der Vorwurf der Gesetzesunkundigkeil an "dieses Volk", das von den eigenen Repräsentanten verflucht wird(!), wendet sich im unmittelbaren Kontext gegen diejenigen, die diesen Vorwurf erheben: Nikodemus zeigt ihnen, daß sie selbst in ihrem Vorgehen das Gesetz mißachten, auf das sie sich berufen, und deshalb gerade "nicht (aner-)kennen" (vgl. 7,51; 7,19: "und niemand von euch tut das Gesetz"). "Spaltungen" (CJXlC1tJU'ta) entstehen wegen Jesus im Volk (7,43), bei den Pharisäern (9,16), bei den Juden (10,16), im Hohen Rat (vgl. 7,45-52; 11,47-53) und bei den Jüngern (vgl. 6,60-71). In ihnen wirkt sich das scheidende Offenbarungswirken Jesu aus, das freilich keine vorgängige Scheidung aufdeckt, wie es prädestinatianische Deutungen des JohEv wollenn, sondern Glauben von allen Adressaten fordert. 73 (2) Im JohEv wird louöa'i'oc; als Bezeichnung fiir die Volkszugehörigkeit 70mal verwendet (davon nur dreimal im Singular: 3,25; 4,9; 18,35). Eigene Beachtung verdient die Identifizierung Jesu als Jude durch die Samariterin (4,9), eine Aussage, die nirgends zurückgenommen oder eingeschränkt wird und fur die Interpretation von 4,22 -
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Vgl. hierzu die Auslegung von J. BEUTI..ER. Zwei Weisen der Sanunhmg. Der Todesbeschluß gegen Jesus in Joh 11.47-53 (1994), in: DERs.• Studien. 275-283. 71 ZlU' joh Ironie. die in der Forsclumg noch nicht die ihr gebOhrende Aufinerksamkeit gefunden hat. vgl. K. ScHoL.nssEK. Ironie und Roßenwechsel im Johannesevangelium., ZNW 89~1998) (im Druck). Vgl. 0. HoFrus/H...Chr. KAMMLER, Joharmesstudien. Untersuclnmgen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), TObingen 1996. 73 Vgl. M. HAsiTSCHKA, Befreiung von SOnde nach dem Johannesevangeliwn. Eine bibeltheologische Untersuchung (ITS 21). Innsbruck 1989, 183: ,)esu Koounen zu den Juden und die SteUWlgll8hme der ,Seinen' ihm gegenober ist Typus und Sinnbild fnr ein Geschehen von wtiverseUer Bedeutung: das Kommen des Logos in den durch ilm geschaffeoenen Kosmos und dessen ratselhaftes Verbalten ilun gegenüber."
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mithin für das gesamte JohEv74 - bedeutsam ist. Auch die Titulatur Jesu als "König der Juden" (vgl. schon 1,49), die besonders im Prozeß vor Pilatus eine prominente Rolle spielt, verweist mit aller Klarheit auf die Zugehörigkeit Jesu zumjüdischen Volk. 75 Eine einheitliche Verwendung des Plurals ,,die Juden" läßt sich im JohEv nicht ausmachen: ,,die Juden" fungieren als Gegenspieler Jesu, als Volk bzw. Volksmenge z.B. in Jerusalem, als jüdisches Volk im Gegenüber zum heidnischen Volk, als die Zeitgenossen Jesu, als Repräsentanten der jesusfeindlichen Welt. 76 Für das Bild "der Juden" wie der einzelnen genannten jüdischen Teilgruppen im JohEv ist insbesondere auf die Verschmelzung der Zeiten im JohEv, die die Situation des irdischen Lebens Jesu mit derjenigen der joh Christen ,zusammensieht', hinzuweisen. n Im JohEv liegt mithin ein differenzierter, wenngleich nicht systematisch durchgezogener Sprachgebrauch von louöa'l<><; vor, der einem einlinigen, a priori dualistischen Grundschema widerspricht. Ein dualistisches Grundbild liegt im JohEv auch deswegen nicht vor, weil es auch auf der Seite der Christusgläubigen keine Einheitsfront gibt: Die Jünger Jesu im JohEv sind alles andere als eine geschlossene, unangefochtene Formation. 78 Auch jedweder vorschnellen Heilssicherheit schiebt das JohEv einen Riegel vor (vgl. den theologischen Vorbehalt nach 6,44; 12,32; 15,5). (3) Im JohEv begegnen pauschale, polemisch-distanzierende Wendungen über "die Juden": Jesus spricht von "eurem Gesetz" (8, 17;
Vgl. hierzu P. GRF.wr, Juifs, 121-167: ,,L'objet de Ia controverse: Jesus le juif" In der Darstellung des JohEv wird aus der Sicht des Pilatus genau diese jüdische ldmtiW Jesu (zunächst) zum Argument, den innerjüdisch Ulmbittenen Jesus als schuldlos freizulassen. Als der Titel ,,König der Juden" politisch gewendet wird. gibt Pi1atus dem Drangen der 74
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~Jesunach.
E. GRAsSE.R, Polemik. 137f. wertet dies so aus. daß hier kein erkermbar historiscber Dialog fingiert wird. sondern: " (... ) mit dem Begriff 10\fuiOl, der wie der Begriff des KOO).w<; in gleicher Weise Chiffie ist ftlr den Unglauben schlechthin, wird ein Paradigma gegeben ftlr das, was die Offenbarung als Krisis bewirkt sie scheidet zwischen der Welt lmd den Glaubenden"~ vgl. DERs., Juden, 166. n Vgl. J. BEun.ER, Juden, 63-65~ vgl. Ch. HOEGEN-ROHLS, Der nachOsterliehe Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangeli1Dil (WUNf 2,84). Tübingen 1996, bes. 225-229. 78 Zur joh Ekklesiologie vgl. die eigenen Beobachtungen: K. ScHotTISSEK, Kinder Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur johanneischen Ekklesiologie, in: R KAMPuNGflb. SO. DING (Hg.). Ekklesiologie des Neuen Testaments {FS K. Kertelge), , Freiburg i. Br. 1996, 184211 (Lit). 6
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10,34~ 15,25~
vgl. 18,31~ 19,7)79, der Evangelist von "dem Fest der Juden" (5,1; 6,4; 7,2). In der schärfsten Konfrontation werden die Christen als Kinder Gottes "den Juden" als Kindem des Teufels entgegengesetzt. Der joh Jesus bestreitet seinen Gegnern die wahre Abrahamskindschaft (8,30-59). 80 Zudem schließt das JohEv von der Nichterkenntnis Jesu als Sohn Gottes auf die Nichterkenntnis Gottes selbst (vgl. 1,18; 5,37; 6,46; 8,19.42.55; 16,3; 15,21). (4) Im Prozeß akzentuiert der Evangelist die Schuld "der Juden", die hier mit den Hohenpriestern und ihren Dienern identifiziert werden, an der Verurteilung Jesu durch Pilatus (vgl. 18,28-19,16). 81 Im Unterschied zum MkEv spricht das JohEv freilich nicht von einem eigenen Urteil des Synhedriums. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Es ist der Jude Jesus, der zu Israel gesandt ist, der "in sein Eigentum kommt" und in seinem Eigentum teils auf Ablehnung, teils auf Aufuahme stößt. Dieser Jesus aus 79 In
der Forschtmg wird der polemische Charakter dieser Wendung auch in Frage gestellt; vgl. A. ÜBERMANN, Erfllllung, 57-5~ J. AUGENSTBIN, ,,Euer Gesetz.. - Ein Phinomen und die johanneische Haltung zum Gesetz, mw 88 ( 1997) 311-313 (Das Possesivpronomen drückt nicht Distanz aus, sondern fordert das Gesetz als verbindliche Grundlage ein, die freilich von den Gegnern Jesu nicht eingehalten wird). 80 Zur Auslegung von Job 8,30-59 vgl.: E. GRAssER, J~ M. HAsiTSCHKA, Befreiung, 174-282 (vgl. ebd. 178-183: Exkws: ,,Die Juden"). M HENaa weist auf den Gegenangriff in 8,49.52 hin, der Jesus als ,,samariter und dämonisch Besessenen" disqualifiziert (in: DERs., Frage, 297 Anm. 107). Vgl. F. HAHN, Juden, 128: ,,Die Scharfe der Anklage von Job 8,30-59 liegt darin, daß gerade diejenigen. die sich auf Abraham berufen, die somit die Gescllichte Gottes mit Israel und seine Verheißungen kennen, den Offenbarungsanspuch Jesu nicht annehmen." Gegen den Deuttmgsversuch, 8,44 sei nur zu den zum Glauben gekonunenen Juden (vgl. 8,30-31) gesagt, dh. zu Judenduisten, wendet sich I. 8R.oER, Juden, 15. Zur joh Kontroverse um die wahre Alnhamskindschaf vgl. auch das TAuCerwort in Mt 3,9 par U 3,8. 81 ln der job PrazeßdarsteUtmg wird - so die mebrbeitlich vertretene Auffassung- die Schuld "der Juden" an der Venuteilung Jesu versubkt (vgl. aber die Kritik an dieses" Positioo von J. BElTil..ER, Juden, 66-69). Vgl. die folgenden Beitrage: R. lEisTNER., Antijudaismus, 71-150~ D. GRANsK.ou, Anti-Judaism in the Passion Accounts oftbe Fourth Gospel, in: P. RIOiARDSON (ed.), Anti-Judaism 1, 201-216 (er sieht eine unausgeglichene Ambivalenz in der job Darstelltmg); J. T. CARouJJ.B. GRHEN, Who was Responsihle fUr the Death of Jesus? The Cross and ,Anti-Judaism' in Early Christianity, in: DIES., The Death of Jesus in Early Cbristianity, Peabody 1995, 182-204; DIES., ",When I am lifted up froot the Earth (... )'. The Death of Jesus in the Gospel aa:onting to Jobn, ebd. 82-1~ C. DIEBou>ScHJruER, Jesus (sie betmt die job VcnUrkung der Schuld "der Juden" am Tode Jesu und die Darstellung des PiJatus als Werkzeug in der Hand der schon vorher (vgl. 5,16.18; 7,1.1~ 8,22-24.37-5~ 10,31-39", 11,4753; 18,31; 19,7] fest entschlossenen jüdischen Gegner Jesu); Th. SOoiNG, Die Macht der Wahrbeit und das Reich der Freiheit Zur jobanneischen Deutung des Pilatus-Prozesses (Job 18,18-19,16), ZThK 93 (1996) 35-58.
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Nazareth wird nicht "erkannt", wenn er nur auf seine natürliche Herkunftsfamilie festgelegt wird (vgl. 1,46~ 7,41.52). Das JohEv weist durchgehend eine Abstammung "aus dem Willen des Fleisches" zurück (anhebend mit 1,11-13, der semantischen Achse des JohEv'2~ vgl. 3,6 u.ö.) und betont im Gegensatz dazu die Neugeburt "aus Gott" (1,13) bzw. "aus dem Geist" (3,6). Diese Neugeburt führt in die Familie der Kinder Gottes, die nicht aufgrund ihrer ethnischen Abstammung als solcher, sondern durch die gläubige "Aufuahme" Jesu entsteht (vgl. bes. 1,12~ 13,1.20; 19,25-27). 83 Jesu Sendung und sein Offenbarungsanspruch führen in die Krisis und fordern alle Personen und Gruppen, die im JohEv genannt werden (einschließlich der "zum Glauben gekommenen Juden" (8,31] und der "Jünger Jesu" (6,60-71]), zur Stellungnahme und zur Bewährung heraus. In den Worten der Einwohner Jerusalems: "Aber diesen kennen wir, woher er ist. Wenn aber der Messias kommt, weiß niemand, woher er ist" (7,27) liegt eine ironische Fremdprophetie vor, die sich im JohEv fast durchgehend erfüllt. Die Gegner Jesu wähnen nur, die Herkunft Jesu zu kennen (vgl. 1,46; 6,42~ 7,25-27.41-44.52~ 8,14; 9,29-34; 19,9). Weil sie versuchen, Jesus auf seine natürliche Familie festzulegen, erfüllt sich ironischerweise ihre eigene Ankündigung: Mit Jesus ist der Messias gekommen und sie erkennen nicht, "woher" Jesus wirklich ist (vgl. 8,14 und die konvergierende Messias-Regel in 1,26). 84 Jesus hört im JohEv nicht auf, von seiner Sendung "von oben", vom Vater, zu sprechen. Aber exakt diese Sendung Jesu von Gott wird abgelehnt und als Blasphemie mit dem Tod bedroht. Der gläubige Überstieg vom "Irdischen" zum "Himmlischen" (vgl. 3,1-13; bes. 3,12), von Nazareth als Heimatstadt Jesu zum Kommen Jesu vom Vater, bleibt vielfach aus. Die Ablehnung des Offenbarungsanspruches Jesu führt zur scharfen, ja tödlichen Opposition gegen Jesus und zum Haß gegen die an ihn Glaubenden (vgl. 15,18-25~ 16,2). Im Namen Gottes wird der Gottgesandte (bzw. seine Jünger) gerade von denen verworfen, "zu denen das Wort Gottes ergangen ist" (1 0,35). Aus joh Sicht rückt dieses anstößige und nach menschlichen Maßstäben unerfindliche Geschehen (vgl. den Erklärungsversuch in 12,37-43) die Gegner Jesu auf die Seite derer, die sich gegen Gott selbst stellen, weil sie seine eschatologische Zuwendung zur Welt (vgl. 3,16) zurückweisen. Weil der Vater "eins 82
Vgl. F. MUSSNER., Die ,,semantische Achse" des Johannesevangeliums. Ein Versuch. in: Vom Urchristentt.m zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 246-255. 83 Zur joh Familienmetaphorik vgl. K. ScooLTISSEK. Kinder (Lit} 84 Vgl. die Ausfbhrungen in: r:>ER.s., Ironie.
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ist" mit dem Sohn (10,30), kann man nicht gleichzeitig den Sohn ablehnen und dem Vater die Ehre geben.
4. Die johanneische Schrifthermeneutik Der im jüdisch-christlichen Dialog gewachsenen Aufinerksamkeit und den Fragehorizonten einer Biblischen Theologie entspricht es, wenn die Schriftauslegung der neutestamentlichen Autoren, ihr Umgang mit den "Schriften" Israels, in den Mittelpunkt der Forschung rückt. ss Daran nimmt auch die Jobarmesforschung teil. 16 Um einen zeit- und religions-
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Vgl. die neuestell Sanunelblnde: C.A. EvANSIW.R. SmGNER (ed.), The Gospelsand the Scriptures oflsrael (JSNf.S 104), Sheffield 1994 (Lil; hier 358-474 ftlnfBeitrage ztan JohEv von A. T. HANsoNIM. HENGELIST.E. PORlERIJ. PAINTERIJ.R. MICHABLSJ, C.A. EvANS (ed.), Early Christiall Interpretation of the Scripture of Israel. Investigations and proposals (JSNT.S 148), Sheffield 1997; C.M. TUCKETT (Hg.), The Scriptures in the Gospels (BEThL 131), Leuven 1997 (Lil; hier 327-428, 629-636 vier Beitrage zmn JohEv von M THBooALoiM.J.J. MENKEN/U. BussBIW. KRAus). Vgl. auch die Problemanzeige von N. WALmR., Zur~ logischen Henncneutik des christologischen ,Schriftbeweises' im Neuen Testament, NTS 41 (1995) 338-357. 86 Zur joh Scluifttheologie vgl. die divergierenden Positionen von: M. HENGEL, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergnmd urchristlicher Exegese, JBTh 4 (1989) 249-288 (M. HBNGEL stellt ebd., 283 ein kanooiscbes Interesse des Evangelisten fest. der "eine Art neuer ,beilip Schrift' verfassen will, die die bisherige Schrift erg1nzt und abschließt''); vgl. A. ÜBERMANN, Die christologiscbe Ertbllung der Schrift im JobannesevangelilDil. Eine Untersuchung zur jobanneischen Henncneutik anband der Schriftzitate (WUNf 11183 ), TObingen 1996, 418-422 (vgl. die Rez. von K. ScHoLTlSSBK, ThRv 94 [1998] 196-198}, E. COTHHNET, L'arric!re-plan vetercHestamenta du JV'C Evangile. in: Origine et postbite de l'evangile de Jean (LD 143), A. MARCHADOUR (ed.), Paris 1990, 43-69; H. HOBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments m. Hebraerbriet: Evangelien und Offenbarung, Epilcgomena, Göttingen 1995, 152-205; J.J. M. MENKEN, Old Testament Quatations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form (CBET 15), Kampen 1996 (J.J.M. MENKEN ninunt an. die Schrift Israels habe im Sinne des JohEv eine geheime Bedeutung, die durth ihre Anwend\mg auf Jesus als Gottes eschatologischem Boten zutage ~ vgl. ebd. 207fJ, Ch. Dllrrz.FBLBJNGER, Aspekte des Alten Testaments im Johannesevangelium, in: H. CANCJK u.a. (Hg.), GeschichteTradition - Reflexion 1-ill (FS M. Hengel). Tübingen 1996, ill: 203-218; A ÜBERMANN, Erftlllung; J. BEUll.ER., Der Gdxauch der Schrift im JobannesevangelilDil ( 1996), in: DERs., Studien. 295-315 (Lil}, W. KRAus, Jobannes und das Alte Testament Überlegungen zmn Umgang mit der Schrift im Johannesevangelimn im Horizont Biblischer Theologie, 'DM 88 (1997) 1-23; DERs., Die Vollendung der Schrift nacll Joh 19,28. Überlegungen zmn Umgang mit der Schrift im .Jobanne3evangeum, in: CA EvANS, Salptures. 629-636~ U. BUSSE, Die Tempelmetaphorik als ein Beispiel von implizitem Rekurs auf die biblische Tradition im Jobannesevaogelium, ebd. 395-428~ M. THEoiw.D. Schriftzitate im ,,Lebeosbrot"-Dialcg Jesu (Joh 6). Ein Paradigma ftlr den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten. ebd. 327-366 (Lit).
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geschichtlich relevanten Vergleichspunkt zu gewinnen, wird im folgenden zunächst kurz die Schrifthermeneutik in den Qumran-Schriften vorgestellt. 4 .1. Schriftauslegung in Qumran87 Die vielgestaltige Schriftkommentierung und -interpretation in den Qumran-Schriften (vgl. Pesharim, Midraschim, Interpretation durch Komposition) läßt eine in der Diskussion um die Schriftauslegung im JohEv insgesamt nicht beachtete gemeinsame hermeneutische Struktur erkennen88 : Die Pesharim89 (es gibt ca 30 Texte dieser Gattung90)
M. THEOBALD sieht Gründe. von einem .,destruktiven Scbriftumgang" (ebd. 365) des vierten Evangeliwns m sprechen. 87 Vgl.: H.-J. FABRY, Methoden der Schriftauslegung in den Qumran-Schrifte in: Stimuli. Exegese und Hermeneutik in Antike und Ctuist.entum (FS E. Dassmann), (JAC.E 23), Münster 1996, 18-33 (die folgenden Ausftlhrungen beziehen sich weitgehend auf diesen ArtikelX DERs., Schriftverstandnis und Schriftauslegung der Qumnm-Esseoer, in: Bibel in jOdiscber und christlicher Tradition (FS J. Maier). (BBB 88), Franiefurt aM 1993, 87-96~ M. FISHBANE, Use, Authority and Interpretation of Milcra at Qumran, in: M.J. MUI..IER (ed), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity (CRJNT ß/1), Assen/Philadelphia 1988, 339-3n (sein Urteil stinunt mit demjenigen von H.-J. FABRY überein}, G. STEMBERGER. Hermeneutik der Jodischen Bibel, in: Ch. DoHMENIDERs., Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (StTh 1,2), Stuttgart 1996, 23-74: 38-47~ J. MAlER, Early Jewish Biblical lntelpretation in the Qumran Literature, in: M. SAEBO (ed), Hebrew Bible - Old Testament The History of its Interpretation, Vol. 1: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), Part 1: Antiquity, Göttingen 1996, 108-129(Lit). Zur frühjüdischen Schriftauslegung vgl. den Überblick von M. HENGEL, ,Sctuiftauslegung' und ,Schriftwerdung' in der Zeit des Zweiten Tempels. in: DERs.IH LöHR (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentwn und im Urchristentum (WUNf 73), Tübingen 1994, 1-71. M. HENom. \Ulterscheidet gnmdlegend zwischen der gesetzeskonformen und der inspirierten Schriftauslegung im Frühjudentwn. Zur inspirierten Scbriftauslegung zAhlt er neben Sir 24,33~ 38,24-39,12 (ebd. 35-44 zum prophetisch inspirierten Selbstverstandnis des Weisen als Schriftgelehrten) und Philo auch die Qumran-Schrifte (vgl. ebd. 51-56). 88 A. ÜBERMANN, Erftllhmg. verzichtet vollständig darauf, die joh Schriftauslegung in einen bibl.isch-frühjüdiscben Zusammenhang zu stellen. Vgl. aber J. MAlER, Zwischen den Testamenten. Geschichte Wtd Religion in der Zeit des Zweiten Tempels (NEB.AT Erg. 3), Wüzzburg 1990, 135: ,,Man bat mit Recht danruf verwiesen, daß bis m einem gewissen Grad auch das frohe Christentum Merlanale solch akut-eschatologisch motivierter Bibelausdeutung und -anwendtmg aJJ.fzuweisen hat, wobei ebenfalls der Anspruch einer durch den Geist Gottes vermittelten Einsicht in die ,eigentliche' (hier auf Christus hindeutende) Aussage der Heiligen Schriften m venneden ist" Vgl. OF.Rs., Interpretation, 127: "The same ~. however, focussed on christological issues., has been applied by the Christians." Vgl. auch die Andeutung von M.J.J. MENKEN, Testament, 208.
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beziehen mit Vorliebe prophetische Bücher .,auf die aktuelle - apokalyptisch verstandene - Gegenwart"91 • ,,Die in Qumran konsequente Auslegung des Bibeltextes auf die unmittelbare Gegenwart geht so weit, daß die Qumran-Essener der Meinung waren, die alttestamentlichen Propheten hätten keine Botschaft fiir ihre eigene Zeit gehabt, vielmehr seien alle ihre Aussagen ausschließlich fiir die qumran-essenische Gegenwart bestimmt. " 92 Zudem versteht sich der Pesher nicht nur als Kommentar zur Offenbarungsschrift, er will selbst auch als Offenbarung gelesen werden und setzt daher ein selbständiges Offenbarungsbewußtsein voraus. 93 Damit gleicht dieses Verfahren der inneralttestamentlichen Fortschreibung94 der Prophetenbücher (einer ,,Prophetie durch Deutung"95) - freilich mit dem unterscheidenden Anspruch, .,die
Vgl. hierzu die Monographie von MP. HORoAN, Pesharim. Qumran Interpretations of Biblical Boolcs (CBQ.MS 8), Washington 1979. 90 Vgl. die Liste bei H.-J. FABRY, Schriftverstandnis, 89f 91 H.-J. FABRY, Methoden, 20. Vgl. J. MAlER, Qumran-Essener ßi. 11-21~ Df.Rs., Interpretation, bes. 126-129. 92 H.-J. FABRY, Methoden, 21. Vgl. 0. STEMBEROER, Hermeneutik, 50: "Grundlage des gesamten Umgangs mit der Bibel in Qumran ist somit das Wissen, am Ende der Zeiten zu stehen lUld zur Bewaltigung dieser Lage mit einem inspirierten Verstandnis der gerade nWl ihren vollen Sinn bekommenden heiligen Schriften begnadet 7l1 9ein, die klar als Einheit betrachtet werden." Vgl. lQpHab Vß. 93 Vgl. hierzu insbes. J. MAlER, Interpretation. 94 Fortschreibung bzw. relecture benennen methodisch tmd inhaltlich ein neues Paradigma der Johannesforschung, vgl.: A DliTrwiLER., Die Gegenwart des Emöhten. Eine exegetische Studie ru den joham1eischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) unter besondc:rer BaOclcsichtigtmg ihres Relecture-Cbaralcters (l'IU.ANT 169), Göttingen 1995~ J. ZUMSmiN, L'Cvangile johannique, une strategie du croire, RSR 77 ( 1989) 217-232~ Df.Rs., Memoire et relecture pascale dans l'evangile selon Jean, in: 0. MAROUERATIDBR.s. (Hg.). La memoire et le temps. Melanges offerts a Pierre Bonnard (MoBi 23). Genf 1991, 153-170 [=in: DBRs., Miettes exegetiques [MoBi 25), Genf 1991, 299-316]~ DBRs., Der Proze8 der Relecture in der johanneischen Literatur, NfS 42 (1996) 394-411~ DERs., Zur Geschichte des johanneischen Cbristenn.uns, 1blZ 122 (1997) 417-428~ K. ScooLllSSEK, Mystagogische Christologie im Johannesevangeli\Ull? Eine Spuremuche, GuL 68 ( 1995) 412-426~ DERs., ,,Rabbi, wo wohnst du?" (Job 1,38). Zur mystagogiscben Christologie im Johannesevangeli\Ull (am Beispiel der JOngerberufungen Job 1,35-51). BiLi 68 (1995) 223-231~ DBRs., ,,Mitten Wltcr euch steht er, den ihr nicht kennt" (Job 1).6). Die Messias-Regel des Tlufers als johanneiscbe Sinnlinieaufgezeigt am Beispiel der relecture der Jongerberufunge in der Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus. MThZ 48 (1997) 103-121; DERs., Relecture - zu einem neu entdeclcten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Jobannesevangeli\Dil). BiLi 70 ( 1997) 309-31 5~ DERs., Johannine Studies. 95 Vgl. hierzu: J.J. CouiNS, Jewish Apocalyptic against its Hellenistic Near Eastem Envirorunent, BASOR 220 (1975) 27-36. 89
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letzbnalige und entscheidende Fortschreibung des Textes"96 zu geben. In den Qumran-Pesharim begegnet uns eine "grundsätzliche, exklusive Deutung von Aussagen der Propheten und Davids auf die aktuelle Gemeinde hin"97 . Auch die besonders von J Maier9 8 herausgestellte Neubewertung der Midraschim, der zweiten bedeutenden Gattung in den Qumran-Schriften99, bestätigt den Autoritätsanspruch der Tora-Auslegung des dores hattorah, der die Tora "ex auctoritate und ex officio auslegt" 100 und für diese Auslegung selbst kanonischen Anspruch erhebt (vgl. Dtn 18,1518). J. Maier urteilt, daß (mindestens) in Qumran "Midrasch" nicht einfach als "Auslegung" vorhandener Pentateuchgesetze (so aber eine verbreitete Sichtweise) verstanden werden kann: "Der Pentateuch enthält nur einen Teil der ,Tora', diese ist programmatisch identisch mit Gottes verbindlichem Willen überhaupt. Die jeweils zu praktizierende ,Tora' wurde durch die priesterliche Kompetenz (wie ein Orakel) eruiert, autoritativ verkündet und im Konsens schriftlich in einem Säräk (sachbezogene Regelsammlung, Ordnung) bzw. in einem Midrasch (Niederschrift) fixiert." 101 4.2. Johanneische Schriftauslegung
Im folgenden kann weder das gesamte Zeugnis der Schriftrezeption im JohEv aufgefiihrt und diskutiert noch können die Forschungsbeiträge 102 im einzelnen besprochen werden. Gefragt wird hier nach der joh Schrifthermeneutik, die sich im Umgang mit dem komplexen Textbefund zu erkennen gibt. Ein Kennzeichen der das JohEv insgesamt bestimmenden nachösterlichen Hermeneutik ist die neue Schriftinterpretation: Das "Schriftverständnis gehört daher zu ihrem (scil. der Jünger) nachösterlichen Verstehen, Schriftauslegung ist Bestandteil ihres nachösterlichen Zeugnisses." 103 Von dieser nachösterlich-joh Sehweise ausgehend wird die 96
H-J
FABRY, Methoden, 21. 22. 98 Vgl. J. MAlER, The Judaic System ofthe Dead Sea Scrolls, in: J. NEUSNER (ed.). Judaism in Late Antiquity (Handbuch der Orientalistik 1117), Leiden 1995, 84-108; DERs., Interpretatioo. 99 Vgl. H-J. FABRY, Methoden. 23-25; J. MAlER. Testamenten, 132-134 (Lil). 100 H.-J. FABRY, Methoden. 24; vg). M.HENoa.. Schriftauslegung. 51-61. IOI J. MAlER, Qumran I, XIV; vgl. OF.Rs .• Interpretation, bes. 113-123. 102 Vgl. die in Anm. 86 genannten Autoren. 103 Ch. HOEGEN-ROHLS, Johannes, 210. 97 Ebd.
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Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend interpretiert: Die Schrift wird zum vorgängigen 104 Zeugnis für das in joh Sehweise bereits eingetretene Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. Im Sinne des vierten Evangelisten legt die Schrift Zeugnis ab fiir Christus, in dem allein das wahre Leben zu finden ist - und eben nicht schon in den Schriften selbst (vgl. 5,39bc 105). ,,Bezüglich der johanneischen Hermeneutik ist festzuhalten, daß die Schriften auf Christus hin zu lesen und zu befragen sind. Erst durch diese Perspektive kommen die Schriften zu ihrer wahren Entfaltung, da die ihnen zugedachte und die in ihnen liegende Fülle im Zeugnis von Christus ansichtig wird." 106 5,37-40 ist ein kleines, aber höchst bedeutsames Kompendium joh Schrifthermeneutik 107 : ,,Die Schriften erforschen (ipauvaro 108)" (vgl. auch 7,52) in der Annahme (vgl. BoK&ro), "in ihnen ewiges Leben zu haben (iv aumtc; l;roilv aici>vt.OV &xet.v)" ist aus joh Perspektive ambivalent: Das Schriftstudium ist sehr wertvoll, insofern es "die Schriften" sind, "die Zeugnis über mich ablegen" (5,38de). Wird diese christologische Verweisfunktion der Schrift aber nicht wahrgenommen, weil der Glaube an den Gesandten Gottes fehlt (vgl. 5,38bc.40), kann 104
Vgl. 10,35: "Wenn er jene GöUer genannt hat, an die das Wort Gottes erging (np{x; oüc;
o')Jyyoc;, TOO 9EoU iyiv&To), und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann (Kat oo oovaml l..dn;val ,; ypaqn\).( .. .f' lOS ~tTE
in 5,39b wird dann als intOmliche Annahme ausgelegt (A ÜBERMANN, Erfillhmg. 374 Anm. 31 ), wie auch sonst im JohEv: 5,45~ 11,13.31.56~ 13,2~ 16,2~ 20,15. 106 Ebd, 374. 107 Vgl. die Auslegung ebd., 371-378 (Lit). 108 'C"""uvcic.o (bzw. kJass . PJY\niNfo\ = ~~--....~._.. n .....l.~" Wltersuchen" ., n"""'&auaaa...a _.....;w.Aan"·, be~ ~.,..-• ., " braisch ~":!., =,,suchen", ,,forschen", ,,sich lcOmmem lDll") kann sich im AT (vgl. Jes 34,16; Esr 7,10), in Qumran (vgl. 1 QS 5,11~ 6,6~ 4 QFI 1,11; 1 QS 8,15~ CD 20,6), bei Pbilo (Cher 14) und in den rabbinischen Zeugnissen (vgl. Ab 1.17; Ket IV,6; p.Joma Ill,5.40c) zu einem "technischen Ausdruck rur das Studiwn der Schrift" (R. SaiNAcKENBURG, Job II, 175) verfestigen. Gleichwohl ist bis zwn Ende des I. Jh. n. Chr. mit der ursprünglicheren Bedeutung: ,,Suchen" in der Schrift (vgl. Job 5,3~ 7,52) zu rechnen (vgl. A. ÜBERMANN, Erflllhmg. 374f). ,,Suchen" in der Schrift bedeutet dann aber Suche nach dem Willen Gottes bzw. nach Gott sei~ vgl. in Job I ,35-51 das ,,suchen" Wld ,,finden" der ersten Jünger (vgl. hierzu ebd. 367-371 ). Vom Tara-Studium erwartet der biblisch Glaubende die Begegnung mit dem Willen Wld dem Leben Gottes (vgl. Dtn 32,4547 [V 41'-"": aÜt'TJ,; t;coit ~v)~ Sir 17,11; Bar 4,1 (!); PsSal14,1-2~ syrBar 38,2). Zum ,,Forschen" in der Tom in der Sicht der Qumran-Schrifte (vgl. schoo I QS 1,1-2~ vgl. 0. BETz, Offenbarung und Schriftfonchung in der Qumransdcte (WUNf 6 ), Tobingen 1960, 15-36~ M HENoEL, Schriftwerdung, 53f. J. MAmR. übersetzt ~;-,in 1 QS 1,1 und CD 1,10 mit ,,fragen" (DsRs., Qwnran I. 8.168), 0. BF:rz mit ,.suchen" (DERs., Offenbanmg, 16).
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das Schriftstudium nicht fruchtbar sein, d.h. es führt nicht zur Immanenz des Wortes Gottes in den ..Suchenden" (5,38a; 8,31.37) bzw. zum ..Haben des ewigen Lebens" (5,39bc.40). Die Zuordnung der Schrift Israels zum Christusgeschehen in der joh Sehweise zeigt M Theobald am Beispiel der Verse Joh 6,44-45: ,,Im Hören auf Gott in der Tora erfährt der Mensch, wie dieser ihn zieht; er zieht ihn aber zu Jesus, auf den nach Überzeugung unseres Logions die Tora insgesamt zuläuft." 109 Strukturanalog zur Schrifthermeneutik in Qumran wird die heilsgeschichtlich gedeutete Gegenwart zum Kriterium der richtigen Schriftauslegung erhoben. 110 Triffi diese Grundfigur auf die joh Schrifthermeneutik zu, dann handelt es sich bei der joh Schriftauslegung um eine im Spektrum der frühjüdischen Schriftauslegungen strukturell bekannte und mögliche Verfahrensweise, die freilich - und darin besteht ihr christliches Proprium - in Jesus Christus den Ort der eschatologischen Gottesoffenbarung verkündet. In dieser Perspektive ergeben sich Anfragen an die Interpretationen von M. Theobakf 11 , Ch. Dietzfelbinger112 und W. Kraus 113, die mit verschiedenen Nuancen die joh Schrifttheologie von einer gegen die Heilsgeschichte gerichteten ..Enteignung" der Heiligen Schrift Israels, von einer ,,Entgeschichtlichung" 114 bzw...Entleerung der Heilsgeschichte" 115 bestimmt sehen. Da ..der Gedanke der Heilsgeschichte weitgehend 109 M. THEOBAID,
Gezogen von Gottes Liebe (6,44f). Beobachtungen zur Oberlieferung eines johanneischen ,,Herrenworts'', in: K. BACJCHAusiF.G. UNTERGASSMAIR (Hg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderbom 1996, 315-341: 335; vgl. ebd. 336: "Wer wilklich auf die Tora hört und.sich in ihr von Gott selbst \Dlterweisen laßt, der findet den Weg zum Messias und Gottessohn Jesus." 110 Vgl. die Auslegtmg von 6,31-35 beiM. THEOBAID, Schriftzitate, 347: ,,Das Schrift-Wort versteht aber nur, wer über es hinausgeht und sich auf den Standort des Jesus-Worts begibt, wn sich von diesem als dem authentischen Offenbarungswort sagen zu lassen. was der wahre Sinn des Schrift-Worts i~"; ebd. 356: Das Schriftwort erhält ,,als neuen Referenten eben die Christusgeschichte". 111 Vgl. M. THEOBAID, Schriftzitate. 112 Ch. DIETZFELBINGER, Aspekte. 113 Vgl. W. KRAus, Vollendung, 629: ,,Die Schrift wird hierbei von der Geschichte Israels abgekoppelt, [... f~ vgl. ebd. 635: ,,Die Schrift wird losgelöst von der Geschichte Gottes mit Israel, [.. .f' 114 Vgl. W. KRAus, Vollendung, 633: ,,Der fortschreitenden Entfremdung Jesu von den Juden entspricht die Entfremdung der Glaubenden von der Welt" 115 Vgl. M. THEOBALD, Schriftzitate, 362: Die Geschichte Israels "wird abgestoßen und in einen Rawn theologischer Irrelevanz entlassen"; vgl. ebd. 365: "eine heilsge9chichtlicbe Entleerung der in den Schriften bezeugten Geschichte Israels".
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preisgegeben werde" 116, sieht W. Kraus 1,11.14.17; 4,22 und 10,34-35 als nicht bestimmend für das joh Denken an (4,22 ,,hängt [... ] in der Luft und verblaßt zu einer historischen Reminiszenz"''). Wenn es mit W Kraus zutrifft, daß das JohEv die eigene "Darstellung des Christusereignisses in den Rang der ypa.qni rückt" 118, dann entspricht diesem Vorgehen strukturell das Selbstverständnis der verbindlichen Schriftauslegung in Qumran (s.o.). 119 So bleibt zu fragen, ob die christologische Schriftauslegung des JohEv tatsächlich das eigene Gewicht der vorgängigen GottesoffenbaA.Oyoc; rol> 8Eou iyevE'to) rung an Israel (vgl. 10,35: 7tpO<; oüc; extrem minimiert bzw. auslöscht. M.E. ist das kontroverse Problem, von dem die joh Schriftauslegung bestimmt ist, primär nicht die Geltung der Gottesgeschichte Israels, nicht die Bestreitung des erwählenden Geschichtshandelns Gottes an und in Israel, nicht die Entleerung des Bundes mit Israel, sondern der joh Anspruch, das als eschatologische Tat Gottes gedeutete Christusgeschehen als konform mit der biblischen Verheißungsgeschichte und als das Handeln des einen und selben Gottes Israels auszuweisen. 120 Die umfangreiche Schriftrezeption im JohEv verdankt sich dem Bemühen, das Christusereignis gerade nicht im Sinne eines deus ex machina zu isolieren und abzukoppeln, sondern es einzuschreiben und zu deuten im Horizont der biblischen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem erwählten Volk. In diesem Sinne kennt und thematisiert das JohEv die Sendung Jesu zum Gottesvolk Israel (vgl. 1, 11-13.3 1) und reflektiert die dramatische Ablehnung dessen, der, obwohl er "in sein Eigentum kommt", "von den Eigenen nicht aufgenommen wird". Es gehört zur Ironie der Verhöre, denen Jesus immer wieder ausgesetzt ist, daß er seinen Opponenten alle Argumente und Rekursinstanzen entwindet: Der Berufung auf die Schrift bzw. das Gesetz, auf Abraham und Mose, der Berufung auf den "einen Gott" (8,41) und den Anklagen der Gotteslästerung widerspricht Jesus und zeigt auf, warum diese Instanzen nicht gegen, sondern gerade für ihn sprechen. Am Ende
o
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W. KRAus, Johannes, 20. Ebd. 22 Amn. 115. 118 Ebd. 2~ vgl. ebd. 16-19. 119 Ob deshalb auch das von W. KRAus (ebd. 17) akzeptierte Urteil von WA. M1mKs (,,Ihre Loslösung voo der Welt fllllt im Evangeli\DD mit der LoslOsuog v001 Judentl.Dn zusammen") zutrifft. mag hier immerbin angefragt werden. 120 Nach F. VCJJOA, Antijudaismus 88f, setzt das JohEv die doppelte Autoritat der jodischen Tradition und der Christologie voraus, so sehr es die Schrift Israels auf die Christologie hin 117
auslegt
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der Streitgespräche mit Prozeßcharakter steht in einem ironischen Rollenwechsel nicht Jesus, sondern es stehen seine Gegner als Angeklagte da. 121
5. Rückblick und Ausblick ( 1) Der oben in Grundzügen angesprochene Textbefund zur Israeltheologie des vierten Evangeliums (vgl. 3.) und die joh Schrifthermeneutik (vgl. 4.) erklären sich meines Erachtens aus folgender Grundfigur: Das JohEv bejaht und betont die heilsgeschichdiche Prärogative Israels, wie sie urchristlich auch sonst (bei aller Unterschiedlichkeit) festgehalten wird (vgl. Röm 1,16: lou&x.iq> u: 7tpÖ)'rov Kai "EA.A.llvt (= 2,9.10]1 22 ; Mk 7,27: 1tpiii'tov123 ; Apg 3,26: 7tpÖ)'rov; 13,46: xpiittov): Israel ist das Wort Gottes zugesprochen worden, aus Israel stammt die unauflösbare Schrift (10,35); aus Israel kommt das Heil (4,22); der Sohn Gottes, der Messias und König Israels ist Jude (4,9); Johannes der Täufer ist von Gott gesandt, ,,Israel (den Messias) zu offenbaren" (vgl. 1,31); die "Griechen" können erst nachösterlich vermittelt durch Philippus und Andreas "zu Jesus kommen" (12,20-24 124); Jesus stirbt als "König Israels" "für sein Volk" (vgl. 10,15-16; 11,4952125)126; als der Erhöhte wird er "alle an sich ziehen" (12,32). 127 Die Verheißungen an Israel werden in der Sendung Jesu aufgerufen und
121 In diesen Fällen sind die Gegner Jesu in den Streitgespracben die Opfer der joh Ironie. Vgl. weiterruhrend K. ScHoLTISSEK. Ironie. 122 Vgl. hierzu: E. LoHsE, ,,Die Juden zuerst tmd ebenso die Griechen", in: M EvANG u.a. Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grasser) (BZNW 89), Berlin 1997, 201-212. 2 Vgl. die Auslegtmg zu Mk 7,24-30 von R. KAMPLING, Israel \Dlter dem Anspruch des Messias. Studien zur Israelthemaik im Markusevangeliwn (SBB 25), Stuttgart 1992, 135-152 (,,Der heilsgeschichtliche Vorrang Israels im Spannungsfeld voo Gemeinde und Judentum"). 124 Zur Auslegung von 12,20-21 vgl. J. BEt.m.HR, Griechen kommen, um Jesus zu sehen (Joh 12.20f) (1990), in: DERs., Studien. 175-189 (Er rechnet mit JesLXX 52,15 als Bezupext).
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125 Zur Auslegung dieser ironischen Fremdprophetie vgl. K. ScHolnSSEK. Ironie. 126 Vgl. F. MussNER. Traktat, 292( 127 Vgl. G. STRECKER. Theologie, 516: ,.Es besteht also eine heilsgeschichtliche Linie, die
von der Geschichte Israels zu Jesus llihrt: Schon Abraham hat den Tag des praexistenten Gottessohnes gesehen". Vgl. auch F. HAHN, Heil, 113: ."Juden' sind daher diejenigen. die aus dem ~ '~ stanunen und zugleich das Zeugnis des Mose sowie der anderen alttestamentlichen Schriften haben, also sUindig auf den Messias. das eschatologiscbe Heil Gottes verwiesen werden"~ vgl. ebd. 115: ...Die Juden' sind Träger des göttlichen Verbei&mgszeugniss und eines ober die alttestamentliebe Geschichte hinausweisenden zeichenhaften Handeins Gottes."
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eingelöst, die Schrift "erfullt sich" 128 - auch wenn Jesus gemäß der Messias-Regel des Täufers in I ,26d weitgehend unerkannt bleibt. Die joh Schrifthermeneutik bleibt auch mit ihrer strengen christologischen Ausrichtung strukturell im Rahmen zeitgenössischer jüdischer Schriftauslegungen. Diese Beobachtungen widersprechen dem Urteil, das JohEv sei antijüdisch. (2) Ausweislich der semantischen Achse in I, 11-13 organisiert das JohEv seine gesamte Theologie an der eschatologischen Gottesoffenbarung in seinem Sohn Jesus Christus, die auf Glaube oder Unglaube, auf Ablehnung oder Aumahme stößt (vgl. 13,20; 20,30-31). An dem Verhalten gegenüber dem "Kommen" des vom Vater gesandten Sohnes entscheiden sich Heil und Unheil, Gericht und Leben für "die Seinen" (I, 11-13 ). Dieser joh Entscheidungsdualismus 129 stellt die nichtchristusgläubigen Juden auf die Seite derer, die Gottes Offenbarung in seinem Sohn und damit Gott selbst ablehnen, ja baut "die Juden" in einzelnen Szenen sogar als Repräsentanten einer gottfeindlichen Welt auf13o Dabei läßt das JohEv keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es der Gott Israels ist, der in der Geschichte Israels gehandelt hat und der jetzt in Jesus Christus seine Herrlichkeit eschatologisch offenbart: Von diesem Christus-Geschehen als Gottesoffenbarung her liest und deutet der Evangelist die Heiligen Schriften Israels, die in seiner Interpretation eben auf dieses Christusereignis vorausweisen. Strukturell stimmt der Evangelist mit den anderen urchristlichen Theologen und ihren Schriften 131 darin überein, die Schrift Israels auf das Christusereignis hin zu deuten. Eine solche Schriftinterpretation, die die Schrift auf die als heilsgeschichtlich bedeutsam verstandene Gegenwart bezieht, teilen die urchristlichen Autoren mit frühjüdischen 128
Zu denjob ,.Erfllllungs-Zitaten" vgl. A. ÜBERMANN, Erfllllung. 81-89,218-330. Zur joh Schrifthenneneutik vgl. die Ausftlhrungen in 4. 129 Im JohEv gibt es weder einen metaphysisch-kosmologischen Dualismus noch eine Pradestinationslehre im strengen Sinne. 130 Die Polemik des I Job gegen die ,,Antichristen" (vgl. I Joh 2.18-19.22~ 4.3~ 2 Job 7), die die aus der Sicht des I Job orthodoxe Wld ortbopraktische Lehre nicht teilen. zeigt vielleicht, daß massive Polemik im corpus johanneum sich primär nicht aus vorgegebenen antijüdischen GrundeinsteUlDlgell speisen muß, sondern pinzipieU Gegner treffen kann. 131 Für die paulinische Schrifthenneneu vgl. Th. SöoiNG, Heilige Scluiften ftlr Israel und die Kirche. Die Sicht des ,,Alten Testamentes" bei Paulus (1995), in: DER.s .• Das Wort vom Kreuz. Studien ZlD" paulinischen Theologie (WUNf 93). Tobingen 1997, 222-247 (Lit~ K. I<ERTELGE. Das Alte und das Neue Testament - die eine Heilige Schrift. in: K. BACKHAust F.G. UNTF.RGASSMAIR (Hg.), Schrift. I 59-171: 165-167 (Lit. ).
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SchriftauslegWlgen (vgl. Qumran). Unterscheidend ist dabei nicht die angewandte Schrifthermeneutik, sondern der Bezug auf die SendWlg Jesu als Ort der endzeidichen Gottesoffenbarung. Es gehört zu dieser Schrifthermeneutik hinzu. daß sie jeweils nur diejenigen Personen zu überzeugen vermag, die die Einschätzung der jeweiligen Gegenwart, auf die die Schrift bezogen wird, im Sinne der Schriftausleger teilen (hermeneutischer ZirkeP 32). (3) Die christozentrische Theozentrik (vgl. 14,6; die "ICH-bin"Worte Jesu 133) des JohEv fUhrt zu der Folgerung, daß jeder, der Jesus als Sohn Gottes ablehnt, auch Gott selbst ablehnt Wld nicht erkannt hat (vgl. 1,18; 5,37; 6,46; 8,19.42.55; 16,3; 15,21). Spiegelbildlich entspricht dieser AuslegWlg auf der Seite der Gegner Jesu der Vorwurf der Blasphemie gegenüber dem von Jesus erhobenen Anspruch - ein Vorwurf, der tödliche Konsequenzen hat (vgl. 5,18; 7,1.19.25.30; 8,37.40.53.59; 10,31-39; 11,50-53; 19,7). Genau hier trifft die Kontroversezwischen Jesus Wld seinen Gegnern in der erzählten Welt bzw. zwischen den joh Christen Wld ihren zeitgenössischen Opponenten in der Zeit der AbfassWlg des Evangeliums auf das Zentrum: Beide Seiten beanspruchen für den Glauben an Jesus bzw. für die Ablehnung Jesu den einen Gott Israels: "Man wird sagen müssen, daß es gerade diese Voraussetzung desselben Gottes ist, die die AuseinandersetzWlg so Wlerbittlich scharf werden läßt. [... ] Umstritten ist nicht die Selbigkeit Gottes, des Gottes Israels, sondern der Ort seiner Präsenz." 134 U Wilckens sieht richtig: Die große theologische Herausforderung, auf die der Evangelist reagiert, ist der Vorwurf der Blasphemie von jüdischer Seite. Dieser Vorwurf wird vom Evangelisten aus dem Prozeß Jesu (vgl. Mk 14,64) in das gesamte Wirken Jesu vorverlegt (vgl. 5,18; 8,53; 10,33.36; 19,7). Dem Evangelisten liegt alles daran, die Einheit Gottes (vgl. Dtn 6,4; Ex 20,2) Wld die Einheit von Vater Wld Sohn (vgl. 10,30) als nicht-widersprüchlich auszusagen. 135 Deshalb schreibt er Vgl. auch J. BElllLER, Gebrauch. 315: ,,Die einzelnen ,Beweistexte' tnhren zu Jesus, doch körmen sie in ihrer Gesamtheit nm verstanden werden. wenn der Glaube, zu dem sie fUhren sollen, schon vorausgesetzt wird." 133 Vgl. zu den joh ,)CH-bin"-Worten zuletzt H. THYEN, Art. ,)eh-Bin-Warte", RAC Lfg. 129/130 (1994) 147-213~ 0. ScHwANKL, Licht Wld Finsternis. Ein metaphoriscbes Paradigma in denjohanneiscben Schriften (HBS 5), Freiburg i. Br. 1995, 194-200; D.M. BAll, ,I Am' in Jobn's Gospel. Litenuy FWlCtion, Baclcground and theological hnplications (JSNT.S 124), Sheffie1d 1996. 134 K. WHNGST, Gemeinde, 133 {u.ö.). 135 Vgl. U. WILCKENS, Das Evangeliwn nach Jobannes (NID 4), Göttingen 1711 1998, 13( 27, 170f, 221f, 285f, 332-336, 347f. 132
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seine Christozentrik in die monotheistische Theozentrik des biblischen Gottesglaubens ein (vgl. nur die ,,ICH-bin"-Worte). 136 (4) Die joh Theologie votiert wohl nicht für eine ,,Entgeschichtlichung" oder eine "Entleerung" der Heilsgeschichte - bei aller resoluten Interpretation der Heiligen Schriften Israels auf das Christusereignis hin. 137 Gerade die vehement christologische Interpretation der Schrift im JohEv zeugt auch von der bleibenden Geltung und Autorität der "unauflösbaren Schrift", die "das an Israel ergangene Wort Gottes" beinhaltet (vgl. 10,35). Umstritten ist für das JohEv nicht die Schrift selbst, nicht die in der Schrift bezeugte Heilsoffenbarung Gottes, nicht das unverrückbare "zuerst" der Berufung und Erwählung Israels (vgl. 4,22), nicht die Autorität des Schriftzeugnisses, auf das sich das JohEv - auch zur eigenen Deutung des Christusereignisses - angewiesen weiß, sondern die Frage, ob der Gott Israels in der Sendung Jesu Christi eschatologisch verbindlich gehandelt hat oder nicht. Das JohEv bleibt deshalb - freilich mit einem eigenen Beitrag grundsätzlich anschlußfahig an die in der neueren gesamtbibeltheologischen Diskussion (bei allen Kontroversen) angezielte "kanonische Dialogizität" der beiden Testamente, die die eigene vorgängige Autorität der Schrift Israels neu gewichtet. 138 Die christlich festgehaltene und 136 Zwischen der joh Christologie Wld
dem rabbinischen Tora-Verstandnis besteht eine tiefe Strulctlnnalogie: "Weg zwn Leben" ist rabbinisch die Tora, christlich Jesus Christus. Vgl. die Ausfilhn.a1gen von F. AVEMARJE, T
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festzuhaltende Einheit des Offenbarungswortes Gottes stellt das "Alte Testament" und das "Neue Testament" in eine "spannungsvolle Einheit aus gegenseitiger Verwiesenheit" 139. (5) Für die heute anstehende christliche Selbstbesinnung und den zu wünschenden jüdisch-christlichen Dialog hält U Wilc/cens fest: "Beide aber, Juden wie Christen, sind an diesen einzig-einen Gott absolut gebunden und von daher in ihrem Streit aneinander gebunden in einer Tiefe, wie es sonst keine streitenden Parteien in der Welt sein könnten." 140 "Das Ur-Wissen, daß es hier und dort der selbe eineeinzige Gott ist, zu dem sich Christen wie Juden mit ihrem ganzen eigenen Leben zu bekennen haben, muß sich in einer Ur-Achtung voreinander verwirklichen, die dem (unvermeidlichen) Streit wn die Wahrheit des einen Gottes seine Würde gibt." 141 Diesen "Streit" wird - wn mit Paulus zu sprechen - niemand anders als Gott selbst lösen (vgl. Röm 11,25-36). Bis dahin sind Christen und Juden an die Praxis der größeren Liebe verwiesen, die angesichts des Erbarmens Gottes jegliche Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit ausschließt (vgl. Röm 9,14-29~ 11,13-24) und Gottes unwiderruflicher Treue traut (Röm II ,29~ Nostra aetate 4).
Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer Biblischen Theologie, ZThK 95 (1998) 1-36 (Lit). 139 Vglo den Beitrag von Ko KERTELGE, Das Alte und das Neue Testament. (Zitat 169). 140u 0WILCKENS, Johannes, 1260 141 Ebd 200,. vglo ebdo t52f, 199f, 224, 293( 0
Der "strittige Punkt" (Rhet. a. Her. 1,26) im Diskurs des Römerbriefs Die propositio 1, J6f und das Mysterium der Errettung ganz Israels MICHAEL THEOBALD
Was haben der Leitsatz des Römerbriefs, die propositio 1,16f, und die prophetische Ansage der Errettung ganz Israels, 11,25-27, miteinander zu tun? Auf den ersten Blick kaum etwas: Faßt die propositio als den Erstadressaten des Evangeliums den Juden ins Auge, der wie der Heide sich zum Evangelium zu bekehren hat, will er gerettet werden, und bei dieser Glaubensentscheidung, wie der Heide, unvertretbar allein vor Gott steht, so betrifft die Prophetie von 11,25-27 nicht den Einzelnen, sondern das Gottesvolk insgesamt, das Kollektiv "ganz Israel". Hinzu kommt ein Zweites: Ist der propositio als definitorischer Äußerung zum Wesen des Evangeliums eine geschichdiche Unbestimmtheit zu eigen, läßt sie also über die faktische Annahme des Evangeliums unter den Juden nichts verlauten, so hat die Prophetie von 11,25-27 den Mißerfolg des Evangeliums unter den Juden des Mutterlandes und der Diaspora gerade zu einer ihrer geschichdichen Voraussetzungen (9,2729.31; 10,16a; 11,5.7). Daraus folgt: Beide Texte liegen auf unterschiedlicher Ebene, was bei einem Versuch ihrer ln-Bezug-Setzung beachtet sein will. Die Forschung hat das Problem bislang in zweifacher Hinsicht thematisiert. Zum einen unter dem Aspekt der Brief-Disposition: Umspannt der Leitsatz 1, 16f als Angabe des Brief-Themas nur Kap. 1-8 1 oder überwölbt er auch Kap. 9-11 2? Ist letzteres der Fall, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der Beziehung von 1, 16f zur Klimax J. DuPom, Le problerne de Ia structure litteraire de I' Epitre aux ROOJains. RB 62 ( 1955) 365-397: 375. 2 So z.B. S. LYONNET, Note sur le plan de I' Ept"tre aux Romains, RSR 39 (1951) 301-316: 305f. 1 So z.B.
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der Israel-Kapitel, der Prophetie von der zukünftigen Errettung ganz Israels. Zweitens steht die grundlegende Rolle des Glaubens für die Vermittlung des Heils (af.tmlPia) zur Diskussion: Wenn nach 1,16fdie im Evangelium Jesu Christi verwahrte Gerechtigkeit Gottes nur dem zuteil wird, der glaubt, wie kann dann die Prophetie von 11,25-27 ein Urteil über die zukünftige Errettung ganz Israels vorausnehmen? Muß nicht die Zukunft offenbleiben angesichts der Unverfiigbarkeit von Glaubensentscheiden, die in der Verantwortung eines jeden einzelnen liegen? Bekanntlich hat nicht nur R. Bultmann3 in dieser Richtung gedacht und der propositio 1, 16f sachkritisch den Vorzug gegeben gegenüber der Prophetie von Röm 11 bzw. die Kategorie des Einzelnen gegen die des kollektiven Gottesvolkes ausgespielt. 4 Auch 0. Kuss bietet eine aporetische Engführung, wenn er ohne Wenn und Aber die "Hofthung des Paulus" von 11 ,26 "auf die endgültige und vollständige Bekehrung" der Juden bezieht - "und eben das und nur das ist fiir Paulus ,Rettung"'! 5 Wie aber kann der Apostel fiir die Zukunft einen überwältigenden Missionserfolg nicht nur erwarten, sondern gar fest behaupten - zumal angesichts kümmerlicher Gegenwartserfahnmgen auf dem Missionsfeld Israel -, ohne unweigerlich in den Verdacht der Schwärmerei oder eines "verwegen-entschlossenen Denkens" zu geraten?6 Andere Forscher haben demgegenüber die sozusagen "objektive" Seite der proposito in den Vordergrund gerückt, ihre Rede von
J Berühmt ist seine beiläufige Bemerkl.mg, daß "das heilsgeschichtliche J.lucmPLOV Rm 11,25ff der spekulierenden Phantasie entspringt.. (Theologie des Neuen Testaments, TUbingen 61968, 484 ). Ähnlich H. CONmL.MANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, MOnehen 2 1968, 266f, der Röm 11 ,25-27 ftlr eine historische "Veranschaulichq" des Evangeliums und insofern ftlr eine spelrulative "Geschichtsprognose.. der ,,Bekehrung'' der Juden hält Offeobmdig verbietet es hier das neuzeitliche Pathos der Freiheit, eine Prophetie ernstzunehmen. die angeblich über die Freiheit von Menschen hinweg Gott seine Pläne mit ihnen im Eschaton umsetzen sieht 4 Bezeichnend sein Salz: ,,Die entscheidende Geschichte ist nicht die Weltgeschichte, die Geschichte Israels und der anderen Völker, sondern die Geschichte, die jeder Einzelne selbst erOOut. Für diese Geschichte ist die Begegmmg mit Christus das entscheidende Ereignis. ja, in Wahrheit das Ereignis. durch das der Einzelne beginnt, \Wldich geschichtlicll zu existieren, weil er beginnt, eschatologisch zu existieren.. (R BuLTMANN, Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament (1954), in: DER.s., Glauben und Verstehen lß, Tübingen 4 1993,91-106: 102). H. CoNZELMANN, Grundriß, 193, spricht gar von einer ,,radikalen lndividualisienmg", die sich darin zeige, daß das EvangelilDil den einzelnen treffe und ilm isoliere. Zur Sache vgl. D. LOHRMANN, Glaube im frühen Christentum, GOtersloh 1976,46-59. 5 0. Kuss, Der Römerbrief Dritte Lieferq (ROm 8,19-11,36 ), Regensburg 1978, 812. 6 Ebd., 810.
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der "Kraft (ÖUV
I. Analyse der propositio Röm I, I6f 8 1.1 Kontext, Form und Stil der Verse
Im Anschluß an das Präskript 1, 1-7 flihrt Paulus stilgemäß mit einer "brieflichen Danksagung" fort ( 1,8-12), der er wie gewöhnlich eine
7 RepräsentativE. I<ÄSEMANN, An die Römer (HNT 8a), TObingcn 2 1974,
19ff. Die Literabu" zu Röm 1, 16f verzeichnet zuletzt umfassend JA. FITZMYER. Romans. A New Translation with lntroduction and Conunentary (AncB 3), New York 1993, 265-268. Darober hinaWI: J.N. VORSJF.R, Stiategies ofPersuasion in Romans 1.16-17, in: S.E. PoRTERif.H. OLBRICHT (Hg.), Rhetoric and the New Testament Essays from tbe 1992 Heidelberg Confen:nce (JSNT.S 90), Sbeffield 1993, 152-1 ~ M BEINncF.R, Die Souvednitat des Evangelimns. Einige Erw8gw1gen im Anschluß an Römer 1,16 in: M TRoWITZSCH (Hg.), PaulWI. Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingcn 1998, 259-272. Zwn folgenden vgl. auch M THEOOALD, Römerllrief Kap. 1-11 {SKK.NT 6/1), Stuttgart 2 1998,41-51.258-319. 8
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,,briefliche Selbstempfehlung" (1,13-15) folgen läßt. 9 Ist Paulus in der ,))anksagung" ganz auf den "Heilsstand der Adressaten" konzentrie~ so lenkt er in der "brieflichen Selbstempfehlung" den Blick der Leser auf die eigene Person, macht Mitteilungen über seine Reisepläne und bekundet seinen dringenden Wunsch, soweit es an ihm liegt, auch ilmen Ka-r' 4t& in Rom das Evangelium zu verkündigen ( 1, 15: OÜ'troc; 10 ~v Kai ~tv rote; f.v Pc.lltJn EooyyEA.iaaaSal). Damit ist das Stichwort gefallen, das Anlaß zu den grundsätzlichen Äußerungen in 1, 16f gibt, die beinahe nahdos aus der "brieflichen Selbstempfehlung" hervorwachsen 11 :
ro
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16a yap E1UllCJXl>VO~.Ull t:ooyyiA.tov, 1 b ÖUV
mau:oovn, b2 louöaiq> 'tE xpcO'tOV Kai "EA.AllVl. 17a ÖlKawaUVll yix.p 8Eoo f.v a\.rtq> a1t0KaA.lntu:-ra1 , , EK ,
mCJ"tEroc; El<; manv,
Kaeroc; yiypa1t'tal. b 0 08 öiKalO<; EK ma-reroc; l;l\CJE'tat" b1 2
Vgl. F. ScHNtoER/W. STENGER. Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NNTS II ), Leiden 1987, 42-68. 10 Ebd., 58: ,,Dieser briefliche Selbstempfehlungsahdmitt dient dazu., dem brieflichen Redner rednerische Glaubwürdigkeit gegenüber den Adressaten zu verschaffen. Der Einsalz dieses Abschnitts ist bis auf den Galaterbrief immer durch den Einsatz einer epistolaren Fonnel erkennbar, die schon durch die Anrede ,Brlkler • den Redecharakter des Briefs deutlich macht". hn Röm lautet die Formel: ,)eh will euch, BrUder, aber nicht in Unkenntnis darüber lassen, daß (.. 11 Anders F. ScHNloF..RIW. SmNGBR. die in 1,16 die ,,Einleibmg des Briefcorpus" erkennen, also "den Beginn des Abschnitts nach der Selbstanpfehlung" (ebd., 54). Aber darf man nach 1,15 eine derartige ZAsur machen (so auch NES11..E-ALAND, Novwn Testamenturn Graece27, S. 410)? Nach H-J. Kl.AUCK, Vorspiel im Himmel? ErzAhltechnik und Theologie im MarJrus. prolog (BThSt 32). Neukirchen 1997, 34, hat die propo..ritio ,,nach den Regeln der antiken Rhetorik ihren Ort (... ) am Ende des einleitenden ExordilDD" (unter Verweis auf H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Gnmdlegung der Literab.awissensc Bd. 1, München 3 1990), was allerdings schon in der Antike umstritten ist Quintilian, lnst Ont. IV, 4: Sunt qui narrationi propo.ritionem subiuogant tamquam partem iudicialis maleriae: cui opinimi respondimus. mihi auff:m propo.ritio videtm- omnis confirmotionü initium. Anders das Alteste Handbuch der Rhetorik, das wir kennen, die An Rhetorica des Anaximmes (29, I): ,,Eine Einleitung (npooijuov) ist, allgemein gesagt, die Vorbereitung der Zuhörer und die Darlegung des Gegeostands (der Rede) ihrer Hauptsache nach fbr die, die ihn noch nicht kennen (10Ü npQ'YJlCl'tat; iv ICF.CpCV.aiql ~,; eiOOm ~). damit sie wissen, wmun es geht" (M. FUHRMANN, Anaximenis Ars Rhetorica quae vulgo fertur Aristotelis ad Alexandrum, Leipzig 1966, 59). 9
.r.
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l6a denn nicht schäme ich mich des Evangeliums, b 1 denn Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden. der glaubt, für den Juden zuerst und auch für den Griechen, b2 17a denn Gottes Gerechtigkeit wird in ihm offenbar aus Glauben zum Glauben, 1 b wie geschrieben steht: 2 b Der aus Glauben Gerechte wird leben. V. 16a bildet das Gelenk zwischen der "brieflichen Selbstempfehlung" und der Grundsatzerklärung von V.l6b.l7. 12 Einerseits begründet die Aussage die voranstehende Bereitschaftserklärung des Paulus, auch den Christen in Rom das Evangelium zu verkünden (wie er allen, Griechen und Barbaren, Weisen und Unverständigen seine Kundgabe schuldet [V.14]), andererseits ist sie Überschrift für die nachfolgende Explikation des Evangeliums, die mit einem begründenden ycip an sie angeschlossen ist: Paulus braucht sich des Evangeliums nicht zu schämen, denn es ist "Gottes Kraft", sein machtvolles Werkzeug zurRettung aller, die glauben, Juden und Heiden. Aus der "brieflichen Selbstempfehlung" wächst also die sich anschließende Grundsatzerklärung organisch hervor. Zeichnen die VV.l3-l5 die "subjektive" Seite der Evangeliumsverkündigung - den missionarischen Einsatz des Apostels-, so decken V .16b.l7 dessen "objektiven" Grund auf: die Frohbotschaft als machtvolles Heilsinstrument Gottes selbst. 'tO Eoo:yyiÄ.tov ist demnach das Leitwort, das in den Sätzen V .l6b.l7 expliziert wird. Deren Abfolge und Zuordnung sehen folgendermaßen aus: ( 16a: Gelenksatz) 16b: Obersatz 17a: Untersatz 17b: Begründung aus der Schrift (Zitationsformel- Schriftzitat) Formuliert sind Ober- und Untersatz im De.finitionssti/13 : Dominanz von abstrakten Nomina, Artikellosigkeit, definierendes ecniv. Dabei 12 M
BEINTI<ER. Souveränität. 259 Amn. I, spricht zu Recht von der ,,Brückenfuoktioo von 1,16a zum vmmgehenden Texf'. 13 Vgl. schonE. v. DosSCHOTZ, Zum Wortschatz und Stil des Römerbriefs., ZNW 33 (1934) 51-66: 64, zum Gebrauch von Nomina ohne Artikel: "1,16fwirkt vielleicht der Definitionsstil, ebenso 8,24." Dazu die Amn.6: ,,Dieser (s.e. der Defmitioosstil] muß noch eirunal form-
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enthält V .16 die eigentliche ,,Definition" des Evangeliums, ihr ist der Untersatz V.l7a mit einem begründenden oder explizierenden yvrt &ou in Ober- und Untersatz jeweils betont voranstehen, scheint der Brennpunkt der Satzreihe insgesamt doch die Glaubensthematik zu sein, denn sie ist es, die alle einzelnen Aussagen zusammenbindet. Nicht daß das Evangelium heilvolle Zukunft eröflhet, weil in ihm Gottes Gerechtigkeit offenbar wird, ist die Pointe der Satzreihe, sondern daß dies alles (was als solches unbestritten zu sein scheint) an den Glauben gebunden ist. Haben wir damit den "strittigen Punkt" der Grundsatzerklärung V.l6b.l7 erkannt? Hebt diese überhaupt auf einen solchen ab und in welchem Sinne tut sie das? Um hier Klarheit zu erhalten, empfiehlt es sich zunächst, die rhetorische Funktion der Verse fur die Briefdisposition insgesamt zu erörtern.
geschichtlich wttersucht werden. Vgl. mit Hbr II, I die platoniscben W1d aristotelischen Definitionen". Vgl auch BDR § 252. Zmn klassischen Definitionsstil (mit vielen Beispielen) vgl. jetzt C. ROSE, Die Wolke der Zeugen. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Untersuchwtg zu Hebräer 10,32-12,3 (WUNf 11160), Tobingen 1994, 93-96: Wenn in Definitiooen zumeist das l<mv rJi voransteht (vgl. auch Hebr 11,1 ), so bangt die Nachstellung des fxrriv in Röm l, 16b1mit der syntaktischen Zuordnung des Satzes zu V.l6a ZUS8lDIDCil. 14 StlaEml entspricht EU; a<~mpiav, das 6 fi 6\KatO; bc 7tiav.roc; nimmt V.17a auf. Das Schriftzitat fi1hrt also Ober- und Untersatz zusammen
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1.2 proposito und partitio in rhetorischen Handbüchern der Antike15 Spätestens seit Aristoteles 16 gehört an den Beginn einer kunstgemäßen Rede eine 1tp6e&au; oder, wie die lateinischen Handbücher den Terminus übersetzen werden, eine propositio, das heißt: "die kurze Zusammenfassung des (in der Rede) zu beweisenden Sachverhalts" (Rhet. m, 13,4 [1414b]) 17. So viele unterschiedliche Redeteile es geben mag"zur Zeit macht man Unterscheidungen, die schon ans Lächerliche grenzen" (ill, 13,3) 18 - , fiir unbedingt notwendig erachtet Aristoteles nur zwei: die npOe&au; und die 7tiCJ"tU; (die Glaubhaftmachung): "Man muß nämlich den Sachverhalt, um den es sich handelt, darlegen und schließlich den Beweis zu dem Gesagten antreten" (ebd. ID, 13,1). Darüber hinaus fänden sich "am häufigsten" noch der ,)!ingang" (7tpOO{f..Llov) und der ,,Redeschluß" (i'ltiAoyoc;); die "Widerlegung der Argumente des Gegners" gehöre zum Teil der "Glaubhaftmachung" (7tianc;) (ill, 13,4). 19 15
Zur Geschichte der hellenistisch-römischen Rhetorik vgl. G.A. l<ENNEDY, A New History of Classical Rhetoric, Princeton/New Jersey 1994. - Die im folgenden gebotene Auswahl verschiedener Definitionen von propositio Wld parlitio mochte auch zeigen, daß die Lehre von den Teilen der Rede im Fluß war und man mit wtterschiedlicheo Ausformungen derselben reclmen muß. 16 Die Autlistung der von den Sophisten geforderten Teile einer Rede bei Pl.AroN, Phaidros 266d-267a, enthllt an erster Stelle das ProömilDD (npooiJ,nov), an zweiter Stelle die Fnahlwtg (~\~)samt Zeugnissen (J.1ClPtUPial), an dritter die Beweise (1Elqlipux) Wld an vierter die Nennwtg von Wahrscheinlichkeiten (EiKOta)~ außerdem ist noch von Beglaubigung (m~) und Widerlegtmg (E'Aeyxoc;) die Rede. Von einer ~verlautet nicht.!. Daß Plat.on hier Solerates mit Genuß noch weitere Untergliederungen bis ins einzelne aufzAhlen laßt, zeigt den gegen die Dispositionslehre des Theodoros von Byzanz gerichteten ironischen Ton der ganzen Passage. Die vonuistotelische Ars Rhetorica des ANAxiMHNBs rechnet die ~(derBegriffebd. in 29,27; 3S,l)ZlD11 Proömium(vgl. obenAmn. 11). 17 Zitiert wird hier nach: ARISTOlF.l.ES, Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erlautenmgen Wld einem Nachwort von F.G. Sieweke, Mt1nchen 1980. Das ganze 13. Kap. des m. Buches (ebd. 202-204) ist der Dispositionslehre gewi~ wichtig dort der Hinweis darauf, daß einzelne Redeteile gattungsbedingt sind: ,,denn die Erzahlung (&~)gehört doch wohl allein zur Gerichtsrede. Wie aber kann beim genus demoostrativwn und bei der Volksrede das, was man eine Erzlhhmg nennt, vorhanden sein oder die Widerlegung des Gegners oder ein Schlußwort (hcV..oyoc;) m den Argumenten?'' Was die hier interessierende pi"'pp.fitio betriffi., so spielt sie vor allem in der Gericht.Jrede eine wichtige Rolle und wird deshalb auch in deren Ralunen behandelt 11 Diese Kritik richtet sich wie schon bei Platon (vgl. Pbaidros 266d-267a: vgl. Anm. 16) an die Adresse des Theodoros von Bynmz. 19 Zu den Redeteilen insgesamt vgl. R. VOLKMANN, Rhetorik der Griechen und Römer (HKAW ll.3), München 1 1901, 26-33; 1. MARTIN, Antike Rhetorik. Technik Wld Methoden
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Traditionell klingt die Definition der propositio im ältesten lateinischen Rhetorik-Handbuch, der anonymen Rhet. ad Her.: ,,Die Themenangabe (propositio) ist der Teil, wodurch wir summarisch darlegen, was wir glaubhaft machen" (ß, 28). 20 In Buch I spricht der Autor demgegenüber von der divisio, die auf das exordium und die narratio zu folgen habe: ,,Die Gliederung des Stoffes (divisio) ist der Teil der Rede, durch den wir eröflhen, worin Übereinstimmung besteht, was umstritten ist (quid in controversia sit), und durch den wir darlegen, über welche Punkte wir sprechen wollen (quibus de rebus simus dicturi)" (1, 4). 21 Zweierlei ist an dieser Definition bemerkenswert: Zum einen verbindet sich nach ihr die propositio mit einer divisio, der Ankündigung sozusagen von Unterthemenn, zum anderen soll die Themenangabe auf den Streitpunkt zwischen den Parteien abheben (quid in controversia sit) 23 , setzt also eine genaue Analyse des Konfliktfalls voraus, den die Rede (insbesondere vor Gericht) behandeln wird. Somit überschneiden sich hier zwei Teilstücke der Rhetorik: die Lehre von der Disposition einer Rede und die sog. Status-Lehre. 24 Letztere bezieht sich auf die Arbeitsphase, welche der eigentlichen Erstellung der Rede, also der inventio (der Stoffsammlung und konzeptionellen Planung der Rede) noch vorausliegt, und beinhaltet ein Verfahren, das helfen soll, aus den kontroversen Betrachtungsweisen eines Falles den präzisen Streitpunkt, um den gestritten wird und auf den es für die Entscheidung ankommt, (HAW 1113), MOnehen 1974, 52-166 (91-95: ,J)ie propo.ritio und partitio")~ M. FUHRMANN, Die antike Rhetorik. Eine Einft1hrung, München a1987, 83-98. 20 Rhetorica ad Herermi\Dll. Lateinisch-Deutsch. hg. u. nbersetzl v. T. NOSSLEIN (Sanunlung Tusculwn), Monehen 1994, 88f: ,,propositio est, per quam ostendimus summatim, quid sit, quod probari vo1umus." 21 Außerdem vgl. noch I. 17, wo es heißt, daß die distributio zwei Arten kennt die AufL.ah.. lung (enumeratio) und die Schilderung (expositio). ,,Die AuJZahlung wenden wir an, wenn wir aufi.ahlen (cum dicemus numero), über wieviel Punkte wir sprechen wollen"~ "wn eine Schilderung handelt es sich, wenn wir die Punkte, über die wir sprechen wollen. kurz und bündig srJlildem (exponimus breviter et absoluter. 22 Ähnlich CICERO, Oe inven. 1,31-33, wo auf die propo.sitio eine partitio (= divisio) folgt, und De oral D. 80, wo es in einer schulmaßigen Aufz.ahlung der Redeteile heißt ,,post autem [s.c. rem D811111'e•.. ) dividere causamaut propooere". Dazu A.D.l.JiEMANIH. PINKsTERIH.L.W. NELSON, M Tullius Cicero. Oe Oratore Libri m, KOIIIIIlelltar (WKLGS), 2. Bd., Heidelberg 1985, 292: ,,gemeint sind die divisio (partitio) und die propositio". ,,Die divisio endete mit einer propositio, die auch allein stehen k~ aut proponere also ,oder wenigstens.... 23 Vgl. auch CIC6Ro, De oral n. 331: ,,sequitur ut causa ponatur, in quo videndum est quid in controvemam venir~ I. 143: ,,postea (s.c. nach der narratio) controversiam constituendem... 24 Dazu R VOLKMANN, Rhetorik, 20-24~ J. MARTIN, Rbetocik, 28-52~ M FUHRMANN, Rhetorik. 99-113.
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herauszufiltem. 25 So heißt es in Rhet. ad Her. L 26: "Aus der Begründung der Verteidigung und aus dem Beweis der Anklage muß sich eine Untersuchung (quaestio) vor Gericht ergeben, die wir strittigen Punkt (iudicationem), die Griechen crinomenon nennen. Diese wird sich ergeben aus der Verbindung des Beweises und der Begründung der Verteidigung, z.B. auf folgende Weise: Wenn Orestes sagt, er habe die Mutter getötet, um den Vater zu rächen, so besteht die Frage, ob es rechtens war, daß K.lytaimnestra ohne Gerichtsverfahren getötet wurde. " 26 Die propositio ist der Teil der Rede, der den "strittigen Punkt" vorweg benennt. 27 Am ausführlichsten hat Quinti/ian sich zur propositio und partitio geäußert (Institutio Oratoria IV, 4; IV, 5). Über das hinaus, was wir bereits von den anderen Autoren her kennen, ist der folgende Akzent, den er gesetzt hat, bemerkenswert: "Ich [... ] sehe in dieser Ankündigung (propositio) den Beginn einer jeden Beweisführung (omnis confirmationis initium), der gewöhnlich nicht nur bei der Darlegung der Hauptfrage des ganzen Falles (quaestione principali), sondern auch zuweilen bei einzelnen Beweisen (in singulis argumentis) den Ausgang bildet" (IV, 4, 1). 28 Mit anderen Worten: Es kann eine zentrale propositio geben, aber auch sekundäre, die ihrerseits auf untergeordneter Ebene die Beweisführung strukturieren. 29 "Stellt man die Ankündigungen 25 ,J)er Begriff <miau; (stasisYstatus (Plwal statns) oder constitutio, der Streitpunkt. dh. der Pwtkt, mn den gestritten wird tmd auf den es auch ftlr die Entscheidung ankommt, steht im Mittelpunkt der Theorie des Hennagoras~ er hat dem Ganzen den Namen gegeben. Das System der Status diente als eine Art Schablone, die über den je gegebenen Stoff gelegt wurde und so das Problem hervortreten ließ, wn das es in dem betreffenden Falle ging" (M fuHR. MANN, RhetOOk, 103). 26 Desnaheren vgl. K. BARWICK. Probleme in der Rhet LL. Cicerosund der Rhetorik des sogenannten Auetor ad Herennium. Ph. 109 (1965) 57-74: 66-74 (Das Kpl~V [iudicatio] in Ciceros Rhet. 11. und der RH). 27 A.D. lEEMANNIH PlNKsTER, M. Tullius Cicero. De Oratore Libri In. Konunentar {WKLGS), I. Bd., Heidelberg 1981, 241, zu 1143 (controversiam constituendam): ,.Die propositio ist zwar nicht mit dem statw (constitutio causae) identisch. stellt aber immerhin auf
Grund der narratio den Streitpwlkt in subjektiver Farblmg dar." 28 QunmuANus, Ausbildung des Redners. Hg. und oben. v. H. RAHN, Erster Teil, Buch IVI. Dannstadt 1972, 494f 29 Medcwürdigenveise zieht J.-N. AI.Em, Cornment Dieu est-il juste? Clefs pour interpreter l'epi'tre aux Romains, Paris 1990, diese Quintilian-Stelle nicht heran. obwohl sie ihn bei seinem Versuch hatte beflOgein körmen, Röm von einem solchen System von proJJO.fitione3 ber zu crklaren: ,,au pluriel, car I•exp!:rience montre que Ia presence d• une propositio ou tbese (... ) principale n' intenlit pas celle de theses secondaires, qui explicitent, etalent en quelque sorte 1a principale et permettent a I' argumentation paulinienne de se preciser progressivement
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einzeln vor die Beweisgänge, darm handelt es sich um mehrere Ankündigungen (plures sunt propositiones); verbindet man sie miteinander, so gehören sie in den Bereich der Gliederung (si coniungantur, in partitionen cadunt)" (IV, 4, 8). Dieser widmet Quintilian dann ein eigenes Kapitel (IV, 5). 1.3 propositio oder partitio? Zur rhetorischen Funktion von Röm 1,16f Das Verhältnis des Paulus zur Rhetorik seiner Zeit zu bestimmen, ist hier gewiß nicht der Ort. 30 Dennoch sei in Kürze folgendes festgehalten: Auch wenn Paulus mit der hellenistisch-römischen Schulrhetorik sehr wahrscheinlich nicht vertraut war, so heißt das doch keineswegs, daß ihm deren Traditionen überhaupt unbekannt gewesen sein mußten. Man kann auch durch Nachahmung lernen, und Paulus wird oft genug die Gelegenheit gehabt haben, in den hellenistischen Städten Rednern auf der Agora zu lauschen; auch die Predigt in den Synagogen wird wohl von den rhetorischen Konventionen der Zeit beeinflußt gewesen sein. Wir dürfen nicht vergessen: Die Kunst der Rede als das Instrument gesellschaftlicher Kommunikation war ein wesentliches Ferment der hellenistischen Kultur. Hinzu kommt auf epistolographischer Seite folgendes: Die Briefe des Paulus wenden sich "nicht an Einzelpersonen, sondern ein größeres Publikum". Damit nähern sie sich "stärker als der dem Gespräch unter Freunden vergleichbare hellenistische Privatbrief dem Genus der Rede". 31 Deutlich wird das vor allem da, wo ein Brief(wie Röm) einem und nicht (wie etwa lKor) unterschiedlichen Themen gewidmet ist, was für eine Rede unbedingtes Erfordernis ist. 32 Was das spezielle et se deve1opper en une serie d'etappes facilement reperables" (34). Vgl. dazu meine Besprechung in: ThRv 90 (1994) 299( 30 Dazu vgl. zuletzt R.D. ANDERsoN JR, Ancient Rhetorical Thecxy and Paul (Cmtributioos to Biblical Exegesis and Theology 18), Kampen 1996, dessen Einschätzung, "the whole treatment of partes orationis is of little re1evance to an analysis of bis (s.c. Paul's) letters" (84 Amn. 220), ich allerdings nicht teile. 31 F. ScHNIDERIW. STENGiiR, Studien, SOf 32 Vgl. C.J. Cl..AssEN, Paulus tmd die antike Rhetorik, ZNW 82 (1991) 1-33:23: "Weon der Brief an die Römer mit einem Thema in seiner Struktur einem Iogos Ihnlieh ist, so gilt das gewiß nicht tnr die varii loci des Ersten Korintherbriefes". Was einem Briefschreiber ~t. namlich mehrere 1Dlterscbicdliche Themen in einem ScbriftstOck nacheinander zu behandeln (ebd., 8 Amn. 19 zu Cicero), das ist einem Redner nicht erlaubt. Vgl. auch DER.s., St. Paul's Epistlcs and Ancient Greek and Roman Rhetoric, in: S.E. PoR.TERif.H. ÜLBRICHT, Rhetocic, 265-291.
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Problem der Lehre von der Disposition der Rede angeh~ so scheint hier manches Allgemeingut geworden zu sein und gleichsam intuitive Anwendung gefunden zu haben. Man wußte einfach aus Erfahrung, daß eine ordentliche Rede, sollte sie erfolgreich sein, nach einer pragmatisch klugen Einleitung, bevor sie sich ins Einzelne verliert, möglichst präzis in thetischer Form zu sagen hat, worauf sie hinaus will und was ihr Anliegen ist. Selbst in literarische Werke, die ansonsten nichts mit Reden zu tun haben, hat diese Gewohnheit Eingang gefunden. 33 So überrascht es nicht, daß auch Paulus die propositio-Technik des öfteren zum Einsatz brin~ auch wenn die Identifikation der entsprechenden Passagen in der Forschung oft genug umstritten ist. 34 Ein deutliches Beispiel bietet lKor l,l8fals propositio für 1Kor 1,18-4,21 35 , das auch insofern bemerkenswert is~ als es Analogien zu Röm 1, 16f aufweist: ·o A.Oy~ yap 6 'tou cr'taupou
'tOL<; ~V a7tOA.A.qLivotc; ~ia tcmv, 'tote; BE croX;~votc; t}ltv ÖUV
Vgl. et\W das Predigtswnmariwn Mk 1,14f am Fnde des Evangelienprologs, das H.J. Kl..AUCK, Vorspie~ 34, nicht olme Gnmd mit einer propo.Yitio vergleicht Vgl. auch DBRs., HeUenistische Rhetorik im Diasporajudentwn: Das Exordiwn des vierten Makkabäerbuchs (4Makk 1,1-12), NfS 35 (1989)451465. 34 Vcx allem H.D. BETZ hat hier mit seinem Gal-Kommentar (Philadelphia 1979) eine rege Diskussion ausgelöst. die hier nicht dolrumcntiert werden muß. Nach ihm findet sieb die p~tio des Briefs in Gal 2,15-21. 3 W. SoiRAoE, Der erste Brief an die Kcxinther (1 Kor 1,1 ~. 1) (EKK VU/1 ), Zürich 1991, 167: "V.18 hat den Charakter einer propositio, die üblicherweise zwar den ru beweisenden Sachverhalt in der narratio zusammenfaßt, zugleich aber ,auch die Einleitung der cupmentatio' ist" (mit Verweis auf H. LAUSBERG, Handbuch, § 346). Vgl. ebd., 135 Anm. 226 ru alternativen Lösungen- Was die Reichweite von 1,18fbetrifft, so nennt G. ßoRNKAMM, Zmn Verständnis des Gottesdienstes bei Paulus, in: DER.s., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte Aufslitze L München 1966, 113-132: 119, nicht grundlos den M)yoc; 'tOO cnaupoö das ,,Leitwort des ganzen Briefs". 36 Bemerlcenswert ist. daß neben Röm 1.16( lKcx 1,18f auch in Gal 1,11( Pbil 1,12-14~ 1Thess 1,4f ein solcher Satz zum Evangelium im Briefeingang vorkommt, jeweils dem Kontext gemaß. Vgl.auch noch eirunal Mk 1,14(
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einem Schriftzitat flankiert wird. Kommt die Antithese Torheit (J..Lropia)Weisheit (aa (vgl. Röm 1,16b 1) möglicherweise durch einen schon traditionell etablierten Zusammenhang von A.Oyoc; und öuvaJ.Lu; Ot:ou. 37 Neben den auffälligen terminologischen Berührungen und übereinstimmungen von I Kor I, 18 mit Röm I, 16~ 8 sollte noch folgendes nicht übersehen werden, weil es der Profliierung von Röm 1,16 dient: lKor 1,18 deklariert den Bezug des "Wortes" antithetisch: einerseits zu "denen, die verloren gehen", andererseits zu "uns, die wir gerettet werden". Das "uns" ist im Parallelismus überschüssig und von daher besonders akzentuiert; 1,24 erläutert es: "den Berufenen selbst, Juden und auch Griechen (Iouöaiou; tE Kai ·'EA.Ä:rptv) 39 , (verkünden wir) Christus als Gottes Kraft (Ot:ou öuvaJ.llV) und Gottes Weisheit." Liest man Röm 1,16 und 1Kor 1,18 (24) synoptisch, dann kann man vermuten, daß das dortige lou&xiq> tE 1tpÖ)'tov Kai .,EÄ.Ä.T)Vl einerseits Zitatcharakter besitzt«>, andererseits im 7tp&'tov eine beabsichtigte Verfremdung der rezipierten Formel vorliegt 1• Daß Röm 1, 16f das Thema der nachfolgenden argumentatio bzw. die propositio principalis des Schreibens enthält, dürfte konsensfähig sein. 42 Wenn irgendwo, dann hat Paulus in seinem großräumigen und 37
Vgl. Jes 55,10f("deon wie der Regen[ ... ]. so auch mein Wort. das aus meinem MWlde konunt es ketut nicht leer zu mir zurOck. sondern wirlct, MW ich beschlossen. lDld tnhrt durch. \WZU ich es gesendet"~ Hebr 4,12 ('liilv yb.p o M)y~ roD &oü teal Evcpyrk~ lThess l.S t'OOyyawv TproV oUtc ~ EÜ; ~ f:v A0yq> ~OVOV fV.UJ. ICQt Cv 00~). Zu Rom 1,16 vgl. als Bt2ugstext du Prasbipt: 1.1 (EinyyiÄ.wv)- 4 (iv ~). W. ScHRAGE. Brie( 173. schUigt zu Recht vor••.ftlr das Auftreten von OOva,.lu; ansteUe der zu erwartenden Weisheit die Tatsache verantwortlich zu machen. daß sich ftlr Paulus lilM:xpu; vor aUem mit dem A.Oyoc; verbindet". 38 Außer Wort/EvangeÜIIIn, ~at; 9mt1 vgl. noch w\i; ~OJ.&ivau; mit E\(; <Jv der Juden auch schon ein Element der frühchristlichen Tradition (vgl. Mk 7,27; Apg 3,26; 13.46~ ~Paulus es hier aufgreift, besitzt aber Signalfunktion. 42 Vgl. etwa GA KENNEDY, New Tesrament lnterpretatim through Rhetorical Criticism, Chapel Hili 1984, I 53~ J.-N. AIErn. Dieu. 37. - Allerdings gibt es auch andere Lösungen: Z.B. erkannte P. MEl.ANcH'rnoN die proptJSitio principali.J in 3,21-31, der in 1,18-3,20 eine flankierende These (alle Menscben stehen lDllel" der SOnde) zur Seite gestellt sei~ 1,16f zog Melanchthon ZlDll exordium 1,8-17 (vgl. S. RAEDER. Melanchthon als Ausleger des Neuen
(ro
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thematisch höchst konzentrierten Brief an die Römer sich einer planvollen Disposition befleißigt; die propositio 1, 16f ist das Eröffilungssignal dafür. Umstritten ist aber, ob sich mit ihr auch eine partitio verbindet. Vorstöße in dieser Richtung wurden immer wieder unternommen. Den konsequentesten Versuch dürfte der noch ganz in der lebendigen Tradition der Schulrhetorik sich bewegende Johann Albrecht Bengel in seinem berühmten Gnomon Novi Testamenti vorgelegt haben. 43 In neuerer Zeit hebt man gerne auf die gliedemde Funktion speziell des Schriftzitats ab ("der Gerechte aus Glauben [= Kap. 1-4] wird leben [Kap. 5-8]")44, deutet aber auch die Themenangabe 1,16f insgesamt als partitio: Der Obersatz 1,16 mit seiner eschatologischen Klimax (Ei~ CJO>'t1'piav) kündige die Kap. 5-8 an (J Dupont) bzw. decke nach Ausweis von V. 16c den Brief bis einschließlich Kap. 11 ab (S. Lyonnet), wohingegen der rechtfertigungstheologische Untersatz 1, 17 die Überschrift für die Kap. 1-4 enthalte. 45 Einen eigenwilligen Vorschlag hat JD.G. Dunn gemacht, und zwar auf der Basis einer Deutung der FormelEK mau:ro<;, die das erste Glied auf Gott(= god's faithfulness ), das zweite auf den Menschen (= man' s faith) bezieht6:
Testaments, ThBeitr 29 (1998) 75-94: SOff). J.N. VORSmR, Strategies, 154-156, bestreitet den Versen ihre propositi~Funktion Wld nennt sie einen tramitus (nach l...AusBERG, Handbuch, § 343-347, scheint aber diese Unterscheidwlg gegenstandslos zu sein). 43 J.A. BENGEL, Gnomon Novi T~ti. Secundum editionem tertiam (1773) denuo recusus, Berlin 1860, 343: 1,16f = propositio, cmn summario confumationis: I. de fide et iustitia (= 1,184,25), 2. de salute sive vita (= 5,1-8,39), 3. de omni credente, ludaeo et Graeco (= 9,1-11,36). Die Paraklese (12,1-15,13) schöpfe gleichfalls aus diesen drei Themen. uz. in derselben Reihenfolge: l. de fide et (quia per fidem Iex statuitw") de amore (= 12,3-13,10", fides: 12,3.6~ amor: 12,9~ 13,8~ iustitiae definitio: 13,7 initio). 2. de salute (= 13,11-14~ salus: 13,11), 3. de ooniunctione ludaeorum et Gentiwn (= 14,1-15,13~ expressa de utrisque mentio: 15,8t). 44 So A. FEUILI..ET, La Citation d'Habacuc n. 4 et les huit premiers cbapi'tres de l'Epi'tn: aux Romains, NfS 6 (1959/60) 52-80: 55ff. auch A. NYGREN, Der Romermef, Göttingen 4 1965, 68~ C.E.B. CRANFIB1D, The Epistle to the Romans (ICC). Vol. 1, Edinburgh 1975, 102. Kritisch: U. Luz, Zum Aufbau von Rom l-8, ThZ 25 (1969) 161-181. 45 1. DuPoNT, Probleme, 365-397~ s. LvoNNET, Note, 301-316. 46 J.D.G. DuNN, ROOlllllS 1-8 (WBC), Dallas 1988, 37. 43f(im Anschluß an K. BARrn, Der Römerbrief, ZUrich 1984 = 13. \DlVeranderter Abdr. d. neuen Bearb. von 1922, 16~ vgl. auch DERs., Paul's Epistle to the Romans: An Analysis ofSbucture and Argument, ARNW n. 25.4 ( 1987) 2842-2890: 2847( Älmlich zuletzt S.K. STOWERS, A Rereading of RmliiDS. Justice, Jews, and Gentiles, New Haveo/London 1994, 198-202: "ek piste& in 1:17 means 'on the basis ofCbrist's faithfulness• [... ) The key question is not the believer•s faith but Jesus Cbrist's faithfulness in which the believers shares" (202~ mit lllterer Lit ).
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God's righteousness to faith: 'the rigtheous by faith ... ... shalllive' God's righteousness from faith: 'the righteous by God's faithfulness'
- 1:18-5:21 - chaps. 6-8 - chaps. 9-11
Danach bindet der Obersatz V.16b.c den ganzen Brief (Kap. 1-15) zusammen, wohingegen V.17 "the text for the main didactic section ( chaps. 1-11 )" liefert. Bezieht Dunn EK 1ticnEro<; auf Gottes Treue, so ist es nur konsequent, wenn er diese Bedeutung auch dem gleichlautenden EK 1tia-reroc; im Hab-Zitat unterlegt, allerdings gleichrangig mit dessen geläufigem Verständnis als "Glauben des Menschen", weshalb er für das Zitat mit Doppeldeutigkeit rechnet. 47 Problematisch sind diese unterschiedlichen Versuche aus zwei Gründen. Zum einen wird man ihnen mit Aletti48 einen "Mangel an Kriterien" vorhalten: Woher weiß man denn, daß 1,16 eher Kap. 9-11 als Kap. 5-8 ankündigt? Die Wiederaufnahme von Stichworten ("mots clefs") aus der propositio in bestimmten Abschnitten des Briefs sagt noch nichts über deren Verhältnis zu einem bestimmten Teilvers der propositio aus. Zum anderen widerstreitet die intern gestufte Logik von V. 16f mit Obersatz samt begründendem Untersatz und abschließendem Autoritätsargument der Idee einer Summierung von wichtigen Briefinhalten bzw. Aufreihung von Punkten, wie sie für eine partitio maßgebend ist. Vielmehr laufen V.16f, wie oben gezeigt, perspektivisch in einem einzigen "strittigen Punkt" zusammen, nämlich dem Glauben als dem Ort der Wirksamkeit Gottes im Evangelium bzw. der Offenbarung seiner Gerechtigkeit. Das aber entspricht ganz dem Profil einer propositio, wie es die antiken rhetorischen Handbücher gezeichnet haben: nämlich das, "worin die Meinungen gegensätzlich sind (quid in controversiis relinquatur)" (Rhet. ad Her. I, 17), auf den Punkt zu bringen; zum Beispiel "auf die folgende Weise: ,Daß die Mutter von Orestes getötet wurde, darin stimme ich mit der Gegenpartei überein. Ob Orest das mit Recht getan hat oder überhaupt tun durfte, darüber sind wir gegensätzlicher Meinung"' ( ebd. ). Allerdings tritt im Vergleich mit die47
Sein Hauptargwnent: Der Text ist von Paulus gezielt ambivalent (deliberotely ambiguow) gestaltet, da er keines der Genitivattribute zu ~ welche die beiden ilun gewiß bekannten Hab-Fassungen (M: in~,o~~~ LXX: iK Jticrn:ro; ~oo) bieten, übemonunen hat, so daß weder die Bedeutung ,,auf Gnmd seines (des Menscben) Glauben" noch die ,,auf Grund mei11er(Gottes) Treue" ausgeschlossen werden kann: J.D.G. DuNN, Romans, 4346,48. 48 J.-N. ALEn1, Dieu, 39f
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sem Schulbeispiel auch das besondere Profil von Röm I, 16f hervor: Daß die Selbst-Bindung Gottes im Evangelium ausschließlich an die 1ticrru; der "strittige Punkt" der propositio ist, sagt Paulus hier nicht ausdrücklich, gibt es aber mit der dreifachen [!] Nennung der mcrru; bzw. des 7ttO"tEUEtv in jedem der einzelnen Gliedsätze deudich zu erkennen. 49 Erst die Wiederaufuahme der propositio in 3,21-26.27-31 machtdarmdie "Strittigkeit" des Glaubens als solche dadurch explizit, daß sie ihn als 1ticrn<; lrpou Xptcnou dem vOJ.toc;, der als Faktor der Rechtfertigung auszuschließen ist (xrop~ vOJ.tou: 3,21.28), ausdrücklich entgegensetzt. So gesehen enthält zwar I, 16f bereits den "strittigen Punkt", doch in einer unpoiemischen Fo~ die vorerst ganz auf die Affirmation der eigenen Überzeugung setzt. 1. 4 Der "strittige Punkt". Zur Kommunikationssituation von Röm 1,16f 1. Beim Auetor ad Herennium heißt es, daß eine divisio nicht nur auszudrücken habe, quid in controversia sit, sondern auch, quid conveniat, also, worin Übereinstimmung herrscht (Rhet. ad Her L 4, vgl. I, 7). Heuristisch auf Röm 1,16f angewandt, bedeutet das: Wenn die ausschließliche Bindung des Evangeliums an die 1ticrru; (1rpou Xptcr-rou) 50 - "der Glaube Anfang und Ende"! - den kontroversen Sachverhalt benennt, der Paulus in der Kommunikation mit seinen Adressaten als klärungsbedürftig erscheint, dann wird man den Konsens, auf dessen Hintergrund der Dissens als solcher erst aufbrechen konnte, in der Rahmenaussage von 1, 16f sehen müssen, also in der Überzeugung, daß überhaupt das Evangelium Gottes in Jesus Christus definitiv den Menschen Gerechtigkeit und Heil erschließt. Daraus folgt für die Kommunikationssituation von 1, 16f: Paulus hat hier ein Gespräch im Sinn nicht überhaupt mit Juden, sondern konkret mit an Jesus glaubenden Juden, die Toratreue und Christusglauben in einer Von dieser Folcussierung der maru; in 1,16fher erlc1ärt sich m.E. auch die semitisierende Wendung iK ~ ri; mcmv (dazu A FRlEDR.ICHSEN, Aus Glauben zu Glauben: Rom 1,17, CNf 12 [1948)54), die besagt: "das Geschehen der Gerechtigkeit Gottes [ereignet) sich im Evangelium dort, wo der Glaube Anfang rmd Ende isf' (H Sc:HuER. Der Romerbrief [Hibl<. 6], Freiburg 1977,45, Hervorbeb.v.mir). Vgl. LXX Jer 9,2: iK KaKrov eU; Kalai; Ps 83,8: iK ~ eU; ~lv; 2Kor 2,16: iK Oava'tOU eU; 9clva't0v [ ... ] iK l;CIJil; eU; l;;cmiv(vgl. 3,18~4.17). so Es entspricht der streng definitorischen Form von 1,16f, wenn das ~v bzw. die hier bezoglieh ihres "Gegenstandes" noch nicht entfaltet wird. Vom Praskript, 1,3fS (e\(; imnKoitv 7ticm:.wc;). und 1,9 (ruayyf:Aiq> 'tOU uiOO ainoö) her ist aber die christologische Bestinunung des Glaubens schon ldar. 49
mc:rtU;
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für ihn unerträglichen Weise miteinander verbanden und so seine zugespitzte Antwort, die Behauptung der soteriologischen Exklusivität der mcmc; lrpoo Xpu:nou, erst auslösten. Tatsächlich fuhrt er dieses Gespräch dann auch über weite Passagen seines Schreibens, bettet es aber ein in die briefliche Kommunikation mit seinen römischen Adressaten, allesamt Heidenchristen (vgl. 1,5f 13; 11,13; 15,16.22ft), die er also an jenem Gespräch teilhaben läßt. So entwickelt sich die Kommunikation im Brief doppelbödig: Einerseits inszeniert er in ihm einen fiktiven Dialog mit streng toratreuen Juden(christen), andererseits hat er dabei sein römisches Publikum vor Augen, das er fUr seine eigenen theologischen Optionen in diesem Gespräch einnehmen möchte. Möglicherweise befürchtet er, daß auch bei den römischen Christen Mißverständnisse und Fehldeutungen bezüglich seiner Theologie kursierten, und ist deshalb im Interesse späterer missionarischer Zusammenarbeit (vgl. 15,22ft) bestrebt, ihnen ein authentisches Bild seiner Überzeugungen zu vermitteln, mit dem sie sich einverstanden erklären könnten. 51 Die Einbettung jener Kommunikation zweiten Grades in jene ersten Grades mit den Adressaten Roms ersieht man bereits am Übergang von 1, 13-15 mit den dortigen polaren Beschreibungen der Menschheit aus griechisch-hellenistischer Sicht ("Griechen und Barbaren", "Weise und Unverständige") hin zu 1,16 mit der entsprechenden aus jüdischer Sicht ("den Juden zuerst und auch dem Griechen"). Letztere signalisiert die von Paulus jener judenchristliehen Position gegenüber verttetene Entgrenzung des Heils in Jesus Christus in die Völkerwelt hinein, verrät also deutlich die Richtung, in der Paulus im folgenden argumentieren wird: Es geht ihm um die Klarstellung seiner Position, auch um ihre Verteidigung gegen Fehldeutungen, die wohl vor allem von Jerusalem aus gegen ihn in Umlauf gebracht worden waren. 52 2. Ein bezeichnendes Schlaglicht auf die "rhetorische Situation" wirft auch der Gelenkvers 1,16a, der die propositio einführt: yix.p E7ta\0XUVOJ.lat EooyyiA.tov. Diese Aussage wurde immer wieder psychologisierend gedeutet, das heißt, man hat nach mutmaßlichen "biographischen Beweggründen" Ausschau gehalten, "die den Apostel zu einer solchen Aussage veranlaßt haben könnten, etwa in dem Sinne,
ro
51
ou
J.N. VORSTER., Strategies, der auch auf seine Weise eine Analyse von 1,16f aus der Perspektive eines ,,interactional model" bietet, arbeitet Jedjglich die unmiUelblre Kommunikation mit den heidenchristliehen Adressaten heraus. 52 Die Abwehrstellung wird im npii)rov louSaiq> sichtbar, insofern es die Behauptung LOgen straft, Paulus löse das nF.pKJoov des Juden (vgl. 3,1 ft) auf.
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daß er den Verdacht habe ausräumen müssen, er scheue vor einem Besuch der Welthauptstadt zurück und habe sich aus Furcht vor den dort ansässigen Bildungseliten (vgl. die a<><pai in Vers 14) bisher nicht nach Rom gewagt". 53 Maßgebend für die Überwindung derartiger Auslegungen war 0. Michels Studie zum Sprachgebrauch von E1tal<JXUV&a0a.t5\ in der er mit Hinweis vor allem auf Mk 8,38 (vgl. Lk 9,26) und 2Tim 1,8.1255 geprägte frühchristliche Bekenntnissprache erschloß: das "Sich-nicht-schämen" entspreche einem feierlichen ÖfJ.oA.oyEiv, müsse also als "eine negative Fonnulierung fur das positive Ereignis des ,Bekennens' in einer bestimmten geschichtlichen Situation der Anfechtung (ÖJ,loÄ.O)'Eiv)" 56 verstanden werden. M. Beint/cer nennt "die damit vollzogene Umkehrung des ,Sich nicht schämen' in ein gesteigertes(!) Bekennen des Guten zuviel". "Das Bekennen führt in Konfliktsituationen und will sich in ihnen bewähren". 51 Letzteres ist gewiß richtig, bedarf aber m.E. noch der literarischen Verortung, das heißt der Rückbindung an die Frage, warum V.16a gerade Auftakt zur propositio ist bzw. ob ein Bezug von V.l6a zu der in V.l6b.l7 aufscheinenden Konfliktsituation besteht. Das führt dann zu einer nochmals neuen Deutung des Versteils. ,,Ich schäme mich des Evangeliums 53
So die Zusamrnenf&SSWlg dieses Deutungstyps bei M BEINTKER.. Souveranität. 260 mit Anm.2. 54 0. MICHEL, Zwn Sprachgebrauch von btai.<JXUvotJal in ROm 1:16, in: R PAULUS (Hg.), Glaube und Ethos (FS G. Wehrung), Stuttgart 1940, 36-53. ss Allerdings können diese Belege aus dem 2. Timotheusbrief nicht als se/b$1/lndige Zeugen fUr den entsprechenden Sprachgebrauch von bta~.<JX6vroeal gewertet werden, weil das Proömiwn von 2Tim (1,3-12) sich literari.Jch offenlamdig an ROm 1,8-17 anleimt (vgl. G. l...oHFINK, Die Vermittlung des Paulinismus zu den Pastoralbriefen. in: Olms., Studien zum Neuen Testament (SBANT 5], Stuttgart 1989,267-289: 271-273). Dennoch bat die These 0. Michels Bestand Aufschlußreich (auch fUr Röm 1, 16f) ist. daß nach 2Tim 1,8.12 das ,,Sichnicht-schämen" bzw. .,bekennen" (vgl. ITim 6,12f) entsprechend 2Tim 1,15-18 (vgl. V.l6: tiJv &Aucriv ~ 00c btai.CJlUvarU nicht nur vor dem Forum der ungllubigen Welt, sondern vor allem auch in kirrhlichen Konfliktsituationen gefordert ist 56 0. Mla-mL.. Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 14 1977, 86. Ebenso dann auch E. KAsEMANN, Römer, 19: .,eine gepragte Formel der Bekenntnissprache [... ], welche in pathetischer Negation ein
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nicht", was auch wiedergegeben werden kann mit: "ich stehe zu ihm, verteidige es", dürfte Ausdruck der apologetischen Sprecherhaltung sein, die Paulus in seinem Brief über weite Strecken hin einnehmen wird. Dabei meint er natürlich das Evangelium, so wie er es versteht undwie man es anders auch gar nicht verstehen kann (vgl. Gal1,6-9)~ dieses will er im folgenden gegen Mißverständnisse und Fehldeutungen vor allem von Seiten der strengen Judenchristen verteidigen. In V.16a klingt das schon an, so daß die derart eingeführte propositio Licht auch auf die "rhetorische Situation"ss des Schreibens wirft. 1. 5 Die
mcrnc; im Römerbrief
Beim Auetor ad Herennium lesen wir: "Ist der strittige Punkte gefunden, dann muß man die ganze Begründung der Rede insgesamt darauf ausrichten (omnem rationem totius orationis eo conferri oportebit)" (1, 26). Läßt sich dergleichen auch beim Römerbrief feststellen? Nur einige Beobachtungen seien angeführt. s9 1. Programmatisch ist schon im Präskript die Erwähnung der tmaKo..; 1ti
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II
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paulinische Basissatz 3,28 (vgl. 3,20): "der Mensch wird durch Glauben gerechtfertigt ohne Werke des Gesetzes", in seinen wichtigsten Bezügen entfaltet: 1, 18-3,20 stellt durch den Aufweis, daß kein Mensch in seinem Leben dem Gesetz entspricht, vorweg seine theologische Not-wendigkeit fest, 3,21-31 bietet seine christologische Begründung und 4,1-25 den Nachweis seiner Schriftgemäßheit. 5,1 ("gerechtfertigt also aus Glauben) faßt schließlich die voranstehende Erörterung der Rechtfertigungsbotschaft prägnant zusammen. 60 3. In 6,1-8,39 ist die Glaubensthematik, abgesehen von 6,8, terminologisch bekanntlich abwesend, wirkt aber inhaltlich nach. In 6, 1-8, 11, wo Paulus sich apologetisch gegen den Vorwurf zur Wehr setzt, seine These von der Rechtfertigung durch Glauben ohne Werke des Gesetzes zöge eine ethische Entleerung menschlicher Existenz vor Gott nach sich, arbeitet er die Gehorsamsstruktur des in der Gnade Gottes möglich gewordenen neuen Lebens der Glaubenden heraus. Da es also um die ethische Lebensgestalt der Gläubigen im Sinne der ihnen geschenkten, wirksamen Freiheit von der Macht der Sünde geht, Paulus aber die Rede von der Rechtfertigung aus Glauben in 3,21-4,25 an der vorbehaltlosen Annahme der Sünder durch Gott als dem principium ihrer neuen Existenz festgemacht hat, begreift man, warum von 6, 1 ab die Terminologie des Glaubens in den Hintergrund tritt. Andererseits ist das Thema hier insofern präsent, als Paulus jetzt verdeutlicht, daß dem Glauben Gehorsamsstruktur bleibend eingestiftet ist (vgl. 1,5). 4. Röm 9-11 ist durch seinen Mittelteil (9,30-33) 10,1-21 an die grundlegende Erörterung der Rechtfertigung allein aus Glauben von Kap. 3f zurückgebunden. Maßgebend ist die Frage, warum die Mehrheit in Israel nicht zum Glauben gelangt ist, wo doch Gott alles dafür getan hat. Die "Strittigkeit" des Glaubens erscheint hier als seine "Anstößigkeit" für Israel 61 , die darin besteht, daß nun alles Heil ausschließlich an Jesus, den "Stein des Anstoßes und Fels des Ärgernisses" in Zion (9,33), gebunden ist. Auf die Rolle der Glaubensproblematik fur Kap. 11 (vgl. 11,20.23) ist unten einzugehen.
60 S:l (,,wir haben den Zugang zw- Gnade im Glauben'') lDlterstreicht das noch einmaL das bei einigen Textzeugen fehlende "tft 7tiam dürfte angesichts des paulinischen Interesses an der Glaubensthematik Ul!pr(lnglicb sein (zwn Problem vgl. B.M. M1m.oER.. A Textual Commeotary on the Greek New Testament, Stuttgart 2 1975, 511 t). 61 Vgl. 9,31f ,.Israel velfolgte das Gesetz der Gerechtigkeit, gelangte aber nicht hin zum Gesetz. Weshalb? Weil (es) nicht aus Glauben, soodcm wie aus Weden (Gerechtigkeit zu erlangen suchte}, angestoßen sind sie am Stein des Anstoßes, wie geschrieben stehf'.
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ma-ru;
5. Daß die als der "strittige Punkt" des Schreibens auch in seinem paränetischen Teil präsent bleibt'2, zeigt zunächst sehr schön ein synoptischer Vergleich des sog. "Charismenkatalogs" 12,3-8 mit seiner Parallele 1Kor 12,4-11. Über diese hinaus hat Paulus nämlich das Thema des Glaubens in Röm 12,3 ("einem jeden, wie Gott [ihm] das Maß des Glaubens zugeteilt hat") und 12,6 ("in Entsprechung zum Glauben") an prominenter Stelle in den Katalog als grundlegendes theologisches Kriterium eingetragen. 63 6. Auch die konkrete ekklesiologische Mahnung an die "Starken" und "Schwachen" (14,1-15,6) nimmt Maß am "Glauben" als dem entscheidenden Kriterium der Verantwortung vor Gott. 64 Aufschlußreich ist hier wiederum ein synoptischer Vergleich mit den entsprechenden Passagen in 1Kor. Er zeigt: Die Rolle, die dort, in 8, 7-13 und 10,2311,1, die cruveiBrpu; spielt (2 bzw. 5 mal!), übernimmt in Röm 14,22f die mrrru;. 6 s Anstatt diesen Wechsel aus systematischen Erwägungen zum Verhältnis der beiden Begriffe heraus zu erklären, wird man bei Röm 14 eher den von 1, 16f her diktierten Makrokontext des Briefes zu berücksichtigen haben. Dann zeigt sich formal, daß Paulus den "strittigen Punkt" des Schreibens bis zuletzt nicht aus dem Auge verliert, und inhaltlich, daß er ihn auch bezüglich seiner ekklesiologischen Relevanz zu würdigen versteht: "Alles, was einer, wenn auch vielleicht im Namen des Glaubens, aber nicht aus Glauben, nämlich nicht aus der Freiheit des Glaubens heraus tut, ist Sünde. Und vor solcher Sünde soll der Bruder den Bruder bewahren", anstatt ihm die eigene Überzeugung als angebliche Glaubenspflicht aufzunötigen. 66 Grundgelegt ist ein derartiger Respekt vor dem Gewissen des anderen im christologischen "Gegenstand" des Glaubens, nämlich im Herr-Sein Jesu (14,8-12); ihm gegenüber hat einjeder }Ur sich selbst Rechenschaft abzulegen (14,4fl). 62
Vgl. M.
THEOBAID,
Rechtfertigung tmd FJcklesiologie nach Paulus. Anmerkungen
ZW"
"Gemeinsamen Erldärung zur RechtfertigtalgSlebre", ZThK 95 ( 1998) 103-117: I09f, 111 f 63 IKor 12,9 ("einem weiteren Glaube in demselben Geist')- dieser Vers hat in Rom 12 keine Entsprechung! - meint nicht den rechtfortigenden Glauben, sondern den Berge versetzenden Glauben. "wie er auch 13,2 als außergewölmliche Begabung erwähnt wird (vgl. Mt 17,20; Mk 9,23~ 11,23) tmd manchen Heiligen und Mystikern im Sinne einer besonderen Glauhmskraft zukonunf' (J. KREMER, Der erste Brief an die Kcxinther (RNf], Regensburg 1997, 264 ). mO'tfinv im Absclmitt Rom 12f noch in 13,11. 64 7rimu;: 14,1.22.23 (alsoalsRalunen lDD das Kap. 14 gelegt!). ~v: 14,2. 6 s Der Begriff~ fehlt in Rom 14! 14,5 formuliert &caaroc; iv 't(j) iö1ql wt nA.~. Vgl. auch U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, Bd. 3 (EKK VI/3), Einsiedeln 1982, 97.
66Ebd.
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7. Röm 15,7-13 zieht die "Summe" des Briefs, erfilllt also die Funktion eines imA.oyoc;. 67 Der dazugehörige Segenswunsch V .13 versammelt mit den Begriffen Hoffnung, Freude, Frieden, Glauben, Kraft des heiligen Geistes die Leitlexeme des Briefs, die "den Leserinnen und Lesern gleichsam als Orientierungsnetz über den ganzen Römerbrief' dienen68 ; er nimmt das Grundanliegen des Schreibens, in traditionelle Sprache gekleidet, an seinem Ende sozusagen ins Gebet, wobei der Akzent ein letztesmal auf dem Glauben ruhf9: "Der Gott der Hoffuung erfülle euch mit lauter Freude und Frieden im Vollzug des Glaubens (tv rtjJ muTEU&l v), auf daß ihr überreich seid (Ei~ 'tO m:ptaa&Ut:tv) an der Hoflhung70 in der Kraft des heiligen Geistes (tv 8uvaJl&t nvcuparoq ay{ou)!" Die knappe Übersicht über die Verwendung von mCTtU; und mmEi>Etv im Briefkorpus dürfte bestätigt haben, daß die Bindung des Evangeliums an den Glauben Jesu Christi in der Tat den "strittigen Punkt" der propositio darstellt. Paulus jedenfalls hat sich in den Argumentationen seines Schreibens, aber auch in dessen Paränese erstaunlich konsequent daran gehalten - ein Zeichen für die innere Einheit seiner Konzeption! 1. 6 Röm 1, 16 als propositio principalis des ganzen Schreibens 1. Bereits das Ergebnis von 1. 5 spricht zugunsten der Annahme, daß 1, 16f die propositio des ganzen Schreibens ist, zum einen von Röm 1-11, aber da die Paränese in großen Partien (v.a 14,1-15,6) die ekklesiologische Anwendung der Rechtfertigungslehre darstellt1 1, auch von Röm 12,1-15,6. 2. Wichtig für uns ist die Feststellung, daß die propositio vor allem auch die Fragestellung von Röm 9-11 abdeckt. Dessen wird man Vgl. M. THEOBAlD, Römerbrief Kap. 12-16 (SKK.Nf 6/2), Stuttgart 1993, 185~ G. SASS, Röm 15,7-13- als Swnme des Römerbriefs gelesen, EvTh 53 (1993) 51(}.527. 68 M. MOUER. Vom Schluß zwn Ganzen. Zur Bedeutung des paulinischen Brietk(X])USabschlusses (FRLANT 172), Göttingen 1997, 228. 69 Das ersieht man an der verbalen Fonnulierung mit m.atruetv gegenOber den beiden Substantiven xapa und~ sowie an der Endstellung des iv tiil m.O'tEilelv im eigentlichen Wunsch-Satz, die der Stellung des iv ~-·· in der Konsekutiv-Phrase entspricht 70 Auch das Stichwort 1tE.ptam:OO.v bezeichnet ein Leibnativ des Römerbriefs (Kap. 5!): M THEOBAI.D, Die Oberströmende Gnade. Studien zu einem panlini~ Motivfeld (FzB 22), WOIZburg 1982. 71 Vgl. M. THEOBALD, Rechtfertigung, 109ff. 67
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gewahr, wenn man die Bedeutung von 1,16b.c. als Obersatz der propositio realisiert: a) Paulus nennt das Evangelium ,)Jacht Gottes zur Rettung fiir jeden, der glaubt [... ]". Bei der theozentrischen Struktur der Aussage ist auszuschließen, Gottes Macht werde hier in ihrer Durchsetzungskraft davon abhängig gemacht, ob denn nun jemand glaubt oder nicht; Gottes Wort und des Menschen Antwort stehen nicht auf gleicher Stufe, vielmehr ist Paulus davon überzeugt, daß das Evangelium als Macht Gottes die Bedingungen seiner Durchsetzung unter den Menschen in der Kraft der Gnade sich auch selbst schaffen wird. b) Welche Tragweite diese seine Überzeugung besitzt, wird klar, wenn man über den Sinn des gezielt gesetzten "zuerst (7tpiilrov) dem Juden" nachdenkt. Offenkundig bedeutet dies nicht lediglich einen missionsgeschichtlichen Vorsprung der Juden derart, daß das Evangelium "zuerst" zu ihnen, dann aber infolge ihrer Ablehnung in die Heidenwelt gelangt sei (vgl. 11 , 11. 15. 30), sondern meint den dahinter stehenden primären Bezug des Evangeliums zu ihnen aufgrund der vorausliegenden Bundesgeschichte Gottes mit Israel, wie sie in 3,1-8 und 9,1-5 von Paulus ausdrücklich in Erinnerung gerufen und festgehalten wird (wahrscheinlich um anders lautende Unterstellungen gegen ihn apologetisch zu unterlaufen). Von bleibender Qualität ist dieser Bezug des Evangeliums zu Israel deshalb, weil Jesus auch als der an Ostern zum ,,Herrn" der Heidenvölker Inthronisierte Israels Messias bleibt (1,3f; 9,5; 15,8).n Das freilich fiihrt angesichts des gegenwärtigen Neins Israels zum Evangelium zu der aporetisch scheinenden Frage, wie sich denn die behauptete Macht des Evangeliums in Zukunft auch an Israel als wirksam erweisen wird, was Paulus in Röm 9-11 verhandeln wird. Themasatz auch fiir Röm 9-11 ist der Obersatz der propositio also gerade wegen seiner streng theozentrischen Struktur73 . 3. Zum Teil wörtlich wird die propositio 1,16f in 3,2lf aufgegriffen74, wobei es bemerkenswert ist, daß dies nicht für deren Obersatz n Dazu M. THEOBAID, ,,Dem Juden zuerst und auch dem Heiden". Die paulinische Auslegung der Glaubensformel Rom l,3f, in: P.-G. MOll..ERIW. SmNGF.R (Hg.), KontinuiW und Einheit(FS F. Mußner), Freibw'g 1981,376-392. 73 Diese beherrscht im übrigen auch Rom 9-ll, insbesoodere Kap. II (in dem der Name Jesu Christi gar nicht tllllt!), so daß etwa M. RESE, Die Rettung der Juden nach Rom II, in: A VANHOYE (Hg.), L'Apötre Paul: Persoonalite, style et cooception du ministere (BEIL 73), Louvain 1986, 422430, christologische Bcznge in Rom II überhaupt in Abrede stellen kOIUlte.
74 Das
gilt v.a ftlr 1,17 (~liCClt<Xl\NrJ yb.p &00 (... ) rowlalAUmroat): vgl. 3,21a 7tECpCLvEprouu)- 3,21/ knüpft also genau gesehen am .. Untersatz" der
(~tiCCl~ OroU
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insgesamt gilt, denn die Rede vom ,,Evangelium als Kraft Gottes zur Rettung (d~ aortllPiav)" hat in 3,21-4,25 kein Echo, erst in 5,1-11 und 8,12-39. 75 In 10,1 scheint Paulus dann die propositio principalis wieder vor Augen zu haben, wenn er das Mittelstück seiner IsraelErörterung Kap. 10 mit der persönlichen Notiz eröffuet: ,,Brüder, der WwtSch meines Herzens und das Gebet zu Gott (zielt) für sie [die Juden] auf Rettung (d~ arotr)piav)." Damit ist das Thema angeschlagen, das schließlich in 11 ,26 ("ganz Israel wird gerettet werden [aroOi)aE'tat]") zur Klimax von Röm 9-11 werden wird: die Errettung ganz Israels. Allerdings macht der Gebetswunsch des Apostels in 10,1 noch einen verzweifelt-aussichtslosen Eindruck, denn die nachfolgenden Ausführungen 10,1-21 verschärfen nur die Aporie der gegenwärtigen Lage: Wie soll man zu einem hoffuungsvollen Urteil über die vielen in Israel gelangen, die sich nicht zu J esus bekehrt haben, wo doch alles arn Glauben hängt? ,,Denn wenn du mit deinem Mund bekennst: ,Herr Jesus', und du in deinem Herzen glaubst: Gott hat ihn von den Toten erweckt, dann wirst du gerettet werden (a0l011an); denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund bekennt man zur Rettung (Ei<; OCO'tflPiav)" (1 0,9f). Neben der Wendung E~ aetm'1Piav (10,1.10 76), dem 1tW; 6 mcn&l>rov (10,4.11.13) und natürlich dem Leitwort BtKatomJVl'\ (10,3-6.10) ist es schließlich noch die Formel "Jude und auch Grieche" (10,12), welche die Anhindung von Röm l 0, der inneren Mitte der drei Israel-Kapitel, an die propositio principalis erweist. Freilich ist diese nicht als solche als Leitsatz aufgenommen, was auch nicht zu erwarten wäre, aber sie ist in ihren wichtigsten Momenten präsent. In 10,4 ('tiM><; yap vO.,Wu Xpta'tOc; ciq t5tKatoo{JV11V mivrz TQJ maT&oovn) erscheint sie zudem in eine untergeordnete propositio übersetzt, die als Überschrift für 10,5-21 dient.
propositio an! - , aber auch ftlr das navd 'tij) 7M'tEix>vn aus V.l7 (damit vgl. 3.22: Eit; MvtOO; toU; 1tlO'tEUovtae;). Dem Habakuk-Zitat 1,17b entspricht die generalisierende FeststeUung 3.2lb: ~ imO 'tOll v6j.wu Ka1.1tp0Cptltii)v. l,l6c entspricht 3.29. Vgl. auch J.-N. AlErn, Dieu, 50. 75 Vgl. 5,9 (~). 10 (~); 8,24 ('tfi yap Wri& ~). Die Dimension der erst zukOnftig realisierten oc.mpia trzw. t;can1 (vgl. I , 17b) wird bekanntlich in diesen beiden gro8en Absclmitten des Briefs von Paulus bebandell 76 Hinzu kommt noch das Verb jeweils im Passiv (~1) in 10,9.13.
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2. Die Prophetie von der Errettung ganz Israels (Röm 11 ,25-27) Natürlich ist es hier nicht möglich, auf all die vielen Probleme einzugehen, die dieser Text nicht nur in exegetischer, sondern auch in hermeneutischer Hinsicht bereithält. n Im Sinne der oben gewählten Themenstellung interessieren nur die folgenden Fragen: Werm man von der inzwischen gut begründeten These ausgeht, daß Israel nach 11,25-27
auf einem Weg abseits der Evangeliumsverkündigung der Kirche gerettet wird - bei der Parusie des Herrn durch Gottes sündenvergebendes Tun, in dem er mit seiner Bundestreue zu Israel ernst macht18 -, und gleichzeitig von der überragenden Rolle der propositio 1, 16f für das Konzept des ganzen Briefes überzeugt ist, dann stellt sich die Frage, ob und wie Paulus den "strittigen Punkt" der proposito auch in Röm 11 zum Zuge bringt (2.2). Zweitens geht es um die Begründung des Satzes "ganz Israel wird gerettet werden" (2.3). Wenn dieser Satz auf der Überzeugung von Gottes Bundestreue zu Israel auftuht, die auch hinter dem 7tpÖ)'tov lou&xicp der propositio I, 16f stehen dürfte, dann stellt sich die Frage, wie sich das zur propositio insgesamt verhält bzw. ob denn 11,25-27 n Vgl. die Auflimmg der einzelnen Fragen in der jtlngstcn. ausgezeichneten Bearbeitung des Textes durch W. ~<ELLER. Gottes Treue - Israels Heil. Rom II ).S-27 - Die These vom ,,Sonderweg" in der Diskussion (SBB 40), Stuttgart 1998, 64( Da der Autor den gegenwärtigen Stand der F
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nicht eine "Rettung ganz Israels" behauptet, die nicht nur an der Evangeliumsverkündigung der Kirche vorbei erfolgt, sondern darüber hinaus auch noch in der Erwählung Israels in seinen Vätem gründet - also nicht in Tod und Auferweckung Jesu als dem grundlegenden soteriologischen Geschehen? Doch setzt diese Frage eine Entgegensetzung voraus, die für Paulus gerade nicht bestanden hat; so leitet sie uns dazu ~ genauerauf den Text zu hören. Dessen pragmatisches Ziel (11,25b: "auf daß ihr nicht bei euch selbst klug seid") besagt schließlich einiges darüber, warum es Pflicht einer heidenchristlich geprägten Kirche zu sein hat, sich selbst im Angesicht Israels zu begreifen (2.4). 2.1 Kontext, Form und Stil von Röm 11,25-27 Gegen eine gewisse Tendenz der gegenwärtigen Beschäftigung mit 11,25-27 kann man nicht deutlich genug betonen, daß der Abschnitt weder aus dem unmittelbaren noch aus dem weiteren Kontext isoliert werden darf. Hier liegt besonders an der Feststellung, daß 11,25-27 aus der voranstehenden bildhaften Mahnrede an die Heidenchristen hervorwächst und deshalb vor allem das sog. Ölbaumgleichnis mit zur Interpretation von II ,25-27 heranzuziehen ist. Andererseits scheint für eine Auslegung dieser Verse die Einsicht noch zu wenig fruchtbar gemacht worden zu sein, daß 11,25-27 zusammen mit II ,28-31 ein Diptychon bilden, dessen zweite Tafel V.28-31 die erste V.25-27 gemäß der Intention des Paulus aufschließen will. 79 Was Paulus in 11 ,25-27 in Gestalt eines dreigliedrigen (2 + 1) Offenbarungsspruchs (11,25c.d.26a) mit Schriftbeweis (V.26b-27) und vorangestellter Einführung (V.25ab) als autoritativ-verbindlichen Bescheid kundtut, das versucht er in V.28-31 begrifflich-theologisch einzuholen. Dem entsprechen die in beiden Texthälften eingesetzten formalen und stilistischen Mittel: In V.25-27 ist es, unabhängig von der Frage, aufwelchem Weg er zu seiner Erkenntnis gelangt ist, der Rekurs auf Autoritäten: die Gottes selbst, der hinter der Reklamation des Offenbarungsspruchs als "Geheimnis" (J.L\.XJ'tiptov) steht, und die Schrift, deren Aussagen dem f.1\.XJ'tiptov entsprechen und es stützen. In der zweiten Texthälfte sind es demgegenüber spezifisch argumentative Mittel, die Paulus zum Einsatz bringt. 80 Daß V.28 zudem syntaktisch nahtlos an V.25-27 79
Vgl. M. TlffiOBALO. Gnade. 16lf. Im einzelnen handelt es sich dabei a) tun begriftliche Differermenmgen (V.28: .,einerseits [J!iv]- ,,andererseits [oo]) 1Dlter Zuhilfenalune wichtiger paulinischer Leitlexeme wie ,,Erwahlung" und ,,Evangeliwn". b) Vergleiche (V.30f). aber auch c) den Rekurs auf Axiome der paulinischen Theologie (V.29.32). 80
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anschließt, bestätigt den engen Bezug der beiden Hälften zueinander. Für eine Deutung von 11,25-27 folgt daraus: Mit V.28, der an der Spitze der zweiten "Tafel" V.28-32 steht' 1, liefert Paulus selbst die beiden entscheidenden Kategorien, mit deren Hilfe die prophetische Kundgabe des "Geheimnisses", aber auch schon die auf diese zulaufende Mahnrede an die Heidenchristen (11, 13-24) theologisch aufzuschließen sind: ,,hinsichtlich des Evangeliums (EooyyiA.tov) sind sie Feinde um euretwillen, aber hinsichtlich der Erwählung (&IÜ..oy'ftv) sind sie Geliebte um der Väter willen." 2.2 .,Wenn sie nicht beim Unglauben bleiben" (Röm 11,23) ,,Einen üppigen Ölbaum von schöner Gestalt hat der Herr dich genannt", heißt es im Buch Jeremia über Israel (Jer 11,16a). Paulus greift in 11, 16b-24 dieses biblische Symbol auf, bereichert sein Bildfeld aber mit einer Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungsträger (Edelölbaum Wildölbaum; Wurzel~ Zweige; eingepfropfte Schößlinge usw.) und entwickelt aus ihnen eine eindrucksvolle Mahnrede an die Heidenchristen Roms. Den "strittigen Punkt' seines Schreibens- den Glauben an Jesus Christus - hat er dabei keineswegs vergessen, räumt ihm vielmehr in seiner Bildgeschichte, die den Blick von der "Wurzel" des Baums bis hin zu seiner Krone lenkt, also das Ganze des Baums und seiner Geschichte einschließlich seiner von Gott gewollten Vollgestalt ins Auge faßt, einen entscheidenden Platz ein. Denn die Krise, die dieser Baum durchleiden muß, hängt mit dem Glauben zusammen: "aufgrund von Unglauben (a7tu:ni~) wurden" jene Zweige "ausgebrochen, du aber stehst im Glauben ('t"f\ mmEt)" (11,20a) . .,Aber auch jene, wenn sie nicht bleiben beim Unglauben (a1tuni~), werden [wieder in ihn] eingepfropft werden" (11,23a). Offenkundig handelt es sich hier - ganz im Sinne der propositio 1, 16f und des Schreibens insgesamt - um den Glauben an Jesus Christus, denn jene Zweige, die ausgebrochen wurden und wieder eingepfropft werden sollen, stehen ja fur die Juden, die nicht zum Glauben an ihn gelangt sind ( 10, 16a). Kriterium, das über die Zugehörigkeit zum Baum befindet, ist also der Christus-Glaube. Allerdings darf man dieses "Kriterium" schon von der Logik der Bildrede her nicht verabsolutieren. Entsprechend dem "Interpretationshinweis" von 11 ,28, der auch fur das "Ölbaumgleichnis" gültig sein Die drei nachfolgenden Sätze V.29.30ftmd 32 sind jeweils mit einem begründcoden y6p angehängt 81
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dürfte, steht auch hier die Polarität von Erwählung/Verheißung und Evangelium im Hintergrund. So wird es die angemessenste Deutwlg der Metapher von der "Wurzel" sein, diese auf Abraham bzw. die ,,Erzväter" insgesamt zu beziehen (vgl. 9,5; 11,28)82 und den Ursprung des Baums in Gottes Erwählung bzw. seinem Wort der Verheißung an Abraham (4,1ff; vgl. 9,6ft) festzumachen. Daß Heiden, wilde Schößlinge, in den Edelölbaum eingepfropft werden, heißt dann, daß sie Anteil an der Verheißung gewinnen, die ja nach Paulus ihre Pointe darin besitzt, daß Gott Abraham zum "Vater vieler Völker" (4,17 = Gen 17,5) besteUt hat, also gerade auch der Heiden. An dieser Verheißung Anteil zu gewinnen kraftdes Glaubens an Jesus Christus impliziert auf der Linie von Röm 4, daß dies sich abseits vom Gesetz vollzieht. Andererseits läßt aber auch schon 4,16 erkennen, daß die Verheißung "für die ganze Nachkommenschaft (Abrahams) gültig bleibt" 83 , so daß sich bei der Lektüre des "Olbaumgleichnisses" die Frage meldet, was das für die Zukunft der ausgebrochenen (nicht verbrannten!) Zweige bedeutet. Umstritten ist in der Forschung insbesondere die Frage, ob man aus V.20.23 die Konditionierung einer möglichen zukünftigen Anteilhabe Israels an jenen Segenskräften der Verheißung durch den Glauben herauslesen darf So folgert etwa D. Zeller aus der Thematik als Strukturmoment der Bildrede: "Für den noch draußen stehenden Juden" gibt es für die Anteilhabe am Heil ,,keinen anderen Weg als für den Heiden: den des Glaubens" 84, und zu 11,26 schreibt er: "Wenn wir annehmen konnten, daß das 7tA.fu:xoJ.ux wv tev&v [V.25] kein vom Missionswerk unabhängiges Ereignis ist, dann wird auch für Israel
manc;-
82
Vgl. K.H. RENosroRF, Das Ölbaum-Gleichnis in Röm 11,16ff, in: E. BAMMEI.iC.K. BARRETIIW.D. DAvtES (Hg.), Donum Gentilicium (FS D. Daube), Oxford 1978, 127-164, der die Methapher freilich auf Abraham einsehrankt 83 Vgl. F. MussNER. Wer ist der ,,ganze Samen" in Röm 4,16?, in: OHRs., Die Kraft der Wurzel. Judentwn-Jesus-Kirche, Freiburg 1987, 160-163: Der ,.ganze SalM" umfaßt die an Jesus Glaubenden (Juden tmd Heiden) wie die natürliche Nacbkommeoscbaft Abrahams insgesamt, also alle J~ ebenso zuletzt G. SASS, Leben aus den Verheißungen. Traditionsgeschichtliche Wld biblisch-theologische Untersuchungen ZlU" Rede von Gottes Verheißungen. im Frühjudentum und beim Apostel Paulus (FRlANT 164). Göttingen 1995, 394-397, der auch auf den Zusammenbang von 4,16 tmd Kap. II verweist ,,Demnach ist Abraham Vater voo ~ lapaiy.. und es legt sich nahe, daß navd tij) cmiA-&an in 4,16 nicht weniger als dieses ~ lapaiy.. umfassen kann. Erbartet wird diese Erwägung, wenn man annimmt, daß Paulus die Aussage ober nfu; lapaiy.. in II ,26a vor dem Hintelgrund von Jes 45,25 gebildet hat, wo llliSdiücklich von der Rechtfertigung(!) und Verherrlichung von 1tiiv 'ti> ~a Uilv uüiiv lapal\A die Rede ist'' (396t). 84 D. ZEllER., Juden, 245.
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gelten, daß es durch den Glauben an das Ev(angelium) zum Heil kommt". 85 Das stellt D. Ze/ler sich dann so vor, daß, ,,nachdem einmal der Funke des Heils auf die Völker übergesprungen ist", sich auch Israel "bekehren" wird86 ; um einen "eschatologischen, nicht mehr der Geschichte zuzurechnenden Akt" handle es sich bei jener Bekehnmg nicht, jedenfalls stehe das nirgends im Text. 87 T. Ho/tz - um ein weiteres Beispiel für diesen Auslegungstyp zu nennen - erklärt zu II ,23: ,,Die Hinwendung zum Christus-Glauben ist die Voraussetzung, damit die ungläubigen Glieder des geschichtlichen Volkes Israel wieder zu Gliedern des einen Gottesvolkes werden, zu dem sie nach der Gnadenwahl Gottes ursprünglich gehören". 88 Ob mit dieser Feststellung wirklich alle Textsignale gewürdigt und für eine Deutung des Mysteriums von 11,25-27 fruchtbar gemacht sind, scheint zweifelhaft und bedarf der Überprüfung: (V.20.23) ist nur ein a) Die Rede von der amcnia. bzw. Strukturmoment der Mahnrede, dem ein zweites korrespondiert: die durchgängige Rede vom Handeln Gottes, sei es in der Weise von passiva divina, die von V.l7a an gehäuft begegnen 89, sei es in Sätzen mit o 8t6c; als Subjekt (V.21.22.23b); deren Klimax ist V.23b: "denn mächtig (öuva-r6c;) ist Gott, sie wieder aufzupfropfen". b) Übergeordnet ist die Aussagenreihe zum Handeln Gottes, welche die andere vom Glauben bzw. Unglauben umschließt: Es war Gottes Tat, daß die einen Zweige ausgebrochen und dafür andere - wilde Schößlinge- in den Edelölbaum eingepfropft wurden (V.19.20a), oder ohne Bild: Die Zurücksetzung Israels (bzw. der vielen Juden, die nicht zum Glauben an Jesus gelangten) ist nur die Kehrseite der gleichfalls von Gott in Szene gesetzten Berufung der Heiden (vgl. schon V.12a 15a).
mcm.c;
85
Ebd., 257 lUlt.cr Berufung (Amn. 74) auf F. HAHN, Das Verstandnis der Mission im Neuen Testament, Neukirchen-VIuyn 1963, 91 Amn. 1: "es ware unpaulinisch gedacht, wenn dieses Israel am Ende der Zeiten in seiner Vorfindliehkeil Wld um seiner bloßen fleischlichen Abrahamskindscba willen gerettet werden würde. Gerade danun ist es ja verstoßen (! ). weil es nicht geglaubt hat So wird das Heilsaogebol noch eimnal an Israel ergehen. es wird erneut vor die Glaubensentscheidung gestellt Wld als glaubendes Israel zum Heil gelangen." 86 Ebd., 257. 87 Ebd., 260. 88 T. HOLTZ, Das Gericht Ober die Juden und die Rettung ganz Israels: l.Thess 2,15fund Röm 11,25f, in: DER.s., Geschichte und Theologie des Urduistentums. Gesammelte Aufsatze hg. V. E. RElNMlrrniC. WOLFF(WUNT 57), Tübingen 1991,313-325: 319. 89 V.l7a.b.l9.20a.22fin.23a.24a.b.
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Andererseits heißt es in scheinbarem Widerspruch dazu in V.20: "wegen des Unglaubens wurden sie ausgebrochen. du aber stehst aufgrund des Glaubens". 90 Mag es hier nun zunächst so aussehen, als sei der Unglaube Grund für Gottes Handeln, dieses also erst seine Reaktion auf den mangelnden Glauben, so ist doch Vorsicht angezeigt gegenüber einer solchen Schlußfolgerung. 91 Zum einen liegt der Akzent auf der positiven Aussage ("du aber stehst wegen des Glaubens"), die dann die Mahnung aus sich heraus entläßt: "Sei nicht hochmütig, sondern fürchte (Gott)!" Mit anderen Worten: Das "Stehen" aufgrund von Glauben ist ein Gehaltensein oder "Stehen in der Gnade"92, dieses aber gründet weder in den eigenen "Vorzügen oder Verdiensten", noch ist es von nun an "ein irreversibler Besitzstand". 93 Gerade das aber setzt den paränetischen Impuls frei, nicht hochmütig zu werden und sich nicht über diejenigen zu erheben, die aus dem Ölbaum ausgebrochen wurden. Daraus folgt: Der Glaube, von dem hier die Rede ist, wird paränetisch gezielt abgegrenzt gegen seine Verzerrung zu einer eigenen Leistung mit all den Konsequenzen, die das für das Verhalten der "Glaubenden" besäße. Macht man mit dieser pragmatischen Absicht
90
In beiden Satzhälften dürfte es sich wahrscheinlich um einen Dativus causae handeln, und zwar deswegen, weil der Kontext insgesamt partlnetisch ist. der Akzent also auf der Mahnung liegt. den Glauben, dem allein die Adressaten ihr ,,Stehen" verrlankm, nicht zu verOOschen bzw. i1m einzuboßen. Vgl. BOR § 196; HOfrMANNISIEBENIHAL, Grammatik. 254 ( § 177b) 478 (§ 259g). So auch H. 8cHuER., Römerbrief, 334; C.E.B. CRANFIELD, The Epistle to tbe Romans (ICC), Vol. II. Edinburgh 1979, 569 mit Amn. I ("Paul does not think of standing as a reward for fai~ and there is no good reasoo for reading into tbe other dative the idea of 'as a punishment for'. lt is rather by tbe very fact of their Wlbelief, and by tbe very fact of their faith, that the ones are cut off and tbe otbers stand"); U. WILCKENS, Der Brief an die Römer, Bd. 2 (EKK Vlll), Einsiedeln 1980, 241, 247; JA FmMYER.. Romans, 615, und viele andere Ausleger! Anders 0. HOFIUS, Evangelium, 188: ,,Beide Dative haben m. E. nicht kausalen Sinn (,aufgrund des Unglaubens' bzw. ,aufgnmd des Glaubens'), sondern sie sind als modale Dative zu bewtcilen (,im Unglauben' bzw. ,im Glauben') [mit Hinweis aufRöm 4,20; 2Kor 1,24). ,Ausgebrochen' wurden die ursprünglich zum edlen Ölbaum gebön:nden Zweige. indem Gott i1men das gehörte Evangelium nicht zum Glauben wirkenden Wort werden ließ; und ,eingepfropft' wurden die ursprünglich wilden Zweige, indem Gott sie durdl das gepredigte EvangelilDll zwn Glauben rier'. Unentschlossen D. SANGF.R. Vertctmdigung, 177 Arun. 620. 91 Dies allein schon deshalb, weil die Obersetzung der Dative nicht gesichert ist (vgl. vorige Arun.!). 92 Vgl. u.a 5,1( "durch WlSeren Herrn Jesus Christus. durch den wir auch den Zugang haben aufgrunddes Glaubens ('tfi mO'tEl) zu der Gnade, in der wir stehen (iv TI ~)". Vgl .. auch4.16: 'tOÖtO ~ 'iva Kam xtiprv( ... ). 93 U. WD...CKENs, Brief, 247.
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der Verse ernst", dann wird man zweitens annehmen dürfen, daß jener paränetische Impuls auch schon auf die erste Satzhälfte von V.20a ausstrahlt ("aufgrund des Unglaubens wurden sie herausgebrochen''), die ja als Kontrastbild zur eigentlich angezielten, positiven Aussage gedacht ist. 95 Drittens repräsentiertjene negative Feststellung- und das ist der wichtigste Gesichtspunkt! - nur die eine Seite der paulinischen Deutung des jüdischen Neins zum Evangelium, die andere ist die im weiteren Kontext entwickelte Überzeugung, daß der Unglaube der Juden eigentlich und zutiefst nur mit der prophetischen Kategorie der von Gott selbst verhängten Verstockung zu beschreiben ist. c) Was die Zukunft Israels betrifft, so dürfte es kein Zufall sein, daß Paulus in V.23a nicht positiv formuliert: "wenn sie sich bekehren und zum Glauben finden", sondern die negative Aussageform gewählt hat: "wenn sie nicht beim Unglauben bleiben". 96 Diese Formulierung scheint offen für die Voraussetzung, daß ein erneutes, rettendes Entgegen-Kommen Gottes ein Fahrenlassen des Unglaubens erst möglich macht, wobei der Fortgang des Textes, insbesondere die Ankündigung des Mysteriums in 11,25-27, nachträglich die Annahme bekräftigt, daß Paulus jene Formulierung von V.23a gleichsam als Hohlform für ihre spätere Füllung mit Absicht gewählt hat. Feststeht demnach nur, daß die zukünftige Errettung ganz Israels die Preisgabe des Unglaubens impliziert, aber aus V.23a kann nicht gefolgert werden, "ganz Israel" würde sich einst zum Evangelium bekehren müssen. Das entspräche auch nicht der Konzeption von Röm 11 insgesamt. Wenn es nämlich Gott selbst war, der Israel durch die Verkündigung des Evangeliums verbittert und verstockt hat, wird dann nicht auch er es sein, der die Verhärtung von den sich Christus versagenden Juden wird wegnehmen müssen? Wird er am Ende der Tage, bei der Parusie des Herrn, nicht selbst erst die Bedingungen schaffen, die es den Juden ermöglichen zu glauben, und durch seine sie überwältigende Gnade ihr Ja zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen? Man begreift von hierher auch, 94
Es handelt sich ja hier insgesamt bei 11,17-24 um eine Mahnrede, die an die Einsicht tmd
das praktische Verbalten der Angesprochenen appelliert, ohne daß deswegen dessen Einbet~ in die es erst freisetzende Gnade Gottes abgeblendet würde. 9 Mit anderen Worten: Bewahrt euren Glauben, andernfalls ergeht es auch euch wie jenen! Oder mit V.22: ,J ... ] über dich aber die Gote Gones, wenn du bei der Gate bleibst, denn sonst wir.st auch du ausgebrochen!" Der paranetische hnpetus der Verse richtet sich durchweg an die Heidenchristen, wesbalb dann auch V.23a keineswegs eine ,,Partnese an die Juden" sein kann, die MissionsvedcOndigung nicht abzuweisen (so aber F. MUSSNER, Israel, 252). 96 So M THEOBAID, Römerbrie( 301. W.l<Eu.ER, Treue. 21( 62, 205ff, hat diese Beobachtung zustimmend aufgegriffen.
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warum Paulus überhaupt keine Mühe darauf verwendet, in 11,25-27 (28-31) die Antwort derer, denen die eschatologische Rettung zuteil werden wird, eigens zu thematisieren, geschweige, sie ihrer Qualität nach zu bestimmen (s. u. ). Alles hängt an der Frage, ob Gott selbst zum Heil Israels handeln wird und warum er das gewiß tun wird. Handelt er, dann ist klar, daß Israel von der übermacht seiner Gnade zum Lobpreis überwältigt werden wird, zum Glauben an seinen .~etter" (11,26). Von einer Konditionienmg des Heils Israels durch den Glauben kann also in II ,23 nicht die Rede sein. 97 W. Keller hat diese Auslegung von 11 ,23 jüngst aufgegriffen und noch einmal eindrucksvoll bestätigt. 91 Gleichzeitig hat er eine Modifikation angebracht, die aber nicht seine Zustimmung zum Auslegungsmodell insgesamt in Frage stellt. Zu Recht beharrt er auf dem streng eschatologischen Charakter der angesagten Rettung ganz Israels bei der Parusie Christi, was man nur unterstreichen kann (s.u.). Daraus folgert er dann unter Bezugnahme auf J. Moltmann 99 : "Die Volloffenbarung bei der Parusie Christi wird den Unglauben der Juden beseitigen, aber sie nicht mehr zum Glauben bringen, sondern zur Schau fUhren. Die Annahme ist von daher nur zu berechtigt, Paulus habe in II ,23 bewußt negativ formuliert, weil er eben nicht ein innergeschichtliches ZumGlauben-Kommen der bislang nicht an Christus glaubenden Juden
97
Zutreffend D. SANGER, Verkündigung. 178: "der Glaube konditioniert nach 11.23 nicht Israels Heil, sondern er ist der von Gott verfngte Mcxlu3 seiner ocanpia." Pralis auch 0. HoFIUs, Evangeliwn. 188 Anm. 48: ,.Die Worte W..v ~it ~v tT1 cXmcrriQ. 11.23 formulieren nicht eine von Israel zu erfllllende Bedingung (ein durch 11.26f ausgeschlossenes Verständnis!), sondern sie sprechen von der objektiven VOI"8USSeCzung. die Gott selbst bei der Parusie Christi schaffen wird." 98 W. KEl..I..ER. Treue, 204-211: 206: Der Hinweis auf die negative Formulierung von V.23 ist keine ,,Spitzfindigkeit". Sie ,,ist gewiß ZlDllchst bedingt durch die Aussage in V.20: tli clmcnU;t FlpcAitCJOtpav [... )Von dem ausgehend. bringt Paulus durch seine Formulierung W.v llll ~v tT1 ci.mariq. zum Ausdruck, diese lllOOlelltane Haltung müsse aufgegeben werden. Laßt sich aber vielleicht ein Anlaß ftlr diese Formulierung erlcennen, der nicht nur in dem Rüclcgriff auf die momentane Situation besteht?' Das bejaht Keller und schlußfolgert (208): ,,SO ist es nur konsequent, die negative Formulierung W..v ~11 ~v 'tTl ämariq. auszulegen auf ein Handeln Gottes hin, welches dem Unglauben der Mehrzahl der Juden ein Ende setzt." 99 J. MüLlMANN, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, MOnehen 1989, 53 Anm. 79: Da die ,,Heffiichkeit des kommenden Christus" die Toten auferweckt, wird sie ,,in jenem Schauen wahrgenonunen, das von Angesicht zu Angesicht nicht mehr •wie in einem Spiegel in einem dunklen Wort' geschieht". Wenn man dafbr das Wort ,Glauben' gebraucht, macht man ,.den Glauben an das Evangelium äquivok zwn Schauen in der EpiJiumie Christi".
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ansagen wollte". 100 Voraussetzung dieser bedenkenswerten Überlegung ist die sich offenkundig an 2Kor 5, 7 101 anschließende These von der Differenz zwischen geschichtlicher Existenzform und deren eschatologischer Vollendungsgestalt. 102 So einleuchtend dies scheint, Fragen sind dennoch angebracht. 2Kor 5, 7 ist kein dogmatischer Lehrsatz, sondern eine kontextuell bedingte Behauptung einer Opposition 103, die hier antienthusiastisch den eschatologischen Vorbehalt anbringen will. 104 In anderen Kontexten kann Paulus durchaus von jener Opposition im Blick auf die 1ticnu; absehen, wie das offenkundig in I Kor 13 der Fall ist, wo sich die Entgegensetzungen "stückweise - fragmentarisch"/ "vollkommen" (13,9f 12b), "sehen durch einen Spiegel im Rätsel"/ "sehen von Angesicht zu Angesicht" (13,12) auf die Trias ,,Prophetengaben", ,,Zungenreden" und ,,Erkenntnis" beziehen (13,8ft), nicht aber - wie es das Zitat J. Mollmanns nahelegt - auf die 1tia~, von der erst in V.13 die Rede ist. Spricht Paulus im Blick auf jene von einem "Vernichtet-Werden" (x:a'tapyel'v: V.8.10.11), so bei der Trias "Glaube, Hoffnung, Liebe" von einem Bleiben (J..tiw\). 105 Nicht also die Diskontinuität zwischen jetzt und einst, sondern die Kontinuität zwischen beidem unterstreicht Paulus hier - wohlgemerkt nur bei der zweiten Trias "Glaube, Hoffnung und Liebe", wobei es dann der exegetischen
100
W. KEu.ER, Treue, 210f. .Jm Glauben (l;aa 1tiotfxax;> wandeln wir, nicht im Schauen (l;u1 dOOu;)". 102 Die gleiche These vertritt auch schon P.v.o. OsmN-SACKEN, aufden W. KPl..L.ER, Treue, S. 210 Anm. 45 hinweist "Glaube ist ftlr Paulus die gegenwartig erOftDete RealiW und bezieht sich konstitutiv auf das Evangelium bzw. auf den in i1un gegenwartigen Christus. Wenn hingegen der Parusie-Christus erscheint, dann ist seine Gegenwart eben die der apokalyptischen Parusie und nicht die der Prasenz im Evaogelium. Und ganz in Übereinstimmung damit bringt Paulus die Differenz zwiscbc:o Gegenwart und Zukunft durch die Gegenüberstellung von Glauben und Schauen ZlD1I Ausdruck (2Km- 5,7)" (Antijudaismus um Christi willen?, in: DeRs., Evangelium und Tora. Aufsatze zu Paulus (1B 77], München 1987, 239-255: 245.) 103 C. WOLFF, Dei" Zweite Brief des Paulus an die Korinther (lbHK VID), Berlin 1989, 112: ,,eine Parenthese[ ... ~ die einen polemischen Ton tragt". 104 bn übrigen ist die von Keller vorausgesetzte Deutung der Parenthese keineswegs gesichert. C. WOLFF, Brief. 112f: ,,cl&x; bezeichnet die ,außere Erscheinung, sichtbare Gestalt' (vgl. Luk. 3,22~ 9,2~ Joh 5,3-n ftlr den aktiven Sinn ,Schauen' gibt es keine eindeutigen Belege. Mit et&x; ist die kouunende neue Leiblichkeit gemeint". Dementsprechend Obersetzt Wolff: .,denn in Glauben wandeln wir, nicht in Sichtbarem" (S. 98). 105 ,,Die Kennzeichen christlicher Existenz sind von bleibeoder Gültigkeit, sie werden nicht als Stockwerk beseitigt werden": C. WOLFF, Der Erste Brief des Paulus an die Korinther, ll. Teil (ThHK VD/2), Berlin 3 1990, 128. 101
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mcm.c;
im Entfaltung im einzelnen überlassen sei, wie das Bleiben der Eschaton zu denken ist. 106 Für Röm 11 folgt daraus: Weder darüber, daß durch Gottes eschatologisches Rettungshandeln an Israel Glauben freigesetzt werden wird, noch darüber, daß dieser Glauben von eschatologisch vollendeter Gestalt sein wird, verliert Paulus im Kontext irgendein Wort. Ihm geht es allein darum, daß Gott an Israel rettend handeln wird, weshalb es zur Erklärung der negativen Formulierung von V.23a (eav flft e1Cl.J.1ivoxnv 'tft cima-ti~) völlig ausreicht, diese als Hinweis darauf zu verstehen, daß es nach seiner überzeugung Gott sein wird, der Israel derart in seiner Gnade entgegenkommt, daß dieses seinen Unglauben dann fahren läßt. Möchte man aber am Glaubenscharakter der, wie gesagt, in II ,25ff nicht eigens thematisierten Hinwendung des verhärteten Teils Israels zu seinem "Retter" festhalten 107, dann erinnern die Ausführungen von P. von der Osten-Sacken und W. Keller zu Recht daran, daß es sich dabei entsprechend dem eschatologischen Kontext nur um einen in der Schau vollendeten Glaubensakt Israels handeln kann: "Will man also zu dem von Paulus in Röm II ,25ff mitgeteilten Mysterium mehr als er selber sagen, dann muß man von seinen eigenen Aussagen her schließen, daß ganz Israel dann, wenn der Christus kommt, ihn als Messias sehen und begrüßen und im Rahmen dieses Geschehens endzeitlich so/a gratia gerettet werden wird". 108 d) Unter Voraussetzung der unter c) begründeten Auslegung von V. 23 a lassen sich nun auch die V. 23 f insgesamt ungezwungen als "einheitliche Aussage" erkennen. 109 Zunächst: Welcher Typ von Konditionalperiode liegt V.23a zugrunde? Nach Ausweis der Konjunktion eav + Konj. und des Tempus im Nachsatz (Futur) liegt ein "speziellprospektiver Fall" vor. Die ,,Protasis bezeichnet speziell etwas Zukünf-
106 Dazu T.
SOoiNG, Die Trias Glaube, Hoffiumg. Liebe bei Paulus. Eine exegetische Studie (SBS 1SO), Stuttgart 1992, 137, der auf "die Problematik des gelaufigen Urteils'' verweist, "c:hu-ch die visio beatifica würden Glauben und Hoffiumg abgellift'. Geht man vom ,,Kontext der gesamten paulinischen Theologie" aus, "erhellt namlich, daß sich in der futurisciM:scha logischen Schau Gottes das Glauben und das Hoffen etfiJJlen". 107 So z.B. F. MussNER. Israel, 253: "Und wenn Israel zuletzt den Parusiechristus als den begrüßen wird, ,der da kommt im Namen des Herrn'. dann impliziert das sowohl das solus Ctuistus als auch das sola fide und sola gratia'~ 0. HOflUS, Evangelium. 197: ,,Das dem wiederkooune:OOen Christus begegnende I&Tael wird also an ihn glauben [Anm. 88: Hinweis auf 11.23! ], seinen Namen im - das Heil ergreifenden -Bekenntnis anrufen". 108 P.V.D. ÜSTEN-SACKEN, Antijudaismus, 245. 109 W. KEllER. Treue, 212.
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tiges, mit dem man rechnen kann oder muß" 110, nämlich daß ,jene" ihren Unglauben fahren lassen. Daß man damit rechnen muß, zeigt schon die Begründung von V.23b: "denn Gott ist mächtig (öuva't()(;), sie wieder einzupfropfen". 111 Was hier noch als Möglichkeit Gottes erscheint, wird dann sogleich im abschließenden V.24, der wiederum mit yap an das Vorige angeschlossen ist, als Gewißheit kundgetan: "Wenn nämlich du aus dem natürlichen wilden Ölbaum ausgehauen wurdest und wider die Natur aufgepfropft wurdest auf einen schönen Ölba~ um wieviel mehr (1t0~ ~v) werden diese gemäß der Natur aufgepfropft werden auf den eigenen Ölbaum". Schließt sich daran, noch einmal mit ycl.p verknüpft, die Kundgabe des Mysteriums an, das gleichsam im Klartexts~ was die Bildrede von V.24 schon auf ihre Weise als Gewißheit verkündet hat, dann kann man die hinter V. 23 f stehende Gedankenfolge so paraphrasieren: Wem jene ihren Unglauben preisgeben - und sie tun es, weil Gott ihnen im ,.Retter" Christus gnädig entgegenkommt, sich ihnen als der barmherzige und vergebende Gott erweist - , dann werden sie wieder in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden und die eschatologische Vollgestalt Israels wird hergestellt sein. Auch der Grund jener Gewißheit, den Paulus im Rekurs auf die Schrift V.26b-27 aufdecken wird, leuchtet im 1t0ÄA.ql ~M>v von V.24 schon auf Es ist die bleibende Affinität jener Zweige zum "eigenen Ölbaum" (,.gemäß der Natur"), oder anders gesagt: Dertreue Gott, der Israel in seinen V ätem aus lauter Gnade erwählt hat, läßt kraft seiner Verheißung jene, die angesichts des Evangeliums verstockt wurden. keineswegs fallen. e) Nimmt man die Dynamik der Mahnrede an die Heidenchristen 11,13-24 als ganze in den Blick, dann scheint es keineswegs abwegig zu sein, hinter ihr als treibende Kraft oder Matrix die propositio principa/is 1, 16f zu sehen - jedenfalls deuten eine Reihe von Beobachtungen darauf hin. Signalcharakter hat schon die theo-logische Aussage "denn mächtig (öuva't&;) ist Gott'' (V.24b) 112: ,,Konkret dürfte Paulus dabei an die Durchsetzung der öuv<Xf.1~ des Evangeliums gegenüber den Juden denken, auf die Gottes Heilshandeln in besonderer Weise gerichtet ist (1,16f; 3,1tl)". 113 Zu V.24 und seiner Qai-Wachomer-Logik II 0 l-loFFMANN/SIEBENJHAL. Grammatik.
548. W.I<Eu.ER. Treue, 211: ,,Das Handeln der Menschen Jaßt sich nicht gegen die Macht Gottes ausspielen. Der Macht Gottes kann keine Grenze gesetzt werden". 112 Es ist dies die letzte der drei oovcq.uc;- Aussagen in Rom 9-11: vgl. 9,17~ 9,22~ 11,24. 113 H.-M LÜBKING, Paulus und Israel im ROmerbrief Eine Untersuchung zu Rom 9-11 (EHS.T 260), Frankfurt 1986, 116. 111
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bemerkt D. Sänger: "Die Korrespondenz zu dem 7tpÖ)'tov von I, 16 (vgl. 2,9f) sowie zu den in 3,1 f; 9,4f festgehaltenen Auszeichnungen Israels ist unübersehbar". 114 Andererseits demonstriert die Mahnrede in beeindruckender Form die Einbeziehung der Heiden (u; x:a\ "EA.A.'lvt) in das Heilshandeln Gottes, ohne daß sie darüber die Ganzheit Israels vergißt Wie in 1, 16f, so bezeichnet auch im sog. "Oibawngleichnis" das Gespann mcmc;/amcnia den kritischen Punkt. Doch wird auch hier deutlich, daß Paulus die manc; nicht als Gottes Macht begrenzende Bedingung auf Seiten der Menschen begreift: Gott selbst ist es, der den Menschen den "Stand im Glauben" einräumt - in welcher Weise auch immer! 2.3 "Ganz Israel wird errettet werden" (Röm 11,26a) Schon in 11,17-24 bildete das Gespann Verheißung I Erwählung Evangeliwn (vgl. 11,28f) die geheime Matrix des Textes. Das gilt entsprechend unserer Einsicht in den Diptychon-Charakter von 11,2527/28-32 erst recht für die Bekanntgabe des Mysteriwns und die ihr inhärente Logik. Diese im Licht jener beiden Pole aufzuschlüssen, legt sich also nahe. 2.3.1 Das Evangelium und die Errettung ganz Israels Das "und" dieser Zwischenüberschrift signalisiert einen paradoxen Befund. Beginnen wir mit einer negativen Feststellung. 1) Nach 11,25-27 erfolgt die Errettung ganz Israels als Tat Gottes selbst bei der Parusie Christi, also an der Missionsverkündigung der Kirche und in diesem Sinne am Evangelium vorbei. 115 Entscheidendes Argwnent zugunsten dieser These ist der streng eschatologische Charakter der Offenbarungsaussage, daß ganz Israel gerettet werden wird. Indizien dafiir sind: a) das Futur aro9ipem1, dessen Funktion als Ausdruck "eines in der Zukunft liegenden punktuellen Geschehens" 116 durch das analoge Futurum tyKtvtp1a6i)aovtal ("sie werden eingepfropft werden") von V.23.24 erwiesen ist;- b) die in der frühjüdischrabbinischen Überlieferung mehrfach artikulierte Erwartung einer 114
D. SANGER.., VedcOndigung, 177. Von einer Massenbekehrung der Juden zwn Evangeliwn der Kirche vor der Parusie m reden (so. F. W. MAlER, Israel in der Heilsgeschichte nach Rom 9-11 [BZfr Folge 12 ), Münster 1929, 122), ist also absurd Das Mysterium, das Gottes eigenes Eingreifen thematisiert, schließt jegliche menschliche Vermittlung der Rettung ganz Israels aus. 116 HoiorMANNISIFBENlliAL, Grammatik, 333 (§ 202 b~ maßgeblich ist der ,,sacbliche Kontext". 115
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AlichaellheobaUi
Errettung Israels zielt durchweg auf die kommende Welt 117; - c) die einkleidende Qualifizierung des Offenbarungssatzes als endzeidiches Mysterium, und schließlich d)- als flankierendes Argument- der Hinweis auf das ,,Kommen" des .~etters" im anschließenden Schriftzitat, das doch sehr wahrscheinlich die Parusie Christi meint (vgl. 1Thess 1,10) 111; - e) ,,Ein zusätzliches Indiz- und zwar eines aus dem Kontext des Mysteriums-[ ... ] ist die Wendung l;rot1 iK VEKpö)v in Röm 11,15, die auf die eschatologische Totenauferweckung zu deuten ist". 119 Die Errettung ganz Israels setzt die eschatologische Totenerweckung voraus. 2) Auch wenn folglich die Errettung ganz Israels als streng eschatologisches Geschehen nicht durch die Evangeliumsverkündigung der Kirche vermittelt zu denken ist 120, so gilt doch andererseits, daß Bezüge zwischen jenem Rettungsgeschehen und dem Evangelium nicht geleugnet werden können. Folgende Momente belegen das: Die Zuwendung des eschatologischen Heils, der aCJm1Pia, ist das Ziel des Evangeliums ( 1, 16). Negativ ist mit der CJO>'t11Pia die Rettung "vor dem kommenden Zorn", dem Gericht Gottes, gemeint (5,9; vgl. auch 1Kor 3,15; 5,15; 1Thess 5,9), positiv die Teilhabe an der göttlichen "Herrlichkeit" (8,30), dem ewigen Leben (5,1 0). Die Hofthung darauf gründet in der jetzt schon geschenkten Versöhnung mit Gott durch den Sühnetod Jesu (5,10a) bzw. der daraus resultierenden "Vergebung der Sünden" (3,25; 4,7f). So trifft die Feststellung W Foersters zu, daß bei Paulus "die Vergebung der Sünden, das Versöhnt- oder Vgl. Sanh 10,1: ,.Ganz Israel hat Anteil an der zuktlnftigen Welf'~ TestBenj 10,11: ,,ganz Israel wird sich llDD Herrn versammeln"~ Midr Ps 21 §I (89a) (Str.-BiU. m634): .,Ganz Israel wird die Tora von Gott lernen" (in der zulcOnftigen Welt!J, weitere Belege bei C. Pl.AG, Israels Wege Z1DD Heil. Eine UntersuchUDg zu ROmer 9-11 (AzTH 1/40). Stuttgart 1969, 58. hn übrigen vgl. LXX Jes 44,23 (ön ~to 6 &Oe; wv 1a~, Kat lopaftA ~lJ, 45,17 (lopaftA ocfxPal U1tO ~ CJ<Jm"piav aimvwv)~ 45,25 (wro Kq>loo öucal0l9ipovuu ICCll iv 'tij) 9Fii> ~a.a9ipovtal niiv ro mtiwa tiöv u&rov lof.':"ftA). 18 Dabei handelt es sich deshalb nur wn ein flankierendes Argument, weil ein im Zitat vorgegebenes Futur, wie D. ZEu..ER, Juden, 260( meint, ,ja auch eirunal bereits VerwUtlichtes rekapitulieren" kann (vgl. 15,12!), weshalb er einen Bezug des i1fp von 11,27 auf das erste Kanuneo Chmti filr möglich häl~ doch wird man umgekehrt voo II ).6 (<Jro9lim:ml) her am futurisctH3;hatologischen Gehalt des tlfp lDlbedingt festhalten mOssen. 119 W. KEu.F.R, Treue, 250. 120 Vgl. auch ebd., 247: ,.Werm sowohl die Autbebung dez' Verstockung als auch dann die Rettung selbst bei der Parusie erfolgt. dann, so ist zu folgern, muß CRJJ9ilval hier die Erlangung des eschatologischen Heils meinen, ohne daß an eine llMXige Annahme des Glaubens aufgnmd der Predigt des Evangelimns zu denken ist." 117
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Gerechtfertigtwerden von dem oroOi\vat zwar nicht geschieden, wohl aber unterschieden" wird. 121 Das gilt auch hier. Akzentuiert im anschließenden Mischzitat ist offensichtlich die zweimalige Ankündigung der Hinwegnahme der "Gottlosigkeiten" (aeJEßf;ia1) bzw. der "Sünden" (
iK l:ui>v o p~vO<;, 2. a1tOO"tp&'l'&\ aCJEJi&iw; a7t0 laKroß.
A 1. ill;El
'r1 7tap' &~u B1a91lKT), 2. ömv aqi~al 'tW; 'Jlap'tiac; au'tiiiv.
B 1. Kal aünt au'toic;
A I. 2. B 1. 2.
Kommen wird aus Sion der Retter, abwenden wird er die Gottlosigkeiten von Jakob. Und dies (ist) für sie der Bund von mir, wenn ich wegnehme ihre Sünden.
Wenn dieser Gottesspruch, der ja den Offenbarungssatz V.26a aus der Schrift begründen soll, auf die Sündenvergebung abhebt, dann bedeutet das: sie ist der Garant der schließliehen Teilhabe ganz Israels an der göttlichen Herrlichkeit, seiner "Rettwtg" ~ wenn er gleichzeitig vom "Kommen" des "Retters" spricht, der die "Gottlosigkeiten" (vgl. 4,5t) von Jakob wegwenden wird, dann darf das als Indiz dafür verstanden werden, daß Paulus die Vergebung der Sünden implizit an das christologische Heilsgeschehen zurückbindet, ohne daß er diesen für ihn selbstverständlichen Bezug im Kontext eigens ausführt. 122 Mit anderen Worten: Gott wird ganz Israel ins Heil bringen, indem er auch dem verhärteten Teil des Volkes bei der Parusie des Herrn die aus dessen Tod resultierende Frucht der Sündenvergebung heilbringend zuwendet. Man kann also sagen: Die Errettung ganz Israels erfolgt zwar unabhängig von der Missionsverkündigung der Kirche, macht aber andererseits das Evangelium an Israel als ganzem wahr. Mit D. Sänger sind folglich "der Inhalt des Evangeliums - die von Gott in Christus beschlossene oc.tmpia - und die zum Glauben führende aKoij (Röm I 0, I6b.I7a) die apostolische Missionspredigt (vgl. Gal 3,2.5~ IThess 2,13) - nicht einfach gleichzusetzen". ,,Zwischen dem Evangelium als dem der 121
W. FOERSTER, Art crc!X;ro, <Jia. ThWNT Vll, 992.
122 Bestätigt
wird diese Annahme m.E. durch das mebnnalige vüv in V.30f. welches das Elbarmen Gottes über ganz Israel (V.31) an die in CJuUtu.J geschehene Heilswende ( vüv: 3,21; 6, 19; 8,1) zurOdebindet
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Verkündigung immer vorgegebenen, exklusiv an Christus gebundenen Gotteswort und der apostolischen Predigt" ist vielmehr zu unterscheiden. 123 So gesehen erweist sich hier ein weiteres Mal, daß die propositio principalis 1, 16f ("das Evangelium - Gottes Kraft") gerade auch 11,25-27 mitmeint 124 3) Es gibt aber noch einen weiteren Bezug des Offenbarungssatzes "ganz Israel wird gerettet werden" zum Evangelium zu bedenken, der nicht auf der inhaltlichen Schiene verläuft (vgl. unter 2), sondern auf der Betrachtung des konkreten Geschichtsverlauft beruht. Gemeint ist die Beobachtung, daß Paulus mit der Formulierung des zentralen Offenbarungssatzes, der auf die zukünftige Errettung ganz Israels abzielt, die Gegenwart nicht überspringt, diese vielmehr zum konstitutiven Bestandteil des Mysteriums erhebt derart, daß die Prophetie der Errettung ganz Israels aus der Deutung der Gegenwart gleichsam als deren Kehrseite hervorwächst
A I. 1U.Opoxru; a7t0 fjipouc; 'tql lopai}A. yiyovtv 2. ä.XPt ou 'tO 1tA.-fu:xllf.1a 'trov ievrov EiaiA.en B Kai oÜ't~ 1tW; lopailA. oroßip&'tat. A 1. Verhärtung ist teilweise über Israel gekommen, 2. bis daß die Vollzahl der Heiden eingeht, B und so wird ganz Israel gerettet werden. Erkennt man, daß das Nein der Mehrheit Israels zum Evangelium und dessen Akzeptanz bei den Heiden bzw. (in theologischer Sicht) die Verhärtung des Großteils Israels durch Gott selbst und die Einbeziehung der Heiden in das Evangelium spätestens seit 11, 11 von Paulus in 123
D. SANGER, VerkOndigung, 179. E. I
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ihrem gegenseitigen Zusammenhang gesehen werden, dann bestätigt sich ein weiteres Mal, daß das Mysterium von 11,25-27 auf den Erörterungen vorher aufbaut. Jetzt, in den Sätzen A1.2, münzt Paulus jenen Zusammenhang in eine Zeitansage um: "Verhärtung ist teilweise über Israel gekommen, bis daß die Vollzahl der Heiden (ins Heil) eingeht". Ist das von Gott selbst verantwortete Nein Israels zum Evangelium nur die Kehrseite des universalen, die Heiden ohne Gesetz ins Heil rufenden Evangeliums, das als solches jenes Nein Israels provoziert hat, dann wird die damit gegebene teilweise Verhärtung Israels im Heilsplan Gottes ein Ende haben, wenn sein Ziel, die Vollzahl der Heiden zu berufen, in Erfüllung gegangen sein wird. Dieses zeitliche (und implizit eben zunächst sachliche) Begrenztsein der "Verhärtung" kehrt der Zielsatz des Mysteriums dann ins Positive: "und solauf diese Weise wird ganz Israel gerettet werden". Fazit: Die Rettung ganz Israels ist auch derart mit dem Evangelium verwoben, daß sie die von Gott selbst vollzogene Aufhebung der gegenwärtigen, mit dem spezifischen Charakter des Evangeliums als der "gesetzesfreien", universalen Heilszuwendung an die Heiden zusammenhängenden Verstockung eines Teils Israels darstellt. Oder anders gesagt: Gott beendet mit der Errettung ganz Israels den Zustand, den er mit seiner universalen Heilsentschlossenheit im Evangelium selbst geschaffen hat: die Verhärtung und Verbitterung Israels angesichts der Provokation, die jenes abseits vom Gesetz ergehende Evangelium für es darstellen mußte. 125 2.3.2 "Mein Bund für sie" (Jes 59,21)- Bundestheologie im Römerbrief? Die zweite nach 11 ,28 maßgebende Kategorie zur Interpretation des Mysteriums ist die der ,,Erwählung" (eKÄ.oylÜ. Sie bezieht sich auf die "Väter" (11,28; vgl. 4,1 ff; 9,5) und meint die ,,Berufimg" (11,29) Israels in ihnen, die offenkundig - wiederum nach 11 ,28 - alle, auch Das ist es. was dann II ,28 auf die Formel bringt mm J.&Ev 'tO Fi.nyyOO/Jv ix9Pot 5i 4-tfu;. -Wichtig erscheint mir, daß man den in Röm II vielßlltig artikulierten Gedanken der 125
"Verhärtung" oder "Verstockung" Israels dwdl Gott selbst nicht auf ein irrationale3 Geleise abschiebt mit der Folge, daß der Gott von Röm 9-11 ZOge eines WillkOr-Gottes bekoount. sondern die kontextueUe Einbettwlg dieses prophetischen Topos erkennt Gott selbst "verblrter' Israel, indem er Jesus als ,,Stein des Ansto&s'' (9,32) Israel prtsentiert; ,,Stein des Anstoßes" aber ist der verkündigte Jesus ftlr Israel deshalb, weil alles Heil an ilun, nicht aber am Gesetz bangen soU-das bewirlct die Verhartung der Mehrheit in Israel! Vgl. des naberen
M. THEOBAW, Römerbrief, 274-276,282,289-291.
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jenen verhärteten Teil des Volkes, in der Liebe Gottes bleibend miteingeschlossen sein läßt. 126 Wollte man dagegen einwenden, es wäre doch "unpaulinisch gedacht'', wenn Israel am Ende der Zeiten "in seiner Vorfindlichkeit und um seiner bloßen fleischlichen Abrahamskindschaft willen gerettet werden würde" 127, dann hätte man zwei Dinge in Erinnerung zu rufen: Zum einen ist es in der Tat so, daß Abrahamskindschaft von Paulus nicht "fleischlich", also durch irdische Abstammung definiert wird, sondern allein durch Gottes Erwählung und Verheißung; in 9,6ff demonstriert er das nachdrücklich an den Väterüberlieferungen der Schrift, denen zufolge nicht schon die Abstammung den Verheißungsträger konstituiert (lsmael I Esau), sondern allein Gottes erwählendes Wort (Isaak I Jakob). Das gilt dann aber auch für Israel als ganzes: Nicht die abstammungsmäßige Israel-Zugehörigkeit als solche begründet Hoffnung, vielmehr denkt Paulus auch hier streng theologisch: Weil Gottes Erwählung nicht hinfallen kann, Gott sich selbst treu bleibt, sind auch jene in Israel, die jetzt nicht zum Glauben an das Evangelium gelangt sind, von Gott "Geliebte" ( II ,28). Andererseits schließt seine Verheißung dann aber auch wirklich ganz Israel mit ein und gibt sich nicht mit der Segnung der Heidenvölker in Abraham zufrieden (vgl. Gal3,8), weil eine erfolgreiche Völkermission angeblich den Verlust der Mehrheit Israels für das Evangelium kompensieren könnte; eine solche Halbierung der Verheißung wäre nach Paulus ihre Niederlage und damit das Scheitern Gottes selbst. Vielmehr gilt für ihn der Grundsatz: "aus Glauben, damit nach Gnade (Ka'ta xaptv), auf daß die Verheißung für die ganze Nachkommenschaft (Abrahams) gültig bleibt, nicht für die aus dem Gesetz allein, sondern auch für die aus den Glauben Abrahams" (4,16). 128 Daß die Verheißung für die nach wie vor aus dem Gesetz, nicht aus dem Evangelium lebenden Juden fest bleibt, meint ihre Gültigkeit für sie sola gratia, die sich bewahrheiten wird, wenn Gott am Ende der Zeit die Verhärtung von ihnen nehmen wird. Nichts anderes besagt im Grunde das Mischzitat 11,26b-27, wenn es den Offenbarungssatz 11,26a, nachdem dieser durch 11,25 (= Al.2) zunächst mit der Evangeliumsverkündigung unter den Heiden begründungsmäßig in Zusammenhang gebracht worden war, jetzt durch die in
126 Denn
auf ihn bezieht sich ja der Plural ayo..mrroi in V.28, wie das voranstehende
ix~i. I 7 F. HAHN, Verstandnis, 91 Amn. I. 128 Vgl. oben Amn. 83.
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der Schrift niedergelegte Verheißung Gottes absichert. 129 Fonnal gesehen handelt es sich nämlich bei dem Mischzitat um eine Verheißung Gottes, da es Paulus entsprechend den zahlreichen Ich-Worten Gottes in Röm 9, welche in der Regel Gottes Verheißung konkretisieren (9,7.9.13.15.17.25f33 etc.; vgl. auch 4,17.18) 130, zu einem Gottesspruch in der ersten Person gefonnt hat. Pointe dieser Verheißung ist, wie sich aus der Korrespondenz von Schriftbeweis und zu begründender These ergibt, die Ansage Gottes und seine Selbstverpflichtung darauf, daß er die Sünden und Gottlosigkeiten von Jakob= Israel wegnehmen wird, um Israel das Heil zu schenken (aroeipEmt). Könnte man also den Gottesspruch fonnal eine "Verheißung" nennen, so sollte man aber doch zunächst auf seinen eigenen Wortlaut achten. Dann aber fällt das Augenmerk auf den Bta911K'l - Begriff, wie ihn der Gottesspruch im Anschluß an Jes 59,21 (LXX) verwendet: "und dies (ist) meine Bundeszusage für sie, (die sich erfüllt,) wenn ich wegnehme ihre Sünden". 131 E. Kutsch hat seinerzeit zu Recht darauf aufinerksam gemacht, daß hier Bta911K'l "als einseitige ,Setzung' verstanden" wird, "und zwar als Setzung = Verheißung". 132 Sprachlich zeigt sich dies am dativus commodi a&to'i'c; =für sie und der betonten Präpositionalwendung tl7ta.p' &J.LOu, die einen einfachen Genitiv ,,mein Bund" (tl Bta911K'l J.LOU) ersetzt. Auch die Entsprechung zum Begriff der Verheißung (Kutsch setzt beides ineins) ist zutreffend beobachtet. Was hier als Bta0t1K11 (Heilssetzung) bezeichnet wird, das faßt Röm 4 129
Diesen beiden Polen des Otfenbanmgssatzes Evangeliwn tmd Verlleißung entsprechen die beiden relationaJen Bestinummgen an seinen R.andem: ,.)llld MJ!auf diese Weise" und "wie (geschrieben steht)", welche die logischen Bezüge bezeichnen. in die jener Satz eingespannt ist 130 Dazu vgl. H. HÜBNER, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984. 131 Schwierig zu deuten ist der durch die Zitatkombination bedingte Anschluß des ÖtavSatzes. Wahrscheinlich bezeiclmet dieser den Inhalt der 6w.ß1i1Cll. wobei der temporale Aspekt ("wenn ich. ...") auf den (eschatologischen) Zeitpunkt der Verwirldichung der 6~ ~ die 6w.ß1iiCTJ selbst - die Bundeszusage - hat Paulus entweder mit dem vorliegenden Gottesspruch ineins gesetzt oder, was aufgnmd von 11.28b (,,Vater'!) das Zutreffende sein dürfte, er hat sie mit der Abraham und seiner Nachkommenschaft zugesagten Hei1sverbeißung identifiziert Zutreffend 0. HOflUs, Evangeliwn, 197 Amn. 86: ,,Im Sinne des Paulus meint 6w91iiCTJ 11.27 die Abraham gegebene ,Bundeszusage', und das Wort steht metonymisch fbr deren EljiUlung (vgl. den analogen Gebrauch von &nayyü.ia in Lk 24,49~ Apg I ,4~ Gal 3,22~ Hebr6,15~ 9,15 u.ö.)." 132 E. KurscH, Neues Testament - Neuer Bund? Eine Fehlübersetzung wird kmigiert, Neukirchen 1978, 156. - Auf die von ihm aufgeworfene Obersetzungsp"Olematik sei hier nicht eingegangen.
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im Begriff der "Verheißung". 133 Beides liegt auch insofern auf gleicher Ebene, als es sich jeweils um das allem menschlichen Tun voraus, sola gratia ergehende Heils-Wort Gottes handelt; im F a1l von Röm 4 hat es Abraham bzw. seine Nachkommenschaft zum Adressaten 134, aber auch II ,26b-27 steht, obwohl ein JHWH-Spruch aus einem Prophetenbuch vorliegt, im Rahmen der die "Väter'' und damit Israel insgesamt betreffenden ,,Erwählung" (11,28), so daß man sagen kann: Was im Gottesspruch als ,,Hei)ssetzung" - OtaeTtKll - thematisiert wird, meint dem Kontext nach die "Setzung" der "Erwählung". In ihr hat Gott sich einst Israel seinen Vätem gegenüber verpflichtet, sie hat er in prophetischen Worten bekräftigt (Jes 59,20f; 27,9) und sie wird er schließlich in der Wegnahme aller "Sünden" und "Gottlosigkeiten" von Israel eschatologisch bewahrheiten. Demnach hilft die Kategorie der "Erwählung" tatsächlich, das Jesaja-Mischzitat aufzuschlüsseln 135 , weshalb es auch wenig plausibel scheint, die ota61iK11·Kategorie hier von Jer 31,31-34 her zu lesen, wie das E. Käsemann nahegelegt hat, als er formulierte: "Während die Christenheit bereits gegenwärtig im neuen Bund lebt, wird Israel das erst in der Parusie zuteil". 136 Nicht an eine 133
Nach G. SASS, Leben, 493, ist eine Überschneidtmg im Gebrauch der beiden Lexeme Sw9rl1Cfl Wld bta.yydia bei Paulus(aber nicht nur bei ihm: vgl. Sir44,1~ Weish 12,21 etc.) deutlich erkennbar, ebd. 35 Anm. 151, 57f 134 Die pln. Rede von der btayydia in ROm 4 erinnert in mancherlei Hinsicht an die priesterschriftliche Konzeption der Berit JHWHs mit Abraham und seiner Nachk~ dazu vgl. W. GR.oss, Zukunft fi1r Israel. Alttestamentliche Bundeskoozepte tmd die aktuelle Debatte wn den Neuen Bund (SBS 176), Stuttgart 1998, Teil I. Kap. 3. m Man beachte auch. daß die Rettung nadl Jes 59,20 Jakob zugesagt wird. der fi1r die "VIüe(' (V.28b) steht tmd somit die ,,ErMhltmg" reprasentiert. 136 E. KÄSEMANN, Römer, 301. H. HOBNER. Ich, 119 Anm. 425, stimmt dem zu. scbraokt aber dennoch ein: ,,Inwieweit Paulus in V.27 auch noch Jer 31,33f V
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neue Setzung, die eine alte ablöst, sondern an die "Setzung" der Erwählung ist gedacht, die Gott Israel in seinen Vätern einst hat zuteil werden lassen. Gibt es nach dem bislang Gesagten starke Affinitäten zwischen dem in 11,27 rezipierten ötaOliKl")-Konzept und der Rede von der an Abraham bzw. seine Nachkommenschaft ergangenen Verheißung in Röm 4, so dürften die beiden Begriffe für Paulus aber auch nicht einfach austauschbar sein. 137 Besitzt die Verheißung an Abraham, wie schon ausgeführt, ihre Pointe in der universalen Einbeziehung der Heidenvölker in den eschatologischen Segen Gottes, so dürfte Paulus mit dem Bundesbegriff von 11,27 (entsprechend dem der tKÄ.O'yi} von 11 ,28) spezifisch die Treue Gottes zum Volk Israel verbinden, den Begriff also - zumindest im Römerbrief - nicht universal ausgedehnt sehen wollen. Der dativus commodi "mein Bundfor sie (a&totc;)" in 11,27 deutet in diese Richtung, aber auch die Tatsache, daß Paulus den Begriff über sein Zitat in ll ,27 hinaus bereits programmatisch zu Beginn seiner Israel-Kapitel in 9,4 gebraucht, und zwar in der Liste der Vorzüge Jsrae/s. 138 Umgekehrt ist beachtlich, daß er in 4,11 (Abraham "empfing das Zeichen der Beschneidung als Siegel auf [seine ihm] im Zustand eingeräwnt), dürfte darin zu suchen sein, daß man das Motiv der Hinwegnahme der Sünden wohl zurecht mit dem SOhnetod Jesu in Verbindung bringt Wld vm daher (vgl. IKor 11,25) dann die Kategorie des ,.Neuen Bundes" (vgl. Jer 31,34) ins Spiel gebracht siebt Doch sind demgegenüber zwei Vorbehalte anzubringen: a) die implizite christologische Verankerung der SOndenvergebung ftlr Israel hangt in Röm II ,26f an der Deutung des ~ ... ~ auf den Parusiechristus, nicht aber am rezipierten Bundesk~ b) Paulus bat in seinen Briefen keine in sich konsistente Bundestheologie entwickelt, so daß man das Motiv der KalVrl ~lC191iiCTl aus 1Kor II ,25 und 2Kor 3,6 hier olme weiteres eintragen ~ vgl. den Übelblick über die verschiedenen, jeweils kontextuell bedingten Redeweisen von ..Bund" bei H. MERKLEIN, aaO., selb.\1. Vielmehr gibt es (s.u) Anzeichen ftlr eine spoifische ~w9rl1C1}-Sicht gerade im Römerbrief, F. MussNER hat seine Sicht von Röm 11,27 inzwischen noch einmal präzisiert Gottes •.Bund" mit Israel nach Rom 11,27, in: H. FRANI®.Ö.l.E (Hg.). Der Wlfelcündigte Bund? Antworten des Neuen Testaments (QD 172). Freiburg 1998, 157-170. 37 Vgl. G. SASS, Leben. 493f ,,Die Rede von der Verbeißung ennOglicht es besser als die an Israel geknüpfte Rede vom BWld, die Gemeinschaft der Gtaubigen aus Juden und Heiden aus Gottes erwahlendem Willen zu begrtlnden". In Spannung dazu gibt dann aber G. SASS, ebd., 426 Amn. 431, zu "erwlgen, ob Paulus nicht ~w9itlcrl in Röm 11 ,27, das ja Bestandteil des Schriftwmes ist, in einer eigenen Formulienmg eher mit innyydia wiedergegeben hatte (vgl. das allgemeine XaplOJUl'ta in 11,29)." Ebd., 426 Amn. 432 spricht er sodann von der ,,Ersetzung einer ,BWldestheologie' durch eine ,Verbeißungstheologie' (... ),wie sie schon in Gal3 (und Rom 4,9-12) zu beobachten war". 138 Mit dem Plural ~w.9iiKat meint Paulus wohl Gottes ,.,Bunde.muagen und BundesverfQgungen in umfassendem Sinn" (F. MussNER., Traktat über die Juden. Moncben 2 1988, 46~ bestatigend aufgenonunen und diskutiert bei G. SASS, Leben, 425t).
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der Unbeschnittenheit geschenkte Glaubensgerechtigkeit") zwar auf Gen 17, II anspielt 139, den Bezug auf die öuxOtlKll aber durch den auf die Glaubensgerechtigkeit ersetzt. Grund dafür dürfte nicht eine mutmaßliche Polemik gegen den Bundesgedanken sein 140, sondern vielmehr sein positives Anliegen, den Weg Abrahams in die eigene Konzeption von Glaubensgerechtigkeit und Verheißung zu integrieren. Danach verbürgt ihm die Beschneidung "nicht mehr die besondere Zugehörigkeit des Beschnittenen zu Gott, sondern bestätigt nur, daß der Glaube das allein Heilsentscheidende ist". 141 2.3.3 Die Errettung ganz Israels als Erweis der ÖUV
V. II: ,,Am Fleisch eurer Vorbaut müßt ihr euch beschneiden lassen Das soll gesclw:hen Sux91l1Cll;) zwischen mir und euch". 381: ''Significantly, Paul avoids mention of the covenant or pact [... ]. He seems to have identified the covenant too much with the law and insinuates that God's covenant was made with people offaith". 141 D. lELLER, Des- Brief an die Römer (RNl), RegensblU'g 1985, I 0 I.
ZlDl1 Zeichen des Bundes (LXX: ~ 140 So aber JA FITZMYER., Romans,
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bestätigt sich dann auch, daß es Paulus in diesen Versen nicht um irgendeine spekulative Zukunftsansage, sondern um authentische Prophetie geht, die bei ihren Adressaten, sprich: Heidenchristen, eine Verhaltensänderung hier und jetzt erwirken will, nämlich Israel und den Juden(christen) gegenüber eine neue und vertiefte Haltung des Glaubensrespekts einzunehmen. Seine eigene Verteidigung gegen den Verdacht, seine Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen allein durch Glauben an Jesus Christus ohne Werke des Gesetzes führe zu einer Entleerung der theologischen Wirklichkeit Israels, verschränkt er also mit einer Mahnrede an die Heidenchristen, sich selbst vor Gott im Angesicht seiner unbegreiflichen Wege mit Israel zu verstehen. Sie sollen sich nicht täuschen und meinen, Gottes Geschichte mit Israel sei nun in die mit seiner Kirche aufgegangen, die Söhne und Töchter Abrahams seien für immer abgeschrieben. Für den Gott Abrahams und Jesu bleibt Israel, so anstößig das für eine heidenchristlich geprägte und sich in Weltdimensionen begreifende Kirche auch sein mag, Anfang und Ende seiner Wege. Von Gottes Freiheit, Israel zu richten und zu retten, droht also heidenchristlichem Dünkel und Hochmut gegenüber Israel und den Juden Gefahr! Der .,strittige Punkt' des Römerbriefs erhält durch 11,20.23.25b noch einmal eine erstaunliche Vertiefung: .,Du stehst aufgrund des Glaubens. 142 Sinne nicht Hohes (J.lit U\flf\Äil
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die Irritation ihrer Glaubenssicherheit, was für die spätere Kirche insgesamt gilt, die den Weg ihrer älteren Schwester am Evangelium vorbei als Provokation anstatt als Anfrage an ihr eigenes Glaubensverständnis begriffen hat. Ihr hat Paulus seine unerbittliche Warnung ins Stammbuch geschrieben, die da lautet:.,[ ... ] wenn du bleibst bei der Güte (Gottes), sonst wirst auch du ausgehauen!" (11 ,22)
Alter und neuer Bund nach 2Kor 3 GERHARD DAUTZENBERG
Der zweite Korintherbrief nimmt eine Sonderstellung unter den Paulusbriefen ein. Er antwortet nicht auf Anfragen aus der Gemeinde, nimmt nicht Stellung zu aktuellen Gemeindeproblemen, setzt sich nicht mit anderen christlichen Lehrpositionen auseinander, entfaltet auch nicht die apostolische Lehre des Paulus, sondern beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde von Korinth. Das gilt für alle seine Teile, die vor der Zusammenfassung im heutigen 2Kor als einzelne Briefe oder Brieffragmente existierten, und im Hinblick auf unser Thema - für die Kapitel 1-8, die wahrscheinlich als "VersöhnWlgsbrief' den Abschluß der paulinischen Korrespondenz mit der korinthischen Gemeinde bildeten. Vorausgegangen waren der sog. "Tränenbrief' (vgl. 2Kor 2,4), von dem Teile vermutlich in 2Kor 10-13 erhalten sind, und der der Aussöhnung mit der Gemeinde dienende Besuch des Paulusmitarbeiters Titus in Korinth 1• Paulus schreibt den Versöhnungsbrief, nachdem Titus ihm von der in der Gemeinde eingetretenen Besinnung Wld ihrer Umkehr berichtet hatte (2Kor 7,6f), zur Vorbereitung seines eigenen schon lange angekündigten und von der Gemeinde erwarteten Besuchs. Dabei hat er die Absicht, letzte Mißverständnisse und MißstimmWlgen auszuräumen und sich der Gemeinde so darzustellen, wie er sich selber sieht, in seiner besonderen einzigartigen Berufung zum Dienst Gottes (2Kor 1,12-14~ 6,11ft). In seiner SelbstdarstellWlg greift er einerseits auf Strukturen der biblischen Todah, des Klage- und Danklieds des Einzelnen, zurück (2Kor 1,3-11 ~ 4, 7- 5,1 0) andererseits deutet er seine heilsmittlerische Funktion im Rahmen des göttlichen Heilsplanes mit sonst in seinen Briefen nicht begegnenden hohen Selbstqualifikationen: in 3,1-18 als ,,Diener des neuen Bundes" unter Rückgriff auf und unter 1 Zu
den literarischen Fragen s. G. DAUTZENBERG. Der zweite Korintherbrief als Briefsanunhmg. Zur Frage der literarischen Einheitlicblceit und des theologischen Gefbges von 2Kor I-8: ANRW Il. 25.4 (1987) 3045-3066.
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Weiterentwicklung der Kategorien des biblischen Bundesgedankens und in 5,11-21 als ,,Botschafter", dem die Weitergabe der Kunde vom in Christus geschehenen göttlichen Versöhnungshandeln an die Welt aufgetragen ist. Daher verschränken sich in 2Kor 3 die Absicht der paulinischen Selbstdarstellung bzw. sein Selbstverständnis als "Diener des neuen Bundes" in der Gegenüberstellung zu Mose als dem Diener des alten Bundes und die Gegenüberstellung von altem und neuem Bund. Infolgedessen ist vieles nur angedeutet, manches ist so kurz und änigmatisch fonnuliert, daß nicht nur die Deutung einzelner Aussagen wohl immer umstritten sein wird, sondern auch die Tragweite dieser in den Paulusbriefen singulären Gegenüberstellung unterschiedlich eingeschätzt wird. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß Paulus, indem er seine Sendung in den Rahmen des göttlichen Bundes- und Versöhnungshandeins stellt, nicht beliebige, sondern zentrale und höchst mögliche Qualifikationen beansprucht.
I. 2Kor 3: Argumentation und theologische Struktur Die "Ausgangsthese", auf Grund derer sich der Vergleich zwischen Paulus und Mose entfaltet, ist zunächst in 3,6 enthalten: Gott hat Paulus fiih.ig gemacht zum "Diener eines neuen Bundes". Dieser Bund wird sogleich antithetisch charakterisiert: "nicht des Buchstabens, sondern des Geistes". "Buchstabe" und "Geist" werden entgegengesetzte Wirkungen zugeordnet: "der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig". In den Versen 3, 7-11 folgt ein dreifach gestufter Vergleich zwischen dem "Dienst des Todes" und dem "Dienst des Geistes", welcher durch die Anwendung des Schlußverfahrens a minori ad majus nachweist, daß die dem "Dienst des Geistes" zukommende Doxa (Herrlichkeit) überragend herrlicher und dauernder ist oder sein muß als jene, welche den ,J)ienst des Todes" auszeichnete. Von dieser letzten wird einerseits gesagt, daß sie so überwältigend war, daß die Söhne Israels ihren Glanz auf dem Gesicht des Mose nicht ertragen konnten und dieser daher sein Gesicht verhüllte, und andererseits, daß sie doch nur zum "Vergehen" bestimmt war (3,7b.lla). Die Verse 3, 12-17 setzen zunächst bei einem Vergleich zwischen dem freimütig und offen verkündenden Paulus und dem sich verhüllenden Mose ein, welcher die "Söhne Israels" durch die Verhüllung an der
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Erkenntnis hindem wollte, daß die ihm zuteil gewordene Herrlichkeit vergänglich war und ein Ende hatte (3,13). So haben sie das Ende der Herrlichkeit tatsächlich nicht wahrgenommen, "ihre Sinne waren verstockt" (3,14a). Die Verse 3,14-15 wenden sich von da aus exkursartig dem Motiv der Verhüllung in der Gegenwart der Synagoge zu: "diese"(!) Verhüllung bleibe "bis heute" bei der Verlesung des "alten Bundes"; wenn "Mose" verlesen werde, liege die Verhüllung auf "ihren Herzen". Nicht ausgesprochen, aber im Gedankengang zweifellos enthalten ist, daß die Synagoge oder die Söhne Israels "bis heute", wenn auch irriger Weise, von der Anwesenheit der mit der Gesetzgebung des Mose verbundenen Herrlichkeit überzeugt sind. Paulus setzt dagegen, daß die Verhüllung da fällt, wo sich jemand zum Herrn bekehrt, da wo der Geist anwesend ist. Dieser schenkt die Freiheit (3, 16-17). Der Schlußsatz 3, 18 nimmt noch einmal das Motiv der "Herrlichkeit" auf: nicht nur Paulus, sondern "wir alle" erfahren im Gegenüber zu der mit dem Dienst des neuen Bundes geschenkten Herrlichkeit eine Verwandlung oder Verklärung "von Herrlichkeit zu Herrlichkeit", welche der eingangs erwähnten Verklärung des Mose entspricht und diese übertrifft. Bemerkenswert ist, daß der ganze Abschnitt theologisch und nicht christologisch argumentiert - die Kyrios-Aussagen in 3,16-18 sind aus meiner Sicht nicht christologisch zu deuten. Er beschreibt die christliche Heilsgegenwart durch Inanspruchnahme und Weiterentwicklung atl. Konzeptionen: Bund, Geist, Verheißung des Lebens, Herrlichkeit, Gerechtigkeit (3, 9) und im Rückgriff auf die Erzählung vom Herabsteigen des Mose vom Berge Sinai Ex 34,29-35, aber so, daß diese Inanspruchnahme exklusiv wird und daß die in der biblischen Überlieferung verankerte Heilszuversicht Israels als irrig und weit überholt erscheint. Das exegetische Verfahren, mit welchem Paulus die für ihn so wichtigen Thesen vom Vergehen der Doxa des Mose und von einer Täuschungsabsicht des Mose am atl. Text zu verifizieren sucht, ist mehr als gewaltsam und willkürlich. Es mag noch innerhalb des damals Erlaubten gelegen haben. Immerhin konnte jeder Bibelleser oder Bibelhörer die wirklichen Begründungszusammenhänge fiir die Verhüllung des Mose erfahren. Zugleich offenbart sich darin aber eine argumentative Schwäche in der Auseinandersetzung mit den jüdischen Überzeugungen von der Beständigkeit des Bundes, von der Tora als Weg zum Leben, von der Herrlichkeit der Tora und der darin angebotenen Gottesnähe.
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Relativ unvermittelt zur vorausgehenden typologisch begründeten Inanspruchnahme von Bund und Herrlichkeit, aber in der Sache dazugehörig, entfaltet Paulus im auf 3,18 folgenden Abschnitt 4,1-6 die Bezüge seines Dienstes zur göttlichen Herrlichkeit in einem christologischen Begründungszusammenhang: er verkündet das Evangeliwn von der ,,Herrlichkeit des Christus" (4,4). Denn Gott hat ihn in einem außerordentlichen, heilsgeschichtlich nur mit den Schöpfungsworten vergleichbarem Offenbarungshandeln die Anwesenheit seiner Herrlichkeit auf dem Antlitz des zu seiner Rechten erhöhten Christus erkennen lassen (4,6).
II. 2Kor 3 als Auseinandersetzung mit den Vorzügen Israels In der Forschungsgeschichte begegnen mehrere Versuche, den Abschnitt 2Kor 3,7-18 wegen seiner Singularität, wegen seiner Thematik und wegen seiner unklaren Gedankenführung als paulinische Bearbeitung einer nichtpaulinischen (gegnerischen) Vorlage zu deuten. Diese Versuche haben aus verschiedenen Gründen an Einfluß verloren. Ausschlaggebend war wohl die Einsicht, daß der Abschnitt so und nur so für den Kontext des 2Kor mit der Absicht der Selbstdarstellung des Paulus geplant und geschrieben werden konnte. Unsicherheit besteht in der Frage, wie zentral die Kategorie des Bundes fiir die paulinische Theologie ist und welches Gewicht der GegenübersteUung von "neuem" und "altem Bund" fiir das Verständnis des Ganzen zukommt, da der "neue Bund" programmatisch den Dienst des Paulus bestimmt (3,6), während der "alte Bund" wenigstens primär nur als zu verlesender Text, parallel zu "Mose" erwähnt wird (3,14f). Hier ist nun die Einsicht von Bedeutung, daß der literarisch und thematisch so spannungsreiche Abschnitt sich einer intensiven Auseinandersetzung mit Vorzügen Israels verdankt, welche in weniger polemischer Form in Röm 9,4 aufgezählt werden: "sie sind Israeliten, ihrer ist die Sohnschaft und die Herrlichkeit und die Bünde und die Gesetzgebung und der Gottesdienst und die Verheißungen". Aus dieser Reihe werden in 2Kor 3,6-18 die im Zentrum stehenden Begriffe "Herrlichkeit", "Bund" und "Gesetzgebung" nicht nur aufgenommen, sondern in einer derart inneren Verbindung gesehen und behandelt, daß man fast von einer israelitischen Trias reden möchte.
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"Gesetzgebung" In enger Verbindung mit dem Thema ,,Bund" in 2Kor 3,6 erscheint zunächst die "Gesetzgebung", hier in der Form, daß der neue Bund und der alte Bund sich antithetisch gegenüberstehen. Der neue Bund ist nicht durch den "Buchstaben", d.h. durch das niedergeschriebene Gesetz oder die Gesetzgebung qualifiziert (vgl. 3,7a), sondern durch den "Geist". Beide haben einander entgegengesetzte Wirkungen. Während der alte Bund auf Grund seiner Verbindung mit der Gesetzgebung nur "töten", den "Tod" bringen und "Verurteilung" bewirken kann (3,6b. 7a 9a), vermittelt der neue Bund den "Geist", der "lebendigmacht", und die "Gerechtigkeit" (3,6b.8.9b). "Töten" und ,,Lebendigmachen" sind im Hinblick auf das Ergehen im Endgericht ausgesagt. Schroffer kann die Gegenüberstellung von altem und neuem Bund nicht sein. In dieser Hinsicht kann der neue Bund den alten nur ablösen. In dieser verkürzten und sozusagen auf Schlagworte reduzierten Gegenüberstellung des alten und des neuen Bundes fehlen jegliche differenzierende Überlegungen. Das gilt für beide Seiten, für den alten und für den neuen Bund. Wo der Geist an die Stelle der Gesetzgebung als einer Komponente des Bundesverständnisses tritt, wird tief in die Struktur des Bundesgedankens als einer von Gott gesetzten Verfügung eingegriffen. Die Bindung an das Gesetz kann dennoch nicht ganz aufgegeben werden. Das zeigt sich sehr deutlich an der Paränese im Galaterbrief, der ja eine ähnliche Abgrenzung zum Sinaibund voraussetzt. Nachdem Gal 5,14 an das Gesetz in der es erfüllenden Form des Gebots der Nächstenliebe erinnert hat und das Verhalten der Gemeinde daran mißt, erklären die Verse 5,16-18, daß nur der Wandel im Geist von der Rechtsforderung des Gesetzes befreit. GrammaiBuchstabe ist nicht eine neutrale Bezeichnung der Heiligen Schrift, sondern gewählt, um diese in ihrer Ohnmacht im Heilsprozeß, ihr Nur-Geschriebensein, ihren Mangel an Pneuma/Geist, zu charakterisieren. Paulus gerät mit dieser Gegenüberstellung an die Grenzen des theologisch Erlaubten. In Röm 7, 14: "denn wir wissen, daß das Gesetz pneumatisch/geistlich ist" stehen sich Gesetz und Geist nicht mehr ausschließend gegenüber, der Sache nach handelt es sich um eine Korrektur der Position von 2Kor 3,6. 2 Logisch ist die "Verurteilung" 2 Weitergchc:nde
Kondcturen werden in der gegenwartigen Diskussion über eine Biblische Theologie gef~ vgl. z.B. E. ZENGER. DieToraals kanonisches Buch, in: DERs. u.a., Einleitung in das AT, Stuttgart 1995,4446: 45: ,,Der Kanon ist ein Potential kreativer Energie, die sich lcanongemaß entfaltet In biblischer Sprache: der Kanon ist nicht toter Buchstabe, sondern gebündeltes Sinnpotential, eben Geist, der lebendig werden und bleiben soll"~
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vor dem "Tod" anzusetzen bzw. "Tod" Wirkung von "Verurteilung". Die Voraussetzung für eine "Verurteilung" ist an sich die Übertretung des Gesetzes, bzw. die Sünde3. Während Paulus diesen Ursachenzusammenhang sonst, wenn er Gesetz und Tod miteinander in Beziehung setzt, in der einen oder anderen Weise beachte~. ist unser Text offensichtlich an einer solchen Differenzierung nicht interessiert. Die kontrastierende Gegenüberstellung soll das ganze Licht auf die Heilsfülle des neuen Bundes und damit auf die eschatologische Bedeutung des dem Paulus übertragenen mittierischen Dienstes lenken. In diesem scharfen Kontrast zwischen Buchstabe und Geist spiegelt sich die seit IKor 15,56 manifeste Auseinandersetzung des Paulus mit dem Gesetz, die im Versöhnungsbrief ähnlich wie im I Kor nicht weiter entfaltet wird, aber zweifellos bereits zu einer Konstante seiner Theologie und Verkündigung geworden war und sicher die folgende Abgrenzung gegenüber Mose und dem alten Bund bestimmt. 5 ,,Herrlichkeit" Die He"lichlceit scheint in 2Kor 3,7f zunächst entsprechend Ex 34,2935LXX nur dem Dienst des Mose und von da aus typologisch dem Dienst des neuen Bundes zugeordnet zu sein, aber spätestens in 3,11 wird deutlich, daß die Verhe"lichung des Mose für Paulus nur den
H.-J. KRAus, Der Erste und der Neue Bund Bibliscb-theologische Studie zu Jer 31,31-34, in: C. DoHMENflb. SCoiNG{Hg.), Eine Bibel- zwei Testamente, Paderbom 1995,59-69: ~8. 3 D.h. daß die Sünde als Obertretung göttlicher Gebote der Venuteilung und dem Tod vorausgeht Davon zu Wltcrscbeideo ist die in lutherischer Traditioo stehende Auslegtmg, welche sich z. B. bei E. I
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Anlaß bot, über die Herrlichkeit des Mosebundes und des neuen Bundes zu sprechen. "Herrlichkeit", hebräisch kabod, zeigt die Gegenwart und das Heilswirken Gottes in der Geschichte, sein "Jahwesein für ganz Israel" an. 6 Schon die Priesterschrift hatte in dem Zusammenhang Ex 24,15Lev 9,24 die Manifestation der "Herrlichkeit JHWHs" eng mit dem Sinaigeschehen verbunden und mit dem Bundesschluß (Ex 24, 15ft) in Beziehung gesetzt. In der LXX wurde die Bundeserneuerung Ex 34,1 0.27f durch die Schilderung der "Verherrlichung" des Antlitzes des Mose (Ex 34,29f35) über den allgemeinen Herrlichkeitsrahmen der Sinaierzählung hinaus (vgl. dazu Sir 17, 12-13) gleichfalls mit einem besonderen Herrlichkeitsbezug ausgestattet, so daß die Konzeptionen von Bund und Manifestation göttlicher Herrlichkeit noch enger zusammenrücken. Die Qumran-Essener sehen ihren erneuerten Bund durch eine Manifestation des göttlichen kabod errichtet: "Und du bestelltest sie dazu, sich fiir Dich abzusondern zu einem Heiligtum aus allen den Völkern, und du erneuertest Deinen Bund für sie durch eine Erscheinung von Herrlichkeit und Worte des Geistes Deiner Heiligkeit" (IQ34 Frg.3, ii 6-7). Propheten und Psalmen erwarten das zukünftige Heil Israels als eine erneute Offenbarung des kabod'. Nach Röm 6,4 ist die Auferweckung des Christus von den Toten eine endzeitliche Manifestation der rettenden .,Herrlichkeit des Vaters" (vgl. 2Kor 4,4-6). Die Aufreihung der Vorzüge Israels in Röm 9,4 nötigt vielleicht nicht dazu, im Nebeneinander von Doxa und Bund deren engen Zusammenhang zu erkennen, aber die ganze Argumentation in 2Kor 3 setzt gerade diesen Zusammenhang voraus. Zum neuen Bund gehört eine neue Manifestation göttlicher Herrlichkeit, welche die Herrlichkeitsoffenbarung bei der Gründung des alten Bundes eschatologisch übertrifft. Dabei ist nicht nur an eine Manifestation göttlicher Herrlichkeit im Zusammenhang der Gründung des Bundes gedacht. Die Verse 2Kor 3, 9. 11 setzen die Gegenwart der Doxa im neuen Bund ebenso voraus, wie dies nach Röm 9,4 fiir Israel gilt. Im Unterschied zur Doxa des Mose ist die dem Dienst des Geistes zukommende Doxa jedoch eine unsichtbare Realität. Daher kann und muß von ihr zugleich im Modus der Hoffuung auf ihr Offenbarwerden gesprochen werden (2Kor 3,12 vgl. Röm 8,18.24). Die begriffliche Möglichkeit von einer 6 U. STRl.JPPE, Herrlichkeit I. NBL ll (1995) l31ff: 132~ P. WEJMARiG. DAUTZENBF.RG, Herrlichkeit Gottes 1-W: LThK3 5 (1996)21-24. 1 M WEINFElD, kabod: ThWAT IV (1984) 23-40: 36: in Jes 24,23~ 25,6ffin Anlelmung an die Terminologie von Ex 24.
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unsichtbaren Herrlichkeit zu sprechen, war durch die innerjüdische Entwicklung des Begriffs gegeben. Bezeugten die Erzählungen von ihrem Erscheinen am Sinai ihre sinnliche Wahmehmbarkeit, die Visionen der Propheten ihre himmlische Realität (Ez 1,28; 3,23; 8,4; 2Kor 4,6 vgl. Apg 22, 11 ), so war es möglich geworden, von ihrer unsichtbaren Gegenwart in diesem Äon und ihrer erwarteten Offenbarung im kommenden Äon zu sprechen. So konnte sie, wenngleich unsichtbar, der Tora oder den Heilsgütern Israels zugerechnet werden (4Esr 9,37; Röm 9,4). Während Paulus so von einer dem neuen Bund gewährten und diesen auszeichnenden ständigen Gegenwart (2Kor 3, ll.l8a) überfließender (2Kor 3,9b.l0b) göttlicher Herrlichkeit spricht, welche alle Christen unsichtbar, aber wirklich in einem erst im Eschaton zum Abschluß kommenden Prozeß ähnlich verherrlicht und verklärt (2Kor 3, 18b), wie es von Mose am Sinai berichtet wurde, bestreitet er dem Mose gegen Ex 34 die Dauer und Beständigkeit seiner Verherrlichung (2Kor 3,7 b.13) und damit dem alten Bund das Heilsgut beständiger He"lichkeit. Wie die Herrlichkeit des Mose zum Vergehen bestimmt war, so ist sozusagen im Umkehrschluß von der vergehenden Herrlichkeit auf den Bund der alte Bund zum Vergehen bestimmt (2Kor 3,11a). Bund" " Die Themen ,,Bund, Herrlichkeit und Gesetzgebung" sind von der Sinaiperikope an eng mit einander verbunden. In 2Kor 3 ist zweimal vom "Bund" die Rede, in 3,6 vom "neuen Bund" und in 3,14 vom "alten Bund". Es ist umstritten, ob die Konzeption des ,,neuen Bundes", die Paulus aus der Herrenmahlstradition (1Kor 11,23-25) bekannt ist, in Anlehnung an Jer 31,31-34 gestaltet und von Paulus in diesem Sinne aufgenommen worden ist. Die einzige wörtliche Berührung zwischen Jer 31 und 2Kor 3,6.7-18 besteht in der Charakterisierung des Bundes als eines "neuen" in 3,6. Für einen zumindest traditionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen 2Kor 3 und Jer 31 sprechen die bereits in 2Kor 3,3 beginnenden Anspielungen auf Jer 31,33 und Ez 11, 19; 36,26. Diese Ezechielverse gehören zur "Nachgeschichte der Bundesverheißung" Jer 31. 9 8 Zur
gegenWärtigen Diskussion über die Aussage vom ,,neuen Bund.. in IKor 11,25 vgl. W. KRAus. Das Volk Gottes, TObingen 1996, 191-195. 9 C. LEVIN, Die Verheißung des neuen Bundes in iJ:uan theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt. Göttingen 1985, 132-146, 197-256. Vgl. auch die Selbstbezeicluumg der
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Das bereits weiter oben 10 wiedergegebene Zitat aus 1Q34 läßt erkennen, daß "neuer Bund" in Qumran wie in Jer 31 als "erneuerter Bund" zu verstehen ist. Der neue Bund nach Jer 31 tritt nicht an die Stelle eines "alten Bundes", sondern an die Stelle des gebrochenen Bundes. "Man muß sich von neutestamendichen Vorurteilen frei machen: der neue Bund in Jer 31,31 ist kein qualitativ neuer, sondern ein erneuerter Bund. Daran ändert auch die Entgegensetzung nichts: ,Nicht wie der Bund [... ]'" 11 . In der Spur von Jer 31 wird man bei der Ausdeutung der Qualifikation des Bundes als eines "neuen" die Kontinuität der göttlichen Zuwendung zu Israel nicht in Frage stellen, sondern "den neuen Bund als den Akt souveräner Wiederzuwendung Jahves" 12 verstehen. Während bei der Besprechung der Bundeskonzeption von Jer 31 also großer Nachdruck auf die Entsprechung zwischen dem von Israel gebrochenen Bund und dem verheißenen neuen Bund und auf die Kontinuität des göttlichen Bundeshandeins gelegt wird, sind die auf den Bund bezogenen Aussagen in 2Kor 3,6. 7-11, wie wir bereits gesehen haben, antithetisch: der neue Bund ist nicht durch die Gesetzgebung, durch den "Buchstaben", bestimmt, sondern durch den Geist; zwar kommt beiden Bünden Herrlichkeit zu, die Herrlichkeit des neuen Bundes ist jedoch überschwänglich reicher als jene des alten Bundes insofern sind die Bünde immerhin ähnlich und vergleichbar (trotz 3,1 0!). Aber während die Herrlichkeit des alten Bundes zusammen mit jener des Mose vergangen ist und darin auch das Vergehen des Bundes selbst sich abzeichnet, "bleibt" der neue Bund in seiner Herrlichkeit (3, 11 ). D.h. der "neue Bund" nach 2Kor 3 steht zum alten Bund weit mehr in einem Verhältnis der Diskontinuität als der Kontinuität. Er ersetzt und überbietet den alten Bund, der auf Grund seiner Konstitution vergänglich und nicht heilskräftig war. Gleichwohl ist der Mosebund der Typos, das heilsgeschichdiche (Gegen)modell, mit Hilfe dessen die Heils- und Herrlichkeitsfiille des neuen Bundes erschlossen und veranschaulicht werden kann. Noch kurz zum .,alten Bund". Er wird als solcher nur in 3,14 angesprochen und ist dort Gegenstand der Lektüre bzw. der öffentlichen Träger der Damaskusschrift als ,,neuer BWld im Lande Damaskus" (CD 6,19", 8,21~ 20,12 vgl. lQpHab 2,3).
°C.
1
lEVIN,
Verheißung, 94.
Ebd., 140f~ vgl. H.-J. KRAus, Der Erste und der Neue Btmd: 63~. 12 C. LEviN, Verheißung, 143~ H.-J. KRAus, Bund, 67: ,,Der neue Akt der BefreilDig ist auch ein neues Ereignis der FOiuung und Weisung durch die im Innersten waltenden Gebote Gottes." 11
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Verlesung. Die Bezeichnung "alter Bund" begegnet an dieser Stelle zum ersten Mal in der Geschichte. 13 Die parallele Formulierung in 3,15 - dort wird ,,Mose" verlesen - läßt erkenne~ daß Paulus bei "alter Bund" nicht an unser chrisdiches "Altes Testament", sondern an die Tora14 mit dem Bericht vom Bundesgeschehen am Sinai und von der Verklärung des Mose denkt. Die Neuprägung des Syntagmas "alter Bund" und dessen Verwendung anstelle von "Buch des Bundes" könnte sich aus der beabsichtigten Gegenüberstellung zum ,,neuen Bund" erklären. Dann stände an den Anflingen der chrisdichen Prägung "alter Bund"/Altes Testament die implizite Behauptung, daß dieser von Anfang an zeidich begrenzt sein sollte und durch den "neuen Bund" endgültig abgelöst ist. Als Teilhaber an den beiden Bünden stehen sich die "Söhne Israels" (3,7) oder "sie" (3,14.15) aufder Seite des alten Bundes und "wir alle", d.h. die Gemeinde, auf der Seite des neuen Bundes gegenüber, aber so daß die "Söhne Israels" in einem, was die Herrlichkeit und das Genügen des alten Bundes betrifft, grundlegenden Irrtum befangen sind, welcher auf das Verhalten des Mose zurückgeht. 15 Vergleich zwischen 2Kor und Röm 9,1-5 Es hat sich bestätigt, daß das Nebeneinander von Herrlichkeit, Bund, Gesetzgebung in Röm 9,4 nicht zufällig und rein additiv ist, diese drei Vorzüge Israels stehen vielmehr in einem inneren Zusammenhang, der auch schon die Argumentation in 2Kor 3 bestimmt. Röm 9,4 und 2Kor 3 unterscheiden sich aber in der Art, in der Paulus mit diesen drei Vorzügen Israels umgeht. In 2Kor beschreiben sie zwar den "alten Bund", sind aber wie dieser selbst von vornherein nur vorläufig - das gilt für die Herrlichkeit- eher bedrohend als heilsam - das gilt für die Gesetzgebung. Immerhin stehen Bund und Herrlichkeit in einem typologischen Entsprechungsverhältnis zum neuen Bund und dessen eschatologischer Herrlichkeit. Die Gegenüberstellung von Buchstabe oder Gesetzgebung zum Geist scheint dagegen jedes Entsprechungsverhältnis zu negieren. Sie ist aber, wie der Vergleich mit den Aussagen von
Das Syntagma ,,alter Btm
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Ga1 5,14.16-18 zeigen konnte 16, eindeutig forciert und polemisch und wird den wirklichen Verhältnissen schon in den paulinischen Gemeinden nicht gerecht. Zu bedenken ist auch die Korrektur, welche die Aussage vom pneumatischen Wesen der Tora Röm 7,14 17 faktisch an der Antithese von Buchstabe und Geist vornimmt. In Röm 9,1-5 macht Paulus keinen Versuch, die Bedeutung der Israel gewährten Heilsgaben von Herrlichkeit, Bund und Gesetzgebung durch Gegenüberstellung zum Heilsstand der Gemeinde zu schmälern oder zu relativieren. Dies ist zumindest eine ganz andere Zugangsweise als jene, welche in 2Kor 3 begegnet. Von einem Vergehen des Bundes bzw. der Bünde und der He"/ichkeit kann in Röm 9,4 keine Rede sein; dadurch würde die polare Aussagestruktur von Röm 9,1-5 18 zerstört, in welcher zunächst in 9,1-3 der Ausschluß Israels aus der Heilsgegenwart des Christus beklagt wird, dann aber in 9,4 die dennoch Israel von Gott gewährten Privilegien oder Heilszusagen aufgezählt werden, die auch durch das gegenwärtige Verhalten Israels ihren Gabe- und Verheißungscharakter nicht verlieren. Nun sind Spannungen im Corpus Paulinum nichts Ungewöhnliches. Diese Spannungen zeigen sich besonders in den Auseinandersetzungen des Paulus mit der Tora und mit dem Unglauben Israels gegenüber dem Evangelium. Im Fall des Vergleichs zwischen 2Kor 3 und Röm 9 und bei dem Versuch einer theologischen Wertung dieser so unterschiedlich ausgerichteten Texte, braucht man aber nicht bei der Feststellung stehen zu bleiben, daß den Privilegien Israels im Röm ein ausgewogeneres Urteil zuteil wird. Einmal sind die Aussagen von der der Gemeinde mitgeteilten endzeitliehen Gabe des Geistes (zu 2Kor 3,6.8), von der durch Predigt, Glaube und Taufe vermittelten endzeitliehen Gerechtigkeit (zu 2Kor 3,9) und vom neuen Bund (zu 2Kor 3,6) traditionsgeschichtlich älter als die in 2Kor 3 entwickelte antithetische Typologie und von dieser unabhängig. Zum anderen wird die Typologie ja nicht um ihrer selbst willen entwickelt, sondern wie schon eingangs 19 gezeigt im Rahmen der Selbstdarstellung des Paulus, die bereits in 3, 7f einen Vergleich zwischen Paulus und Mose voraussetzt, der in 3,12f dann explizit wird. Die nicht nur theologische Auseinandersetzung um die Geltung der Tora in den paulinischen Gemeinden, bzw. um deren 16 S.o.
S. 233. S. 233. 18 Zw- Interpretation von Röm 9,1-5 vgl. W. KRAus, Volk, 296-298~ DERs., .,Volk Gottes'' als Verhei&mgsbegrifbei Paulus, Kul12 (1997) 134-147: 140. 19 S.o. S. 230. 17 S.o.
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Freiheit von der Beschneidung verstärkte wohl noch die ohnehin vorhandene Bereitschaft des Apostels zu antithetischen Formulierungen. Entscheidend ist aber wohl der Nachweis, daß der Paulus des Römerbriefs in der Israelfrage zu einer anderen. gegenüber seinen Ausführungen im ersten Brief an die Thessalonicher und im Galaterbrief gewandelten Position gefunden hat, welche die "bleibende Erwählung Israels in der Promissio Gottes"20 anerkennt und an ihr festhält
III. Paulus und Mose, Verhüllung und Enthüllung Der typologische Vergleich zwischen dem Dienst des Paulus und dem Dienst des Mose (2Kor 3,6.7ft), der in 3,12 in einen unmittelbaren Vergleich zwischen dem Auftreten und dem Verhalten der beiden Gestalten übergeht, ist in mehrfacher Hinsicht von einer atemberaubenden Kühnheit. Dies wird unmittelbar einsichtig, wenn man wahrnimmt, daß Mose in den ntl. Überlieferungen und Schriften gewöhnlich zur Gestalt des Christus in Beziehung gesetzt wird (Mk 9,4parr; Joh 1,17; 1Kor 10,2; Hehr 3,2ft). Paulus knüpft überdies an das bereits überhöhte und ins Übermenschliche gesteigerte Mosebild des hellenistischen Judentums an. 21 So deutet Philo z.B. die in Ex 34 angedeutete Verklärung des Mose in folgender Weise: nachdem Mose auf dem Berge Gott geschaut hatte, gewann er an Seele und Leib eine höhere Qualität und sein Antlitz strahlte sonnengleich (Philo VitMos ß 69t). Ansatzpunkt für den von Paulus durchgefiihrten Vergleich ist der Dienst am alten bzw. neuen Bund. Neuere Studien22 zur Wortgruppe diakonosldiakonia haben erwiesen, daß es verfehlt wäre, wenn man bei der Interpretation dieser "Dienstaussagen" bei Dienstleistungen wie dem Tischdienst ansetzen würde. Für einen großen Teil der antiken Belege, besonders aus dem religiösen Bereich, bestimmen die Bedeu-
20
W. KRAus, Paulinische Perspektiven zum Thema "bleibende Erwahlung Israels", in: DERs. (Hg.), Christen tmd Juden. Perspektiven einer Annaherung, GOterslob 1997, 143-170: 14~ vgl. W. KRAus, Volk., 353-357. 21 S. dazu G. VERME5, Die Gestalt des Moses an der Wende der beiden Testamente, in: H. CAZEU.ES u.a (Hg.), Moses in Schrift Wld Überlieferung. Dosseidorf 1963, 61-93; J. .JERE. MIAS, M~ A I, ThWNf IV 854-860; S.J. 1-IAFEMAN, Moses in the Apoaypha and Pseudepi~: A Survey, JoumStudPseud 7 ( 1990) 79-104. Bahnbrechend D. GsüRGI, Die Gegner des PaulWI im 2. Korintherbrief. Neukirchen 1964, 31-38; kritisch weiterfilhrend, differenzierend auf einer weit größeren Basis vm Texten J.N. CowNs, Diakonia, Oxford 1990, 203ff.
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tungen: "Bote/Botschaft", "Vermittler, BeauftragterNermittlung, Auftrag" die Verwendung der Wortgruppe. Daraus ergibt sich, daß Paulus fiir Mose und fiir sich eine je exklusive Vermittlungsfunktion im Bundesgeschehen voraussetzt. Für Mose gründet diese in seiner Erwählung und Berufung, wie seine Verklärung in der Schau der göttlichen Herrlichkeit gründet. Impliziert ist, daß die Herrlichkeit des Mose als des Bundesmittlers mehr seiner Funktion als seiner Person. ja dem Bund selber gilt und diesen auszeichnet. Die Dialektik des Vergleichs zwischen dem alten und dem neuen Bund fordert nun einerseits, daß die Herrlichkeit des Mose möglichst ungeschmälert, ja eher gesteigert angesetzt wird, damit ihre Überbietung auf der Seite des neuen Bundes um so größer ausfalle; andererseits drängt das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Bünden dazu, die dem Mose gewährte Herrlichkeit zu beschränken, was ja in 3, 7b durch deren Befristung geschehen ist. Auf der Seite des neuen Bundes stellt Paulus entsprechend die Herrlichkeit der dem neuen Bund dienenden Vermittlungsfunktion, d.h. seines Apostolats, in den Vordergrund. Das von der dem neuen Bund gewährten unermeßlichen He"/ichkeit ausgehende Verklärungsgeschehen bleibt nicht auf die Person des Vermittlers beschränkt, wie bei Mose, sondern bezieht die ganze Gemeinde ein (3,18). Die Tatsächlichkeit der Doxa-haltigkeit des neuen Bundes und des Vermittlerdienstes des Paulus wird in 2Kor 3 nur mit Hilfe der Typologie und der Anwendung des argumentum a minori ad maius demonstriert. Da Paulus aber in 4,1-6 Stichworte aus Kapitel 3 aufuehmend von seiner eigenen Berufungserfahrung als einer einzigartigen Schau der göttlichen Doxa auf dem Antlitz des Erhöhten berichtet und damit von einer neuen der Sinaioffenbarung entsprechenden und diese überbietenden Manifestation göttlicher He"/ichkeit, besteht ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Offenbarungszeugnis 4,6 und der Typologie von 3,6-18. Die "Herausnahme" des Mose aus dem Gegenüber zu Christus und der dadurch mögliche Vergleich der Bundesmittler Mose und Paulus entspricht durchaus der auch sonst wahrnehmbaren kritischen Auseinandersetzung des Paulus mit der Gestalt des Mose. Nach Gal 3 läuft die heilsgeschichtlich entscheidende Linie der Verheißung von Abraham zu Christus (Gal3,15f). Das nach Abraham gegebene Gesetz hebt diese Beziehung nicht auf (Gal 3,17). Paulus vermeidet in diesem Zusammenhang sogar die ausdrückliche Nennung des Mose, indem er von ihm nur als von "dem Vermittler" spricht (Gal3,19f).
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Zu Lasten des Mose geht auch der Vergleich zwischen ihm und Paulus in 2Kor 3, 12f Der Vergleich markiert einen Unterschied in der Verkündigung: auf der Seite des Paulus: voller Pa"hesia!Freimut, Offenheit, und auf der Seite des Mose: Verhüllung mit der Absicht, die "Söhne Israels" an der Erkenntnis des Endes des Vergehenden - der Herrlichkeit des Mose, der Herrlichkeit seines Dienstes, eingeschlossen: det Herrlichkeit des alten Bundes- zu hindern. Ob Paulus mit der Betonung seiner Pa"hesia auf geäußerte Kritik an seinem Verhalten als Missionar, an angeblicher Zweideutigkeit seiner Äußerungen (vgl. 2Kor 1,12.18; 4,2) reagiert, oder auf den Vorwurf, seine Verkündigung sei schwer verständlich und daher häufig ohne Erfolg oder gar nicht als "Evangelium", als endzeitliche Heilsbotschaft zu erkennen ( vgl. 2Kor 4,3), kann kaum entschieden werden. Sicher ist, daß er mit Parrhe.-;;a wie mit der den Zusammenhang in 3,17 abschließenden Reklamation der Eleutheria/Freiheit sein eigenes Verhalten in Übereinstimmung mit dem hellenistischen Ideal des wahren Philosophen als das eines moralisch Freien bestimmfl, der einzig der Wahrheit verpflichtet ist (vgl. 2Kor 2,17; 6,7). Das Verhalten des Mose (Verhüllung) wird in enger Anlehnung an den Text Ex 34,33.35 beschrieben, allerdings wird ihm eine im Buch Exodus fremde Absicht unterschoben. Die enge Anlehnung an den Bibeltext läßt vermuten, daß Paulus den Mose nicht persönhch belasten, sondern am Bibeltext selbst die Differenz zwischen dem dem Diener des alten Bundes und dem dem Diener des neuen Bundes angemessenen Verhalten entdecken und aufweisen will. Aber auch so ist der alte Bund von seinen Anfängen an mit der Vorstellung einer Beständigkeit verbunden, die in Wirklichkeit eine Dlusion ist und auf einer Täuschung beruht. Ein weiterer Grund für die falsche Überzeugung, daß der Glanz des mosaischen Dienstes unvermindert weiterbestehe, ist in der Verstockung der Sinaigeneration zu suchen. Die "Söhne Israels" konnten die Ab8icht des Mose und das Ende seiner Verklärung nicht wahrnehmen, "weil ihre Sinne verstockt waren" (2Kor 3,14a). Die Verstockungsaussage ist im Passiv formuliert, damit ist eine göttliche VerfUgung angedeutet: Israel sollte, auch wenn es die Verhüllung des Mose sah, das Vergehen des Glanzes und die Vergänglichkeit des Mosedienstes gar nicht wahrnehmen. Die beiden folgenden Sätze (2Kor 3, 14b 15) sprechen davon, daß der gleiche Irrtum bis in die Gegenwart Israels anhält. 23
F.S.loNES, ,,Freiheit" in den Briefen des Apostels Paulus, Göttingen 1987, 61~7.
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An dieser Stelle begegnet uns zum ersten Mal im NT das fheologwnenon von der "Verstockung Israels". Es ist vom Urchri~tentum angesichts des sich schon in der ersten urchristlichen Generarion abzeichnenden Scheiteros der missionarischen Bemühungen un1 Israel sehr früh entwickelt worden. 24 Es setzt bei der gegenwärtigert ablehnenden Haltung Israels gegenüber dem Evangelium an und sieht diese in der Schrift angekündigt. Neben dem aus einer nicht LXX-fassung von Jes 6,9f (bei Joh 12,40) herrührenden Kennwort poroolverstocken (2Kor 3,14~ Röm 11,7.25) begegnet bei Paulus in diesem Zus~en hang ein Zitat aus Dtn 29,3 (Röm 11,8), welches in 2Kor 3,l4b mit "bis zum heutigen Tag" gleichfalls Spuren hinterlassen hat. Die Übersetzung der Wortfamilie p6roo mit Wörtern des Stammes verstocken ist allerdings problematisch, da damit mehr auf eine charakterliche Verhärtung abgehoben wird, als auf das im Vordergrund der biblischen Aussagen stehende "Nicht-Erkennen" bzw. "Nicht-Erkennt'n-Können"25 und "Nicht-Erkennen-Lassen" (bei passivum divinum). Während andere Formen der Verstockungsaussage printär am gegenwärtigen Unverständnis Israels gegenüber dem Evaflgelium orientiert sind, betont 2Kor 3, 14f, Israel habe von seinen Anfängen an verkannt, daß die Herrlichkeit des alten Bundes und damit dieser selbst vergänglich seien, und es sei im Gegenteil von seinen Anfängen bis zur Gegenwart von der Anwesenheit der Herrlichkeit und der Gültigkeit des Bundes überzeugt. 3,14b drückt dies so aus, daß die "Verhüllung" des Mose nun bei der Verlesung des "alten Bundes" die Erkenntnis der wahren Zusammenhänge hindert~ nach 3,15 liegt die "Verhüllung" bei der Verlesung des Mose "auf ihren Herzen", also auf ihrem Erkenntnisvermögen - der biblische Ausgangspunkt für das mittelalterliche Bild der durch eine Binde auf den Augen am Sehen gehinderten, blinden Synagoge26 . Während Paulus im Römerbrief, wie wir gesehen haben, Herrlichkeit und Bund nicht mehr nur als Dlusionen Israels behandelt, bleibt er bei der Verstockungsaussage, die er nun aber im Rahrnen der göttlichen Heils- und Geschichtslenkung zu verstehen sucht (Röm J. GNILKA, Die Verstoclnmg Israels in der Theologie der Synoptiker. MOnehen l961~ zwn Schriftgebrauch: B. LINDARS. Nr Apologetic. London 1961. 159-162. 25 Vgl. M.-1. SEEwANN• .,Verstockung"• .,Verhärtung" oder .,Nicht-Erkennen''? flbc:rlcgungen zu Rom 11.25. Kul 12 (1997) 161-172. 26 Z.W. Ikonographie s. W. SEIFERm, Synagoge lUld Kirche im Mittelalter. MOnehen 1964~ P. VONDERÜSTENSACKEN. Die Decke des Mose. in: DERs .• Die Heiligkeit der Tora. MOnehen 1989. 87-115: 87f. zur Auslegungsgeschichte s. H. Sc:HREcKENBERG. Die christlieben Adversus-Judaeos Texte Wld ihr literarisches und historisches Umfeld (l.-11.Jb.). FrankfUn 11995. 111.316.363.393 (Prudentius. Paulinus. Jakob von Sarug). 24
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11 ,7. 25). Vor einem falschen, Israel einseitig belastenden moralisierenden Verständnis der Verstockung warnt aber auch Röm 10,2: "ich bezeuge ihnen, daß sie den Eifer für Gott haben, aber nicht in der richtigen Erkenntnis [... ]". Ab 2Kor 3,14b ist vom Aufheben oder Ende der "Verhüllung" die Rede. In diesem Abschnitt häufen sich allerdings die Übersetzungsund Interpretationsprobleme. Nach der Einheitsübersetzung lautet 3,14bc: ,,Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, daß er in Christus sein Ende nimmt". Im Griechischen wird für den letzten Nebensatz zwar ein Subjekt vorausgesetzt, man muß es aber aus dem Wortbestand des ganzen Satzes ergänzen. Eine Bezugnahme auf den "alten Bund", wie sie die EÜ vornimmt, ist sprachlich möglich~ die Aussage vom Vergehen des alten Bundes wäre nach 3,7-11 nicht eigentlich neu; neu und unvorbereitet wäre die Aussage von seiner Terminierung "in Christus"; sie stünde gegen den bisher beobachteten Versuch des Paulus, den alten Bund so darzustellen, daß dieser von Anfang an die Zeichen seines Vergehens trägt. Vom Kontext her wahrscheinlicher und auch sprachlich gut begründet scheint mir die von den meisten anderen deutschen Übersetzungen bevorzugte Ergänzung des Subjekts durch Wiederaufuahme der am Anfang des Satzes genannten "Hülle": ,,Denn bis zum heutigen Tag bleibt eben diese Decke bei der Verlesung des Alten Bundes- unaufgedeckt, weil sie (nur) in Christus vergeht". Nur "in Christus" kann die Vergänglichkeit der Doxa des alten Bundes wahrgenommen werden, während Israel, durch die "Decke" gehindert, diese Doxa für beständig hält. Das Gegenüber von Israel und einem Geschehen "in Christus" zeigt an, daß der Ort für die Aufhebung der Verhüllung die christliche Gemeinde ist. Für Paulus, den Eiferer für den Joudaismosldie jüdische Besonderheit und für die väterlichen Überlieferungen ( vgl. Gal I, 14 ), ist die ,,Decke" durch die ihm zuteil gewordene Christusoffenbarung (2Kor 4,6; I Kor 15,8-11 ; Gal 1, 15f) vergangen. Bis dahin genügte ihm wie seinen jüdischen Glaubens- und Volksgenossen der Reichtum der mosaischen Gottesoffenbarung. Der Satz 2Kor 3,16 entspricht in Wortwahl und Satzstellung so sehr Ex 34,34, daß er von vielen Exegeten als Zitat angesehen wird, welches Paulus mit dem in 3,17a folgenden Satz kurz exegesiert. Vers 16 stellte das Verhalten des Mose als eine Art Regel dar: so oft er sich zum HERRN wendet, wird die Decke weggenommen. Mose fungierte als Typus derer, die sich bekehren. Vers 17a würde kommentieren, daß
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unter dem HERRN des Zitats in der Gegenwart der Gemeinde der Geist zu verstehen sei. An diese Interpretation schließen sich dann mit den Versen 17b und 18 zwei weiterfuhrende Anwendungen der Regel von Vers 16 an, auf die Paulus eigendich hinstrebt. Beide setzen voraus, daß die Decke weggenommen wurde - ausdrücklich wird es in Vers 18 gesagt - und beide sprechen vom Wirken des Geistes. Vers 17b "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" impliziert einen Gegensatz zwischen dem verhüllenden Verhalten des Mose, der dadurch sein Volk an der Erkenntnis der Hinfalligkeit der Herrlichkeit des alten Bundes hinderte, und der "Freiheit". Vermudich wird damit der in 3, 12-13 enthaltene Gegensatz zwischen dem Verhalten des Paulus und dem des Mose unter einem der Parrhesia!Freimut, Offenheit verwandten Begriff noch einmal angesprochen. 27 Vers 18 bezieht ausdrücklich die ganze Gemeinde ein: ihr enthülltes Anditz steht sowohl im Gegensatz zum verhüllten Mose wie zur Gemeinde Israels, deren Herzen bei der Verlesung des Mose "verhüllt" bleiben; sie lebt in der Gegenwart der Herrlichkeit des HERRN und wird unter deren Einwirkung - wie einst Mose - vom Geist selber immer mehr in die Herrlichkeit einbezogen und verklärt. Während Paulus sonst ähnlich wie bereits die frühjüdische Enderwartung (äthHen 38,4 vgl. 50,1; Dan 12,3; syrBar 51,23) eine sichtbare Verherrlichung der Gerechten beim Endgeschehen als Auswirkung ihrer Aufnahme in den Bereich der Herrlichkeit Gottes erwartet und von dieser Verherrlichung immer als einem noch ausstehenden und erhofften Geschehen spricht (Röm 5,2; 8,21 vgl. 1Kor 15,43.51; Phil 3,21 ), ist hier von einem in der Gegenwart, vor dem Ende einsetzendem und unsichtbarem Geschehen die Rede. 28 Der theologische Begründungszusammenhang für diese kühne Behauptung ist das Bundesdenken, in dessen Bahnen sich Paulus offensichdich von 2Kor 3,6 an bewegt. Dort stehen Bund und Herrlichkeit in einem Entsprechungsverhältnis29; die gegenüber dem alten Bund unvergleichlich größere Herrlichkeit des neuen Bundes muß also eine ebenfalls unvergleichlich größere Verherrlichung auf der Seite der Bundesempfanger oder Bundesteilhaber bewirken.
27 Vgl. o. S. 242. 28 G. DAt.mENBERG, Die
Beziehung der Christen zur göttlichen Herrlichkeit. Zur Interpretation von 2Kor 3,18, in: W. KURZ (Hg.), Krisen und UmbrOche in der Geschichte des Christentums (FS M. Greschat), Gießen 1994, 225-236. 29 Vgl. o. S. 235.
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IV. Wie "antijüdisch" ist 2Kor 3? Bei der Anwendung des Prädikats "antijüdisch'" auf nd. Texte ist sicher Vorsicht geboten, besonders bei Texten, die nicht von außen, sondern aus einer innerjüdischen Perspektive der Christusbotschaft Gehör verschaffen und deren biblische Begründung aufweisen wollen. Daß auch solche Texte nach der übemahme durch die bald mehrheitlich heidenchristliche Kirche eine "antijüdische" Wirkung entfalten konnten und entfaltet haben, steht auf einem anderen Blatf0 , ist aber bei ihrer heutigen Rezeption immer mitzubedenken. Andererseits genügt es nicht zur Abwehr der Fragestellung, wie weit nicht auch in solchen Texten der ersten Generation Antijudaismen wirksam werden, nur auf deren positiven christlichen Verkündigungsgehalt und auf die mit einem Konkurrenzverhältnis fast notwendigerweise auftretenden Spannungen zu verweisen. 31 K. Stendahl kam, als er seine exegetischen und theologischen Erfahrungen auf dem Feld der sich im NT aufbauenden Spannungen zwischen Christen und Juden summierte, zu dem Schluß: "Something went wrong in the beginning. I say 'went wrong', for I am not convinced that what happened in the severing of the relations between Judaism and Christianity was the good and positive will of God"32_
"Antijüdisch", sofern damit unzureichende oder irreführende Urteile über die jüdische Bibel und das Judentwn vermittelt werden, ist vor allem die Behauptung von der Heillosigkeit des alten Bundes, die sich in verschiedenen einzelnen Behauptungen und Sätzen von 2Kor 3 auswirkt. • in der Gegenüberstellung von tötendem Buchstaben und lebendigrnachendem Geist 3, 6
30 So
warnt mit Recht D. SANGER, Die Vedcünd:igung des Gekreuzigten und Israel, Tübingen 1994, 42: ,,Eine antijüdische Rezeption biblischer Texte mitsamt ihrer Folgewirlclmg Jaßt den solchennaßen in Anspruch genommenen Text oder Autor nicht schon eo ipso antijüdisch werden''. 31 D. SANGER. Vericondigung, 70f ,.Und schon gar nicht wollen sie antijüdisch. sondern vielmehr positiv christologisch und soleriologisch (... ) verstanden sein. Paulus interpretiert die Schrift neu. als Christ [... ). Von daher ergibt sich das sachlich begrQndete, offensiv ausgetragene Konkurrenzverhaltnis zur Schriftausleg\Dlg der Synagoge. Es ist mit dem Inhalt der ~ lischen Verkündigung, Jesus Christus., selbst gesetzt... 32 K. STENDAHL, Judaism and Christianity II: A Plea for a New Relationship, in: DERs., Meanings, Philadelphia 1984,217-232:224.
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• in der Charakterisierung des Dienstes des Bundesmittlers Mose als eines Dienstes des Todes und der Verurteilung 3, 7. 9 • in der Behauptung, daß die durch die Verklärung des Mose angezeigte Herrlichkeit des alten Bundes nur vorübergehend und schon zu Lebzeiten des Mose verschwunden war • in der Behauptung von einer Täuschungsabsicht des Mose 3,13 • in der Behauptung, daß Israel mit seiner Überzeugung von der weiterbestehenden Herrlichkeit des Bundes immer noch unter der Auswirkung der Täuschung des Mose lebt 3,14f Texte aus den Synoptikern wie Mt 23 und Mt 27,25 mögen in der Geschichte eine verheerendere antijüdische Wirkung gehabt haben, als die Positionen von 2Kor 3. Theologisch gesehen wiegt diese Sammlung von Vemeinungen des jüdischen Selbstverständnisses ebenso schwer. Sie drängt Israel ins Abseits, sie beschädigt den Bund und, wenn das möglich ist, den Gott des BWldes. P. Vielhauer hat den Text auf Grund dieser Eigenschaften einen "unheimlichen Midrasch über Mose" genannt.33 Angesichts der Möglichkeit einer so negativen Lektüre von 2Kor 3 habe ich durchgängig zu zeigen versucht, daß der Text mindestens um zwei Pole, um Paulus und Mose, kreist und daß die Urteile über Mose und den alten Bund immer in Antithese zur Heilsgegenwart und Heilsgewißheit des neuen Bundes gefällt werden. Auch dann bleibt die Abwertung des Sinaibundes anstößig und kritisierbar. Die Kritik kann sich, wie sich gezeigt haf4, innerpaulinisch auf die ganz andere Sichtweise von Röm 9, 4 stützen. Dort sind die radikalen Positionen von 2Kor 3 bezüglich des Bundes und der Herrlichkeit praktisch zurückgenommen. Das eigentliche Problem von 2Kor 3 ist die antithetische Denk- und Argurnentationsform, der Paulus hier folgt. Sie geht vom gegenwärtigen christlichen Heilsstand aus, führt dann aber fast zwanghaft zur Negierung jüdischer Positionen. Im Falle der Charakterisierung des Gesetzes als "tötender Buchstabe" 2Kor 3,6 und dessen Gegenüberstellung zum "lebendigmachenden Geist" verletzt Paulus nicht nur die jüdische Torafrömmigkeit, sondern auch christliche, juden- und heidenchristliche, Hochschätzung der Tora und der Gebote als der aus dem Bund fließenden Verpflichtungen und der Einlaßbedingungen für 33 P. VIEUIAUER. Paulus und das Alte Testament. in: DER.s .• Oikodome, München 1979, 196-228: 207. 34 S. o. S. 239.
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Gerhard Dautzenherg
das Reich Gottes, man vergleiche aus der Jesustradition nur Mk 10,1719 und 12,28-34. An den oben35 angeführten Passagen aus dem Römerbrief und aus dem Galaterbrief zeigte sich, daß diese Antithese sogar im Rahmen der paulinischen Auseinandersetzung mit der Tora zu einseitig und polemisch ist und weder der das Leben ordnenden Aufgabe der Tora noch der Tora als einer Gabe des Geistes gerecht wird. Sie darf auf keinen Fall das christliche Denken über die Tora und über den jüdischen Toragehorsam bestimmen. 36 H.-J. Schoeps hat vor Jahrzehnten festgestellt: "Alle extremen Sätze der paulinischen Gesetzestheorie, wie daß das Gesetz Zorn schafft (Röm 4, 15), zur Sünde reizt (Röm 7,7), die eigentliche Kraft der Sünde erst bewirkt (1Kor 15,56), und noch vermehrt (Gal 3,19), im Dienst des Todes steht (2Kor 3,7) usw., haben sich antinomistisch ausbeuten lassen" 37 . In dieser Gefahr steht die christliche Theologie bis heute. 2Kor 3 wird vor allem wegen der Verse 14 und 15 häufig als einer der Texte angesehen, an welchen sich das christliche Verständnis des Alten Testaments zu orientieren habe. 38 Nach der oben39 vertretenen Exegese, nach welcher "in Christus" die Decke fällt, welche die Heilsleere des alten Bundes verhüllte, der Text also eine antijüdische polemische Spitze hat, aber keine Auslegungsnorm formuliert, kann dieser Anspruch nicht aufrecht erhalten werden~ noch weniger übrigens - und das gilt auch dann, wenn man eine andere Exegese von 3,14fvertreten sollte -, wenn man das von Paulus angewandte exegetische Verfahren 35
S. 233. Ein Beispiel ftlr gegenwartigert cluistlich-theologischen Extremismus sei wenigstens zitiert: ,,Daß die den SOnder ven.a1eileode und tötende Tora zum Schweigen gebracht und in diesem Sinne abgetan und aufgehoben ist dmch das den Sünder freisp"echende und ilun neues Leben gewahrende EvaogeliUIIl, das ist die theologische Basis der Austnhrungen von 3,7-11" (0. HOFruS, Gesetz und EvangelitDD nach 2.Kmnther 3: JBTh 4 ( 1989) I05-149: 139). 37 H.-J. SoioEfs, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jOdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959, 284. 38 P. VIELHA~ Paulus, 197~ 0. HOFIUS, Das apostolische Christuszeugnis und das Alte Testament. Thesen zur Biblischen Theologie, in: C. DoHMENff. SOOINO (Hg.), Bibel, 195-208: 199: ,,SChlüssel zum AT ist das apostolische Christuszeugnis, das allererst das adäquate Vexstandnis der In Schrift Israels ermöglicht Wld erschließt" vexweist in der Fußnote auf folgende ntl. Belegstellen: Lk 24,25-27.32.44~ Joh 5,39", Apg 8,30-35~ 2Kor 3,14~ noch scharfex J. BECKER. Christologische Deutung des Alten Testaments, in: C. DoHMENffh. SOOING, Bibel, 17-28: 27: ,,Haben bei dieser Sicht der Dinge Juden und Christen eine gemeinsame Bibel? [... ) Die Frage bezieht sich auf den innersten Sinn. Da körmen wir der Folgenmg nicht ausweichen.. daß jüdische und christliebe Bibel bis in die letzten Fasern voneinander geschieden sind. Erst die Entfexnung der Hülle von 2Kor 3,14-16 wird eine gemeinsame Bibel schaffen". 39 S. 241. 36
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und d.h. seinen freien bis zur Umdeutung gehenden Umgang mit dem biblischen Text mit berücksichtigt. In dieser Frage helfen nicht dogmatische Vorentscheidungen, sondern einzig differenzierendes biblischtheologisches Arbeiten. 40
40 H SEEBASS,
Ober die innere Einheit von Altem und Neuern Testament, in: C. DoHMKNI
Th. SOoiNG, Bibel, 131-142: 134: ,,Entscheidend( ... ] wird der Hinweis, daß einige Schlosselbelegedes NT (vor allem Lk 24,44fund 2Kor 3) ein doppeltes Verstandnis des AT verlangen: eimna1 ein Verstandnis aus sich selbst heraus und eimnal aus der Sichtweise der Gottesoffenbarung in Jesus Christus. D.h. das AT ftlhre von sich aus nicht ZWJIIlS"Iufig m einem christologischen Verständnis, sondern umgekehrt habe sich die Christus-Offenbarung an die scboo in Geltung stehenden atl. Schriften angelehnt und damit als gottgema8 erwiesen''.
Antijudaismus als Argumentationsfigur Gegen die Verabsolutierung von Kampfesäußerungen des Paulus im Galaterbrief PETER FIEDLER
An die Gemeinden in (der Landschaft) Galatien ist derjenige Brief des Paulus gerichtet, der sich durchgängig in aggressivem Ton mit Kernthemen des jüdischen Glaubens und Selbstverständnisses befaßt. Dies war bereits der Alten Kirche klar. So wurde Gal von Markion .,an die Spitze seiner Ausgabe des Corpus Paulinum" gestellt. 1 Sein Gegner Tertullian stimmt mit ihm soweit überein, daß Gal .,der erste Brief gegen das Judentum" sei. 2 Diese antijüdische Wirkung, die sich auf Paulus selbst beruft, hat sich durch die Geschichte unserer Kirchen und ihrer Theologie(n) hindurch bis in unsere Gegenwart lebendig erhalten . .,Denn die westliche Theologie des 4. Jahrhunderts entdeckt den antijudaistischen Paulus und hat diese Position nie mehr aufgegeben. " 3 Mit welchem Recht läßt sich demgegenüber die Auffassung vertreten, Gal belege nicht Antijudaismus, sondern einen Konflikt früher Christen(gemeinden) "hinsichtlich ihrer Orientierung an der Tradition Israels'"'? In diesem Fall wäre An~udaismus ein Vorwurf, der erst gegen den. nachpaulinischen Gebrauch bzw. Mißbrauch des Gal zu erheben wäre. Um diese Frage zu beantworten, sollen der Sitz im Leben des Gal in seinen verschiedenen Aspekten skizziert und von da 1 F.
MusSNER, Der Galaterbrief (liThKNT IX), Freiburg/Basei/Wien, 3. erw. Aufl. 19TI,
31. 2 R. I
Antijudaismus von Anfang an? Zur Diskussion wn den neutestamentlichen Ursprung des christlichen Antijudaismus, rbs 40 (1993) 110-120: 115. 3 W. GE.Eiu..INGS, Das Verständnis von Gesetz im Galatelbriefkommentar des Ambrosiaster, in Die We1tlichkeit des Glaubens in der Alten Kirche (FS ftlrU. Wickertz. 70. Geb). In Verb. mitB. ALAND/C. SCHAUBLIN hg.v. D. WYRwA (BZNW 85), BerliniNew Yen 1997, 101-113: 110~ allerdings ist der antijüdische Paulus wohl keine Neueotdeckung, sondern ein altes ,Erbgut•. 4 R. KAMPuNG, Antijudaismus, 115.
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Peter Fiedler
aus die einzelnen Text(abschnitt)e unter Bezug auf die Entwicklung der Sicht des Paulus etwas näher untersucht werde~ soweit sie sich aus einschlägigen Äußerungen seiner literarischen Hinterlassenschaft zwischen 1 Thess und Röm fassen läßt.
1. Zur Briefsituation Die Mitglieder der Christengemeinden in Galatien stammen aus dem Heidentum. Als sie den Christusglauben annahmen, hatte Paulus von ihnen nicht verlangt, sich beschneiden zu lassen, also zum Judentum überzutreten. Das fordern aber nun die Leute, gegen die sich der Apostel im Gal wendet. Es sind jüdische Christusboten wie er selbst. s Ihre Forderung ist aber unbegründet. Denn Paulus kann sich auf die Abmachung von Jerusalem stützen, durch die ihm die Autoritäten der Mutterkirche darin zugestimmt hatten, daß von den Heiden, die sich dem Christusglauben zuwende~ ein Übertritt zum Judentum, vollzogen durch die Beschneidung, nicht verlangt werden sollte. Von da aus begreift sich der Ärger des Paulus und sein Zorn auf diese Leute, die seine Missionsarbeit und dadurch ihn selbst nicht nur stören, sondern in Mißkredit bringen. Denn sie erwecken bei den galatischen Christen den Eindruck, als habe Paulus ihnen über die Bedingungen des Christwerdens Wesentliches vorenthalten, nur um sie für sich zu gewinnen. Der Apostel beläßt es jedoch nicht dabei, sich mit Gal 2,1-l 0 auf die eindeutig zu seinen Gunsten sprechende Jerusalemer Abmachung zu berufen. Vielmehr bezieht er zu der Problematik argumentativ Stellung. Dabei scheint er zwar um Sachlichkeit bemüht. Doch es ist unverkennbar, daß ihm der Kampf um "sein" Evangelium die Worte diktiert. Aggression und Polemik des Paulus werden allein schon durch den Fluch von 1,8f und den von heidnischem Spott inspirierten Wunsch veranschaulicht, diese Leute, die wegen der Beschneidung Unruhe stiften, sollten sich doch gleich entmannen lassen (5,12).
s N. WALTER stellt "die Hypolhese zur Diskussion", Paulus müsse sich im Gal mit einer jüdischen. ,,also nicht christlich-judaistischen Gegerunission auseinandersetz": Paulus W1d die Gegner des Christusevangeliwns in Galatien, in: DER.s., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese tmd Henneneutik des Neuen Testaments (WUNf 98), hg.v. W. KRAus/F. Wn.x., TObingen 1997, 273-280: 275. Wie sich diese Arbeitshypothese ,,an der Exegese des ganzen Briefes bewahren lassen muß" (280). gilt das auch fnr die oben bevorzugte. Deshalb kann hier nur auf die weitere Argwnentation verwiesen werden.
Antijudaismus als Argumenlalionsjigur
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Dementsprechend durchziehen scharfe Antithesen die Argumentation des Apostels im ganzen Brief. Deshalb scheint es, triffi darauf die von R. Kampfing zitierte Definition von Antijudaismus durch G. I. Langmuir durchaus zu. Thr zufolge kennzeichnet er "Menschen, die ein konkurrierendes System von Glaubensinhalten und Praktiken haben und (daher) bestimmte genuine jüdische Glaubensinhalte und Praktiken als minderwertig erachten"6 . Zuerst begegnet in 2,4 der Gegensatz zwischen der "Freiheit, die wir in Christus Jesus haben", und der Knechtschaft, die "die falschen Brüder" mit der Beschneidungsforderung den Heidenchristen auferlegen wollen. Der Gegensatz kehrt wieder in 3,23-4,11~ 4,21-31~ 5,1-12.18 sowie 6, 12-15. Er beruht auf der Entgegensetzung von Christusglauben und "Gesetzeswerken", wie Paulus sie in 2, 15f im Blick auf den Empfang der Gerechtigkeit Gottes durch den Menschen vornimmt (vgl. 3,1-5 zur Begabung mit dem heiligen Geist). Wie die Fortsetzung zeigt, soll dieses "Entweder - Oder" von Gott selbst aufgestellt worden sein: Seine (Erlösungs-)Gnade stehe nicht mit dem "Gesetz" in Verbindung, sondern mit dem stellvertretenden Tod Jesu Christi (2,21). Zur Absicherung aus der Bibel geht Paulus in 3,6-19 bzw. 29 auf Abraham ein, in 4,21-31 auf die Bundesthematik Vom Thema Abraham aus wird der Gegensatz von Christus und "Gesetz" mit dem von Verheißung und "Gesetz" verbunden. Bei der Behandlung des Themas "Bund" zieht Paulus die Abraham-Sara-IsaakLinie auf die Heidenchristen hin aus, während er die als Gegner anvisierten Landsleute mit Hagar und ihrem Sohn zusammensieht Hinzu kommt, daß Paulus in 4,(1-7.)8-10 die Annahme suggeriert, die Beachtung des jüdischen Kalenders bedeute für die Galater so etwas wie den Rückfall ins Heidentum. Schließlich läßt der Kontext von 6, 16 immerhin die Möglichkeit offen, mit dem ,,Israel Gottes" nur noch diejenigen Landsleute gemeint sein zu lassen, die wie er den Christusglauben haben und im Blick auf die Heidenmission dieselbe Position vertreten.
6
R. KAMPLING, Antijudaismus, 113.
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2. Unberechtigte Übernachtung der Äußerungen des Paulus? Von der Briefsituation aus ist zunächst anzuerkennen, daß der Konflikt, der uns entgegentri~ eine Auseinandersetzung innerhalb der Anhängerschaft Jesu Christi darstellt, wobei es sich bei den Konfliktparteien jeweils um Juden handelt: Hier der Apostel, dort seine Widersacher, während die Heidenchristen in Galatien ,nur' so etwas wie das ,Streitobjekt' bilden. Insofern ist die Situation durchaus mit derjenigen von Gal 2, 1-10 zu vergleichen, als der Heidenchrist Titus fur den Jerusalemer Apostelkonvent die akute Streitfrage , verkörperte'. Diesen innerkirchlichen Sitz im Leben des galatischen Streits hebt F Mußner zu Recht nachdrücklich hervor: Gal 2,16 als "Basissatz" der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft ,,hat deutlich eine polemische Spitze, die sich aufs erste gegen die Juden bzw. die jüdische Heilslehre zu richten scheint." Doch die Ausformulierung dieser Botschaft war nicht durch "eine jüdische Gegenpredigt gegen sein Evangelium" verursacht, sondern durch "Mitchristen, die ein christliches Pseudoevangelium in deutlich antipaulinischer Frontstellung entwickelten." Demnach wäre der Vorwurf des Antijudaismus gegenüber dem Gal in der Tat nicht aufrecht zu erhalten, vielmehr allein der christlichen "Auslegungsgeschichte" vorzuwerfen, daß sie sich "in der konkreten Durchfuhrung [ ... ]oft von einem bewußt-unbewußten ,Antisemitismus' leiten läßt oder jedenfalls ließ"? Das Ziel, um das es Mußner hier geht, ist das "der theologischen , Wiedergutmachung' der christlichen Theologie gegenüber dem Judentum", weil eben Gal jüdischerseits "mitverantwortlich gemacht wird für das Unheil, das Christen im Lauf der Geschichte den Juden angetan haben." 7 Gewiß ist dieses Ziel höchst erstrebenswert, und dies auch im ureigenen Interesse von uns Christen, weil eine fortgesetzte Verunglimpftmg des Judentums unsere Glaubwürdigkeit radikal aushöhlt. Den Streit als eine intern, nämlich unter Judenchristen geführte Auseinandersetzung zu begreifen, schließt jedoch nicht aus, daß dabei wesentliche Fragen für das jüdische Selbstverständnis zur Debatte standen. Den Konfliktparteien geht es ja um eben diese jüdische Identität, die ihnen als Anhängern des Christus Jesus unaufgebbar ist. Mußner selbst kann seine Sicht, daß Paulus mit dem Gal die jüdische 7 F.
MussNER, Theologische "Wiedergutmachung" am Beispiel der Auslegung des Galaterbriefs, in: DERs., Die Kraft der Wwzel. Judentum - Jesus - Kirche, Freibmg/Basel/Wien 1987, 55-64:56(
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"Heilslehre" nur scheinbar tangiere, nicht durchhalten. Denn "Sein oder Nichtsein der jüdischen Existenz war und ist für den gläubigen Juden unlöslich mit der Gesetzesfrage verbunden. " 8 Doch sein grundsätzliches Anliegen kann durch ein Verständnis von "Werke des Gesetzes" unterstützt werden, das den antijüdischen Vorwurf der "Werkgerechtigkeit" im Sinn von ,.Leistungsfrömmigkeit" von vomherein auszuschließen vermag und so einem tragenden Preiler christlicher Judenfeindschaft das Fundament entzieht. Wenn nämlich dieser in Qumran-Texten begegnende Ausdruck "Werke des Gesetzes" mit J.D.G. Dunn zentral auf diejenigen Tara-Vorschriften zu beziehen ist, die für die jüdische Identität maßgebend sind ("not exclusively but particularly"), dann wendet sich Paulus nur gegen das Verständnis der Tora. dem es um ihre "social function" geht, nämlich d~ daß sich Judenaufgrund der Tara-Befolgung von Heiden unterscheiden. 9 Diesem Vorschlag steht der von Ch. Burchard vorgelegte nicht allzu fern. 10 Er will "Werke des Gesetzes" stärker von der Biographie des Paulus aus sehen und zugleich von der Bedeutung Tarabefolgung im allgemeinen Sinn abrücken. Aufgrund der eigenen Erfahrung stehe die "Glaubensgerechtigkeit" des Paulus "in Opposition zu pharisäischer Gesetzeserfüllung und Christenfeindschaft, nicht zu Taragehorsam schlechthin, einschließlich dem von Juden, die mit Christen nichts zu tun haben." Darüber hinaus sieht Burchard in "nicht aus Gesetzeswerken" einen "Grund-Satz", den er auf "eine (die?) frühe Anhängerschaft Jesu in Jerusalem (Judäa?)" zurückführt, "insofern sie sich gegen die ablehnende Konkurrenz anderer Erneuerungsbewegungen durchsetzen mußte[ ... ] dann macht ,nicht aus Werken des Gesetzes' klar und nicht unklar, daß der Grund-Satz von der Rechtfertigung (eine) bestimmte Art( en) von intensiviertem Taragehorsam ablehnt." 11 Der Vorzug jedes dieser skizzierten Vorschläge liegt darin, daß sich keiner von der Polemik des Paulus dazu verleiten läßt, die jüdische Taratreue und damit jüdisches Leben und Glauben theologisch grund8
F. MuSSNER, Gal, 135. J.D.G. DuNN, Wades of the Law and the Curse of tbe Law (Gal. 3.10-14). Additional Note, in: DERs., Jesus, Paul and the Law. Studies in Mark and Galatians, Londoo 1990, 215236, 237-241: 219f, 223( 10 Vgl. dazu jetzt M BACHMANN, 4QMMT und Galaterbrief, ma'asae hatorah und c:rga n<mou, ZNW 89 (1998) 91-113, sowie bereits DBR.s., Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, ThZ49 (1993) 1-33: 27ff. 11 Ch. BuRCHARD, Nicht aus Weden des Gesetzes gerecht, sondern aus Glauben an Jesus Christus- seit wann?, in: H. LICHI"ENBERGER(Hg.), Geschichte- Tradition- Reflexion (FS fllr M. Henge1 z. 70. Geb. ), Band W: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 405-415: 41 OC 9
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sätzlich herabzusetzen. Ein Antijudaismus, der sich sozusagen "um Christi willen" legitimierte 12, ist damit von vomherein ausgeschlossen. So begrüßenswert dies an sich ist - es drängt sich vom Ganzen der Aussagen des Gal, die in Betracht kommen, doch die Frage auf, ob diese Äußerungen des Paulus nicht eine Tragweite besitzen, die der herkömmlichen judenfeindlichen Auslegungsgeschichte genügend Ansatzpunkte liefern. Trifft dies zu, dann muß noch einmal anders angesetzt werden, um heute und zukünftig der verheerenden Wirkungsgeschichte- die ja nicht dem Paulus anzulasten ist - einen wirksamen Riegel vorzuschieben.
3. Grundsätzliche Bedeutung der Äußerungen des Paulus? Gegen eine nach den bisher skizzierten Vorschlägen durchgefiihrte Entschärfung der Aussagen des Paulus wird heute wie früher ihre prinzipielle Bedeutung ins Feld geführt. Neuerdings tut dies J. Becker wieder. Er begnügt sich damit, die Erklärung des Ausdrucks "Werke des Gesetzes", die von jüdischen Vorgaben ausgeht, schlicht abzutun: "Die zwei hier und da diskutierten Analogien aus Qumran entfallen." Dadurch erspart er sich begreiflicherweise erhebliche Schwierigkeiten Wld kann unverzüglich behaupten: Die alten antiochenischen ,,Entscheide, die einst unter Mitwirkung des Paulus entstanden" und sich in diesem Ausdruck widerspiegelten, hätten zwar "ganz sicher konkret auf den Fortfall der Beschneidung und des Ritualgesetzes" gezielt. Doch die Wendung "Werke des Gesetzes" besage "über diese Konkretion hinaus mehr: Das Gesetz ist nicht mehr Heilsweg, der Glaube an Christus rettet allein." Zugunsten dieser AuslegWlg beruft sich Becker zum einen auf die Einbeziehung von Ps 142,2 LXX durch Paulus; dabei habe er das "Stichwort der Gesetzeswerke [ ... ] aufgrund des antiochenischen Grundentscheids als aktualisierte Deutung" hinzugefügt. Zum andem soll Becker zufolge ,.das Gesetz als Heilsweg" dadurch erledigt sein, daß "es schon die Überzeugung des Täufers und Jesu war, daß das zeitgenössische Israel vor Gott im Unheilszustand lebte [... ] und dies 12
So sieht etwa U. BoRsE ,.durch jede Parteinahme ft1r Christus und seine Glaubigen zwangsläufig auch die Verwerfung der jOdischen Gesetzesreligion und i.l:lrer kampferischen Vertreter ausgesprochen": Der Brief an die Galater (RNI), Regensburg 1984, In~ ,.der Antisemitismus daJf sich" aber nicht auf Gal berufen: 175. Womit wollen BoRsE und Gesinnungsgenossen das aber verhindern?
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offenbar auch von der judenchristliehen Mission nach Ostern vertreten wurde". 13 Nun läßt sich der "antiochenische Grundentscheid", wenn zunächst einmal vorausgesetzt werden soll, es hätte einen solchen (oder auch mehrere) jemals gegeben, weder vom Täufer noch von Jesus her in der von Becker verständlicherweise gewünschten Art absichern. Gegen den judenfeindlichen Mythos vom "Unheilszustand Israels" genügt es, die auf den Täufer bezogenen Abschnitte in Lk 1 und die Israel in gleicher Weise als Heilskollektiv voraussetzenden Jesustraditionen (im Zusammenhang mit parallelen zeitgenössischen Quellen) zu beachten. 14 Hinzu kommt, daß Paulus selbst - wenn man wie Beclcer bereits den Römerbrief in diesem Zusammenhang in den Blick nimmt - dort eben explizit den von Gott garantierten Heilsstatus Israels anerkennt. Das heißt: Paulus schwenkt auf die Linie Jesu und des Täufers ein, nur eben im entgegengesetzten Sinn zu Beclcers Behauptung. Für die urchristliche Mission könnten dann allenfalls solche Israeliten, die die Christusbotschaft ausdrücklich ablehnen, vor Gott schuldig werden - mit welchen Konsequenzen, das kann hier noch offen bleiben; denn dies wird sich in der weiteren Beschäftigung mit Paulus klären. Wie stark Becker den Text nach seinen Absichten verbiegt, tritt unverkennbar darin zutage, daß er vom "Fortfall der Beschneidung und des Ritualgesetzes" als Inhalt der antiochenischen Entscheide spricht, auf die Paulus mit "Werke des Gesetzes" Bezug nehmen soll. Dabei setzt sich Becker über diese Tatsachen hinweg: Der erste Entscheid, der die Beschneidung betraf, wurde in Jerusalem gefällt (Gal 2,1-1 0). Der zweite, bei dem es um den "Fortfall" des Ritualgesetzes ging, war keiner, vielmehr handelt es sich um eine von Paulus persönlich - und zwar gegen alle anderen jüdischen Christen Antiochiens - getroffene Entscheidung (V.ll-13), und diese stand dann in Widerspruch zu einem weiteren Entscheid, der ebenfalls von Jerusalem getroffen wurde (Apg 15). Dies soll nun etwas näher erläutert werden.
13 Der
Brief an die Galater, in: J. BECKERIU. Luz, Die Briefe an die Galater, Epbeser tmd Kolasser (N1D 811 ), Göttingen 1998, 9-103: 42f 14 Vgl. dazu meinen Beitrag ,,Sonde tmd Vergebung in der Jesuslradition", in: H. fRANKE. M:U.E(Hg.), Sonde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburp/BaseVWien 1996, 76-91.
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4. Konflikte in Antiochia und die Folgen Nach Gal 2, 1-10 war die Praxis in Antiochia, die Heidenchristen unbeschnitten, das heißt: auf dem Status von Gottesfürchtigen zu belassen, vor dem Jerusalemer Konvent auch für Paulus prinzipiell revidierbar, also gerade kein feststehender ,,Entschei(f': Erst die Jerusalemer "Angesehenen" entscheiden darüber, ob er "ins Leere" läuft oder gelaufen ist (V.2). Das mag uns erstaunen, ist jedoch damals nicht auffällig. Denn die Forderung, die Heidenchristen durch die Beschneidung zu Proselyten zu machen, ist vom theologischen Ansatz her der antiochenisch-paulinischen Praxis zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen, geht es doch beim Christusglauben um die Erfüllung des jüdischen Glaubens und Hoffens. Deshalb ist Mußners Kennzeichnung der gegnerischen Position als "christliches Pseudoevangelium" [s.o. 2.] auch ganz unberechtigt. Daß der Jerusalemer Entscheid den Heidenchristen entgegenkommt, bedeutet somit in keiner Weise die Infragestellung dessen, was wir "Ritualgesetz" nennen, oder gar eine theologische Entwertung der Tora insgesamt. Denn die jüdische Glaubens- und Lebenspraxis stand für die jüdische Anhängerschaft des Auferstandenen überhaupt nicht zur Debatte. In ähnlicher Weise sperrt sich Becker dagegen, den Antiochenischen Konflikt (Gal 2, 11 ff) von der damaligen innerkirchlichen - und das heißt: judenchristlich geprägten- Situation aus zu betrachten. Er nimmt zwar an, daß Petrus "in Jerusalem zweifelsfrei gesetzestreu lebte". Aufgrund des Beschlusses des Apostelkonvents habe er sich aber nun in Antiochia "ganz selbstverständlich an dem außerhalb des Gesetzes organisierten Gemeindeleben" beteiligt. Bei diesem "antiochenischen Gemeinschafts!eben", zu dem "Sättigungsmahl und Herrenmahl am seihen Tisch, im seihen (ggf nich~üdischen) Haus" gehörten, hätten nämlich "Juden und Völkerchristen außerhalb der Synagoge, also ohne Beachtung der Tora", sich "in Christus" eins gewußt und daher "z.B. rituelle Speisegesetze längst außer Kraft" gesetzt. 15 Von da aus verwundert Beckers Behauptung nicht, für Antiochia habe die Aufgabe bestanden zu "erklären, wie sich Judenchristen solchen Völkerchristen zuordnen sollten." 16 Damit stellt er nicht nur allgemein die damalige Lage auf den Kopf, sondern er nimmt auch den von ihm zutreffend beschriebenen Ansatz speziell des Paulus nicht IS
J. ßECKER. Gal, 39.
16 Ebd.,42.
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ernst (V .15), wonach "zwischen dem erwählten Volk und der restlichen Menschheit eine nicht verwischbare Grenze (besteht). Dieses Faktum wird auch durch das Evangelium nicht aus der Geschichte getilgt. Vielmehr begegnet die Menschheit mit dieser Vorgabe dem Evangelium." 17 Deshalb kann es nur um die Art der Zuordnung der Heidenchristen zu den Judenchristen gehen- und nicht umgekehrt. Das Gemeindeleben in Antiochia ist darum im Gegensatz zu Becker konkret etwa so vorzustellen: Zunächst konnten die Judenchristen deswegen mit den Heidenchristen ohne große Probleme zusammenleben, weil diese als Gottesfürchtige mit der jüdischen Lebenspraxis bereits hinreichend vertraut waren und sie daher natürlich auch respektierten.18 Wenn sie also in judenchristliche Häuser zu Gemeindeversammlungen (mit gemeinsamen Mahlzeiten einschließlich der Herrenmahlfeier) gingen, wurden die "ritualgesetzlichen" Bestimmungen selbstverständlich eingehalten. Mußnerverkennt das wie Becker, wenner-wohl von Gal2,14 und 18 verleitet - annimmt, Petrus habe sich als "vom gesetzlichen Leben befreit" betrachtet. Denn selbstverständlich war es nicht nur für "die Judaisten", sondern auch für Petrus "unvorstellbar, daß ein Jude, der Christ wurde, deswegen aufhören würde oder gar aufhören mußte, ein Jude zu sein, d.h. gesetzlich zu leben" - was übrigens Mußners Redeweise, Petrus sei "ein ehemaliger Jude", ad absurdum fiihrt. 19 Darüber hinaus ist bei einer solchen Auffassung doch wohl die Frage zu stellen, wie Petrus dann noch die Christusbotschaft im Sinn von Gal 2,9 unter seinen Landsleuten überzeugend hätte verkündigen können. Die Beachtung der jüdischen Lebensweise darf ebenso vorausgesetzt werden, wenn wegen der wachsenden Zahl der den Christusglauben annehmenden Gottesfürchtigen die Gemeindetreffen öfter auch in Häusern von Heidenchristen stattfanden. Hier aber konnten in der Tat konsequent eingestellte Judenchristen die Frage aufwerfen, ob es trotz guten Willens der Gastgeber absolut sicher war, daß die Reinheitstora in vollem Umfang beachtet würde bzw. beachtet werden konnte. Die 17 Ebd.,41f 18 Eine eigene
,,halachische Ent.scheidq" mußten die jodischen Christen in Antiochia
daftlr gar nicht treffen: gegen Ch. BURCHARD, Nicht aus Werken, 407 Amn. 13. Mit Redlt L. GASTON, Paul and the Law in Galatians 2-3, in: P. RICHARDSON with D. GRANSKOU (ed.), Anti-Judaism in Early Cluistianity, vol.l: Paul and the Gospels (SCJ 2). Watcrloo 1986, 37-57: 43: ''there is no commandment binding on aU Jews anywhere in Bible (I' Misbnah whicb
probibits eating with Gentiles." 19 F. MUSSNER. Gal, 135.
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jüdischen Christen Antiochiens, die in der Diaspora immer schon einen modus vivendi mit Nich~uden finden mußten, hatten ebenso wie der galiläische Jude Petrus in der bisherigen Praxis offensichtlich keine, jedenfalls keine unüberwindlichen Probleme erblickt. Aber die Argumente der aus Jerusalem kommenden Landsleute besaßen für sie soviel Gewicht, daß sie der Einladung in Häuser von Heidenchristen nicht mehr folgten. Der dadurch drohende Bruch in der Gemeinde veranlaßte Paulus zu seinem Angriff auf Petrus. Das ist von Paulus aus verständlich, der konsequent die Partei der Heidenchristen vertritt. Es ist aber nicht zu übersehen, daß Paulus in diesem Konflikt selbst Partei ist und deshalb die von ihm bekämpfte Position und ihren Einfluß verzeichnet. Das heißt: Es ist nicht, wie Paulus will, "Heuchelei" des Petrus, des Bamabas und der übrigen Juden in der Gemeinde, wenn sie sich von den Heidenchristen zurückziehen und damit "nicht den geraden Weg im Blick auf die Wahrheit des Evangeliums" gehen. Für Becker besteht diese "Wahrheit des Evangeliums" (Gal 2,14) "darin, daß Gott die Völker erwählt hat, ohne ihnen das Gesetz aufzuerlegen. " 20 Diese zutreffende Feststellung darf aber eben nicht übersehen lassen, daß Petrus und die anderen Judenchristen sich dadurch anders als offensichtlich Paulus - vom Ernstnehmen der Reinheitstara als Weisung Gottes keineswegs dispensiert sahen. Die Formulierung des Paulus in Gal 2,14 kann nun wirklich nicht dagegen ins Feld geführt werden, weil sie - möglicherweise an die Vorwürfe der aus Jerusalem Gekommenen angelehnt- das Verhalten des Petrus (und der anderen Judenchristen in Antiochia) maßlos übertreibt. Becker sucht dieser Tatsache der prinzipiellen Toratreue der jüdischen Christen Antiochiens durch eine eigenartige Konstruktion auszuweichen. Dazu unterscheidet er die Jakobus-Leute von "denen aus der Beschneidung" (Gal 2,12). Das sollen Jerusalemer Juden sein, die Druck auf die dortigen Judenchristen ausüben. Als Ursache dieses Drucks macht er das zunehmend Einfluß gewinnende "national-zelotische Denken" aus. Er zieht als Belege für dieses Problem nicht nur I Thess 2, 14 heran, sondern auch die Nachricht des Josephus, "daß Jakobus 52 [sie!) n.Chr. - also kurz nach dem antiochenischen Zwischenfall- in Jerusalem als Märtyrer starb". 21 20
J. 8EcKF.R., Gal. 41. Ebd.. 40. Bei der späteren. abgeanderten Frage (83): ..warum ist zur Zeit des Gal dieses Problem in Jerusalem offenbar brisanter als zur Zeit des Apostelkonvents?" •verrechnet' er sieb nicht 21
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Zwar sind es nur zehn Jahre, um die sich Becker verrechnet~ denn Jakobus kam 62 ums Leben (übrigens durch einen Hohenpriester, also durch einen nicht gerade typischen Vertreter des Zelotismus). Doch für seine Auslegung lohnt sich das schon. Denn dadurch versucht Becker, es plausibler zu machen, daß Petrus und die anderen mit ihm als "Umfaller" sichtbar werdenden Antiochener Judenchristen lediglich aus Sorge um die Gemeinde in Jerusalem den Forderungen der Leute "aus der Beschneidung" nachgegeben hätten. Allerdings beinhaltet dieses angeblich nur taktische Nachgeben die Tatsache, daß die Antiochener Judenchristen dem "Gesetz [... ] doch wieder konstitutive Bedeutung" beigemessen hätten~ folglich müßten die Heidenchristen "den Judenchristen gesetzlich entgegenkommen. " 22 Es ist begreiflich, daß Beclcer sich mit dieser Tatsache äußerst schwer tut. Sicherheitshalber hat er sich der Frage überhaupt nicht gestellt, ob nicht gerade Petrus von seiner Kenntnis Jesu her gar keine andere Wahl hatte, als dem Drängen der Leute aus Jerusalem auf eindeutige Einhaltung der ganzen Tora, also auch der Reinheitstara nachzugeben. Denn hier liegt der maßgebende Grund nicht bloß für ein taktisches Vorgehen, sondern für die religiös unausweichliche Verhaltensänderung. Weil der irdische Jesus zeit seines Lebens "unter das Gesetz getan" war (Gal4,4), also als Jude lebte, mußte den Einwänden gegen eine Verhaltensweise, die- ungewollt- Anlaß zu Zweifeln an der Einhaltung der Tora gab, auf jeden Fall Rechnung getragen werden. Nur so hat Beclcers Satz seine Berechtigung: "Wollen die Völkerchristen keine Spaltung in zwei Gemeinden, müssen sie den Judenchristen zumindest mit den Regeln aus 3.Mose 17f entgegenkommen."23 Damit ist für die ,Jakobusklauseln' der Sitz im Leben angezeigt. Denn die Spaltung der Gemeinde kann nicht nur von Paulus, sondern auch von den anderen Judenchristen nicht gewollt sein. Aus diesem Grund mußte wie im Fall der Beschneidungsforderung ein Kompromiß gesucht werden. 24 Nach Apg 15 wurde er tatsächlich auch gefunden, 41 ~ mit Hinweis auf die - verständlicherweise - abgeldmte ekk.lesiologische Konsequenz: ,,Also sind die Judenchristen doch wieder bevorzugte F.rwlhlte!" Vgl. F. MUSSNBR. Gal, 136, der auf das Problem "Gesetz und Evangeli1DD" abhebt (dazu s.u. ]. 23 J. ßECKER., Gal, 41. Zur ftlr \D19ere Thematik prinzipiellen Bedeutung von Gal 4,4 - zusammen mit Röm 15,8 (dazu s.u.)- vgl. G. DAUTZENBERG, Gesetzeskritik und Gesetzesgehorsam in der Jesustradition, in: K. KERlF.l.GE (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament (QD 108), Freiburg/Basel/Wien 1986, 46-70: 47-54. 24 Für F. LANG, Paulus und seine Gegner in Karinth und Galatien, in: H. LICHTENBERGER (Hg.), Geschichte- Tradition- Reflexion (FS tbr M Hengel z. 70. Geb.), Band ffi: Frühes Christentum. Tübingen 1996, 417-434, ist das Aposteldekret "ein 1DD der Einheit willen 22 Ebd.,
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nämlich exakt so, wie es Becker mit dem zuletzt zitierten Satz ausdrückt. Nur schließt die Berücksichtigung der Jakobusklauseln eben unausweichlich die Konsequenzen ein, die von ihm abgelehnt werden: Die Tora behält grundsätzlich ihre volle Geltung, und dies nicht trotz, sondern gerade wegen des Christusereignisses - wie Paulus es in Röm 15,8 (auf der Basis von 11,29) bezeugen wird: "Christus ist um der Wahrhaftigkeit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, damit die Verheißungen an die Väter bestätigt werden."
5. Die Mißachtung der Jakobusklauseln durch Paulus Auf der Grundlage der für Judenchristen weiterhin unangefochtenen Geltung der Tora, die auch jetzt nicht zur Debatte stand, bedeuten die Jakobusklauseln für das in Antiochien brisant gewordene, aber auch sonst in der Diaspora auftretende Problem: Die Heidenchristen brauchen, da sie sich im Status von Gottesfürchtigen befinden, die Reinheitstora nicht in vollem Umfang einzuhalten. Auf diese Weise setzt sich unter den maßgebenden Leuten der Urkirche erneut eine Auffassung durch, die den Heidenchristen stärker entgegenkommt. Damit sie sich den jüdischen Christen zugeordnet sehen, das heißt: damit sie von ihnen wie bisher die Tisch- und damit die Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft gewährt erhalten können, müssen sie allerdings ein Minimum an Vorschriften der Reinheitstara beachten. Faktisch wird das bei den meisten Heidenchristen keine großen Veränderungen verursacht haben, da sie sich durch die Verbindung zu Synagogengemeinden der jüdischen Lebenspraxis bereits weithin angenähert hatten. Insofern schrieben die Jakobusklauseln etwas fest, was sich längst eingespielt hatte. Ihr Hauptziel war es daher wohl, solchen Leuten den Wind aus den Segeln zu nehmen, die wie zuvor schon bei der Beschneidungsforderung die Heidenchristen zwingen wollten, mit dem Christusglauben auch das Jude-Sein zu übernehmen. Gerade die Situation in Galatien zeigt ja, daß die beim Apostelkonzil unterlegene Partei ihren Standpunkt weiterhin vertrat. Möglicherweise hat sie das Aposteldekret sogar als eine Bestätigung ihrer Position verstanden oder in eben diesem Sinn ,ausgeschlachtet'.
nötiger Wld weiterfilhrender Paulus (420, 432f).
KompromiJr'~
er wngeht jedoch eine direkte Verbindlmg zu
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Vom Standpunkt des Paulus aus ist es allerdings nachvollziehbar, daß er diesen Kompromiß abgelehnt hat. Da er die Jakobusklauseln ignorierte (in Röm 14f deutet er sie immerhin an), sind wir auf Vermutungen angewiesen. Offenkundig hatte er sich beim Streit in Antiochien tatsächlich so exponiert, daß ihm ein Rückzieher als ein nicht hinnehmbarer Gesichtsverlust erschien - obwohl er sehen mußte, daß faktisch zugunsten der Heidenchristen entschieden worden war. Auffallen muß, daß Paulus nicht wie seinerzeit beim Streit um die Beschneidung nach Jerusalem geht. 2s Aufgrund des Verhaltens der übrigen Judenchristen in Antiochia war ihm sicher von vornherein klar, daß er mit seinem Standpunkt in Jerusalem diesmal nicht durchkommen würde. Da Paulus also von Anfang an in dem Kompromiß eine Bedrohung für seine Missionsarbeit sah und ihn zwangsläufig ablehnte, hätte es nahe gelegen, dies den Galatern offen mitzuteilen. Nur kann er das nicht, da ihn das in eine noch anfechtbarere Lage gebracht hätte. Deshalb beläßt er es dabei, in Ga1 2, 11-14 seinen kompromißlosen Kampf gegen die Forderungen der aus Jerusalem Gekommenen zu schildern. Die Betonung des Angriffs auf Petrus hängt wohl daran, daß dieser im Gegensatz zu Paulus die Jakobusklauseln als einen Kompromiß zugunsten der Heidenchristen auf der Linie des beim Apostelkonvent getroffenen Beschlusses ansah und für sie eintrat. Daß Paulus sich spätestens nach Bekanntwerden des Aposteldekrets in Antiochia von dort aus auf Missionsreise begab, also den Ort seiner Niederlage verließ, um nun selbständig die von ihm für richtig erachtete Art der Christusverkündigung weiterzubetreiben, ist nur folgerichtig. Soweit es ihm dabei gelang, über den Kreis von Gottesfürchtigen an Synagogengemeinden hinaus in die Welt der Heiden vorzudringen, was etwa gerade für die Landschaft Galatien zutreffen mochte, konnte das der Frage ·der Verpflichtung solcher Heidenchristen auf Grundlinien jüdischer Praxis zusätzliche Brisanz verleihen. Jedenfalls hat sich Paulus deswegen, weil er in seiner weiteren Missionstätigkeit den Jakobusklauseln keine Rechnung trug, die Schwierigkeiten selbst zugezogen, die ihm andere judenchristliche Missionare seitdem immer wieder bereiteten. Diese ,Schwachstelle' seiner Position hat es offenbar den Gegnern in Galatien (und anderswo) erleichtert, Paulus und sein Wirken in Mißkredit zu bringen. Denn ihre Forderung an die galatischen Heidenchristen, sich beschneiden zu lassen, hätte er, rechnet ebd. mit der Einfnhnmg des Dekrets ,.ohne Paulus... der aber vor der A~ fassung des Gal ,,irgendwann eine Ktmde davon bekonunen.. haben konnte: Das cntscblrft das Problem grQndlich. 2s LANG
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wie gesagt, sehr einfach unter Hinweis darauf zurückweisen können, daß er sich bei seinem Wirken in völliger Übereinstimmung mit den Autoritäten der Kirche befinde. Diese Argumentationsbasis hatte sich Paulus jedoch selbst durch die Mißachtung der Jakobusklauseln entzogen. Dadurch konnten sich die Gegner ihm gegenüber in seinen Gemeinden als Vertreter des , wahren Evangeliums' aufspielen und so ihren unberechtigten Forderungen den Schein der Rechbnäßigkeit verleihen.
6. In den Briefen erkennbare Auswirkungen Angefangen vom I Thess bis hin zum Römer-Brief spiegelt sich die Tatsache, daß Paulus massiven Angriffen ausgesetzt war, denen er ebenso massiv begegnete. Vielleicht gab gerade der missionarische Erfolg des Paulus die Veranlassung dazu. In I Thess 2, 14-16 sieht er sich selbst in der Tradition der verfolgten Propheten. Eben diese Tradition dient ihm hier auch als Verständnismodell für den Tod Christi. Das ist sehr auffällig. Denn eine Bekenntnistradition wie I Kor 15,3b-5a, die den Tod Jesu soteriologisch wertet, mußte ihm durch die antiochenischeGemeindegeläufig sein. Offensichtlich hat der Apostel erst aufgrund der für ihn sicher sehr belastenden Isolation - in die er sich selbst gebracht hatte - das Kreuz Christi als persönlichen Trost entdeckt und dann in seine Auseinandersetzung mit gegnerischen Auffassungen eingebracht (vgl. Gal 2, 19ft'; 6, II ft). 26 Der Glaube an den gekreuzigten und auferweckten Jesus Christus als Antwort auf Gottes Heilswirken ist dabei von Paulus derart grundsätzlich in Konkurrenz, ja Gegensatz zur Toratreue gestellt worden, daß notwendige Differenzierungen und Einschränkungen aus dem Blick gerieten. Wenn also in dieser innerchristlichen Auseinandersetzung, die in der damaligen Zeit eben eine innerjüdische war, vom Apostel jüdische ,essentials' in Frage gestellt bzw. abgewertet wurde~ dann verharmlost Mußners entgegengesetzte Auffassung das Problem. Darüber hinaus ist ihm zu bestreite~ daß die Auseinandersetzung mit Petrus (und den anderen Judenchristen) "eine Erörterung über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium mit sich bringen mußte". 27 Denn abgesehen davo~ daß Durch W. ScHENK wurde ich uniangst darauf aufinerbam, wie fragwürdig die Annahme einer ,Kreuzestheologie• des Paulus ist. 27 F. MussNER., Gal, 135. vgl. 136. 26
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der Ausdruck "Gesetz und Evangelium" heute Assoziationen weckt, die für die damalige Zeit unangebracht sind, hat sich die damit gemeinte Erörterung vielmehr aus den dieser Auseinandersetzung folgenden Ereignissen und der von Paulus dabei erst entwickelten Konzeption ergeben. In l Thess ist diese Konzeption, bei der "Werke des Gesetzes" und Glaube an (Gottes Heilswirken in) Christus in Antithese zueinander treten, bekanntlich noch nicht vorhanden.
7. Der Grund der Rechtfertigung des Menschen In der grundlegenden Passage von Gal 2 wird für diese Konzeption, die den Christusglauben als die Antithese zur Treue gegen Gottes Weisung sieht, der Begriff der "dikaiosyne" verwendet. Diese "Gerechtigkeit/ Rechtfertigung" soll der Mensch "nicht aus Werken des Gesetzes" (V.16) erlangen, nicht "durch das Gesetz", wie Paulus wiederholt (V.21). Allein diese Erläuterung, die Paulus dem kurz zuvor Gesagten gibt, erweist es als schwierig, "Werke des Gesetzes" im Sinn von Dunn oder Burchard einzuschränken. Denn mit der "social function" triffi Dunn zwar das Problem, aber im Streit um seine Lösung argumentiert Paulus theologisch grundsätzlich. Seine Formulierungen enthalten indes eine Verkürzung, die eine große Tragweite besitzt. Sie legt es nahe, der anderen Seite - seien es nun die Gegner oder die Juden, die Christus ablehnen- eine Auffassung zu unterstellen, die sie selbst überhaupt nicht vertreten (können). Denn für biblisch-jüdisches Verständnis kommt diese "Gerechtigkeit" des Menschen nicht "aus Gesetzes werken", sondern allein von Gott. 28 Ein keineswegs singuläres Beispiel dafür sind die Hodayot von Qumran, die das gläubige Bewußtsein der "iustificatio impii sola gratia" breit belegen29 - auf der Linie von Ps 143,2b. Dies läßt sich gleichsam von der Gegenseite aus aufzeigen, wenn man einmal - in Entsprechung zu 1 Kor 1,31 - "dikaiosyne" mit "hagiasmos" und "apolytrosis" gleich setzt: Heiligung und Erlösung sind nach biblisch-jüdischer Glaubensüberzeugung Gottes Werk. So konnte die Behauptung von Gal 2,16, der Mensch werde ,,nicht aus Werken des Gesetzes gerecht, sondern durch Glauben an Christus Jesus" mit der Negation im ersten Teil auch für Petrus (und die anderen
28
Vgl. Ch. 8URCHARD, Nicht aus Werken, 406 Anm.7.
29 Vgl. E. LoosE(Hg.), Die Texteaus Qumran, Dannstadt 1964,281 Anm. 83.
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Judenchristen) nur eine bare Selbstverständlichkeit sein; den zweiten Teil konnte(n) er (und sie) im Sinn des geläufigen Christusbekenntnisses verstehen, das die ,spezifische Eigenart' ihres biblisch-jüdischen Gottesglaubens ausmachte. 30 Damit war aber gerade ein Verständnis, wie es Paulus im Gal vertritt, nicht zu vereinbaren. Die geläufige Aussage, Paulus ziele auf die Ablehnung des Gesetzes als "Heilsweg", wird dem Problem demnach nicht gerecht. Vielmehr gehtes-um in Bec/cers Diktion zu bleiben- um den Tatbestand, "daß die frühjüdische Einheit von Gesetzesbefolgung und Glaube (als Treue) zu Gott und seinem Bundesgesetz gesprengt wurde und so in Antithese geriet"31 • Die Auflösung dieser untrennbaren Einheit zielt bei Paulus auf seine Art der Heidenmission - das wird in Gal 3,12 ausdrücklich hervorgehoben und bestimmt das Verständnis der ,,Freiheit", wovon bereits in 2,4 die Rede war und worauf er dann im weiteren Brief immer wieder zu sprechen kommt. Nur war eine solche Auflösung dessen, was biblisch-jüdisch nicht zu trennen ist, sogar den galatischen Heidenchristen wohl wenig plausibel. 32 Was jüdisch die Antwort auf Gottes Heilswirken darstellt, nämlich gläubiges Vertrauen, das sich in einem toratreuen Leben bewährt, sieht folglich bei Paulus so aus: Gottes Heilswirken in und durch Jesus Christus braucht von den Heidenchristen nur in gläubigem Vertrauen angenommen zu werden - das Leben der Toratreue, das die jüdische Identität ausmacht, ist nichts für sie. Dabei spielt es für Paulus offenbar keine Rolle, daß er trotz der prinzipiellen Entgegensetzung dann, wenn es um die konkrete Lebensgestaltung geht, an der Verpflichtung auf die sittlichen Gebote der Tora festhält ( 5, 14). 33 Aus all dem wird die Auffassung bekräftigt, daß die paulinische Rechtfertigungsbotschaft eine aus aktueller Auseinandersetzung heraus entwickelte Konzeption bildet. Sie läßt sich deshalb nicht als ,Lehre' 30
Vgl. Ch.
BuRCHARD,
Nicht aus Werken. 409: Der von ilun angenonunene, dem Paulus aber ihre Auslegung [... )). "
~egebene Grund-Satz berührt "die Geltwlg der Tora nicht (wohl 3 Gal,42.
Vgl. Ch. ßuRCHARD, Nicht aus Werken. 409 Amn. 28: ,,Die Galater und die Gegner sind christgJaubig und wollen es bleiben. also nicht Werke des Gesetzes anstelle des Glaubens an Christus setzen." 33 Daß hier nicht nur ,,Paulus in einer heiklen Lage" ist. sondern auch BECKF.R, zeigt er in dieser Bemerlamg: For Paulus ,,ist seit dem Jerusalemer Konvent entschieden. daß der die Menschen heiligende Geist Gottes'' [ausgerechnet!) "diesen Teil der Tora", seit. den ritualgesetzlichen. ,,außer Kraft gesetzt hat." Wenn dann noch sittliches Leben - mit Recht - als "torakonfonn" bezeichnet wird, ist die Rede vorn ,,gesetzesfreien Evangelimn" als ideologisches Konstrukt offenkundig {GaJ, 83f). 32
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verstehen, sondern nur als in wiederholten Anläufen unternommener und darum in sich nicht widerspruchsfreier Versuch einer "secondary rationalization" 34 . Paulus will damit in erster Linie Angriffe gegen seine Art der Heidenmission abwehren, dann aber auch Angriffe gegen eben die Art seiner Abwehr. Dabei ist stets zu beachten, daß die grundsätzliche Redeweise "ohne Werke des Gesetzes" konkret seine Missionspraxis "ohne [Verpflichtung der Heidenchristen auf] die Befolgung der Tora", im Sinn von: ohne ihre Verpflichtung auf jüdische Lebensweise im Auge hat. Daß Paulus in Gal 2, 16 "aus Werken des Gesetzes" in Ps 142,2 LXX einfügt, unterstreicht nur diesen Tatbestand. Denn der genaueSinn dieser Einfügung ergibt sich ausschließlich aus dem Kontrast zu jüdischer Toratreue, auf den Paulus so großen Wert legte, weil das für ihn in der damaligen Lage grundsätzliches Gewicht besaß.
8. Schriftauslegung im Dienst antijüdischer Einzelargumentation Die Angriffe, die zwar direkt auf die Gegner des Paulus gerichtet sind, dabei aber mittelbar jüdisches Glaubensverständnis und jüdische Lebenspraxis als solche treffen, setzen sich in Kapitel 3 auf der Basis von 2,15-21 fort. Zunächst (3, 1-5) erinnert Paulus an Geisterfahrungen, die infolge seines missionarischen Wirkens unter den galatischen Christen aufgetreten sind. Im Rückblick, der vom Gesetzesthema bestimmt ist, kann er ,natürlich' fragen, ob diese Geisterfahrungen "Werke des Gesetzes" zur Voraussetzung hatten. Die Frage ist allerdings rein rhetorisch; denn seinerzeit stand in der Missionstätigkeit des Paulus das Thema des an der Tora orientierten Lebens überhaupt nicht zur Debatte. Nun aber bietet sich die willkommene Gelegenheit, bereits hier den Geist-Fleisch-Gegensatz anklingen zu lassen, wodurch die Forderung nach "Werken des Gesetzes" von vomherein negativ abgestempelt ist. Die anschließende Behandlung des Themas Abraham, die bis ans Ende von Gal 4 reicht, bewegt sich auf dem Feld der Schriftauslegung. Paulus mußte hier Stellung beziehen. Denn seine Gegner konnten nicht nur die Heilige Schrift allgemein, sondern insbesondere Abraham fiir
34
H
RÄISÄNEN,
Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 1983, 20 I.
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ihre Position geltend machen. 3s Darum beginnt Paulus nicht mit Gen 12,3 (erst in Gal 3,8 geht er darauf ein - darüber gab es ja keinen Streit). Sondern er setzt in V.6fmit Gen 15,6 LXX ein und bezieht das Bibelwort auf die Heidenchristen. Von denen, die "aus Glauben" sind und daher Gottes Segen erlangen sollen, hebt er dann alle diejenigen ab, die "aus Gesetzeswerken" sind und deshalb [!] unter dem Fluch des Gesetzes stehen sollen (V.9f). 36 Im Zusammenhang damit versucht Paulus, durch weitere Schriftzitate den angeblichen Gegensatz zwischen Glauben und Taratreue zu erhärten (V.11-14). Nicht nur dieser Gegensatz [dazu s. bereits o.], sondern gerade auch die Beanspruchung Abrahams als Beleg für diesen Gegensa~ ist für jüdisches Verständnis absurd und so auch den Schriftstellen völlig fremd, ja zuwider. 37 Dafür genügt schon ein Hinweis auf die bekannte Tatsache, daß Hab 2,4 in Qurnran selbstverständlich die Ausrichtung des Lebens an der Weisung Gottes umschließt Gal3,11fnimmt stattdessen 2,15f21 auf Welche Zumutung für andere Juden(christen) dieser Umgang mit der Bibel bedeutet, ist daran zu ermessen, daß die ,Auslegung' des Paulus darauf hinausläuft, den "nomos", verstanden als die von der Tora geprägte jüdische Glaubens- und Lebenspraxis, mit Hilfe eben desselben "nomos", jetzt im Sinn der Heiligen Schrift, aus den Angeln zu heben. Letztlich versucht er damit, Gott gegen Gott auszuspielen. Zwar läßt sich zugunsten dieses Verfahrens, das den Christusglauben des Paulus voraussetzt, darauf verweisen, daß es ihm dabei ,nur' um die Freiheit seiner Heidenchristen von jeder Verpflichtung zu jüdischer Lebensweise geht. Doch der Kampf für dieses Ziel schließt eben die theologische Abqualifizierung des jüdischen Volkes ein. Dun werden der "Bund" und die Verheißungen Gottes abgesprochen, die in Gegensatz zum "Gesetz" gestellt werden, und so schließt die Argumentation des Paulus geradezu zwangsläufig die Enterbung des jüdischen Volkes ein (3, 1529). Dabei hebt er die grundsätzlich negative Bewertung des Gesetzes 35
D. LOHRMANN, Der Brief an die Galater (ZBNT 7), Zürich 1978, 106. Vgl. 8ECKER., Gal, 49: ,.Wenn Paulus das erwah.lende Handeln Gottes dtat:h das Evangeliwn nicht mit Abraham verbinden kann. hat er gegenüber den Jndaisten verloren." 36 Vgl. L. GASTON, Paul, 50: "One might think that those wbo do n:main in the commandments 'to do them' would be tmder a blessing.. - gcmaß l..ev 18,5 (vgl. Röm 10,5). 37 LOHRMANN, Gal, 50-60. Vgl. 8EcKER, Gal, 51, zu V.ll f: ,,Dieses Auseinandcneißen von ,Gesetz' wtd ,Glaube' ist im jOdischen Denken der Zeit nicht vorstellbar." Übrigens auch heute nicht.
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im Blick auf die "Gerechtigkeit/Rechtfertigung" mit allem Nachdruck hervor (V.21 greift in diesem Abschnitt wieder unmittelbar auf 2,21 zurück). Wenn sich Glaube und Gotteskindschaft nicht mit dem "Gesetz" als "Geflingniswärter" und ,,Zuchtmeister" vertragen, darm ist die Befreiung der im. Sinn des Paulus Glaubenden, ihre Begabung mit dem Geist Gottes das Ende ihrer Versklavung, scil. unter heidnische Lebensweise. Die Sklaverei wäre erneut angetreten, wenn es zu einer Orientierung an jüdischer Lebenspraxis käme. Konkret bezieht sich das auf die Beachtung des jüdischen Kalenders, womit auch der Gottesdienst angezielt ist. 38 Auf diese Weise ,gelingt' es Paulus, die in seinen Augen ,drohende' Hinwendung der galatischen Christen zu den Forderungen seiner judenchristliehen Gegner als Rückfall in die heidnische Religiosität hinzustellen (4, 1-11). Das trifft erneut das Judentum als solches, nicht bloß die Widersacher des Paulus innerhalb der jüdischen Christen. Nach einer Besinnung auf die persönlichen Beziehungen zwischen den Galatern und Paulus, die durch die Gegner bedroht sind ( 4, 12-20), unternimmt er einen weiteren Anlauf, um die Hinwendung zu taraorientierter Lebensweise als Sklaverei hinzustellen. Dafür gibt er eine weitere Probe seiner Schriftauslegung, nochmals mit Rückgriff auf die Abrahamsthematik (V.21-31). 39 Wie dort wird ,,nomos" als Heilige Schrift gegen "nomos" als "Gesetz" im Sinn jüdischer Glaubens- und Lebenspraxis ausgespielt. Die zum Teil schwierigen Einzelfragen dieses Abschnitts40 müssen jetzt nicht eingehend erörtert werden - es kommt auf den Gesamtduktus der Argumentation an, und der läßt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Die beiden Söhne Abrahams werden nicht mit ihren Namen eingeführt, sondern als "Söhne der Sklavin" und "der Freien" (V.22), um so gleich den Gegensatz von Freiheit und Knechtschaft zu intonieren. Dasselbe gilt für V. 23, wo der Gegensatz ,,Fleisch-Verheißung" ins Auge gefaßt ist, derdarmmit der Entgegensetzung von ,,Fleisch" und "Geist" aufgegriffen wird (V.29). Die Ausdeutung der beiden Frauen auf zwei "diathäkai" führt Paulus allein für den Sinai-"Bund" durch. In krassem Widerspruch zur biblisch-jüdischen Tradition identifiziert er ihn mit Hagar, so daß er Vgl. ßEa
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diejenigen, die ihre Identität vom Sinai herleiten, wie eben auch die Gegner in Galatien, als "Sklaven" denunzieren kann (V.24)- das betont er sogleich ausdrücklich mit dem Hinweis auf ,.das gegenwärtige Jerusalem" (V.25). Dabei kann es offen bleiben, ob die römische Fremdherrschaft nicht zumindest mitgemeint ist. Auf jeden Fall sind auch hier wieder über die Gegner hinaus alle Landsleute attackiert, die Gottesverhältnis und Selbstverständnis auf den Sinai-Bund gründen. Für sich und die in seinem Sinn an Christus glaubenden Heidenchristen reklamiert Paulus dagegen "das obere Jerusalem" als Mutter, die frei ist (V.26) und deshalb zur Freiheit gebiert. Paulus behält hier die Parallelität zur vorangehenden Aussage nicht bei. Er nennt weder den Namen Saras noch erwähnt er - wie zu erwarten ist - die andere ,.diathäkä", natürlich ebensowenig einen dem Sinai entsprechenden Berg. Denn von Goigotha weiß er nichts, und den Zion kann er ,natürlich' nicht nennen. Stattdessen bietet die Apokalyptik mit der Vorstellung vom "himmlischen Jerusalem" passenden Ersatz. Allerdings besteht der wesentliche Unterschied zur jüdischen Vorstellung darin, daß dieses "obere Jerusalem" für Paulus nicht mit dem irdischen, ,jetzigen" Jerusalem positiv verbunden, sondern ihm entgegengesetzt ist. Zur Begründung führt Paulus in V.27 Jes 54,1 an, eine Stelle, die sich eindeutig auf das irdische Jerusalem bezieht und so wiederum von Paulus gegen alles jüdische Verständnis ge-, ja mißbraucht wird, um sich und seine Heidenchristen, die er von aller an der Tora orientierten Lebensweise fernhalten will, als "Kinder der Verheißung wie Isaak" zu rechtfertigen (V.28). Beckers Versuch, diese Art der Schriftauslegung mit der "Situation" von Gal 2,4 zusammenzubringen, "in der solche Exegese benötigt wurde", ist wie sein Postulat antiochenischer "Grundentscheide'' ohne jeden Anhalt am Text. Seine vage Vermutung, damals "mag" in Antiochia "diese Exegese als relativ feste Tradition dem Apostel zugewachsen oder sogar einst von ihm selbst entworfen worden sein"41 , wird vom dortigen Kontext (einschließlich Gal2,ll-l3) glatt widerlegt. Daß Paulus ad hoc Schriftauslegung betreibt und dabei vor keiner Gewaltsamkeil zurückschreckt, um sein Beweisziel zu erreichen, bestätigt die Fortsetzung in V.29-31. Hier verankert er gleichsam seine Schriftauslegung in der aktuellen Situation. Die schwierige Aktion Abrahams, Hagar und den gemeinsamen Sohn wegzuschicken, ist in Gen nicht mit einer Verfolgung Isaales durch Ismael begründet. 41
Gal, 73(
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Möglicherweise lehnt sich Paulus an zeitgenössische AuslegWlgen an. Das erlaubt es ihm, die eigene Erfahrung der VerfolgWlg durch andere Missionare mit der Erfahrung der Galater, von solchen Leuten gegen Paulus beeinflußt zu werden, gleichzusetzen Wld für sich selbst und die Galater von der lsaak-Geschichte aus darin eine BestätigWlg zu erblicken, daß der Anspruch berechtigt ist, "Kinder der Freien" zu sein. Dieser Rückgriff von V.31 auf V.28 hebt das Aussageziel des Paulus hervor. Er hat allerdings noch einen weiteren Aspekt im Auge. Das zeigt sich, wenn man danach fragt, welche Folgerung aus dem Vorherigen mit dem "Deshalb" des V.Jl gemeint ist. Es paßt gut zu V.29 Wld ebenso zum zweiten Teil des Zitats von Gen 21,10 in V.30, während der erste Teil dieses Zitats überschüssig ist. Warum hat Paulus ihn dann nicht weggelassen, was nichts Auffälliges an sich hätte? Es werden zwei Aspekte gewesen sein, die ihm an der Aufforderung der Bibel "Wirf die Sklavin und ihren Sohn hinaus!" gelegen kamen. Der eine ist die implizite Aufforderung an die Galater, mit den Widersachern des Paulus entsprechend zu verfahren. Der andere ist die sozusagen von Gott angeordnete Verstoßung der an der Tora vom Sinai festhaltenden Landsleute, repräsentiert vom "gegenwärtigen Jerusalem". Dies trifft wiederum nicht nur die Gegner, sondern das jüdische Selbstverständnis als solches. In den beiden Schlußkapiteln des Briefs geht Paulus dann wieder direkt auf die aktuelle Situation in Galatien ein. Doch Wlterläßt er es nicht, nochmals die grundsätzliche Antithese zu nennen, die er bereits in Kapitel 2 aufgestellt hatte - hier Christus, Gnade, Geist Gottes, Glaube, dikaiosynä, dort "das Gesetz" (5,4f), eine Antithese, die- es sei wiederholt! - für seine Gegner (wie für jüdische Ohren überhaupt) geradezu haarsträubend sein mußte. Denn das alles war für diese Judenchristen nichts Gegensätzliches, sondern gehörte aufs innigste zusammen. Daß der abschließende Segenswunsch mit dem "Israel Gottes" auch die Gegner umfaßt hätte (6,16), ist eine Auffassung, die nicht völlig auszuschließen ist, jedoch dem Paulus eine Bereitschaft zur Selbstverleugnung zutrauen muß, die nach der Schärfe der Angriffe äußerst verblüffend wäre. Bei einem solchen Verständnis müßte man jedenfalls Röm 9,4fund ll,28fvorweggenommen sehen.
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9. Die Selbstkorrektur des Paulus im Römerbrief'2 Hätten wir nur den Galater-, aber nicht auch den Römerbrief, dann besäßen die Aussagen des Paulus im Gal, die das jüdische Selbst- und Glaubensverständnis in Frage stellen, ein unvergleichlich stärkeres Gewicht. Doch der Römerbrief zeigt, daß die Angriffe des Gal auf jüdische ,essentials' von Paulus nicht aufrecht erhalten werden. Von seinem Standpunkt aus, der auf die konkrete Frage von Übernahme oder Ablehnung jüdischer Lebenspraxis durch die von ihm missionierten Heidenchristen gerichtet ist, kann er zwar in der Grundfrage der "Gerechtigkeit/Rechtfertigung" des Menschen auf die - es sei wiederholt: irreführende - Antithese von "Gesetzeswerken - Glaube an den gekreuzigten und auferweckten Jesus Christus" nicht verzichten. Doch widerruft Paulus die ausschließlich negative Beurteilung der Tora, zunächst in Röm 7,12.14.16.22 und 25. Bereits hier drängt sich somit die Frage auf, welche Folgen diese Anerkenntnis der gottgewollten Aufgabe der Tora fiir die Rechtfertigungsbotschaft des Paulus hat. Vom Kontext her entschärft er diese Frage durch ein anthropologisches Pauschalurteil: Unsere Verfallenheit an die Sünde verhindere, daß das heilige, geistgeprägte, gute "Gesetz", das das "Gesetz Gottes" ist, seine Wirkungen entfalten kann. In Röm 9,4f und II ,29 aber verzichtet Paulus darauf, die Bedeutung der Tora als Gnadengabe Gottes an sein jüdisches Volk irgendwie anzutasten. 43 Vielmehr zählt er zusammen mit der Tora alles das als Gnadengaben an Israel auf, was er im Gal ihr entgegengesetzt und den Heidenchristen zugesprochen hatte. Diese Aufzählung in Röm 9,4f- als Widerruf entgegengesetzter Behauptungen in früheren Briefen, eben speziell auch im Gal - bekräftigt übrigens mit ihrem Kontext die hier vertretene Auffassung, daß sich diese früheren Aussagen des Paulus nicht nur gegen seine innergemeindlichen Gegner richteten, sondern wegen ihrer grundsätzlichen Intention generell gegen elementare Auffassungen des Judentums.
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Vgl. dazu meine Beitrage" ,Das Israel Gottes' im Neuen Testament- die Kirche oder das jüdische Volk?" in: H. FROHNHOFEN(Hg.), Christlicher Antijudaismus WldjOdischer Antipaganismus (Hamburger theol. Studien 3), Harnburg 1990,64-87, und ,,Heidenchristen und Judenfeindschaft'', Das jüdische Echo (Wien) 46 ( 1997) 52-57. 43 9,1-5 und 11,25-36 begrenzen als ,,Klammem[ ... ) alldas [... ),was Paulus dazwiscben an israelkritischen Aussagezusammenh entfaltet'': P. vON DBR Os'rnN-SACKEN, Römer 9-I I als Schibbolet christlieber Theologie, in: DERs., Evangeliwn und Tara. Aufsatze zu Paulus (ThB 77), MOnehen 1987,294-314: 300(
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Zusätzlich wird das durch die W amung vor heidenchristlicher Überheblichkeit gegenüber den nicht an Jesus Christus glaubenden Landsleuten des Paulus bestätigt (11, 13-22). Dabei ist das Pikante an der Warnung die Tatsache, daß es Paulus selbst war, der mit seinen früheren Äußerungen solcher Überheblichkeit Vorschub geleistet hatte. Die Aufzählung in Röm 9,4f beginnt mit der Feststellung, daß seine Landsleute, auch wenn sie den Glauben an Jesus Christus ablehnen, Israeliten sind - und bleiben! Damit ist bereits jedem Gedanken an eine Enterbung des jüdischen Volkes, eine Verdrängung aus ihrer Berufung durch Gott ein Riegel vorgeschoben. Was in Gal 6,16 beim ,,Israel Gottes'' noch zweideutig sein konnte, ist es jetzt nicht mehr. Die Gotteskindschaft, die die Heidenchristen nach Gal 3 Wld 4 durch den Geistempfang anläßlich der Taufe erhalten, ist jetzt nicht mehr durch die Behauptung der jüdischen Knechtschaft Wlter dem "Gesetz" erkauft. Vielmehr ist sie wie die Herrlichkeit Gottes primär Israel zugeeignet. Das schließt ein, daß die "Freiheit", zu der Christus die Heidenchristen befreit hat, die Freiheit voraussetzt, zu der Gott das jüdische Volk befreit hat. Auf eben diese Revision entgegenstehender Behauptungen des Gal läuft die NennWlg der "diathäkai" - vor der Gabe der Tora - hinaus. Denn sie zielt sowohl auf die "Bundesschlüsse" bzw. Bundeszusagen, die Gott dem Abraham wie den anderen Patriarchen gewährt hat (vgl. die ErwähnWlg der "Väter" in 9,5), als auch auf den Sinai-Bund. Auf diese Weise wird nicht länger wie in Gal 3 der Versuch gemacht, Abraham dem jüdischen Volk wegzunehmen, Wld die ebenso verwegene SchriftauslegWlg Gal 4,21-31 mit ihrem Ziel der Abwertung des Sinai-BWldes wird nicht weiter aufrecht erhalten. Dieser ist stattdessen nWl wieder, wie es jüdischem Verständnis entspricht, in die Linie des Abraham-Bundes eingereiht. Dadurch erhält die Tora die ihr gebührende AnerkennWlg als Gnadengabe Gottes. Dies wird durch die Nennung des (Tempei-)Gottesdienstes Wld der- bereits in der Tora selbst enthaltenen- VerheißWlgen Wlterstrichen. Diese können ihr nWl nicht mehr wie in Gal 3 entgegengesetzt werden. Die ErwähnWlg des Gottesdienstes verdient besondere Beachtung. Denn sie erkennt die soteriologische Bedeutung der Tora ohne jede EinschränkWlg als gültig an. Damit ist die WarnWlg an die Galater korrigiert, mit der HinwendWlg zum jüdischen Kalender kehrten sie zum Götzendienst zurück. Doch nicht nur das - die Anerkenntnis der Tora in ihrer soteriologischen Qualität fuhrt zwangsläufig zur Frage, wie es dann mit der paulinischen RechtfertigWlgsbotschaft steht. Dieser
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Frage (9,6a) widmet sich der Apostel in wiederhohem Anlauf bis ins 11. Kapitel hinein. Zunächst zieht er sich auf die Freiheit des göttlichen Handeins zurück (9,6b-29) - worüber schlecht gestritten werden kann. Danach sucht er- wie in Röm 7- die Rechtfertigungsbotschaft dadurch zu sichern, daß er seinen Landsleuten, die dem Christusglauben ablehnend gegenüber stehen, die Verantwortung dafür anlastet, den "nomos dikaiosynäs" verfehlt zu haben (9,30-11, 10). In diesen beiden Abschnitten geht Paulus unter Berufung auf die Heilige Schrift mit Behauptungen nach Art des Gal gegen jüdisches Selbst- und Glaubensverständnis vor. Doch von II, II f an - worauf die Sätze V. I. 2a vorausweisen - äußert er sich unter immer stärkerer Zurücknahme von Vorbehalten (die am Ende ganz verschwunden sind) zugunsten Israels. Nach der erwähnten Warnung der Heidenchristen (V.I3-22) zieht Paulus von V.23 an aus der bereits in 9,4f ausgesprochenen Anerkenntnis grundlegende Folgerungen. Aufgrund der nun ausschließlich positiv als Erwählung gesehenen göttlichen Handlungsfreiheit eignet dem jüdischen Volk, ob seine Mitglieder nun an Jesus Christus glauben oder nicht, ein "character indelebilis", wodurch die Rettung ganz Israels durch Gott garantiert ist (V.24-27). Dabei vermeidet Paulus, worauf Dunn mit Recht abhebt, "anything distinctively Christian in terminology and in the hope he expresses - that is, ,Christian' as distinct from ,Jewish'. " 44 Gleichsam als Fazit hält V.28f fest Trotz jüdischer Ablehnung der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft - was für Paulus gegen Gott gerichtet sein muß -hält Gott an der bei Abraham grundgelegten Entscheidung zugunsten des jüdischen Volkes fest, bleiben ihm die in 9,4f aufgezählten Gnadengaben erhalten, selbstverständlich im endzeitlich bestimmten Jetzt (V.30t), also ganz uneingeschränkt. 45 Mit dieser Anerkenntnis wendet Paulus die Behauptung von Gal 3,17 ins Gegenteil. Denn das Christusereignis, das den Verheißungen an die Väter nachgeordnet ist (vgl. noch Röm 15,8), macht Israels Erwählung auch dann
J.D.G. ~. Two Covenants m- One? lbe Interdepcndence of Jewish and Christian ldentity. in: Jl LICHJENBERGER (Hg.). Geschichte - Tradition - Reflexion (FS IDr M Hengel z. 70. Geb.). Band 01: Frühes Christentum. TObingen 1996. 97-122: 117. Vgl. P. FIBDLER .,Israel und unsere Hoffinmg.. in: E. BROCJCEIH.-J. BARXENINGS (Hg.). ••Wer Tora vermehrt. mehrt Leben" (FS H Kn:mers z. 60.Geb. ). Neukirchen-Vluyn 1986. 15-24: 23. 45 Vgl. P. FIEDLER. Israel. 22( 44
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nicht hinfallig, wenn von jüdischer Seite das Festhalten an der Tora gegen die Christusverkündigung (des Paulus) geltend gemacht wird. 46 Das heißt aber auch: Indem die Linie der Gnadengaben Gottes von Abraham über den Sinai-Bund und damit über die Torabis hin zum Christusereignis gezogen wird, ist die Antithese "Werke des Gesetzes Christusglaube" als theologisch unhaltbar anerkannt. Oder anders ausgedrückt: Paulus verzichtet darauf, wie bisher ,essentials' des jüdischen Glaubens und Lebens in Frage zu stellen, und dies mit Hilfe einer christologischen Deutung der Heiligen Schrift. Den unmißverständlichen Beleg dafür, daß christologische Schriftauslegung sich nicht gegen das Judentum richten muß und darf, liefert Paulus in Röm 15,9-12. 47
10. Zur Hermeneutik der antijüdischen Äußerungen imGal Der eingangs skizzierte "Sitz im Leben" des Gal läßt verstehen, daß Paulus an jüdischer - und damit auch: judenchristlicher - Toratreue nichts Positives (an-)erkennen wollte. Die Gefahr, in der er seine heidenchristliehen Gemeinden durch das Vorgehen der Gegner sah, schien ihm keine andere wahl zu lassen, als den Gottesglauben, auf dem der Christusglaube gründet (vgl. 1 Thess 1,9f), gegen die Toratreue auszuspielen, und zwar so prinzipiell, daß er die von Gott garantierte Qualität der Tora bestritt. Paulus verstrickt sich dadurch in ein Gestrüpp von ,objektiv' antijüdischen Behauptungen, die auch den Heilsstatus des nicht an Christus Jesus glaubenden Israel antasteten. 48 Der Versuch, den Christus- und damit den Gottesglauben gegen die Tora auszuspielen, konnte jedoch nicht aufrecht erhalten werden. Denn 46
Der als Frage zu V.29 formulierten Erlcenntnis ,,Steht also das Schriftzeugnis von Israels Erwahlung höher als das Urteil des Evangeliwns?" verschließt sich W. KRAus, indem er V.26b-27 als ,,Antworr' sieht Paulinische Perspektiven zwn Thema "bleibende Erwahlung Israels'', in: DERs. (Hg.), Christen und Juden. Perspektiven einer AnnAherung, Gotersloh 1997, 143-170: 167. Das verdreht den Argumentationsgang des Paulus, der in V.30f dasselbe ,,nyn" den Christus-Gläubigen und den diesen Glauben ablehnenden Juden, folgerichtig zu V.29,
~chl 4 KRAus sieht {ebd., 168) in Röm 15,7-13 mit Recht "die besondere RoUe Israels als Gottes ersterwabltes Volk festgehalten". Die Heidenvölker seien ihm durch die Aufforderung ,,gleichgestellt'. Gott zusammen mit Israel zu preisen - das richtet sich erneut gegen den Sinn des Textes(der9,4fund 11,29 aufuimmt). 48 Dies veranschauliebt den extremen ,,Legitimitätsdruck'', \Ulter dem Paulus stand: R. l<.AMPLJNG, Antijudaismus, 117.
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er reißt auseinander, was biblisch-jüdisch- das bedeutet konkret in der Briefsituation: judenchristlich - zusammengehört. Dieser Einsicht hat sich Paulus als Judenchrist nolens volens gebeugt. Dafür nahm er in Kauf, seiner Rechtfertigungsbotschaft letztlich den Boden zu entziehen, jedenfalls soweit er für ihre theologische Begründung auf der Antithese zur Tora besteht. Auch wenn Paulus diese Konsequenz nicht wahrhaben will, läßt sich nur so die für ihn notwendige Verankerung seiner heidenchristliehen Gemeinden im Judenchristentum und damit im Judentum (Röm 11, 16-18 ~ 15 ,26f) festhalten. In den heidenchristliehen Gemeinden nachpaulinischer Zeit wurde diese Verankerung je länger desto weniger als theologisch zwingend erachtet. Die Abwertung der jüdischen (und judenchristlichen) Toratreue, für die gerade die antijüdischen Begründungen des Gal ausschlaggebendes Gewicht besaßen (vgl. oben in der Einleitung), weil die von Paulus im Röm vollzogene Selbstkorrektur nicht (an-)erkannt wurde, gewann deshalb in der Heidenkirche immer mehr an Boden. 49 Dabei übersah oder verdrängte sie die Gefahr, daß sie sich mit der Abkehr von Israel die Grundlage der eigenen Existenz selbst entzog. Allerdings ist mit Dunn zwischen der Praxis in den Gemeinden, deren Mitglieder noch lange in engem Kontakt mit dem Judentum stehen konnten, und der scharfen Polemik kirchlicher Autoritäten zu unterscheiden, die sich gegen diese Praxis des "J udaisierens" wandten. so Wenn wir heute anerkennen, daß es sich bei den antijüdisch verstehbaren Aussagen des Paulus um eine situationsbedingte "Argumentationsfigur" handelt, müssen wir darauf verzichten, sie in (alt)kirchlicher Tradition weiterhin als grundsätzlich gemeinte Behauptungen zu lesen. Das tun wir aber solange, wie wir den Christusglauben gegen die angebliche jüdische "Gesetzlichkeit", "Werkgerechtigkeit" o.ä stellen und uns von da aus berechtigt fühlen, das jüdische Volk theologisch abzuwerten, zu enterben. Nehmen wir stattdessen den von einem aktuellen Streit bedingten Charakter des Gal ernst, dessen antijüdische Argumente Paulus im Röm zurecht rückte, dann ist es uns möglich, das durch den Christusglauben nicht berührte Recht der jüdischen Orientierung aß der Toraals der Lebensweisung Gottes zu respektieren und so das Existenzrecht Israels ,theo-logisch' unangetastet zu lassen.
49
M.S. TA YLOR., Anti-Judaism and Early Christian ldentity. A Critique of the Scholarly Consensus (SPB 46 ), Leiden/New York/Köln 1995, lUlterstreicht zu Recht die theologische ~ung der altkirchlichen Judenfeindschaft (bes. 189-196). J.D.G. DuNN, Covenants, passim.
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Dies braucht uns dann nicht zu hindern, daß wir als Christen im Blick auf den biblisch-jüdischen Gottesglauben unter Berufung auf Paulus und das heißt allem nach: in nicht antijüdischer Weise - die Orientierung am Christusglauben als für uns maßgeblich zur Geltung bringen. Wir müssen uns bei solcher Berufung auf Paulus nur dessen bewußt sein, daß wir heute dem Judentum anders gegenüber stehen als damals seine heidenchristliehen Gemeinden: Unser Christentum ist eine vom Judentum getrennte Religio~ auch wenn (die) christliche(n) Kirchen das Band wahrzunehmen beginnen, das sie mit dem Judentum verbindet ("Nostra aetate", Art.4). Demgegenüber will zwar der Judenchrist Paulus die Unabhängigkeit seiner heidenchristliehen Gemeinden von jüdischer Lebensweise gewahrt wissen. Aber es ist ihm völlig klar, daß er sie durch die Ablösung vom Juden(christen)tum religiös entwurzeln würde. Eine Selbständigkeit seiner heidenchristliehen Gemeinden im Sinn eines AbgeschnittenSeins von der lebendigen jüdischen Wurzel kann es daher für ihn nicht geben. 51 Deshalb distanziert er sich in Röm 9,11 und 15 ausdrücklich von solchen Behauptungen wie im Gal, die sich in dieser Art verstehen lassen. Wenn wir uns darin dem Paulus heute wieder nähern wollen, so hat das unmittelbare Konsequenzen für die Diskussion um die "zwei Heilswege", genauer: um den "Sonderweg" Israels. 52 Die Frage dreht sich letztlich um unser christliches Selbstverständnis angesichts der Eigenständigkeit von Judentum und Christentum. Bei der Annahme eines ,,Sonderweges" für Israel im Anschluß an Röm ll,26b-32 geht es Mußner um dieses Anliegen: "Der Parusiechristus rettet ganz Israel ohne vorausgehende ,Bekehrung' der Juden zum Evangelium." Damit gibt es keine theologische Rechtfertigung mehr dafür, daß von christlicher Seite ,Bekehrungsdruck' auf Juden und Jüdinnen ausgeübt wird. Dieses Anliegen ist grundsätzlich zu bejahen. Allerdings ist gerade von Paulus her zu fragen, ob sich mit der Vorstellung vom Sonderweg des jüdischen Volkes nicht doch wieder eine Tür für die (heiden)christliche Anmaßung auftut, den gültigen oder zumindest den ,besseren' Heilsweg zu ,haben'. Denn wir müssen Daraufweist DuNN mit Recht hin: ebd., 114. M~ Heil ft1r alle. Der Grundgedanke des Römerbriefs, in: DPRs., Dieses Gescblecht wird nicht vergehen. Judentwn und Kirche, FreiburgiBaseliWien 1991, 29-38: 33-37~ Zitat: 34( Ein Oberblick ZlD" Diskussion von MussNERS These bei W. l<.Eu.ER., Gottes Treue Israels Heil (SBB 40), Stuttgart 1998, 2-57~ sein eigener Vorschlag (Kap. VI) bleibt schwankend, was der ausdrOcldiche Hinweis auf W. KRAus (280 Amn.l) bekräftigt SI
52 F.
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beachten, daß es im Raum des biblischen Glaubens grundsätzlich nur einen einzigen ,Heilsweg' gibt- allerdings eben nicht in der bis heute beliebten irreführenden Antithese von Christusglauben und "TaraObservanz". Denn sie schließt eine Aufspaltung des biblischen Gottesglaubens ein - wie sie ja seit Markion immer wieder bei uns versucht wurde. Eine solche Aufspaltung ist aber von Paulus her ausgeschlossen. Den Christusglauben kann es nur auf der Gnmdlage des biblisch-jüdischen Gottesglaubens geben. Wenn Paulus im Gal mit geradezu fanatischem Eifer dafür kämpft, daß die genannten praktischen Folgerungen von dieser theologischen Abhängigkeit ausgenommen bleiben, dann mochte dieser Übereifer den Eindruck erwecken (können), daß allein der Christusglaube die ,richtige' Art des Gottesglaubens sei. Demgegenüber hat sich der Apostel im Röm zum ursprünglichen und eigenständigen Recht des nicht-christlichen jüdischen Gottesglaubens bekannt und es seinen heidenchristliehen Gemeinden als Fundament ihrer eigenen Annahme durch Gott bezeugt. Von da aus ist die Vorstellung eines Sonderweges - wenn schon dann nur für unseren christlichen Glauben angebracht. Denn der eine Heilsweg für Juden wie für alle Nich~uden, die sich dem biblischen Gott zuwenden, ist der Glaube. Dieser Glaube verbindet in ursprünglicher Beziehung Gott und das jüdische Volk.s3 Dieses verwirklicht seinen Gottesglauben in der Ausrichtung des Lebens durch und an der Tora Gottes. Demgegenüber verwirklicht sich der Gottesglaube für uns Christen aus der nich~üdischen Völkerwelt- als durch Jesus Christus vermittelter- in der Ausrichtung des Lebens eben am "Gesetz Christi" (Gal6,2). Auf diese Weise bleibt unser Christusglaube dem biblisch-jüdischen Gottesglauben zugeordnet, ohne daß damit eine Infragestellung und Abwertwlg des jüdischen behauptet wäre. Die Kennzeichnung, daß die Juden unsere von Gott "bevorzugten, älteren" Geschwister im Glauben sind, 54 läßt sich nur auf diese Weise im Sinn des Paulus auslegen.
DuNNzeigt in Coveoants. daß die Vorstelltmg des- einen!- ,,Bundes" von Paulus auf das Gottesverhlltnis seines Volkes konzentriert worden ist: 115f. Vom systematischen Standpunkt aus vgl. H. VORGRIMLER, Der ungekündigte Bund. in: H. FRANKEMCUE (Hg.) Der tmgdcOndi~ Bund? Antworten des Neuen Testaments (QD 172), Freiburg 1998,232-247. So Jobarmes Paul B. in seiner Ansprache beim BesocJt der Großen Synagoge Roms am 13. April 1986, abgedruckt in: R RHNrrroRFF/H.H. HENiux (Hg.), Die Kirchen 1Uld das Judentum. PaderbomiMOnchen 1986, 106-111: I09. S3
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Anders als es bei Paulus der Fall war- allerdings in Konsequenz seiner Anerkennung der Tora als Gottes Heilsgabe an das jüdische Volk -, muß uns als Heidenkirche(n) bei einer solchen Sicht das Verhältnis zur Tora neu beschäftigen. Das meint konkret die Frage nach unserer Bereitschaft, das Verhältnis von Christus und Tora nicht länger so, wie Paulus im Gal will, zu bestimmen. Nehmen wir die Situation des Gal ernst, dann dürfen wir die dortigen Aussagen nicht verabsolutieren und dadurch die seit der Alten Kirche übliche mißbräuchliche Verwendung des Gal aufrecht erhalten. Das ist Antijudaismus in ungebrochener Tradition. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, die von Gott gestiftete Bindung des jüdischen Volkes an die Tora- eine gnadenhafte Bindung!- im Sinn des Röm als durch den Christusglauben nicht in Frage gestellt zu achten. Denn nur dadurch können wir der Einheit des Handeins Gottes an Israel und durch Jesus Christus an uns (aus den nicht-jüdischen Völkern) gerecht werden. Dabei geht es heute nicht darum, daß wir uns vor die Aufforderung gestellt sähen, wie es die Heidenchristen Galatiens durch die Gegner des Paulus waren, jüdische Lebensweise zu übernehmen. Die kirchliche Situation hat sich ja fundamental gegenüber damals gewandelt. Allerdings ist die Einstellungsänderung, die sich für uns ergibt, eine grundsätzliche: Die Anerkennung der Toraals der Gnadengabe Gottes an sein jüdisches Volk, die durch das Christusgeschehen nicht entwertet, sondern bestätigt worden ist, führt uns dazu, vom nicht zuletzt durch den Gal bewirkten und genährten Antijudaismus der fast zweitausendjährigen Verunglimpfung der jüdischen Tora-Treue umzukehren. Im Schlußteil der Ansprache des Papstes beim Besuch der Großen Synagoge Roms ist eine solche Umkehrbereitschaft durch den Ausdruck vorbehaltloser christlicher Hochschätzung der Tora und jüdischer Tora-Treue eindeutig bekundet worden. ss
ss Ebd., I IOf.
Antijudaismus in den Pastoralbriefen? LORENZ ÜBERLINNER
Zur Einführung In den Pastoralbriefen (Past) sind unterschiedliche Überlieferungen zu einer neuen Einheit zusammengewachsen; dabei kann es sich einmal um die Übernahme von vorhandenen Traditionen handeln, zum anderen um deren Neuakzentuierung, im Einzelfall aber sicher auch um eigenständige Gestaltung des Evangeliums, bedingt durch den Wandel der geschichtlichen Bedingungen, die sowohl das innergemeindliche Leben betrafen als auch die Beziehung christlicher Gemeinden zur nichtchristliehen Umwelt. Im innerchristlichen Bereich verdient, auf der Grundlage der in den wesentlichen Strukturen vorgegebenen Formen der Verkündigung, insbesondere die Verbindung mit Paulus Aufmerksamkeit, und zwar in gleicher Weise in der Frage nach der Kontinuität wie der Differenz zum paulinischen Evangelium. Des weiteren gilt es zu bedenken, ob und in welcher Form das Alte Testament und die darauf aufbauende jüdische Glaubenstradition Eingang gefunden haben. Und schließlich ist nach dem Einfluß von religiösen Formeln und Bekenntnissen aus der hellenistischen Umwelt zu fragen. Die vom Verfasser aus den unterschiedlichen Vorgaben entwickelte theologische Konzeption hat ihren Ort letztendlich in der in den Gemeinden virulenten Auseinandersetzung um den rechten Glauben. Der Hinweis von Peter Trummer, daß die Past in der Darstellung ihres Gottesbildes sich in alttestamentlicher Begriftlichkeit bewegen 1, ist sicher zutreffend; es wäre aber voreilig, schon daraus auf besonders intensive und eigenständige Verwendung alttestamentlicher Traditionen zu schließen. 2 Es ist davon auszugehen, daß der ,,Paulus" der Past viele 1 P.
TRUMMER., Die Paulustradition der Pastoralbriefe (BET 8), Frankfurt 1978, 181. Scbriftgebrauch der Past vgl. G. HAFNER. Die Schrift als kirchliche Tradition. Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeptioo - mit einem Ausblick auf die ~lischen VAter, Habil-Schrift (mascb. ), Freiburg 1998. 2 Zwn
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biblische Bezüge zum Alten Testament nicht in unmittelbarem, eigenverantwortetem Rückgriff herstellt, sondern daß er hierin bereits etablierte christlich-christologische Linien aufgreift. Diese Voraussetzungen einer durch den Schriftbezug in vielfacher Hinsicht entwickelten Fortschreibung des Bekenntnisses zur Offenbarung Gottes in Jesus und damit verbunden der Reflexion über die Beziehung der Kirche zu Israel müssen bei der Frage, ob, in welchen Aussagen und in welcher Form in den Past Züge eines Antijudaismus festzustellen sind, Berücksichtigung finden. Bevor wir uns deshalb mit entsprechenden Einzelstellen und ihrer Interpretation befassen, sind die aus den christlichen Gemeinden, aber auch aus der nichtchristliehen Umwelt einwirkenden Bedingungen kurz zu skizzieren. 3 Was für andere Themen, die in den Past behandelt werden, gilt, ist auch beim Komplex "Antijudaismus" zu bedenken: daß nämlich die Wirkungsgeschichte der Texte nicht ohne weiteres dem Autor angelastet werden darf 4
I. Der historische und religionsgeschichtliche Ort der Pastoralbriefe I. Der pseudepigraphische Charakter der Pastoralbriefe Der deuteropaulinische Charakter der Past kann als am besten begründete Erklärung der Entstehung dieser Schriftengruppe gelten. 5 Zum einen ist auf den durch den Sprachgebrauch geprägten Unterschied hinzuweisen; die für das Evangelium des Paulus typischen Begriffe fehlen, dafür werden andere Begriffe verwendet, die in der hellenistischen Umwelt geläufig waren. Zum anderen ist die Situation der Gemeinden und sind vor allem auch die Bedingungen der Verkündigung des Evangeliums im Vergleich zur Zeit des Paulus deutlich andere. In der 3 Vgl.
R. I
ThGI 82 ( 1992) 2-33: 2. 5 St.eUvertretend sei verwiesen auf die zusammenfassend Darstelhmg von J. Pastoralbriefe, TRE 26 ( 1996) 50-68.
ROLOFF,
Art
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missionarischen Tätigkeit des Paulus bei den ,,Heiden" (vgl. Gal I,I6; 2,2) stand die Auseinandersetzung um das Evangelium im Gegenüber zu einer durch judenchristliche Missionare vertretenen Position im Vordergrund; deren Forderung, daß auch Heidenchristen die Beschneidung auf sich nehmen und auf die Einhaltung des Gesetzes sich verpflichten müßten, stellt Paulus sein Evangelium entgegen, das sich zusammenfassen läßt in der Formel von der "Rechtfertigung allein aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes" (vgl. Gal 2,I6; Röm 3,20.2I), und welches die Beschneidung für Heidenchristen ausdrücklich ausschließt ( vgl. Gal 2,2f; 5,2.6). Demgegenüber steht jetzt in der Zeit der Past der innergemeindliche Konflikt um den rechten Glauben, um die Bewahrung des von ,,Paulus" seinem "Nachfolger" in der Verkündigung und in der Gemeindeleitung übergebenen "Glaubensgutes" (rrapa91\K11 I Tim 6,20; 2 Tim 1,12.I4) im Mittelpunkt. Außerdem sieht sich die Gemeinde vor der Aufgabe, ihre Beziehung zur nichtchrisdichen Umwelt so zu gestalte~ daß jeder Anschein vermieden wird, die Christen wollten die alten und bewährten Traditionen der häuslichen und politischen Ordnung in Frage stellen. 2. Die Differenz gegenüber Paulus Das Kennzeichen der Past, das zugleich ihre pseudepigraphische Abfassung belegt, ist der Versuch eines Brückenschlages. Anordnungen zum Gemeindeleben und Formulierungen der christlichen Verkündigung, die zweifelsfrei ein gegenüber Paulus fortentwickeltes Stadium der Gemeindestruktur und des theologischen Denkens dokumentieren, sollen durch die Unterstellung unter die Autorität eben dieses (exklusiven) Apostels Paulus legitimiert werden. Schon die Tatsache ihrer Abfassung ist Beleg dafür, daß die Past über Paulus hinaus und auch in anderer Weise als Paulus das Evangelium verkündigen wollen und müssen; in bestimmten Bereichen weisen die vorhandenen Paulusbriefe offensichtlich Defizite auf Einige Charakteristika der Past sind kurz zu skizzieren: a) Ein wesentliches Kennzeichen ist im Vergleich zu den paulinischen Briefen die veränderte Bedeutung der Parusieerwartung. Während sie für Paulus noch als Naherwartung seine Christusverkündigung und damit auch alle Bereiche des Glaubens und Lebens bestimmt, tritt sie in den Past in den Hintergrund und ist als paränetisches Zeichen eingebunden in die innergemeindliche Auseinandersetzung um den rechten Glauben (vgl. I Tim 4, I-3; 2 Tim 3, I-5; 4, I-5).
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b) Die innergemeindlichen Spannungen sind angewachsen. Die Frage nach dem rechten Glauben rückt ins Zentrum. Zwei als Gegenpole anzusehende Begriffe - "die gesunde Lehre" (üyLaivoooa öLöaatcalia) auf der einen Seite, ,,Falsches lehren" (en:poöLöaaKaA.&iv) auf der anderen Seite - können das verdeudichen. ,,Paulus" und die von ihm repräsentierte Gemeinde, die unter der Leitung eines bewährten Episkopos steht (vgl. I Tim 3,1-7; Tit 1,7-9), vertreten die "gesunde Lehre" (vgl. 1 Tim 1,10; 2 Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1); Kennzeichen derer, die damit nicht übereinstimmen, ist, daß sie ,,Falsches lehren" (1 Tim 1,3; 6,3) und damit "von der Wahrheit abgewichen sind" (vgl. 2 Tim 2,8).
c) Unmittelbar verknüpft mit der innergemeindlichen Auseinandersetzung um den rechten Glauben ist die vom Verfasser propagierte Form der Gemeinde. Unter der Leitung eines Episkopos- so die vom Verfasser favorisierte Gemeindeform - sollen die Christen wie die Mitglieder eines Hauses zusammenstehen und sich in gehorsamer Unterordnung unter dessen Willen belehren und leiten lassen (vgl. 1 Tim 3,4f; Tit 1, 7; so auch das ekklesiologische Leitbild vom otKoc; 9wu 1 Tim 3,15). d) Dieses Gemeindeideal zeigt auch eine im Vergleich zu Paulus geänderte Art und Weise des Bezuges zur nichtchristliehen Umwelt. Für den Leiter der Gemeinde ist ein guter Leumund gefordert, der seine Qualifikation für das Leitungsamt aufweisen kann (I Tim 3, 7 [... ] ~apn)piav Kalitv EXELV ano "tOOV ~w9EV [ ... ]; Tit 1,6); und für die Christen wird gehorsame Unterordnung in der Kirche und in ihrem jeweiligen Lebensbereich gefordert mit der Begründung, daß so den Außenstehenden kein Grund zur üblen Nachrede geliefert wird (1 Tim 6,1: Sklaven und ihre Herren; Tit 2,4f: Ehefrauen und ihre Männer). e) Im Vergleich zu Paulus wird das Evangelium nicht mehr ausführlich inhaldich entfaltet und im einzelnen begründet, sondern als eine in der "Paratheke" feststehende Größe vorgestellt, die es zu bewahren und weiterzugeben gilt (vgl. I Tim 6,20; 2 Tim 1,14). 3. Die Aufhahrne hellenistischer Begriffiichkeit Die Differenz zu Paulus ist, bezogen auf das Evangelium, vor allem festzumachen in der Christologie. Der für das Christusbekenntnis wichtigste Titel ist die bei Paulus nur ein einziges Mal (Phil 3,20) verwendete, im Neuen Testament insgesamt seltene und auf späte Schriften
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beschränkte titulare Bezeichnung "Retter" (aw'typ )6 ; eine weitere Besonderheit liegt darin, daß dieser Titel sowohl für Gott (1 Tim I, 1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,IO; 3,4; vgl. außerdem Jud 25) als auch für Christus Jesus gebraucht werden kann (2 Tim I,IO, Tit I,3.4; 2,13; 3,6). Neben den Bezügen zur alttestamentlich geprägten Vorstellungswelt, die über den Gebrauch des Titels ,,Retter" hinaus gekennzeichnet ist durch das mit dem Gedanken der Rettung verknüpfte Gottesbild, ist der Einfluß der hellenistisch-jüdischen bzw. auch der nichtjüdisch-hellenistischen Umwelt zu bedenken. 7 Ebenfalls aus der hellenistischen Umwelt übernommen ist die Redeweise von der ,,Erscheinung" (imcpavEux) Jesu, die in einer umfassenden Weise die Gottesoffenbarung in Jesus kennzeichnet: seine Inkarnation, seine Gegenwart in der Verkündigung des Evangeliums, sowie die Vollendung bei der ,,Parusie" (vgl. dazu 2 Tim 1,IO; 4,1.8; I Tim 6,14; Tit 2,13). 8 Der Einfluß hellenistischen Denkens und hellenistischer Sprache zeigt sich auch in neu eingeführten Begriffen, welche die stärker auf eine ethische Bewährung des Christseins ausgerichtete Botschaft der Past prägen. Kennzeichen eines am christlichen Glauben ausgerichteten Lebens ist die "Frömmigkeit" (HJaqkux) (1 Tim 4,7.8; 6,11; Tit 1,1); das Ideal: ein Leben "in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" (1 Tim 2,2; vgl. 2 Tim 3,12; Tit 2,12). Darin zeigt sich der Abstand zu Paulus und dessen auf das Christusgeschehen konzentrierten Verkündigung ebenso wie in der Neuakzentuierung von zentralen Stichworten des paulinischen Evangeliums: "Glaube" (wionc;) erhält, wie etwa die Kombination "ungeheuchelter Glaube" (1 Tim 1,5) oder die Zusammenstellung mit anderen Tugenden wie Liebe und Besonnenheit zeigen (vgl. 2 Tim 2, IS), den Charakter eines Frömmigkeitsideals oder wird statisch als "Glaubenslehre" definiert (1 Tim I,19; 4,1.6; 2 Tim 3,8; Tit I,13). Außer in den Past findet sich awti)p im Neuen Testament noch in Lk 2,11~ Job 4,42~ Apg I Joh4,14. des Titels owniP ist mit K. LAGER, Die Christologie der Pastoralbriefe (Hamburger Theol. Studien 12). Münster 1996, 119-121, einerseits Abhängigkeit vom Sprachgebrauch der Septuaginta anzunehmen, \W owniP als Gottestitel verwendet wird (vgl. u.a Dtn 32,15~ Ps 23,5~ Weish 6,7~ Jes 12,2; 45.15~ 62,1), andererseits aber auch Einfluß der hellenistischen Umwelt mit dem Gebrauch des Titels im Herrscbedrult 8 Vgl. dazu A.Y. LAu, Manifest in Flesh. 1be Epiphany Christology oftbe Pastooll Epistles (WUNT 2.86), Tübingen 1996, mit einem Überbück über ,,Epipbanie"-Scbilderungen in der griecllisch-römischen Literatur einerseits ( 182-189) und den oberrascheod blutigen Gebrauch des Begriffs f:nt.+«vELa in 2 Makle andererseits ( 189-223). 6
5,31~ 13,23~ Eph 5,23~ 2 Petr 1,1.11; 2,20; 3,2.18; 7 Zum ,,religionsgeschichtlichen Hintergrund"
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Lorenz Ober/inner 4. Das Ziel der Past: Kampf gegen Irrlehrer
Die Past lassen sich von ihrem Gesamteindruck her als Abwehrkampf gegen Irrlehrer charakterisieren, der nicht vorrangig in der Form sachbezogener Argumentation erfolgt, sondern im wesentlichen auf der Ebene einer durch administrative Maßnahmen agierenden Gemeindeleitung angesiedelt ist. Damit sind zwei wesentliche Bestimmungen für die die Past prägende Polemik gegeben: ( 1) Die Auseinandersetzung ist ein innergemeindliches Phänomen; Mitglieder der christlichen Gemeinden werden des Glaubensabfalls bezichtigt (vgl. 1 Tim 1,19f; 2 Tim 2,1 7f); oder noch nicht Abgefallene werden durch die Belehrung des ,,Paulus", durch die von ihm eingesetzten und damit von ihm autorisierten Nachfolger "Timotheus" und .,Titus" (vgl. u.a 1 Tim 1,3; 4,6-10.11.12-16; 6,2b.11f; 2 Tim 1,6; 2, 14-16. 22f; Tit 2, l. 15; 3, 1f) und durch die wiederum von diesen eingesetzten "zuverlässigen Menschen" (2 Tim 2,2) davor gewarnt, den ,,Falschlehrem" zu folgen. (2) Eine an den Gemeindeleiter gerichtete Devise des "Paulus" der Past lautet, daß eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Lehren der Menschen, die vom rechten Weg des Glaubens abgewichen sind, "zu nichts nützlich" ist (2 Tim 2,14; vgl. 2,16.23; Tit 3,9). Konsequenterweise bewegt sich die "Argumentation" im wesentlichen auf der Ebene einer allgemeinen Beschreibung von Rechtgläubigkeit und Glaubensabfall, wobei ein wesentliches Differenzkriterium in der Ethik festgemacht wird. Dafür charakteristisch ist etwa die Eröffuung in 1 Tim, wo "Paulus" die Aufgabe des von ihm in Ephesus zurückgelassenen "Timotheus" damit beschreibt, gegen gewisse Leute vorzugehen, die "anderes lehren" (1 Tim 1,3); und die anschließende Aufzählung von Menschen, für die das Gesetz gegeben ist, reicht von den "Gesetzlosen" bis zu den "Meineidigen" und schließt mit der Aussage "[ ... ] und was sonst noch der gesunden Lehre entgegensteht" (VV. 9-1 0). In diesen Zusammenhang gehören auch die polemischen Urteile, die sich im wesentlichen an vorgegebenen Mustern der Lasterkataloge orientieren (1 Tim 6,3-5; 2 Tim 3,2-4). Daneben stehen Vorwürfe, die konkrete Vergehen gegen den Glauben benennen. Doch auch hier lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: Da sind einmal die Aussagen, die inhaltlich nachvollziehbar und theologisch begründbar Positionen benennen, daß nämlich "einige" ihren Glaubensabfall darin dokumentieren, daß sie "verbieten zu heiraten", und daß sie fordern, "sich von Speisen zu enthalten" (1 Tim 4,1.3); und einige, z.T. bekannte Leute (wie Hymenaios und Philetos) zeigen ihre
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Abweichung von der Wahrheit in der Behauptung, die Auferstehung sei schon geschehen (2 Tim 2,17f). Daneben kennt der Verfasser aber auch die Methode einer undifferenzierten Polemik, die in der Form der Anklage Sachverhalte benennt - etwa in den katalogartigen Aufzählungen in 1 Tim 1,3-11~ 6,3-5~ 2 Tim 3,1-5, oder in Tit 1,10-16-, ohne im einzelnen belegen oder aufzeigen zu wollen (oder auch: zu können), worin das Verkehrte dieser Meinung liegt. Da die Aussagen, die über die Einstellung des Verfassers zum Judentum Auskunft geben können, ausschließlich im Zusammenhang der vorgestellten Auseinandersetzung mit den Irrlehrern stehen, erweist sich eine Bestimmung des Antijudaismus der Past als äußerst schwierig.
II. Wo sind in den Past antijüdische Aussagen zu finden? 1. Das Urteil der Exegeten a) In der Interpretation von P. Trummerliegt ein "auffiilliger Zug der Polemik der Past [... ] in ihrer Auseinandersetzung mit dem Judentum". Der Hinweis auf die "ausgeprägte antijüdische Polemik", die in den Einleitungen zu 1 Tim und Tit, in Tit 1,12 und 3,9 sowie in den Aussagen über das Gesetz festgemacht wird, erfährt allerdings dadurch eine Relativierung, daß Trummer auch feststellt, daß im Vergleich zu Paulus die Auseinandersetzung um das Gesetz nicht mehr ,jene fundamentale Stellung" hatte wie in dessen Briefen, und daß die antijüdische Polemik "nirgendwo über den auch sonst bemerkbaren topischen Charakter der Polemik hinausgeht". 9 Mit der Einordnung der antijüdischen Polemik in die innerchristliche Auseinandersetzung um den rechten Glauben und mit dem Zugeständnis, daß die Aussagen zum Gesetz im Kontext der geschichtlich bedingten Relativierung der Bedeutung des Gesetzes zu lesen sind, ergibt sich dann aber die Frage, ob mit dem Begriff "Antijudaismus" nicht eine Bestimmung eingetragen ist, die nicht notwendigerweise aus der Art und Weise der Darstellung des Autors bzw. auch aus seiner Intention abgeleitet werden muß. Ist es nicht bereits ein Kennzeichen der Past, daß es in den Aussagen, die jüdische Glaubensinhalte und Traditionen betreffen, im Unterschied 9
P. TRUMMER. Paulustradition. 165f.
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zu Paulus nicht mehr zu einer "Auseinandersetzung" auf der Grundlage einer sach- und inhaltsbezogenen Argumentation kommt, sondern daß der Autor sich beschränkt auf eine auf weite Strecken recht allgemein gehaltene Polemik? b) Einen Schritt weiter geht Wolfgang Stegemann 10 • Bei der Auswertung des Abschnittes Tit 1,10-16 (vgl. S.50-59) kommt er zu dem Ergebnis, das hier zusammengestellte ,,Konglomerat von Schimpf- und Schlagwörtern" richte sich "zweifellos" gegen eine innerchristliche Gruppierung; die .,maßlose Polemik" zeige sich darin, daß im Zuge der "Strategie negativer Etikettierungen" die Anhänger der vom Autor bekämpften Glaubensposition identifiziert werden .,mit dem Judentum bzw. den Kretern", .,womit offensichtlich bestimmte Vorurteile auf die deviante Gruppe übertragen werden sollen" (50-53). Es erscheint Stegemann "wahrscheinlich, daß der Autor die deviante Gruppe absichtlich in die Nähe des von ihm offenkundig negativ verstandenen Judentums rückt" (55). Zwar lasse der Titusbrief .,keine systematische Feindschaft gegenüber den Juden erkennen'\ wenn man aber .,Antisemitismus" verstehe als "die ,Herabwürdigung' und ,Verachtung' der Juden", dann sei der Text Tit 1,10-16 als "antisemitisch" zu bezeichnen. Dies gelte, obwohl es dem Verfasser "gar nicht direkt um ,antijüdische Polemik"' gehe, sondern er sich "antijüdischer Vorurteile" bediene, .,mit denen er innerchristliche , Gegner' treffen will". Der unmittelbar angeschlossene Satz verdient dann aber Aufmerksamkeit: "Diese [!] Form des christlichen Antisemitismus ist leider immer noch akut." 11 Hier liegt m.E. eine problematische Verwischung der Grenzen zur Wirkungsgeschichte vor. Da die geschichtliche Situation der Past im Vergleich zur folgenden innerkirchlichen Entwicklung eine völlig anders geartete ist, wäre zu fragen, ob Christen in der späteren Zeit mit ihren Vorurteilen gegenüber dem Judentum sich wirklich darauf berufen dürfen, sie täten ja nichts anderes als das, was der Verfasser der Past ihnen vorgemacht hat. 10 W.
SmGF.MANN, Antisemitische und rassistische Vorurteile in Titus 1,10-16, Kul 11 (1996)46-61 (Seitenangaben im Text). II Ebd., 59. Es ist zu fragen. ob die Verwendung des Begriffs ,,Antisemitismus" hier angebracht ist. wenn man bedenkt. daß diese Bezeidmung ,,keine religiösen. sondern rassistische Kriterien.. beinhaltet (R I
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Die grundsätzliche Bedeutung dieser Problemstellung sei durch einen Blick auf andere neutestamentliche Traditionen im bezug auf die Wirkungsgeschichte präzisiert: Kann das christlicherseits bis heute nicht überwundene Zerrbild vom Pharisäer sich darauf berufen, "diese Sicht" teile ja schon der Evangelist Matthäus (vgl. Mt 23), oder kann eine pauschalisierende Redeweise von der Ablehnung Jesu durch "die Juden" sich darauf berufen, daß der Verfasser des vierten Evangeliums doch auch dies so darstelle, potenziert etwa in der Szene des Verhörs vor Pilatus? 12 2. Die Texte Die für das Urteil einer antijüdischen Einstellung der Past relevanten Texte lassen sich in drei Gruppen aufteilen, die sachlich eng miteinander verknüpft sind und auch im Blickfeld des Autors eng zusammengehören, da sie im wesentlichen in die Auseinandersetzung mit den in den christlichen Gemeinden agierenden Irrlehrern eingebunden sind. Es sind dies zum einen Aussagen zum Gesetz~ es sind sodann die Hinweise auf "Mythen und Genealogien", die in Tit I, I4 ausdrücklich als ,jüdisch" bezeichnet werden; und es ist schließlich die Polemik in Tit I, I 0 mit der Herkunftsbezeichnung der Gegner "insbesondere aus der Beschneidung" 6,LW..Lo"ta oi f.K "ti\c; 11'EflL"t~i\c;). a) Die Polemik in Tit I, l 0-16 Der Kreis der Personen, gegen die der Gemeindeleiter (nach dem vorhergehenden Kontext ist dies v.a der Episkopos) vorzugehen hat, wird hier genauer beschrieben. Das Stichwort aus V.9, daß es solche sind, die widersprechen, wird in V .I 0 zuerst noch einmal aufgegriffen: es gibt "viele, die sich nicht unterordnen". Als weiteres Kennzeichen wird angefiihrt: es handelt sich um "Schwätzer und Verführer". Und schließlich folgt eine ethnische Zuordnung: es sind "insbesondere 12
Vgl. dazu etwa NA BECK, Mature Christianity. The Recognition and Repudiation ofthe Anti-Jewish Polemic of the New Testament, London u.a 1985. 88. Zum johanneiscben Sprachgebrauch im besonderen vgl. C. DIEBoiD-ScHEUERMANN, Jesus \U Pilatus. Eine exegetische Untersuchung ZlDn Verhör Jesu durch Pi1atus (Joh 18.28-19,16a) (SBB 32) Stuttgart 1996, bes. die Zusammenfassung 297-300. In der Kritik von A. FUCHS, SNTU 23 ( 1998) 266f, ist der Hinweis berechtigt, daß bei der Behandlung dieses Evangelien-Stoffes, der doch so starlc die Schuld "der Juden" herausstellt, ,,historische Fragen nicht zu vermeiden und auch litecarische Aussagen immer wieder in der Gefahr sind. histmisch interpretiert zu werden"; doch die beiden Fragestellungen sind nicht im Sinne einer Alternative zu betrachten.
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solche aus der Beschneidung". Diese Form der Umschreibung der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk mit der Wendung oi iK tiic; 11'f.PLt~~. die außer Paulus (vgl. Röm 4,12; Gal 2,12) auch der Verfasser der Apostelgeschichte (Apg 10,45; 11,2) in einem nicht abwertenden Sinn verwendet13 , hat hier ganz eindeutig das Ziel, die vom Glauben abweichenden Christen durch ihre Nähe zum Judentum zu diskreditieren. Und doch ist ganz klar festzuhalten: Der eigentliche Punkt der Kritik und die Polemik zielen nicht auf die Herkunft aus dem Judentum, sondern darauf, daß diese Gläubigen als Vertreter der in den Past bekämpften Irrlehre auftreten. Folgt man also dem Sprachgebrauch des ,,Paulus", dann richtet sich seine Kritik nicht gegen Juden, sondern gegen Judenchristen. Allerdings ist sich der Verfasser dessen bewußt, daß er mit dem Stichwort ,,Beschneidung" eine Front aktiviert, die sich innerchristlich bereits gebildet hat. Das heißt: der Autor setzt eine Kritik am Judentum voraus bzw. unterstellt sie einfach, ohne sie weiter inhaltlich begründen zu müssen. Der Hinweis auf die ,,Beschneidung", d. h. auf das Judentum, ist in seiner Zeit bereits ein Topos, der im Rahmen einer wertenden Gegenüberstellung von orthodoxen und häretischen Gemeindemitgliedern dazu dienen kann, das negative Urteil über die zweite Gruppe zu untermauern. Ohne daß dies im einzelnen begründet werden muß, ist allerdings festzuhalten: Auch hier stellt sich der Verfasser in die paulinische Tradition. Es hat sich in der Zwischenzeit (seit Paulus) eine Art christliches Selbstbewußtsein herausgebildet, das (nicht zuletzt von Paulus her geprägt) in der Differenz zum Judentum die eigene Identität definiert. Und nur deshalb kann der Verfasser der Past auf weitere Explizierungen oder auf eine theologische Begründung seines Vorurteils verzichten. Dieser Umstand macht es auch schwer, genauer zu bestimmen, wie im Rahmen der Irrlehrerpolemik diese Bezeichnung "die aus der Beschneidung" zu verstehen ist. Es können damit einerseits Gemeindemitglieder bezeichnet sein, die aus dem Judentum kommen oder auch aus einem jüdisch beeinflußten Umfeld. Denkbar wäre aber auch, daß die so Bezeichneten zusätzlich in ihrem Glauben in einem stärkeren Maß an der jüdischen Tradition festhielten, als es der Großteil der Gemeindechristen tat. Mit dem Gebrauch der Wendung will also der "Paulus" der Past sich weder gegen das Judentum stellen noch gar die Glaubenstradition des 13
Allerdings zeigt die Wendtmg durch den Kontext doch eine gewisse Distanz an.
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Judentums pauschal ablehnen. Es geht um etwas anderes: Die vom Autor repräsentierte Kirche lehnt eine bestimmte Form der Glaubensüberlieferung ab, die auch mit dem Judentum zu tun hat. 14 Wie aus dem Gesamtkontext deutlich wird, will der Autor damit die Irrlehrer treffen, die sich vom rechten Glauben, von der Wahrheit abwenden (vgl. Tit 1, 14). Der Zusammenhang der Irrlehren mit Elementen aus der jüdischen Glaubenswelt wird ausdrücklich auch hier festgehalten; es sind "Menschen, die sich an jüdische Fabeln halten und an Vorschriften von Menschen... 15 Zwei Argumentationsebenen verschränken sich in dieser Form der Irrlehrerpolemik in Tit 1,10-16: Dahinter steht (I) die Überzeugung, den rechten Glauben verteidigen zu müssen; und solches Selbstbewußtsein bzw. dieser Anspruch läßt für die, die nicht mit der herrschenden .~ehre" (öLöaaKa.tia) 16 übereinstimmen, nur das Urteil zu, daß sie sich vom Glauben, von der Wahrheit abwenden bzw. abgewendet haben (vgl. 1 Tim 6,5; 2 Tim 4,4; Tit 1,14). Dieses Urteil wird dann zusätzlich durch negative Charakterisierungen untermauert; es handelt sich um "leere Schwätzer", "Verführer", Zerstörer der Familien, nach Gewinn strebende Prediger, "befleckt in ihrem Verstand und Gewissen", "abscheulich" und "ungehorsam", "unbrauchbar zu jeglichem guten Werk". Und dann kommt noch die Aussage hinzu, daß sie aus dem Judentum kommen. Wie des weiteren die Zusammenstellung mit dem Wort gegen die Kreter in V. 12 zeigt, soll mit dieser Bezeichnung bei den Adressaten ein negatives Vorurteil aktiviert werden. 17 Neben dieser auf traditionelle Vorurteilsmuster bauenden Ausgrenzung ist aber (2) auch zu erkennen, daß der Hinweis auf die Herkunft aus dem Judentum deshalb von Bedeutung war, weil damit auf Differenzen in der Verkündigung in den christlichen Gemeinden hingewiesen wird, welche die gemeinsamen Wurzeln des Gottesglaubens betrafen. Aus der Diskussion um den Charakter der Irrlehre, gegen die sich die 14
Vgl. dazu L. ÜBF.RLINNF.R. Die Pastoralbriefe. Kommentar zum Titusbrief(HThl<. Xlfl,3), Freiburg 1996, 35. 15 In dieser theologiegeschichtlichen Einordnung der Auseinandersetzu besteht Übereinstimmung mit Paulus, dessen VerteidiglDlg des gesetzesfreien Evangeliums als Zeugnis tbr den ,,Konßilct der frOhen Chm1en hinsichtlich ihrer Orientienmg an der Tradition Israels" zu inteqretieren ist, nicht aber als Beleg tbr frühen Antijudaismus (vgl. R KAMPI..ING, Antijudaisnus, 115 ). 16 Es handelt sich dabei wn einen in den Past zentralen BegritT ( vgl. l Tim 4,6.13.16~ 6,3~ 2 Tim 3,10.16~ Tit 2,7.10). 17 Vgl. dazu die Aussagen von W. Stegemann, Vorurteile.
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Past wenden 18, ist als Ergebnis festzuhalten, daß, trotzdes Vorbehaltes der polemischen Prägung der Auseinandersetzung und der dadurch bedingten Problematik einer eindeutigen Identifizierung19, die Prägung auch der Position der ,,Irrlehrer'' durch judenchristliche Akzente anzunehmen ist. 20 b) Als Kennzeichen der Gegner, die es zu bekämpfen gilt, nennt der Verfasser im gleichen Zusammenhang von Tit 1, daß diese sich an ,jüdische Mythen" (louöaücoi ~OOoL) halten und an "Vorschriften von Menschen" (ivtolai avepc.Otrrov), und daß sie dadurch ihre Abweichung von der Wahrheit dokumentieren (V.l4). Mit der Bezeichnung ,,Mythen" soll ein Teil der Glaubenslehre der Beschuldigten als frei erfundene Geschichten abqualifiziert werden. Das negative Urteil wird zusätzlich damit begründet bzw. einfach behauptet, daß das, was sie sagen, als "Abweichung von der Wahrheit" zu bewerten sei. Ähnlich ist das Vorgehen in der Eröflhung von 1 Tim, wo der Begriff "Mythen" im gleichen Zusammenhang der Beschuldigung der "Irrlehrer" verwendet wird. Zuerst wird die Aufgabe des im Auftrag des "Paulus" agierenden Gemeindeleiters, hier repräsentiert in der Person des Timotheus, so beschrieben, daß er "gewissen Leuten" gebieten solle, .,keine anderen Lehren zu verbreiten" ~it ttEpOÖLlicxotca).ii'v). 18
Vgl. dazu die Exkurse lDlter anderem in den Konunentaren von N. BRox. Die Pastoralbriefe (RN1). Regensburg sl989, 3142~ J. ROI.OI'F, Der erste Brief an Tinlotheus (EKK XV), Neukircheo/Z.Qri 1988, 228-239~ L. ÜBBRLINNER. Pastoralbriefe, 52-73~ außerdem H v. LIPS, Glaube - Gemeinde - Amt Zum Verstandnis der Ordination in den Pastoralbriefen (FRLANT 122). Göttingen 1979, 152-157~ M. WOLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988, 256-27fr, E. ScHI.ARB, Die gesunde Lehre. Haresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe (MThSt 28). Marburg 1990, 59-141~ Y. REDALIE, PauJ apres Paul. Le temps. le salut, Ia morale selon les epa"tres a Timothee et a Tite, Genf 1994, 365-402~ W. THmsSEN, Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit Wld zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pasknlbriefe (fANZ 12), Tübingen/Basel 1995, 317-338~ T. SOoiNG, Mysterium fidei. Zur Auseinandersetzt mit der ,.Gnosis" in den Pastoralbriefen, IKZ 26 {1997) 502-524~ G. HAFNER. Schrift. 8-34. 19 Vgl. etwa die Bedenken bei K. LAGER.. Christologie, 151: ,,Der pseudepigraphe Charakter der Schreiben und die staite Polemik, mit der das Bild der Gegnerinnen und Gegner gezeichnet wird, macllen es nahezu unmöglich, deren IdentiW genaueJ" zu bestimmen." 20 So sind nach T. SOoiNG, Mysteriwn fidei, 504, ftlr die Position der Gegner ,,z;weifeUos [ ... ) starke jüdiscb-weisheitlicbe und hellenistiscb-judenchristliche Einflüsse" ~ und G. HAFNER. Schrift, 33, koount zu dem Ergebnis, daß die Gegner der Past ,,sich zumindest insofern als judenchristlidle Gnostiker' bezeichnen [lassen), als sie eine FrOhform von Gnosis vertreten. in die jOdische Oberlieferungen eingegangen sind". Die These von W. THIESSEN, Ephesus, 319, die ,.theologische Heimat'' der Gegner sei dtu Judentum, geht m.E. einen Schritt zu wei~ denn die zugnmdeliegende Auseinandersetzu hat innerchristliche Wwzeln.
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Dann werden diese "anderen Lehren" charakterisiert mit den Begriffen "Mythen und endlose Genealogien" (}.LOOoa. Ka.l Y€VEa.Ä.oyiaa. anEpavroa.) (1 Tim 1,3t). Bei den angesprochenen "Genealogien" ist zu denken an die im Anschluß an die alttestamendichen Stammbäume und Namenslisten gestalteten. gnostisch geprägten Spekulationen über die Entstehung der Welt und der Menschen. 21 Was an dieser Stelle die Kombination der beiden Begriffe "Mythen" und "Genealogien" zum Ausdruck bringen soll, daß es sich nämlich um Überlieferungen handelt, die in einem Zusammenhang mit der alttestamendich-jüdischen Glaubenstradition stehen, das leistet in Tit 1, 14 die Bestimmung der Mythen als ,jüdisch". Untermauert wird die negative Bedeutung von ~OOoa. noch durch die Gegenüberstellung zu aA:r)Oua in 2 Tim 4,4. 22 Ist dieser Sprachgebrauch nun Zeichen für einen offenen oder auch versteckten Antijudaismus der Past? Grundsätzlich ist daran zu erinnern: Die "Front" in den Gemeinden der Past und damit auch in der vom Verfasser geführten Auseinandersetzung verläuft nicht zwischen Juden und Christen, sondern innerhalb der chrisdichen Gemeinden. In diese Auseinandersetzung sind das Alte Testament und das Judentum auch in der Hinsicht einbezogen, als es unterschiedliche Interpretationen sowohl von alttestamentlichen Überlieferungen als auch von daran anschließenden jüdischen Lehren und Bestimmungen für das Leben seitens der Christen gibt. Dazu ist auf einen der wenigen Belege in den Past zu verweisen, die inhaldich zur Position der Irrlehrer Stellung beziehen. Bei der Vorstellung der Falschlehren, die vom Verfasser als eschatologisches Ereignis inszeniert ist, wird als Kennzeichen des Glaubensabfalls einiger Leute gesagt: "sie verbieten zu heiraten, und (sie gebieten) sich zu enthalten von Speisen [... ]" (vgl. 1 Tim 4,1-3). Der ,,Paulus" der Past stellt dagegen die These, daß "alles von Gott Geschaffene gut ist, daß nichts verwerflich ist, wenn es mit Danksagung empfangen wird". Die Bedeutung des dargestellten Konfliktes liegt darin, daß die Auseinandersetzung innerhalb der chrisdichen Gemeinden sich entzündet an den 21
Daß solche Spekulationen in spaterengnostischen Systemen des 2. Jahrhunderts bereits eine große RoDe spielten, zeigt die Schilderung der Lebre der gnostischen Sekte der Ophiten und der Setianer bei Irenäus, Adv.Haer. I 30,1-10~ Irenaus stellt an den Anfang seiner VOI"I"ede zu dieser Widerlegung der gnostischen Lehren in Adv.Haer. (nach N. BRox, AdYersus Haereses I [Fontes Christianae 811), Freiburg 1993, 101, entstandeil ca. 180-185 n.Chr.) das Zitat aus 1 Tim 1,4, daß gewisse Leute falscbe Lebren autbringen und .,endlose Genealogien, die eher Streitfiagen mit sich bringen" (,J ... ) yEVtXIÄO'ylru; OOrEpavtouc; ai~wt; C~
0 Wr6crto).Q; cp1101V ( .. .f'). Vgl. dazu auch H BALZ. Art. J!\1b;. EWNT ll ( 1981) I094f: I095.
jiÖllov 7tCq>ExOOOL Kll6W<; 22
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unterschiedlichen Interpretationen alttestamentlicher und jüdischer Überlieferungen. Während die Forderung zum Verzicht auf die Ehe auf der Seite derer, denen Glaubensabfall zum Vorwurf gemacht wird, am besten zu erklären ist aus dem Einfluß einer gnostisch bedingten Materie- und Leibfeindlichkeit, wie sie in späteren Texten ausdrücklich bezeugt wird23 , ist beim Verbot des Genusses bestimmer Speisen ein Zusammenhang mit den jüdischen Speisevorschriften als wahrscheinlich ~ehmen. Bei diesen Speisevorschriften kann zwar auch eine Verbindung bestehen mit der gnostisch-dualistischen Weitsicht, die neben der Forderung zu sexueller Enthaltsamkeit auch das Verbot von Fleisch und Wein kannte24; doch auch für diesen Fall ist ein Bezug zur theologischen Motivation der an der Schrift ausgerichteten jüdischen Speisegesetze zu vermuten25 , und zwar sowohl fur die Christen, die diese Maxime sich zu eigen machten, als auch fur die vom Verfasser vertretene kirchliche Position. c) Wenn wir abschließend noch die Stellungnahmen der Past zum Gesetz betrachten, dann sind wiederum vorneweg zwei Erkenntnisse festzuhalten: ( 1) Wie bei Paulus stehen die wenigen Aussagen zum Gesetz in Kontexten, die im weitesten Sinn polemisch bzw. apologetisch geprägt sind. 26 (2) Im Unterschied zu Paulus spielt dabei die Frage nach dem Stellenwert des Gesetzes im Evangelium und seiner Bedeutung im Zusammenhang der Rechtfertigung des Menschen im Vergleich zur jüdischen Religiosität keine Rolle. Auch bei den Aussagen zum Gesetz stehen also in den Past im Hintergrund innerchristliche Differenzen. Die Problemstellung dokumenMit Tendenzen einer vom christlichen Bekenntnis her motivierten negativen Bewertung der Ehe muß sich allerdings auch schon Paulus in der Gemeinde von Kmnth auseinandersetzen (vgl. 1 Kor 7). Im zweiten Jahrhlmdert kritisiert Irenaus, Adv.Haer. I 28,1, die gnostische Sekte der Enkratiten, "die die Ehelosigkeit propagieren". 24 Vgl. M WOL-rnR, Pastoralbriefe, 261(; J. ROLOFF, Brief. 224~ T. SOoiNG, Mysteriwn fidei, 503. 25 So erfolgt nach N. BR.ox. Pastoodbriefe, 167, die Ablebnung des Genusses bestimmter Speisen ,,sicherlich im Anschluß an jüdische Speisegesetze, mm aber mit spezifi~ gnostischer Motivation". Vgl. auch E. ScHu\RB, Lehre, 91( der eimnal an Abhangigkeit der Speisegesetze von einer bestimmten Exegese der Schopfunw!gescbichte denkt (mit Verweis auf die in I Tim 4,7 folgende Bemteilung als ypcu.)6a.c; ILOOol., wodurch eine Verbindung zu 1,3ff sieb nahelege), daneben aber auch mit einer Orientierung der von Pseudo-Paulus kritisierten Christen an den Aussagen des Paulus zu Unzucht, Heirat und Götzenopferfleisch in 1 Kor 6-8~ 10 reclmet(vgl. 124-129). 26 Vgl. J. ROLOFF, Brief, 72, zu 1 Tim 1,8. 23
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tieren am eindrucksvollsten die in 1 Tim 1,8 zusammengestellten Aussagen. Die durch die einleitende, verallgemeinemde Formel vom gemeinsamen Wissen ("wir wissen aber") betonte Feststellung, "daß das Gesetz gut ist", erhält nachfolgend zwei Präzisierungen: ( 1) es muß dem Gesetz entsprechend gebraucht werden (V.8b); (2) es ist nicht für Gerechte gegeben, sondern für Gesetzlose in den verschiedenen Schattierungen, wobei diese Gesetzlosigkeit gipfelt in dem Vorwurf, daß die Übereinstimmung mit der "gesunden Lehre" fehlt (W.9.10). In dieser 1 Tim einleitenden Irrlehrerpolemik wird vom Gesetz gesprochen, und dies auch noch mit der Maßgabe, daß das Gesetz nicht für einen Gerechten da ist, sondern für Gesetzlose (1 Tim 1,8.9) - d.h. im Sinne der Past: nicht für die rechtgläubigen Christen, sondern für die, die vom Glauben abzufallen drohen oder schon davon abgefallen sind. Daraus ist aber weder eine negative Bewertung des Gesetzes abzuleiten, noch läßt sich damit die Meinung begründen, für Christen hätte das Gesetz keine Gültigkeit. Das Ideal eines "gerechten und frommen Lebens" (vgl. Tit 2,12) schließt ein Leben in Übereinstimmung mit dem Gesetz ein. Die Frage nach der heilsgeschichtlichen Anhindung des chrisdichen Glaubens an die in der Geschichte ergangene Offenbarung Gottes, die zugleich, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Frage nach der Beziehung der Kirche zu Israel betriffi27, bewegt auch und besonders die christlichen Gemeinden in der Übergangszeit vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert (dafür bietet das lukanische Doppelwerk einen eindrucksvollen Beleg). So ist auch für die Past eine zentrale Frage die nach dem Willen Gottes. Mit einer aus der Tradition übernommenen formelhaften Wendung von der Selbsthingabe des ,,Menschen Christus Jesus" als ,,Lösegeld für alle" untermauert der Verfasser sein Bekenntnis, daß es "der Wille Gottes, unseres Retters," ist, daß "alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1 Tim 2,3-6). Ähnliche christologische Aussagen finden sich, wenn "Paulus" von der ,,Macht Gottes" spricht (vgl. 2 Tim 1,8-10), von der "Gnade Gottes" (vgl. Tit 2,11-14) oder von der "Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters" (vgl. Tit 3,4-6). Auch in den wiederholten Hinweisen auf Gott als "unseren Retter" (vgl. programmatisch u.a in den Präskripten 1 Tim 27
Vgl. dazu auch den Hinweis bei R KAMPI.ING, Antijudaismus, II I, daß die ,,Besonderheit" der Beziehung zwischen Juden und Christen ,,im gemeinsamen Glauben an den einen, wahren Gott [gründet], der nach chri&l.icher Überzeugung der Gott Israels und der Vater Jesu C~ ist, so daß ein Sprechen von diesem Gott immer auch die Rede von Israel einschließt''.
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1, 1 und Tit 1,3) sowie in der Begründung der Verkündigung des Evangeliums durch ,)laulus", daß diese erfolgt aufgrund der Beauftragung durch Gott (vgl. 1 Tim 1, 11.12; 2, 7; 2 Tim 1,11; Tit 1,3), wird die Verpflichtung auf den Willen Gottes in einer allerdings neuen Akzentuierung als Anspruch der christlichen Gemeinden aufrecht erhalten. Das Gesetz hat also weiterhin eine wichtige Funktion, nämlich für die dem Glauben und der Frömmigkeit entsprechende Ordnung des christlichen Gemeindelebens, welches sich an der "gesunden Lehre", und das heißt in der Konzeption der Past auch: an der Weisung des Gemeindeleiters, orientiert (vgl. die Beschreibung des Ideals eines christlichen Lebens in Tit 2,12 im Rahmen des Kap. 2). Mit diesem Verständnis des Gesetzes als eines "moralischen Ordnungsfaktors"28 ist sicher eine Ausweitung des Gesetzesverständnisses auf die in der hellenistischen Umwelt geltenden Normen verbunden; für die Gemeinden gilt es ja insbesondere, sich, dem Ideal des Gemeindevorstehers entsprechend (vgl. I Tim 3,7; 6,11; 2 Tim 2,22), vor der nichtchristliehen Umwelt als geordnetes ,,Hauswesen" zu präsentieren (vgl. 1 Tim 3, 15). 29 Aus solchem umfassenden Verständnis des Gesetzes erklärt sich auch die Kritik an den ,,Falschlehrem", daß sie "Gesetzeslehrer" sein wollen, daß ihnen dazu aber die nötigen Voraussetzungen fehlen, nämlich das Verständnis dessen, wovon sie sprechen (1 Tim 1,7). Die Frage nach dem Stellenwert des Gesetzes und dessen Auslegung in den christlichen Gemeinden ist also in den Gemeinden der Past ebenfalls Bestandteil der Auseinandersetzung um das Verständnis des rechten Glaubens. Eine antijüdische FrontsteUung fehlt. 4. Die Rolle Israels in den Pastoralbriefen Im Zusammenhang der Beurteilung des Geschichtsverständnisses stellt Jürgen Ro/o.ff "das Zurücktreten der heilsgeschichtlichen Perspektive" fest, und er spricht, für die dritte Generation vor allem im paulinischen Bereich feststellbar, von einer ,,lsraelvergessenheit"; diese habe zur Konsequenz, daß das Christusereignis in den Past "nicht mehr als Ant-
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Vgl. T. SOoiNG. Mysteriwn fidei. 512. Wenn der Autor der Past vom Gesetz spricht, dann hat er nach Meinung von J. ROLOFF, Brief, 73, sogar ,,nicht primlr die Tara Israels vor Augen, sondern ganz allgemein die das menschliche Zusammenleben nonnierenden und sehtuzenden Gebote und Ordmmgen, innerhalb derer ilun das atl. Gesetz allenfalls als ein markanter Sonderfall gilr'. 29
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wortauf die Frage nach der Erfüllung des Handeins Gottes an Israel in den Blick [kommt]". 30 Dieser Beurteilung widerspricht Beate Kowalski im Blick auf die Past mit dem Verweis auf die ,,KontinuiW des chrisdichen Glaubens zur atl. Heilsgeschichte'\ Zeichen dieser Kontinuität sei unter anderem31, daß ,jüdisches Glaubensgut", wie etwa die Tora, der Bundesund Erwählungsgedanke und die prophetischen Verheißungen, ,,Bestandteil des christlichen Glaubens" sind. 32 Doch gerade der in diesem Selbstverständnis implizierte Anspruch, daß die christliche Gemeinde sich als "auserlesenes Volk" versteht (Tit 2,14~ vgl. zu dieser Bezeichnung Israels als A.a~ n~pLo\xno~ Ex 19,5~ Dtn 14,2), dokumentiert, daß nicht der Gedanke der KontinuiW zu Israel entscheidend ist, sondern daß die Kirche als ,,Haus Gottes" (I Tim 3,14), als von Gott auserwählte und durch den Sühnetod Jesu Christi gereinigte Heilsgemeinde (vgl. Tit 2,13t) den Platz des Judentums eingenommen hat. In dieselbe Richtung verweist die Tatsache, daß der Autor der Past "die heiligen Schriften" (ra ikpa yp~-rcx), d.h. das Alte Testament, als für den kirchlichen Amtsträger verpflichtende Tradition hinstellt (vgl. 2 Tim 3, 14-17). Die Bedeutung der ,,heiligen Schriften" liegt jetzt in der Sicht der Past, wie Gerd Häfner nachgewiesen hat, nicht mehr darin, daß sie als die an Israel ergangene Offenbarung Gottes wahrgenommen werden, sondern darin, daß sie als "verbindliche Tradition der Kirche" verstanden, entsprechend gewichtet und eingesetzt werden. 33 Auch in dieser Hinsicht verwirklicht sich der Anspruch der Kirche auf Kosten
30 J. ROLOFF, Der Weg Jesu als Lebensnorm (2 Tim 2,8-13). Ein Beitrag zur Christologie der Pastoralbriefe, in: C. BREYmNBACHIH. PAULSBN (Hg.), Anflnge der Christologie {FS F. Hahn), Göttingen 1991, 155-167: 155f 31 B. KowALSKI, Zw- Funktion und Bedeunmg der alttestamentlieben Zitate und Anspie> hmgen in den Pastoralbriefen, SNTIJ 19 (1994) 45-08: 61( favOOsiert etwa aucll die Interpretation von 2 Tim 1,5, \W auf den vorbildlieben (..ungebeuchelten..) Glauben der Großmutter und der Mutter des ,,Timotheus" verwiesen wird und \W ,,Paulus'' die Oberzeugwlg ausdrückt. daß dieser Glaube auch in "Timotbeus" \Whne, in der Fonn. daß hier von der Vermittlung des ,jüdischen Glaubens" gesprochen werde. Dagegen ist festzuhalten, daß der Autor die Obereinstimmung des Glaubens des .,Timotbeus'', der die Stelle des Gemeindeleiters in der Zeit der Past (also in der dritten christlieben Generation) vertritt, mit dem Glauben seiner Vorfahren deshalb so stark betont, weil er auf diese Weise die KontinuiW der Glaubeosoberliefenmg von Anfang an als Zeichen des rechten chri.Jtlichen Glaubeus in Anspruch nehmen kann (vgl. dazu L. ÜBERLINNER. Die Pastoralbriefe. Zweiter Timotbeusbrief [HibK. Xl/2,2] Freiburg 1995, 22f).
32 B. KOWALSKJ. Funktion, 62( 33 G.HAFNER, Schrift, 222-225.
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Lorenz Ober/inner
Israels; dies zwar ganz ohne polemische Auseinandersetzung, allerdings auch ohne theologische Begründung.
111. Ein abschließendes Urteil Den etwas zwiespältigen Eindruck, den die Past im Blick auf die anvisierte Fragestellung nach in ihnen enthaltenen antijüdischen Tendenzen widerspiegeln, kann man thesenhaft so charakterisieren: Ohne daß der Verfasser ausdrücklich in eine Polemik gegen das Judentum eintritt, benutzt er doch den Begriff ,jüdisch" in einer schon vorgeprägten negativen Bestimmung. Jüdischer Glaube und jüdische Lebensgestaltung sind in den von den Past angesprochenen christlichen Gemeinden nicht mehr bestimmend. Es gibt aber immer noch bzw. in einerneuen Konstellation, nämlich in Verbindung mit Tendenzen einer gnostischen Interpretation des Evangeliums, Auseinandersetzungen, die alttestamentliche und spezifisch jüdische Traditionen betreffen. Die Front ist dabei nicht: Christen gegen Juden, sondern: Rechtgläubige gegen Falschlehrer. Es wäre sicher ungerechtfertigt, einfach zu behaupten, "Jüdisches" gehöre für den "Paulus" der Past notwendigerweise auf die Seite der Irrlehrer. Es ist andererseits aber auch zu erkennen, daß er bei seiner Leserschaft gewisse antijüdische Einstellungen voraussetzt. Ohne Zweifel liegt der entscheidende Grund für den Einsatz einer sich vom Judentum distanzierenden Begriftlichkeit in einem im christlichen Glauben begründeten Selbstbewußtsein, das durch die im wesentlichen bereits vollzogene Ablösung der christlichen Gemeinden von der jüdischen Glaubensgemeinschaft dokumentiert wurde. Daneben ist durch die Öffnung zur nichtjüdisch-hellenistischen Umwelt, die in den Past ganz klar bezeugt wird, auch der Einfluß einer in der Diaspora mehr oder weniger stark entwickelten Feindschaft gegen den jüdischen Bevölkerungsanteil34 nicht auszuschließen. Das bedeutet aber auch, daß 34
Vgl. dazu J. l.EIPOLDT, Art. Antisemitismus, RAC 1 (1950) 469476; C. COLPE, Art. Antisemitismus, DNP I (1996) 790-792. Ausfllhrlich J.N. SEVENSTBR, The Roots of Pagan Anti-Semitism in tbe Ancient World (Nf.S 41 ), Leiden 1975, bes. 89-218. Zu solchen Elk1arungsversu außert sich kritisch R KAMPI..ING, Antijudaismus, 116. Diese sicher im einzelnen nicht beweisbare, aber doch angesichts der vielfllltig zu belegenden Einbindung der Past in die hellenistische Umwelt wahrscheinliche Verbindung muß dabei weder mit dem Verdacht belastet werden. dahinter stehe der WWlSch, sich christlicherseits "des Antijudaismus wn so leichter entledigen zu können. je weniger er mit dem Urspnmg zu tun bar' (ebd. ), noch kann und soll das in irgendeiner Weise als Erlclärung ftlr den christlichen
Antijudaismus in den Pastoralbriefen?
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in christlichen Kreisen die Aktivierung antijüdischer Affekte ein Mittel zur Selbstdarstellung und Selbstbehauptung auf Kosten des Judentums sein korutte.
Antijudaismus dienen. der ja als eine "eigene, religiös begrQndete Form von Antijudaismus" anzusehen ist (vgl. G. S1EMBEROF.R., Die Juden im Romischen Reich: UnterdrOclrung und Privilegierung einer Minderbeit. in: H. FROHNHOFEN (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jOdischer Antipaganismus. Ihre Motive tmd HintergrOnde in den enteil drei Jahrhunderten, Harnburg 1990, 6-22: 7).
Das wandemde Gottesvolk - am Scheideweg Der Hebräerbrief und Israel KNUT BACKHAUS
Wendet sich der Hebräerbrief an die Hebräer oder gegen die Hebräel1 Diese Frage betrifft nicht nur die sachgerechte Übersetzung der Jnscriptio 1 npO<; 'Eßpaiouc;2, sondern das theologische Gefüge des Schreibens im ganzen. 3 Wie bei keiner anderen Schrift des Neuen Testaments wird dieses Gefüge getragen von den großen Themen und Texten der Bibel Israels, von frühjüdischen Traditionen und Auslegungsmethoden. Dies führte in entlegener Zeit - gar zu der Anklage, der Hebräerbrief habe den jungen Wein des Christentums in die alten Schläuche des Judentums gegossen und so die Chance zu einer konsequenten Trennung verspielt. 4 Heute lautet der Vorwurf umgekehrt: Der Hebräerbrief halte 1 Die
/nscriptio ist textgeschichtlich erstmals in p46 {wn 200) belegt {dann: M, A, B, K, L, P), ferner bei Clemens Alexandrinus. Origenes, Hippol}'t, Irenaus und Tertullian. In der Regel bezieht sich die Wendung nach altkirchlichem Verstandnis auf Judenchristen aus Pa.IAstina. Vgl. naher R FELD, Der Hebraerbrief {EdF 228), Dannstadt 1985, 6-8~ E. GRAssBR., An die Hebräer{EKK.17), 3 Bde., Neukirchen-Vluyn/ZOrich 1~1997, L41-45~ H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen IYIJ991, 67-69. 2 Mit "Gegen die Hebraer' Obersetzen R KosmR. Eintbhrung in das Neue Testament im Ra1unen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistiscllen und römischen Zeit, Berlin 1980, 710~ F.C. SYNGE.. Hebrews and the Scriptures, London 1959,44. 3 Vgl. v.a. B.P.W.S. HUNT, The "Epistle to the Hebrews". An anti-judaic treatise?, in: F.L. CRoss {Hg.), Studia evangelica ll. Papers presented to the Second International Coogress
on New Testament Studies beld at Christ Cbl.D'ch, Oxford, 1961. Part I: The New Testament scriptures {TIJ 87), Berlin 1964, 408410~ W. Kl..AssHN, To the Hebrews or Against the Hebrews? Anti-Judaism and the Epistle to the Hebrews, in: S.G. Wn.soN (Hg.), Anti-Judaism in early Cbristianity ll. Separation and polemic {SCJud 2), Waterloo 1986, 1-16~ F. MussNER, Das innovierende Handeln Gottes nach dem Hebraerbrief und die Frage nadl dem ,,Antijudaismus" des Briefs, in: G. ScHMun'E:RMAYR u.a. (Hg.), bn Spannungsfeld von Tradition und Innovatioo {FS J. Kard. Ratzinger), Regensburg 1997, 13-24. 4 E.F. Scarr(The Epistle to tbe Hebrews. Its doctrine and significance, Edmburgh [1922] 1923) kritisiert, daß Hebr sieb nicht als ,,attempt to justify tbe breach of Christianity witb
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Knut Backhaus
innere Distanz zum ursprünglichen Träger der biblischen Überlieferung und bereite so die spätere Trennung theologisch vor. 5 Das Urteil der Auslegung schwankt zwischen ,,Hebrew in ideas" und "the least Hebrew book in the New Testament". 6 Nicht selten wird - vor allem in der angelsächsischen und der älteren deutschen Auslegung- dem Hebräerbrief (Hehr) unmittelbare Judentumsapologetik oder -polemik zugeschrieben. Er suche Judenchristen oder mit dem Judentum sympathisierende Christen paganer Herkunft davon abzuhalten, sich dem-zumal in seiner Kulttheologie bzw. Kultpraxis - als faszinierend erlebten Judentum anzuschließen oder das jüdische Erbe im Christentum aufleben zu lassen. 7 Recht unterschiedlich fällt die Würdigung des Hehr vor dem Hintergrund der theologischen Neubesinnung auf das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum aus. Er hat dialogbetonte kirchliche Appelle
Judaism" lesen lasse (96 ). Dem alttestamentlichen Religionstypus verhaftet ("depending on the sarne ritual motives as the old religion.. however heigbtened and purified''), vermöge der Auctorad Hebraeo.r nicht. seine These 10,9 einzulösen. so daß er am Ende ,,little more than a refonned Judaism" zu bieten habe und damit ,.JJ bygone phase of religion" (97h vgl. ebd., 59f, 85-101. 123-125, 135-142. 5 S. l...EHNB, The New Covenant in Hebrews (JSNT.S 44), Sheffie1d 1990: "The struggle witb Jewish tradition is onmipresent in the Nf but nowhere do we find a clear rupture witb Judaism. Paradoxically enough. it is the writer ofHeb. wbo- while passionately arguing along Jewish lines - moves furthest in the direction of the breach with Judaism that was later to take place" (124). 6 Vgl. W. KLAssEN, Hebrews, 4. 7 So mit unteiSchiedlichen Variatioocn und Begründungen etwa: A BJSPING, Erklanmg des Briefes an die Hebraer, MOnster (1854) 21864, 29( F.F. BRUCE. "To thc Hebrews": A document of Roman christianit}'?, ANRW ll. 25,4 (1987) 3496-3521: 3504-3506~ G.W. ßucHANAN, To the Hebrews (AncB 36). New Yort 1972, 255-263, 266~ J. DuNNn.L, Covenant and sacrifice in the Letter to the Hebrews (MSSNTS 75), Cambridge 1992, 24f, P. EuiNGWORTII, The Epistle to the Hebrews (NIGTC). Grand Rapids/Carlisle 1993, 78-80~ B.P.W.S. HUNT, Epistl~ S.LEHNE, Covenant. 16( 100, 103( 115, 120-124~ B. LINDARS, The theo1ogy of the Letter to the Hebrews, Cambridge 1991, 6-15~ W.RG. LoADER, Solmund Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung ZlD" Christologie des Hebräerbriefes (WMANT 53), Neukirchen-Vluyn 1981, v.a 172f, 247-249 u.v.O.~ Th.l..oHMANN, Zur Heilsgeschichte des Hebraerbriefs, OIZ 79 (1984) 117-125: 125~ S.G. SoWERS, The henneneutics of Philo and Hebrews. A comparison of the inte:rpn:tation of the Old Testament in Philo Judaeus and the Epistle to the Hebrews (BST 1). Zürich 1965, 73f, C. SPICQ, L'Epi'tre aux Hebreux (EtB). 2 Bde.• Paris 1952~ 1953, L 5-7, 221f, C. VAN DER WAAL, '"The Peop1e ofGocf' in the Epistle to the Hebrews, Neotest 5 (1971) 83-92: 88-90. Kritisch dagegen bereits E.I<.AsP.MANN, Das wandemde Gottesvolk. Eine Untersuchung zwn Helderbrief(FRI.ANT 55), Göttingen (1939) 41961, v.a 10, 34-37~ F.J. ScHIERsE, Verheißung und Heilsvollendung. Zur theologischen Gnmdfrage des Hehrleibriefes (MfhS.H 9), MOnehen 1955, 1-7, 196f, 201.
Das wandemde Gottesvolk - am Scheideweg
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ebenso inspiriert wie deren exegetische9 und kirchenpolitische10 Bestreitung. Er wurde exegetisch kritisiert11 und kirchenoffiziell gescholten12. Vor allem wird ihm, seitdem chrisdiche Dialogteilnehmer das theologische Motiv des Gottesbunds neu entdeckt haben, verlegen oder verärgert die Substitutionstheorie zugeschrieben (vgl. 7,22~ 8,6.7-13~ 9,15-22~ ferner 7,18f~ 10,lf8-l0), und er wird dann- je nach Tendenz und Temperament seiner Ausleger - entweder entschuldigt, relativiert oder aus der Diskussion ausgegrenzt. 13 Doch wird ebenso geltend gemacht, daß Hehr gerade mit seiner Bundestheologie, in ihrem histoin der Folgezeit recht kontrovers diskutierten Beschluß .lm Erneuerung des Verbältnisses von Cluisten \Dld Juden" (11.01.1980) der Synode der evangeliscben Kirche im Rheinland ging eine Bibelarbeit von B. Klappert Ober Hebr 11,1.324(t, 12,lf \UBUS. Die Beschlußfassung selbst bezieht sich statt auf Hebr auf Röm 9-11 (dokumentiert in: R. RENoroRFF/H.H. HENRix [Hg.), Die Kirchen und das Judentlan. Dokumente voo 1945 bis 1985, Paderbom/MOnchen 1987, 593-596). 9 Z.B. E. GRAssER, Exegese nach Auschwitz? Kritische Anmedrungen zur hermeneutischen Bedeutung des Holocaust am Beispiel von Hebr 11 (1981), in: DER.s., Aufbruch \Dld Verheißung. Gesammelte Aufsatze zum Hebraabrief Hg. von M EvANGIO. MERK (BZNW 65), Berlin 1992, 201-212~ vgl. A. VANHOYE, Salut universei par le Christ et validite de l'Ancienne Alliance, NRTh 116 (1994) 815-835:829-835. 10 So verweist auf evangelischer Seite das (kritisch auf den Beschluß der Rheinischen Synode zielende) Wort des Theologischen Konvents Bekennender Gemeinschaften voo 1980 ,,Mission Wlter Israel - auch heute" auf Hebr 10,16f, um als Ziel der lsraelmissioo. die "Wiedereinsetzung" der Juden ,,in den auf Golgatha \Dld zu Pfingsten erneuerten Gnadenbund'' zu bestimmen (vgl. Textausgabe RENDTORFFIHENRix, Kirchen. 596-598: 597). Katholischerseils deutlich etwa A. FEl.Jil.lET. "Le Nouveau Testament pris dans son entier proclame avec force ce que dejä les prophetes laissaient prevoir quand ils predisaient \.Ule Nouvelle Alliance: pour quiconque a rencontre Je Christ, I' Ancienne Alliance est desonnais pbimee", elle a ere remplacee aux yeux des chretiens par Ia Nouvelle Alliance. Les affinnations les plus nettes ä ce sujet se trouvent sans doute dans l'Ept"tre aux Hebreux (cf Vll,12,18-19~ Vßl,7,13~ X,9)" (L'osservatore romano, 15.06.1973~ zit B. DE MARGERIE. ''L'Ancienne Alliance n'a jamais ete revoquee". Reflexion SlD" la mutuelle immanence des deux Alliana:s ausein de I' Alliance etemelle, RThom 87 [1987] 203-241: 204). 11 Sehr differenziert etwa bei H.-F. Wmss, Hebr, 784f. S.G. WILSON (Related stnmgers. Jews and Christians, 70-170 C.E., Minneapolis 1995, 110-142) schließtHebrund Bam \Dlter der bezeichnenden Überschrift ,,Supersession" zusammen. 12 So die EKDStudie "Christen und Juden n. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum" (Goterslob 1991): ,,Israel und sein ,alter Bund' erscbeinen [nach Hebr 8,13] nur noch als Größen, deren Vorl4ufigkeit und Unangemessenheil im Blick auf das Heil von der Heiligen Schrift selbst her erweisbar sind" (S3J, daher zahlt die Studie Hebr zu den Zeugnissen der fi1lhchristlichen ,,Jsrael-Vergesscnbeir' (vgl. 52). 13 Zu den \lllter9Chiedlicben (ebenso gutgemeinten wie gewaltsamen) Versuchen der theologischen Domestizierung vgl. den Oberblick bei K. BACKHAus, Der Neue Bund und das Werden der Kirche. Die Dialbeke-Deullmg des Hebrlerbriefs im Rahmen der frobchristlicben Theologiegeschichte (NTA 29), MOnster 1996, 22-29. 8 Dem
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rischen Kontext interpretiert und hermeneutisch vermittelt, ein Sinnpotential berge, das dem Dialog wichtige Impulse vermitteln könne. 14 Noch einmal: Wendet sich Hehr an die ,,Hebräer" oder gegen die "Hebräer"? Recht besehen gilt: Hehr wendet sich vor dem christlichen Verslehenshorizont "hebräischem Denken" zu (Kap. 1) und gerade so von den zeitgenössischen Juden ab (Kap. 2). Ich möchte hier die These vertreten, daß es (diesen zutreffenden Eindruck der altkirchlichen Leser spiegelt die Inscriptio wider) dem ,,Hebräerbrief' um das ,,Hebräische" am Christentum geht und daß dem der Hebräerbrief keine aktuelle Antwort geben kann, dem das Jüdische am Christentum nicht zur aktuellen Frage geworden ist. 15 In der Leitmetapher des Hehr: Das Gottesvolk auf irdischer Pilgerschaft zu seinem himmlischen Ziel geht eben jenen Weg, den Israel, sein biblisches Urbild, gegangen ist. Es ist kein anderer Weg als der der ,,Hebräer'' ( 11 , 1-12,3 !), und doch ist in Christus "am Ende dieser Tage" (1 ,2) verbürgt, daß das Ziel fur alle Pilger erreichbar ist, ja: daß der Himmel über diesen Pilgern jetzt schon offen ist. Angesichts dieses Zieles, dieses Anführers, dieses Zugangs zum Allerheiligsten wird die Frage nach der Volkszugehörigkeit derer, die da unterwegs sind, für Hehr theologisch ortlos - wenn es denn nur wirklich Erdenpilger sind, die den "Weg der Hebräer" ziehen.
1. Das Gottesvolk auf friedlichem Weg Hehr verhält sich zu Paulus wie Melanchthon zu Luther. Mit diesem etwas gewagten - Vergleich hat man den ,,Irenismus" unseres Schreibens illustriert. 16 So leidenschaftlich Hehr die eigenen Adressaten anspornt, so friedlich verhält er sich ad extra. Für das wandemde oder genauer- pilgernde Gottesvolk 11, die "cultic comrnunity on the move" 18 14 Vgl.
ebd., 345-363. Abwandlung von K. ßARTHS Fonnulic:n.J118 zwn VerbaUnis von Katholizismus tmd Protestantismus: Der römische Katholizismus als Frage an die protestantische Kirche, in: DERs., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vor1rtge U. München 1928, 329-363: 333. 16 Vgl. C. SPICQ, Hebr I, 208 Amn. 3~ ferner: "A l'antithese multifonne: p6che - gr8ce, malc!diction - bCnediction, esclavage - liberte, notre Cpi"tre substitue Ia relation ou plutöt la metathese: type - antitype, esquisse - image, OOlbre et realite" (ebd., 1SO). 17 Das Motiv wurde erstmals von E. KAs6MANN (Gottesvolk., v.a. S-58) erschlossen; vgl. etwa E. GRAssER, Das wandemde Gottesvolk. Zwn Basismotiv des HebrlelbJ iefes ( 1986). in: DERs., Autbruch, 231-250~ fernez- K. NJFDERWIMMER., Vcxn Glauben der Pilger. Erwlguogen zu Hebr 11,8-10 und 13-16, in: S.I
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(vgl. 3,7-4,11) tritt Israel nicht als Kon-kurrent ins Blickfeld, sondern als biblisches Ur- und Vorbild. Dieses Pilgervolk sieht der Verfasser als eine umfassende Einheit des Glaubens seit Abraham ( 11, 1-12,3 ), verbunden durch die eine, göttliche Verheißung 19 und damit durch das allen gemeinsame Ziel der Vollendung, das "sie", die Väter, uns bezeugen und zeichnen (vgl. 6,12; 12,1)20, freilich ,,nicht ohne uns" (11,40), die Christen, erreichen. 21 Denn erst jetzt, "am Ende dieser Tage" (1,2), ist durch Christus als Anfiihrer und Vollender des Glaubens (12,2) der Weg ins Allerheiligste erschlossen. 22 Als "Teilhaber einer himmlischen Berufung" sind die Glaubenden gerufen, auf Jesus, den "Apostel und Hohenpriester unseres Bekenntnisses" (3,1), zu schauen, nicht aber polemisch auf die Synagoge. Vielmehr stiften die konsequente Theozentrik des Schreibens, der auch die Christologie zugeordnet bleibt, die schrifttheologisch fundierte Wort-Gottes-Theologie und das für Hehr leitende Motiv der E7tayyEÄ.ia ein göttlich geschenktes und im "Sohn" allererst verbürgtes Kontinuum über aller irdischen Wandelbarkeit. 23 Es gehört zu den parakletischen Grundanliegen des Hehr, seinen Adressaten die Unwandelbarkeit und existentielle Zuverlässigkeit der göttlichen Treue nahezubringen.
18
Vgl. W.G. JOHNSSON, The pilgramage motifin the boolc ofHebrews, JBL 97 (1978) 239251:249. 19 Zwn btayydia-Begriff des Hebr vgl. C. ROSE, Verheißung und Erfllllung. Zum Verständnis von btayydia im Hebräerbrief, BZ 33 ( 1989) 60-80, 178-191. 20 ''That is, the Epistle to the Hebrews draws affinnative 1essons from the ancient Judaism" (S. SANDMEL, Anti-Semitism in the New Testament?, Philadelphia 1978, 122). 21 Mit Röm 11 ,25-32 darf man hinzufilgen: Und wir nicht ohne sie! 22 Vgl. M THEooAw, Zwei Bonde und ein Gottesvolk. Die Bundestheologie des Hebraerbriefs im Horizont des christlich-jüdischen Gespracbs, ThQ 176 (1996) 309-325: 320-322. Zur Glaubensmotivik in Hebr G. DAtmENBERG, Der Glaube im Hebraerbrief, BZ 17 (1973) 161177~ E. GRAssER. Der Glaube im Hebräerbrief (MThSt 2), Malburg 1965~ D. HAMM, Faith in the Epistle to the Hebrews: The Jesus factor, CBQ 52 (1990) 270-291; 8. LINDARS, Theology, 101-118; Chr. ROSE, Die Wolke der Zeugen. Eine exegetisch-traditionsgeschiehtliebe Untersuchq zu Hebraer 10,32- 12,3 (WUNT ß: 60), TObingen 1994; Th. SöolNG, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des Hebraerbriefes, 'mvJ 82 ( 1991) 214241; J.W. THOMPSON, The beginnings of Christian philosophy: The Epistle to the Hebrews (CBQ.MS 13), Washington 1982, 53-Sfr, Exkurse bei C. SPICQ, Hebrfi, 371-381;H-F. Wruss, Hebr, 564-571. . 23 Vgl. K BACKHAUS, Per Christtun in Demn. Die thcozentrische Funktion der Christologie im Hebräcrbrief, in: Th. SOoiNG (Hg.), Der lebendige Gott Studien zur Theologie des Neuen Testaments (FS W. Thüsing), MOnster 1996, 258-284; D. WIDBR, Theazentrik und Bekenntnis. Untersuchqen zur Theologie des Redens Gottes im Hebrleabi ief (BZNW 87), Berlin 1997.
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Freilich gilt 8, 7-13 regelmäßig als handfester Beleg dafür, daß Hebr die heilsgeschichtliche Substitutionstheorie vertrete. 24 Das Schriftzitat Jer 38,31-34 LXX mit seiner Auslegung in den Rahmenversen (8,7.13) zielt in der Tat auf die Ablösung der 7tpC.ll'tfl öta9tiKT). Jedoch versteht Hebr darunter weder den heilsgeschichtlichen Gegenpol zum Bund der Christen noch das andere Gottesvolk, sondern strikt den sinaitischen Nomos in Ansehung seines priestertums- und kulttheologischen Charakters. Diese öta9ftKT), das heißt: der Ievitische Opferkult, wird als schriftgemäßer irdischer Typos des eschatologischen Gottesbunds vorausgesetzt und nach der für Hebr bezeichnenden Deutungstrias .,strukturelle Entsprechung - soteriologische Verwirklichung - eschatologische Vollendung" als durch Christi sühnende Selbsthingabe am Kreuz .,aufgehoben" dargestellt, und zwar im dreifachen Sinne des ,JJOsitive, negative, supereminentet'. 25 Wenn etwas .,substituiert" worden ist, so (wie aus anderem Grund und in anderer Weise parallel im damaligen Judentum) das Ievitische Tieropfer. Im Vergleich mit den ersten Vertretern des heilsgeschichtlichen Substitutionsmodells - dem Bamabasbrief und Justins .,Dialogus cum Tryphone ludaeo"- flillt auf, daß Hebr weder in 8, 7-13 noch an anderer Stelle Bundesbruc~ Verblendung oder Abfall des alten Gottesvolks thematisiert. 26 Freilich steht für Hebr außer Frage, daß Gott in Christus eine radikal neue Heilsinitiative gesetzt hat (vgl. 1,1-4~ 7,11-19~ 10,1-18 u.ö.), und gerade dort ist ihm das Gotteswort wichtig, wo es gilt, die J.1f:'taeEou:; (vgl. 7,12) zu begründen. 27 Diese aber vollendet Gottes Treue zu seinen uralten Verheißungen und kündigt sie nicht auf 28 Auch 12,24 (vgl. Gen 4,1-16) wird in antijudaistischen Zusammenhang eingeordnet, und zwar als typologischer Hinweis auf die Ermordung Christi durch das Judentum als ,.ewigen Kain" (vgl. Augustinus, Pars pro toto: S.G. Wn..soN, Strangers, 119( Vgl. naher K. BACKHAUS, Bund, 157-181' 246-258 (Lit ). 26 Der im Zitat mitgetragene Vorwwf ,,sie sind nicht in meinem Btmd geblieben" (Hebr 8,9 =Jer 38,32 LXX) wird nirgends im Hebrausgewertet "Tadel" Wld ,,Mangel" (vgl. 8,7t) der Ievitischen Diatheke beziehen sich auf deren (ontische) Verbaftuog in der irdisch-unvollkocomenen SeinssphAre Wld damit auf die condicio humona, nicht auf die condicio Judaica! Bezeichnenderweise spricht 3,124,11~ 12,25fv001 Ungehorsam der Wostengeneratioo lediglieb mit Blick auf die bedrockelldere Gefahr des christlieben Ungehorsams gegenüber der biblischen Verbeißung und dem Auftrag der christlichen W~ vgl. dazu E. ~ Hebr L 183-226. 27 Vgl. auch J.-P. MICHAUD, Le passage de l'ancien au nouveau, seloo l'Epitre aux Hebreux. SeEs 35 (1983) 33-52: 39( 28 Vgl. auch E. GRAssER. Hebr ll, 106-108. 24
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civ. 15,7); das Blutmotiv kann gerade mit Mt 27,25 29 verknüpft werden. 30 Ungeachtet der Wirkungsgeschichte (die auff8llige Belege für diese Verknüpfung kaum zu bieten scheint) gilt Abel fiir Hehr jedenfalls als Glaubenszeuge (vgl. 11,4), also als biblischer Zeuge jener himmlischen Wirklichkeit, die in Jesu Sühnetod von Gott abschließend verbürgt wurde. Abels Blut schreit ebensowenig ,,nach Rache" wie das Jesu.31 Die einzige Stelle, die auf eine reale Auseinandersetzung hinweisen mag und denn auch seit jeher als Paradebeleg für den ,,Bruch mit dem Judentum" beansprucht wird, ist 13,9-14. Der Passus steht gattungstypisch-beiläufig im .,Ketzerschluß"32 und warnt die Leser sehr allgemein davor, sich von "vielartigen und fremden Lehren" fortreißen zu lassen. 33 Das 7t€pt1t
Vgl. dazu R. I
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KalpOu Bwp8c.ixn:roc; emKt\tJ&va die Kraft zur Heilsvollendung abgeht (vgl. 9,9fl), wie post Christum crucifixum offenbar geworden ist (13,10). 3s Nicht um den Ausschluß des Jüdischen geht es daher, sondern um die Abgrenzung des Irdischen, das aus eigener Kraft himmlische xcipu; nicht zu schenken vermag. 36 Den geforderten "Auszug aus dem Lager'' (13,11-13~ vgl. Lev 16,27) wird man jedenfalls nicht mit der kirchlichen Tradition37 als Anspielung auf die Sprengung des jüdischen Kultus 38 oder als Mahnung an die Adressaten, "that they are to break their ties with Judaism" 39, lesen können, sondern- wie auch sonst im Schreiben - als Appell zur Wandenmg zum himmlischen Ziel und daher als notwendige Konsequenz des 7tfXXJEptta0al zu Gott. Philo, dem ,,Jewish brother'' des HebrAO, sind ähnliche Gedanken wichtig (in Anlehnung an Ex 33,7: all. ll 53-56; ill 46; gig. 54; det. 160; ebr. 100). Die irdische Sphäre jedenfalls ist für 13, 14 keine bleibende Heimat, sondern vergänglicher Weg zu dem himmlisch-ewigen Ziel. Wie die Väter Israels so sind die Christen ~ivol Kai mxpE1tlOTJ.10l tm 'ri\c; yi1<; auf der Suche nach ihrer ewigen Heimat (vgl. ll,13f). Auch hier hätte Philo zugestimmt (vgl. Cher. 120f; conf 77-82; her. 82). 41 Aus der Sicht des jüdischen Gelehrten und Rabbis hat Sarnuel Sandmet in seiner vornehmen und sensiblen Auslegung des Hebr gerade auf solchen Denkstil verwiesen, um das Schreiben gegen den
Das 9umacml>wv steht typologisch filr das KreuzesopfeJ" Christi und mark.im nicht die .,Unvereinbarkeit des christlichen und jüdischen Gottesdienstes.. (so G. ~ Das Bekenntnis im Hebräerbrief (1942], in: DERs., Studien zu Antike und Urchristentwn. Gesammelte Aufsatze ll, München (1959] 21963, 188-203: 194f). 36 Vgl. H KOESTER. ''Outside the camp": Hebrews 13.9-14, fiThR 55 ( 1962) 299-3 I 5: 303309~ M R.lssi. Die Theologie des Hebrlcrbriefs. Ihre Verankenmg in der Situation des Verfasscrs und seiner Leser (WUNf 4 I), Tübingeo I987, 95f 37 Sie findet sich im Ansatz bereits bei Theodoret von Cyrus, in Hebr 13,13 (PG 83, 784A). 38 So et\W W. ScHMmw.s, Theologiegeschichte des Urchristentwns. Eine problemgeschichtliche Darstellung, Stuttgart 1994, 240f For H. KOES1F.R (Camp, 300-303) zielt 13,13 auf den Bruch mit salcralen Traditionen Oberbaupt. 39 So aber W. KLAssEN, Hebrews, 13~ ahnlieh W. KRAus, Der Tod Jesu als Heiligtwnsweihe. Eine Untersuchung zmn Umfeld der SOhnevorstelJung in Römer 3.25-26a (WMANT 66), Neukirthen- Vluyn 1991, 258~ 8. LINDARS, Thcology, tt f 40 Vgl. J.D.G. DuNN, The partings oftbe ways betwecn Christianity and Judaism and their significance for the character ofChristianity, London/Valley Forge (I 991) 21996, 212. 41 Zur Auslegung vonl3,9-14 vgl. insgesamt E. GRAssER. Hebr ID. 372-388~ D.I..OHRMANN, Der Hohepriester außerhalbdes Lagers (Hebr 13,12), ZNW 69 (1978) 178-186; F.J. SaiiER.sE, Verheißung, 184-195~ H.-F. WEISS, Hebr, 717-738. Zu den metaphysischen Voraussetzungen der Argwnentation vgl. J.W. THOMPSON, Beginnings, 141-151. 3s
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Eindruck des Antijudaismus in Schutz zu nehmen. 42 Der (cum grano salisl) "Philonismus"43 des Hebr scheint mir in der Tat die Lösung zur theologischen Grundfrage im jüdisch-christlichen Kontext des Schreibens zu bieten. Eher als vereinzelte Passagen wird nämlich die Vorliebe des Hebr ~m Vergleich (cnYyKptcru;) zu der Annahme Anlaß geben, er biete ein "exercise in comparative religions' 444, das darm freilich das Judentum theologisch zu depotenzieren suche. 45 Jedoch denkt Hebr nicht polemisch-antithetisch, sondern biblisch-antitypisch. Die für das Schreiben so bezeichnende Komparativiic46 dient nicht dem Vergleich zwischen zwei konkurrierenden "Gottesvölkem", sondern dem Vergleich zwischen himmlischer Heilswirklichkeit und irdischer Schattenwelt und zielt damit letztlich auf die Unvergleichlichkeit Gottes. 47 Nicht um die "infinite superiority of Christianity over Judaism'"" geht es in Hebr, sondern um die unendliche Superiorität des Gö~chen über das Irdische und um das Wunder geschenkter Gottesnähe. Es darf nicht übersehen werden, daß solche axiologische Sphärenscheidung eine Form der Inkulturation genuin biblischer Theozentrik ist. Mit dieser Reaktion auf das metaphysische Fernweh seiner Zeit jedenfalls erbringt der Auetor ad Hebraeos im frühchristlichen Kontext jene theo-logische Vermittlungsleistung, die auf jüdischer Seite Philo Die ,,platonisierende.. Perspektive des Hebr ,,reOects education and culture..~ nicht o1me Hwnor dann: ..My teacher, the late Clarence Tueleer Craig. once characterized Hebrews as contending that Christianity is the perfect religion becanse it is even better than the second best, Judai.sm" (S. SANDMEL, Anti-Semitism. 120)~ vgl. auch DERs., The first Christian century in Judaism and Christianity: Certainties and uncertainties, New York 1969, 172-179. 43 Eine direkte Abhängigkeit des Hebr von Pbilo, wie etwa C. Spicq sie postuliert hat. scheint mir nicht belegbar. Beide repräsentieren aber- auf je eigene Weise an je eigenem Standort - die Begegnung zwischen biblischer Theozentrik tmd zeitgenössischer Metaphysilc, Hebr ist durch das (irdisch-geschichtliche) ~ des urchristlichen Cbristus-KeJ)'giD&S auf eine Verschmelzung der vertikalen Eschatologie mit einer perfektiscben und futurischen Eschatologie festgel~ vgl. K. BACKHAus, Btmd, 64-70, 232-242 (Lil~ H. FFJD, Hebderbrief, 29-54~ H.-F. WEISS, Hebr, 96-114. 44 w. KLAssEN, Hebrews, 5-8. 45 So etwa S.G. Wn.soN, Strangers, 117, 120-123. 46 Hebr bietet ober 30 Vergleiche mit Personen oder Ereignissen des Alten Testaments (JesusiEngel, Jesu.s/Mose, Jesus/Leviten usw.) (vgl. W.G. ÜBELACKBR. Der Hebräerbrief als Appelll Untersuchungen zu exordium, narratio und prutJcriptum [Hebr I- 2 und 13,22-25] [CB.NfS 21], Lund 1989, 99), die jeweils den theologischen Status der dW"Cb Christus realisierten himmlischen Heilsordmmg lDlterstreichen wollen. Dies gilt auch fur die antithetischen Pamllelismen, ·die das Schreiben von Anfang an (I, I f) und besonders in Hebr 7 pragen. 47 Vgl. auch E. GRAssER, Hebr ll. 236f 48 R Mn.uoAN, A coounentary on the Epistle to the Hebrews (lDll 1865), Nachdruck: Nashville 1975, 33. 42
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Alexandrinus auszeichnet. Daran hat J.D.G. Dunn gar die Frage geknüpft: "Would Hebrews by itself have been any less acceptable to Alexandrian Jews than the middle Platonic philosophizing of Philo? If Philo remains within the spectrum of recognizable and acceptable firstcentury J udaism, would the same not be true for Hebrews?"49 Lange Zeit hat die Alternative "The Greek road away from and the Hebrew road to the Episde" 50 die religionsgeschichdiche Würdigung des Hebr gelähmt. Schienen - gerade auch nach der Intervention von James Ban·51 - solche Engführungen in den jüngsten Kommentaren und Monographien grundsätzlich in dem Bewußtsein überwunden, daß "schlichte Alternativen hier nicht genügen" 52 , so wurden eben solche jetzt erneut von F. Mußner aufgegriffen, der ,,Platonismus" und "Philonismus" in sachlichen Gegensatz zur im Christusgeschehen realisierten Eschatologie setzt und einen Gegensatz von "abstrakt-metaphysisch (,platonisch', ,philonisch')" und "biblische[r] Zeugnisrede" konstru· iert. 53 Zweifellos ist die Christus-Homologia, auf der Grundlage der Heiligen Schrift und mit den Auslegungsmitteln der Typologie dargelegt, der "hermeneutische Schlüssel" 54 zu Hebr und seinem paraldetischen Grundanliegen. Aber solche Exegese und Parakiese wird (höchst konkret) an-sprechend dadurch, daß sie dem (mittelplatonisch inspirierten) auf Gottes Transzendenz zielenden Verstehenshorizont der Adressaten Rechnung trägt. Gerade dadurch wird die ChristusHomologia zum Schlüssel, daß sie dem spirituell ausgezehrten, "ermüdenden" Gottesbild der Adressaten christologisch entgegenwirkt und es auf solche Weise soteriologisch erschließt. Das Bekenntnis zu Christus, dem himmlisch-menschlichen Hohepriester, verweist angesichts des menschlichen Abstands zur himmlischen Transzendenz auf J.D.G. DuNN. Partings. 21 J; aUenlings dürfte DuNN das Sbndalm des geschichtsgebundenen Christus-Kerygmas in Hebr denn doch Wlterschätzen. wem er vorbehaltlos fort:filhrt: "lt would be hard to answer anything other thao Yes". so V. BURCH. .lbe Epistle to tbe Hebrews. Its sources and message. London 1936, 1-30; v.a. ebd., 3: ''To hellenise or to hebraise, that is the question of questions for the interpretation of the Epistle to the Hebrews"! 51 J. BARR. Old and New in intcrpretatioo. A study of tbe two Testaments, New Yorlc 1966, 34-64. 52 Pb. VIELJ{AUER, Geschichte der urcbristlichen Literan.u". Einleitung in das Neue Testament. die Apolaypben und die Apostolischen Vater. Berlin (1975) 1981, 248; vgJ. v.a. E. ÜRASSER., Der Hebraeabrief 1938-1963 (1964), in: DER.s., Aufbruch. 1-99: 30-49; H.-F. Wmss, Hebr, 96, und die ldureichen Ausftlhrungen bei N. WALmt, ,,Hellenistische Eschatologie" im Frohjudentmn- ein Beitrag zur ,,Biblischen Theologie''?, ThlZ 110 (1985) 331-348. 53 F. MuSSNER. Handeln, 17f, 24. 54 Vgl. ebd., 18. 49
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jene Heilsinitiative Gottes, die vom "Himmel" her (katabatisch) die Kluft zwischen Gott und Mensch überbrückt, die der menschliche Kult vom Irdischen her (anabatisch) nicht zu überbrücken vermag. Jesu Sühnetod und Erhöhung eröffnen als himmlisch-irdisches Kultgeschehen den Zugang (7tp<XJiPX.Eaea.\, EiaiPX,Eo()al, eiaoOOc;, iyyil;E\V K'tA) zum Allerheiligsten (vgl. 4,14-16; 9,11-14; 10,19-23). Erst so erklärt sich, warum "am Ende dieser Tage" der altbundliehe Opferkult "als überholt und unbrauchbar" erscheinfs, obschon er nach wie vor die anthropologischen und soteriologischen Grundstrukturen kultischen Handeins vorgibt. Insofern ,,Heil" sich vor dem Horizont solcher (metaphysisch inspirierten) Transzendenz-Theologie wesentlich als (vertikale) Teilhabe an und (proleptischer) Eintritt in Gottes Gegenwart darstellt, eignet sich ja überhaupt erst (die von der Heiligen Schrift inspirierte) Kultmetaphorik und Kulttypologie zur Beschreibung des 7tpO<JiPX,Eaea.\. Die "abstrakt-metaphysische" Transzendenzvorstellung gibt dem Verfasser das Problem vor: die Trennung zwischen Gott und Mensch; die Christus-Homologia bietet ihm die konkrete Lösung: In der Person, dem Heilstod und der Erhöhung des Sohnes und Hohenpriesters ist der "neue und lebendige Weg" (10,20) zwischen den Sphären erschlossen, den in der Nachfolge des "Anführers des Heils" (2,10) alle Glaubenden gehen können (vgl. 4,16~ 7,25~ 10,22; 11,6~ 12, 18.22). s6 Auf die in der mittelplatonischen Theo-logie angelegte Aporie der Vermittlung antwortet das christologische Motiv des Mittlers! Genau darin scheint mir die theologische Leistung des Auetor ad Hebraeos zu liegen, daß er in kritischer Zeitgenossenschaft das metaphysisch geprägte Gottesbild seiner Adressaten, den biblisch-jüdischen Monotheismus und das urkirchliche Christus-Kerygma unter dem Vorzeichen theozentrischer Soteriologie ins Gespräch miteinander bringt und so die Gotteserfahrung "lebendig" werden läßt. s7 Die so skizzierte christologische Vermittlung ortet Richtung, Sinn und Ziel der irdischen Wanderschaft, nicht aber die Gegenposition zur
55
Ebd., 24. Vgl. naher F. LAus, ,,Ein fib" allemal hineingegangen in das Allerheiligste" (Hebr 9,12)Zwn Verstandnis des Kreuzestodes im Hebraerbrief. BZ 35 (1991) 65-85. 51 Vgl. zm BegJondung näher K. BACKHAUS, Per c~ zur negativen Theo-logie des neupythagoreisch inspirierten Mittelplatonismus., ihrem Einßuß auf das Gottesbild in der Zeit der Oavischen Dynastie und des frohen Adaptivkaisertums und ihre Gnmdaporie der axiologischen Vermittlung zwischen irdischer Wirklichkeit und gottlieber Transzendenz vgl. ebd., 261-265 (Lit.). 56
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konkurrierenden Synagoge. 58 Statt um die polemische Herabsetzung des Jüdischen geht es dem Verfasser um die theologische Relativierung des Irdischen. Das Judentum und seine Einrichtungen werden an keiner Stelle als solche kritisierf9, und die ontologische Diastase "irdisch/ himmlisch" läßt sich nur gewaltsam in die kontroverstheologische Antithese ,jüdisch/christlich" verwandeln. 60 Nicht Kirche und Synagoge, sondern Himmel und Erde vergleicht Hebr. 61 Und dies so konsequent, daß kein Raum bleibt für den irdischen Grabenkampf. 62 So gesehen liegt das seelsorgerliehe und theologische Grundanliegen des Auetor ad Hebraeos darin, den Horizont der Adressaten radikal zu weiten (vgl. 1,1-4; 2,8f; 9,28; 12,1f.22-24). Zwar "sieht sich die irdische Gemeinde (entsprechend der platonisierenden Sicht des Schreibens) ganz im Licht der himmlischen Ecclesia invisibi/is. Diese aber ist menschlicher VerfUgung entzogen, dafür aber dem universalen Heilswillen Gottes überstellt". 63 Mit Blick auf die pilgernden Väter Israels mit Blick wohl auf alle Erdenpilger - heißt dies: "Gott schämt sich ihrer nicht: er schämt sich nicht, ihr Gott genannt zu werden; denn er hat für sie eine Stadt bereitet" (11,16).
2. Das Gottesvolk auf schiedlichem Weg Bisher ergab sich, daß Hehr die ad.-frühjüdische Tradition nicht befehdet, sondern (deutlicher als jede andere Schrift des Urchristentums) mit seinem ganzen soteriologischen Gefüge auf ihr errichtet ist und sie nach seiner Leitmetapher - in der Einheit des pilgernden Gottesvolkes zu repräsentieren und zu reflektieren beansprucht. Zugleich wurde erkennbar, daß Hehr diese Tradition, durch deren Theozentrik und Transzendenz-Vorstellung ermutigt, durch die zeitgenössische Meta58
Zur Auseinandersetzu mit der .~lap.Ye"-Theorie vg!'. K.
BACKHAUS,
Btmd, 264-282
(Lit).
Rätselhaft bleibt, wo J.-P. MlrnAuo, Passage, die ,,polc!mique violente cootre les institutions d'Israel: contre le culte, le temple,le sacerdoce,la loi et l'alliance tnmle" findet 60 E. GRAssER, Hebr 0. 48, 107. 61 Ebd., 75, 236~ vgl. auch M. THEOBALD, Bünde, 318( For Jobannes Chry9ostomos. hom. 14 in Hebr 8, freilich wird beides deckungsgleich: OUpavia yc1p ionv,; 'EiocA.tp{a. Kai. ol&v ionv äU.o il ~vOc; (PG 63, 112). 62 Treffend M. THEOBALD, Bünde, 312: ,.allein die Schrift als ausgewiesene AutoriW bietet ilun das Argumentationsterrain, auf dem er sich mit einem inteUelctueU-noblen Geist (von ,alexandrinischer' Weite) bewegt, der tnr Polemik nicht zu haben ist". 63 Ebd., 322. 59
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physik perspektivisch bereichert, durch das Christus-Kerygma geleitet, mit ur-christlicher Eigenständigkeil fortschreibt, vertieft und weitet und so denn auch - legt man jedenfalls den Maßstab der etwa zeitgleichen (tannaitisch-)jüdischen Selbstdefinition (70-132 n.Chr.) an- ,,hinter sich läßt". 64 Auch hier mag der Vergleich mit Paulus Anschauung bieten: Hebr ringt nicht mehr um die Streitfragen, die den Apostel in Auseinandersetzung mit seinen ,judaistischen" Gegnern in den Gemeinden von Galatien oder Korinth so leidenschaftlich bewegt haben; aber ebensowenig kennt er ein Ringen um das Israel post Christum, das der Apostel nicht minder leidenschaftlich mit sich selbst in Röm 9-11 austrägt. Das Ringen des Paulus mit seinen toraorientierten Kritikern gehört zu seinem inneren Ringen mit seinem ureigenen Judentum (vgl. Röm 9,1-5). Die Theologie des Hebr kann es sich erlauben, friedlich zu sein. weil sie längst schiedlich geworden ist. Wenn es den Hebr in der Tat kennzeichnet, daß er die christliche Homologia "in der Länge, in der Breite, in der Höhe und in der Tiefe neu vermißt"65 , so nimmt es nicht wunder, daß in dem so gewonnenen Koordinatensystem auch das alte Bundesvolk, jedes Menschenvolk neu geortet scheint. Vom zeitgenössischen Judentum ist polemisch keine Rede, insofern vom zeitgenössischen Judentum überhaupt in Hebr keine Rede ist. Das Wortfeld 'Iou&itO<; K'tÄ. fehlt; wo es um "Israel" geht, geht es um das Gottesvolk der Heiligen Schrift. Am Beispiel des Nomos66 läßt sich der innere Abstand des Hebr zum zeitgenössischen Judentum dokumentieren. Entdeckt dieses die Tora als Mitte des Gottesbunds mit lsrael 67, so bricht die Einheit zwischen Nomos und (eschatologisch neuer) Diatheke in Hebr auseinander. 68 N~ ist für Hebr das "mosaische Gesetz" (7,5.12.16.19.28; 8,4; 9,19.22; 10,1.8.28; vgl. 7,5.16.18; 9,19: ivroA.i); 9,1.10: öucaicllJ.Ul), und zwar vorrangig unter dem Aspekt seiner kultisch-priesterlichen 64
E. GRASsER. Hebräerbrief, 30: "die scheinbar am meisten at'l.-jüd. fimdierte Scluift des NT ezwies sich zugleich als eine fundamental heUenistische Schrift''~ zustimmend H-F. WF..JSS, Hebr, 97f 65 E. GRASsER. Hebr LVIII. 66 Vgl. E. ÜRASSER.. Hebrll, 49-52~ A. VANHOYE, La loi dans I'Ept"tre aux Hebreux., in: C. FOCANT(Hg.), La loi dans l'lDl et l'autre testament(LeDiv 168), Paris 1997, 271-298~ H-F. WEISS, Hebr, 403407. 67 Vgl. F. AVEMARIEifl LICHTENBEB-GER (Hg.). Bund und Tara. Zur theologischen Begriffsgeschichte in .alttestamentlicher, frOhjOdischer und urchristlicher Tradition (WUNf 92), Tübingen 1996. 68 Justin(vgl. dial. 10,2-12,3~ 24,1~ 34,1~ 43,1~ 67,9f~ 122,5) wird beide TheologOlDilleNl auf anderer Ebene wieder zusanunenftlhre (vgl. auch Bam 2,6 i. V.m. 3,6~ 4,6-8~ 14, 1-4).
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Verfaßtheit. Als ein Inbegriff der früheren Kultordnung wird der Nomos auch interpretiert: Er besaß "zu seiner Zeit" durchaus seine Geltung als "Schatten der zukünftigen Güter" (vgl. 10,1 ). Nach Maßgabe typologischer Strukturanalogie wirkt er auch in der neuen Diatheke auf vollendete Weise fort, freilich nachdem die 8tKa~m aapKOc; (9, 10) als solche in der in 7,11-19 beschriebenen Metathesis ,.negative" aufgehoben wurden. 69 Der Nomos, bleibt, wie Hebr durchaus unpoiemisch feststellt, "auf der Strecke" (vgl. 7,18f; 8,13~ 9,9f~ 10,9)~ soteriologische Prägnanz besitzt er nicht mehr. 70 Hebr erweist sich damit als Repräsentant des "parting of the ways" zwischen Judentum und Christentum. 71 Er vertritt ein Christentum (die Unterscheidung Judenchristentum/Heidenchristentum wäre fiir ihn theologischer Anachronismus), das sich von den unmittelbaren Bindungen an die jüdische Herkunft gelöst hat, und wird zum Zeugen "of a Jewish/Gentile Christianity that ha.d broken with Judaism in a radical way and so, in a sense, ha.d become a new religion". 72 Wer ihn mit milieuverwandten frühkirchlichen Anwälten dieses parfing vergleicht, wird der theologischen Konzentration und dem damit gegebenen unpolernischen Charakter des Hebr Respekt zollen. 73 Der Barnabasbrief etwa verweigert aggressiv jeden Dialog mit dem zeitgenössischen Judentum, in Justins "Dialogus cum Tryphone" kommt er nicht zustande. Hebr nimmt ihn nicht auf, was ihn aber nicht hindert, das Gespräch mit der großen Überlieferung des Judentums zu suchen. Hebr definiert Christentum in kühnem christologischen Entwurf auf der Grundlage der ,,hebräischen" Bibel. 69
Vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 404-406. Die Gesetzesverheißung Jer 38,33 LXX wird zwar via Zitat eingetragen (8,10", 10,16), ertlihrt aber bezeichnenderweise keine Auslegung oder Anwendung. 71 Vgl. J.D.G. DuNN, Partings~ DERs. (Hg.), Jews and Ctuistians. The parting of the ways A.D. 70 to 135 (WUNf 66), Tübingen 1992~ ferner E.P. SANDERS u.a (Hg.), Jewish and Ctuistian self«fmition, 3 Bde.,London 1980-1982~ MS. TAYLOR, Anti-Judaism and early Cluistian identity. A aitique of the scholarly consensus (StPB 46), Leiden 1995~ B. WANDER., Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum Wld Judentum im 1. Jahrhundert n.Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Hinrichtung Jesu und der Zerstönmg des Jerusalerner Tempels (TANZ 16), Tübingen 1994~ S.G. WJLSON, S~ DERs. (Hg.), Anti-Judaism in early Christianity ß. Separatim and po1emic (SCJud 2), Waterloo 1986. 72 R.E. BROWN, in: DERs./J.P. MEIER. Antioch and Rome. New Testament aadles ofcatholic Christianity, I...ordm 1983, 8~ vgl. RE. BROWN, Not Jewish Christianity and Gentile Cbristianity but types of Jewisb/Gentile Christianity, CBQ 45 ( 1983) 74-79. 73 Vgl. K. BA
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Freilich handelt der Auetor ad Hebraeos dabei nicht aus Freude am intellektuellen Spiel, sondern aus bitterer lebenspraktischer Notwendigkeit. 74 Der AOyO<; tii<; xapaKA.i}aeroc; tröstet und mahnt eine orientierungslos und müde gewordene Zwischengeneration. Die Phase des "parting of the ways" ist auch für die junge Kirche eine krisengeschüttelte Etappe mühseliger Identitätsfindung im theologischen "Niemandsland". Hehr läßt deutlich spüren: die Begeisterung der "ersten Liebe" ist erkaltet, die Wärme einer neuen (ekklesialen) Heimat noch nicht gefunden. Nicht mehr in der jüdischen und noch nicht in einer stabilen kirchlichen Gruppenüberlieferung behaust, bedürfen die Adressaten der theologischen Selbstvergewisserung (ßeßairocrt~) auf der Basis der Heiligen Schrift nach der Maßgabe des Christus-Kerygmas. So sucht der Verfasser der existentiellen Verunsicherung seiner Gemeinde durch ein schriftgebundenes Angebot christlicher Selbstdefinition entgegenzusteuern: die Christen sind der endzeitliche Teil des biblischen Gottesvolkes auf seinem Weg zum himmlischen Ziel, das verbürgt und jetzt schon zur Teilhabe geöflhet ist durch die Mensch und Gott verbindende Heilstat des Sohnes und Hohenpriesters Jesus Christus. Diese Selbstvergewisserung schließt - das gehört zum Wesen der De-finition soziologische und sozialpsychologische Ab-grenzung von jenen ein, die ihren Weg, die Weggemeinschaft und den Bürgen und Anführer anders bestimmen: "Sein Haus sind wir, wenn wir nur festhalten an der Glaubenszuversicht und an dem stolzen Bewußtsein der Hoflhung" (3,6). Es sind "hebräische" Fragen, die den Hebräerbrief fesseln und die er sich und seinen Lesern in stetem Blick auf die Heilige Schrift vor Augen hält: Verwurzelung in der Gemeinschaft mit Gott, Hören auf Gottes Wort, Leben aus Seiner Verheißung, Sühne und Opfer, Gottesbund und Gottes wanderndes Volk, Freude an Seiner Weisung, Kraft aus der Treuegeschichte des Glaubens. Unverwechselbar christlich ist der Umgang mit diesen Fragen: Gott hat jede einzelne von ihnen in und mit Jesus Christus beantwortet. Er stiftet die Gemeinschaft mit Gott; in ihm spricht Gott "am Ende dieser Tage"; er verbürgt die Verheißung; in seinem Heilstod wird Wirklichkeit, was alle Sühne erstrebte und alle Opfernden ersehnten; er wurde gehorsam und ermutigt noch immer zum Gehorsam; er ist Urheber und Vollender der Treuegeschichte des Glaubens. Wenn Gott "in dieser Endzeit zu uns gesprochen hat durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt geschaffen hat" ( 1,2 ), dann entfaltet sich für Hehr ein 74
Zur Situation der Gemeinde vgl. K. BACKHAUS, Btmd, ~72, 264-270.
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universales Drama, das alle geschichtlichen und ethnischen Beschränkungen theologisch aufhebt. Zur gleichen Zeit ringt Israel um sein geschichtliches Erbe, sein ethnisches Überleben, seine theologische Identität, sein "Geheimnis". 75 Es beantwortet die genannten Fragen aus einer anderen Gewißheit: ohne Christus. Christologie führt an den Scheideweg.
3. Das Gottesvolk auf Abwegen? Liegt damit in solcher Christologie die eigentliche Schuld des Hebr an Israel? Ein neues Verstehen des Heilsplans Gottes und der Heiligen Schrift aus der Christus-Erfahrung heraus ist als solches auch dann nicht mit Antijudaismus gleichzusetzen, wenn es mit einer neuen Bewertung der Schranken des Gottesvolkes und der Geltung der Tora einhergeht. Das Christus-Kerygma des Hebr bezeugt jenen Heilswillen Gottes für alle Menschen, den der Verfasser als ixayyEA.ia in der Heiligen Schrift bezeugt sieht. Im Licht von 1, 1-4 bestätigt sich die These: "In Christus hat sich der Gott Israels gerade als der seinen Verheißungen treu bleibende Gott in neuer Weise definiert". 76 Darin liegt nicht die Schuld des Stolzes, sondern der Stolz der Hoffuung (vgl. 3,6). Aber führt solche Christologie nicht ipso facto in den Antijudaismus?n Anders gefragt: Können Ideen im Sinne von ,.Denkstrukturen"
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Christliche Theologie wird heute nicht nur den Hebr, sondern mit nicht geringerem Ernst die theologiegeschichtlich gleichzeitigen Entwürfe jüdischer Selbstdefinition (etwa l.AB, 4Esr) zu würdigen haben. Unrealistisch scheint es jedoch., bereits dem Auetor ad Hebraeos solche plurale Perspektive zuzuschreiben: •'There is no suggestion in Hebrews that the Christian application is the ooly true meaning ofthe Old Testament" (B. LINDARS, Theology, 55). • ' 6 Vgl. allgemein die in ihrer sensiblen Differenzi~ Oberzeugenden Ausftlhrungen bei D. SANGER. Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel. Studien zum Verbaltnis von Kirche und Israel bei Paulus und im frOhen Christentum (WUNf 75), Tobingen 1994, 295~ bes. zu Hebrauch R.W. WAUJW.L. LANE, Polemic in Hebrews and the Catholic Epistles, in: C.E. EvANSIDA. HAaNER (Hg.), Antisemitism and early Cbristianity. lssues of polemic and
faith. Minneapolis 1993, 166-198: 171-185. n Hoheitschristologie steht ftlr christliche Teilnebmer am jodiscb-duistlichen Dialog gelegentlich wtter dem Verdacht, die ,,rechte Hand des Antisemitismus<• zu sein. so daß "cbrisk>logiscber Besitzverzichr· zum Gebot der Stunde wird (vgl. die Darstelltmg der Debatte bei D. SANGER, Verldmdigung, 36-79). Differenriert zum ,,Dilemma der Hoheitschristologie.. aus jüdischer Sicht M. WYsaiOOROD, Christologieolme Antijudaismus?, Kul 7 (1992) 6-9.
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schuldig werden?78 Trägt Gen l ,28 die Schuld am Treibhauseffekt? Führt Galileis Kosmologie zu Hiroshima? Ist Hegel (via Marx) schuldig am Archipel Gulag? Wissenssoziologisch betrachtet, können Ideen nicht schuldig werden durch eigenen Fortschritt. Wohl aber können sie zu Bausteinen79 einer Ideologie werden, die selbst (auf eigene Verantwortung!) schuldig wird. Gerade die stärksten und wahrhaftigsten Ideen - Glaube etwa, Hofthung und Liebe - sind diesem Mißbrauch am hilflosesten ausgesetzt. Die Idee der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus dürfte ebenfalls unter diese Regel fallen. Schreibt man "Denkstrukturen" die Eigenschaft "Antijudaismus" zu, so verläßt man den Bereich historisch kontrollierbarer Aussage und reduziert Texte substantialistisch auf ein Sinngefüge überhalb oder außerhalb ihrer unverwechselbaren historischen Kommunikationssituation. 80 Wonach vielmehr zu fragen ist, ist das Rezeptionsrisiko des Hehr. Hier in der Tat wünscht sich der Ausleger aus seiner heutigen Perspektive bereits im Hehr selbst stärkere Barrieren gegen Mißbrauch.81 Direkte Zitate der heute oft als Judentumspolemik verstandenen Hehr-Passagen sind in der theologischen Literatur der Alten Kirche selten. Justin der Märtyrer rekurriert in seiner Auseinandersetzung mit der Synagoge auf den Gedanken vom Neuen Bund und versetzt ihn in das Koordinatensystem einer heilsgeschichtlichen Substitutionstheorie, nach der Israel in seiner notorischen Herzensverhärtung und Sündhaftigkeit den "Alten Bund" verspielt habe und Raum mache für den ,,neuen und ewigen Bund" der Christen. Irenäus von Lyon, der Systematiker altkirchlicher Bundestheologie, und Tertullian, der Begründer der Adversus-Iudaeos-Literatur, schreiben diese bundestheologische Enteignung Israels fest, zumindest indirekt auch durch Hehr angeregt. 82 Die metaphysische und verheißungsgeschichtliche Dialektik, die Hehr Vgl. grundsätzlich N.LEsER, Vom Fortschritt und Schuldigwerden der Ideen. Geschich~ philosophische Betrachtungen und Thesen ( 1979). in: DERs., Jenseits voo Marx und Freud. Studien zur philosophischen Anthropologie, Wien 1980, 134-146. 79 Vgl. R. KAMPLING, Neute&1amentliche Texte als Bausteine der splteren AdversusJudaeos-Literatw", in: H. FROHNHOFEN (Hg.). Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Ihre Motive und Hintergründe in den ersten drei Jahrhunderten, Harnburg 1990, 121-138. 80 Vgl. K. BERGER. Exegese des Neuen Testaments (UIB 658), Heidelberg (19'n) 31991, 245f 81 Vgl. etwa H.-F. WEISS, Hebr, 785. 82 Vgl. K. BACKHAUS, Bund, 322-324. 78
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davor bewahrt hatte, von der parakletischen Selbstdefinition des Christentums in die polemische Bestreitung des Judentums abzugleiten, ist insgesamt nicht zu theologischer Geltung gelangt. 13 Im Gegenteil, lrenäus dürfte unter dem Einfluß der Hehr-Lektüre stehen (vgl. Eusebius, h.e. 5,26), wenn er gerade dessen theologische Antitypik in polemische Antithetik gegen die irdisch gesinnten "Gesetzesfreunde.. ummünzt (haer. 4,11,4): "Solche Reinheitsvorschriften waren als Vorausbild der künftigen Dinge gegeben (in figuram futurorum traditae erant), wie wenn das Gesetz einen Schattenriß herstellen (velut umbrae cuiusdam descriptionem faciente lege) und die ewigen Dinge auf zeitlichen, die himmlischen auf irdischen skizzieren würden (deliniante de temporalibus aetema, de terrenis caelestia). Sie tun so, als befolgten sie mehr, als vorgeschrieben ist. und schätzen ihren Eifer sogar höher ein als selbst Gott. innerlich sind sie aber voll von Heuchelei, Begehrlichkeit und aller Bosheit. Er läßt sie ewig verloren sein, indem er sie vom Leben abschneidet."
Origenes konstatiert vor dem Hintergrund von Hehr 7,14, daß die ä.vöp&c; louoo, die Christus gegenüber ungläubig geblieben seien, nicht mehr lou&xio1 sein können, "sondern vielmehr wir, die wir an Christus glauben.. : ..Avöp&c; louoo t}.leic; EOJ!EV öul. -rov Xp1a-r6v (hom. in Jer 9, 1). Nachdem Israel den Scheidebrief empfangen hat, sind damit nwir als Juda" zum Herrn zurückgekehrt (hom. in Jer 4,2). Diese Beispiele zeugen von einer "Sinnkarriere", die der mens auctoris nicht entspricht und deren Verslehenshorizont heute zur theologischen Diskussion steht. Der primäre Kontext des Hehr, also das Ensemble der Fragen, auf die der Text einst eine Antwort war, ist von dieser Sinnkarriere zu trennen. 14 Rekontextualisiert, also mit gegenwärtiger Situation konfrontiert, mag Hehr möglicherweise auch heute noch zu Verstehen und Bewältigung beitragen. Ich vermute, daß die Rezeptionschance des Hehr für den jüdisch-chrisdichen Dialog genau darin liegt, daß er sich mit seiner Christologie aus dem Gespräch mit der (ad.) Schrift heraus zur Beschreibung der innersten Mitte christlicher Identität eignet und diese Identität in Beziehung zum biblischen Weltentwurf Israels setzt. Gerade so vermag er einen Dialog zu befruchten und vertiefen, der aus der ureigenen und unverwechselbaren Vgl. auch A. VANHOYE, Art. ,,Hebräerbrier', TRE XIV (1985). 494-505: 502. Vg). allgemein M. FUHRMANNIHR JAussiW. PANNENBERG (Hg.), Text und Applilcation. Theologie, Jurisprudenz und Literatwwissensch im henneoeutischeo Gesprach (Poetik wtd Henneneutik 9), MOnehen 1981. 83
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Identität der Gesprächspartner leben muß, wenn er denn tatsächlich Dialog (im Sinne Martin Buhers etwa) werden soll. Hebr bringt auf seine unverwechselbare Weise die urchristliche Geschichte der Begegnung mit Gott in den Dialog ein: "deep calls to deep: we can respond to the poetry of the other, the yeaming for God conveyed by the other, the Iove of God that nourishes the other. Should we lose all this, in the name of theological affirmation, with a merely down-home consequence?"85 Christus, die universale Antwort des Hebr, wird nicht konsens-fahig in solchem Dialog, aber gemeinsame Fragen dürften letztlich eher zum Verstehen führen als gemeinsame Antworten. Die Fragen des Hebr aber sind, wie wir zu zeigen versuchten, ,,hebräisch" inspiriert, und die radikale Verschiedenheit der Antworten wird dadurch erträglich, daß die Antwort gerade des Hebr wie jede jüdische Antwort aus der biblischen Theozentrik und der biblischen Verheißung lebt. Menschliches Streben bleibt, so weiß Hehr gut biblisch, von äoOtwta geprägt, und zu der Vorläufigkeit alles Irdischen gehört am Ende auch die Verschiedenheit im Glauben. Vielleicht ist niemand tiefer bereit zu verstehendem Gespräch als der Pilger, der an der Weggabelung den Pilger trifft. Denn beide wissen um den eigenen Weg wie um das gemeinsame Ziel.
Resümee Treibt der Hebräerbrief also Antijudaismus? Versteht man unter "Antijudaismus" eine solche literarische Äußerung, die textpragmatisch auf eine polemisch-apologetische Depotenzierung Israels - präziser: bestimmter jüdischer Gruppierungen oder religiöser und ethischer Geltungsansprüche dieser Gruppierungen - zielt, so ist der Hebräerbrief exegetisch erweislich keine antijudaistische Schrift (Kap. l ). Der Auetor ad Hebraeos formuliert keine zeitenthobene Theologie Israels, sondern versucht, ein ihm situativ so und nicht anders vorgegebenes Problem christlicher Identitätsbestimmung theologisch zu bewältigen (Kap. 2). Die Einfügung von "Bausteinen" des Hebr in das Bollwerk altkirchlicher Judentumspolemik, namentlich seine Inanspruchnahme für das heilsgeschichtliche Substitutionsmodell und die
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J. NEUSNER. Telling tales: Making sense of Christiart and Judaic nonsense. The urgency and basis for Judaeo-Ciuistian dialogue, Louisville 1993, 164.
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kontroverstheologische "Erdung" seiner Antitypik, verweist indes auf ein schwerwiegendes Risikopotential für die Textrezeption (Kap. 3). Das ,,Zeit-Zeichen Auschwitz" (F Mußner) markiert ein heutigen Textrezipienten situativ so und nicht anders vorgegebenes Problem, das seinerseits theologisch bewältigt werden muß, letztlich durch Begründung eines neuen Verstehenshorizontes, in dem auch der Hebräerbrief seine Rezeptionschancen zu entfalten vermag. "Theologie nach Auschwitz" kann freilich keine andere Theologie sein, als jene, die "schon vor Auschwitz und zu allen Zeiten hätte getrieben werden müssen". 86 Der Hebräerbrief hat sie an seinem historischen Ort vielleicht vorzubereiten vermocht. Aber er hat sie in seiner Wirkungsgeschichte nicht inspiriert. Tragik ist am Ende "nichts anderes als der Unterschied zwischen dem, das war, und dem, das hätte sein können". 87 Nehmen Christen heute die Radikalität des "hebräischen Fragens" im Hebräerbrief ebenso wahr wie die Radikalität seiner "universalen Antwort", so offenbart sich ihnen der erschütternde Ernst der Widmung, die Emmanuel Levinas seiner Schrift "Autrement qu' etre ou audela de l'essence" 88 gab: "Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus."
86 D. 87
SÄNGER, VerlcOndigung, nf
Z. YAVETZ, Judenfeindschaft in der Antike. Die Münchener Vorträge, München 1997,
114. 18 E. UVINAS, Autrement qu'etre ou au-deta de l'essence, Dordn:cht (1974) s1991 (Phaenomenologica 54)~ dt. Freibmg i.Br. 1992.
Die Shoah als Herausforderung an das traditionelle Selbstverständnis historischkritischer Exegese Religionspädagogische Impulse für eine kontextuelle bibeltheologische Hermeneutik' HEIKE BEE-SCHROEDTER
Es mag so manchen Leser verwundern, in diesem fachexegetisch ausgerichteten Sammelband einen religionspädagogisch orientierten Beitrag zu finden, der noch dazu in seinem Titel behauptet, Impulse für eine bibeltheologische Hermeneutik geben zu können. Welchen Beitrag sollte diese gegenwartsbezogene Teildisziplin Praktischer Theologie zur hier diskutierten Frage nach der angemessenen Beurteilung judenkritischer neutestamentlicher Texte zu bieten haben? Solche oder ähnlich skeptische Fragen sind zu erwarten und nicht verwunderlich angesichts der lange Zeit üblichen hierarchischen Verortung der einzelnen Fächer innerhalb der Theologie: Ganz unten, am Fuße des Lehrgebäudes war die Praktische Theologie angesiedelt, galt sie doch als Anwendungswissenschaft, der allein die Aufgabe zukam, die Ergebnisse der klassischen Fächer wie Biblische Theologie, Systematik etc. methodisch aufzubereiten und so für die kirchliche Praxis umzusetzen. 2 Als entscheidende Wende für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie wird die kirchenreformerische Bewegung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bewertet: Rahners Definition der Theologie als praktische Wissenschaft kann hier als wegweisend für ein 1 Für
wertvolle Hinweise gerade hinsichtlich der aktueUen exegetischen Diskussion mochte ich an dieser Stelle Prof. Dr. Hubert FrankemOlle danken. 2 Vgl. K. WEGENAST, Religioospadagogik lDld exegetische Wissenschaft. Zu einem umstrittenen Verhältnis im Haus der Theologie. Heinz Grosch zwn 60.Geburtstag am 26.04.90, RpB 26 ( 1990) 62-82: 62~ N. MEnE., Theorie der Praxis. Wisse:nsclulftsgche und methodologische Untersuchungen zur Theorie - Praxis - Problematik innerhalb der praktischen Theologie, Dosseidorf 1978, 338f.
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neues Selbstverständnis Praktischer Theologie gelten. Er begründete diese wesensmäßige Bestimmmtg damit, daß die Theologie als Glaubenswissenschaft immer wieder auf den Glauben als nicht (nur) theoretische ErkemtniS, sondern als praktischen menschlichen Vollzug verwiesen ist. 3 Peukert spitzt den Bezug zwischen Glaube mtd Praxis fur die Praktische Theologie zu, wenn er festhält ,,Der Glaube ist in sich selbst eine Praxis, die als Praxis, also im konkreten kommmtikativen Handeln, Gott fiir die anderen behauptet mtd im Handeln zu bewähren versucht.'"' Indem so der Glaube allein als Dimension der Praxis angemessen bestimmt wird, treten Theologen gegen die Abwertung der Praxis als bloßem ,Machen' oder ,Tun' des vorab immer schon theoretisch richtig Erkannten an. Die Beachtung des Eigenwerts der Handlmtgen fuhrt zur Annäherung des Praxisbegriffs an seine ursprüngliche Bedeutung: Mette macht darauf aufinerk~ daß Aristoteles den Begriff ,Praxis' fiir Handlungen prägte, die ihren Sinn mtd ihre Vollendung in sich selbst tragen. 5 Die Praktische Theologie bezeugt mit ihrer Selbstdefinition als ,Handlungswissenschaft' ein entsprechend neues Selbstbewußtsein. Sie sieht ihr eigenes Aufgabenfeld jetzt in der Analyse, Reflexion, Bewertung und Begleitung einer im obigen Sinn als Glaube zu identifizierenden Praxis. Die von den meisten praktischen Theologen vertretene neuere Konzeption der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft zeichnet sich durch induktives, die Wirklichkeit als Ausgangslage ernst nehmendes Vorgehen und die Beachtung der gesamtgesellschaftlichen Dimension christlichen Handeins aus. 6 Durch dieses Verfahren befreit sie sich selbst nicht nur aus der einseitigen Abhängigkeit der traditionellen Disziplinen, sondern betrachtet es zudem als ihre Aufgabe, ihre theologisch per se als relevant bewerteten Ergebnisse diesen anderen Teilgebieten der Theologie kritisch zurückzuspiegeln. Als konkreten Ausdruck dieses Selbstbewußtseins können im Bereich der Religionspädagogik die z.Zt. diskutierten, aber noch immer
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Vgl. N. Mrrm, Theorie, 342( Sprache und Freiheit Zur Pragmatik ethischer Rede, in: F. KAMPHAusiR ZERFASS (Hg.), Ethische Predigt und Alltagsvcrhalten, MOneben u.a 19n, 44-75: 66. 5 Vgl. N. Mlrrrn, Theorie, 340. 6 Vgl. N. METrn/H. STEINKAMP, Sazialwissenschaften und Praktische Theologie, DUsseldorf 1983, 16~ N. MlrrrE., Voo der Anwerdungs.- zur Handlungswissenschaf Konzeptionelle Entwickhmgen und Problemstellungen im Bereich der (katholischen) Praktischen Theologie, in: 0. FUCHS (Hg.), Theologie und Handeln. Beitrage zur Fundienmg der Praktischen Theologie als Handlungstheorie, Dosseidorf 1984, 50-63: 57-f:JJ. 4 H. PlruKERT,
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aktuellen Ansätze der Korrelationsdidaktik 7 bzw. des Elementarisierungsansatzes gelten: Religionspädagogen beider Konfessionen betrachten die wechselseitige Erhellung von biblischer Tradition und heutiger Lebenswelt der Schülerinnen als vordringliche Aufgabe des Religionsunterrichts. 8 Zusammenfassend ist festzuhalten: Praktische Theologen und Religionspädagogen haben mittlerweile ein neues Selbstverständnis als Handlungswissenschaftler entwickelt. Doch das impliziert nicht automatisch die Akzeptanz desselben durch die anderen theologischen Disziplinen bzw. ihre Vertreter. Gerade im Hinblick auf die Biblische Theologie scheint hier eher eine skeptisch negative Beurteilung angemessen. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, wollte man diese Einschätzung ganz allgemein belegen. Doch es erscheint mir notwendig, angesichts des hier zur Diskussion stehenden Themenbereichs; des sog. "neutestamentlichen Antijudaismus", die entsprechende neuere exegetische Literatur aus dieser Perspektive genauer zu betrachten: Werden religionspädagogisch orientierte Beiträge herangezogen? Und wenn: Welche Rolle, welche Funktion wird ihnen zugebilligt: die eines Ausblicks i.S. einer möglichen Anwendung exegetischer Erkenntnisse oder auch die eines Anlasses, einer Ursache, einer Motivation für entsprechende exegetische Forschung? Die Lektüre aktueller exegetischer Beiträge zu dieser Thematik läßt nüchtern betrachtet nur eine überwiegend negative Antwort zu. Deutschsprachige Exegeten wie beispielsweise Broer, Dahm, Frohnhofen, Kampling, Mußner, von der Osten-Sacken und Sänge,S greifen 7
Vgl. beispielsweise die Darstelltmg der Diskussion in: G. Hn..oER/G. REnLY (Hg.), ReligiOilSWltenicht im Abseits. Das Spannungsfeld Jugend, Schule, Religion, München 1993. 8 Vgl. H. STOCK, Theologische Elementarisierung und Bibel, in: I. BALDERMANNIK. NIPKow/H. STOCK, Bibel und Elementarisienmg, Frankfurt 1979, 75-86: 75~ lDld: F. NIEHL, Korrelation, in: G. BrrrnRIG. Mlu.ER (Hg.), Handbuch religionspädagogische Grundbegriffe, Band 2, Monehen 1986, 750-754: 750. 9 Es ist im Ralunen eines solchen Aufsatzes nicht möglich, auch nur annlhemd vollstlndig die in diesem Bereich arbeitenden deutschsprachigen Exegeten zu nennen. Leitend bei der selbst f:Ur diesen Bereich noch exemplarisch zu verstehenden Aufzahlung waren aktuelle Veröffentlichtmgen. die sich speziell der Frage nach der Auslegung sogenannter neutestamentlicher Antijudaismen widmen: I. BROHR (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992~ C. DAHM, Israel im Marlrusevangeliwn, Frankfurt 1991; H. FR~ (Hg.), Christlieber Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Ihre Motive und HintergrQnde in den ersten drei Jahrhunderten, Harnburg 1990-, R. l
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religionspädagogische Fragen, Ansätze und Beiträge in ihren Ausfiihrungen nicht auf Nur innerhalb des neuen Sammelbandes von Frankemölle fand ich eine zumindest allgemeine positive Würdigung religionspädagogischer Beiträge zu diesem Themenbereich. 10 Üblicherweise werden meist - nicht immer - Anmerkungen zur Aktualität und Hermeneutik des Themas gemacht, bevor man sich dann einer ausschließlich historisch-kritischen Auslegung bestimmter Bibeltexte widmet und so die Frage nach der Berechtigung eines neutestamentlichen Antijudaismus beantwortet. Dies als Manko zu bewerten, ist angesichts folgender These verständlich, die als leitende Perspektive den folgenden Ausführungen vorangestellt sei: Der Ansatz, von dem aus in der Religionspädagogik
die Themen ,Judentum', ,das Verhältnis Christen - Juden' oder , Christologie nach Auschwitz' betrachtet und behandelt werden, kann einen wichtigen Impuls für die bibeltheologische Frage nach dem Umgang mit sog. neutestamentlichen Antijudaismen geben. Die exegetisch hermeneutische Diskussion kann m.E. durch den religionspädagogischen Umgang mit den genannten Themen entscheidend bereichert werden. Ziel dieses Aufsatzes ist es, diese These zu belegen. Dazu scheint es zuerst einmal nötig zu sein, die religionspädagogische Vorgehensweise zu skizzieren: Wie begründen die Religionspädagogen ihr Plädoyer für eine neue Darstellung des Judentums, eine neue Sichtweise des Neuen Testaments? Welche Rolle weisen sie in diesem Kontext den Exegeten zu? Um den Nachweis einer impulsgebenden Wirkung führen zu können, ist anschließend ein solches Verfahren dem Selbstverständnis historisch-kritisch arbeitender Exegeten gegenüber zu spiegeln: Wie sehen sie sich von den Religionspädagogen wahrgenommen? Wie bewerten Exegeten ihr eigenes methodisches Vorgehen? Gibt es Übereinstimmungen oder Unterschiede gegenüber dem Verfahren der Religionspädagogen?
Die Heiligkeit der Tora. Studien ZlDil Gesetz bei Paulus, MOnehen 1989~ D. SANGER., Die Verldmdigung des Gekreuzigten und Israel. Studien zum VerhaltDis von Kirche und Israel bei Paulus und im fitlhen Christenban (WUNT 75), Tobingen 1994. 10 Vgl. H. fRANKEMöu..E. Jodis;be Wwzeln christlicher Theologie. Studien zum biblischen Kontext neutestamentlicher Texte (BBB 116), Bodenheim 1998~ Vorwort, 7-11 ~ Aufsatz: ,,Die Entstehung des Christaltums aus dem Judentwn. Historische. theologische und hermeneutische Aspekte, 11-43~ Aufsatz: "Wie können wir heute Christus verlctlndigen?", 457463.
ÜSTEN-SACKEN,
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Die Antworten auf diese Fragen werden das traditionelle Selbstverständnis eigenen exegetischen Arbeitens neu problematisieren und Ansätze für eine nötige Revision bieten. Darin liegt m.E. der entscheidende Impuls der religionspädagogischen Arbeitsweise für die exegetische. Mein Plädoyer, die Kontextualität exegetischer Tätigkeit gerade auch bei diesem Thema zu bedenken und auch innerhalb der Auslegungen selbst spürbar werden zu lassen, versuche ich abschließend in dreifacher Weise zu begründen. Die religionspädagogische Diskussion Innerhalb der katholischen Religionspädagogik kann die Arbeit der Freiburger Forschungsgruppe um Biemer, Riesinger und Fiedler als wegweisend für eine neue revidierte Darstellung des Judentums, besonders des Verhältnisses Christentum- Judentum, im Religionsunterricht gelten. Es wird immer wieder in ihren Ausführungen deutlich, daß sie sich dabei grundsätzlich der Korrelationsdidaktik verpflichtet fühlen. 11 Deren Forderung, die Lebenswelt der Schüler bewußt in Korrespondenz zur biblischen Tradition zu setzen, versuchen sie betont für diese Thematik umzusetzen. Konkreter Anlaß für die Entstehung dieser Projektgruppe an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg Anfang der 80er Jahre war nach eigenen Angaben eine Initiative des Gesprächskreises Juden - Christen beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. 12 In den vier Bänden 13, in denen sie ihre Forschungsergebnisse dokumentiert, betont sie auch immer wieder ihr eigenes entsprechendes Selbstverständnis: Sie sah sich den kirchenamtlichen Bemühungen seit dem Zweiten Vatikanum verpflichtet, eine neue positive Beziehung zwischen Juden und Christen zu fördern. Zwar wird in "Nostra aetate" die dazu notwendige Anerkennung des Judentums als 11
Vgl. G. BIEMER., Freiburger Leitlinien zum Lemprozeß Christen Juden. Theologische Wld didaktische Grundlegung (,Lemprozeß Christen Juden'. Bd.2), Dosseidorf 1981, I, 81f, 105107~ G. BIEMERIA. BIESINGERIP. FIEDI..ER u.a., Was Juden Wld Judentmn ft1r Christen bedeuten. Eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Christen Wld Juden ( ,Lemprozeß Christen Juden', Bd.3), Freiburg 1984, 2, 32, 36f, 40, 124; G. B~ Didaktische Leitsätze zum Lcmprozeß "Christen - Juden". in: M. STOHR (Hg.), Judennun im christlichen Religionsunterricht, Frankfurt 1983,54-73: 60( 12 Vgl. P. FIEDLER, Das Judentmn im katholischen Religionsunterricht, Dosseidorf 1980, 9/11. 13 Neben dem oben genannten Werk von FIEDLER., das als Band l der Reihe ,Lemprozeß Christen Juden' erschien, sind hier m nennen: G. B~ Leitlini~ G. BIEMERIA. BIEsiNGER!P. FIEDLF.R u.a., J~ P. FJFDLERIU. REcK/K.-H. MINz (Hg.), Lemprozeß Christen Juden. Ein Lesebuch (,Lemprozeß Christen Juden', Bd.4), Freiburg 1984.
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eigenständige, positiv zu bewertende Religion v.a biblisch mit der bekannten Metapher vom Ölbaum aus Röm 11,13-24 begründet, doch die Religionspädagogen selbst sehen diesen "entscheidenden Wendepwtkt" 14 in der VerhältnisbestimmWlg durchaus stark zeitgeschichtlich durch die Massenvernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg bedingt. 15 Sie führen als Beleg die bekannte Erklärung der deutschen Bischöfe "Aufruf zur Umkehr" von 1980 an, die die besondere Verpflichtung der deutschen Katholiken zur AnerkennWlg der Juden Wld des Judentums gerade in Erinnerung an die Shoah und die Mitschuld katholischer Deutscher daran betont. 16 Die Freiburger bewerten diese kirchenamtlichen Dokumente als entscheidenden verheißungsvollen Schritt in Richtung einer neuen Beziehung zwischen Christen Wld Juden angesichts jahrhWldertelanger Diffamierungen, Abgrenzungen, Pogrome und VerfolgWlgen von Juden durch die Kirche, diagnostizieren aber gleichzeitig ihre mangelnde Wirkung im Hinblick auf die Bevölkerung. Den Erklärungen wird eine zu geringe Resonanz innerhalb der kirchlichen Praxis attestiert. 17 An dieser Stelle verorten sich die Freiburger Religionspädagogen nun selbst: Sie sehen ihre Aufgabe darin, Konsequenzen für die religionspädagogische Praxis aus diesen Absichtserklärungen der Kirche zu ziehen. Konkret betrachten sie es als ihr Ziel, eine grundlegende Verbesserung der Behandlung des Judentums im katholischen Religionsunterricht zu erreichen. 18 Dazu gehört für sie zuerst eine Analyse der bestehenden Situation, konkret eine Bewertung von Schulbüchern, Bibeln, Lehrplänen Wld Curricula In weiteren Dokumentationen ihrer Arbeit präsentieren sie dann Leitlinien für die Behandlung dieses Themenbereichs im ReligionsWlterricht Wld auch ein Unterrichtsmodell für die Sekundarstufe ß. 19 Interessant ist in diesem Kontext die Art ihres Vorgehens, dokumentiert sie doch indirekt ihre eigene Hermeneutik in bezug auf die neutestamentlichen Texte Wld ihre AuslegWlg: Ganz betont stellen sie zu Beginn ihrer analytisch bewertenden und auch späteren produktiven 14 G.
BJEMER. Leitlinien. 17. Vgl. P. FIEDLER., Judentum, 7f~ G. BIEMER, Leitlinien. 13, 19, 81. 16 Vgl. P. FIEDL.ER., Judentum, 7f, G. BIEMER. Leitlinien. 19; F..rklarung der deutschen BischOfe Ober das Verhaltnis der Kircbe zum Judentmn vom 28.April 1980, besonders Pl.mkt V.7, abgedruckt in R. RENoroRFFIH. HENRIX (Hg.). Die Kirchen und das Judentum Dokumente von 1945-1985, MOnehen 21989. 17 Vgl. P. FIEDLER., Judentum, 8~ G. BIEMF.R.. Leitlinien, 13. 18 Vgl. P. FIEDLER. Judentum,~ G. BIEMER, Leitlinien. 9. 19 Vgl. G. BIEMER., Leitlinien; G. BIF.MERIA. BJESINGBRIP. FIEDLER u.a.. Juden. 15
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Arbeit ihre theologische Prämisse auf: In Anlehnung an die konziliare Verlautbarung "Nostra aetate" bzw. die "Vatikanischen Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung ,Nostra aetate' Artikel 4" vom !.Dezember 1974 sind sie davon überzeugt, daß das Judentum das Recht hat, sachgemäß als eigenständige, lebendige Religion dargestellt zu werden. 20 V.a sehen sie das Christentum in einer so einmaligen Beziehung zum Judentum, daß es für das eigene Selbstverständnis eine unersetzbare Bedeutung besitzt. 21 Folglich soll im Unterricht und in den entsprechenden Materialien ganz bewußt das beiden Religionen Gemeinsame herausgestellt werden und zu einer neuen Identität der Christen angesichts des Judentums führen, ohne die jüdische Religion dabei abzuwerten. 22 Dabei wird die Ambivalenz der Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Judentum von ihnen durchaus gesehen23 : Viele neutestamentliche Texte dokumentieren, daß das Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als Christus nicht zur Einigung, sondern zur Trennung zwischen Juden und Christen gefiihrt hat. Die offensichtlich dadurch bedingte polemische Redeweise nicht als Begründung für eine das Judentum abwertende Lesart zu benutzen, sondern zusammen mit den kirchenamtlichen Dokumenten eine Lesart neutestamentlicher Texte nach dem bekannten ,Verwerfungsmodell' abzulehnen, begründen sie wirkungsgeschichtlich: Juden als von Gott Verworfene darzustellen, weil sie in Jesus nicht den erwarteten Messias sehen, habe jahrhundertelang einen christlichen Antijudaismus geschürt und einen wirksamen Widerstand der Christen gegenüber der Shoah verhindert. 24 Gerade in der Bundesrepublik Deutschland, die staatsrechtlich die politische Verantwortung für den NS-Staat übernommen hat, in dem unter Mithilfe deutscher Christen 6 Millionen europäischer Juden ermordet wurden, sei hier eine besondere Sensibilität gefordert. 25 Der in den achtziger Jahren wieder erstarkende Antisemitismus in unserem Land gilt ihnen als zusätzlicher Anlaß für die Notwendigkeit, bei aller Ambivalenz ganz bewußt das Gemeinsame beider Religionen in der Vermittlungsarbeit zu betonen. 26
20
Vgl. P. FIEDLER, Judentum, 36; G. BIEMER, Leitlinien, 14. Vgl. P. FIEDLER., Judentum, 36; G. BIEMER. Leitlinien, 25. 22 Vgl. P. FIEDLER., Judentum, 36; G. BIEMER. Leitlinien, 22f, 25. 23 Vgl. G. BIEMER. Leitlinien, 22. 24vgl. ebd., 28, 31. 25 Vgl. ebd., 28; G. BIEMERIA BIESINGERIP. FIEDLER u.a., Juden, 36f 26 Vgl. G. BJEMERIA BIESINGERJP. FIEDLER u.a., Juden, 37. 21
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Wie nehmen die Freiburger Religionspädagogen innerhalb ihres didaktischen Konzepts die Bibel, speziell das Neue Testament als Urzeugnis christlichen Glaubens und Selbstverständnisses wahr? Wie bewerten sie antijudaistisch interpretierte Textpassagen? Biemer hebt in seinen Ausfiihrungen zu ihrer neutestamendichen Hermeneutik bezeichnenderweise hervor, daß die leitende Perspektive, unter der sie diese Texte lesen, nicht die Frage nach der Verhältnisbestimmung zum neutestamentlichen Judentum, sondern zum gegenwärtigen. Judentum sei. 27 Dieses Eingeständnis eigener Kontextualität und Perspektivität bei der Auslegung der Texte begründet er mit seiner Überzeugung, daß das bestehende "epochale Geflille"28 bei der Auslegung zu beachten sei: Gilt es, die Zeitbedingtheit der neutestamentlichen Aussagen entsprechend der klassischen historisch-kritischen Tradition wahrzunehmen, so ebenso die Zeitbedingtheit der gegenwärtigen Auslegung. Konkret auf die Aussagen neutestamentlicher Texte zum Verhältnis Christen - Juden bezogen, bedeutet das für ihn, daß sie in ihrem damaligen geschichtlichen Kontext zu sehen und zu erklären sind, jedoch nicht unverändert auf die heutige Situation übertragen werden können. Denn ihr ,Sitz im Leben' verändert sich s.E., werden sie heute gelesen. Die ,Offenheit des Schriftsinns' erfordere es s.E., gerade "nach Auschwitz" besonders sensibel nach angemessenen Verstehensweisen neutestamentlicher Texte zu suchen und sie auch jeweils kontextuell zu gewichten. 29 Als Ausdruck für die ,Mitte der Schrift' betrachtet er in diesem Kontext in Anlehnung an "Nostra aetate" Röm 9-11. Diese Verhältnisbestimmung des Paulus gilt ihm gerade angesichts des heutigen Lebenskontextes - als "hermeneutischer Schlüssel"30 aller anderen neutestamentlichen Texte. Röm 9-11 so hervorzuheben und zum Maßstab für die Auslegung anderer neutestamentlicher Texte zu machen, wird also wirkungsgeschichtlich und gegenwartsbezogen begründet: Angesichts der gegenwärtigen Rezeptionssituation "nach Auschwitz" erscheint es Biemer theologisch legitim und notwendig, die bleibende Verwiesenheil des Christentums auf das Judentum durch eine gezielte Rückbesinnung auf die paulinische Verhältnisbestimmung im Römerbrief zu betonen. 31
27
Vgl. G. BIEMER. Leitlinien. 31.
28Ebd 29 30 31
Vgl. ebd., 32. Ebd., 40. Vgl. ebd.
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Pointiert - und für Exegeten vermutlich provokant - ließe sich seine Argumentation so zusammenfassen: Nicht weil in Röm 9-11 die Abhängigkeit der Christusgläubigen vom Judentum mit einem Zweig gegenüber dem Stamm eines Ölbaums verglichen wird, hat eine entsprechende religionspädagogische Darstellung heute zu erfolgen, sondern: Angesichts bzw. wegen der fatalen Wirkungsgeschichte einer das Judentum abwertenden Verhältnisbestimmung ist eine Betonung der positiven Verwiesenheil des Christentums auf das Judentum, wie sie beispielsweise in Röm 9-11 erfolgt, theologisch i. S. der je situationsbedingt neu zu buchstabierenden Botschaft des universalen Heilswillens Gottes zu fordern. Der Exegese weist er eine entsprechende kontextbezogene, bewußt interessengeleitete Funktion zu: Ebenso wie sich pädagogische didaktische Arbeit immer gegenüber der Frage nach dem je zeitgeschichtlich Notwendigen verantworten muß, soll auch bei exegetischer Arbeit das betont werden, was dem gegenwärtig theologisch als notwendig erkannten Ziel der Neubesinnung des Verhältnisses Christen - Juden dient. 32 Fiedler und er deuten den ,Spielraum' exegetischen Arbeitens an, das sich bewußt bemüht, die in den neutestamentlichen Texten erkennbare Entfremdung zwischen Christusgläubigen und anderen Juden nicht als Wesen christlichen Selbstverständnisses zu werten. So kann es sich i. E. als aufschlußreich erweisen, auf die Entstehungszeit der Texte hinzuweisen: Die Konkurrenzsituation zwischen Christusgläubigen und anderen jüdischen Gruppierungen läßt verbale Abgrenzungsversuche, insbesondere polemische Sprechweise so als situationsgeprägte Äußerungen verständlich werden. Gerade der Verweis auf paränetische, ermutigende o. ä. Funktionen kann ebenfalls manchen polemisch wirkenden Text neu im obigen Sinne auslegen lehren. Ferner empfehlen sie, üblicherweise antijudaistisch interpretierte Texte auch immer im Kontext anderer, Gemeinsamkeiten betonender, das Judentum positiv darstellender Perikopen zu betrachten und so zu relativieren. 33 Doch sowohl Biemer als auch Fiedler beklagen, daß sie für ihre religionspädagogische Arbeit nicht auf entsprechende exegetische Erkenntnisse zurückgreifen können. 34 "Seit Beginn der Analysearbeit als der empirischen Ausgangsbasis war die Notwendigkeit offenkundig, das theologische Vorverständnis zu klären; dadurch sollte auch die 32
Vgl. ebd., 42. Vgl. ebd., 43, 45, 4~ P. FIEDLER. Judentum, 22f 34 Vgl. ebd., 14.
33
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folgende Aufbauarbeit ihr festes Fundament erhalten. Die Versuche [ ... ] brachten jedoch zunächst einmal ein beträchtliches Defizit zutage. Es bestand im Mißverhältnis von auftauchenden Fragen und allenfalls ansatzweise und bruchstückhaft vorhandenen Antworten aus Exegese und Systematik. So etwas wie eine christliche Theologie des Judentums befindet sich ja erst im Entstehen. Darin liegt auch das ganze Dilemma beschlossen. " 35 Da sie jedoch auf biblisch begründbare Argumente sowohl für ihre positive Verhältnisbestimmung zwischen Judentum und Christentum in den Leitlinien als auch für die Bewertung der Schulbücher i.S. der Korrelationsdidaktik nicht verzichten wollen, betrachten sie ihre eigenen Auslegungen trotz Rückversicherung bei einigen im christlich-jüdischen Dialog engagierten Exegeten und Systematikern als "Vorgriff''36 auf weitere entsprechende Arbeit. Gerade für die Exegese reklamieren sie entsprechenden Nachholbedarf. 37 Die Freiburger Religionspädagogen betonen die Dringlichkeit dieser Aufgabe, die sie nicht auf die Ergebnisse der Exegese warten lassen kann. So entsteht gerade in diesem thematischen Bereich eine höchst ungewöhnliche Verhältnisbestimmung aus der Sicht der Religionspädagogen angesichts des traditionell hierarchischen Gefüges der Disziplinen: Sie sehen die Exegese im Dienst ihrer eigenen Tätigkeit und beschreiben die betonte notwendige Zusammenarbeit in Form eines Zirkels, um nicht andererseits der Gefahr einer reinen Aktualisierung zu verfallen: "Die Aufgabe der Erziehung und des Unterrichts duldet [ ... ] keinen weiteren Verzug. Die Qualifikation der heranwachsenden Generation bei Christen und Juden zur Gesprächsfähigkeit miteinander [... ], die Qualifikation zum je spezifischen Beitrag des eigenen Glaubens zur ,Schalornisierung der Welt' muß bei den vorhandenen theologischen Möglichkeiten ansetzen. Es wird so ein didaktischer Zirkel von Theorie und Praxis entstehen, bei dem Postulate aus der erzieherischen und unterrichtlichen Praxis an die Fachwissenschaft Theologie weitergegeben werden müssen, so wie deren Ergebnisse in der Religionspädagogik und Religionsdidaktik zur Handlungsorientierung in der Praxis vermittelt werden sollen. " 38
G. BIEMER, Leitlinien, 17( P. FIEDLER. Judentum. 14. 37 Vgl. G. BIEMER. Leitsatze, 56. 35
36 38
Ebd., 38(
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Später veröffentlichte religionspädagogische Arbeiten, die ebenfalls in der Reihe .,Lemprozeß Christen Juden" erschienen sind, 39 können wesentlich mehr auf mittlerweile veröffentlichte neuere exegetische Erkenntnisse zurückgreifen. doch auch bei ihnen ist von der Anlage ihrer Arbeit her ihre eigene kontextuell bedingte Interessengeleitetheit unübersehbar. Sie sehen sich bei ihren Analysen nicht von der Exegese selbst geleitet nach dem Motto: ,Weil die Exegeten eine neue positivere Darstellung des Judentums im Neuen Testament bzw. eine bleibende Verwiesenheit neutestamentlicher Christologie auf das Judentum nachgewiesen haben, müssen wir jetzt diese Auslegungen auch Schülern vennitteln.' Vielmehr werden beispielsweise auch von Reck und Niekamp gesellschafts- und kirchenpolitische Motive und Ziele fiir die je eigenen Untersuchungen nach einer Darstellung des Judentums im Religionsunterricht bzw. einer .,Christologie nach Auschwitz" genannt. 40 Den exegetischen Erkenntnissen weist Niekamp dabei konzentriert die Funktion zu, das religionspädagogisch übergeordnete, theologisch als gegenwartsrelevant begründete Ziel einer israelbezogenen Christologie entsprechend argumentativ zu belegen. 41 Eine ähnliche Zuordnung zwischen Religionspädagogen und Exegeten zeigt sich auch innerhalb der evangelischen Theologie: Als Pendant zur Freiburger Projektgruppe kann die Duisburger Forschungsgruppe unter der Leitung von H. Kremers betrachtet werden. Sie begann ihre Analyse von Schulbüchern und Lehrplänen mit dem langfristigen Ziel einer verbesserten neuen Verhältnisbestimmung zwischen Christentum und Judentum bzw. zwischen Christen und Juden bereits in den sechziger Jahren, bezeichnenderweise motiviert durch Begegnungen mit israelischen Wissenschaftlern während einer Israelexkursion und durch eine empirische Untersuchung über die Vorurteile bundesdeutscher Schülerinnen in bezugauf Juden. 42 Noch 1983 beklagt Kremers, der auch an der bekannten kirchenamtlichen Erklärung der Synode der rheinischen Landeskirche von 1980 ,,Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" initiativ Vgl. beispielsweise U. REcK. Das Judentwn im katholischen ReligiOilSlDlterricht Wandel und Neueotwicldung, Freiburg 1990: G. NIEKAMP, Christologie nach Auschwitz. Kritische Bilanz filr die Religionsdidaktik aus dem christlich-jodiscben Dialog, Freiburg 1994. 40 Vgl. U. REcK, Judentwn, 54~ G. NIEKAMP, Christologie, 7f, 10. 41 Vgl. ebd., 13f, 250, 256-262. 42 Vgl. H. KREMF.Rs, Die wichtigsten Elgebnisse aus der Analyse der gegen\\trtigen religionspädagogischen Literatur und die Frage nach den Konsequenzen, in: M STOHR (Hg.), Judentwn, 32-53: 23( 34-36. 39
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mitgewirkt hat, daß die Exegese die neuen kirchlichen Impulse für eine gegenwartsangemessene Verhältnisbestimmung beider Religionen noch nicht aufgearbeitet habe. Gerade im Bereich der Darstellung der Tora wirft er ihnen vor, von Vorurteilen geprägt zu sein. Seine Prognose, es bedürfe noch vieler Jahre, bis ein Transfer von den klassischen theologischen Disziplinen zur Religionspädagogik möglich sei, zeigt umgekehrt die gegenwärtige Eigenständigkeit religionspädagogischer Arbeit auch auf evangelischer Seite. 43 Welches Selbstverständnis und welche Haltung sich die Religionspädagogen von den Exegeten wünschen, hat Kastning-0/mesdah/ in ihrer Studie44 über antijüdische Motive in evangelischen Religionsbüchern für die Grundschule vorgestellt. Sie betrachtet die Exegeten als Theologen, die den Anspruch haben sollten, "den Glauben an Gott - vor Gott selbst und vor der Welt - neu zu verantworten. "45 Daran mißt sich i.E. die Glaubwürdigkeit des Exegeten. Wie nimmt sie selbst diese Gegenwart wahr? Sie betont die Notwendigkeit, daß i.E. auch Exegeten als Fachtheologen Konsequenzen aus der judenfeindlichen Theologie angesichts ihrer Wirkungsgeschichte zu ziehen haben. 46 Sie sieht sie angemessen umgesetzt in der Bereitschaft der Exegeten, offen zu sein für mögliche neue Deutungen scheinbar feststehender antijüdischer Texte, bereit zu sein, neue Fragen an solche Texte zu stellen, einen neuen Blick auf sie zu wagen: ,,Sind die Theologen heute bereit, Konsequenzen aus einer judenfeindlichen Theologie der Vergangenheit zu ziehen? Sind sie bereit und imstande, die Problematik um Prozeß und Tod Jesu so zu durchdenk~ daß die Aussagen über die Heilsbedeutung des Todes Jesu auch die Juden einschließen? Dazu würde auch gehören, daß man bereit ist, die
Vgl. H. KREMF.Rs, Ergebnisse, 49f. 51, 53. Ein entsprechendes Selbstverständnis zeigt sich auch beim Coolenius-Institut Münster, das Ende der achtziger Jahre "Unterrichtshilfen zwn Thema Judentwn" herausgegeben ~ vgl. COMENrus-INsTm.rr (Hg.), Unterrichtshilfen zum Thema JudenhDn. Konunenticrte Dola.mentation von UnterrichtsentwOJfen lD1d Unterrichtsmaterialien. Erster Teil: Die Religion des Judentums, Münster 1987, 9. Ein solches kontextuell geptgtes didaktisches Vcqehen zeigt auch M. R01HGANGEL in seiner Dissertation: M. R01HGANGEL, Antisemitismus als religioosp!klagogische Herausfordenmg. Eine Studie \Dlter taondm:r Berücksichtigung von ROm 9-11 (Reihe: l..empmzcß Cluisten Juden), Freiburg 1994. 44 R I
45 Ebd.,40. 46
Vgl. ebd., 41.
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juristische Schuld der Juden nicht a priori für erwtesen zu halten, sondern in Frage zu stellen und neu zu prüfen.' 447 Das Selbstverständnis historisch-kritisch arbeitender Exegeten Angesichts dieser W ahmehmung einer Motivationsabhängigkeit exegetischen Arbeitens und der zuvor geschilderten Rollenzuweisung der Exegese im Dienste der Religionspädagogik erscheint es im hier thematisierten hermeneutischen Kontext interessant zu beobachten, wie Exegeten ihrerseits auf diese religionspädagogischen Ausfiihrungen und Kooperationsangebote reagieren. Ich fand von ihnen keine Reaktion auf die Arbeit der Freiburger Forschungsgruppe. Eine Ausnahme bildet natürlich Fiedler selbst, der offensichtlich in seiner Eigenschaft als Inhaber des Lehrstuhls für katholische Theologie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und Lörrach am Projekt mitarbeitete, sich selbst jedoch von seiner Qualifikation und seinen Veröffentlichungen eher als Neutestamentler präsentiert. 48 Im vorliegenden Band der Freiburger Projektgruppe hat ferner Ried/inger aus hermeneutisch-geschichtlicher Perspektive ihre Rolle eingenommen, als er von Biemer und seinen Kollegen gezielt um eine Stellungnahme zur Diskussion ihrer eigenen Forschungstätigkeit gebeten wurde. 49 Ried/inger bewertet die religionspädagogische Initiative insgesamt eher skeptisch. Zwar erkennt er die Dringlichkeit der Aufgabe an, die Darstellung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen zu verbessern. Doch seine Bewertung der exegetischen Erkenntnisse in diesem Bereich als erst vorläufige läßt ihn die religionspädagogische Vor-leistung als Arbeit ohne ausreichendes Fundament beurteilen. Er sieht in einer so interessegeleiteten Auslegung sogar die Gefahr, "mit opportunistischen Konzessionen und lauwarmer Freundlichkeit, Glaubensgegensätze zu überspielen. "so ,,Erhebliche Bedenken" 51 äußert er konkret gegenüber dem dritten Kapitel der Freiburger Leitlinien, in denen die neutestamentlichen Verhältnisaussagen über Israel und Kirche interpretiert werden. Die Favorisierung Ebd. Herv.... __.a....h ...."_.. . . - .....116..... 11\eUlCfSelts. 48 Vgl. seine Habilitationsschrift: Jesus und die Sünder, Frankfurt u.a. 1976~ ferner: P. fiEl). LERID. ZEL1ER (Hg.), Gegenwart und kommendes Reich: Schülergabe A. VÖGTLE zum 65.Geburtstag, Stuttgart 1975~ DERs.IR PBscH(Hg.), Zur Theologie der Kindheitsgescbichten: der heutige Stand der Exegese, Moneben 1981. 49 Vgl. G. BIEMER, Leitlinien, 14. 50 Ebd., 184. SI Ebd., 189. 47
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einzelner Texte, die Interpretation einiger kritisierender Textstellen als Polemik und die fehlende Erwähnung mancher sperriger Texte wie Röm 11,28, Gal 2,16 oder Röm 3,28 betrachtet er als Folge mangelnden methodischen Bewußtseins: ,,Daher hätte ich es begrüßt, wenn hier etwas Deutlicheres zur Methode gesagt worden wäre, nach der einige Texte zu Schlüsseltexten erhoben, andere als überholt erklärt Wld andere schweigend übergangen werden. " 52 Für ihn entsteht so der offensichtlich negativ bewertete Eindruck, daß die Erkenntnis hier dem Interesse untergeordnet werde. 53 Eine Lösung des Problems deutet er indirekt an, wenn er auf die Notwendigkeit einer zuerst einmal zu erfolgenden historisch-kritischen Exegese aufmerksam macht, "die die biblischen Schriftsteller zunächst in ihrem raum-zeitlichen Kontext ihre Sache sagen läßt, ohne ihnen sofort ins Wort zu fallen [.. .]." 54 Mit theologisch-interdisziplinärer Arbeit, v.a historisch-kritischer Exegese und der s.E. nicht genügend beachteten Exegesegeschichte verbindet er die Hoffuung, "ein tief verankertes, unerschütterliches Fundament" 55 für das Verhältnis von Christentum und Judentum zu bilden. Die Betonung der Vorläufigkeit der religionspädagogischen Arbeit der Freiburger Projektgruppe in diesem Kontext läßt m.E. umgekehrt die Schlußfolgerung zu, daß Ried/inger von einer gewissen Zeitlosigkeit als Ziel entsprechender wissenschaftlicher Erkenntnisse überzeugt ist: "Man muß [... ] zugeben, daß die theologischen Disziplinen gegenwärtig kaum in der Lage sind, in kurzer Frist ein gemeinsames Urteil über das Verhältnis von Christentum und Judentum zu formulieren. [... ] Unter diesen Umständen konnte auch in den ,Freiburger Leitlinien' noch keine von einem allgemeinen Konsens getragene Verhältnisbestimmung vorgelegt werden. Um so mehr muß man fiir die interdisziplinären Bemühungen der Verfasser dankbar sein. Sie haben [... ] sich nicht gescheut, das Ergebnis ihrer Arbeit zur Diskussion zu stellen, obwohl es zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Idealgestalt eines tief verankerten, unerschütterlichen Fundaments noch nicht erreichen kann." 56 Die Begründung der Vorläufigkeit religionspädagogischer Arbeit mit der z.Zt. erst noch zu leistenden entsprechenden exegetischen Tätigkei~7 bestätigt indirekt das aus Sicht der Religionspädagogen so wahrEbd. Vgl. ebd. 54 Ebd., 190. 55 Ebd., 188. 56 Ebd. Hervoritebtmg meinerseits. 57 Ebd., 188. 52 53
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genommene hierarchische Verhältnis zwischen Religionspädagogen und Exegese. Denn er spricht der historisch-kritischen Exegese nicht nur eine "fundamentale Bedeutung" 58 zu, sondern leitet aus ihr auch ein Primat gegenüber der Religionspädagogik ab. Es ist bei dieser Darstellung der Reaktion Ried/ingers bereits möglich geworden, seine Kritik mit Hilfe seines offensichdich dahinterstehenden Verständnisses von Exegese verständlich zu machen. Diese Überzeugung entspricht auch dem allgemeinen Selbstverständnis historisch-kritisch arbeitender Exegeten: Sie sehen sich auch heute der ursprünglichen Intention verpflichtet, biblische Texte in ihrer Eigenart als historische, 2000 Jahre alte Texte ernst zu nehmen. Richtete sich diese Textwahrnehmung anfangs im 18. und 19. Jahrhundert gegen eine kirchlich dogmatische Vereinnahmung und Auslegung der Bibel, 59 so sehen sich historisch-kritisch arbeitende Exegeten heute als "Anwalt des ursprünglichen Textsinns"60 gegenüber jeder Art von unmittelbarer Auslegung und ,Verwendung' biblischer Texte zur Deutung der Gegenwart bzw. der eigenen Lebensgeschichte. 61 Um diese Texte vor distanzloser Vereinnahmung zu schützen und zu verdeutlichen, daß man sie als historisch gewachsene, vom antiken Weltbild und entsprechenden uns heute nicht mehr bekannten Sprachformen geprägte Glaubenszeugnisse wahrzunehmen habe, entwickelten sie einen zunehmend differenzierteren Methodenkanon, mit dem sie diese Texte fiir den heutigen Leser ,fremd' machen, in Distanz stellen. 62 "Die Fremdheitjener unwiederbringlich zurückliegenden Texte des AT und NT ist das erste und stets entscheidende Ergebnis. •
58
Ebd., 184. Vgl. H. BERG, Ein Wort wie Feuer, München 1991, 92( K. MOll.ER., Artikel: Exegese/Bibe1wissenschaft, NHThG (1984) 332-353: 332~ ebenso: H ScHwEIZER, Biblische Texte verstehen. Albeitsbuch ZW' Henneneutik lDld Methodik der Bibelinterpretation, Stuttgart 1986, 11; W. STENGER, Biblische Methodenlehre, Dosseidorf 1987, 16f. 60 K. MOUER, Exegese, 333. 61 Vgl. H BERG, W~ 93, K. MÜLLER, Exegese. 333. 62 Vgl. R KAMPI..ING, Die Chance der Fremdheil Anmerlamgen zu einem Cbaraktcristilnm der Hl. Sduift Wld der historiscb-k:ritischcn Exegese, in: DERs.IB. ScHI.Eam.BERGER (Hg.). Wahmdummg des Fremden. Chri&1entwn lDld andere Religionen, Berlin 1996, 299-316: 301, 59
309. 63
K . MÜUBR., Exegese. 333.
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Autor mit seinem Text sagen? Bzw.: Was sagte der Text damals?M Dabei sind sie davon überzeugt, bei der Verbalisierung des ,verborgenen Sinnpotentials der Texte' 65 ihre eigene gegenwärtige Situation weitgehend ausblenden zu können. 66 So überrascht es nicht, daß sie zwischen der ursprünglichen Autorintention einerseits und der Rezeptionsgeschichte des Textes andererseits methodisch streng zu trennen versuchen. 67 Das gilt auch für die neuartige, die Rezeptionsgeschichte in die Auslegung einbeziehende Konzeption der Reihe EKK. Luz betont in seiner Erläuterung zu dieser Struktur das Gewicht, das er der Auslegungsbzw. Wirkungsgeschichte einer Perikope, definiert als "Geschichte, Rezeption und Aktualisierung eines Textes'<68, zubilligen will. Damit will er ein Desiderat historisch-kritischer Exegese überwinden: Die s.E. zu starke Distanzierung des Textes von der heutigen Lebenswelt der Bibelleser. 69 Doch seine metaphorische Formulierung, es gehe nicht darum, den ,garstig breiten Graben' der Zeit zwischen Exeget und historischer Entstehungssituation der Texte zu überspringen, sondern ihn hinab- und auf der anderen Seite wieder hinaufzusteigen70, macht ebenso wie sein Auswahlkriterium, nur jene Auslegungen im Kommentar heranzuziehen, "die dem ursprünglichen Textsinn in veränderter Situation nahekamen" 71 , deutlich, daß auch er weiterhin davon überzeugt ist, diesen ursprünglichen Textsinn unter nahezu vollständiger Ausblendung der eigenen Person methodisch mit Hilfe der historischkritischen Exegese offenlegen zu können. 72 Nur so erscheint auch sein konkretes methodisches Vorgehen nachvollziehbar, die historisch-kritische Exegese (genannt ,,Erklärung") von der sogenannten "Wirkungsund Auslegungsgeschichte" zu trennen und erstere zum Maßstab der Auslegungen zu erheben: ,,Zu den Auslegungen exegetisch Stellung zu nehmen ist leicht. " 73 Die bestimmt vorgetragenen Auslegungen mit
Vgl. H. FRANKEMCU..E., Biblische Handlungsanweisungen Beispiele pragmatischer Ex~ese, Mainz 1983, II f 6 Vgl. D. SANGF.R., Vedündigung, 4. 66 Vgl. R KAMPuNa, Chance, 312; K. MÜU..ER., Exegese, 334. 67 Vgl. R KAMPuNa, Antijudaismus, 113f; D. SANGF.R., Vedündigung, 3. 68 U. Luz. Das Evangelium nach MatthAus (Mt 1-7) (EKK I/I), ZOrich u.a 1985, 78. 69 Vgl. ebd., 79. 10 Vgl. ebd., 80. 71 Ebd., 78. 72 Vgl. ebd., 81. 73 Beispielsweise ebd., 257. 64
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autororientierten Formulierungen wie ,,Matthäus will also nicht" 74 bewerte ich ebenfalls als Indiz für die Überzeugung von Luz, mit Hilfe des historisch-kritischen Methodenkanons den ursprünglichen Textsinn weitgehend unabhängig vom gegenwärtigen zeitgeschichtlichen Kontext der eigenen Person erfassen zu können. Diese Auffassung findet sich auch beispielsweise bei Sänger und Kamp/ing, die im Hinblick auf judenkritische Textstellen die Rezeptionsgeschichte als vorurteilsbelastet bewerten und es als ihre Aufgabe betrachten, vorurteilsfrei - objektiv75 - die ursprüngliche Intention des jeweiligen neutestamentlichen Autors herauszuarbeiten. 76 Dabei gilt es betont deutlich zwischen dem Selbstverständnis historisch-kritisch arbeitender Exegeten und ihrem Verständnis der Eigenart der Texte zu trennen. Während sie mit der Überzeugung, von der eigenen Person und der eigenen Lebenswelt bei der Auslegung abstrahieren zu können, ihren eigenen exegetischen Erkenntnissen damit eine gewisse Situationsunabhängigkeit und Zeitlosigkeit unterstellen, betonen sie gerade bei redaktionskritischer Betrachtung der Bibeltexte die zeitliche Eingebundenheit derselben, indem sie die Bibeltexte gerade als Teil einer einmaligen historischen Kommunikationssituation wahmehmen.n Wie dominierend dieses Selbstverständnis einer subjektunabhängigen und damit gegenwartsunabhängigen historisch-kritischen Auslegung ist, zeigt sich beispielsweise in den hermeneutischen Ausführungen Sängers zum Problem des Umgangs mit Antijudaismen im Neuen Testament. Zwar betont er die Notwendigkeit, den eigenen zeitgeschichtlichen Kontext ,nach Auschwitz' als Exeget wahrzunehmen und zu beachten, aber er lehnt es ab, ihr eine bestimmende Rolle für die Textauslegung zuzubilligen. 78 Sein Argument lautet bezeichnenderweise: Die Vergegenwärtigung eigener Kontextualität "ist nicht davor gefeit, daß die Einsicht in die Vorurteilsstruktur des Verstehens ihrerseits als eine ,Rehabilitierung des Vorurteils' mißverstanden werden kann." 79 Diese Befürchtung, die Qualität einer solchen Auslegung könne 74Ebd.,
179. Vgl. D. DoRMEYER. Das Verllaltnis von ,wilder' und hi&1oriscb-kritischer Exegese als methodologisches und didaktisches Problem, JRP 3 ( 1986) 111-126: 120. 16 Vgl. R KAMPLINo, Anfang, 113f~ D. SANGER, Verkondigtmg, 3. n Vgl. W. EooER. Methodenlehre zum Neuen Testament Einftlhrung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg 41996, 185. 78 Vgl. D. SANGER, Vcrldlndiglmg, 32. 75
79
Ebd.
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schaden, weil das Eingeständnis eigener Kontextualität als Vorurteil bewertet werden körme, wird nur verständlich vor dem Hintergrund eines Ideals, das die Objektivität wissenschaftlicher Erkermtnis mit den Attributen ,subjektunabhängig' und ,zeitlos gültig' gleichsetzt. Exegeten, die sich selbst so verstehen, körmen sich verständlicherweise nicht mit der bereits skizzierten Vorstellung von Kastning0/mesdah/ anfreunden, auch eine historisch-kritische Bibelauslegung sei entscheidend von der entsprechenden Bereitschaft und Motivation der Exegeten selbst abhängig. 80 Wie erfolgt nun die historisch-kritische Auslegung judenkritischer neutestamentlicher Texte? Zu welchen, nach eigenem Verständnis vorurteilsfreien, autororientierten Erkermtnissen gelangen die Exegeten? Hier ins Detail zu gehen, würde nicht nur den Umfang des Aufsatzes sprengen, sondern auch das Verstehen der hier im Vordergrund stehenden Argumentationsweise erschweren. Deshalb greife ich hier auf die zusammenfassende Darstellung Theißens zurück, der reflektierend folgende Fragehaltung und Vorgehensweise der historisch-kritisch arbeitenden Exegeten beschreibt: Gilt es mittlerweile als Konsens in der historischen und theologischen Forschung, daß der moderne Antisemitismus mit seinem ,Höhepunkt' des Genozids der europäischen Juden erst durch einen jahrhundertealten christlichen Antijudaismus entstehen kormte, so stellt sich für Exegeten die Frage, wie alt dieser christliche Antijudaismus ist. Karm man ihn bereits in neutestamentlichen Texten nachweisen? Wäre das der Fall, so müßte sich angesichts des Charakters der Bibel als Urzeugnis christlichen Glaubens verschärft die Frage nach der Bewertung eines solchen Antijudaismus steUen: 11 Gegenüber der von Wi/clams aufgestellten These, er gehöre essentiell zum Christentum hinzu, 12 versuchen andere Exegeten die neutestamentlichen Antijudaismen zu relativieren. 13 Theißen führt in seinem Aufsatz zwei für ihn akzeptable Vorgehensweisen14 historisch-kritisch arbeitender Exegeten auf: die textimmanente und die historische Relativierung. Vgl. R. i
11
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Die textimmanente Relativierung wird dadurch erzielt, daß Exegeten immer wieder neben den allzu bekannten Antijudaismen aufTextstellen im Neuen Testament bzw. oft auch des gleichen Autors hinweisen, in denen Juden positiv beschrieben werden. Diese kontextuelle Lesart wird von Theißen als notwendig bewertet: "Auch wenn es noch so selbstverständlich ist, so muß man doch immer wieder betonen: Die antijudaistischen Aussagen des Neuen Testaments sind im Kontext der jeweiligen Schrift bzw. aller Schriften eines Verfassers zu lesen. Neben den antijüdischen Aussagen gibt es andere. Wir finden eine starke Spannung zwischen positiven und negativen Urteilen."15 Konkret beschreibt er, daß Exegeten neben I Thess 2,16 auch Röm II zitieren. Im Hinblick auf Mt 23 hält er selbst Mt I 0,6 und 15,24 als innertextliche Relativierung für angebracht: Die Sendung Jesu wie die der Jünger gilt zunächst den "verlorenen Schafen" Israels. Und mit Thyen betont er die Ambivalenz des Johannesevangeliums: "Auf der einen Seite werden Juden als ,Teufelskinder' denunziert, auf der anderen Seite sagt Jesus zur Samaritanerin: ,Ihr (d.h. ihr Samaritaner) betet an, was ihr nicht kennt, wir (d.h. wir Juden) beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden' (4,22). Hier wird Juden wahre Gotteserkenntnis und Vermittlung des Heils zugesprochen. Die Abwertung der Juden als ,Teufelskinder' in Joh 8 steht unverkennbar auf dem Hintergrund einer starken inneren Bindung an das Judentum."16 Neben diesem von ihm als positiv gewerteten Versuch, so auch die judenfreundlichen neutestamentlichen Aussagen neu ins Bewußtsein zu rücken, 17 sieht Theißen als zweite mögliche Lesart die historische Relativierung: Exegeten machen darauf aufinerksam, daß es für ein angemessenes Verstehen historischer Texte notwendig ist, den ursprünglichen Kommunikationszusammenhang, bestehend aus Autor, Adressaten und ihrer gemeinsamen historischen Lebenswelt, zu beachten. Gerade die Bestimmung der ursprünglichen Adressaten entscheidet s.E. über die Wertung des Textcharakters. Er verdeutlicht das an einem Beispiel: "Wenn jemand sagt, die deutsche Geschichte sei ein Trauerspiel mit kriminellem Höhepunkt - so macht es einen Unterschied, ob er ein Deutscher oder Nicht-Deutscher ist. Was im ersten Fall Selbstkritik ist, könnte im zweiten Fall Vorurteil sein."11
85
Ebd, 540.
86
Ebd., 541.
87 88
Vgl. ebd., 542. Ebd., 542.f
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Die Vergegenwärtigung der meist jüdischen Herkunft der neutestamentlichen Autoren läßt für ihn die Texte folglich in einem anderen Licht erscheinen. Zusammen mit der von Alttestamentlern herausgearbeiteten paränetischen Funktion bestimmter polemischer Redewendungen und Motive erweisen sich viele, vermeindich antijudaistische Texte als Ausdruck innerjüdischer Auseinandersetzungen. Beispielhaft sei Theißens entsprechende Auslegung von 1 Thess 2, 14-16 zitiert: "Was er [Paulus, H.B.-S.] über Juden schreibt, ist Selbstkritik eines Juden arn eigenen Judentum. In der Tat greift er eine lange Tradition jüdischer Selbstkritik in 1 Thess 2, 14-16 auf: Schon immer hat man sich im Judentum die Tötung von Propheten vorgeworfen und mit dieser Selbstbezichtigung die Katastrophen der eigenen Geschichte gedeutet. Paulus reiht Jesus in die Reihe der getöteten Propheten ein [ ... ]. "89
Seine Ausführungen zur historischen Entwicklung der Trennung der Christusgläubigen aus dem Verband des Judentums lassen die judenkritischen Texte als Ausdruck eines schmerzhaften Prozesses verständlich werden, der gerade durch die Gemeinsamkeiten im Glauben an Jahwe, in der Anerkennung der Heiligen Schrift als Offenbarungszeugnis und in der Akzeptanz der Tora als verbindliche Lebensweisung seine Schärfe gewann und der uns die heute fremde Polemik neutestamentlicher Texte erklärlich werden läßt. 90 Ähnlich erklärt auch Kampling diese polarisierenden antithetisch formulierten neutestamentlichen Texte als typischen Ausdruck religiöser Minderheiten zum Zweck eigener Identitätsfindung. Ebenso wie er beurteilt auch Sängeraus dieser historischen Einordnung die Konsequenz ziehend - solche judenkritischen Äußerungen als Teil der situativ bedingten Verkündigung, nicht jedoch als das Wesen der christlichen Botschaft. 91 Gerade an dieser Folgerung wird die Intention durchaus belegbar, die Theißen diesen historischen Relativierungsversuchen unterstellt: "Mit solch einer historischen Einordnung der antijüdischen Aussagen des Neuen Testaments verbindet sich oft die Hoflhung, daß sie eng mit einer bestimmten historischen Situation verbunden werden - und damit die Suggestion zeitloser Geltung verlieren. " 92
Ebd., 543. Vgl. ebd., 543-546. 91 Vgl. R I
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Argumente für eine sich als kontextuell verstehende Exegese Theißens These, daß diese historisch-kritische Exegese durchaus interessegeleitet und nicht zeitlos objektiv gültig ist, erfahrt durch folgende Beobachtung m.E. entscheidende Plausibilität: Das Ergebnis dieser hier skizzierten historisch-kritischen Bibelauslegung deckt sich mit den Interpretationsstrategien und -ergebnissen der Freiburger Forschungsgruppe, die ihrerseits jedoch ganz bewußt eine interessegeleitete Exegese im Vorgriff auf weitere entsprechende historisch-kritische Auslegungen betrieben haben. Wie bereits beschrieben, war es ihr Ziel, mit Hilfe der Auslegung neutestamentlicher Texte die Überzeugung der bleibenden Verwiesenheit des Christentums auf das Judentum argumentativ zu belegen. Exegese wurde bewußt in den Dienst dieser religionspädagogisch übergeordneten Aufgabe gestellt. Indem Fiedler bei seiner Auslegung der Schulbücher und Lehrpläne beklagt, daß dort keine Texte Aufuahme finden, die die Juden positiv darstellen, 93 plädiert er indirekt für eine entsprechende innertextliche Relativierung, wie sie Theißen auch bei historisch-kritisch arbeitenden Exegeten festgestellt hat. Ebenso wie er betont auch Biemer die Notwendigkeit~ die jeweilige historische Entstehungssituation der Texte hervorzuheben und die Polemik beispielsweise in Hehr 8-1 0 oder Mt 23 als Ausdruck einer innerjüdischen Konkurrenzsituation bzw. des historischen Trennungsprozesses zwischen Juden und Christen verstehen und relativieren zu lernen. 94 Wie inhaltlich nah wirkt Biemers folgende Erkenntnis der betonten Differenzierung zwischen Evangelium und verkündigungsbedingter Polemik bei Sänger und Kampling: "Es ist also bereits im Neuen Testament deutlich, daß sich aufgrund der Spannung zwischen dem Anspruch von Christus her und dem polemischen Umgang von Christen und Juden und der jüdischen Heilsgeschichte kein Anlaß zur Herabminderung des jüdischen ,Stehens in Gottes Heil' (Glaube) rechtfertigen läßt. " 95 Zu beachten gilt es dabei, daß Biemer diese Interpretation nach eigenen Aussagen "in maßgeblicher Orientierung an Röm 9-11 " 96 vorgenommen hat. Das nahezu identische Ergebnis einer solchen betont interessegeleiteten Arbeit mit dem einer Exegese, die sich als ,objektiv' und zeitlos versteht, macht nachdenklich im Hinblick auf den eigenen Anspruch Vgl. P. FIEDLER. Judentum. 18-20. Vgl. G. BIEMER. Leitlinien. 3lf, 43, 45; P. FIEDLER. Judentum. 23. 95 G. BIEMER. Leitlinien. 49. 96 Ebd.
93
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historisch-kritischer Exegese: Ist ihre Auslegung noch als kontextuell unabhängige, vom Ausleger und seiner Zeit abstrahierte Exegese zu kennzeichnen, wenn Religionspädagogen eingestehen, daß sie tendenziell zu den gleichen Ergebnissen gelangen, gerade weil sie die Intention hatten, eine neue veränderte Verhältnisbestimmung zu untermauem? Müssen Exegeten hier nicht vielmehr auch ihre eigene Kontextualität stärker und konsequenter reflektieren und sie sich ggf eingestehen? Gerade diese Frage für die exegetische Hermeneutik zu evozieren und die Reflexion darüber als notwendig zu erweisen, darin liegt m.E. der entscheidende Impuls der Religionspädagogik für das exegetische Selbstverständnis! Gerade weil bei dieser Thematik der seltene Fall vorliegt, daß die Religionspädagogik im Vorgriff auf exegetische Erkenntnisse betont interessegeleitet selbst Exegese betrieb, 97 die sich dann im nachhinein mit behaupteten objektiven exegetischen Erkenntnissen deckte, konnte sich die Frage nach der Kontextualität historischkritischer Arbeit gerade hier als besonders einsichtig erweisen. Angesichts der bisherigen, zugegebenermaßen auch aufwendigen Argumentationsstruktur ist eine positive Antwort auf diese Frage von mir zu erwarten: Mein Plädoyer für eine kontextuelle historisch-kritische Exegese ,nach Auschwitz' impliziert, daß die Exegeten stärker als bisher ihre eigene Rolle im Auslegungsprozeß wahrnehmen sollten. 98 Dazu gehört m. E. die Anerkennung der eigenen gesellschaftlichen und (zeit)geschichdichen Eingebundenheit, die Offenlegung der eigenen Motivation und leitenden Fragestellung bei der Auslegung biblischer Texte. Die damit verbundene, auch sprachlich redlicherweise zu verdeutlichende Relativierung eigener Erkenntnisse entspricht nicht der traditionellen Vorstellung, wissenschaftliche Erkenntnisse seien weitgehend personenunabhängig gewonnen. Mit diesem Plädoyer wird also die Frage nach der eigenen Wissenschaftlichkeit, ein als höchst elementar 97
Vgl. die Einschatzung des VerilAltnisses zwischen Theologie Wld kirchenamtlichen Erklarungen, die Helsper seinerseits als impulsgebend ftlr den katholischen Religionsuntenicht wertet M. HELsPER., Christlicher Religionsunterricht nach Auschwitz. Ein Beitrag zur katechetiscllen Selbstkorrektur der Kirche(n), rahs 25 (1994) 75-79: 76. Vgl. auch die entsprechende Einschatzung des VerhaltDisses zwischen Theologie und kirchenamtlichen Erklarungenbei F.W. MARQUARDT, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur ~ MOnehen 1988, 396. 9 Vgl. auch die entsprechende Fordenmg FrankemOlles in: H. FRANKEMÖLl..H, Wurzeln, Aufsatz: Die Entstdnmg des Christentums aus dem Judentum. 20-23~ vgl. ebenfalls die hermeneutiscben Reflexionen zu Beginn fast aller seiner Aufsatze.
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einzuschätzender Bereich, berührt. Die Skepsis und der Widerstand, die angesichts dessen zu erwarten sind, erfordern eine umfassende, plausibel wirkende und hoffentlich überzeugende Begründung. Zunächst einmal möchte ich anhand zweier gegensätzlicher historisch-kritischer Auslegungen zu einer oft als gesetzeskritisch interpretierten Perikope (Mk 5,24-34) aufzeigen, welche Erklärungsnöte entstehen, beansprucht man als Exeget, mit dieser Methode subjektunabhängig die Intention des Autors offengelegt zu haben. Eine m.E. wirklich überzeugende Erklärung fiir dieses auch in der Literaturwissenschaft bekannte Phänomen zweier unterschiedlicher Interpretationen desselben Textes mit der gleichen wissenschaftlich anerkannten Auslegungsmethode liefert die Rezeptionsästhetik. Thre Vertreter reflektierten den Lesevorgang und entwarfen ein Textmodell, das eine Vielfalt auch methodisch abgesicherter Textinterpretationen nicht als Manko, sondern als vom Wesen eines Textes her notwendiges Phänomen erscheinen läßt. Diese Überzeugung der Rezeptionsästhetiker findet Unterstützung durch die Erkenntnisse der kognitiven Entwicklungspsychologie, die ihrerseits vom Leser aus das Phänomen der Textrezeption als höchst aktiven, vom Leser gesteuerten Wahrnehmungsvorgang erscheinen läßt. Da beide Ansätze vermudich nicht bekannt sind, jedoch die elementare Begründung fiir mein Plädoyer einer kontextuellen Exegese darstellen, seien sie zumindest kurz als zweites Argumentationselement skizziert. 99 Abschließend soll der mögliche Gewinn einer solchen Hermeneutik historisch-kritischer Exegese gerade für die Diskussion um Antijudaismen im Neuen Testament angedeutet werden. Gegensätzliche historisch-kritische Auslegungen zu Mk 5,24-34 Sänger skizziert den gegenwärtigen Stand der exegetischen Diskussion als intensiv und zunehmend auch durch das christlich-jüdische Gespräch beeinflußt. Dabei wertet er die erschienene Literatur zu dieser Thematik als uferlos und kontrovers: ,,Fast alles scheint gesagt, nahezu allem wurde widersprochen." 100 Diese Beurteilung trifft auch auf die Auslegung einer Perikope zu, die bis in die jüngste Zeit von historisch-kritisch arbeitenden Exegeten 99
Eine ausfi1hrliche DarsteUung findet sich in meiner Dissertatioo: H. ßE.E-ScHROEDTER. Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwartiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwickluogspsycbologische Studien. Stuttgart 1998. 100 D. SANGF.R. Verlcündigtmg, 1.
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als gesetzeskritisch interpretiert wurde. 101 Es handelt sich um die Erzählung der Heilung einer namenlosen blutflüssigen Frau durch Jesus in Mk 5,24-34. Exegeten wie Gnilka, Pesch und Trummer folgern ebenso wie Grundmann aus der Darstellung des Leidens der Frau, daß jene mit ihrer Berührung Jesu gegen die kultische Bestimmung verstoße, die in Lev 15,25ff festgeschrieben sei. 102 Dort werde festgehalten, daß krankhaft blutflüssige Frauen ebenso wie menstruierende sich sozial zu isolieren hätten, da eine Berührung anderer durch sie kontaminierend wirke und jene dann ebenfalls als Unreine aus bestimmten gesellschaftlichen und kultischen Bereichen ausgeschlossen würden. Grundmann interpretiert die Heilung der Frau durch den markinischen Jesus deutlich als Sanktionierung ihrer Handlung und folgert daraus, das sei zugleich auch als Aufhebung des jüdischen Kultgesetzes durch Jesus zu interpretieren. "Nach jüdischem Gesetz ist sie Übertreteriß der Satzung[ ... ]. Jesus antwortet ihr ohne einen Vorwurf Das Gesetz und der auch in ihm vorausgesetzte dinghafte Reinheitsbegriff sind für ihn zu Ende. Er kann nicht verunreinigt werden." 103 Indirekter nur deuten m.E. Pesch und Gnilka diese Folgerung an: Doch ihre Interpretation des Verhaltens der Frau als Verstoß gegenüber Lev 15,25ff legt eine solche Deutung ebenfalls nahe, auch wenn sie Jesus nicht explizit ein torakritisches Verhalten unterstellen. "Der Entlaßgruß Jesu interpretiert das Handeln der Frau als Glaube. Dieser Glaube, der als vollgültiger anerkannt, aber nicht näher entfaltet wird, ist die Grundlage gewesen, auf der ihr Rettung und Gesundheit geschenkt wurden. Was die Frau tat, ist nicht vergessen. Aber jetzt wird deutlich, daß sie nicht im blinden Vertrauen auf magische Kräfte, sondern aus Glauben handelte." 104 Im Kontext der vorherigen Deutung der Krankheit als vom jüdischen Kultgesetz sanktionierte Krankheit erscheint es mir begründet, Gnilka zu unterstellen, er betrachte das 101
Vgl. beispielsweise W. GRUNDMANN, Das Evangelimn nach Marlrus, Bertin 81980, 150( oder: P. TRUMMER, Die blutende Frau, Freiburg 1991, 115, 129~ vgl. auch die entsprechende Einschätzung bei B. KAHL, Jairus und die verlorenen Töchter Israels. Sozioliterariscbe ÜbcrleglDlgen zmn Problem der GrenzOberschreitung in Mk 5,21-43, in: L. 8cHoriROFFIM-T. WACKER (Hg.). Von der Wmzel getragen. Christlich feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u.a. 1996, 61-78: 63. 102 Vgl. J. GNILKA, Das Evangeliwn nach Marlrus (Mk 1-8,26) (EKK 11/1), Zürich u.a. 1978, 214f. R PEscH, Das Madusewngeliwn, l Teil, Einleitung und Konunentar zu Kap. 1,1-8,26 (HibK BandIT). Freiburg u.a. 1976,301, P. TRUMMER., Frau, 115. 103 W. GRUNDMANN, Evangeliwn, 150( 104 J. GNII..KA, Marlrus, 216. Hervorbebq meinerseits.
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Verhalten der Frau als Überschreitung der gesetzlich vorgegeben Tabugrenze. Wie erklärt sich sonst ferner hier die Verwendung des Begriffs ,aber' und die Beschreibung der Tat als ,nicht vergessen' in diesem Zitat, wenn nicht als Unterstellung eines unerlaubten Handelns? Indem Gnilka hier betont, daß Jesus ihr Verhalten als Glaube interpretiere, legt sich für den Leser dieses Kommentars zumindest die Folgerung nahe, der markinische Jesus unterstütze dieses Handeln als Gesetzesüberschreitung. Eine ähnliche Lesart legt sich m.E. auch für den Kommentar von Pesch nahe. Indem auch er das Verhalten der blutflüssigen Frau als Überschreitung kultischer Vorschriften interpretiert, ergibt sich offensichtlich ebenfalls für ihn eine Interpretation der Heilung des markinischen Jesus als gesetzeskritische: "Die Frau ist aus den ihr gesetzten tabuisierten Grenzen ausgebrochen; von Jesus her kommt ihr Ermutigung und Bestätigung zu." 105 Auffällig erscheint mir in diesem Zusammenhang seine einlinige, mit einer erstaunlichen Sicherheit vorgetragene Folgerung aus der beschriebenen Krankheit der Frau. "Der Erzähler spricht in der Terminologie von Lev 15 [... ]und setzt gewiß voraus, daß die Berührung einer Blutflüssigen unrein macht (vgl. Zabim 5,1.6)." 106 Er differenziert hier zwar deutlich zwischen vorliegender Beschreibung, die er philologisch analysiert, und seiner Folgerung, damit sei zweifellos von Markus das jüdische Kultgesetz, wie in Lev 15 beschrieben, narrativ angedeutet. Doch für ihn lassen die Verwendung der Begriffe ,Blutfluß', ,Quelle des Blutes' und ,berühren' zugleich auch nur diese eine Interpretation der Krankheit zu. Daß sich erst aus dieser Schlußfolgerung eine direkte oder indirekte torakritische Interpretation der gesamten Perikope ableiten läßt, wurde bereits auch bei der Darstellung der Interpretationen von Grundmann und Gnilka sichtbar. Kahl erscheint diese Perikope - so interpretiert - als neutestamentlich begründbare Rechtfertigung für eine diffamierende Abwertung des Judentums als ,Gesetzesreligion' und als Möglichkeit, u. a. mit Hilfe dieses Textes eine strikte Abgrenzung vom Judentum als christliches Selbstverständnis zu fördem. 107 Sie selbst legt eine andere, streng am Text und seinen biblischen Bezügen orientierte Auslegung vor, die die fraglose Voraussetzung anderer historisch-kritischer Interpretationen, Lev 15,25ff als hermeneutischen Schlüssel zu betrachten, m.E. sehr
PEscH. Marlrusevangelium, 304.
10.5 R. 106 Ebd., 107
Ebd.
301. Hervorhebung meinerseits.
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plausibel in Frage stellt. Sie setzt dabei genau an jener philologischen Beobachtung an, die auch Pesch andeutet, zieht daraus jedoch eine andere Schlußfolgerwtg: "Das gravierendste Argument gegen eine Lesart, die das Außerkraftsetzen des Reinheitsgesetzes zum henneneutischen Schlüssel von Mk 5,21ff macht, liefert jedoch der Text selbst. Zwar verwendet er mit Begriffen wie Blutfluß, Quelle des Blutes, berühren Schlüsselterminologie aus Lev 12 und 15. Um so erstaunlicher ist, daß der für Lev 12-15 eigentlich zentrale terminologische Bezug auf Reinheit/Unreinheit in Mk 5,21ff mit keiner Silbe auch nur angedeutet wird. Die Krankheit der Frau wird ausschließlich in den Kategorien von Leiden, Ausweglosigkeit und sukzessiver Verarmung geschildert, ihre Heilung durch Jesus als Rettung von einer Plage und Gesundwerden beschrieben. Jeglicher Hinweis auf den kultischen Begriffsbereich des Reinheitskodex fehlt. [... ] Indem die Geschichte ausschließlich aus dem Blickwinkel des Menstruationstabus gelesen wird, verstellt sie die Wahrnehmung dafür, daß die Frau mit ihrer Dauerblutung an einer furchtbaren, kräfte- und im buchstäblichen Sinne lebensverzehrenden Krankheit leidet, die rein physiologisch soziale Isolation und Stigmatisierung bis hinein in den Intimbereich bedingt, auch ohne daß zusätzliche Absonderungsbestimmungen angenommen werden müssen. Nicht ihre Unreinheit bringt sie an den Rand des physischen und finanziellen (und damit auch sozialen) Abgrunds, sondern ihr Leiden und die nicht nur nutzlosen, sondern auch den Zustand verschlimmemden Torturen, die sie unter den Händen der Ärzte erleidet. Nicht das Priestergesetz ist schuld an ihrer auch ökonomisch verzweifelten Lage, sondern das Marktgesetz der antiken Medizin - ohne Gesundheit zu erlangen, hat sie ihr ganzes Vennögen dafür ausgeben müssen. Das, was die Frau zu ihrer Rettung braucht, ist nicht die Befreiung von der Tora, sondern die Befreiung vom Elend ihrer Krankheit - mindestens in der Darstellung des Markus." 108 Den bei Theißen und Pesch unter anderem angeführten Beleg für die gesetzeskritische Interpretation, sie nähere sich Jesus von hinten und zeige "Furcht und Zittern" (Mk 5,33) bei der Begegnung mit ihm, eben weil sie bewußt ein Kultgesetz überschritten habe, 109 entkräftet sie so: Allein die Vorwärtsbewegung Jesu in Richtung des Hauses von Jairus, gefolgt von der Volksmenge, erkläre diese Annäherungsmöglichkeit "Auch ohne einen Rekurs auf die Berührungsverbote von Lev 15 erlos B. KAHL, Jairus, 66( Vgl. R PEscH. Marlruscvangeliwn. 304~ G. THEISSHN. Urschriftliche WWlderseschichten. Gütersloh 1974, 137. 109
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scheint es logisch, daß die Frau in dieser Situation Jesus allenfalls von hinten und an den Kleidem zu berühren versucht (5,27f), alles andere wäre aussichtslos." 11 ° Ferner erscheint es ihr ausreichend plausibel, die Reaktion der Frau mit Furcht und Zittern allein damit zu erklären, daß sie sich der Verletzung eines sozialen Tabus schuldig fühlt: Sie befindet sich ökonomisch und sozial gesehen am Rande der Gesellschaft und hat es trotzdem gewagt, ungefragt von Jesus Hilfe einzufordern. 111 Dtre Interpretation sieht sie ferner dadurch untermauert, daß sich nicht nur in dieser Erzählung, sondern auch "überhaupt an keiner Stelle sonst eine direkte Äußerung Jesu zur Frage der weiblichen Unreinheit finden läßt." 112 Der Auftrag an den geheilten Aussätzigen in Mk 1,42, beim Priester ein Sühneopfer darzubringen, unterstreicht i.E. eher die gesetzestreue Haltung des markinischen Jesus. 113 Wie erklären sich- methodologisch betrachtet- solche Unterschiede in der wissenschaftlichen Exegese eines Bibeltextes? Kampfing sieht im Rahmen der traditionell verstandenen historischkritischen Exegese die Möglichkeit einer Revision einer Auslegung nur dann gegeben, wenn ein ,,Mehr an Wissen" 114 über den historischen Kontext mit bisher gültigen Aussagen nicht mehr vereinbar erscheint. 115 Nur so läßt sich die Gültigkeit, die Objektivität der jeweils vorliegenden historisch-kritischen Auslegung weiter aufrecht erhalten. Eine solche additive Ergänzung der bisherigen Auslegung von Mk 5,24-34 mit neuen historischen Erkenntnissen hat jedoch offensichtlich nicht Kahls neue Interpretation verursacht. Vielmehr scheint ihr Unbehagen über die antijudaistische Rezeptionsgeschichte des Textes sie motiviert zu haben, nach einer historisch-kritischen, am Text abgesicherten alternativen Auslegung zu suchen. Thre Bereitschaft, die I JO
8. I
111 Vgl. ebd. 112 Ebd., 67.
Vgl. ebd., 66. Vgl. in diesem Kontext auch die exegetischen Beitrage von G. 0AtTI7JiN· in denen er inuner wieder auf den s.E. in der Forschq vernachlässigten Aspekt der Gesetzeserftlllq in der Jesustradition aufinerk.sam macht G. DAtmENBERG, Gesetzeskritik und Gesetzesgehorsam in der Jesustradition, in: K. KHRlll.LGE (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, Freiburg ua. 1986, 46-70~ DERs., Jesus Wld die Tora. in: E. l.ENoBR (Hg.). Die Tara als Kanon tnr Juden wtd Christen, Freiburg ua. 1996, 345-378. Ebenso betont auch H.W. KUHN in seinen Beitragen diesen Aspekt der Taratreue in der Darstellung Jesu durch die ntl. Autoren. Vgl. beispielsweise: H.-W. KUHN, Das Liebesgebot Jesu als Tora und als EvangebUIIl, in: H. F'RANKEM0u..E1K I<ERTELGE (Hg.). Vom Urcbrist.entum zu Jesus, Freiburg ua. 1989, 194-230. 114 R. KAMPI..ING, Chance, 312. II s Vgl. ebd. 113
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ungefragte Voraussetzung Lev 15,25ff als hermeneutischen Schlüssel noch einmal kritisch zu überprüfen, zeigte, daß es zumindest begründet möglich ist, diese Voraussetzung in Frage zu stellen. Bewertet man wie sie das Begriffspaar "rein/unrein" als zentralen Ausdruck von Lev 1215, so kann das beobachtete Fehlen dieses Stichwortes in Mk 5,24-34 in der Tat ihre Ablehnung von Lev 15,25ff als Hintergnmdtext nachvollziehbar machen. Gewichtet man diese formkritisch gewonnene Beobachtung jedoch angesichts der von Kahl ebenfalls erwähnten, in beiden Texten auftauchenden Begriffe ,Biutfluß', ,Quelle des Blutes' und ,berühren' als nicht so entscheidend, kann man den bisherigen Interpretationen weiterhin Plausibilität abgewinnen. Alle weiteren Auslegungen des Verhaltens und der Reaktion der Frau und auch die Wertung des Defizits entsprechender gesetzeskritischer Äußenmgen im markinischen Kontext sind von dieser Wahrnehmung und Beurteilung der Beziehung zwischen Lev 15,25ff und Mk 5,24-34 offensichtlich abhängig. Hier zeigt sich für mich: Die Unterschiedlichkeit historisch-kritisch erfolgter Auslegungen eines Textes erklärt sich offensichtlich weniger durch ein ,Mehr an historischem Wissen' sondern eher durch den Bewertungsspielraum, der dem Exegeten bei seiner durchaus je texdich begründbaren Auslegung gegeben ist. 116 Ein solcher Erklärungsversuch lenkt den Blick auf den Vorgang der Textrezeption und die Rolle des Exegeten. Hier liegt m.E. der Schlüssel zur Erklärung der Unterschiedlichkeit historisch-kritisch abgesicherter Auslegungen zu ein und demselben Text, will man seinen Kollegen bei abweichenden Ergebnissen nicht vorwerfen, unwissenschaftlich, d.h. hier ohne korrekte Anwendung des historisch-kritischen Methodenkanons gearbeitet zu haben und nur selbst die ,intentio auctoris' richtig zu erfassen. Spätestens wenn jeder Exeget das von sich behauptet, ist für das lesende Publikum die Frage unausweichlich: Wer hat jetzt tatsächlich ,recht'? Was ist das für eine Methode, die Objektivität garantiert und zu so unterschiedlichen Ergebnissen führt? Diese fiktiv gestellten, aber m.E. durchaus realistischen Fragen verdeutlichen, daß hier auch die Glaubwürdigkeit eigenen exegetischen 116
Eine gleiche Einscbälzung m den Ursachen einer Revisim histmscb-kritischer A~
legungcn kann auch bei der Diskussion \DD die Interp"etatim \'Oll Mt 21,33-46 ~ werden. Vgl. H. fRANKEMOI.LB, Matthlus, Kcxnmentar 2, Dosseldorf 1997, 328-340. Seine gegenober traditionellen, antijudaistischm Verwerfungsinterpretationen vorgelegte alternative Lesart erkllrt sich m.E. auch weniger durch "ein Mehr an bist«ischem Wissen" als vielmehr durch eine neue Wahrnehmung bestinunter alttestamentlicher Kontexte.
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Arbeitens berührt ist. Eine Lösung sehe ich in einem konsequenten Eingeständnis eigener Relativität, die sich durch die Reflexion des Lesevorgangs und der eigenen Leserrolle als unausweichlich erweisen wird. Bestimmungen des Lesevorgangs aus der Sicht der Rezeptionsästhetik und der kognitiv-strukturellen Entwicklungspsychologie
Anlaß für die Entwicklung der Rezeptionsästhetik war eine Krise in der Literaturwissenschaft, die durch methodisch abgesicherte Interpretationsarbeit an moderner Literatur ausgelöst wurde. Die dieser Literatur eigenen Brechungen, Perspektivwechsel und Disharmonien verschließen sich in besonderem Maße definitiver Bedeutungszuweisung. Die Folge war eine Zunahme höchst unterschiedlicher Interpretationen zu einem Text, die die Literaturwissenschaft methodologisch nicht erklären konnte. Der Objektivitätsanspruch der einzelnen Auslegungen, mit ihrer Interpretation die Autorintention und damit den ,Sinn des Textes' erfaßt zu haben, ließ sich nicht mehr halten, angesichts des Phänomens diverser methodisch abgesicherter Interpretationen eines literarischen Textes, die zudem jeweils die Dlusion erzeugten, allein gültig zu sein bzw. eine normative Gültigkeit beanspruchten. 117 Vertreter der Rezeptionsästhetik sehen dieses Problem durch ein verkürztes Methodenbewußtsein der Interpreten über ihre eigene Tätigkeit verursacht: Die fehlende Differenzienmg von subjektiver Tätigkeit (Lesen) und Objekt (Text) führe bei ihnen dazu, die eigene Wahrnehmung des Textes mit dem Text selbst gleichzusetzen. 118 Nur logisch erscheint es angesichts dessen, daß sie bei ihrem Versuch, die Interpretationsarbeit der Literaturwissenschaftler hermeneutisch und methodologisch zu reflektieren, den Schwerpunkt der Textbetrachtung vom Autor auf den Rezipienten verlagern. So definiert Waming, ein fuhrender Vertreter der Rezeptionsästhetik, dieselbe als eine ,,literaturwissenschaftliche Forsclumgsrichttmg, die unter verschiedenen Aspekten und auf verschiedenen Wegen Bedingungen, Modalitäten und Ergebnisse der Begegmmg von Werk und Adressat untersucht" 119 /ser formuliert ent-
Vgl. W. lsER. Der Akt des Lesens, München '1990, Llli. IV, 34. Vgl. N. GROEBEN, Empirische Literaturwissenschaft als Metatheorie, Lil..i 6 (1976), Heft: Literaturpsychologie, 125. 119 R. WARNINO, Rezeptionsasthetik als literatmwissenschche Pragmatik. in: DERs. (Hg.), Rezeptionsasthetik. Theorie und Praxis, München 2 1979, ~ 1: 9. 117 118
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ungefragte Voraussetzung Lev 15,25ff als hermeneutischen Schlüssel noch einmal kritisch zu überprüfen, zeigte, daß es zumindest begründet möglich ist, diese Voraussetzung in Frage zu stellen. Bewertet man wie sie das Begriffspaar "rein/wrrein" als zentralen Ausdruck von Lev 1215, so kann das beobachtete Fehlen dieses Stichwortes in Mk 5,24-34 in der Tat ihre Ablehnung von Lev 15,25ff als Hintergrundtext nachvollziehbar machen. Gewichtet man diese formkritisch gewonnene Beobachtung jedoch angesichts der von Kahl ebenfalls erwähnten, in beiden Texten auftauchenden Begriffe ,Biutfluß', ,Quelle des Blutes' und ,berühren' als nicht so entscheidend, kann man den bisherigen Interpretationen weiterhin Plausibilität abgewinnen. Alle weiteren Auslegungen des Verhaltens und der Reaktion der Frau und auch die Wertung des Defizits entsprechender gesetzeskritischer Äußerungen im markinischen Kontext sind von dieser W ahrnehrnung und Beurteilung der Beziehung zwischen Lev 15,25ff und Mk 5,24-34 offensichtlich abhängig. Hier zeigt sich für mich: Die Unterschiedlichkeit historisch-kritisch erfolgter Auslegungen eines Textes erklärt sich offensichtlich weniger durch ein ,Mehr an historischem Wissen' sondern eher durch den Bewertungsspielraum, der dem Exegeten bei seiner durchaus je textlich begründbaren Auslegung gegeben ist. 116 Ein solcher Erklärungsversuch lenkt den Blick auf den Vorgang der Textrezeption und die Rolle des Exegeten. Hier liegt m.E. der Schlüssel zur Erklärung der Unterschiedlichkeit historisch-kritisch abgesicherter Auslegungen zu ein und demselben Text, will man seinen Kollegen bei abweichenden Ergebnissen nicht vorwerfen, unwissenschaftlich, d.h. hier ohne korrekte Anwendung des historisch-kritischen Methodenkanons gearbeitet zu haben und nur selbst die ,intentio auctoris' richtig zu erfassen. Spätestens wenn jeder Exeget das von sich behauptet, ist für das lesende Publikum die Frage unausweichlich: Wer hat jetzt tatsächlich ,recht'? Was ist das für eine Methode, die Objektivität garantiert und zu so unterschiedlichen Ergebnissen führt? Diese fiktiv gestellten, aber m.E. durchaus realistischen Fragen verdeutlichen, daß hier auch die Glaubwürdigkeit eigenen exegetischen Eine gleiche Einscbatzung zu den Ursachen einer Revision histmiscb-kritischer A~ legtmgCD kann auch bei der Dislrussim \DD die Interpretation von Mt 21,33-46 vorgenommen werden. Vgl. H. FRANKEMOLLE. Matthlus. Konunentar 2, Dosseidorf 1997, 328-340. Seine gegenüber traditionellen. antijudaistischen Verwerlimgsinterpretationen vagelegte alternative Lesart erldArt sich m.E. auch weniger durch "ein Mehr an historischem Wissen" als vielmehr durch eine neue Wahmehnnmg bestimmter alttestamentlicher Kontexte. 116
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Arbeitens berührt ist. Eine Lösung sehe ich in einem konsequenten Eingeständnis eigener Relativität, die sich durch die Reflexion des Lesevorgangs und der eigenen Leserrolle als unausweichlich erweisen wird. Bestimmungen des Lesevorgangs aus der Sicht der Rezeptionsästhetik und der kognitiv-strukturellen Entwicklungspsychologie
Anlaß für die Entwicklung der Rezeptionsästhetik war eine Krise in der Literaturwissenschaft, die durch methodisch abgesicherte Interpretationsarbeit an moderner Literatur ausgelöst wurde. Die dieser Literatur eigenen Brechungen, Perspektivwechsel und Disharmonien verschließen sich in besonderem Maße definitiver Bedeutungszuweisung. Die Folge war eine Zunahme höchst unterschiedlicher Interpretationen zu einem Text, die die Literaturwissenschaft methodologisch nicht erklären konnte. Der Objektivitätsanspruch der einzelnen Auslegungen, mit ihrer Interpretation die Autorintention und damit den ,Sinn des Textes' erfaßt zu haben, ließ sich nicht mehr halten, angesichts des Phänomens diverser methodisch abgesicherter Interpretationen eines literarischen Textes, die zudem jeweils die Dlusion erzeugten, allein gültig zu sein bzw. eine normative Gültigkeit beanspruchten. 117 Vertreter der Rezeptionsästhetik sehen dieses Problem durch ein verkürztes Methodenbewußtsein der Interpreten über ihre eigene Tätigkeit verursacht: Die fehlende Differenzierung von subjektiver Tätigkeit (Lesen) und Objekt (Text) führe bei ihnen dazu, die eigene Wahrnehmung des Textes mit dem Text selbst gleichzusetzen. 118 Nur logisch erscheint es angesichts dessen, daß sie bei ihrem Versuch, die Interpretationsarbeit der Literaturwissenschaftler hermeneutisch und methodologisch zu reflektieren, den Schwerpunkt der Textbetrachtung vom Autor auf den Rezipienten verlagern. So definiert Waming, ein fuhrender Vertreter der Rezeptionsästhetik, dieselbe als eine ,,literaturwissenschaftliche Forschwgsrichtung, die unter verschiedenen Aspekten und auf verschiedenen Wegen Bedingungen, Modalitäten wd Ergebnisse der Begegnwg von Werk W'ld Adressat untersucht." 119 Jser formuliert ent-
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Vgl. W.lsER. Der Akt des l..esens, München '1990, I, III, IV, 34. Vgl. N. GROEBEN, Empirische Literaturwissenschaft als Metalheorie, LiLi 6 (1976), Heft: Literaturpsycho1ogie, 125. 119 R. WARNING, RezeptionsAsthetik als literatwwissenschche Pragmatik. in: DERs. (Hg.), Rezeptionslsthetik. Theorie und Praxis, MOnehen 2 1979, 941: 9. 118
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sprechend folgende Frage als zentrale Forsclumgsfrage: "I. Wie werden die Texte aufgenommen?'' 120 Indem so deudich zwischen literarischem Text einerseits und der Rezeptionstätigkeit des Interpreten andererseits getrennt wird, kann die Tatsache unterschiedlicher Interpretationen zu einem Werk theoretisch erklärt werden. 121 Der Interpret nimmt i.E. nicht in Form einer reinen Abbildung den Text an sich wahr, sondern Iser sieht ihn zuerst einmal als Leser, 122 der mit seinen kognitiven und emotionalen Voraussetzungen den Text im Lesevorgang aufuimmt. Diese je eigenen Dispositionen der Leser machen die Rezeptionsästhetiker letztlich für die Unterschiedlichkeit der nachfolgenden Interpretationen verantwortlich.123 Aufzuweisen, daß die so beschriebene Mitarbeit der Leser und Interpreten kein Manko und kein Defizit derselben ist, sondern wesenhaft zum Text gehört, hat sich die Rezeptionsästhetik u. a. als Aufgabe gestellt. 124 Während einige Literaturwissenschaftler vom Charakter des Textes aus die AktiviW des Lesers als logische Folgerung zu begründen versuchen, bemühen sich andere darum, dies mit Hilfe der Dokumentation und Auswertung der Rezeptionsgeschichte von Texten nachzuweisen. 125 Ihre wesentlichen Argumentationen seien zum besseren Verständnis kurz skizziert: Einer der bekanntesten Vertreter der ersten Richtung, der sogenannten ,Wirkungsästhetik'~ 26 ist Eco. Als Semiotiker definiert er Texte als Zeichensysteme. 127 Diese Prämisse hat fur ihn in zweifacher Hinsicht Konsequenzen: Indem er Zeichen generell eine Kommunikationsfunktion zuweist und sie damit als Mittel zur Verständigung zwischen Sender und Empfanger charakterisiert, 128 verortet er auch Texte primär in einem grundlegenden Kommunikationsmodell, das aus den Elementen ,Sender', ,Botschaft', ,Empfanger' besteht. 129 Die damit verbundene Betonung 120 W. lsER, Akt. IV. 121 Vgl. ebd., 8_ 122 Vgl. ebd., 34, 45. 123 Vgl. ebd., 50, 65. 124 Vgl. ebd., IV, 65. 125 Vgl. ebd., IV, 8. 126Ebd.
127 Vgl. U. Eco, Die Grenzen der lnterpdation, MOnehen l 992. 128 Vgl. ebd., 292. 129 Vgl. U. Eco, Leetor in fabula, München u.a. 1987,61, 65(
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der pragmatischen Dimension der Zeichen findet ihren plakativen Ausdruck in dem Satz: "Ein Text will, daß ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren." 130 Aufgabe der Leser ist es dabei, die Zeichen zu aktualisieren. Durch die Eigenart der Zeichen wird die Intensität der postulierten Mitarbeit gesteigert: Im Gegensatz zu Stimuli, auf die der Empfanger nur eine mögliche Reaktion zeigen kann, besitzen diese Zeichen symbolischen Charakter, d.h. hier: Sie stehen für etwas Abwesendes. Der Vergleich verdeutlicht die Folgen für die Interpretationsarbeit des Empfangers: Während auf den Stimulus ,Knieschlag' nur die Reaktion ,Beinheben' folgen kann, löst das Wort ,Rose' je unterschiedliche Bedeutungszuweisungen bei Lesern aus, die sich von der des Autors nochmals unterscheiden können.131 Die strenge Betonung der Verwiesenheit der Texte auf diese Tätigkeit der Empfänger führt bei Eco zur Schlußfolgerung: Der Text selbst muß die Mitarbeit der Leser mit einplanen. 132 Die Entscheidung, an dieser SteUe auf die weiteren Ausführungen Ecos zu verzichten und statt dessen die in seiner Tradition stehende und vielfach rezipierte Wirkungstheorie Isers zu skizzieren, 133 ist angesichts des Kontextes dieser Ausführungen - die Rezeption von Bibeltexten gefallen. Der Forschungskonsens, biblische Texte als literarische zu betrachten, macht Isers Beitrag für diesen Zusammenhang interessant. Denn als Literaturwissenschaftler modifiziert er die grundsätzlichen Bestimmungen Ecos insbesondere im Hinblick auf diese Art von Texten und versucht, speziell von der Eigenart literarischer Texte ihre prinzipielle Verwiesenheil auf den Leser zu verdeutlichen. Mit der Differenzierung zwischen Werk und Text verdeutlicht Jser Ecos Bestimmungen von Texten als Zeichensystemen und dem damit verbundenen Verweischarakter: ,,Der Text als solcher hält nur verschiedene ,schematisierte Ansichten' parat, durch die der Gegenstand des Werks hervorgebracht werden kann. [... ] denn das Werk ist mehr als der Text, da er erst in der Konkretisierung sein Leben gewinnt." 134 In literarischen, fiktionalen Texten potenziert sich dieser Verweis130 Ebd.• 64: 131 Vgl. ebd. 289-292~ DERs., Lector. 64. 132
Vgl. ebd.• 29. 64. Vgl. U. Eco. Grenzen. 30~ W. lsER., hn Lichte der Kritik. in: R WARNING(Hg.). Rezeptionsästhetik. 325-342: 332. Die dritte Auflage von W. lsBRs ,,Akt" ist ein Indiz lbr die breite R~on seinec Texttheorie. 1 W. lsER., Akt, 38. 133
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charakter: Denn "dem imaginären Gegenstand fiktionaler Texte [ ... ] fehlt die Qualität empirisch vorhandener Existenz. Hier wird nicht ein abwesender, ansonsten aber existierender Gegenstand vergegenwärtigt, sondern vielmehr ein solcher erzeugt, der nicht seinesgleichen hat." 135 Gerade ein solcher, Text und Lesern gemeinsamer Gegenstands- und Situationsbezug ermöglicht jedoch eigentlich erst Kommunikation. 136 Unter der Prämisse, daß auch literarische Texte in die Welt eingreifen, Veränderung beim Leser bewirken, Gegen-Welten eröffnen wollen, kurzum: ihnen eine kommunikative Funktion zugestanden wird, beschreibt Jser die Strategie eines Textes, die es s.E. einem solchen Text erst ermöglicht, eben diese Kommunikation mit dem Leser zu eröffnen. Ausgehend von der Erfahrung, daß Mitteilungen um so strukturierter sind, je weniger die gemeinsame Situation determiniert ist (Bsp. Telefonat)137, skizziert er, wie s.E. ein Text vorgehen muß, der nicht nur die Abwesenheit eines realen Lesers kompensieren muß, sondern auch die Tatsache. zu berücksichtigen hat, daß sein Inhalt nicht mit einem für beide zeitgleich erfahrenen Ereignis oder Gegenstand als möglichem gemeinsamen Bezugspunkt gleichzusetzen ist. In doppelter Hinsicht hat ein literarischer Text somit den Leser als Kommunikationspartner einzuplanen. 138 Es erscheint logisch, zuerst einmal auf Gemeinsamkeiten zurückzugreifen: Die Konventionen können neben sozialen und historischen Normen und Sinnsystemen, also dem soziokulturellen Kontext im weitesten Sinne, auch Literatur umfassen. Der Text geht von der Kennmis dieses angesprochenen Kontextes von seiten der Leser aus. 139 Aber eine totale Deckung der Konventionsbestände zwischen Lesern und Text würde eine Kommunikation im Sinne einer Mitteilung von Neuern verhindern. 140 Diese Überlegung dient Jser als Erklärungsansatz für den spezifischen Umgang literarischer Texte mit diesen Konventionen: Unter dem Vorzeichen, die Konventionen nicht als die Wirklichkeit selbst, sondern als von Menschen bestimmte Nonnen zur Orientierung in der Welt zu betrachten, verdeutlichen besonders literarische Texte
135 Ebd., 228. 136 Vgl. ebd, 114. 137 Vgl. ebd, 114( 138 Vgl. ebd., 104, 106. 139 Vgl. ebd., 114-118, 132. 140
Vgl. ebd., 152.
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die Kontingenz der jeweils gerade herrschenden Normen. 141 Sie wählen bestimmte dominante Konventionen aus, stellen sie jedoch in einen anderen Kontext, ordnen sie somit neu an und kodieren sie damit um. Durch den Entwurf einer fiktionalen Welt, in der vom gesellschaftlichen System negierte Normen dominieren, werden die Defizite der bestehenden Konventionen herausgestellt. Es wird deutlich: Unsere Welt ist nicht die einzig mögliche, es geht auch anders, wenn die durch das bestehende Sinnsystem ausgeblendeten Normen zur Geltung kommen würden. So steht der Text in Interaktion mit der außertextlichen Realität seiner Zeit. Er ist als Reaktion auf seine Zeit entstanden und zugleich in dem Angebot der Fiktion Widerstand gegen sie. 142 Mit diesen Ausführungen sollte exemplarisch die von Jser vorgestellte Strategie eines literarischen Textes beschrieben werden. Er bezeichnet sie- die Perspektive des Textes einnehmend- als Wirkungsstrukturen oder als im Text verankerten ,impliziten Leser'. Gemeint ist damit nicht eine reale Person, sondern die "im Text ausmachbare Leserrolle" 143 , die Art und Weise, wie der Text selbst den möglichen realen Leser vorsieht, ihn also impliziert. 144 Die Schlußfolgerungen fiir den laut Iser alles entscheidenden ,Akt des Lesens' 145 erscheinen logisch: Bei allem Bemühen, von seiten des Textes eine Situation herzustellen, die Kommunikation zu lenken, letztlich kann seine "Wirkung auf die Adressaten nicht mehr voll kontrollierbar"146 sein. Vielmehr betont Iser, daß es der Leser selbst ist, der den Text in ein Werk überfUhrt. Er beendet die potentielle Bedeutungsvielfalt, die Virtualität des Textes, indem er eine vereindeutigende Sinnzuweisung vornimmt. 147 Das so entstehende Werk ist jedoch nicht mit dem Text identisch; hier zeigt sich die ästhetische Wirkung des Textes. Denn die Qualität literarischer Texte erweist sich darin, "daß sie etwas zu erzeugen vermögen, was sie selbst noch nicht sind." 148 Die Dialektik der Wirkungsstruktur eines Textes versucht lser abschließend noch einmal zu betonen; er stellt sie als Hohlformen, als Aspekte eines Sachverhalts dar, die ihrerseits nicht auf der Ebene des 141 Vgl. ebd., 118-120. 142 Vgl. ebd., 123 f. 143 Ebd,66. 144 Vgl. ebd., 60f, 66f. 145 r>as läßt sich besonders gut daran ablesen, daß dies der Titel des Buches ist 146 W. lsER. Akt, 114. 147 Vgl. ebd., 38f. 148 Ebd, 50.
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Textes einzulösen sind. Er wird nicht müde zu betonen, daß es letztlich der Leser selbst ist, der aufgrund seiner Dispositionen das Nicht-Gesagte, das Gemeinte im Leseakt erzeugen muß. 149 Es bleibt festzuhalten: Unter der Prämisse, daß Texte eine kommunikative, auf Verständigung und Mitteilung zielende Funktion besitzen, entwerfen Rezeptionsästhetiker wie Eco und Iser eine Theorie, die vom Text selbst aus m.E. einleuchtend die Vielfalt der Auslegungen eines Textes zu erklären versucht. 150 Einen anderen Weg der Erklärung gehen Vertreter der Rezeptionstheorie. Sie schließen aus den v.a historisch ausgewerteten, tatsächlich erfaßbaren Auslegungen eines Textes auf die prinzipielle Virtualität desselben. Die Verwiesenheil des Textes auf den konkreten Leser und den Leseakt wird auch hier betont. So stellt Jauß in seinem Beitrag "Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft" 1s1 heraus: "Das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick darbietet. Es ist kein Dokument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart." 1s2 ,,Das geschichtliche Leben des literarischen Werkes ist ohne den aktiven Teil seiner Adressaten nicht denkbar."1s3 Er betont: Die historische Wirkung eines Werkes ist nicht nur vom Wirkungspotential des Textes bestimmt, der Text kann lediglich einen Erwartungshorizont antizipieren und entwerfen. Entscheidend für die tatsächliche Bedeutsamkeit des Textes ist der lebensweltliche Erwartungshorizont der realen Leser. Er ist für die Einlösung der Textwirkung verantwortlich. 1S4 Je mehr dabei der lebensweltliche Horizont des Lesers mit dem vom Text implizierten Situationsbezug verschmilztiSS und seine intendierte Wirkung, eine Veränderung des Lesers zu seiner Lebenswelt tatsächlich erreicht, desto höher ist der ästhetische Wert eines literarischen Textes einzuschätzen.156 Jauß betont dabei, daß diese Deckung nicht auf einen Zeitpunkt zu begrenzen ist: Der Text muß nicht nur für das erste, zeitgenössische 149
Vgl. ebd., 229-231.
150 Vgl. ebd., 8. ISI
Vgl. H.R. JAuss, Literaturgeschichte als Provolcation der Literaturwissensc in:
R. WARNING (Hg.), Rezeptionsästhetik. 126-162. IS 2 Ebd., 129. ISJ Ebd., 127. IS4 Vgl. ebd., 129( ISS Vg]. R. WARNING, Rez.eptionsasthetik, 24. IS6 Vgl. H.R. JAUSS, Literaturgeschichte, 132(
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Publikum relevant sein, seine Wirkung muß sich zumindest nicht darin erschöpfen. Oftmals sind sogar bestimmte lebensweltliche Veränderungen erst nötig, um das Wirkungspotential des Textes in eine konkrete Auslegung zu überführen. Die zeitliche Distanz zwischen Textproduktion und -rezeption bewirkt manchmal erst paradoxerweise eine Annäherung der beiden Horizonte. 157 Zusammenfassend sind die Konsequenzen der rezeptionsästhetischen Textbetrachtung fiir die Interpretationstätigkeit wie folgt festzuhalten: Wie bereits ausführlich beschrieben, führen die Betonung der pragmatischen Dimension und die funktionale Betrachtung des literarischen Textes zu seiner Einordnung in einen umfassenden Kommunikationszusammenhang. Damit ist auch eine klare Absage an eine Interpretationsform verbunden, die in Form eines Satzes Sinn aus dem Text herauslösen will. Die Beschreibung der Funktionsweise des Textes zeigt den interaktionalen Charakter des Textes: Als Reaktion auf seine Umwelt entstanden, will er zu neuem Sehen und Bewerten anleiten. ,Einen Text verstehen' heißt dann, dieses Angebot wahrzunehmen. Die Verwiesenheit des Textes auf den Leser, den er in seiner Wirkungsstruktur immer schon einplant, kennzeichnet ihn selbst als bloße Virtualität, m so daß er erst durch den Rezeptionsvorgang seiner Funktion zugeführt wird. Die Tatsache, daß sich die Entstehung des Werkes einer vollständigen Steuerung durch den Text entzieht, bedeutet umgekehrt: Ein Text läßt eine Vielzahl von Sinnzuschreibungen und Interpretationen zu, die zwar den Wirkungsstrukturen mehr oder weniger angemessen sein können, eine Bewertung als ,richtig' oder ,falsch' im Sinne einer Verabsolutierung der Interpretation aber verbieten. 159 Diese Relativierung der Interpretationen sollte Literaturwissenschaftler und Exegeten zu einer neuen Selbstwahrnehmung veranlassen. Nach /ser gilt: Auch sie sind zuerst einmal Leser, Rezipienten eines Textes. Sie können- entsprechend der Überzeugungen der Rezeptionsästhetik - nicht beanspruchen, den Text ,an sich' zu erfassen, da er immer ,nur' ein durch den eigenen Lesevorgang wahrgenommener Text sein wird. 160 157
Vgl. ebd., 134f, 143f. Vgl. W. lsER. Akt, 108. 159 Vgl . ebd., 36. 160 Zur Rezeption dieser Theorie in der Exegese vgl. H. FRANKEMXJ..E, MatthAus Kommentar 1, Düsseldorf 1994, 34-76; P. MOUER.. ,,Verstehst du auch, was du liest?": Lesen und Vemehen im Neuen Testament. Darmstadt 1994; T. NISSLMOLLER. Rezeptionslsthetik und ISB
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Die Bedeutsam.keit eines Textes so deutlich an die Dispositionen der Leser zu knüpfen, nimmt sogenannter ,Weltliteratur' wie der Bibel ihre scheinbar zeitlose, immer gültige Relevanz und legitimiert die Frage nach gegenwärtiger Sinnzuschreibung solcher Texte. Aber Jauß nimmt ebensowenig wie lser oder andere Rezeptionsästhetiker empirische Untersuchungen in dieser Richtung vor. Dtr Selbstverständnis als Textwissenschaftler ist dafür verantwortlich, vom Text aus den Leser in den Blick zu nehmen, aber eine soziologische oder entwicklungspsychologische Analyse der Dispositionen bzw. des lebensweltlichen Horizonts der Leser bleibt aus. So merkt Waming an dieser Stelle an: Rezeptionsästhetik "wird sich spätestens an diesem Punkt aber auch fragen müssen, wie weit sie das Problem, wer warum wie versteht, verantwortbar als ein literaturwissenschaftliches behandeln kann, und wo sie es an eine kontrollierte lnterdisziplinarität abgeben muß." 161 Genau an dieser Stelle sind die empirisch abgesicherten Erkenntnisse der kognitiv-strukturellen Entwicklungspsychologie Piagets und seiner Nachfolger zu verorten. Sie hier im Detail vorzustellen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Doch es erscheint wesentlich, die grundlegenden, empirisch belegten Prämissen des bekannten Schweizer Entwicklungspsychologen kurz vorzustellen, unterstützen sie doch von seiten der Rezipienten aus betrachtet - die Annahme der Rezeptionsästhetik, daß der Lesevorgang ein aktiver Prozeß sei, zu dessen angemessenem Verstehen der W ahmehmungsvorgang des Lesers unentbehrlich sei. Ausgangspunkt von Piagets umfangreicher Forschungstätigkeit war seine Beschäftigung mit Kants Erkenntnistheorie. Dessen philosophische Frage nach Struktur, Möglichkeiten, Grenzen und Gültigkeit menschlicher Erkenntnis erweiterte er um die im neunzehnten Jahrhundert aktuelle Perspektive der Genese. 162 "Genau hier liegt das lebenslange zentrale Erkenntnismotiv Piagets verankert, das sein Gesamtwerk in Theoriebildung und empirischer Forschung determinierte und ausgerichtet hat: Menschliches Erkennen in seinen Strukturen und seiner Leistungsfähigkeit aus seiner Genese transparenter zu Bibellese: Wolfgang Isers Lese-Theorie als Paradigma ftlr die Rezeption biblischer Texte, Regensburg 1995. 161 R. WARNING, Rezeptionsästhetik. 25. 162 Vgl. F. ßuoGLE. Die Entwicklungspsychologie Jean Piagets. Stuttgart 21993, 13-17; A FLAMMER. Entwicld\DlgSthcorien. Psychologische Theorien der menschlichen Entwicklung. Stuttgart 1988, 134.
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machen. Dieses Unterfangen meint der Begriff ."163 "Der Konstruktivismus ist vermudich das bezeichnendste und grundlegendste Charakteristikum von Piagets Theorie [... ).'<~ 64 In Anlehnung an biologische Vorstellungen 16s erklärt er die erkennende Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt, auch Adaptation genannt, Bewegungen der Assimilation und Akkomodation. "Geschieht Adaptation primär so, daß Elemente der Umwelt vorhandenen Strukturen und Eigenschaften des Organismus angepaßt und diesem <einverleibt> werden, [... ], so spricht Piaget von Assimilation [... ]. Steht umgekehrt bei Adaptationsvorgängen die modifizierende Anpassung des Organismus und seiner Strukturen an vorgegebene Eigenschaften der Umwelt im Vordergrund, [... ],so spricht Piaget von Akkomodation [... ]." 166 Gerade mit der Beschreibung der Akkomodation erkennt Piaget die Widerständigkeil realer Gegenstände an, die durch den Menschen gerade in dieser Richtung der Interaktionsbewegung wahrgenommen werden. 167 Wie entsteht diese Erkenntnisveränderung? Wodurch wird sie angeregt? Als Antwort kann man hier seine Annahme anführen, die Denkschemata besäßen intrinsische Motivation 168, d.h. ihnen wohne die Tendenz inne, sich selbst zu aktivieren, auf die Umwelt ,zuzugehen' und dabei v.a i. S. einer generalisierenden Assimilation die Schemata auf immer neue Gegenstände auszuweiten. 169 Das weitere Charakteristikum der Strukturen, in einem möglichst widerspruchsfreien Gleichgewicht untereinander und mit der Umwelt zu stehen, von Piaget auch Äquilibration genannt, ermöglicht so Akkomodationsprozesse und damit eine weitere Differenzierung, Integration und Neuordnung der Schemata. 170 Später billigt er zudem Außenfaktoren wie den sozialen und kulturellen Kontexten mit ihren Fragen und Problemen eine 163
F. BuGGL.E, Entwicklungspsycho1ogie, 17.
164
H BEn.IN, Konstruktivismus und Funktionalismus in der Theorie Jean Piagets, in: S. HOPPE-GRAFF/W. EDEl.srniN (Hg.), Die Konstruktioo kognitiver Strukturen, Bem 1993, 28-67: 34. 16s Vgl. 166 F.
J. PIAohl, Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, Stuttgart 1973, 18.
BUGGLE, F..ntwicklungspsycho1ogie, 25.
Vgl. B.INHm..DERID. OECAPRONA, Constructivisme et creatioo des nouveautes, Archives de ~1ogie 53 {1985) 7-17: I~ J. PlAGET, Psychologie der Intelligenz. Zürich 1947,51-76. 68 Vgl. P. Mlu.ER, Theorien der Entwicklungspsycho1ogie, Heide1berg u.a. 1993, 83. 169 Vgl. F. BuaG1..E, Entwicklungspsycho1ogie, 32( 170 Vgl. ebd., 40; A. fLAMMER, Entwicklungstheorien, 144; grundlegend: J. PlAGET, Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, Stuttgart 1976. 167
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stärkere Bedeutung fur die Motivation des Einzelnen zu, sich mit seiner Außenwelt auseinanderzusetzen. 171 Wenngleich Piaget sich nicht ausdrücklich mit der Wahrnehmung von Texten als Teil der Wirklichkeit beschäftigt hat, erscheint es mir gut möglich zu sein, diese Vorstellung der Entwicklung von Erkenntnis auf den Auslegungsvorgang von Texten resp. Bibeltexten-interpretiert als Teil der Wirklichkeit - zu transferieren und zusammen mit dem Textmodell der Rezeptionsästhetik als bestmögliche Erklärung für die Vielfalt unterschiedlicher methodisch abgesicherter Auslegungen eines Textes anzuerkennen. Wie sehr Piagets grundlegende Vorstellung der Entwicklung von Erkenntnis im Rahmen der Entwicklungspsychologie gewürdigt wird, sei kurz ergänzend durch ein Zitat belegt: "Ungeachtet ihrer Mängel ist es eine erstaunlich fruchtbare Theorie, die uns einen Rahmen liefert, um die Vielfalt und Komplexität der kognitiven Entwicklung betrachten zu können. [... ] Darüber hinaus hat die Theorie Fragen zur Entwicklung formuliert, die jede nachfolgende Entwicklungstheorie aufgreifen muß. Noch über Jahre hinaus werden neue Theorien an Piagets Theorie gemessen werden." 1n Der Effekt einer kontextuellen Exegese ,nach Auschwitz' Manch ein Leser wird diesem vorgestellten Text- und Rezeptionsmodell wahrscheinlich - selbst wenn es zunächst einmal (und hoffentlich!?) plausibel erscheint - mit Skepsis begegnen. Die damit verbundene Anerkennung der Relativität exegetischer Erkenntnisse erschüttert vermutlich den traditionellen Anspruch an wissenschaftliche Erkenntnis, zeitlos gültige, subjektunabhängige Ergebnisse zu erzielen. So deutlich die Offenheit des Textes und damit die ,Spielräume' der Interpreten zu betonen, den Leser und seine Rezeption fiir so entscheidend fur die Auslegung zu bewerten, kann umgekehrt den Eindruck entstehen lassen, die gesamte historisch-kritische Auslegung sei letztlich beliebig und könne- so betrachtet- keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mehr erheben. An dieser Stelle ist deshalb nochmals auf den interaktiona/en Charakter des rezeptionsästhetischen Textmodells und auch der kognitivstrukturellen Erkenntnisvorstellung hinzuweisen. Die Betonung des 171
Vgl. H.
BEn..IN,
Konstruktivismus, 47, ro, J. PIAoirr, Reussir et comprendre, Paris 1974,
221.
m P. Mlu..ER, Theorien, 110.
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Rezipienten ist vielmehr angesichts der weit verbreiteten Vorstellung einer passiven Abbildung eines Textes im Kopf des Lesers zu bewerten. Rezeptionsästhetiker und kognitiv-strukturell arbeitende Entwicklungspsychologen stellen sich den Austausch zwischen Text und Leser wie einen Dialog vor, der den Interpreten nicht davon suspendiert, seine Auslegung an der sichtbaren Textstruktur zu belegen. Ferner gilt es zu beachten, daß selbst in der in Natur- und Sozialwissenschaften geführten hermeneutischen Diskussion ,Objektivität' zunehmend nicht mehr mit ,Subjektunabhängigkeit' gleichgesetzt wird. Die Anerkennung eigener Perspektivität fuhrt dort zu einer Modifizierung dieses Qualitätsmerkmals: Objektivität wird dort als möglichst weitgehend reflektierte Intersubjektivität definiert. 173 Wenn Exegeten ihre eigenen Motivationen, ihre leitenden Fragestellungen und ihren zeitgeschichtlichen Kontext bei ihrer eigenen Auslegung so weit wie möglich reflektierend offenlegen und auch in der konkreten Auslegung dann konsequenterweise auf objektivierend behauptende Wendungen wie "Matthäus will also nicht" 174 verzichten würden, würden sie einer so modifiziert verstandenen Objektivität durchaus genügen: Sie würden für den Leser ihrer Auslegungen ihr Vorgehen und ihre Lesart transparenter und damit intersubjektiver Verständigung zugänglicher machen. Femer könnten sie sich damit selbst vor unangemessener Arroganz gegenüber älteren, in anderen zeitgeschichtlichen Kontexten entstandenen Auslegungen schützen. Gerade in bezug auf den hier gewählten Themenbereich halte ich die Beurteilung älterer antijudaistischer Interpretationen als vorurteilsbelastet besonders dann für kurzsichtig, wenn zugleich die eigene Auslegung mit dem Anspruch erhoben wird, vorurteilsfrei die ursprüngliche Autorintention bzw. den Sinn des Textes ,an sich' offenzulegen. 175 Wer will und kann von sich selbst behaupten, in einem gesellschaftlichen und auch universitär antisemitisch vergifteten Klima 176 nicht auch
173
gl. beispielsweise H.P. DüRR., Physik und Transzendenz, Bem u.a
4
1987, 13~ S.
LAMNEK. Qualitative Sozialforschung, Band I: Methodologie, Weinheim 1992, 183. 174 u. Luz. MatthAus. 179.
Vgl. beispielsweise F. MusSNER, Traktat Ober die Juden. MOnehen 21988, 16f. Anm.7~ D. SANGER, Verkündigung, 3f, E. SmGEMANN, Die Krise des christliclte:n Antijudaismus und das Neue Testament. in: G. WESSLER (Hg.). Leben und Glauben nach dem Holocaust, Stuttgart 1980,71-89: 78. 176 Vgl. L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, VOIWOrt, in: DIEs. (Hg.), Christlicher Antijudaismus Wld Antisemitismus, Frankfurt 1994, Vß-XXI, XDf, L. SIEGF.LE-WENSClDCEWITZ, Mitverant175
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wie viele andere Exegeten bestimmte antithetisch formulierte Textstellen besonders zu betonen, andere relativierende Kontexte bewußt oder unbewußt auszublenden? Besonders zu beachten bei einer solchen selbstkritischen Überprüfung ist m.E. der im nationalsozialistischen Deutschland offensichtlich prägende Einfluß von Rosenbergs Schrift nDer Mythos des Zwanzigsten Jahrhunderts". In seinem Versuch, damit eine deutsche Nationalkirche anstelle der christlichen Kirchen im Dritten Reich zu etablieren, sieht die Kirchenhistorikerin SiegeleWenschlcewitz das leitende Motiv gerade für protestantische deutsche Theologen, das Christentum als wesentlich antijüdisch zu erweisen. 1n Berücksichtigt man diesen ,Zeitgeist' als Klima der Entstehung entsprechender, mit wissenschaftlichem Anspruch vertretenen Auslegungen neutestamentlicher Texte von Kittel, Grundmann u.a, so rechtfertigt das zwar nicht ihre Tätigkeit, doch es macht sie verständlicher. Es erscheint nur konsequent, wenn historisch-kritisch arbeitende Exegeten ihre Überzeugung, ein Text könne nur unter Beachtung seines ursprünglichen Kommunikationszusammenhangs angemessen verstanden werden, auch im Hinblick auf ihre eigene Auslegung - betrachtet als ebenfalls zeitgeschichtlich bedingt entstandenen Text konsequent reflektieren würden. Ich habe in diesem Aufsatz versucht, aus unterschiedlichen Perspektiven mehrere Argumente für eine solche sich kontextuell verstehende Exegese anzuführen. Eine nochmalige Wiederholung scheint mir angesichts der jeweils angefügten Reflexionen über die Funktion der Ausführungen nicht nötig zu sein. Vielmehr möchte ich abschließend einen letzten und, wie ich finde, den bedeutsamsten Effekt einer solchen kontextuellen Hermeneutik andeuten: Die m.E. im Sinne der Glaubwürdigkeit der historisch-kritischen Exegese wünschenswerte deutlichere Betonung der eigenen leitenden Fragestellung und der eigenen Prämissen, die auch sprachlich erkennbare Relativierung der eigenen Ergebnisse, die Angabe der subjektiven Gewichtung und Auswahl von Kontexten und das Zugeständnis eigener Schlußfolgerungen ließe die Person des Exegeten stärker für den Leser greifbar werden. Dies als positiven Effekt und nicht als Manko zu werten, wird nachvollziehbar, wenn man sich die wissenschaftsgeschichtlichen Analysen
wortung tmd Schuld der Christen am Holocaust. in: DIEs. (Hg.), Christlicher Antijudaismus, Frankfurt 1994, 1-26: 7f, 16. 1n
Vgl. ebd., 1()(
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von Hesche/ 178 , Hoffmann 179, Jerke 180 , Siegele-Wenschkewitz u.a vergegenwärtigt. Beispielhaft seien die Ausführungen der zuletzt Genannten hier skizziert: Sie kann erschreckend und plausibel zugleich nachweisen, welche fatalen Folgen eine Theologie mitzuverantworten hat, die mit Rekurs auf eine traditionelle Auslegung biblischer Texte scheinbar neutral und überzeitlich gültig die Unvereinbarkeit von Judentum und Christentum als grundsätzliche zu belegen versuchte: Die Historikenn trennt hier nicht von Beginn an begrifflich zwischen einem traditionellen jahrhundertealten christlichen Antijudaismus und einem politischen Antisemitismus, sondern bettet die Aussagen der Theologen in den damaligen zeitgeschichtlichen Kontext unter der Fragestellung ein: "Welche theologischen Argumente haben die nationalsozialistische Weltanschauung und Politik gestützt, welche sie behindert? Welche theologischen Aussagen halfen den bedrängten und verfolgten Juden, welche haben sie zusätzlich diskriminiert und isoliert?'<181 Anhand der Analyse der exegetischen Tätigkeit eines bekannten protestantischen Neutestamentlers, Gerhard Kittel, kommt sie zu folgender Wertung: "Er gesteht den Nationalsozialisten ihre Judenpolitik zu; ja, er deutet sie theologisch so, daß der Staat als Arm Gottes das Gericht über die Juden vollstreckt. Sicher wollte er selbst nicht die Juden verfolgen oder gar vernichten. An ihrer geistigen Vernichtung aber beteiligte er sich. Er schmiedet, wie Walter Frank in seiner Eröffnungsrede gesagt hatte, die ,geistigen Waffen' im Kampf gegen das Judentum. Und damit macht er denen, die unmittelbar an der mörderischen Judenverfolgung beteiligt sind, ein reines Gewissen." 182 Der Tübinger Neutestamentler hatte sich dabei klassischer, in der wissenschaftlichen Exegese damals und auch noch später 183 anerkannter 178 S. HES<..'l-IEL, Theologen rur Hitle:r. Walter Grundmann tmd das .Institut zur Erforschung wtd Beseitigwtg des jOdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben', in: L. SIBOELEWENSCHKEWITZ (Hg.), Antijudaismus, 125-170. 179
C. HOFFMANN, Christlicher Antijudaismus tmd moderner Antisemitismus. Zusammenhange und Differenzen als Problem der historischen Antisemitismusforschtmg, in: L. SIEGE.LEWENSCHKEWITZ. Antijudaismus, 293-317. 180 B. JERKE, Wie wurde das Neue Testament zu einem sogenannten Volk.stutament ,entjudet'? Aus der Arbeit des Eisenacher ,Institutes zur Erforschung tmd Beseitiglmg des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben', in: L. SJBOELE-WENSCHKEWITZ (Hg.), Antijudaismus, 202-234. 181 L. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Mitverantwortung, 3. 182 Ebd., 12( 183 Auf die Langlebigkeit einiger der hier erwahnten antijudaistischen Lesarten neutestamentlicher Texte in der historisch-kritischen Exegese hat C. Kl..mN in ihrer Dissertation
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antijudaistischer Lesarten neutestamentlicher Texte bedient: ,,Der Beweis dafiir, daß auch die Juden diesen Gegensatz (zwischen Christentum und Judentum, H.B. -S.) empfunden haben, sei die Kreuzigung Jesu durch die Juden. Das Christentum gründe nicht einmal im Judentum; denn das Alte Testament, an dem die Kirche festhält als an ihrer Bibel, ist unjüdisch. Von der alttestamentlichen Religion Israels, vom alttestamentlichen Gottesgedanken seien die Juden abgefallen. Sie hätten eine eigene jüdische Religion entwickelt: die kasuistische Leistungsreligion. So hat das Christentum die heilsgeschichtliche Rolle Israels übernommen und weitergeführt. An die Stelle der ungehorsamen und enterbten Juden treten nun die Völker. Die christlichen Völker sind es, die von Gott erwählt sind. Die Juden haben keinen wahren Gottesglauben mehr; sie sind quasi zu Ungläubigen geworden. Sie stehen unter Gottes Gericht, das die Völker an ihnen zu vollstrecken haben." 184 Will man solche geschichtswissenschaftliehen Erkenntnisse wie die von Siegele-Wenschkewitz und ihren Mitarbeitern aus einer rein ästhetischen Wahrnehmung befreien und sie für eine geschichtlich verantwortete Gestaltung der Gegenwart und Zukunft nutzbar machen, so ist hier m.E. der rezeptionsgeschichtlich orientierten suggestiven Frage der Historikenn zuzustimmen: ,,Können nach 1945 dieselben theologischen Argumente, die auf eine Verträglichkeit mit der nationalsozialistischen Weltanschauung zugeschnitten waren und so - gewollt oder ungewollt der Verfemung, Verfolgung und Ermordung der Juden dienten, von verantwortungsvollen christlichen Theologen erneut in die Diskussion gebracht werden? Sollte es nicht Argumente geben, die ihrer fatalen Wirkungen und Folgen wegen ein für allemal ausgespielt haben?'.. 15 Konkret auf die neutestamentliche Exegese bezogen bedeutet das m.E.: Es sind heute Lesarten herauszustellen, die judenkritische Texte nicht verschweigen oder verharmlosen, jedoch innertextlich relativieren und als vennittlungsbedingt, nicht jedoch als wesentlich zur christlichen Botschaft gehörend charakterisieren. Die geschichtswissenschaftlieh gewonnene Einsicht Hoffinanns: "Man konnte gegen den Antisemitismus nichts ausrichten, wenn man selbst auf dem Boden des Antijudaismus stand[ ... )", 186 läßt- zusammen mit der hier insgesamt vorgelegten autinerksam gemacht C. KLEIN, Theologie und Anti-Judaismus. Eine Studie zur deutschen theologischen Literatur der Gegenwart. Mtlnchen 1975. 184 L. S.IEGELB-WENSCHKEWJTZ, Mitverantworbmg, 11 f 115 Ebd., 5. 186 C. HOFfMANN, Antijudaismus, 313.
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Argumentation - eine solche bewußte Betonung der eigenen Kontextualität exegetischen Arbeitens nicht als ein Kriterium für die Unwissenschaftlichkeit der eigenen Auslegung erscheinen, sondern als Indiz für ein eigenes Selbstverständnis als Bibeltheo/oge, der Konsequenzen aus der jüngeren Geschichte der eigenen Disziplin ziehen und sich das bekannte Diktum von Johann Baptist Metz auch fiir die eigene Arbeit zu eigen machen will: .,Die Situation, ohne deren Wahrnehmung Theologie nicht weiß, wovon sie redet, heißt für uns hierzulande jedenfalls immer auch und geradezu in erster Linie ,nach Auschwitz'." 187
J.B. METz. Im Angesichte der Juden. Christliche Theologie nach Auschwilz, Cooc (D) 20 (1984) 382-389: 382. ",.. """' 117
Verzeichnis der Mitarbeiter/innen Dr. theol. Knut Badehaus, Professor für neutestamentliche Exegese an der Theologischen Fakultät Paderbom Dr. phil. Heike Bee-Schroedter, Wissenschaftliche Assistentin für Biblische Theologie/NT der Universität-Gesamthochschule Paderbom Dipl. -Päd. Matthias Blum, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie der Freien Universität Berlin Dr. theol. Gerhard Dautzenberg, Professor für Bibelwissenschaften/NT an der Justus-Liebig-Universität Gießen Dr. theol. Peter Fiedler, Professor für Katholische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg Dr. theol. Hubert Franlcemölle, Professor für neutestamentliche Exegese an der Universität-Gesamthochschule Paderbom Dr. theol. Rainer Kampling, Professor für Biblische Theologie an der Freien Universität Berlin Prälat Domkapitular Dr. theol. Dr. h. c. Franz Mußner, Professor em. für neutestamentliche Exegese an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Regensburg Dr. theol. Lorenz Ober/inner, Professor für Neues Testament an der Theol. Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Dr. theol. Dorothea Sattler, Privatdozentin für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr. theol. Klaus Scholtissek, Habilitand an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Würzburg Dr. theol. Michael Theobald, Professor für neutestamentliche Exegese an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen