C.H.GUENTER
O.R.G.A. Die Erben des Teufels VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR
MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Er war Di...
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C.H.GUENTER
O.R.G.A. Die Erben des Teufels VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR
MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Er war Diktator eines Landes in Südamerika, wo die Welt nicht jeden Tag neu erfunden wurde. Aber täglich erfand er neuen Terror. Das begann morgens um sechs Uhr, wenn er sich in seiner weißen Marmorvilla in den Hügeln über dem Meer erhob. In der Duschwanne krabbelte eine Ameise. Also läu tete Ernesto Colonna seinem Butler. Der englische Die ner erschien lautlos wie immer. Colonna zeigte ihm die Ameise. „Wer ist für die Sauberkeit verantwortlich?“ fuhr er den Diener an. „Hier oben der Boy, Exzellenz.“ „Und wer ist der Chef des Boys?“ „Ich, Exzellenz“, antwortete der Engländer. „Sie lassen es an Ihren Pflichten mangeln, James“, sagte der Staatspräsident. „Der Boy ist einzusperren. Eine Tracht Prügel und einsperren. Eine Woche bei Wasser und Brot. Dann wird er gefeuert.“ „Ameisen pflegen zu wandern“, wagte der Engländer einzuwenden. „Sie kommen von unten durch den Ab fluß.“ „Dann werden der Majordomus, der den Heizer und der Heizer, der die Kanalisation unter sich hat, ebenfalls eingesperrt. Und Sie, James, werden meine Privaträume eigenhändig reinigen. Auf Knien, mit der Zahnbürste. Und wehe, ich finde eine Ameise oder die Leiche einer Ameise.“ Der Diener nickte ergeben. Er konnte nichts dagegen tun. Sein Vertrag lief noch ein Jahr. Er wurde gut be zahlt, aber der Job war die Hölle. Leider hatte das Per sonalamt seinen Paß in Verwahrung. Also konnte er den 3
Job nicht hinschmeißen und abhauen. Er wäre nicht über die Grenze gekommen. Wahrscheinlich nicht ein mal bis zur Grenze. Nach dem Frühstück – der Toast war angeblich ver brannt, der Orangensaft nicht frisch gepreßt – ging Co lonna zu den Ställen hinüber. Sonst stand sein Pferd schon gesattelt im Freien. An diesem verfluchten Tag zog es der Stallknecht gerade erst aus der Box. Ernesto Colonna trat ihm ins Gesäß, daß der Knecht gegen den Brunnen flog und seine Nase blutete. Trotz seiner sechzig Jahre schwang sich der Staats präsident in den Sattel wie ein Gaucho und ritt los – wie stets ohne Leibwache. Die tausend Hektar Wald und Weideland ringsum waren Sperrgebiet Es wurde von morgens bis Sonnenuntergang von der Luftwaffe kon trolliert. Dazu verwe ndeten sie einen amerikanischen Kampfhubschrauber vom Typ Hue-Cobra. Die Piloten hatten Befehl, auf alles zu schießen, was sich bewegte und größer war als ein Kaninchen. Der Befehl war vor vierzehn Jahren erlassen worden, als ein schwarzer Panther den Staatspräsidenten angefallen hatte. Ernesto Colonna hatte mit dem neunzig Kilo schweren Muskel paket gekämpft, und es war ihm gelungen, dem Panther den Bauch aufzuschlitzen. Allerdings hatten die Pan therpranken ihn schwer verletzt, fast getötet. Um ein Haar. Seitdem wurden schwarze Panther vom Volk besonders ve rehrt. Punkt acht Uhr rollte dann eine schwarze MercedesLimousine vom Tal herauf. Die Bergstraße war asphal tiert. Man konnte sagen, es handelte sich dabei um die einzigen zusammenhängenden sechs Kilometer Straße des Landes ohne Schlaglöcher. Der Minister des Äußeren erschien zum Vortrag. So fort wurde er von Colonna zu einem Cognac eingeladen. 4
Der Staatspräsident pflegte noch immer die Unsitte seiner Soldatenzeit, den Ekel vo r der Arbeit mit Alkohol zu betäuben. Zügig wurden aktuelle Probleme besproche n und ab gehakt. Die Verweigerung der Wirtschaftshilfe seitens der USA, die Beschränkung der Waffenlieferungen Moskaus, die Angriffe der Weltpresse. „Für die einen sind wir Kommunisten“, sagte der Prä sident, „für die anderen Abweichler. Was sind wir ei gentlich?“ Der Minister – ein junger, aalglatt wirkender Beamter, der aus einer jener vornehmen Familien stammte, die es nicht mehr gab – kam zum nächsten Punkt. „Der Staatsbesuch“, sagte er. Präsident Colonna fiel ihm ins Wort. „Sie meinen meine lange geplante Reise nach Wa shington, London, Paris, Bonn und Moskau. Liegen die Einladungen endlich vor?“ Mit dem Ausdruck des Bedauerns verneinte de r Mini ster. „Ich meinte den Besuch des Papstes in unserem Lan de, Exzellenz.“ Der Präsident schüttelte die Hand in einer wegwer fenden Bewegung aus dem Uniformärmel. „Papstbesuch. Was das kostet!“ „Grob geschätzt zwanzig Millionen Escudos.“ Verärgert rechnete der Präsident: „Das sind ja sieben Millionen Dollar. Wer soll das bezahlen? Ich? Der Staat? Wovon bitte?“ „Die Gläubigen haben gesammelt.“ „In diesem Lande gibt es keine Katholiken“, ent schied Colonna kraft seines Amtes. „Ein paar Uralte, vielleicht noch hunderttausend. Und die sollen zwanzig Millionen Escudos…?“ „Der Vatikan wartet auf Antwort, Exzellenz“, drängte 5
der Minister. „Und die Sicherheit des ach so heiligen Vaters“, er widerte der Präsident. „Wer soll sie garantieren?“ „Die Gläubigen.“ „Und wenn man ein Attentat…“ „Der Papst hat in diesem Land keine Feinde.“ „Wer behauptet das? Sie etwa, José Fernando Macao? Nein, die Sicherheit ist ni cht zu garantieren. Deshalb wird der Besuch abgelehnt. Kein Visum.“ Ruckartig stand der Präsident auf, stürzte de n Cognac hinunter, faßte sich mit dem Daumen ins Gazellenleder koppel und marschierte in einer Ar t Paradeschritt auf und ab. Dazu monologisierte er: „Seit achtundzwanzig Jahren bin ich Präsident dieses Landes. Ich habe es aus dem Elend geführt, aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Ich und meine Caballeros haben die Reichen vertrieben, das Elend mit den Armen geteilt. Wir haben die Kirche, die Priester, so klein ge macht.“ Indem er mit einem Millimeterspalt zwischen Daumen und Zeigefinger andeutete, wie klein er sie gemacht hatte, fuhr er fort: „Fast dreißig Jahre Umer ziehung – und dann kommt so ein goldbehängtes, weih rauchduftendes Männchen aus Rom daher und macht das alles zunichte. – No, Senor, nicht solange ich lebe. Ich laß mir mein Lebenswerk nicht zerstören. Papstbe such abgelehnt.“ Er setzte sich wieder hin, spreizte die Beine in Bree ches und Stiefeln steif und stellte eine Forderung auf. „Die zwanzig Millionen Escudos der Kirche sind zu beschlagnahmen.“ „Das wäre Sache des Polizeiministers, Exzellenz“, bemerkte Macao. „Ich befehle es!“ schrie Colonna, erneut in Wut gera tend. „Bitte denken Sie, Exzellenz“, riet der Minister be 6
sorgt, „an die öffentliche Meinung. Die Ablehnung des Papstbesuches, nun, das kann man zur Not noch be gründen, aber die Beschlagnahme der Kirchenkassen, der Opferstöcke mit den Almosen der Gläubigen…“ „Es wird geheim behandelt“, tat Colonna den Ein wand ab. „Die Presse wird davon Wind bekommen. Wie im mer.“ „Ja, es gibt Verrat. Ehe irgend etwas auf dieser Erde entstand, existierte schon der Verrat. Ich habe es satt. Ich werde jede Zeitung verbieten, jede n Reporter, der darüber schreibt, ins Gefängnis werfen.“ „Und die Blätter im Ausland, die Radio- und TVStationen in Columbien, in Paraguay, Chile, Bolivien?“ „Man muß ihnen das Maul stopfen. Sie werden zu frech. Man muß mal wieder die eine oder andere dieser Stationen in die Luft fliegen lassen.“ Der Präsident schaute auf die Uhr. Damit war der Mi nistervortrag beendet. „Schicken Sie mir Dominguez!“ befahl Colonna. Cuzero Dominguez war Chef von Geheimdienst und Polizei. „Dominguez soll kommen. Ich fahre heute nicht in die Stadt. Ist mir zu heiß da unten.“ In diesem Punkt hatte Colonna zweifellos recht. Die Millionenstadt zwischen den Bergen und dem Meer war um diese Jahreszeit ein stinkender, brodelnder Kessel, in dem aus Dreck und Abfall eine giftige Kloake ge kocht wurde. Zwei Companeros fuhren noch vo r Sonnenaufgang mit ihrem klapprigen Dodge-Lastwagen zur Stadt hin aus. Auf der Pritsche des LKW lag landwirtschaftliches 7
Werkzeug herum. Sensen, eine Baumsäge, Harken, eine Kiste mit Setzlingen, ein Sack Kunstdünger. Darin hat ten sie ein Gewehr verborgen. In der Hemdtasche des Fahrers steckte ein Permit, das ihm erlaubte, die Hazienda des Präsidenten zu betreten. Noch auf der Küstenstraße kamen sie imme r wieder an riesigen Reklametafeln vorbei. Sie zeigten einen Mann in Generalsuniform. Er war vo n kräftiger Statur. Auch in seinem Gesicht drückte alles Energie aus. Die fleischige Nase wirkte sinnlich, die schmalen Lippen wie geschaffen, um Geheimnisse zu bewahren, die Au gen unter dichten Brauen unerschrocken. Was man in den Zügen dieses Mannes als Schwermut auslegen mochte, war reine Brutalität. „Er ist eine Heimsuchung für unser Land“, sagte der neben dem Fahrer. „Wie lange noch?“ „Nicht mehr lange.“ „In den Dörfern verhungern sie elendig.“ „In den Städten erst recht.“ „Weil er den Fuhrunternehmern das Benzin sperrt.“ „Weil sie streiken, weil sie höhere Tarife fordern. Die Armee hält den Verkehr ja aufrecht, aber nur zu zehn Prozent.“ „Colonna stört das nicht“, meinte der andere. „Die Versorgung von Regierung und Verwaltung mit Le bensmitteln ist gesichert.“ Sie bogen von der Küste nach Osten ab. Bevor sich die Straße in die Höhe wand, kamen sie an einen Schlagbaum und wurden kontrolliert. Der Soldat fand das Permit nicht in Ordnung. Er telefonierte. Endlich kam er wieder. „Passieren.“ „Hast du eine Zigarette, Sergeant?“ fragte der Fahrer des Dodge. 8
„Klar.“ Der Soldat grinste. „Aber nicht für Lumpen gesindel wie euch.“ Sie fuhren weiter. Nach etwa vier Kilometern, nahe der Stelle, wo ein Bach aus dem Felsen sprudelte, mach ten sie sich ans Werk. Der Fahrer beobachtete mit dem Fernglas die weiße Marmorvilla auf dem Hügel. Der andere holte die Ge wehrteile aus dem Kunstdünger, streifte die Plastikhülle ab, setzte die Waffe zusammen und lud sorgfältig durch. „Ein Reiter“, meldete der Fahrer, „auf einem Rap pen.“ „Das ist er.“ „Würdest du an seiner Stelle allein reiten?“ „Ich wäre nie an seiner Stelle“, sagte der andere. „Wie kommen wir hinterher weg?“ „Es dauert mindestens zwei Stunden, bis sie merken, daß er tot ist, das Schwein. Bis dahin sind wir in der Stadt, und dort sind wir Gesindel unter Gesinde!.“ „Vergiß den Schalldämpfer nicht“, rief sein Kamerad. Der Scharfschütze ging weg und warf sich etwa hun dert Meter entfernt am Rand eines Gestrüpps in Dek kung. Die Waffe auf einen Granitbrocken legend, warte te er. Gewöhnlich kam der Präsident hier vo rbei. Es gab mehrere Routen, die er nahm. Er war aber ein Gewohn heitsmensch. Heute war der Weg an der Quelle vorbei an der Reihe. Wußte der Teufel warum, aber er blieb außerhalb der Schußdistanz. Die Companeros zögerten die Arbeit, die ihnen die Verwaltung übergeben hatte, hinaus. – Am dritten Tag hatte der Schütze den Präsidenten vo r der Flinte. Er visierte ruhig, zog ab. Der Schuß fiel. Er glaubte, getroffen zu haben. Im Zielfernrohr sah er, wie Colonna die Arme hochzuwerfen versuchte, aber im 9
Zügel hängenblieb, wie sich der Rappe aufbäumte, und der Präsident stürzte. Er schoß noch zweimal, bis sich Roß und Reiter nicht mehr rührten, Dann brachen sie die Arbeit ab und fuhren Richtung Küstenstraße. Noch ehe sie das Sperrgebiet verlassen hatten, ver nahmen sie ein pfeifendes Rattern. Ein Hubschrauber kam aus den Hügeln direkt auf sie zugeflogen. Offenbar wußten die Piloten, was geschehen war. Sie verfolgten den Dodge querfeldein und zerschos sen ihm die Reifen. Als die Attentäter zu Fuß flohen, machten sie Jagd auf sie wie auf Hasen. Den Fahrer des Dodge erwischten sie so, daß er sich im Salto vorwärts überschlug und liegen blieb. Eine Kugel hatte ihm den Kopf durchschlagen. Dem anderen zerschossen sie beide Beine. Blutend, bewegungsunfähig und mit Schmerzen, die er sich nie hatte vorstellen können, lag er in einem Maisfeld. Sie landeten, verbanden ihn aber nicht und gaben ihm auch keine Morphiumspritze. Über Funk holten sie sich Orders ein und flogen ihn zur Polizeikaserne. Noch auf dem Weg zu den Folterkellern kam durch, daß der Präsident lebte. Er hatte sich beim Sturz vom Pferd nur den Knöchel verstaucht.
Während der Attentäter verhört wurde und ohne Rücksicht auf seine Verletzungen mit elektrischem Strom, kochendem Wasser und Alligatorpeitschen zum Sprechen gebracht werden sollte, brannten in der Stadt zwei Gebäude nieder. Das Haus der Redaktion und Druckerei der Tageszeitung La Plata und die Kirche Santa Maria Virgin. Angeblich war die Zeitung, weil sie eine Lüge ver breitet hatte, von aufgebrachten Gruppen der Bevölke 10
rung demoliert und angesteckt worden. Die Lüge be stand darin, zu berichten, daß der Papst die Absicht habe, das Land zu besuchen und daß der Präsident ihm die Einreise untersagte. Tatsache war, daß es sich bei den Brandstiftern um verkleidete Männer der Geheimpolizei gehandelt hatte. In der Kirche waren Phosphorkanister entleert worden, weil die Redakteure der La Plata dorthin geflüchtet waren. Der Brand wurde gelöscht, die Journalisten kamen ins Gefängnis und wurden sofort verhört. Im wesentlichen ging es darum, zu erfahren, woher sie ihre Informatio nen hatten. Wie sich herausstellte, hatte jemand angerufen, der seinen Namen nicht genannt hatte. „Und weil ihr jede anonyme Scheiße abdruckt“, ent schied der Polizeichef, „werdet ihr euch draußen im Flußdelta mit der Trockenlegung der Sümpfe befassen.“ Das bedeutete Strafarbeit in der verseuchtesten Ecke des Landes. Die Silberbergwerke waren dagegen ein Luftkurort. Aus den Sümpfen mit seine n Malariamoski tos kam selten einer lebend zurück. Der Mann, der auf den Präsidenten geschossen hatte, machte zunächst keinerlei Aussagen. Doch die Wahr heitsdrogen, die man ihm schließlich einspritzte, waren stärker als sein Wille. Aus seinem bruchstückhaften Geständnis schloß man, daß er einer katholischen Orga nisation angehörte. Es handelte sich dabei um Radikale, die es satt hatten, immer nur zu beten und zu hoffen, statt zu handeln. Ohne es zu wissen, lieferte er auch Hinweise, wo die zwanzig Millionen Escudos aus der Papstsammlung aufbewahrt wurden. Dann, in einem klaren Augenblick, als er begriff, was er preisgegeben hatte, beging er Selbstmord. Mit dem gratigen Stil eines abgebrochenen 11
Blechlöffels riß er sich Puls- und Halsschlagader auf. Sie fanden ihn sterbend in einer Blutlache. Er war nicht mehr zu retten. Kurz bevor sein Herz stillstand, flüsterte er noch etwas. „Was hat er gesagt?“ fragte der Polizeichef den Arzt. Der steckte sich kopfschüttelnd eine Zigarette an. „Ich glaube“, antwortete er, „ich fürchte, Senor, er hat gebetet.“ Der Polizeichef versetzte dem Toten einen Tritt und spuckte auf ihn. „Es war kein Gebet“, entschied er. „Es war ein Fluch. Er verfluchte sich selbst. Er bereute fluchend seine Tat. Ist es nicht so?“ „Es ist so, Coronel“, bestätigten die Anwesenden. Der Arzt, der Polizeipsychologe und der Kerkermeister. 2. Das war die Bonner Spielart. Was in anderen Ländern telefonisch erledigt wurde, das wurde hier wie eine Staatsaffäre behandelt. Man schickte Bundeswehrma schinen los, um die Experten an den Rhein fliegen zu lassen. „Alles eine Nummer größer“, sagte der Mann im Sitz des Copiloten der BND-Cessna, „als nötig. Das hebt die eigene Bedeutung.“ Der Agent Nummer 18, Robert Urban, der die Zwei motorige derzeit flog, bemerkte spöttisch: „Das ist es, worum ich die Italiener so beneide. Rei ches Volk, arme Regierung, Bei uns ist es umgekehrt. Sie haben zuviel Geld. Sie schmeißen es raus und wis sen schon gar nicht mehr wofür.“ „Zum Beispiel?“ fragte der schwarzgelockte zweite Pilot, Stabsoberfeldwebel Spiegel, genannt Bubi. Ein müdes Lächeln von Robert Urban streifte ihn 12
flüchtig. „Die Telefoneinheit kostet dreiundzwanzig Pfennige, hundert Einheiten dreiundzwanzig Mark.“ „Aber der Minister telefoniert nicht gern.“ „Was kostet unser Flug?“ „Etliche Tausend.“ ,,Das meinte ich.“ „Dafür stehst du vor ihm auf dem Teppich, zum An fassen.“ „In diesem unseren Lande.“ Spiegel meinte kopfschüttelnd: „Wer bist du, und wer ist eigentlich er?“ „Auswechselbar sind wir alle“, erklärte Urban. „Aber es macht einen Unterschied, ob der Besucher mit dem Fahrrad kommt, mit der Straßenbahn, im Mercedes oder per Dienstflugzeug. Das hebt die Bedeutung von Tante Klara.“ „Minister“, tat es Spiegel ab, „ist nur ein Amt. Um das Amt geht es, nicht um die Person. Okay, und was will der Mann, der das Amt innehat?“ Urban schaute auf die Uhr. „In zwölf Minuten landen wir. Frag mich zwe i Stun den später.“ Spiegel übernahm den Sprechfunkverkehr mit BonnTower. Urban brachte die Zweimotorige in den Gleit winkel des Endanflugs. Klappen, Fahrwerk heraus, Luftschraubenverstellung, Anschweben, aufsetzen, rollen. – Er wurde zu einem Standplatz eingewiesen, wo als Markierung eine gepan zerte schwarze Limousine stand. Der Dienstwagen aus dem Fuhrpark des Kanzleramtes brachte Urban von Beuel ein Stück über die Autobahn und dann über den Rhein. Als sie sich dem Regierungsviertel näherten, begann die Abenddämmerung. Vor den Ampeln kam es zu 13
geringfügigen Staus. An einer Kreuzung, bevor es links zum Kanzleramt abging, hatten sie Rotlicht. Bei Grün setzte sich die Kolonne träge in Bewegung. Ungefähr in Kreuzungs mitte passierten sie ein Regierungsfahrzeug, das dem ihren zum Verwechseln ähnlich war. Mercedes, schwarz, Typ 280 S, zentimeterdicke Scheiben. In den Fond gedrückt saß ein Mann, dessen Gesicht Urban bekannt vorkam. Zwar hatten die Autos Vorhänge, sie waren aber meist gerafft und nicht geschlossen. Urban glaubte, nein, er war sicher, daß der andere ihn ebenfalls erkannt hatte. Nach kurzem Nachdenken fiel ihm auch ein, wer der Bursche mit dem hageren, braunen Landsknechtgesicht war. – Wenn er vom Minister kam, konnte Urban sich vorstellen, um was es ging. Er wandte sich an den Fahrer. „Der schwarze BN-KA-dreiundreißig, der eben hier vorbeifuhr, gehört der denn zu Ihrem Stall?“ „Ein Kollege von mir fährt ihn.“ Wenige hundert Meter noch, und sie bogen in die be wachte Toreinfahrt zu dem Park, in dem das Kanzleramt lag. Ein Sicherheitsbeamter in Zivil begleitete Urban in den salonartigen Vorraum. Er brauchte nicht lang zu warten. Die Polstertür schwang auf. Der Minister, Chef aller bundesdeutschen Geheimdienste, kam ihm entge gen und begrüßte ihn. „Hallo, Oberst!“ rief er. „Fein, daß Sie so rasch kom men konnten. Was gibt es Neues an der Isar?“ „Bier, Weißwurst und Wetter gut“, meldete Urban. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Eine Sekretärin ser vierte Kaffee. Ungeduldig schickte der Minister sie hinaus. Sie waren allein. Es konnte losgehen. Indem er sich über den Nasenrücken strich, was die 14
Haut um den Knochen für Sekunden aufhellte, begann der Kanzleramtschef: „Kacke am Dampfen, mein Lieber.“ Die Wortwahl entsprach ganz und gar nicht seinem eher vornehmen Wesen, sollte aber wohl gleich den Ernst der Lage aus drücken. Das gelang auch. „Da machen sich ein paar Neonazis mausig.“ „Was, bitte, verstehen Sie unter mausig?“ wollte Ur ban wissen. „Daß sie sich in den Hinterzimmern von Bierkneipen treffen, den schönen Westerwald besingen und mal die Hand heben, um festzustellen, ob es noch regnet?“ „Nein, das allein meine ich natürlich nicht“, antworte te der Minister. „Oder“, fuhr Urban fort, „daß sie Bundeswehrstiefel, Bundeswehrjacken und Kurzhaarschnitt tragen und vaterländische Reden schwingen. Daß sie an Wochen enden in irgendwelchen verlassene n Steinbrüchen pa ramilitärische Übungen abhalten, an Lagerfeuern Erb seneintopf kochen, sich mal mit Sozis prügeln, meinen Sie das?“ Der Minister winkte ab. „Kindereien. So etwas verdaut unsere gefestigte De mokratie problemlos wie Babynahrung.“ Urban lehnte sich im Clubsessel zurück, gab Sahne und Zucker in den Kaffee. Er rührte um. Doch was er jetzt zu hören bekam, stoppte sein Rührwerk. „Gewisse Anschläge in Nahost sollen auf Nazigrup pen zurückgehen.“ „Was für Anschläge, Herr Minister?“ „Gegen Israel.“ Urban unterdrückte sein angeborenes Lächeln. „Israel verfügt über den besten Geheimdienst der Welt, eine der schlagkräftigsten Armeen und den gewiß effizientesten Sicherheitsapparat.“ 15
„Leider besitze ich Informationen“, äußerte der Mini ster. Urban kannte ihn. Der Mann übertrieb nur selten. „Diese meist jungen Spunde sollen also Anschläge gegen Israel ausgeführt haben. Und welche, bitte?“ „Sabotage an einem Jordan-Stausee, Sprengung der Kraftwerkturbinen, Bombenlegungen in Busstationen und an Flugplätzen, Zerstörung einer Raffinerie in Hai fa, einer Radarstation am Golan und, und, und…“ Urban vernahm es kopfschüttelnd. „Unmöglich. Das ist Spezialistenarbeit. So was muß man studieren. Auf der Hochschule für Terror. Gewisse Staaten, die darüber verfügen, nennen es Militärakade mien.“ „Ich halte die Information für schwerwiegend.“ Urban kniff die Augen schmal. In voller Absicht. „Von Major Uri Goldberg?“ Der Minister zuckte mit den Brauen. „Sie wissen es? Woher?“ „Ich sah ihn wegfahren.“ „Hier bleibt auch wirklich nie etwas geheim“, bedau erte der Minister. „Aber was soll’s. Major Goldberg ist von Mossad und somit ein Kollege vo n Ihnen.“ Urban versuchte zu kombinieren. „Und Major Goldberg behauptet allen Ernstes, daß diese kleinen Neonazischeißer in die Anschläge verwik kelt sein sollen.“ Nun machte der Minister die entscheidende Ein schränkung. „Nur was Planung und technische Vorbereitung be trifft.“ Urban seufzte tief. „Herr Minister“, setzte er an. „Dazu wäre in jedem Fall Generalstabsarbeit nötig. Man mag diesen Bur schen ja alles mögliche zutrauen, aber ein Moltke, ein 16
Schlieffen, ein Hindenburg ist nicht unter ihnen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ „Sie reden schon wie ein Sympathisant“, erklärte der Minister. „Schade, wenn Sie das heraushörten“, entgegnete Ur ban scharf. „Aber ich verwahre mich nur gege n blöd sinnige Behauptungen.“ „Die Israelis werden ungemütlich. Sie fordern, daß wir das abstellen. Oder…“ ,,Dann fordern Sie erst mal Beweise“, riet Urban. Der Minister wechselte das Thema. „Geheimdienste liefern doch jeden gewünschten Be weis. Wo sind diese Extremistengruppen in der Haupt sache ansässig?“ „Meist in Norddeutschland und Berlin.“ „Tun Sie etwas dagegen, Oberst.“ Urban ließ ein wenig verzweifelt die Arme hängen. ,,Das ist Sache des Bundesamtes für Verfassungs schutz. Wir vom BND sind für Innerbetriebliche s nicht zuständig.“ „Diese Organisation arbeitet grenzübergreifend. Im Ausland darf der BND doch wohl tätig werden, oder?“ warf der Minister ein. „Aber wir sind keine Nazijäger. Das sind ja meistens noch Kinder.“ „Und die Altnazis?“ „Die sind alle tot – oder sehr gebrechlich“, schränkte Urban ein. Es ging lange hin und her. Als der Minister noch ein mal erläutert hatte, wie leicht die Bundesregierung von Jerusalem unter Druck gesetzt werden könne und daß man deshalb gegensteuern müsse, daß der Kanzler Re aktionen verlange und daß das einzige Instrument dafür die teuer bezahlten Geheimdienste seien, erwiderte Urban: 17
„Bringen Sie uns einen winzigen Beweis, Herr Mini ster, daß Neonazis mit den Terroranschlägen gegen Israel zu tun haben.“ „Und das würde Sie motivieren?“ „Wir würden unsere Pflicht tun und unsere Aufgabe erfüllen“, antwortete der BND-Agent Nummer 18.
Der Chefpilot des BND, Stabsoberfeldwebel Spiegel, hatte in der Kabine geschlafen. Als der Mercedes neben der Cessna hielt und Urban ausstieg, erwachte er. Sein erster Blick galt der Uhr. „Wenn wir jetzt starten, schaffen wir es noch, ehe Riem zusperrt“, rief er sofort hellwach. Urban nickte, warf sich in den nächsten Sessel und lutschte an einer MC herum. „Dann tu’s“, sagte er. Wenn Urban sich einsilbig gab, konnte man lange bohren. Spiegel nahm im Cockpit Platz, sprach mit dem Tow er, bat um Starterlaubnis und bekam sie. Dann ließ er die Motoren an und rollte zur Piste. Noch während er auf das Free for Take off wartete, schwang Urban sich neben ihn in den Sitz des Copiloten. Beim Start sah Urban lediglich zu. Auch als sie oben waren und Kurs nahmen, rührte er keinen Finger. „Spitze Laune, he“, stellte Spiegel fest. „Langsam krieg’ ich die Motten.“ „Haben sie dich gefeuert?“ „Angefeuert“, verbesserte Urban. „In Tel Avi v be haupten sie, achtzehnjährige Neonazis hätten unter anderem Anschläge auf ihr größtes Panzerdepot im Negev geplant und durchführen lassen.“ ,,Die spinnen, diese Israelis.“ Urban blickte nach draußen. Die Sonne war am Un 18
tergehen. Hinter den Wolken sah sie aus wie eine zertre tene Tomate. Spiegel unterdrückte nie seine Neugier. „Warum behauptet der Mossad so etwas? Was steckt dahinter? Was bezwecken sie damit, was führen sie im Schilde?“ „Mal wieder ein bißchen Feuer machen unter dem Kessel. Erkaltete Schuldgefühle heißkochen.“ „Die achtzig Milliarden an Wiedergutmachung sind doch brav gelöhnt worden.“ „Die haben sie in ihren Kriegen längst verpulvert.“ Sie flogen Richtung Südosten. Urban wurde unruhig. „Aus den Fingern saugen sie sich solche Behauptun gen natürlich nicht. Irgendwas muß da dran sein.“ Urban nahm einen Schluck aus der Reiseflasche. Hier oben auf dreitausend Meter Höhe schmeckte der Bour bon anders. Nach Aluminium und Kunststoff. Der letzte Schein der Sonne stand noch für Sekunden über den Höhen der Rhön, als ein Motor ausfiel. „Öldruck im Eimer.“ Spiegel stellte ihn fluchend ab und die Luftschraube auf Segelwinkel. „Wie verstehe ich das?“ fragte Urban. „Das sind doch robuste Bauernmotoren, diese Continental.“ „Ich verstehe es auch immer erst am Boden.“ Spiegel gab dem linken Triebwerk höhere Leistung und trimmte nach. Dadurch wurde es eine Ar t Schiebe flug. „Mit diesen Motoren hatte ich noch nie irgendwelche Probleme – in der Luft.“ „Der Name Zweimotorige“, bemerkte Urban, „kommt von ihren zwei Motoren. Sie hat zwei, damit sie nicht runterfällt, wenn einer nicht me hr mag.“ Noch zweihundertachtzig Kilometer trennten sie von München. Zwar hielt der Motor, aber das Malheur 19
machte sie langsamer. Als sie über Riem ankamen, war der Flughafen ei gentlich schon geschlossen. Da es sich aber um einen Luftnotfall handelte, ließen Sie die Cessna-421 noch herein. Im Hangar öffnete Spiegel die Triebwerkverkleidung des defekten Motors. Alles klitschte vo n schwarzer Schmiere. „Die Leitung zum Ölkühler“, tippte er. „Nein, der ganze Ölkühler“, sagte Urban. „Da hat ei ner an den Lamellen gefummelt.“ „Das war kein Spatzenschnabel.“ „Eher ein Bolzenschneider. Du hast in Bonn nichts bemerkt?“ Spiegel mußte zugeben, daß er fest geschlafen hatte. Vertrauend auf die Sicherheit des Flugplatzes hatte er keine Bodenwache geschoben. „Mag uns da jemand nicht?“ tippte Spiegel. „Dich mögen sie doch alle.“ „Und dich keiner, willst du sagen. Eine Warnung et wa?“ „Eher wohl eine nachdrückliche Aufforderung. Eine Erinnerung, daß man noch da und sehr wachsam ist.“ „Wer?“ „Gute Freunde“, äußerte Urban. „Tun gute Freunde so etwas?“ „Einen Motor haben sie uns gelassen“, erwähnte Ur ban. „Wir sind ja nicht tot.“ 3. Gemeinsam mit dem Chef von Geheimdienst und Poli zei, Cuzero Dominguez, fuhr der Außenminister in die Stadt zurück. „Der Alte“, sagte Dominguez respektlos, „wird von 20
Tag zu Tag jünger.“ „Weiß der Teufel“, stimmte José Fernando Macao ihm bei, „wie er das macht, woher er die Kraft nimmt.“ „Frischzellen.“ „Die helfen doch überhaupt nicht.“ „Rauschgift“, fragte der Geheimdienstchef, „oder das bewährte Mittel für alte Männer: junge Frauen.“ Es war schon heraus, als ihm einfiel, welche Dumm heit er damit begangen hatte. Er legte die Hand auf den Arm des Außenministers. „Verzeihung, José. Das war geschmacklos.“ „Ich hab’ es überwunden“, behauptete der Minister, „daß er sie mir wegnahm. Wir liebten uns, aber es gab wohl keine Chance. Gegen ihn gibt es eben keine. We der ein Mann noch eine Frau hat sie. Was er will, das bekommt er.“ „Und wirft es wieder weg.“ „Simonetta.“ Fast andächtig sprach der Minister ihren Namen aus. „Sie war die Schönste.“ „Im ganzen Land“, bestätigte Dominguez. „Anmutig, klug und gebildet. Wo ist sie jetzt?“ „In irgendeinem Kloster.“ „Dann kann es nur in Santa Sorella sein. Das einzige Kloster, das er übrig ließ, um bei de n Nonnen seine abgelegten Mätressen unter- und seine unehelichen Kinder zur Welt bringen zu lassen.“ „Sie lebt in einer Zelle“, flüsterte der Minister, „und vegetiert dahin wie ein Tier.“ „Das pflegt er aus Frauen zu machen.“ „Sie hat den Verstand verloren.“ „Sie haben ihn noch, José. Nützen Sie ihn.“ „Er hat mich vom Staatssekretär zum Minister beför dert“, erwähnte Macao bitter, „und meinen Vater freige lassen. Ich muß ihm obendrein noch dankbar sein.“ Der Polizeichef steckte sich einen Zigarillo an. 21
„Wenn er mit mir so umginge, wüßte ich, was ich tä te.“ Der Minister ging nicht darauf ein. Sein Kollege Do minguez war ein Fuchs. Man wußte nie, ob er einen nicht aushorchte und eine Falle stellte. Indem er selbst alles zu sagen wagte, provozierte er die anderen zu unvorsichtigen Äußerungen. „Ernesto Colonna ist ungefähr wie Hitler. Nur eben Kommunist und einen Schlag härter und gerissener als der Österreicher.“ „Ich will das nicht gehört haben“, entrüstete sich der Minister, „Sie reden sich um Kopf und Kragen.“ Der Polizeichef winkte lachend ab. „Sie verpfeifen mich nicht, und der Fahrer kann nichts hören. Die Trennscheibe ist schalldicht Wann tritt er seine Reise an, der große Staatenlenker?“ „Sobald aus Washington grünes Licht kommt“, ant wortete Macao. ,,Die britische Königin empfängt ihn, hört man.“ „Für die Engländer gilt immer nur Busineß first. Sie kriegen von uns Silber und Nickel, wir kaufen Maschi nen und Autos. London ist das zweite Ziel seiner Rei se.“ „Wie wollen wir sie finanzieren? Die Kassen sind praktisch leer. Wir haben, gemessen an der Größe unse res Landes, mehr Auslandsschulden als Brasilien.“ Der Minister senkte die Stimme und sprach direkt ins Ohr von Dominguez. „Er zapft neue Quellen an.“ „Etwa die Kasse der Katholiken für den Papstbe such?’ „Die Millionen kommen ihm gerade recht. Das müß ten Sie besser wissen als ich, Dominguez. Ihr Geheim dienst leitet doch die Operation.“ „Vergebens, bis heute“, bedauerte der Polizeichef. 22
„Obwohl uns ein stolzes Erfolgshonorar zugesagt wur de. Zehn Prozent.“ „Ihre Leute sind Bluthunde. Sie werden die Kasse schon finden.“ „Aber verteidigt wird sie von Wölfen“ beharrte Do minguez. „Morgen läuft eine Großaktion im Hochland an. Wir haben Hinweise, daß sie ihren goldenen Opfer stock in einer der Andengemeinden verstecken. Nun, man wird sehen. Ich bin zuversichtlich.“ „Ich wünsche Ihnen Erfolg“, sagte der Außenminister. Der Polizeichef schielte aus den Augenwinkeln. „Wirklich, José?“ „Bitte spielen Sie nicht auf Gefühle an“, entgegnete der Minister, „die es nicht mehr gibt. Meine Familie wurde in der Revolution größtenteils ausgerottet. Was ich bin, verdanke ich Ernesto Colonna. Und was Simo netta betrifft, dieser einst blühende Rosenstock wurde aus meinem Inneren gerodet. Mit Sägen, Schaufelbag ger und Feuer. Es ist nichts mehr da außer einer öde n, wüsten Fläche.“ „Bei anderen“, deutete der Polizeichef listig an, „wür de dort die Blume des Hasses wachsen.“ „Ich bin nicht wie die anderen“, erwiderte der Mini ster scharf. In der marmorkühlen Eingangshalle des Regierungs palastes trennten sie sich. Der Minister fuhr in seine Büros, der Polizeichef betrat die Souterrainräume, wo sein Amt untergebracht war. Er steckte sich einen Zigarillo an, dann ließ er sich mit dem Wohnsitz des Staatschefs über Standleitung vermitteln. „Hier Dominguez, Exzellenz“, sagte er. RoutineÜberprüfung von José Fernando Macao abgeschlossen. Negativ.“ „Sie meinen also, ich kann ihm weiterhin vertrauen.“ 23
„Unbedingt Wenn Sie Ihrem Außenminister nicht trauen, Exzellenz“, erwiderte der Polizeichef, „wem dann noch?“ „Ihnen“, gestand der Generalpräsident. „Und mir. Vor allem mir.“ Erst waren sie aufs Hochland, dann bis zu einem Bergdorf in den Anden geflüchtet. Von der rettenden Grenze trennten sie zwar nur vierzig Kilometer Luftli nie, aber auch viertausend Meter hohe Gipfelgrate mit ewigem Eis und Schnee. „Sie werden kommen und uns finden“, fürchtete einer der jungen Padres. „Und der Paß ist schon zu“, erklärte der indianische Führer. „Hundert Männer müßten eine Woche schau feln, um einen winzigen Pfad freizulegen, auf dem kaum eine Ziege durchschlüpft.“ „Und Colonnas Henker haben Hubschrauber.“ „Laßt uns beten, Freunde“, sagte der Priester. Noch hatten sie elektrisches Licht. Die Leitungen wa ren also intakt. Ein Zeichen, daß die Verfolger den Ort nicht unmittelbar bedrohten. „Aber sie werden kommen“, beharrte einer der Män ner, die den Schatz der Kirche bis hierher begleitet hat ten. „Und dann gnade uns Gott.“ In der Hütte aus groben Geröllsteinen am Ende des Dorfes hielt der Priester die Andacht. Die Männer und Frauen hatten ein Lied gesungen: Maria aller Gnaden. Sie knieten nieder und beteten. Andächtig lauschten sie den Worten des Priesters, der ihnen versicherte, daß der Herr bei ihnen sei und sie nicht verzagen sollten. In der Heiligen Schrift stehe zwar: Du sollst der Obrigkeit Untertan sein – aber nicht dann, wenn die Obrigkeit de s Teufels war. Dann sei der Herr auf Seiten derer, die den 24
Kampf aufnahmen für ihren Glauben. Der Priester hatte noch nicht zu Ende gepredigt, als das altertümliche Telefon klingelte. Einer der jungen Padres hob ab. Offenbar war die Verbindung schlecht, denn er hielt sich das freie Ohr zu und fragte mehrmals nach. Nach einer kurzen Verständigung nahm er den Hörer vom Ohr und schüttelte ihn. „Aus“, sagte er. „Unterbrochen. Wie tot.“ Er hängte den Hörer an den Haken und wandte sich an die anderen. „Unser Freund rief an.“ „Das wagt er nur in größter Not.“ „Sie kommen.“ „Das wissen wir.“ „Dominguez Eliteeinheit kommt aber noch heute nacht. Mit Hubschraubern und gepanzerten Geländewa gen.“ „Dominguez riecht es“, sagte einer der Uralten, „daß wir irgendwo hier oben stecken müssen. Er hat alle Dörfer im Hochland durchgekämmt.“ „Eingeäschert und die Menschen getötet“, ergänzte der Indianer mit dem eisgrauen Zopf. „Wir können nirgends mehr sicher sein, wo wi r auch sind, Dominguez weiß alles.“ „Wir werden ihm nicht unsere Hälse hinhalten, damit er sie durchschneidet“, rief einer aufgebracht, „und ihnen unser Scherflein überlassen, damit Colonna sich daran mästet.“ Der Priester beruhigte seine Gläubigen. Sie knieten nieder, beteten und bekamen den Segen. Dann brachen sie auf. Sie holten die eisenbeschlagene Kiste aus dem Ver steck, trugen sie hinaus und wuchteten sie auf einen Schlitten. Dazu etwas Proviant, Decken Schaufeln und 25
ein Indianerzelt. Vor den Schlitten spannten sie ein Maultier. Als sie noch einmal in die Hütte traten, um den Priester zum Abschied zu küssen, verlosch auch das Licht. „Jetzt haben sie die Leitung durchschnitten“, sagte ei ner der Padres. „Unten in Riopaxi“, ergänzte der Uralte. „Also kön nen sie in drei Stunden hier sein.“ „Wir wollen uns beeilen, Bruder“, rief der Indianer, der ihr Führer war. Hundert Mann, hatte er gesagt, würden eine Woche im Schnee schaufeln müssen, um einen schmalen Pfad über den Paß zu graben. Sie waren nur sechs. Und sie hatten nur ein paar Nächte. Aber sie mußten es schaffen.
Es war die umfassendste Fahndungsaktion, die das Land seit dem Ende der Revolution erlebt hatte. Von einer Provinzstadt im Norden leitete General Dominguez persönlich die Einsätze. Mit dem Hubschrauber flog er die Bataillone ab. Überall, vom Hochland bis zu den Bergen, sah man die schwarzen Rauchsäulen brennender Dörfer aufsteigen. Es gab kaum einen Ort, wo seine Schergen nicht grausam gewütet hatten. Die Männer waren zusammen getrieben worden. Man hatte sie geschlagen, verhört und gefoltert. Dann hatte man gedroht, die Weiber vor ihren Augen zu vergewaltigen und die Kinder zu töten. Der eine oder andere sagte daraufhin aus. Meist war es nur wirres, aus Angst zusammengestammeltes Zeug. Zur Strafe legten die Tr uppen Feuer und trieben das Vieh weg. Später kamen die Panzer und walzten alles kurz und klein. – Aber immer zuerst ihre kleinen, arm seligen Kirchen. „Sie werden sie wieder aufbauen.“ Einer von Domin 26
guez Offizieren spuckte auf die Trümmer. „Das haben sie seit Jahrhunderten getan.“ „Sie bauen erst die Kirchen auf, dann die Häuser, und ihre Arbeitskräfte fehlen uns in den Zinngruben.“ „Befehl vom Präsidenten.“ „Nein, diesmal bauen sie ihre Kirchen nicht mehr auf“, sagte Dominguez, „denn schon ihre Kinder wer den gute Kommunisten sein.“ „Christus ist zweitausend Jahre alt“, bemerkte einer. „Und wie alt, bitte, sind Marx und Lenin?“ „Das klingt nach Defaitismus“, rief der General. „Aber es ist die Wahrheit. Ich habe auf der Offiziers akademie gelernt, wie im Krieg die Lage zu beurteilen ist, nämlich mit pessimistischem Realismus. Und dem entsprechend ist zu handeln.“ „Sollen wir sie alle umbringen?“ fragte ein Adjutant. „Wer baut denn das Koka an?“ Schließlich hielt der Rauschgiftschmuggel das Land devisenmäßig gerade noch über Wasser. „Weiter!“ befahl der General. Sie fuhren zu den letzten Dörfern an der Grenze hin auf. Wegen des Schnees auf den Südhängen kamen sie nur langsam voran. Sie fürchteten, daß ihnen das, was sie suchten, im letzten Moment entging. Der General schickte den Hubschrauber los. Aber es war Nacht, und am Morgen herrschte oben am Paß Nebel. Der Nebel hielt mehrere Tage lang an. „Ihr verdammter Gott hat einen Schleier über sie ge legt“, meldete der General dem Staatspräsidenten. „Wo ist die Papstkasse?“ „Sie haben sie bei sich.“ „Ist das sicher?“ „Wir müssen es aus gewissen Hinweisen schließen, Exzellenz.“ „Dann tut etwas. Brecht den Nebel auf. Wie, das ist 27
mir egal. Schüttet Benzin aus und zündet es an, wie es im Krieg von der Royal Air Force gemacht wurde, wenn die Bomber zurückkehrten und über England Milchsup pe lag.“ „Sie haben einen Tag Vorsprung“, gab Dominguez zu bedenken. „Und Sie haben Hubschrauber und Panzer, General.“ ,,Die Bevölkerung ist wie eine Mauer.“ „Dann sprengt die Mauer. Nagelt diese Hunde an die Wände und geht mit Flammenwerfern drüber. Ich will die Kiste voll Gold. Es sind alles nur hinterzogene Steu ern und Abgaben.“ „Sie kriegen sie, Exzellenz“, versprach der Polizei chef. „Wenn nicht, dann rollen Köpfe“, drohte der Staats präsident. Sie mordeten und brannten und folterten weiter. In dieser Nacht fiel der erste Schnee. Früher als sonst im Mai begann schon der Herbst. General Dominguez und seine Eliteeinheiten mußten sich zurückziehen. 4. Marcel Strassbourg wäre bei jeder Musterung als kriegstauglich durchgegangen. Trotz seiner sechzig Jahre. Darauf war er mächtig stolz. – Er arbeitete aber auch mit Disziplin und Härte daran. Es war die gleiche Verbissenheit, mit der er in vierzig Jahren aus einer kleinen Spielzeugfabrik den größten Hersteller für Luft pistolen und Luftgewehre im EG-Raum gemacht hatte. Spätabends, als er vom Pariser Karajan-Konzert nach Hause in die Normandie fuhr, rief ihn sein Steuerberater über Autotelefon an. In seinem bequemen Peugeot G nahm Strassbourg das 28
Gas weg, „Wie sieht es aus, Doktor?“ fragte er. „Wie erwartet.“ „Gut also.“ „Ja, im letzten Jahr machten Sie noch eine brauchbare Bilanz. Ich würde sagen, mit de m üblichen Gewinn. Sieben nach Steuern.“ „Dann ist es Zeit, daß ich investiere“, äußerte der Un ternehmer Strassbourg. „Woran dachten Sie, Marcel?“ „Die Löhne steigen unaufhaltsam. Soziallasten eben so. Will man die Produktion hochfahren, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Mehr Arbeiter beschäftigen oder automatisieren.“ „So ein Roboter, der Ihnen ein ganzes Gewehr zu sammensetzt“, rechnete der Steuerfachmann vor, „ko stet Sie einen Jahresgewinn,“ „Das kommt in zwei Jahren wieder herein.“ „Nur, wenn Sie weiter den Umsatz steigern. Er sinkt aber.“ „Wir haben Sommer, Doktor. Das Geschäft läuft erst an.“ „Mit Ihren alten Modellen?“ zweifelte der Steueran walt, der auch ein guter Wirtschaftssachverständiger war. Dieser Einwand mißfiel dem Unternehmer. „Was heißt, alte Modelle. Es sind stabile Gebrauchs waffen für die Jugend und den Sport.“ „Druckluft, Preßluft oder CO-zwei“, zählte der Fach mann auf. „Und aus Eisen. Die Japaner kommen mit elektrischen Kunststoffwaffen. Sie müssen den Luft druck nicht mehr mühsam durch einen Hebel aufpum pen, das besorgt jetzt ein batteriegetriebener Schwing kolbenkompressor.“ „Das funktioniert doch nicht“, erwiderte Strassbourg. 29
„Wir haben auch so ein Ding konstruiert und brachten es nie zu einem befriedigendem Ergebnis. Entwick lungskosten eine Million Franc.“ „Die Japaner sind schon am Markt. Bei der Spiel zeugmesse in Nürnberg habe ich das Elektrogewehr gesehen und damit geschossen.“ „Sie machen mir keine Angst“, prahlte Strassbourg. „Die Dinger sind zu anfällig. Die Batterien zu rasch leer.“ „Der Akku reicht für mehr als hundert Schuß. Danach kommt er ans Stromnetz und ist in einer Stunde wieder voll geladen.“ Marcel Strassbourg wollte das alles nicht hören. Er wollte nichts davon wissen, weil es ihm in den Nächten schon den Schlaf raubte. „Die Europäer sind konservativ. Sie kaufen Waffen und kein Spielzeug“, entgegnete er heftig. Sein Steuerfachmann, ein besorgter Freund des Fabri kanten, ließ nicht locker. „Wie sieht es mit den Orders für das Weihnachtsge schäft aus, Marcel?“ „Nicht gerade umwerfend.“ „Das ist die erste Vorwelle der Bugwelle. Ich warne Sie.“ „Was, zum Teufel, soll ich tun?“ fragte der Fabrikant wütend. „Verkaufen“, riet der Anwalt. „Nehmen Sie das An gebot der Joshymusa-Corporation aus Tokio an.“ „Denen geht es nur um meine Vertriebsorganisation in Westeuropa.“ „Sie bieten dreißig Millionen Dollar. Schlagen Sie den Schrott los, machen Sie sich ein feines Leben. Kau fen Sie sich eine neue Yacht, ein Schloß in Spanien.“ „Ich weiß selbst, was man mit Geld mache n kann“, zischte der Industrielle. 30
Ein Entgegenkommender blendete ihn. Beim Auswei chen kam er mit dem rechten Vorderrad fast in den Graben. „Sie haben doch noch nie so richtig gelebt“, beharrte sein Steueranwalt. „Wird Zeit, daß Sie e s nachholen.“ „Ich fühle mich wie vierzig.“ „Wollen Sie es mit dem Weltkonzern aufnehmen, Marcel? Dabei können Sie in wenigen Jahren alles ver lieren.“ „Ich habe noch ein ansehnliches Privatvermögen.“ „Na schön. Buttern Sie es unter“, meinte sein Anwalt. „Aber denken Sie trotzdem darüber nach.“ „Ja, werde ich.“ „Und noch etwas, Marcel.“ „Lieber erst morgen, Doktor“, bat der Unternehmer, „Es fängt gerade zu regnen an. Ich unterhalte mich lie ber in meinem Büro bei einem Glas Calvados mit Ih nen.“ „Schön, dann morgen. Sechzehn Uhr.“ „Ja, sechzehn Uhr.“ Strassbourg klemmte den Hörer in die Halterung auf der Mittelkonsole des schweren Geländewagens. Er hatte noch zwölf Kilometer. Dabei ging ihm soviel wie auf einer Strecke von hundertzwanzig Kilometern durch den Kopf. Der Doktor hatte recht. Genaugenommen warf seine Fabrik schon seit Jahren kaum noch Gewinn ab. Weni ger, als wenn er verkaufte und das Geld günstig anlegte. Nur wußte das keiner außer ihm. Er hatte immer Kapital zugeschossen. Geld aus Quellen, von denen niemand auch nur die geringste Ahnung hatte. Nein, stimmte nicht ganz, ein paar Männer wußten davon, seine alten Kameraden. Nur eine Handvoll, aber die besten. Ein verschworener Haufen, versprengt über die weite Welt. Sie hatten große Geschäfte gemacht und enorm ve r 31
dient. Eigentlich diente ihm die Fabrik nur zur Tarnung. Jeder sollte ihn für einen Spielzeugfabrikanten halten. Deshalb gab er die Tarnung nicht gern auf. Eines Tages würde er es wohl tun. Dann nämlich, wenn die heimlichen Geschäfte ausliefen, wenn es keine Freunde mehr gab, weil sie alle weg waren. Alt, krank, siech, gestorben. Aber das war sein anderes Leben. Der unsichtbare Teil seine r Doppelexistenz. An der Kreuzung bog er in die Pappelallee ab, die zu seinem Gutshof führte.
Morgens war Marcel Strassbourg noch vor den Knechten und Mägden auf den Beinen. Er ging in die Schwimmhalle und kraulte so lange die Bahn auf und ab, bis zwölfhundert Meter zusammenkamen. Dann arbeitete er im Fitneßraum an modernen Geräten jene Muskelpartien durch, die beim Schwimmen zu kurz kamen. Wenn er aus der Dusche trat, hatte der Diene r schon Fruchtsaft und Müsli serviert. Marcel Strassbourg kleidete sich an, wobei er eine Mischung aus moderner und konservative r Garderobe bevorzugte. Am liebsten waren ihm jugendlich ge schnittene Maßanzüge. Später fuhr er mit dem Citroen Seineabwärts nach Vernon, wo Verwaltung und Hauptwerk der Firma Strassbourg-Waffen ihren Sitz hatten. Er war durchaus in der Lage, sich einen Rolls-Royce oder einen Mercedes 500 zu leisten. Er lebte aber seit vierzig Jahren in Frankreich und fühlte sich als Franzo se. Das Land hatte ihm die Chance eingeräumt, sich bis zur oberen Mittelschicht hinaufzuarbeiten. Dafür zeigte er sich dankbar. Dankbarkeit bezeichnete er als die 32
Schwester der Treue. - Und von Treue hielt er viel. Um 7.30 Uhr, auf die Minute genau wie an jedem Tag, betrat er das Verwaltungsgebäude. Oben in seinem Büro studierte er de n Posteingang. Anschließend folgte die Frühkonferenz mit den drei Abteilungsleitern für Produktion, Finanzen und Verkauf. Es gab wenig Neues. Mitten hinein kam ein Anruf. Ein Gespräch aus Ostasien. Obwohl es nicht geschäft lich war, nahm Strassbourg es entgegen und verabschie dete seine Mitarbeiter. Als er allein und die Polstertür geschlossen war, änderte sich seine feldwebelhafte Stimme. „Was gibt’s, mon ami?“ Der Anrufer gehörte zu seinem engsten Freundeskreis und war derjenige, dem er am meisten Zuneigung ent gegenbrachte. „Eine Anfrage“, berichtete der Mann in Singapur. – Er nannte sich Nik Saltforth. Sein Englisch war fehler los. Aber selbst nach fünfzig Jahren Abwesenheit hatte er noch einen leichten Tiroler Akzent. „Anfrage – von wem?“ „Ein gewisser Rodr iguez.“ „Spanier?“ „Der Anruf kam aus Columbien.“ „Ein Deckname. Denn keiner dort heißt Rodriguez.“ „Ein Flüchtling vermutlich.“ Beide kannten den nördlichen Teil Südamerikas gut. Sie hatten dort gelebt und gekämpft und wären fast zugrundegegangen. „Kommt er etwa aus…?“ Strassbourg nannte das Land nicht. „Ja, genau von dort kommt er.“ „Was will er?“ „Unsere Dienste.“ Strassbourg lachte lautlos. 33
„Ein Flüchtling. Ist er sich klar darüber, was wi r ko sten?“ „Er ist bereit, eine Bankgarantie vorzulegen. Oder Bürgen.“ „Banken, Bürgen – du weißt, was die wert sind.“ „Bürgen in Rom. Im Vatikan.“ Nun stutzte der Mann in Frankreich. „Moment mal.“ Er kombinierte. „Dann hat er mit der Kirche zu tun. Also ist er Flüchtling aus religiösen Gründen, und wir wissen, wer ihn jagt.“ „Ernesto Colonna“, sprach der Anrufer es aus. „Wir kamen überein, seinen Namen nie wieder zu er wähnen.“ „Okay, das größte Verräterschwein aller Zeiten.“ „Wenn es gegen ihn geht, wäre das etwas anderes.“ „Wir haben noch eine Rechnung mit ihm offen, Mar cel.“ „Geht es gegen ihn?“ wollte Strassbourg genau wis sen. „Hör dir diesen Rodriguez an.“ „Schon, er soll kommen.“ „Wann?“ Der Fabrikant schien in seinem Terminkalender zu blättern. „Erst muß diese andere Sache abgewickelt sein. Sie erfordert alle unsere Kräfte, unser Können, unsere Or ganisationsgabe, unsere Energie und unsere Umsicht.“ „Noch zehn Tage“, sagte Saltforth. „Dann haben wir den Rücken frei.“ „Dienstag übernächste Woche?“ „Wenn er solange warten kann.“ Strassbourgs Stimme wurde gedämpft. „Hör zu, mon ami“, sagte er flüsternd. „Wenn einer auf unsere Dienste nicht warten will, dann braucht er unsere Dienste nicht. Dann soll er sich, zum Teufel, 34
anderswo bedienen.“ „Aber wo?“ fragte der Mann in Singapur. „Also schön, Dienstag in zwei Wochen.“ „Noch eines“, fragte Strassbourg, „woher kennt er un sere Organisation?“ „Wir waren“, antwortete Saltforth, „in Südamerika nicht ganz unbekannt. Die katholische Kirche , vielmehr der Vatikan, verfügt zweifelsfrei über das dichteste Geheimdienstnetz der Welt.“ „Eh bien.“ Marcel Strassbourg war beruhigt. „Eines muß man diesen Weihrauchstinkern lassen: sie können schweigen.“ Am Abend wurden seine Nerven einer neuen Bela stungsprobe unterzogen. Einer seiner Freunde in Florida rief an. „Probleme?“ fragte Strassbourg mit erhöhtem Puls. „Nein, alles läuft wie am Schnürchen. Taktisch, stra tegisch und personell.“ „Wo liegt dann das Problem?“ erkundigte Strass bourg sich. „Ich wittere Knoblauchduft.“ „Ich hoffe, du hast alle Schotten dichtgeschlossen. „ „Der Duft geht von zwei Männer aus, die ich kenne.“ „CIA? MI-six? BND? KGB?“ zählte Strassbourg auf. „Mossad“, sagte der Amerikaner. „Zweifelsfrei kom men sie aus Tel Aviv.“ Strassbourg, noch immer der führende Kopf de r Or ganisation, dachte kurz nach. „Geh auf Tauchstation, Slim.“ „Dachte auch schon daran“, erklärte der Mann in Miami. „Wenn du mich bis Mitte Juni nicht erreichen kannst, weißt du, wo ich stecke.“ „Das Programm läuft“, sagte der Franzose. „Von jetzt ab totale Funkstille bis über den Termin hinaus. Gib es weiter.“ 35
Das war ihre Stärke. Deshalb hatte man sie nie ent deckt, und deshalb gab es sie heute noch. Es lag an der perfekten Organisation und, der absoluten Zuverlässig keit der Mitglieder. Sie hatten scho n andere Krisen überstanden. Auch die zwei ganz großen Krisen. Da mals in den sechziger Jahren, als sie Ägypten zum Yom-Kippur-Krieg gegen Israel aufhetzten, und in diesem Jahrzehnt, als sie die diplomatische und techni sche Vorarbeit für den Falkland-Krieg leisteten. In jedem dieser Fälle hatten ihre Klienten etwas auf die Nase bekommen. Aber Garantien gab es im Krieg eben nicht. Und die jeweils dreißig Millionen Dollar hatten der Kasse der Organisation nicht unbedingt geschadet. 5. Das Taxi kam von der Avus her durch den Grunewald. An der Clay-Allee hielt es sich links und bog wenige hundert Meter weiter in die Königin-Luise-Straße ab. Und schon war es in Dahlem. Der Himmel über Berlin war grau mit dunklen Punk ten. Es sah nach Regen aus. Das Taxi hielt in einer Straße vor einem Haus, in das der Fahrgast gar nicht wollte. Er hatte zur Sicherheit die falsche Adresse angegeben. Taxifahrer verfügten über ein gutes Gedächtnis und zeigten sich Behörden gegen über meist sehr kooperativ. „Wieviel?“ Der Fahrer las von seiner Uhr ab. „Neunzehn Märker.“ Der Fahrgast in abgewetzten Jeans, schwarzen Cow boystiefeln und schwarzer Motorradlederjacke sah nicht vermögend aus. Das Trinkgeld hielt sich in Grenzen. Er reichte dem Fahrer einen Zwanziger und verzichtete auf 36
Wechselgeld. Draußen steckte er sich eine Zigarette an, wartete aber nur, bis das Taxi in Richtung Thilo-Platz verschwunden war. Dann schlenderte er um einige Ecken und blieb vor einer Villa aus den dreißiger Jahren stehen. Das eiserne Tor in der Mauer war angelehnt. Die Äste der Trauerweide streiften seinen korrekt gezogenen Scheitel, der sich genau 187 Zentimeter über dem Erd boden befand. An der massive n Haustür aus deutscher Eiche klingelte er. Er mußte es mehrmals wiederholen. Endlich hörte er Schritte. Damenabsätze. Und von drin nen die Frage: „Wer ist da?“ „Horst.“ „Welcher Horst?“ „Nicht Horst Wessel, aber der aus dem Ruhrpott.“ Hinter dem Spion bewegte sich ein Auge mit heller Iris. Dann wurde aufgesperrt. Noch hielt die Kette den Türspalt begrenzt. Der Besucher wurde streng gemu stert. Was man von dem Madchen sah, war die Hälfte einer mittelgroßen Blondine. Im Bademantel wirkte die Figur stämmig. Sie war nicht hübsch und nicht häßlich. Auf dem Kopf trug sie einen Turban – ein Handtuch, gedreht und geschlungen – in der Farbe des Frotteeman tels, also hellblau. ,,Komme eben aus der Dusche.“ Der Besucher grinste. „Klar, riecht man. Heiß und wie Veilchen.“ Er wurde erneut gemustert. „Bist du angemeldet, Kamerad?“ „Nein. Sie sind hinter mir her.“ „Woher hast du unsere Adresse?“ „War mal als Kurier da Zur FAP -Gruppe Ziemer.“ „Ja, die gibt es noch“, sagte die Frau. Trotzdem ließ sie ihn nicht herein. ,Kennwort?“ 37
„Du meine Güte!“ stöhnte der Fremde. „Bevor ich letzte Woche untertauchte, hieß es Langemark, glaube ich.“ „Und die Woche vorher?“ „Tannenberg.“ „Kann sein“, bemerkte die Blonde. „Los, komm rein.“ Sie löste die Sperrkette. Horst, alias Robert Urban, marschierte in die Wohn halle. Der Boden war aus hellem Sollnhofene r Marmor, die Türen aus rotbraunem Nußbaum. Das Mädchen stand noch immer mit dem Rücken zum Eingang. „Ich bin Magda“ Sie hatte wirklich sehr helle Augen. Als sie den Tur ban abnahm, sah man, daß sie das Haar gezopft trug. Hinten war es zu einem Knoten geformt. Die eleganten hochhackigen Schuhe paßten weniger gut zu ihr. Offenbar war ihr kalt. Sie zog den Bademantel oben zu. „Magda, die Magd“, sagte Urban. „Nein, Magda, die Stolze. Wer ist hinter dir her, Horst?“ „Verfassungsschutz. Unsere Aktionsfront ist verbo ten.“ „Da kommst du ausgerechnet nach Berlin?“ „An allen Grenzen stehe ich im Fahndungsbuch. Dachte, ich könnte eine Weile hierbleiben.“ „Setz dich, Horst“, forderte sie ihn auf. „Bier oder Mineralwasser?“ „Kaffee“, bat er. Er bekam eine Tasse. Er durfte auch rauchen, sich aber nicht häuslich niederlassen. „Ich muß erst mit Micha reden“, erklärte sie. „Tut mir leid, Horst.“ „Klar, Gnädigste.“ 38
„Ich heiße Magda“ „Hast du schon mal erwähnt“, sagte der Besucher. Über dem germanischen Kamin hing ein mächtiger Spiegel. Er ließ die Halle doppelt so groß erscheinen. Der Besucher betrachtete sich darin und dachte: Mann, Urban, was haben sie aus dir gemacht. Die Adresse des Mädchens in Berlin-Dahlem hatte der BND-Agent Robert Urban vom Verfassungsschutz. Er hatte sie bekommen wie ein Freier die Telefonnum mer einer Nutte von deren Zuhälter. Sie hatten sie ihm überlassen, weil sie bei der Dame einfach nicht zu Schuß kamen, wie sie es ausdrückten. Offenbar hatte sich Magda dieser Gruppe der rechtsextremen freiheitli chen Arbeiterpartei, FAP, angeschlossen. „Sie mögen sich nennen, wie sie wollen“, hatte der Kollege in Köln geäußert, „Es handelt sich um Neona zis.“ Das war der einzige Weg, den Behauptungen des Mossad nachzugehen, daß neonazistische Studenten gruppen hinter den arabischen Anschlägen in Israel stünden, Da die Agenten des Verfassungsschutzes bekannt wa ren wie bunte Hunde, hatte Urban es übernommen. In Berlin durfte der BND durch eine Sonderregelung aktiv werden. Erst hatten sie ihm typische Klamotten besorgt. Dann war einer ihrer großen Maskenmeister ans Werk gegan gen. „Was machen wir mit dem Haar?“ hatte er gefragt. „Gibt nur zwei Möglichkeiten“, hatte Urban geant wortet, „ganz lang oder ganz kurz.“ Seine braune Dolle war mittellang. Bis sie zur Jesus frisur wucherte, dauerte es Monate, und eine Perücke war nicht zu empfehlen. „Also runter damit.“ 39
Der Kaminspiegel war ziemlich blind, aber soviel stand fest: er fühlte sich mit dem extremen Militär schnitt – Streichholzlänge, an den Seiten mit de r Ma schine noch hinauf – äußerst unwohl. Aber es verjüngte. Er konnte gut für einen Mittzwanziger durchgehen. – Für einen verlebten allerdings. Nur die Goldrandbrille paßte nicht zu eine m Mann, der auf der Flucht war. Als Ausgleich hatte er sich vier Tage nicht rasiert. Das nahm seinem Kinn etwas von der Wucht. Außerdem mußte er sich hüten zu grinsen. Bloß nicht überheblich wi rken. – Aber wie stellte man einen Geburtsfehler ab? Es dauerte nicht lange, da vernahm er von der Straße das Singen eines mehrzylindrigen Motorrads. Schwere BMW, vermutete er. Magda, jetzt in dunklem Rock und weißer Bluse, öff nete nicht. Der Besucher kam von hinten durch den Garten. Sein fester Stiefelschritt hatte eine n Nachhall wie Sporenklirren. Es waren aber nur die Chromnieten an Jacke und Gürtel, die gegen den Sturzhelm schlugt. Wie er sich so breitbeinig vor Urban aufbaute, sah er aus wie der Hitlerjunge Quex mit Gelbsucht. „Tag, Horst“, rief er. Er hatte einen ungeheuren Hän dedruck. „Mit der Aktionsfront haben wi r eigentlich wenig am Hut.“ Urban zuckte entschuldigend die Achseln. „Morgen zieh ich weiter.“ „Eine Nacht kannst du bleiben. Aber wohin willst du?“ Urban versuchte es mit einem ratlosen Hundeblick „Dachte, Berlin…“ „Berlin ist ein Sumpf, dachtest du. Klar, wi r bieten hier jedem gerne Unterschlupf, aber wi e gesagt: ANS ist verboten. Und wir werden ständig überwacht. Wie geht es Leo?“ 40
Urban war vorher genau ins Bild gesetzt worden. „Er sitzt.“ „Und Gertrude?“ „Auch im Knast.“ „Das habt ihr davon. Gewalt dient der Bewegung nicht.“ Urban wollte sich nicht auf politische Diskussionen einlassen. Es kam auch nicht dazu. Micha trat ans Fenster zur Straße, zog den Vorhang spaltbreit auf und winkte Urban. „Der mausgraue Opel drüben bei den Bäumen.“ „Voll mit mausgrauen Typen“, ergänzte Urban. „Kennst du sie?“ „Nein. Ich weiß nur, daß sie mich beschatten.“ Das hatte Urban nur wissen wollen. „Aber ich kenne sie.“ „Woher?“ „Sie treiben sich überall herum. Schon mal vo n Mos sad gehört?“ Urban fixierte Micha so, daß er jedes Muskelzucken wahrnahm, jede Unregelmäßigkeit seine s Atems. Michas Lider verengten sich. Er atmete deutlich tie fer. „Was ist Mossad?“ tat er weit weg. „Israelischer Geheimdienst.“ „Was haben wir mit denen zu tun“, bemerkte Micha, „mit Israel?“ „Du mußt es wissen“, erwiderte Urban. Vom Wagen aus wurde das Haus fotografiert. Dann fuhr der Opel weg. Micha verließ das Haus erst bei Dunkelheit. „Kannst bleiben“, entschied er, als er sich Urbans Abenteuer angehört hatte. „Vierundzwanzig Stunden. Nicht länger. Wahrscheinlich suchen sie nur dich.“ „Kaum“, entgegnete Urban. „Ich sollte zwar mal in 41
ein arabisches Ausbildungslager, klappte aber nicht wegen Beinbruchs bei einer Demo in Dortmund, die zu ‘ner Straßenschlacht ausartete.“ Magda bereitete ein lukullisches Abendessen, beste hend aus Sülze und Brot. Ein Paar Frankfurter und Senf hatte sie auch noch. Vorher konnte Urban sich duschen. In das Bad kam man nur durch das obere Schlafzim mer. Als er dort einen Schrank öffnete, haute es ihn schier um. Links hing eine Uniform, wie sie früher vom Bund deutscher Mädchen getragen worden war: dunkelblauer Rock mit Quetschfalte vorn, kurze Jacke aus Englisch leder – so nannte man damals Velvet – schmales Hals tuch mit Lederknoten, mehrere weiße Blusen, Söck chen, Haferlschuhe. Er ließ die Dusche prasseln und suchte weiter. Unter dem Bett fand er eine Kofferschreibmaschine und eine Mappe. Sie war verschlossen und abgesperrt. Inhalt vermutlich Papiere. Magda kam herauf und ins Badezimmer, als er gerade nackt unter der Brause stand. In dem heruntergeko m menen Haus gab es natürlich keinen Duschvorhang. Magda betrachtete ihn weder mit Scheu noch mit Neugier. Ein nackter Mann schien für sie nichts Beson deres zu sein. Aber sie wunderte sich doch. »Du hast Beulen an der Karosserie wie ein altes Auto.“ „Man kassiert so allerlei“, witzelte er, „im Laufe einer stürmischen Jugend.“ „Schrammen pflegen zu verheilen“, sagte sie. „Das da war ein Messerstich, und das Loch stammt von einer Kugel. Und diese Kratzer übe rall.“ „Ich hatte zu Hause zwei Siamkatzen.“ 42
„Wie auseinandergenommen und wieder zusammen genäht. Ein Glück, daß du lebst, Horst.“ „Ja, Glück hatte ich“, gab er zu. Ihre Augen wurden groß und rund. „Auch bei Frauen, he?“ Er seifte sich ein, drehte die Dusche stärker auf und lachte dröhnend. „Die einen finden es abstoßend, die anderen anzie hend.“ „Ich mag behaarte Männer.“ „Und ich behaarte Frauen.“ Er stellte die Dusche ab, angelte nach dem Handtuch. Sie hatte es vor ihm benutzt. Es duftete nach ihrem Parfüm. Es war nicht Veilchen, sondern etwas weit Besseres. Teures Parfüm, summierte er, hochelegante Pumps und eine Cartier-Uhr. Sie würde behaupten, es wäre eine Imitation, aber er glaubte, daß sie echt war. – Wenn man das alles bedachte, dann kamen einem Zweifel an dieser FAP-Maid.
Zwischen den dicken Mauern war es kühl. Magda steckte den Kamin an. Urban besorgte Holz. Im Garten waren Äste aufgeschichtet. Es gab eine Pforte nach hinten hinaus. Sie war zu. Er schaute über die kopfhohe Mauer. Zwischen Bäumen und dem klei nen See sah er ein Auto stehen. Typ Range Rover. Ein Geländewagen nicht gerade von der billigen Japansorte. Und ziemlich neu. – Der Wagen führte französisches Kennzeichen. Er ging hinein. Sie redeten lange. Mit einemmal ver fiel er ins Französische. So, als koste es sie überhaupt keine Mühe, führte auch Magda die Unterhaltung auf Französisch weiter. Sie merkte es erst, als es zu spät 43
war. Sofort griff sie an: „Für einen Walzwerkarbeiter bist du gut drauf, Horst.“ „Ich habe zwei Jahre bei Renault Hinterachsen mon tiert. Und du?“ „Ich war Au-pair-Mädchen bei einem Industriellen. Feine Familie.“ „Offenbar sind wir sprachbegabt“, stellte Urban iro nisch fest. „Wir beherrschen sogar Grammatik und Aussprache.“ Sie wechselte das Thema. Später wollte Magda Urban hereinlegen. Sie sprach englisch. Doch er ließ sich nicht aufs Glatteis führen. „Mein Englisch“, bedauerte er, „beschränkt sich auf die Schlagertexte von Popgruppen.“ Sie sagte, im Kühlschrank sei noch Wein. Er holte die Flasche. Es war irgendein Roter aus Südtirol. Er riß den Kronkorken mit der Handkante ab, wie man es von einem harten Burschen erwartete. Das Mädchen Magda trank. Man konnte sagen, sie schluckte nicht nur stramm, sie soff regelrecht. Das paßte ins Bild. Gewiß hatte sie blankliegende Nerven und versuchte, sie damit zu beruhigen. Ihre Gesichtshaut wurde babyrosa, ihre Zunge schwer. „Wie halt man es in ANS-Kreisen eigentlich mit Sex?“ wollte sie wissen. „Wie bei Fixern. Besser ein Schuß zuviel als einer zu wenig.“ „Unter Absingen von Kampfliedern?“ „Klar, es zittern die morschen Knochen. Möchtest du es genau wissen?“ Er legte Holz nach und gab dem Kaminfeuer Luft. „Warum nicht.“ Sie war recht attraktiv. Nicht gertenschlank, aber mit 44
gutausgebildeten Formen und Proportionen, hinten, vorn, oben, unten. Die langen, kräftigen Beine waren nackt, ohne Strümpfe. Sie nahm sie hoch übereinander. Wenn sie den Überschlag wechselte, gestattete sie auch mal einen Blick bis zum Häschen. – Alles Absicht. Er hatte nichts dagegen, sie zu vernaschen, Aber nicht schon in dieser Nacht. Das sah zu sehr nach Regie aus. Auf irgendeine Weise fand er das Parkett zu schlüpfrig. Die Flasche war bald leer. „Packen wir noch eine, Horst?“ „Für mich ist Sense“, sagte er. Sie stand auf, gähnte und ließ sich gegen ihn sacken. Sie war steif. Er spürte es, wie sie sich vo m Knie auf wärts gegen ihn schob und sich an ihm rieb. Aber sie war auch sehr müde. Sie schlief ein, während sie ihn umarmte. Er trug sie zum Sofa und deckte sie zu. Dann ging er nach oben. Die Mappe war aus zwei Millimeter starke m Rindsle der gearbeitet und hatte ein Buchstabenschloß. Von den vier Stellgliedern war der erste Buchstabe offenbar nicht verdreht worden. Eine Chance für ihn. Drei Buchstaben waren, wenn man Glück hatte, in wenigen Stunden zu finden. Mit Hilfe einer Fleischgabel schaffte er es in einer halben. Eine Zinke der Gabel setzte er. auf das Schloß, das Ende des Griffes steckte er in die Ohrmuschel. Die feinen Unterschiede im Knacken, wenn die Zähne über die Rasten glitten, halfen ihm beim Auffinden der drei Sperrlücken. Es war, als tastete man im Dunkeln mit den Fingern das Gebiß eines Toten ab, um einen faulen Zahn zu finden. In der Mappe lagen sowohl leere wie beschriebene Blätter. Er überflog sie und fluchte im stillen mehrmals. Wenn das kein Spielmaterial war, hatte er den Beweis 45
für die Behauptung des israelischen Geheimdienstes in der Hand. – Diese verflixten Mossad-Burschen hatten recht. Neonazistische Gruppen waren auf irgendeine Weise an den Anschlägen gegen ihren Staat beteiligt. Und in vier Tagen lief das ganz große Ding. Aus der Halle drang ein Geräusch herauf. Urban löschte das Licht und wartete. Dann überlas er den Rest der Seiten, steckte alles wieder in die Mappe und ver schloß sie. Als er nach unten kam, lag Magda, die Nazibraut, auf dem Teppich. Beim Umdrehen war sie von der Couch gefallen. Urban dachte, er wäre gerade erst eingeschlafen, als ihn gleißendes Licht aus dem Schlaf riß. Aber es war schon halb sieben. Vor dem Bett standen Micha und einer, der doppelt so breit gebaut war wie der Berliner FAP -Boß, ein wahres Muskeldreieck. Er packte Urban, riß ihn hoch auf die Füße und warf ihn erst einmal gegen die Wand. Urban glaubte, sein Genick würde brechen. Aber das machte ihn wach. Der Fausthieb des Muskelmenschen traf ihn unter den Rippen. Doch der nächste Haken ging schon an die Tapete. Urban hatte den Kopf nach rechts gezuckt. Beim nächsten Hieb wich er nach links aus. Vor Wut und Schmerz keuchend, verspritzte der Schlä ger seinen Schleim. Er zog ein Messer und holte zu einem Stich aus, der Urban glatt an die Wand genagelt hätte. Blitzschnell trat Urban ihm gegen die hautengen Jeans zwischen die Beine. Die Messerfaust lief aus der Geraden und erwischte ihn am Schulterknochen. Er fühlte sich an wie zermalmt. Aber nun entleerten sich Urbans Adrenalindrüsen. Er kannte diese Leute. Der Angriff hatte Gründe. Sie 46
wollten ihn weichklopfen, zu einer Aussage bringen, dann sah man weiter. Mitunter kam es auch vor, daß ein Verräter im Teltow-Kanal endete. Der hohe Absatz seines Cowboystiefels traf den Schläger so, daß er aufheulte und sich nach vorne ein winkelte. Er klappte regelrecht zusammen. Al s Urban ihm die Handkante ins Genick hämmerte, ging er k. o. und fiel vornüber. Um ihn herum bildete sich ein feuch ter Fleck. Seine Blase konnte den Urin nicht mehr hal ten. „Wo hast du das gelernt?“ fragte Micha verwundert. „Notwehr, das lernt man nicht erst.“ „Den letzten Schlag meine ich. Der war professio nell.“ „Denkst du, ich lasse mich mit einer Kanone erwi schen? Ich habe meine Handkante zur Waffe gemacht.“ Micha setzte sich und bot Urban eine Zigarette an. „Es mußte sein, Horst“, entschuldigte er den Überfall. „Klar“, sagte Urban. „Deine Überprüfung verlief nicht positiv. Mehr im Sinne von negativ.“ „Meine Gruppe existiert nicht mehr.“ „Auch von den anderen kennt dich keiner, Horst.“ „Logisch. Wir schotten uns zu winzigen Zellen ab. – Alles neue Leute. Die alte Riege spielt U-Boot, oder sie sitzen im Knast.“ Micha legte ihm den Arm um die Schulter. „Wir hatten Gründe. Dachten schon, du steckst mit unter der Decke.“ „Unter welcher?“ „Von Magda“ „Der Nazinutte?“ „Von wegen“, sagte Micha. „Eines Tages kam sie an und schwang Reden wie Adolf im Bürgerbräukeller, nur einen Zacken besser. Echt stark. Wir trauten ihr und 47
nahmen sie auf. Und was ist das Ergebnis?“ „Erst mal hat sie alle vernascht.“ „Wenn es das nur wäre. Es war nicht mal das. Sie ist ‘ne Zeitungsjule.“ Urban zeigte gutgespieltes Entsetzen. „Reporterin?“ „Von Bild oder so.“ „Wenn das stimmt, bin ich erledigt. Das kann nicht wahr sein, verdammt.“ „Sie hat sich bei uns eingeschlichen für ‘ne Reportage über die wahren Hintergründe der Umtriebe von Neonazis in Deutschland und Westberlin.“ Urban gab sich jetzt völlig erschüttert. „Und heute nacht kamt ihr drauf?“ „Scheiße, wa?“ sagte der Berliner. „Frag mich nicht, woher wir es haben. Ein Tip von Sympathisanten. Keine Gerüchte, weiß der Teufel, sondern die Wahrheit. Sie muß es gewittert haben. Nun ist sie fort.“ Urban drückte die Zigarette aus, stand auf und tippte einen Gruß gegen die Stirn. „Horst, wohin gehst du?“ fragte Micha weinerlich. „Gegen Berlin ist Bochum noch an ruhiges Pflaster“, antwortete Urban. „Ich verpisse mich. Heil!“ „Heil!“ rief Micha und kümmerte sich um seinen Leibwächter. 6. Zwei Flüchtlinge, ein Padre und ein Laienprediger, hatten die kolumbianische Hauptstadt Bogota erreicht. Dies unter unendlichen Mühen. Aber die Papstkasse war gerettet. Die eisenbeschlagene Hartholzkiste hatten sie in ei nem Gehölz nördlich der Stadt vergraben. Nun wohnten sie in einer schäbigen Pension im Armenviertel der 48
Stadt und warteten. „Ich hab’ mich entschieden“, sagte der Mann, der die letzten katholischen Gemeinden seines Landes vertrat. „Ich werde es tun.“ „Ernesto Colonna ist die Obrigkeit“, gab der Padre zu bedenken. „Er ist der Antichrist“, erwiderte Miguel, der Laien prediger. „Gib Gott, was Gottes ist, steht in der Bibel, und dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ „Dieser Kaiser ist der Teufel.“ „Was hast du vor?“ fragte der Padre. Längst hatte er die Kutte abgelegt und trug die geflickte Montur eines Minenarbeiters. „Ich werde ihn töten“, erklärte Miguel Rodriguez de Santa Clara. „Du sollst nicht töten, steht in der Schrift.“ „Ich lasse ihn töten, denn ich bin zu schwach dazu.“ Der Padre schlug das Kreuz. „Töten lassen ist wie selbst töten“, äußerte der Pa dre…Du wärst nicht besser als er.“ „Mag sein, aber für alle ist es besser, wenn er stirbt.“ „Das bringt dich für ewig ins Fegefeuer“, warnte der Padre. „Auch die Feigen und die Zauderer brennen dort.“ Der Padre hatte versucht, die Dogmatik abzuklären. Im Grunde sah auch er keinen anderen Weg. „Und wie stellst du dir das vor, Bruder Miguel?“ „Ich kaufe die besten Killer, die es gibt.“ „Mit dem Geld der Armen.“ „Es ist fast so gut verwendet wie für den Besuch des Heiligen Vaters.“ Der Padre schwankte zwischen Entsetzen, Zweifel und Hoffnung. „Und wer sind die besten Killer?“ 49
„Ich bekam ihre Adresse.“ „Von wem?“ In diesem Punkt war Miguel Rodriguez de Santa Cla ra nicht bereit, den Padre einzuweihen. „Von dem Mann, der uns vor der Polizei warnte.“ „Woher weiß er es?“ „Er ist in Colonnas Nahe.“ Nun fragte der Padre nicht weiter. Er verließ das Hotel, holte eine Zeitung und ein wenig zu essen. Tortillas, wie sie überall auf den Straßen ge backen wurden, gefüllt mit Gemüse. Dazu ein paar Früchte. Als er zurückkam, war Miguel nicht im Zimmer. Er kam erst, als es dunkel wurde. „Ich bin in Sorge. Wo warst du, Bruder?“ fragte der Padre. „Wir müssen die Kiste ausgraben.“ „Du brauchst also Geld.“ „Ja, für die Flugkarte und die Anzahlung.“ „Wohin geht die Reise?“ „Nach Paris.“ Der Padre drückte stumm seine Mißbilligung aus. Es war das einzige, was er tun konnte. „Denk an die Brüder in den Gefängnissen“, erinnerte Miguel. „Ich denke an nichts anderes.“ „Glaubst du, daß Gebete noch helfen? Wir haben ver dammt genug gebetet.“ „Fluche nicht, Bruder“, bat der Padre. „Tu, was du tun mußt, aber fluche nicht. Es geht auch so. Wann trittst du die Reise an?“ „Ich erwarte noch Nachricht von drüben“, sagte Mi guel.
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Am übernächsten Tag wurde er spät in der Nacht ans Telefon gerufen. „Gott zum Gruß“, meldete sich der Freund aus der Heimat. „Tod dem Tyrannen“, gab Miguel sich zu erkennen. „Man, erwartet dich“, übermittelte der Anrufer. „Es ist vorbereitet.“ Er bekam weder Namen noch Adresse, nur eine Tele fonnummer und ein Kennwort. „Sie werden Einzelheiten verlangen“, fürchtete Mi guel. „Ich habe sie“, sagte der Anrufer. „Hör zu, präge dir alles ein, aber vertraue kein Wort davon einem Papier an. Bloß nichts Schriftliches.“ „Ich höre, Bruder.“ In der Sprache von Ornithologen, also Vogelkundlern, wagte der Vertrauensmann Staatsgeheimnisse der über wachten Fernleitung anzuvertrauen. Er sprach von einem Adlerflug, der soundsoviele Ta ge nach Beginn des südamerikanischen Winters begin ne. Der Flug führe den Adler zwecks Futtersuche erst nach Norden, dann nach Osten zu den Nistplätzen ande rer großer Adler. Große Adler pflegten untereinander Freundschaft. Begleitet würde der Adler von einem Schwärm Geier und Habichte, die ihn umgaben, denn er sei sehr verwundbar. So ging es weiter, bis Miguel genug wußte. „Auf den Adler warten die besten Adlerfänger“, be endete der Anrufer das Gespräch. „Sie benutzen tödli che Netze. Leider ist es nötig, daß die Fäden dieser Netze aus purem Golde gewirkt sind. Auch zerreißen diese Netze leicht. Deshalb fordern sie, daß man ihnen die Netze im voraus bezahlt, ehe sie sie über den Adler werfen. Aber sind sie erst einmal auf die Jagd gegangen, dann gerät selbst der stärkste Adler in ihre Vogelfalle.“ 51
„klingt wie ein Märchen“, bemerkte Miguel. „Es ist auch ein Märchen.“ „Und Märchen werden selten wahr.“ „Wenn sie wahr werden, sind es keine Märche n mehr“, äußerte der Mann aus tausend Kilometer Entfer nung. Was Miguel erst für eine Störung in der Leitung hielt, war wohl das Knacken, mit dem sein Vertrauensmann den Hörer rasch auf die Gabel legte. Nach dem Gespräch ging Miguel in das Zimmer, das er gemeinsam mit dem Padre bewohnte. Der Padre trug, selbst auf dem Bett liegend, eine Bas kenmütze. Offenbar zur Tarnung seiner Tonsur. Miguel berichtete ihm von dem Gespräch. „Der Adler, das ist der Generalpräsident.“ „Ja, Colonna, das Aas.“ „Die Geier und Habichte sind seine Begleiter“, über setzte der Padre in Klartext. „Sie werden Anfang Juli reisen.“ „Erst nach Norden, damit sind die USA gemeint.“ „Ja, Washington. Von dort geht es nach Westen, Lon don und andere europäische Hauptstädte.“ „Um die anderen großen Adler zu besuchen. Die Premierminister, Kanzler, Könige.“ „Empfängen sie ihn wirklich?“ „Wir wissen, wie sie sich einzuschleichen versteht, diese Kanaille. Colonna bittet um gutes Wetter und bekommt es. Sie rechnen ihm hoch an, daß er nie völlig auf die Moskauer Linie eingeschwenkt ist, etwa wie Castro. Er ist Kommunist, aber zu allererst ist er Ernesto Colonna.“ Der junge Padre, der die Revolution nur als Kind er lebt hatte, drehte sich einen Zigarillo aus Tabakblättern und fragte: „Woher kommt Colonna eigentlich?“ 52
„Über seiner Herkunft liegt Dunkel. Er behauptet, er stamme von deutschen Einwanderern ab, die seit einem Jahrhundert an der Grenze zwische n Paraguay und Ar gentinien einige Täler besiedelten.“ „Aber?“ „Berechtigter Zweifel“, fuhr Miguel fort, „ist ange bracht. Wie beinah alles im Zusammenhang mit Colon na ist es keine komplette Lüge, aber auch nicht die reine Wahrheit. Ein Historiker aus unserem Kreis ist der Sa che nachgegangen. Daß Colonna deutschstämmig ist, trifft zu. Nachkomme von Einwanderern hingegen ist falsch. Daß er hier geboren wurde, ist falsch, daß er einwanderte, hingegen richtig. Erstmals tauchte er in Argentinien auf. Nicht vor hundert, sondern vor drei undvierzig Jahren. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Er war Angehöriger der SS-Truppe und floh, als die Alliierten Deutschland eroberten. Ve rmutlich hatte er einiges auf dem Kerbholz. Intelligent, schlau und brutal wie er war, kam er rasch zu Vermögen und Macht und beschloß, Politiker zu werden. Mit einer Schar Freunde, ebenfalls geflohenen SS-Offizieren, kam er über die Anden in unser Land. Dort machte er sich die labile politische Lage zunutze und begann ebenso wie Castro später in Kuba als Guerillero. Wenige Jahre später war er an der Macht. Seine erste Maßnahme bestand darin, daß er seine Freunde und Companeros zu einer Sieges feier einlud und sie, als sie betrunken waren, vo n ge dungenen Killern hinrichten ließ. Nur wenige entkamen dem Gemetzel.“ „Und heute, nachdem er etabliert ist, macht er es mit den Christen ebenso.“ „Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird kein Neugeborenes mehr in unseren Kirchen getauft werden, weil es keine Kirchen mehr gibt.“ „Keine Kirchen, die zum Gebet anhalten, und somit 53
keine Gläubigen.“ Der Padre steckte den Zigarillo noch einmal an. Es war billiger Tabak, und er stank wie glimmendes Laub. „Die Adlerfänger stehen also bereit“, nahm der Padre das Gespräch wi eder auf. „Eine Organisation, die gegen Bezahlung Großaufträ ge in der ganzen Welt übe rnimmt.“ „Was für Aufträge?“ „Sie versenken Schiffe, sprengen Flugzeuge, lassen Munitionsfabriken in die Luft gehen, töten Politiker, die irgendwem mißfallen, zetteln Kriege an.“ „O mein Gott!“ „Es fällt kein Blatt vom Baume, ohne daß der Herr es will.“ „Bezahlung bedeutet, das goldene Netz zu liefern.“ Miguel nickte. „Sie werden es von uns erhalten.“ „Und wo wird es als Vogelfalle ausgelegt?“ „Das ist Sache der Jäger. Aber sie garantieren den Er folg.“ „Wie hat unser Freund das Camp der Jäger verschlüs selt?“ „Nach einem Buch Moses, Kapitel sieben: Gehet hin zu der Stadt an einem Fluß mit einem hohen Turm, wo sie Schnecken essen vom Weinberge, die sie kochen in der Milch der Mutter des Zickleins.“ „Und wie heißt der Ort, wo der Teufel lauert, um Sa tanas zu vernichten?“ „Paris“, übersetzte Miguel den Bibeltext. „Wie werden sich diese Leute zu erkennen geben? Sie sind, denke ich, vorsichtiger und mißtrauischer als eine schwarze Ratte an einem Tag, wenn Neuschnee fällt.“ „Durch ein Kennwort.“ „Ein unverwechselbares“, nahm der Padre an. „O.R.G.A.“, sprach Miguel es aus. „O-r-g-a.“ 54
„Und was bedeutet das?“ „Keine Ahnung“, sagte Miguel gähnend. „Ich weiß nicht, und ich will es auch gar nicht wissen.“ 7. Im Jahre 1958 wurde in der israelische n Negevwüste ein geheimnisvoller Kuppelbau errichtet. Wie ein riesiger silberner Fußball stand er seitdem in der weiten sandi gen Ebene. Von Anfang an beteuerte die Regierung in Te l Aviv, daß es sich um eine Textilfabrik handle. – Merkwürdi gerweise wurde das Gebäude abgeschirmt wie der Ein gang zum Paradies. Dreifache Zäune umgaben es. Armee-Einheiten mit Panzern und Wüstenspähwagen standen seit Baubeginn bereit, um die Anlage zu verteidigen. Selbst der Luft raum galt als absolutes Sperrgebiet. Als sich 1978 ein israelischer Mirage-Pilot über dem Gebiet verflog, wurde er von eigenen Raketen abge schossen. Die Anlage erhielt den Namen Dimona. Es handelte sich um den israelischen Atomreaktor. Ein Typ, der nicht elektrische Energie, sondern Atom sprengstoff erzeugte. Als die ersten israelischen Atombomben fertig waren, begann man, unter der Negevwüste lange Tunnels in die Erde zu graben. Mittlerweile lagerten dort nahezu hun dert Nuklearwaffen der verschiedensten Kaliber und Sprengkraft. Diese Zahl ermöglichte eine Hochrechnung, basierend auf dem Jahre 1973. Damals behauptete das USMagazin Times, aus sicherer Quelle erfahren zu haben, daß Israel dreizehn Atombomben besitze. Seitdem war Tag und Nacht produziert worden. Die 55
Anlage hatte nicht eine Minute stillgestanden.
Seit Monaten bohrten arabische Kommandos einen Gegentunnel. Sie gruben ihn von einer Oase am Rande der Sperrzone aus in fünfzehn Meter Tiefe gegen die israelischen Atombombenlager. Auf die Idee, die tödlichen Kavernen auf diese Weise zu öffnen, war ein Deutscher gekommen, der den Israe lis bei der Errichtung von Dimona geholfen hatte, aber dafür schlecht entlohnt wo rden war. Die Ausführung des Projektes oblag einer internatio nalen Organisation von Fachleuten, die auch bereit waren, das Weiße Haus oder den Kreml in die Luft zu sprengen, wenn einer die nötigen Millione n dafür auf brachte. Die Pläne waren von militärischer Präzision. Anfuhr von Personal und Gerät, Verteilung des Abraums, laser gesteuerter Tunnelvortrieb, alles hatte man berechnet und kalkuliert. Es klappte vorzüglich. Nicht einmal dem Mossad, dem israelischen Geheimdienst, den man das Auge Davids nannte, wurde etwas von dem Anschlag bekannt. In Tel Aviv hielt man es für ausgeschlossen, daß je mand es wagen könnte, Israel die letzte Trumpfkarte im Falle eines Krieges aus dem Ärmel zu ziehen. Einen Tag vor dem endgültigen Durchstoß in die Atomlagertunnels trafen sich die Experten jenseits der Grenze auf jordanischem Gebiet. „Freunde, Brüder“, sagte der arabische Chefingenieur. „Zu übertreiben liegt mir fern, aber ich glaube, es wird ein Coup von architektonischer Schönheit. Einfach und klar wie die goldene Moschee. Die israelische Abwehr ist absolut ahnungslos. Bei den Wachbataillonen gibt es kein Anzeichen von Nervosität oder Voralarm. Außer 56
dem könnten sie die Atomwaffen gar nicht unbemerkt abtransportieren. Wir aber werden sie in der Wüste verstecken und sie bei Beginn des Heiligen Krieges herausholen. In zweiundzwanzig Stunden ist es soweit. Uhrenvergleich!“ Sie stellten ihre Uhren. Dann knieten sie nieder und baten Allah um gutes Gelingen.
Zweihundert Kilometer von Aman, dem Ort der Kon ferenz, entfernt legten die zu Mineuren ausgebildeten Araber letzte Hand an. Nur ein vier Meter dicker Pfrop fen aus steinigem Mergel trennte sie von den israeli schen Atomlagern. Schweißgebadet in der stickig heißen Luft am Ende des Tunnels gruben und hackten sie. Seit Wochen schon verzichteten sie auf Preßluftbohrmaschinen. Im Zehn minutenrhythmus lösten sie sich ab. Der rote Laserstrahlpunkt am Ende der Tunnelröhre wies ihnen den Weg, den sie einschlagen mußten. Es gab eisgekühlten Tee. Aus einem Radio dröhnten Kampflieder, und per Feldtelefon erfolgten immer wie der beruhigende Durchsagen. „Drüben schlafen sie. – Haltet durch, Brüder! – Noch wenige Meter.“ Gegen 2.35 Uhr war es dann soweit. Auf die Minute genau begann der Durchstich. Oben warteten arabische Kommandos, um die Tele fon- und Telexleitungen zum israelischen Hauptquartier zu durchschneiden, um den Funkverkehr zu stören, anfliegende Hubschrauber abzuschießen und sonstige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aber es blieb still. Über den kilometerlangen Feldtelefondraht kam aus dem Tunnel die letzte Meldung. 57
„Hurra! Wir sind durch! Allah sei Dank. Gelobt sei Allah, und Mohammed, sein Prophet.“ Plötzlich war die Leitung gestört. Vermutlich hatte einer im Siegestaumel die Steckverbindung losgetreten. Die Wirklichkeit im engen Tunnel unter der Negev wüste sah anders aus. Kaum hatten die Tunnelbohrer das erste faustgroße Loch zu den Atomkavernen verbreitert, Abraum weg gekarrt und die Öffnung so ausgeweitet, daß sie hin durchkriechen, Werkzeug und Material nachreichen konnten, starrten sie in israelische UZI-Maschinen pistolen. Feuerstöße trafen sie, durchsiebten sie und töteten alle. Das israelische Spezialkommando warf Handgranaten in den arabischen Stollen. Da einige der Tunnelmann schaft die Detonation überlebten, schössen die Israelis mit Bazookas hinter ihnen her und erledigten sie bis auf den letzten Mann. Gleichzeitig verließen israelische Panzer die Bereit stellung in Dimona. Sie bildeten einen Ring um die Oase am Ende des Sperrgebietes. Ihre Kanonen eröffne ten Wirkungsfeuer. Man hoffte, einige der Terroristen lebend zu bekommen. Aber sie ergaben sich nicht. Also setzten die Israelis Kampfhubschrauber ein. Sie warfen erst Sprengbomben, dann Napalmkanister ab. Bei Sonnenaufgang war die Operation beendet. Die Israelis zählten mehr als sechzig tote arabische Ingenieure, Arbeiter, Terroristen und eine n seit langem gesuchten Kommandanten, Der unterirdische Angriff auf das Atombombenlager Dimona war abgeschlagen. Die Israelis hatten die Ara ber erwartet. Vorgewarnt hatte sie der Mossad, der seit 58
Tagen von dem bevorstehenden Anschlag gewußt hatte. Aber nicht durch Verrat von arabischer Seite war der Anschlag bekannt geworden. Mossad verdankte alles einer Information aus befreundeter Quelle. Etwa 2700 Kilometer Luftlinie von der Negevwüste entfernt, im Hauptquartier des Bundesnachrichtendien stes Deutschland vor München, saßen drei Männer bei starkem Kaffee. Er war von einer Qualität, die wachhielt, denn es ging auf 4.00 Uhr morgens. Der Operationschef, Oberst i.G.a.D. Sebastian, orien tierte sich an seiner Schreibtischuhr, der Agent Nr. 18, Robert Urban, an seiner Rolex, und der Vizepräsident an Urbans Gesichtsausdruck. „Jetzt müßte es soweit gewesen sein.“ Wie stets bediente er sich gern eines vom Englischen angenäherten Satzbaus. „Angenommen, es geht schief?“ fragte der dicke Se bastian. „Dann würde unter den Detonationen einiger ABomben hier binnen kurzem der Kalk von den Wänden rieseln.“ „O Gott! Und wer wäre schuld daran?“ „Wir“, sagte Urban trocken. „Die Neonazis“, wandte der Vize ein, aber in einem Ton, als glaube er es natürlich nicht. „Dann sind wir die Buhmänner, und sie machen uns fertig für den Rest des Jahrhunderts“, bemerkte Urban. „Auch wenn diese ausgeflippten Typen von FAP nie und nimmer dazu imstande wären, so etwas auch nur als Idee in die Welt zu setzen.“ „Wer steckt also dahinter?“ „Ich fand Notizen“, erwähnte Urban, „Entwürfe für 59
ein Planspiel, und ich hielt so wenig davon, daß ich die Sache wohl vergessen hätte. Aber wegen des Drucks aus Bonn mußte ich meine Freunde bei Mossad infor mieren.“ „Dadurch stehen wir ziemlich nackt da Wenn die ara bischen Kommandos wirklich zuschlagen, dann hat Mossad die Beweise, daß es über neofaschistische Gruppen lief.“ „Ich fand das Material bei einem Mädchen, das Micha für eine spionierende Reporterin hält. Recherchieren nennt man Spionage unter Journalisten.“ „Und Sie fanden die Dame bei keiner Zeitung?“ „Wir haben alle Redaktionen abgefragt, den BKAComputer, die anderen Dienste. Überall negativ.“ Wieder schaute der Alte auf die Uhr und klopfte ge gen das Glas wie gegen ein Barometer, das sich nicht rührte. „Rufen Sie in Tel Aviv an“, bat der Vize seinen Agenten. „Ich habe diese Warterei satt.“ Urban hob ab, wählte durch und bekam nach einigem Hin und Her seinen Kontaktmann Major Goldberg. „Wie steht’s, Uri?“ fragte Urban direkt. „Womit?“ „Sie können Fragen stellen, Major. Wollen Sie etwa behaupten, diese Nacht sei so ruhig verlaufen wie alle anderen in diesem Monat?“ Urban spürte die Erregung im Mossad-Hauptquartier beinah durch die Leitung. „Bedaure, wenig Zeit“, wich der Israeli aus. „Ganz im Vertrauen. Auf Dimona wurde ein Anschlag versucht Wir haben ihn natürlich abgefedert. Aber es wird Sie vielleicht interessieren, daß sich unter den Toten zwei Experten befinden, die vermutlich deutsche Staatsbürger sind.“ „Warum“, fragte Urban, „glauben Sie, daß ich euch 60
warnte?“ „Wer hat wen gewarnt, bitte?“ tat der Major über rascht. „Major“, entgegnete Urban. „Vor drei Tagen rief ich Sie in der Sache an. Lassen Sie Ihre Atomlagertunnels im Negev sichern wie Fort Knox, riet ich Ihnen.“ „Ich erinnere mich nicht“, erwiderte der Israeli. „Major, es gibt Zeugen.“ „Nicht bei uns. Und die Ihren sind unmaßgeblich. Wenn dem Mossad ein Abwehrschlag gelingt, wollen immer andere dazu beigetragen haben. Das kennen wir. Tut mir leid, Bob, ich weiß nichts von Ihrem Anruf. Die Hinweise auf das Attentat kamen aus unserem eigenen jordanischen Netz.“ „Ich dachte schon, Jehova hätte es Ihnen geflüstert“, bemerkte Urban ironisch. „Nichts für ungut, Major.“ Der Israeli fand das nicht zum Spaßen. „Das dicke Ende für die Bundesrepublik kommt na türlich noch“, deutete Goldberg an. „Wir haben Ihre Regierung wissen lassen, daß viele Angriffe gegen un seren Staat in neonazistischen Kreisen ihren Ursprung nahmen. Man verlachte uns und forderte Beweise. Nun, die Beweise liefern wir, und das Lachen wird Ihnen vergehen. Teilen Sie das ruhig Ihrem verehrten Herrn Minister mit.“ Damit legte Major Uri Goldberg auf. „Was sagt einer dazu“, sagte der Vize. Er hatte alles mitgehört. „Gar nichts“, antwortete Urban, „mir fehlen die Worte.“ Als er wieder in der Lage war zu denken, versuchte Urban, eine Analyse der Situation zu geben. „Sie betreiben ihr Spionagegeschäft“, begann er, „um 61
die Existenz des jüdischen Volkes zu schützen. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht. Auch das der Diffamierung.“ „Nur uns sind leider die Hände gebunden.“ „Wir sind zu fair“, sagte Urban. „Fairneß und faule Tricks passen nicht zusammen. Wahrscheinlich liegt es daran, daß die Ursprünge des jüdischen Geheimdienstes eine ganze Weile zurückliegen. Mehr als zweitausend Jahre.“ „Moses?“ fragte der umfassend gebildete Vizepräsi dent. „Viertes Buch Kapitel dreizehn“, führte Urban aus. „Jahwe sprach also zu Moses. Sende Männer aus, daß sie das Land Kanaan auskundschaften.“ „Und Moses hielt sich an die Order von oben“, be merkte der hundegesichtige Sebastian. „Aus jedem der zwölf Stämme suchte er einen Adli gen aus und erteilte folgende Anweisung: Wandert über das Gebirge, seht euch das Land an und die Bevölke rung. Ist sie stark oder schwach, lebt sie in Zelten oder in Festungen, ist der Bode n mager oder fett.“ „Obwohl Moses nach heutigen Geheimdienstregeln schlimme Fehler machte, gelang die Operation“, unter brach der Vizepräsident ihn. „Anstatt die besten Leute zu nehmen, wählte Moses Adlige aus. Solche Methoden wären heute in unserem Gewerbe tödlich. Immerhin brachten sie ausreichende Informationen mit.“ „Vom Land, in dem Milch und Honig fließen“, fiel dem Oberst ein. „Die Kanaaniter seien stark, die Orte befestigt.“ „Dann aber“, fuhr Urban fort, „wäre es fast zur Kata strophe gekommen. Moses überließ die Auswertung nicht Fachleuten, sondern den Spionen. Zwischen ihnen kam es zum Streit. Die einen rieten zum Angriff, die Skeptiker behaupteten, eine Eroberung Kanaans sei 62
unmöglich. Dabei ging es haarscharf um Israels Zu kunft. Hätten die Mutlosen sich durchgesetzt, hätten Abrahams Kinder Kanaan nie betreten, und das jüdische Volk wäre untergegangen.“ „So etwas würde Mossad nie passieren“, erklärte der Vize. „Deshalb ist Mossad auch nicht mit normalen Maß stäben zu messen. Egal wie, er wird stets und immer so handeln, daß es Israel nützt.“ Der Vize stand auf. Die Nachtwache war beendet. Sie hatten gewonnen. Aber es war nicht ihr Sieg. „Zwei Deutsche waren bei dem Tunnelkommando“, erwähnte der Vize schon im Hinausgehen. „Morgen sind es Neonazis, übermorgen bringt es die Weltpresse, und am Freitag ist die Bundesrepublik ein Nest von rechtsextremen Reaktionären.“ „Dann beginnt das Wochenende“, tröstete Urban ihn, „und am Montag ist hoffentlich ein anderer dran.“ , Aber Undank ist der Welt Lohn.“ „Schuld ist immer der, der den Dank erwartet.“ „Sie and ein Pessimist“, sagte der Vize. „Mag sein“, gestand Urban. „Aber man kommt besser über die Runden damit.“ Zwei Tage danach schossen sie auf Urban, doch sie träfen ihn nicht. Weit die Sonne schien, war er mit sei nem Oldtimer unterwegs, dem Mercedes 300 SL Flügeltürer. Er wollte zum Tegernsee, dort ein Glas trinken, dann gemütlich an der Alpenkette entlang bis Garmisch und wieder nach Hause gondeln. Vor einer Kurve, als er aus dem Wald herauskam, fiel der Schuß. Die Kugel schlug in das wertvollste aller nur denkbaren Bleche. Sie fuhr in das Türschloß auf der Fahrerseite und zerfetzte es. – Es gab diese Schlösser nicht mehr. Sie waren kostbarer als Platin. 63
Urban warf den zweiten Gang hinein und beschleu nigte voll, um aus der Schußlinie zu kommen. Drei Kilometer weiter parkte er und schaute sich den Scha den an. Er liebte dieses Auto, nicht nur, weil es inzwischen einen Viertelmillionenwert hatte. Er hatte das Gefühl, man hätte ihm das Herz durchbohrt Offenbar gab es irgendeinen, der die wenigen Stellen kannte, wo er echten Schme rz empfand. 8. Wie immer vor Treffs, deren Ausgang nicht abzuschät zen war, nahm Marcel Strassbourg eine professionelle Tarnung vor. Mit wenigen Mitteln erreichte er eine starke Verände rung seines Erscheinungsbildes. Die Mittel waren er probt und so perfektioniert, daß ihn selbst wachsame Hotelportiers nicht erkannten. Wie stets in Madrid wohnte er im Madrigal unter sei nem Namen Marcel Strassbourg aus Frankreich. Als er am Nachmittag das Hotel verließ, um einen Geschäfts freund zu treffen, war er noch immer Marcel Strass bourg. Nach dem Gespräch mit dem spanischen Importeur für Sportwaffen führte er von einer Bar aus ein Telefon gespräch. „Miguel Rodriguez de Santa Clara“, meldete sich ein Mann mit Honigbonbonstimme. „Sind Sie gut angekommen?“ „Heute morgen mit der Iberia.“ „Darf ich um das Kennwort bitten.“ Der Südamerikaner buchstabierte: „O.R.G.A.“ „Gracias“, sagte Stras sbourg, der so gut Spanisch wie 64
Französisch und Englisch sprach. „Paßt es Ihnen heute noch?“ „Jederzeit, Senor.“ „Dann um achtzehn Uhr zu einem Drink in der Bar des Hotels Madrigal.“ Der Südamerikaner bestätigte Ort und Zeit. „Aber wie erkenne ich Sie?“ Der Anrufer beruhigte ihn. „Nicht nötig. Ich werde Sie erkennen, Amigo mio.“ Daraufhin verließ Marcel Strassbourg die Telefon zelle. Da er noch gut eine Stunde Zeit hatte, spazierte er durch den Moro-Park zur Estation del Norte. Vo r einem der Waschräume wartete er, bis die WC-Frau in der Damenabteilung zu tun hatte, ging dann rasch hinein und schloß sich in eine der Kabinen ein. Dort schlüpfte er aus dem leichten Sommertrenchcoat und drehte den Sakko um. Jetzt war er innen hellblau und außen dun kelblau. In Brusthöhe trug er das Wappen eines Golf clubs. Mit den goldenen Knöpfen wirkte er wie ein Blazer. Aus einer daumenlangen Blechdose nahm er ein silbergraues Bärtchen, klebte es sich an die Oberlippe, und die Goldrandbrille wechselte er gegen eine aus dunklem Hörn. Den Kopf bedeckte er mit eine r Sixpen ce-Mütze in der Farbe seiner Hose. Den Mantel über dem Arm, das bunte Futter nach au ßen, verließ er den Bahnhof, bestieg ein Taxi und ließ sich zum Hotel Madrigal bringen. Als er an der Rezep tion fragte, wo es zur Bar ginge, und man es ihm zeigte, wußte er, daß niemand in ihm Marcel Strassbourg ver mutete. In der Bar setzte er sich so, daß er jeden sah, der he reinkam. Er bestellte Sherry. Ein Mann, ein typischer Südamerikaner, gewiß de Santa Clara, erschien pünktlich, schaute sich um und 65
nahm am Fenster Platz. Marcel Strassbourg beobachtete ihn und fand ihn ei nigermaßen sympathisch. Für eine so heikl e Geschäfts beziehung war das aber nicht genug. Er leerte seinen Sherry, bezahlte und verließ die Bar. Von der Telefonzelle in der Halle führte er zwe i Ge spräche. Das erste war kurz. „Er sitzt im Madrigal“, meldete er. „Vor einer Stunde kehrt er nicht in sein Hotel zurück. Du hast freie Hand.“ Das zweite Gespräch führte er mit dem Hotel, aus dem er telefonierte. Er ließ sich mit der Rezeption ver binden. „Mein Name ist Qermont. Ich bin in Ihrer Bar mit Se nor de Santa Clara verabredet. Unerwartete Umstände halten mich leider auf. Würden Sie Senor Santa Clara bitte übermitteln, daß ich mich bei ihm melde.“ Sie versicherten, daß die Sache erledigt würde. Wenig später trug der Boy eine Tafel durch die Halle, das Restaurant und die Bar. Auf der Tafel stand mit Kreidebuchstaben: Senor de Santa Clara bitte zur Re zeption. Dies war Vorsichtsmaßnahme Nummer zwei.
Für den nächsten Treff bestellte Strassbourg den Süd amerikaner vor das Prado-Museum. Und zwar um 22.00 Uhr. Um diese Zeit war der Platz vor dem Eingang kaum beparkt und ziemlich leer. Zusätzlich hatte er den Süd amerikaner aufgefordert, vorher dreimal das Denkmal an der Plaza Canova zu umfahren. An der Ecke der Calle de Filipe wartete er. Um diese Zeit herrschte noch starker Verkehr . Die Spanier pflegten meist gegen 22.00 Uhr zu speisen. Ihr Tag endete erst nach Mitternacht. 66
Trotzdem sah Strassbourg, wie ein Taxi dreimal he rumfuhr und dann in Richtung Bildergalerie abbog. Es kam ihm aber so vor, als ob ein schwarzer Chrysler dem Taxi folgen würde. Also ging er nicht zu der Verabre dung, sondern in eine Bodega. Eine Stunde später rief er Miguel Rodriguez de Santa Clara im Hotel an. „Bedaure, daß ich Sie abermals versetzte, aber ich muß sichergehen, daß Sie nicht verfolgt werden.“ „Von wem?“ tat der Südamerikaner erstaunt. „Von Leuten, denen Ihre Reise bekannt ist. Sie haben, wie mir scheint, keine Ahnung von der Allgegenwart von Colonnas Geheimdienst.“ „Schön“, antwortete der Südamerikaner leicht gereizt. „Was Ihrer Sicherheit dient, dient auch de r unseren. Wann erweisen Sie mir also die Gnade Ihrer Gegen wart?“ „Jetzt“, sagte Strassbourg. „In einer halben Stunde in Villafranca del Castillo.“ „Und wo ist das?“ „Ein Stück Richtung Escorial. Ungefähr fünfzehn Ki lometer. Ziemlich ländliche Umgebung. Kommen Sie bitte alleine.“ „Selbstverständlich.“ „Und lassen Sie Ihre Kanone zu Hause, Miguel Rod riguez.“ „Woher wissen Sie, daß ich eine Waffe…?“ „Ich weiß alles.“ „Die Waffe ist notwendig. Ich führe einen hohen Dol larbetrag mit mir.“ „Schon gut. Ohne Waffe also.“ „Aber woher kriege ich um diese Zeit ein Taxi, das mich…“ Strassbourg unterbrach ihn. „Das ist Ihre Sache. Treffpunkt in dem Wäldche n süd lich des Ortsschildes. Gehen Sie bis zu dem kleinen 67
Bach. Aber nicht über die Brücke.“ Er legte schneller auf als der Südamerikaner. Miguel Rodriguez de Santa Clara stand wie eine Marmorsäule am Ufer des ausgetrockneten Baches. Erst als dürre Äste knackten, fuhr er herum. „O.R.G.A.“, gab Strassbourg sich zu erkennen. „Ich habe das Taxi zurückgeschickt, Senor,“ „Gut so. Meines wartet im Ort vor der Bodega.“ Der Südamerikaner griff in die Tasche. „Wünschen Sie meinen Paß zu sehen?“ „Danke. Den haben wir bereits überprüft.“ „Wann?“ „Am Flugplatz.“ „Sie bluffen“, reagierte der Südamerikaner ungläubig. „Warum sollte ich“, fragte der O.R.G.A.-Mann. „Ihre Brieftasche enthält ein Foto Ihrer Mutter, etwa vierhun dert Escudos, Reiseschecks, ausgestellt auf Dollars, und knapp dreitausend Pesetas.“ „Ist ja ungeheuer“, zeigte der Südamerikaner sich überrascht. „Sie sind am siebenten Oktober einundsechzig in Santiago geboren. Name Ihres Vaters ebenfalls Miguel. Ich spreche Sie fortan mit Ihrem ersten Vornamen Mi guel an. Sie dürfen Marcel zu mir sagen.“ Sie gingen durch den Korkeichenwald zur Straße und neben der Straße auf Villafranca zu. Es war ziemlich dunkel, so daß jeder nur die Umrisse des anderen sah. Unerwartet schnell sprach der Franzose vo n Geld. „Wir sind teuer.“ „Wir bezahlen.“ „Wir verlangen Vorkasse.“ „Ich habe in meinem Koffer im Hotelsafe eine halbe Million Dollar deponiert,“ „Genau sechshundertundzwanzigtausend“, verbesser te der Franzose ihn. „Kommen wir zur Aufgabenstel 68
lung. Wir sollen den Generalpräsidenten Ihres Landes, Ernesto Colonna, töten.“ „Den Tyrannen.“ „Das gibt Krieg, einen sehr schmutzigen Krieg.“ „Einen frommen Krieg, Senor.“ „Ihre Gründe, Miguel, sind unbedeutend für uns. Egal welche Motive Sie haben, sie sollen uns recht sein.“ „Vielleicht weil sie Ihren eigenen Wünsche n entge genkommen, Marcel.“ Der O.R.G.A.-Mann blieb ruckartig stehen und stieß die Hände in die Manteltaschen. „Was wissen Sie schon von unseren Wünschen, jun ger Freund.“ „Man hört so manches.“ „Von wem?“ „Von dem Vertrauensmann, der den Kontakt herstell te. Er deutete an, daß zwischen Ihnen und Colonna noch eine alte Rechnung offen stehe. So schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Patsche.“ „Aber es hat keinen Einfluß auf den Preis, Amigo mio.“ „Er ist leider exorbitant“, entgegnete der Vertreter der unterdrückten Gläubigen seines Landes. „Aber wir siegen immer. Dazu ist ein Weltklasseteam nötig. Und das kostet eben einiges.“ Die Höhe der Summe war schon im voraus abgespro chen worden. Nun ging es um erste Einzelheiten. Soweit er dazu in der Lage war, nannte Miguel Daten aus dem Terminkalender Colonnas für den nächsten Monat. Marcel hatte wohl schon ein Grundkonzept. „Er reist mit Gefolge und Leibgarde, mit Minister, Referenten, Sekretären, Geheimpolizei, Koch und Diener.“ „Dazu kommen die Sicherheitsmaßnahmen der jewei ligen Länder.“ 69
„In Washington versuchen wi r es gar nicht erst“, ent schied Marcel. „In Paris ist man da eher nachlässig, meinen Sie.“ „London scheint mir noch besser“, erklärte Marcel. „Unsere Infrastruktur ist in London optimal. Fliegt Colonna mit einer Militärmaschine?“ „Bei uns ist die zivile Fluggesellschaft ebenso staat lich wie die Luftwaffe. Es gibt also keinen Unter schied.“ „Sie deuteten an, Miguel, daß Colonna möglicherwei se das Beförderungsmittel ändert“, sagte der Franzose. „Ein Schiff unserer kleinen Flotte, der Zerstörer Boli var, ist schon letzte Woche durch den Panamakanal Richtung Nordatlantik gegangen. Er soll noch vor dem Besuch Colonnas bei der britische n Königin in London eintreffen und anschließend den Generalpräsidenten an Bord nehmen. Sowohl Holland als auch die Bundesre publik möchte Colonna auf dem Wasserweg anlaufen.“ Das sah Colonna ähnlich. Immer führte er eine Show, immer ein Stück mieses Theater auf. „Ist das schon amtlich, Miguel?“ „Nun, es ist Teil der Feinplanung. Wie wir die Be harrlichkeit kennen, mit der Colonna an einmal gefaßten Beschlüssen festhält, müßte schon Entscheidendes ge schehen, daß er den Zerstörer unbenutzt ließe.“ „Zu protzen entspricht seinem Charakter“, reagierte Marcel wütend. „Eh bien, legen wir also die Bolivar ab London als Transportmittel zugrunde.“ „Wird es dadurch schwieriger?“ erkundigte sich der Südamerikaner. „Das weiß ich noch nicht“, entgegnete Marcel. „Normalerweise hat er einen Stab von etwa zwanzig Leuten dabei. Auf dem Zerstörer hätte er dreihundert Mann um sich.“ „Junger Freund“, antwortete daraufhin der O.R.G.A. 70
Mann. „Viel schwieriger als er schon ist, kann der Auf trag nicht mehr werden.“ Ihr Gespräch stockte während des nächtlichen Spa zierganges in den Ort kaum einen Augenblick. Sie nah men noch einen Kaffee in der Bodega. Das Taxi brachte sie nach Madrid zurück. „Seien Sie weiter vorsichtig“, riet der O.R.G.A. Mann. „Auch wenn Sie morgen die Bürde Ihrer Dollars los sind.“ Sie verabredeten noch, wann sie sich zwecks Ab schluß des Vertrages treffen und wie sie künftig Kontakt halten wollten. 9. Tief hingen die Wolken in der schwülen Luft. Die Blu men auf Urbans Penthousterrasse standen wi e zerfetzte Hahnenkämme gegen den Himmel. Es sah nach Gewit ter aus. Urban arbeitete sich an der Gegenstromanlage seines Dachpools müde. Bei dreihundert Zügen, als sich die Anstrengung in den Muskeln bemerkbar machte, be schloß er, heute bis vierhundert zu gehen. Er hörte schon vorher auf, denn das Telefon zirpte. Es stand am Beckenrand. Mit raschem Griff hob er ab. Doch ehe er sich meldete, nahm er eine n Schluck Bour bon aus dem Glas. „Strichnitzky.“ „Du warst auch schon witziger“, bemerkte eine Stimme, die keiner, der sie hörte, je vergaß. Sie war wie klirrendes Glas und doch klar verständlich. Urban glaubte, daß es mit dieser Stimme gelingen müsse, die Staatsoper leerzusingen. Sie gehörte einem Burschen in einer Hamburger Ma gazinredaktion. Er war nicht Urbans Freund, eher eine 71
Art Kumpel. „Du wolltest wissen, ob über die internationalen Nachrichtenagenturen Angriffe gegen die Bundesregie rung hereinkommen.“ „Via Israel.“ „Nichts bis zur Stunde.“ „Die werden doch nicht dankbar geworden sein.“ „Kaum. Ihre Forderungen an uns sind immerdar und grenzenlos. Aber vielleicht sind sie klug geworden.“ „Danke, das beruhigt mich“, sagte Urban. Der Redakteur des Montagmagazins war noch nicht am Ende damit. „Dafür läuft eine andere Schweinerei.“ „Gegen wen?“ „Gegen dich unter anderem.“ „Wer kennt schon Urbanewski.“ Der Redakteur holte ein wenig aus. „Wir hatten da eine Anfrage des Bundeskriminalam tes, betreffend einer Reporterin namens Magda, plus ziemlich professioneller Personenbeschreibung.“ „Stammt von mir“, erklärte Urban. „Das ging an alle Redaktionen bis zum kleinsten Käseblatt im hintersten Niederbayern.“ „Ergebnis?“ „Negativ“, bedauerte Urban. Der Hamburger übertraf sich nun in hanseatischer Nüchternheit. „Sie heißt mit vollem Namen Magdalen Caroll – falls es wahr ist –, ausgesprochen hübsche und knackige Person.“ „Du kennst sie?“ reagierte Urban verblüfft. „Sie war bei mir.“ „Wann?“ „Gestern. Konnte sie leider nicht festhalten.“ „Wir suchen sie wie eine Amöbe im Indische n 72
Ozean.“ „Bis ich es geschnallt habe, war sie wieder weg“, ver sicherte der Redakteur, was nicht unbedingt Bedauern ausdrückte. „Was wollte sie?“ „Sie bot Material. Sie ist freie Fotoreporterin und Journalistin. Sie legte mir ein Bildchen vor, das mich an einen BND-Agenten erinnert, den sie Mister Dynamit nennen. Ein Bursche in Jeans, Cowboystiefeln und einer nietenbesetzten Motorradjacke. Das Profil stimmt, nur der Kurzhaarschnitt paßt ganz und gar nicht zu dir. Außerdem mischt sich der BND nicht in inländische Angelegenheiten. „ „Ich liebe Zyniker“, sagte Urban. „Mach weiter.“ „Also, erst legte sie das Foto vor. Dann wollte sie mir einen Bericht verkaufen über die Versuche und Metho den des BND, neonazistische Gruppen in Berlin zu unterwandern. Ungefähr hundert Zeilen Text.“ „Ihr habt gekauft?“ „Wir hätten gern, aber der Preis war selbst für unsere Maßstäbe zu hoch.“ Das war nicht der Grund. Offenbar wollten sie das heiße Eisen nicht anfassen. Gerade jetzt, wo die IsraelSache lief, von der sie längst Wind bekommen hatten. Glück gehabt, dachte Urban. Nach diesem Bericht wäre er ziemlich erledigt gewesen. Magda wäre ihn losgewesen, und genau das wollte sie damit wohl errei chen. Urban bekam, noch bis zur Brust im Pool stehend, ei ne echte Gänsehaut. – Er leerte das Whiskyglas und fragte: „Was jetzt?“ „Sag erst mal danke.“ „Okay, merci beaucoup. Und was jetzt?“ „Ich sagte zu ihr, daß ich die Story bei der nächsten 73
Redaktionskonferenz aufs Tablett bringen würde. Sie ließ mir eine Adresse da,“ „Was willst du dafür?“ „Ein paar Einzelheiten über die israelische Atomfa brik im Negev. Du weißt, worauf es ankommt. Dürfen auch verschleierte, aber busenfreie arabische Flinten weiber dabeisein.“ Urban bekam die Adresse von Magdalen Caroll in Zürich. Dafür lieferte er einige Internas der DimonaOperation, soweit sie ihm bekannt waren und er sie preisgeben durfte. Einen Tag später in Zürich war Urban doch einiger maßen verblüfft. Die Adresse befand sich in Toplage direkt am Zürich see. Erst kam eine Platanenallee, dann eine Mauer, dann ein hohes Tor aus weißlackiertem Kunstschmiedeeisen. Dahinter lag ein Park und eine traumhafte Villa im Feudalstil der Jahrhundertwende. Erst glaubte er, falsch zu sein, bis er das Messing schild unter der Sprechanlage sah. - M. Caroll Er drückte auf den Knopf. Nach einer Minute noch keine Reaktion. Dann gab er Dauerfeuer. Endlich eine Stimme mit schweizerischem Klang. Magda war es nicht. Ihr Deutsch war akzentfrei. „Ich will zu Madame Caroll.“ „Und wer, bitte, möchte das?“ „Bob Urban, Berlin.“ „Madame ist leider verreist.“ Er gab nicht auf. „Wir sind verabredet.“ „Unmöglich. Madame pflegt ihre Termine einzuhal ten.“ 74
„Offenbar nicht immer. Wo kann ich sie finden?“ „Das weiß ich nicht. Madame ist häufig unterwegs.“ Damit wurde in der Villa aufgelegt. Während Urban noch überlegte, wie er weiterkam, sah er durch das Tor einen Mann, eine n Gärtner. Er war zwar nicht so gekleidet wie de r Gärtner früher, mit grü ner Schürze und gelbem Strohhut, aber der Bursche in Jeans und Hemd hatte eine Heckenschere in der Rech ten. Urban winkte ihm. Der Mann schien blind zu sein. Taub war er auch. Er hörte Urbans Pfiff nicht. Urban schaute sich um. Eine recht belebte Ecke, diese See uferpromenade. – Er schlenderte zu seinem BMW, fuhr ein Stück und parkte ihn dicht an der Mauer. Mut ist die Waffe des Rechtlosen, dachte er und war Sekunden später im Park der Villa Caroll. Lautlos näherte er sich dem Gärtner und tippte ihm von hinten auf die Schulter. Der Gärtner fuhr herum und öffnete die Schere, als wollte er zustechen. Es war aber nur die Schreckensreaktion. Urban knöpfte den Glenchecksakko auf und zog ihn rechts, wo die Mauser am Magnethalfter saß, ein wenig zur Seite. „Du ziehst den kürzeren“, sagte er. „Freundlich oder unfreundlich, wie wollen wir es halten?“ Der junge Gärtner klappte die Heckenschere zusam men. „Sie wünschen, mein Herr?“ „Du hast mich am Tor gesehen“, stellte Urban klar, „aber deine Order lautet, keine Fragen zu beantworten. Richtig?“ Der Gärtner nickte. Urban hatte in der Tasche einen Zwanziger bereit. Den steckte er ihm unter die Schulterklappe. „Wo ist Madame?“ 75
„Auf dem Friedhof.“ „Die junge?“ faßte Urban sich genauer. „Verreist. Gestern. Nach Südfrankreich.“ Urban schätzte, daß in der Garage mindestens drei Autos standen. „Mit welchem Wagen?“ „Maserati.“ „Eine längere Reise?“ „Keine Ahnung.“ Urban schob ihm noch einen Zwanziger in die andere Schulterklappe. „Du bist doch nicht nur Gärtner hier, sondern auch Hausbursche, Autowäscher, Gepäckträger. Wie viele Koffer nahm sie mit?“ „Den Großen und zwei kleine.“ Bei dem Kleinen handelte es sich wahrscheinlich um den Kosmetikkoffer und den mit den Sachen für eine Nacht im Hotel. „Südfrankreich ist groß. Es reicht von Italien bis Spa nien. Fährt sie oft dorthin?“ „Ich bin erst seit März hier“ wich der Gärtne r aus, „aber… aber wenn es der Polizei hilft, auf dem großen Koffer ist ein Aufkleber. Sie sind doch von der Polizei, oder?“ „Ungefähr“, log Urban. „Ein Hotelaufkleber also.“ „Aus Marseille.“ „Name des Hotels?“ „Hab’ ich vergessen.“ Es gab nicht viele Hotels, wo Damen wie Magdalen Caroll abstiegen, vorausgesetzt, daß sie nach Marseille gefahren war. Urban tippte einen Gruß an die Stirn und ging. „Ich lasse Sie vorne raus“, sagte der Gärtner.
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Urban schaute sich die Karte an. Zürich-Marseille, das waren locker siebenhundert Kilometer. Wenn die Caroll in Marseille übernachtete, lag es möglicherweise auf halbem Weg bis zu ihrem Ziel. Er mußte es riskieren. Wenn er flott fuhr, konnte er bis zum Abend am Mittelmeer sein. Er nahm die Autobahn über Genf-Lyon. Man kam schneller durch als über Grenoble. Hinter Grenoble kamen die Berge mit tausend Kurven, das bremste den Schnitt. Drüben in Frankreich nahm er einen Cafe noir und rief in Paris an. Beim zweiten Versuch bekam er Gil Quatembre vom SDECE. „Bin da hinter einer Sache her“, sagte er, „die sich von einem nationalen Problem zu einem internationalen auszuweiten scheint. Es wird immer heißer. Liegt bei euch wegen einer gewissen Magdalen Caroll etwas vor? Zur Zeit arbeitet sie als Journalistin. Kein Kind von armen Eltern. Wohnsitz Zürich, Seeufer, Es muß aber nicht der einzige sein.“ Urban beschrieb sie. Quatembre wollte herumhor chen. Bis Urban Marseille erreichte, wurde es Abend. Bei einer Reihe Hotels der Viersterne- Kategorie war das Ergebnis trotz der dicken Franc-Trinkgelder von seinem Spesenkonto negativ. Sein Hotelführer half ihm auch nicht weiter. Also fragte er einen Taxifahrer, wo seiner Meinung nach alleinstehende gutklassige Damen abzu steigen pflegten. ,Jm alten Imperial, wenn sie jung und romantisch sind, Monsieur“, lautete die Auskunft. „Und wenn sie jung und überhaupt nicht romantisch sind?“ „Dann im neuen Imperial, das ist gleich nebenan.“ Der Tip war Gold wert. Es kostete Urban nicht einen 77
müden Franc, nur das richtige Auftreten. „Ich bin ein Freund von Madame Caroll“, stellte er sich an der Rezeption vor. „Ich werde erwartet.“ Sie blätterten im Gästebuch und telefonierten. „Madame ist heute früh weitergereist.“ Damit war er wieder soweit wie in Zürich. Doch wenn er logisch dachte, dann hatte sich ihr Abstand von siebenhundert auf vielleicht dreihundert Kilometer ver ringert. Italien kam nicht in Betracht. Sie hätte es durch den Mont-Blanc-Tunnel schneller erreicht. Also war sie Richtung Spanien weitergefahren. Es war jetzt 22.00 Uhr. Um diese Zeit ging nichts mehr. Urban nahm ein Zimmer und rief Paris an. Gil hatte etwas für ihn hinterlassen. Sein Assistent übermittelte es. „Die Angaben passen auf Mireille Caroll, OpernSängerin. Sie nahm, als sie von der Oper wegging, Wohnsitz in der Schweiz. Sie hatte auch eine Tochter, Magdalene, geboren etwa um neunzehnhundertsechzig.“ „Vater?“ „Den verschwieg die Caroll hartnäckig. Soll Auslän der gewesen sein.“ „Deshalb führt die Tochter den Namen der Mutter“, vermutete Urban. „Die Caroll kann man nicht fragen, sie ist tot“, erfuhr Urban noch. „Sie hatte nicht viel vom Rest ihrer Jahre. Lungenkrebs. Deshalb beendete sie auch so früh ihre Weltkarriere.“ Urban hatte noch eine Frage. „Hatte die Caroll Besitz in Südfrankreich?“ „Nichts bekannt.“ Beim Frühstück war Urban nicht weiter als am Vor abend. Daß er einen Maserati-Biturbo in Blaumetallic 78
von der Polizei suchen ließ, so weit wollte er nicht ge hen. Im Grunde hegte er nur den Verdacht, daß diese Frau mit dem Terroranschlag auf das israelische Atom kraftwerk Dimona zu tun haben könnte. Zumindest gewußt hatte sie davon. Obwohl er auf dem trockenen saß, genoß er die fri schen Croissants. Dann kam ein Anruf vo m Hauptquar tier. Urban sollte sich bei einem Redakteur in Hamburg melden. Sofort rief er in den hohen Norden. „Sie hat sich gemeldet“, hörte er. „Sie wollte wissen, ob wir den Bericht kaufen oder nicht. Ich konnte sie noch einmal hinhalten.“ „Sie muß irgendwo in der Provence sitzen“, tippte Urban. „Nein, weiter südlich bei Perpignan. Nahe der spani schen Grenze. Sie gab uns eine Nummer. Vorwahl Port Vendres.“ „Das ist schon die Costa Brava.“ Urban notierte die Nummer. Damit würde er sie fin den. In fünf Stunden, zur Aperitifzeit, konnte er dort sein. „Ich kriege das exklusiv“, erbat sich der Hamburger Redakteur. „Da braut sich was zusammen“, befürchtete Urban. „Wir drucken regelmäßig ab Freitag zweiundzwanzig Uhr. Wenn es ein Superknüller ist, halte ich auch die Druckmaschinen an.“ „Vielleicht Freitag in vier Wochen“, vertröstete Urban ihn. Die Adresse an der Küstenstraße von Port Ve ndres nach Banyuls war keine weiße Arkadenvilla in einem tropischen Garten über dem Meer, sondern ein sechs 79
stöckiges Geschäftshaus. Elegant zwar, aber gewiß schon dreißig Jahre alt. Die vielen Tafeln am Eingang täuschten vor, daß ein Dutzend Finnen die Etagen als Büros nutzten, Wenn man genauer hinsah, stellte man fest, daß es sich dabei um die Töchter ein und desselben Unternehmens han delte. Die eine befaßte sich mit Import, die andere mit Export, die dritte mit Konstruktion, die vierte mit Fi nanzierung, eine mit Transport, eine andere mit Versi cherungen, wieder eine mit Personalberatung. Im Grun de waren sie alle vernetzt. Die Konzernmutter nannte sich M. S. International, was immer das bedeuten mochte. Um die Ecke gab es einen zweiten Eingang. Den Na men an der Klingelleiste nach zu schließen, ging es hier zu den Appartements von Finnenangehörigen. Urbans Finger wanderte von unten nach oben. „M. Caroll“, murmelte er. „Wer sagt’s denn.“ Er legte einen runden Kieselstein dicht an die Boden fuge links auf der Schloßseite. Dann wartete er, bis einer kam. Nach zwei Zigarettenlängen verließ ein Mann mit Hund den südlichen Gebäudeflügel. Der Trick mit dem Stein klappte. Beim Öffne n der Tür rollte er nach innen und hinderte die Tür am Zuschnappen. Ohne Hast fuhr Urban ins oberste Stockwerk. Dort gab es nur zwei Türen. Eine zur Dachwohnung und eine zum Liftmotor. Er lauschte, hörte Musik und eine Frauenstimme . Zweifellos die von Magdalen. Wenn sie Besuch hatte, würde er später wiederkom men. Was es zu sagen gab, war nur für ihre Ohren be stimmt. Nach wenigen Minuten spielte nur noch Musik. Of fenbar hatte sie telefoniert. 80
Er drückte den Summerknopf. Dabei stellte er sich so hin, daß er durch den Spion nicht zu erkennen war. Völlig arglos öffnete sie. Sofort erkannte sie ihn und wollte die Tür zuschlagen. Schon hatte er den Fuß in der Ritze und drückte ihre hundert Pounds mühelos nach innen weg. Als er vor ihr in der futuristisch möblierten Diele stand, verschlug es ihr die Sprache, Aus ihren hellen Augen blitzte die glatte Wut. Aber sie beherrschte sich. „Na schön, komm herein, Horst.“ Noch ehe er ein Wort sagte, begann sie, sich zu ver teidigen. „Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen.“ „Du folgst nur einer sehr merkwürdigen Moral.“ „Deren Regeln auf humanitären Grundsätzen beru hen.“ Sie hatte ein weißes, offenherziges Baumwollkleid an. Ziemlich kurz, seitlich geschlitzt, mit tiefem Ausschnitt. Darunter trug sie weder BH noch Strümpfe. „Gewissenhaft, ehrlich, intelligent“, spottete Urban. „Ein Bild von einem Weibe.“ Sie reichte ihm ein Glas mit Eiswürfeln. „Cognac?“ fragte sie. „Pardon, der Herr trinken nur Bourbon.“ Sie nahm eine andere Flasche und goß ein. „Horst“, höhnte sie. „Horst Robert Urban, genannt Mister Dynamit.“ „Magda, alias Magdalen Caroll, Nazibraut und Repor terin.“ „Damit sind wir quitt, oder?“ „Fast“, erwiderte er. „Warum bist du in Berlin so schnell abgehauen?“ „Sie erfuhren, daß ich für Zeitungen arbeite.“ „Was wolltest du bei ihnen recherchieren?“ Sie kühlte sich die Stirn mit dem kalten Glas. 81
„Vielleicht erzähle ich dir das später mal.“
„Später“, fürchtete er, „wird es nicht geben.“
Sie lächelte schon wieder.
„Nur starke Männer leisten sich den Luxus der Offen
heit. Bist du so stark?“ Sie schlug die Beine übereinander. Davon ließ er sich jedoch nicht ablenken. „Was hast du mit Dimona zu tun?“ Ihre Lider bewegten sich rasch einige Male. „Dimona – ist das diese neue Strumpfsorte mit Naht?“ „Müde Witze passen nicht zu dir“, sagte er. „Ich mei ne die israelische Atomfabrik in der Negevwüste.“ Ihre Züge entspannten sich. Sie war eine gute Schau spielerin. Vermutlich lag ihr das im Blut. „Ah, das Dimona meinst du. War kein feiner Zug von dir, mein Manuskript zu lesen.“ „Dadurch konnte der Anschlag verhindert werden.“ „Dann müßtest du mir ja dankbar sein.“ Sein Ton verschärfte sich. „Wie kamst du zu dieser Information?“ „So, wie ich zu der Information kam, daß du nicht Horst heißt, sondern ein BND-Agent bist.“ „Also wie?“ Sie deutete mit dem Glas gegen die Schläfe. „Durch Nachdenken, Querdenken und Hochrechnen.“ Er fragte nicht weiter. Sie würde ihn ohnehin belügen. „Was hast du in Berlin gesucht? Die paar Halbstarken auszuhorchen, die gelegentlich Hitlerjugendlieder ab singen, das ist nicht dein Niveau als Journalistin.“ „Ich suchte Bergleute“, antwortete sie. „Für den Einsatz im Sprengtunnel im Negev?“ „So ist es.“ Man wußte nie, ob sie die Wahrheit sagte oder ob sie einen auf den Ann nahm. „Die findet man leichter im Ruhrgebiet.“ 82
„Mag sein. Ich versuchte es aber in Berlin.“ Er tat so, als würde er ihr glauben. „In wessen Auftrag?“ „Was nützen dir falsche Namen und falsche Adres sen.“ Er ließ nicht locker. „Wer steckt deiner Meinung nach dahinter?“ Verwundert antwortete sie: „Araber, wer sonst.“ „Und warum wolltest du mich in die Pfanne hauen?“ Sie nahm eine MC aus seiner blattgoldenen Packung, betrachtete abfällig das Goldmundstück und biß es ab, ehe sie sich Feuer gab. „Goldmundstück! Ziemlich zickig so was, finde ich.“ „Antworte! Was sollte der Artikel mit meine m Foto bewirken?“ „Licht ins Dunkel bringen.“ „Aus Rache, weil ich nicht mit dir schlafen wollte?“ Sie zupfte einen Tabakfussel von der Lippe und nickte. „Genau das ist der Grund. Und eine Art Alibi. Wenn der BND hinter diesen Leuten her ist, sollte ich es etwa nicht dürfen? Was dem einen recht ist…“ „Einfach idiotisch“, fiel Urban ihr ins Wort. „Von dir“, ergänzte sie. „Warum bist du mir gefolgt? Wegen des Artikels, den ich in Hamburg feilbot? Da hast du schon ganz andere Brocken gelandet.“ Und wieder erklärte er es so deutlich wie möglich. „Tel Aviv macht Druck auf Bonn wegen des Ver dachts der Mitwirkung von Bundesbürgern bei An schlägen gegen Israel. Von dir führt eine Spur nach Dimona, und von Dimona wieder zurück. Ich kam her, um sie weiterzuverfolgen. Du bist die einzige, die mir helfen kann.“ „Nicht einmal, wenn ich wollte“, betonte sie. 83
Er legte eine Pause ein, um einen neuen Angriff von der anderen Seite zu fahren. „Hübsch hast du es hier.“ „Ich liebe Luxus.“ „Und den Unterschied“, stellte er fest. „Mal klassisch antik wie in Zürich, mal Chrom, Glas und Leder. – Wem gehört die Wohnung?“ „Einem Freund.“ „Was Festes?“ erkundigte er sich beiläufig. „Eine Sekunde“, bat sie, „und ich zeige dir, wie fest.“ Sie ging ins Nebenzimmer und kam nicht wieder. Nach einer Weile trat er auf die schmale umlaufende Terrasse. Vom Meer trieben dünne leergeregnete Wol ken herüber. Wind kam auf und wehte einen weißen Vorhang aus der offenen Tür de s Raumes, in dem Mag dalen verschwunden war. Als er sich umdrehte, sah er sie – wie ein Gemälde von Goya. Sie lag auf dem Bett und trug nur ein schma les Band um den Hals. Ihr Körper war von einer zarten Bräune, wie man sie nur bei bestimmten Blondinen antraf. – Neben sich hatte sie eine Schachtel Lollies. An einem davon lutschte sie. Er trat von der Terrasse aus ins Schlafzimmer. „Du gibst nie auf“, sagte er. „Wenn ich eine Erkältung kriege, dann bist du schuld, Horst.“ „Gibt ja Ärzte, oder?“ Sie war schon ein betörendes Weib – nur mit ihrem gelockten Haar und dem dunklen Samtbändchen be deckt. „Dachte immer, Kerle wie du würden jede Gelegen heit wahrnehmen“, flüsterte sie. „Sofern es sich um die goldene Mitte handelt.“ „Das schließt ein Wagnis nicht aus“, äußerte sie. „Außerdem biete ich dir ja meine goldene Mitte.“ 84
Es war wie immer. Man tat es nicht, weil es dazuge hörte, sondern weil man sich dadurch näherkam, ob man wollte oder nicht. Ohne ihr näherzukommen, erfuhr er nichts. Er kleidete sich aus. Sie hatte ihn schon nackt gesehen, damals in Berlin unter der Dusche. Aber jetzt schien es sie zu erregen. Ihre Zunge glitt über ihre Lippen. „Du bist schnell in Form“, bemerkte sie. „So mag ich es.“ „Du wirst dich wundern.“ Er legte sich auf sie, blickte in ihre Augen und wartete. „Aber eines nicht“, bat sie ihn. „Nicht wie eine Ma schine.“ „Wie eine Maschine“, sagte er, „nur besser.“
Angeblich ging sie nur Frühstück holen. Als er das Rasseln des Maserati-Anlassers hörte, wuß te er, daß sie nicht so schnell wiederkam. Er badete in aller Ruhe, setzte Wasser auf und gab zwei Löffel Pulverkaffee in die Tasse. Aber die Kopf schmerzen blieben. Zu viele Fragen standen zu wenig Antworten gegen über. Erst griff er zu dem altfränkischen Hausmittel und ließ kaltes Wasser über Arme und Beine fließen. Es hämmerte weiter unter der Schädeldecke. Eine ver krampfte Ader staute irgendwo das Blut. Er mußte sie freibekommen. Oben in der Sakkotasche hatte er das Ding, das die Schleusen öffnete. Weiß und rund in einer Folie. Er drückte eine Thomapyrin heraus und schluckte sie mit Bourbon, weil es der Tablette egal war, wi e sie hinun 85
terrutschte. Dann ging das Telefon. Gewiß nicht die Caroll. Warum sollte sie anrufen. – Nur um ihm zu erklären, daß sie abgerauscht war? Urban meldete sich brummig. „Hier Miguel Rodriguez de Santa Clara.“ „Hallo, Miguel!“ rief er. „Um was geht es?“ Erst hörte er nur Atem gehen, dann leicht stotternd: „Kennwort O.R.G.A.“ „Na schön, Orga Was kann ich für Sie tun?“ Sofort wurde aufgehängt. Urban hatte das Gefühl, sich falsch verhalten zu ha ben. Aber wie hätte er sich verhalten sollen. Was war richtig und was nicht?“ Er telefonierte mit München, gab einen Kurzbericht durch, am Schluß fügte er hinzu: „Wer ist M. S. International, und was bedeutet OR GA?’ „Wie bitte?“ „ORGA“ „Was ist das?“ „Bin ich ein Lexikon? Kümmert euch darum.“ Es war ein kühler duftender Morgen, als Urban zu der Erkenntnis kam, daß er hier nichts mehr zu suchen hatte. Noch wußte er nicht genau, wie und wo es weiterging. Aber hier ging es sicher nicht weiter, denn die Woh nungstür war verschlossen. Erst dachte er, Magdalen habe sich einen Scherz er laubt. Er spazierte einmal auf der Terrasse um die Woh nung. Zufällig warf er von draußen einen Blick ins Treppenhaus. Dabei wurde ihm klar, daß sich Magdalen durchaus keinen Scherz erlaubt hatte. – Sie hatte an der Türklinke eine tödliche Vorrichtung hinterlassen. Vom Knauf lief eine schwarze Schnur oder ein Draht 86
zu einem Ding, das wie eine übergroße eiserne Walnuß aussah. Kein Zweifel, es handelte sich um eine Eier handgranate. Ziemlich lachhaft, dachte Urban, bis er merkte, daß die Mauer von der Terrasse senkrecht und fugenlos nahezu fünfundzwanzig Meter tief bis zur Straße abfiel. Urban fand die Situation immer noch lächerlich. Er brauchte nur seinen Freund, Coronel Segovi a von der Brigada investigación in Spanien, oder Gil Quatembre oder die Polizei anzurufen. Doch als er das Telefon abhob, fand er die Sache nicht mehr ganz so lächerlich. – Die Leitung war tot. 10. Für Marcel Strassbourg war es reine Routine. Er rief die Spitze von O.RGA zusammen. Zuverlässig wie in all den Jahren seit dem großen Krieg würde das Triumvirat zusammentreten, auch wenn die Mitglieder inzwischen alt und grau geworden waren. „Treffpunkt D“, fügte er noch hinzu. Jedem war bekannt, daß mit D ein Badeort an der Seinebucht gemeint war. Der O.R.G.A.-Chef von Frankreich besaß dort ein Hotel. Niemand wußte davon. Nicht einmal de r Ge schäftsführer durchschaute die Eigentumsverhältnisse. Er hatte aber stets eine Suite freizuhalten. Wenn es sich um Operationen im asiatische n Raum handelte, richteten sie ihr Hauptquartier meist in Singa pur ein. Wenn sie in Amerika tätig wurden, leiteten sie die Einsätze von Miami aus. In letzter Zeit schränkten sie solche Aufträge aber stark ein, denn ihr Mann in den USA, Slim Newton, war nicht mehr bei bester Gesund heit. Außerdem fühlte er sich beobachtet. 87
Nik Saltforth aus Singapur traf, obwohl er einen Flug um die halbe Erde hinter sich hatte, gleichzeitig mit dem Franzosen in Deativille ein. Sie nahmen einen Drink unter der Sonnenmarkise. Nik Saltforth, ein dürrer Mann, grauhaarig, mit ent zündeten Augen und dunklen Ringen im Gesicht, sagte: „Slim hat mir was vorgejammert.“ „Slim jammerte schon im Dreißigjährigen Krieg“, bemerkte Strassbourg herablassend. „Dir wollte er es nicht sagen, aber bei mir wagte er es. Er kann nicht mehr mithalten.“ Der Franzose setzte das Glas ab und steckte sich eine Zigarette an. „Wir brauchen ihn. Er ist unser Techniker.“ Sie hatten die Arbeit schon immer geteilt. Während Strassbourg die Aufträge annahm, sie prüfte, die Kon trakte abschloß und das Finanzielle regelte, war Salt forth der Stratege. Er legte im großen und ganzen fest, wie, wo, wann der Auftrag am besten durchzuführen sei. Am besten bedeutete immer, mit so wenig Aufwand und mit so großer Sicherheit wi e möglich. Wobei sie unter Sicherheit vordringlich die Abschottung der O.R.G.A. nach außen verstanden. Slim Newton war für die Tricks zuständig, für die Auswahl der Experten, den Einsatz von Material, die Wahl der Waffen, für alles, was mit dem endgültigen Dolchstoß zu tun hatte. „Leider ging es in Dimona daneben“, bemerkte der Mann aus Singapur. „Nicht Slims Schuld. Sein Plan war perfekt. Was für eine grandiose Idee, unter der Wüste einen zwanzig Kilometer langen Tunnel zu bohren. – Daß Mossad sie im Tunnel erwartete, damit war nicht zu rechnen.“ „Es war Verrat im Spiel.“
„Wer sollte es verraten haben?“
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„Am Ende wußten nicht nur wir drei davon, sondern mindestens dreihundert Leute. Da kann schon ein Schweinehund dabeisein.“ „Nicht unser Problem, den Verräter zu liquidieren.“ Der Kellner kam und brachte einen eisgekühlten Si phon. „ Ob sie Regreßforderungen an uns stellen?“ überleg te Saltforth. „Wir haben die Logistik geliefert, sie konnten nicht damit umgehen. Wenn sie pampig werden, kriegen sie was auf den Rüssel. Außerdem wissen sie gar nicht, wer dahintersteckt.“ „Sie kennen nur den Namen O.R.G.A.“ „Mehr nicht.“ Sie wechselten das Thema und sprachen von der neuen Sache. „Ich habe inzwischen alle Einzelheiten beisammen“, erwähnte Strassbourg. „Sie liegen oben in meinem Safe.“ „Laß uns auf Slim warten.“ „Er müßte bald hier sein.“ Strassbourg schaute auf die Uhr. Die Sonne stand jetzt so tief, daß sie unter de n Rand der gelben Markise tauchte und sie blendete. Sie gingen hinein und hinauf.
Slim Newton, neunundfünfzig Jahre alt, amerikani scher Staatsbürger, Eigentümer einer Spezialfabrik für nautisches Zubehör – er stattete sowohl U-Boote wie Flugzeugträger damit aus – , kam mit dem Geschäfts wagen seiner europäischen Niederlassung in Brüssel. Es handelte sich um einen Cadillac, einen Fleetwood 75, von der alten langen Muskelsorte. Seit Jahren schon achtete er darauf, daß Limousinen, 89
die er vielleicht einmal benutzen würde, Platz für einen Krankenstuhl boten. Er war nicht unbedingt auf ihn angewiesen. Es hing jeweils davon ab, in was für starken Wellen ihn die Gicht heimsuchte. Manchmal war es so schlimm, daß er das Bett nicht verlassen konnte und selbst die Berüh rung einer Stubenfliege ihm unerträgliche Schmerzen verursachte. Dann gab es wieder Wochen, an denen er nur mit Hilfe vo n Krücken oder sogar völlig frei gehen konnte. Derzeit befand er sich in einer mittleren Phase und bewegte sich mit Hilfe eines Stocks. De n Schmerz hatte er zu unterdrücken gelernt. Für den Fall, daß es ganz arg kam, führte er in einer goldenen Dose Tabletten mit sich. Als der Cadillac in Dauville vorfuhr und der Fahrer den Schlag öffnete, stieg Slim Newton heraus wie vor dreiundvierzig Jahren aus seinem Tiger der SSPanzerdivision Großdeutschland. Etwas krumm blieb er stehen und blinzelte. Oben auf der Dachterrasse sah er seine Freunde, winkte ihnen zu und ging ins Haus. Der Lift summte. Wenig später schlossen sie sich in die Arme und tauschten Bruderküsse. „So wie du deinen Zustand geschildert hast“, sagte Saltforth, „befürchtete ich schon, sie würden dich auf der Trage hereinbringen.“ „Mal so, mal so.“ Newton nippte am Scotch. Dem Aussehen wie der Größe nach lag er zwischen Strassbourg und Saltforth. Er war kleiner als der Mann aus Singapur, aber einen halben Kopf länger als der Franzose. – Er war besser durchwachsen, aber nicht so bullig wie Strassbourg. Sport hatte er nie getrieben. Er hatte auch kein luxuriöses Leben geführt, wenn man davon absah, daß in seiner Villa in Florida die bestaus gestattete Mechanikerwerkstatt Amerikas stand. Dort 90
ließ sich im Kleinen alles herstellen, was es an mechani schen, elektrischen und hydraulischen Geräten gab. Alles, was Newton je erfunden hatte, und das reichte von der Torpedosteueranlage bis zum vollautomatischen Navigationssystem, hatte er erst als Prototyp gebaut. Mit eigenen Händen. – Vielleicht noch mit Hilfe der Hände einiger hochtalentierter, von ihm angelernter Feinmechaniker. Sie sprachen nicht über ihr Befinden. Männer, die sich so gut kannten wie sie, sahen das an Bewegungen, an den Gesichtszügen, an den Augen des anderen. „Trotzdem“, erklärte der Amerikaner, „wird es meine letzte Arbeit für euch… für uns… für O.R.G.A. sein.“ „Wir sind noch jung“, prahlte Strassbourg. „Untätig keit läßt einen Mann vergreisen.“ „Wozu?“ fragte Newton. „Wir sind doch längst Mil lionäre.“ Saltforth, der aus dem österreichischen Salzburg kam und deshalb diesen Namen angenommen hatte, lachte kehlig. „Multi“, verbesserte er. „Multimillionäre – als ob es je um Geld gegangen wäre.“ „Zum Anfang schon.“ Newton, geboren in einem der vielen deutschen Orte namens Neustadt, blieb dabei. „Für mich ist es das letzte Mal.“ „Dann gehst du in Pension.“ „Ich bin es bereits. Soweit das ein Unternehmer je sein kann. Okay, ich habe erstklassige Ingenieur e und Manager. Das Busineß läßt sich über Telefon, Fern schreiber und Funk abwickeln. Unsere privaten Ge schäfte hingegen erfordern einen ganz anderen Einsatz. Den kann ich nicht mehr erbringen. Die Anfälle häufen sich. Ihre Unberechenbarkeit hängt über mir wie ein Damoklesschwert. Wer nie an Gicht litt, o Madonna, hat 91
keine Ahnung, was das ist.“ Sie mußten sich damit abfinden. „Diesmal geht es um Colonna“, erinnerte der Franzose. „Nur deshalb bin ich noch einmal dabei“, erklärte der Amerikaner. „Machen wir reinen Tisch. Er soll sterben – dieses Schwein aus der schönen Stadt Köln am Rhein.“ „Hoffentlich erfährt keiner dort, welches Kuckucksei ihnen da vor sechzig Jahren ins Nest gelegt wurde.“ „Man hört, er will auf seiner großen Reise auch seine Heimatstadt besuchen“, erwähnte Saltforth. „Er wird nie dort ankommen“, schwor Marcel Strass bourg.
Anhand der Termine nahmen sie die Detailplanung vor. Sie spähten Colonnas Besuchsprogramm in den Hauptstädten nach Lücken aus. „In Washington ist er an einem Dienstag“, erwähnte Saltforth, „in Amsterdam, Bonn, Paris eine Woche später.“ „Also stets zwischen Montag und Freitag“, präzisierte Strassbourg. „Nur in London weilt er am Wochenende.“ „Freitag und Sonnabend also.“ Saltforth galt als der Londonexperte. „An den Wochenenden herrscht starker Verkehr. Die Polizei kann sich nicht ausschließlich auf die Person eines Staatsgastes konzentrieren.“ „London ist ohnehin schwer überwachbar.“ „Außerdem liegt es im Wesen des Briten, so etwas nicht zu übertreiben. In Bonn akzeptiert man die Polizei. In England versteckt man sie lieber.“ „Hinzu kommt, daß Colonna in London das Trans 92
portmittel wechselt.“ „Er steigt vom Jet auf den Zerstörer um.“ „Name des Schiffs?“ fragte der Amerikaner. „Bolivar.“ Newton dachte nach. „Von der Bolivar besitze ich Pläne. Mußte da mal ei ne neue Selbststeueranlage einbauen. Wenn ich heute die Pläne anfordere, können sie morgen hier sein. Wann ist es soweit?“ „Zwei Wochen bleiben uns satt.“ „Satt wäre ein Monat“, meinte der Mann aus den USA. Sein Gehirn begann schon daran zu arbeiten, wie es zu machen sei. Auf dem Stadtplan von London verzeichneten sie alle Wege, die der Staatsgast zurücklegen würde. Vom Flugplatz in die City. Von Downing Street zum Bu ckingham Palace und zurück in das Hotel. Sie trugen die Stadtrundfahrt und die Besichtigungsrouten ein, mar kierten den Platz in einem Seitenarm der Themse, wo der Zerstörer vor Anker gehen würde. „Bei Dock elf“, erklärte Strassbourg, „Marine Kai, wo immer die Ausländer liegen. Das kann sich aber noch ändern.“ „Es wird von ausschlaggebender Bedeutung sein“, meinte der Mann aus den USA, „wenn es so zu machen ist, wie ich denke.“ „Und was denkst du, Slim?“ „Laßt mir noch ein wenig Zeit“, bat Newton. In diesem Moment summte das Telefon. Der Hausherr nahm ab. Erst hellte sich seine Miene auf, als spreche er mit ei nem guten Bekannten. Seine Züge bekamen beinah etwas Väterliches. Doch dann erstarrten sie. „Verdammt!“ fluchte er. „Das ist…“ Offenbar wurde sein Verdacht bestätigt. 93
„Unglaublich ist das. Unfaßbar.“ Und nach einer Wei le: „Ich danke dir. Das war ungeheuer wichtig. Wir müssen uns überlegen, was wir dagegen unternehmen… Noch mal, merci.“ Er legte so zögernd auf, wie sie es von ihm nicht ge wohnt waren. Dann trat er ans Fenster, stieß die Hände in die Taschen, drehte sich um und reckte das Kinn vor. „Neue Lage, Kameraden.“ „Wenn ich etwas nicht mag, dann sind es neue La gen“, murmelte der hagere Saltforth in seine m Englisch mit österreichischem Hang. „An dem Projekt ändert sich wenig“, fahr Strass bourg fort. „Nur eine Meine Einschränkung kommt hinzu. Ich erfahre soeben, daß der BND hinter uns her ist.“ „Der Begriff BND ist mir zu umfassend“, wandte Newton ein. „Ein BND-Agent brachte es zuwege, daß die Araber in Dimona scheiterten. Bonn steht unter dem Druck der Israelis. Jetzt wollen sie einiges genauer und manches sogar sehr genau wissen.“ „Ein Mann“, gab Saltforth seine Ansicht zum besten, „ist kein Mann.“ ,,Dieser Mann ist eine Armee.“ „Da gibt es nur wenige. Es ist doch nicht etwa…?“ Strassbourg nickte mehrmals eckig. „Doch, ich meine genau den. Wir sprachen mal über den Burschen und dachten, wenn es je eine n würdigen Nachfolger für uns gäbe, der alles erhält, was wir auf bauten, dann könnte dies Mister Dynamit sein.“ „Nur eben, daß er nicht unseres Geistes Kind ist.“ „Leider hat er neue Väter und andere Ideale. Al s Deutscher darf man stolz auf ihn sein. Aber sind wi r Deutsche?“ „Wir sind O.R.G.A.“, betonte Newton mit überra 94
schend kräftiger Stimme. Sie kamen überein, daß an dem Plan nichts geändert wurde, daß sie aber verstärkte Maßnahmen der Tarnung und Absicherung ergreifen würden. Maßnahmen, die notfalls eine Liquidation des BND-Agenten nicht aus schlossen. 11. Robert Urban, BND-Agent Nr. 18, liebte grundsätzlich die Ordnung. Wie die meisten in Altfranken Geborenen, bekämpfte er jede Art von Chaos scho n im Ansatz. Wenn es möglich war, zerstörte er kein System und kein Arrangement. Allein der Gedanke, einen Ameisen haufen zu zertreten, war ihm widerlich. Für einen einfachen Menschen, der er war, hatte Ord nung etwas Göttliches. Er schlug nur dort zu, und das brutal, wo die Ordnung pervertierte und krebsartig wu cherte. Er mußte eine Fensterscheibe einschlagen. Mangels eines Hammers mit den Beinen des Badehockers aus Edelstahl. Es gab überhaupt keine andere Chance, aus diesem Gefängnis herauszukommen. Das Telefon war tot. Die Fassade hatte den Schwierigkeitsgrad sieben plus, und er war kein Superbergsteiger. Die Wohnungstür war mit einer Handgranate verbunden. – Gut, man konnte die Tür aufstemmen und sich in Deckung werfen. Aber Handgranaten enthielten Sprengstoff. Der wiederum zerstörte Ordnungen. – Also begnügte Urban sich mit dem Fenster im Treppenhaus. Von der umlaufenden Terrasse aus hatte er die Vor richtung studiert. Nun zertrümmerte er das Glas mit den verchromten Beinen des Badehockers, kroch durch die Öffnung und löste den Draht – es war eine schwarze, 95
dreimal um den Federbügel der Handgranate gewickelte Nylonschnur – von dem gefährlichen Sprengkörper. Mit dem Stahlring sicherte er sie wieder und verließ das Bürohaus nahe Port Vendres. Daß eine Chance bestand, den Maserati der Caroll jemals einzuholen, schlug er sich aus dem Kopf. Er bewegte seinen BMW, das alte Kampfgerät, zum nächsten Postamt und rief in München an. „Was bedeutet O.R.G.A.?“ fragte er als erstes. „Daran wird noch gearbeitet“, erklärte man ihm. „Hinter dieser Frau stehen Leute, die den DimonaCoup planten.“ „Ist das eine gesicherte Erkenntnis?“ wollten sie in Pullach wissen. Er ging nicht darauf ein, denn noch ließ es sich nicht beweisen. „Diese Leute planen eine neue Sache.“ Zwar konnte er auch dies nicht beweisen, aber im Laufe eines Agentenlebens entwickelte man ein Instru mentarium von Sinnen, das über Hören, Sehen, Fühlen und Schmecken hinausreichte. Darauf kam wieder die penetrante Frage Sebastians aus der Operationsabteilung. „Ist das gesichert?“ „Die Vorwürfe der Israelis waren auch nicht durch Beweise gesichert. Ich lieferte sie hinterher. Aber auf die Dauer ist es ein Hasardspiel, Beweise erst im nach hinein zu bringen, wenn es bereits passiert ist.“ „In Dimona passierte im Grunde gar nichts.“ „Muß ja nicht immer so bleiben.“ „Schön, was können wir hier tun?“ lenkte der Alte ein, „derweil Sie die Sonne Südfrankreichs genießen.“ „Wer oder was ist O.RGA?“ wiederholte Urban be harrlich. „Und wenn O.RG.A. nur eine Käsesorte oder eine 96
Fischkonserve ist?“ „Dann wäre ich froh“, gestand Urban und legte auf. Warum komme ich nicht weiter, fragte er sich. War O.RGA unbedeutend oder hatten sie ein Loch in der Datei? Oder stellte O.RGA einen derartigen Horror dar, daß sie lieber nicht daran rührten, um den Tiger nicht zu wecken? In einem Bistro gegenüber nahm er ein Glas Vi n blanc, kaute geröstete Garnelen, die für jedermann zu gänglich auf einem Teller lagen und fragte den sensi blen Punkt seiner Thymusdrüse ab. Die Antwort war die gleiche wie bei einem Schiffsba rometer, das erst gefallen war und mit einemmal stand. Meist kündigte es dann die Stille vor dem Sturm an.
Zurück in München mußte Urban feststellen, daß der allwissende BND-Computer in bezug auf O.R.G.A. ein Loch hatte. Eine Art weißen Fleck, mit dem auf Land karten unerforschtes Gebiet gekennzeichnet wurde. Es kostete ihn Überwindung, aber er setzte sich mit Mossad in Verbindung. – Dort hieß es, Major Uri Gold berg wäre verreist. „Er soll mich anrufen. Dringend“, hinterließ Urban und wartete. Wenn der Mossad-Mann noch eine Spur von Anstand oder ein durchschnittliches Maß von Intelligenz hatte, dann meldete er sich. Auch wenn er es nicht zugab, mußte er eingestehen, daß sie es Urbans Hinweis ver dankten, daß ihnen Dimona nicht pulverisiert worden war. Da es sich angeblich um neonazistische Umtriebe handelte, setzten sie die Mithilfe des BND als selbstve r ständlich voraus, ohne auch nur ein Dankeschön zu sagen. – Anders war es mit künftigen Te rroranschlägen. Hier mußte schon beim kleinsten Ansatz gegengesteuert 97
werden. Deshalb war Goldbergs Intelligenz gefordert. Immerhin war er der zuständige Sachbearbeiter. Wenn Goldberg sich nicht meldete, würde Urban es über ande re Freunde beim Mossad, über Oberst Abraham, versu chen. Es dauerte eine Nacht und einen halben Tag, dann stieg Goldberg endlich von seinem Thron herunter und rief an. „Es geht nicht um Dimona“, sagte Urban. „Das ist Vergangenheit. Vergessen wir es, ziehen wi r einen Schlußstrich. Aber es gibt noch mehr Dimonas, künftige Dimonas.“ „Ich schulde Ihnen einen Dienst“, sagte der Major völlig unerwartet. „Sie schulden mir gar nichts“, entgegnete Urban. „Aber wenn Sie mir sagen können, was O.R.G.A. be deutet, ich buchstabiere: O-R-G-A, dann wäre ich Ihnen nicht nur sehr verbunden, es könnte sogar helfen, neue Schwierigkeiten zu verhindern.“ Jetzt überraschte der Israeli ihn, sowohl was seine Verbindlichkeit als auch sein Wissen und seine Bereit schaft zur Mitarbeit betraf. „O.R.G.A. bedeutet Organisation rechter Gruppen Amerikas. Bei uns führt sie einen anderen Namen, näm lich O.R.G.A. – die Erben des Te ufels.“ „Ich kam damit auf eine Weise, auf die ich nicht nä her eingehen möchte, in Berührung“, erklärte Urban. „Könnte sein, daß sich aus dieser Richtung etwas zu sammenbraut.“ „Die O.R.G.A.“, führte Goldberg weiter aus, „wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von jungen SS-Offizieren, unbelehrbaren Fanatikern, gegründet. Sie flohen auf dem bekannten Weg nach Südamerika und setzten sich dort erst in Argentinien, später in einer Andenrepublik fest. Dort arbeiteten sie an einem Umsturz, ähnlich dem, 98
wie ihn Castro später in Kuba vollzog. In den Bergen sammelten sie Gleichgesinnte, führten Partisanenkrieg, riegelten die Hauptstadt ab und eroberten sie. Der Um sturz gelang. Ende der Fünfziger brachten sie ihr politi sches Genie ans Ruder. Dort sitzt dieser Mann noch immer. Gleich zu Anfang ließ er seine alten Kameraden reihenweise liquidieren. Später machte er allerdings eine Schwenkung. Er driftete nach links. Wir alle ken nen ihn und sein verbrecherisches Regime.“ „Meinen Sie Ernesto Colonna?“ „Als Flüchtling führte er noch den Namen Ernst von Köln.“ Urban drückte sein Staunen durch Schweigen aus. Der Israeli fuhr fort: „Wenige seiner engen Mitstreiter entkamen damals. Vier oder fünf Leute setzten sich, unter Mitnahme einer stattlichen Beute, ab. Sie trennten sich und brachten es in Asien, in Nordamerika, Australien und Frankreich zu geschäftlichem Erfolg. Aber es war wohl nicht nur ihre Tätigkeit als Fabrikanten und Kaufleute, die sie zu Mil lionären machte, sondern auch O.R.G.A. Sie gründeten O.R.G.A. als Deckmantel für ein Serviceunternehmen, das man einen Generalstab des Verbrechens nennen könnte.“ „Sie lieferten also ausgearbeitete Pläne für Anschläge von internationalen Dimensionen.“ Der Israeli zählte eine Reihe davon auf. Urban kannte sie alle und hatte sie bisher mit Terroristen, bestenfalls mit der Mafia, der Cosa Nostra oder dem KGB in Ver bindung gebracht. Entsprechend ihrer Vielfalt – sie waren von Neuseeland bis Alaska verübt worden – lag dies auch nahe. „Und Sie glauben wirklich, daß hinter all diesen Schweinereien O.R.G.A. steckt?“ „Wir sind ziemlich sicher“, antwortete der Mossad 99
Major. „Nur eines gelang selbst uns nicht, nämlich, O.R.G.A. personell zu identifizieren und ihre Aufträge vorherzuahnen. Mit Ausnahme vo n Dimona, das eben falls die Handschrift vo n O.R.G.A. trägt. Sie planen alles bis ins Detail, leisten technische Hilfe und überlas sen den Rest den Auftraggebern.“ „Welchen Coup brüten sie jetzt wohl aus?“ Der Israeli äußerte sich vorsichtig. „Wir hofften schon, O.RG.A. wäre wegen Überalte rung des Teams aufgelöst worden. Die Herren dürften um die Sechzig und nicht mehr sehr aktiv sein. Außer dem sind sie vermögend und werden nicht mehr so viel riskieren wollen. Allerdings steht da noch eine alte Rechnung offen. Ich würde es so sehen, daß O.R.G.A. vielleicht in eigener Sache tätig wird.“ Urban hatte gut zugehört und lieferte das Stichwort „Colonna.“ „Der Generalpräsident Ernesto Colonna, erst Compa nero, dann Verräter und Mörder, dürfte wohl auf ihrer Abschußliste stehen. Solche Leute sind wie Elefanten, sie vergessen nichts.“ Urban hatte zehn Minuten mit Goldberg telefoniert und mehr erfahren als in den letzten zehn Tagen zu sammen. „Die Wahrscheinlichkeit, daß sie mit Colonna ab rechnen, ist groß“, kommentierte der Israeli zum Schluß. „Aber in seinem Land, inmitten seiner Armee, seiner Leibgarde, haben sie wohl keine Chance.“ „Ich hörte, Colonna bereitet eine Weltreise vor. Eine Good-will-Tour zur Aufbesserung seines verheerend schlechten Rufes. Schätze, er wird es so darstellen, als sei sein Land am Verhungern. Die Gelder, die man ihm zusagt, verwendet er dann für Waffen, für die Armee und die Polizei. Anders laßt sich das Regime nicht auf rechterhalten.“ 100
„Und für die eigene Tasche“, ergänzte der MossadMajor. „Kommt er nicht auch nach Bonn?“ „Nicht auszudenken“, bestand Urban, „wenn es in Bonn zu dem Attentat auf ihn käme.“ „Gehen Sie davon aus“, riet Uri Goldberg, „daß es in Bonn sein wird. Denn welches Land kennen die O.R.G.A.-Leute besser als ihre Heimat.“ Abo- welche Rolle spielte Magdalen Caroll dabei? – In der Berliner NS-Szene hielt sie angeblich Ausschau nach jungen Mitarbeitern, aber was tat sie an der spani schen Grenze? – Hatte sie Kontakt mit O.R.G.A. aufge nommen? „Ist Ihnen im Zusammenhang mit O.R.G.A. eine Magdalen Caroll bekannt?“ fragte Urban und beschrieb sie. Der Israeli bedauerte. „Oder eine Firma namens M. S. International bei Per pignan?“ „Nie gehört. Vielleicht sollte man den französischen SDECE bitten, sie unter die Lupe zu nehmen.“ „Ist bereits geschehen“, erklärte Urban. „Bisher nega tiv. Der Laden ist zu sehr verschachtelt, als daß man ohne Betriebsprüfung Durchblick gewä nne. Eine solche Prüfung würde O.R.G.A. nur warnen.“ „Mehr kann ich nicht für Sie tun“, sagte der Mann in Tel Aviv. Urban checkte immer und immer wieder die Fakten ab. Er folgte jeder noch so feinen Spur. Die Kanäle waren ausgetrocknet. Sie führten kein Wasser mehr, so, als würde es irgendwo gestaut. Es herrschte die absolute Ebbe vor der großen Flut.
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12.
Sie hatte ebenholzschwarzes Haar, türkisfarbene Augen und die Figur einer Tänzerin. Sie war die einzige Frau unter vier Dutzend Männern in de m Düsenflugzeug. – Sie bediente als Stewardeß den Staatspräside nten. Ernesto Colonna hatte eine Vorliebe für Frauen dieses Typs und der Altersklasse unter zwanzig. Immer hatte er solche Frauen gehabt. Sie waren ihm zugeflogen oder zugeführt worden. Manchmal hatte er sie einfach genommen, egal wem sie gehörten. Die Ehefrau seines Außenministers hatte ausgesehen wie diese rassige Stewardeß. José Fernando Macao, der Außenminister, saß in der zweiten Reihe hinter Colonna. Jedesmal, wenn die Schöne vorbeiging, spürte er einen Stich in seinem Herzen. Hinzu kam, daß sie das gleiche Parfüm wie Simonetta verwendete. Alle Frauen, die in die Nähe Colonnas kamen, wurden angehalten, dieses Parfüm zu benutzen. Es handelte sich um ein Guerlain-Produkt, um Mitsouko. Seit dem Start servierte sie Champagner, und Colonna tätschelte ihren Hintern. Als sie in neuntausend Meter Höhe Haiti passierten, rissen die Männer um Colonna Witze über Baby Doc und wie er sich aus Haiti hatte vertreiben lassen. Colon na hörte angeregt zu und sagte: „Das würde mir nie im Leben passieren.“ „Sie haben die treueren Beamten, Offiziere und Poli zisten, Exzellenz.“ „Und wohl die bessere Politik“, rief Colonna stolz. „Vergeßt das nicht.“ Der Flugkapitän im Cockpit der zivilen Linienma schine, in Wirklichkeit Oberst der Luftwaffe, meldete sich über Kabinenlautsprecher: 102
„Noch tausend Meilen bis Washington, Exzellenz. Flugzeit eine Stunde und fünfzig Minuten. Ankunft planmäßig.“ „Worum ich auch sehr bitte“, bemerkte Colonna scherzhaft. „Ich möchte den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht gerne warten lassen.“ Er bat die Mitglieder seines Kabinetts, soweit sie um auf dieser Weltreise begleiteten, in die Konferenzecke. Dazu hatte man im Oberdeck der Boeing 747 die Schlafsitze ausgebaut und Sessel um einen Tisch grup piert. Die halbe Regierungsmannschaft begab sich nach oben. Man hielt Kriegsrat. „Noch einmal“, ermahnte sie der mitreisende Psycho loge, der auch das Amt des Ministers für Gesundheit und Erziehung ausübte: „Wir treten als eine Horde bra ver Lämmer auf. Jeder Vorwarf wird mit Zähneknir schen hingenommen. Alle Vorschläge werden wider spruchslos angenommen. Besserung, wo immer man es wünscht, gelobt. Freiheit im Lande, alle sind Brüder und Menschlichkeit lautet unser oberstes Gesetz. Alles nur Lippenbekenntnisse natürlich.“ Sie hatten diese Taktik festgelegt, auch wenn sie die sem Haufen grobgehauener Männer nicht benagte. Am Ende hatte selbst Colonna zugestimmt. „Daß mir keiner ausschert“, vergatterte Colonna sein Kabinettsteam. „Wenn nur einer von Ihnen wider spricht, merken sie, daß es sich um Absprachen handelt und daß wir es nicht ernst meinen. Dann wird man uns statt mit Entwicklungshilfemillionen mit einem Tritt in den Hintern verabschieden. „ Der Generalpräsident erteilte dem Minister wieder das Wort. „Politisch“, fuhr dieser fort, „sind wir Sozialisten, aber nicht Moskau-hörig, militärisch somit keine Geg 103
ner für die USA wie Nicaragua etwa. Die Fehler dieser Spinner werden wir nicht begehen. Selbstverständlich sind wir zu jeder Sparmaßnahme bereit. Die freie Reli gionsausübung brauchen wir nicht zu garantieren, die war offiziell nie in Frage gestellt. Konzentrationslager, Folterkeller et cetera gibt es bei uns nicht. Das sind bloß böse Gerüchte.“ So ging es weiter, bis jeder, auch der letzte begriffen hatte, wie er seine Rolle zu spielen hatte. „Was ist mit Ihnen, Macao?“ wandte der Generalprä sident sich an seinen Außenminister. „Sie sehen aus wie nach drei Tagen Regen.“ Macao erhob noch einmal seinen bekannten Einwand gegen die zu servile Verhaltensweise. „Wir sind Männer und keine Lakaien“, erklärte er. „Gerade die Amerikaner erwarten auch Widerspruch. Erklärungen einfacher, aber schlagkräftiger Art. Ihre Politiker sind die Enkel von Großvätern, die noch gegen die Indianer kämpften. Sie schätzen Weichlinge und Memmen wenig.“ „Was schlagen Sie also vor?“ fragte der Psychologe neugierig. „Ein Auftreten, stolz und fest, unter Betonung huma ner und freiheitlicher Grundsätze.“ Da es nicht möglich war, das mühsam antrainierte Konzept umzupolen, blieb es bei der erarbeiteten Kon zeption. Macaos Vorschlag wurde abgelehnt „Fest am Boden“, höhnte Macao. „Die Füße zwei Me ter über der Erde. So kommen wir bei denen nicht an.“ Sie nannten ihn einen Besserwisser, einen Schwarzse her. Nervös nahm er Zigaretten und Feuerzeug. Das Feu erzeug glitt ihm aus der Hand. Er suchte und fand es wohl unter dem Sessel. Dann verließ er die Runde, ging an die Bar und ließ 104
sich von der Ebenholzschwarzen mit den grünen Augen Cognac geben. Die Runde wechselte. Die Politiker gingen, die Offi ziere kamen. Mit Ausnahme des Polizeichefs Cuzero Dominguez, der Colonnas absolutes Vertrauen genoß und während seiner Abwesenheit zu Hause für Ordnung zu sorgen hatte, saß alles, was mit der Sicherheit und Organisation der Reise zu tun hatte, um den Präsidenten. Die Herren sprachen leise und mit gesenkten Köpfen. Über das Singen der Düsentriebwerke hinweg waren sie schon auf wenige Meter Distanz nicht mehr zu verste hen. „Wir haben eine undichte Stelle“, begann der stellver tretende Geheimdienstchef. Es hätte sie sehr gewundert, wenn er etwas anderes behauptet hätte. Der Verdacht, es gäbe im engen Kreis der Regierung einen Verräter, war für ihn zur Wahnvor stellung geworden. In diesem Punkt glich er Cicero, der seine Reden vor dem römischen Senat mit den Worten: Im übrigen bin ich der Meinung, daß Karthago zerstört werden muß beendete. „Sie mit Ihren Alpträumen, Costillez“, widersprach der Präsident der Behauptung. Der Angesprochene zählte es an den Fingern auf. „Warum entging uns die Papstkasse? – Weil diese Katholenbande gewarnt wurde. – Warum war das Hotel in Bogota, wo sie unterschlüpften, als wir hinkamen, leer? – Weil sie abermals gewarnt wurden. – Man hört von geplanten Anschlägen auf Sie, Exzellenz. Wie ist das möglich, ohne daß Einzelheiten der Reiseroute und der Termine nach draußen gelangten.“ Der Präsident gab sich einen Ruck. „Na schön. Und was schlagen Sie vor, Costillez? Sol len wir etwa umkehren?“ 105
„Nein, aber aufpassen.“ „Das tun wir“, erklärte der Kommandeur der Leibgar de. „Wir leisten hundertprozentige Manndeckung. Oder wissen Sie etwas Besseres, Costillez?“ „Änderung der Reiseroute“, schlug der Oberst vor. „Das ist unmöglich“, wandte der Chef des Stabs ein. Costillez hatte sich offenbar eine List ausgedacht. „Dann verbreiten wir eben, daß die Route geändert wird“, schlug er vor. Damit war der Pressechef sofort einverstanden. „Gar nicht schlecht. Das wäre zu machen.“ „Wie zu machen?“ wollte Colonna wissen. „Wo liegen die neuralgischen Punkte?“ fragte der Kommandeur der Leibgarde. „In Washington, in Bonn und in Rom haben Terrori sten keine Chance. Anders in London.“ „Warum in London?“ „Die Briten nehmen es einfach lockerer. Für sie ist ein Präsident auch nur ein Mann.“ „Vorschläge, Senores“, bat der Staatschef. Sie kamen von allen Seiten. Der beste war der des Pressechefs. „In London trifft in wenigen Stunden unser Zerstörer Bolivar ein. Vorgesehen ist, daß die Weiterreise von London zum Kontinent per Schiff erfolgt.“ „Ein Zerstörer ist unangreifbar“, äußerte der Admiral „Das bezweifelt niemand“, fuhr der Ratgeber fort. „Ich stimme auch nicht dafür, daß man daran etwas ändert. Wir gehen in London an Bord der Bolivar. Offi ziell aber verbreiten wir, daß der Präsident wegen Un päßlichkeit für einen Tag das Bett hüten muß und das Flugzeug nimmt, um den Zeitplan einzuhalten.“ Der Vorschlag wurde diskutiert. Da es immer vo n Vorteil war, mögliche Gegner zu irritieren, wurde er angenommen. Dies um so mehr, als sich am technischen 106
Ablauf der Reise ohnehin nichts änderte. Auch Colonna war einverstanden. „Leiten Sie das pressemäßig in die Wege, Senores“, entschied er. „Sonst noch etwas?“ Der stellvertretende Geheimdienstchef sagte: „Wenn dieser Trick bekannt wird, Amigos, dann be findet sich der Verräter in dieser Runde.“ Doch damit erntete er nur höhnische Bemerkungen. Der Admiral behauptete sogar, er sei ein Psychopath, ein bißchen geisteskrank.
Beim Anflug auf Washingtons Dulles Airport – als der Konferenzraum leer war – ging José Fernando Ma cao noch einmal nach oben. Zu der Stewardeß sagte er, er würde noch immer sein Feuerzeug vermissen. Gemeinsam suchten sie unter den Sesseln. Schließlich fand der Außenminister das schwe re Ronson. Im Waschraum öffnete er das goldene Feuerzeug. Es handelte sich um ein getarntes Mini-Tonbandgerät. Er ließ die Spule zurücklaufen und hörte dann die Auf zeichnung ab. Jedes Wort, das in der Sicherheitsrunde gesprochen worden war, war deutlich zu verstehen. Als die Aufforderung des Piloten, das Rauchen einzu stellen und die Gurte anzulegen, durchkam, nahm Ma cao seinen Platz zwei Reihen hinter de m Präsidenten ein. Nach der Landung, dem Marsch über den roten Tep pich und dem großen Bahnhof mit Ehrenkompanie und Musik fuhren die Staatsgäste zum Weißen Haus. Dort nahm man einen Imbiß und führte erste Gespräche. Anschließend zog sich der Staatschef in den Gästeflügel und das Kabinett ins Hotel zurück. Von der Reise und dem Empfang reichlich ermüdet, 107
ging man zu Bett, um am nächsten Morgen frisch ge stärkt das große Programm durchstehen zu können. Nur Macao schlief nicht. Gegen Mitternacht meldete der Außenminister eine Reihe von Ferngesprächen an. Die Anrufe nach Europa tarnte er als Gespräche mit seinem Ministerium, mit der UNO und einem amerikanischen Kollegen im State Departement. Endlich kam auch London. Blitzschnell gab er den vorbereiteten Text durch. Kaum war er fertig, da flog die Tür auf, und der stell vertretende Geheimdienstchef stand mit drei Mann Verstärkung im Zimmer. Bis auf Costillez hatten sie die Waffen blankgezogen. „Mit wem haben Sie telefoniert?“ fragte Costillez. Der Minister protestierte. Daraufhin machte der Ge heimdienstchef drei Schritte und brachte das Feuerzeug, ehe es der Minister verstecken konnte, an sich. Der GChef öffnete es und grinste. „Das haben Sie heute morgen während des Fluges un ter dem Sitz des Präsidenten plaziert. Halten Sie mich für einen Idioten, Macao?“ „Das nicht gerade, Costillez“, sagte der Minister, „aber für den Mörder des Mörders.“ Der G-Chef ließ das Band durchlaufen, dann hob er das Telefon ab. „Wohin“ fragte er die Zentrale, „wurde von hier so eben telefoniert?“ Er erfuhr es. „Mit wem sprachen Sie in London, mit wem in Rom?“ fuhr er den Minister an. „In London mit dem Foreign Office, meinem Kolle gen Minister Befather“, log Macao. „Und in Rom mit dem Vatikan, he! Und der Vatikan leitet die Information an die Killertruppe, die Sie orga nisiert haben, weiter. Sie sind der Verräter, Macao. Sie 108
haben immer wieder die Katholiken gewarnt. Ihnen verdanken wir es, daß wir ständig danebengriffen oder zu spät kamen. Ich fürchte, Macao, das können Sie jetzt nicht mehr leugnen. Herr Minister, Sie sind ve rhaftet. Herr Minister, Sie gehen von jetzt ab einen schweren Weg.“ Macao ahnte, daß es aussichtslos und zu Ende sei. Er hatte O.R.G.A. gewarnt, daß entgegen allen Verlautba rungen der Zerstörer Bolivar als Transportmittel für die Weiterfahrt von London zum Kontinent benutzt würde. Langsam stand er auf. „Was haben Sie vor, Costillez?“ „Wir bringen Sie zu Colonna.“ „Darf ich mich wenigstens anziehen?“ „Beeilen Sie sich.“ Auf dem Weg ins Schlafzimmer öffnete der Minister den Gürtel seines Hausmantels, zog ihn aus und warf ihn auf das Bett. Unter dem Kopfkissen holte er seine 7,65-Beretta-Pistole hervor. Er setzte sie an den Mund, stieß sie tief und schräg hinein, entsicherte und riß den Abzug durch. Der Knall wurde von Fleisch und Knochen gedämpft. „Beseitigt die Leiche“, befahl Costillez, „und alle Spuren! Offiziell wurde er dringender Geschäfte wegen abberufen.“ 13. Für Londoner Verhältnisse war der Tag einer vo n der feinen Sorte. Blauer Himmel mit ein paar Wolken. Fri scher Wind aus Nordwesten, also vo n der Nordsee her, vertrieb den Mief aus Kaminen, von Autoabgasen, Werften und Docks. In einer kleinen Villa mit Garten im feinen Westend wurden die seit Dezember geschlossene n Fensterläden 109
geöffnet. Das O.R.G.A.-Direktorium war eingetroffen. „Ich bitte den Mangel an Komfort zu entschuldigen“, sagte Nik Saltforth. „Ich benutze dieses Haus nur ein mal im Jahr um Weihnachten herum, wenn es mir in Singapur zu heiß wird. Als ich es kaufte, dachte ich daran, meinen Lebensabend hier in London zu verbrin gen.“ „Als Hauptquartier gar nicht übel“, meinte Marcel Strassbourg. „Wenn nur das Telefon funktioniert. „ Slim Newton, der Mann aus Miami, saß im Sessel am kalten Kamin und fragte, ob es möglich sei, Feuer zu machen. Der Kamin verfügte über einen der in London übli chen Gasheizeinsätze. Saltforth steckte ihn an. „Danke. Wärme tut mir gut.“ „Hast du Schmerzen?“ fragte sein Freund besorgt. „Noch ist es zu ertragen, aber es sieht aus, als kündige sich eine neue Welle an.“ ,,Dann nimm deine Medikamente.“ Der gichtkranke Techniker des O.R.G.A.-Teams schluckte eine Kapsel. Als er die silberne Dose schloß, erschreckte ihn die Tatsache, daß seine Nothelfer zu Ende gingen. „Man kann sie doch überall kriegen“, hoffte Saltforth. „Leider nein. Es ist ein amerikanisches Präparat, ganz neu, vorerst nur in den USA zugelassen.“ „Warum hast du dich dann nicht besser eingedeckt?“ „Die Klinikpackung ist bei meinem großen Gepäck.“ „Und dein großes Gepäck ist wo?“ „In Brüssel. Aber so schlimm wird es schon nicht werden. Laßt uns loslegen, Kameraden.“ „Dies hier ist die neueste und letzte Information aus Washington.“ Der Franzose legte sie ihnen vor. Sie überflogen die wenigen Zeilen. „Von Macao?“ 110
„Er war unser bester Mann“, bemerkte Marcel Strass bourg. „In den Frühnachrichten kam durch, daß die Reise von Präsident Colonna durch die Erkrankung seines Außenministers überschattet sei. Angeblich ist José Fernando Macao mit eine m Sonderflugzeug in die Heimat gebracht worden. Würde mich nicht wundern, wenn man morgen hört, daß er an einem Herzinfarkt verstarb.“ „Falls er nicht schon tot ist“, fügte Saltforth hinzu. „Was müssen wir daraus schließen? Daß er als unser VMann enttarnt wurde. Dann weiß Colonna Bescheid und wird möglicherweise seine Reiseroute wirklich ändern.“ „Das kann er gar nicht mehr“, erklärte Slim Newton. „Du weißt am besten, Nik, welch riesige Organisation hinter so einem Staatsbesuch steht . Okay, er kann von London aus statt den Zerstörer das Flugzeug nehmen. Macao hat aber gemeldet, daß sie nur bluffen, um mög liche Attentäter zu verunsichern.“ „Vielleicht benutzt er jetzt wirklich den Luftweg“, wandte Strassbourg ein. Newton blieb dabei, daß er das für ausgeschlossen halte. Wie um seine Behauptung zu bekräftigen, griff er sich ans Bein und massierte es. „Das Wetter ändert sich. Wenn es sich in London än dert, bedeutet das Nebel. Wartet nur, in zwe i Tagen haben wir die schönste Nebellage des ganzen Sommers. Dann ruht zu allererst der Flugve rkehr.“ „Na fabelhaft.“ Sie machten sich an die Feinkorrektur der Pläne. „Wir müssen uns auf einen Punkt konzentrieren“, sag te der Mann aus Singapur, „auf den Zerstörer.“ „Er liegt in der Themse vor Anker, und zwar dort, wo alle ausländischen Kriegsschiffe liegen, nahe den Navy Docks, östlich von Towerbridge.“ Sie markierten den Punkt auf der großen Karte.
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„Mit dem Hubschrauber kann man auf dem Deck der Bolivar nicht landen“, stellte Newton anhand der Zer störerpläne fest. „Du sagtest, das sei die alles entscheidende Lücke.“ Der Amerikaner nickte. „Colonna muß von Pier zweiundzwanzig, wo ihn die Wagenkolonne samt seiner Begleitung absetzt, die Pi nasse nehmen. Ich habe es überprüft, das ist der einzige Angriffspunkt. Auf ihn habe ich alles ausgerichtet.“ „Eine britische Barkasse?“ „Selbstverständlich die Barkasse des Zerstörers Boli var“, erklärte Saltforth, der sich in Marinedingen eini germaßen auskannte. „Dann also dort, und nur dort“, beharrte Newton. Damit unterstrich er die Entscheidung, die sie schon in Deauville gefällt hatten.
Während Strassbourg den Minutenplan aufstellte, or ganisierte Saltforth den Froschmann und Slim Newton den torpedoähnlichen Sprengkörper. Es dauerte noch einen Tag, bis alles bereitstand. Nun tat sich das Problem auf, daß die Helfer bezahlt werden mußten. Vom O.R.G.A.-Direktorium wagte sich aber keiner aus der Deckung des Hauptquartiers im Londo ner Westend. „Das wird unser Außendienst übernehmen“, sagte Strassbourg. „Wann steht er zur Verfügung?“ „Er dürfte mittlerweile in London eingetroffen sein und abrufbereit stehen.“ Er telefonierte. Als er das Gespräch beendet hatte, sagte er: „In einer halben Stunde.“ Sie frühstückten zu Ende und hörten mit dem Welt 112
empfänger alle wichtigen Radiostationen ab. Colonnas Aufenthalt in den USA neigte sich seinem Ende zu. Er hatte Gespräche mit verschiedenen Senato ren geführt und wurde noch einmal vom Präsidenten empfangen. Morgen, Donnerstag, setzte er die Reise über den Nordatlantik fort. „Sieben Stunden später landet er in London.“ Marcel Strassbourg verglich alles mit seinem Zeitplan. „Rich tig. Er bleibt genau fünfundvierzig Stunden in London. Dann passiert es.“ Newton hob die Hand und bat um Stille. BBC London gab die Wetterprognose für die zweite Wochenhälfte durch. Grundtendenz: mit Nebel sei zu rechnen. Wenig später fuhr ein schwarzer Mini vor. Jemand kam die Vortreppe herauf zur Haustür und klingelte. Marcel Strassbourg öffnete. Sie kannten sie, als sie noch ein Baby war, trotzdem waren Saltforth und Newton immer wieder entzückt, Magdalen Caroll zu sehen. Sie umarmten sie, machten ihr Komplimente. „Du wirst immer hübscher“, staunte Saltforth. „Hübsch ist zu wenig“, meinte Newton. „Sie wird immer schöner.“ „Danke, Onkel“, sagte sie. „Ganz die Mutter.“ „Pardon“, meldete Strassbourg sich. „Ich bildete mir immer etwas darauf ein, daß sie ganz nach dem Vater kommt.“ „Falls du derjenige bist.“ „Er ist es“, entschied die elegante Blondine. Beim Tee kamen die O.R.G.A.-Leute zur Sache. Magdalen wurde beauftragt, bestimmte Summen Geldes in Dollar und Schweizer Franken an verschiedene Adressen auszuliefern. Sie hatte sich entweder durch Gespräche oder durch Augenschein vom Stand der 113
Vorbereitungen zu vergewissern. „Der wichtigste Mann ist der Taucher“, sagte Salt forth. „Ehemals Angehöriger der Royal Navy. Er wurde wegen rechtsextremen Verhaltens entlassen. Er erhält fünfzigtausend Dollar für die Verbringung des Spreng satzes unter die Pinasse. Di e Hälfte vorher, den Rest nachher. Er hat es dringend nötig. Er baut sich in der Lymebucht eine Sporttaucherschule auf.“ Newton ergriff das Wort. „Der zweitwichtigste Mann ist der Hersteller des Sprengkörpers. Er hat Zugang zu den Waffenarsenalen der Armee und ist ein hervorragender Mechaniker. – Der Behälter, in den er das C-vier packt, besteht aus Stahlblech. Er wird den ehemaligen Flugzeugabwurf tank genau auf das spezifische Gewicht des Themse wassers austarieren und so mit Transportgriffen verse hen, daß er von einem Taucher unter Wasser bewegt werden kann. Der Behälter bekommt einen nicht ortba ren Isolieranstrich und seitlich neben der Magnethalte rung die Einstellknöpfe für den Zündervorlauf.“ Die Tochter des Franzosen bekam Einsicht in die Plä ne und prägte sich das Wesentliche ein. Daß sie alles verstanden hatte, ging aus ihrer Frage hervor: „Wie sollen die Magneten am Kiel der Pinasse haften. Besteht sie nicht aus Holz?“ „Schlaues Kind“, staunte Newton. „Aber zu deiner Beruhigung, Darling, der Pinassenrumpf ist mit Eisen beschlagen und hat einen mit Stahlrohr verstärkten Kiel.“ „Dieser Mann bekommt ebenfalls fünfzigtausend“, erklärte Saltforth. „Die schmalen Umschläge enthalten je zehntausend Pfund. Mit einem wird der Posten am Marinehafen bestochen, mit dem anderen gibt sich der Fahrer des Navy-Lastwagens, der das Material an die Themse bringt, zufrieden.“ 114
„Das Team startet auf unseren Anruf hin. Das Kenn wort lautet: Tod dem Verräter.“ „Zu lang“, wandte Strassbourg ein. „Wie war’s mit Colonnex. Es kling unverdächtig wie ein Unkrautver nichtungsmittel.“ „Colonna ist Unkraut.“ Sie einigten sich auf Colonnex. Magdalen Caroll verabschiedete sich. „Wurdest du beobachtet oder verfolgt, von diesem BND-Mann etwa?“ „Ich habe ihn abgehängt wie ein gesunder Läufer ei nen lahmen. Er ist noch in Südfrankreich.“ „Du solltest trotzdem den Wagen wechseln.“ „Ich parke in der City“, sagte sie, „und nehme von da ab Taxis. Bis heute abend, Gentlemen.“ Als sie weggefahren war, fragte Strassbourg: „Wie lautet das Zeremoniell beim Einschiffen vo n Staatsoberhäuptern auf Marinefahrzeugen?“ „Der Ranghöchste wird immer als erster an Bord ge bracht.“ „Mit seinen engsten Mitarbeitern, hoffe ich.“ „Die Pinasse faßt leicht zwei Dutzend Personen“, be ruhigte Newton ihn. „Und wie viele Malrosen der Bolivar sind dabei?“ „Ein Offizier, der Bootssteuerer und je ein Matrose an Bug und Heck mit Bootshaken.“ „Vier Unschuldige also.“ Nik Saltforth hob überrascht die Brauen. „Mitgehangen, mitgefangen, oder?“ „Krieg ist Krieg“, sagte Strassbourg. „Vergiß es.“ Gegen Abend kam der erste Nebel, aber auch Slim Newtons Schmerzen. Ein starker Anfall, bei dem er seine letzten Tabletten aufbrauchte.
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In der Dunkelheit tasteten sich Autoscheinwerfer durch den Nebel an das Haus. Magdalen Caroll war sichtlich erschöpft, berichtete aber, daß alles programmgemäß verlaufen sei. Sie habe den Stand der Vorbereitungen überprüft, die Anzahlun gen geleistet, mit den Leuten gesprochen und sie moti viert. „Es läuft“, sagte sie anschließend. „Verfolger?“ fragte ihr Vater besorgt „Ich sah keinen. Und wenn, dann habe ich ihn abge schüttelt.“ Sie schaute sich um. „Wo ist Onkel Slim?’ Saltforth deutete nach oben. „Es hat ihn wieder erwischt.“ „Zum Glück hat er seine Arbeit getan“, bemerkte Strassbourg. Am Infragrill erhitzte er für seine Tochter ein Fertig menü. „Gicht ist äußerst schmerzhaft“, sagte das Mädchen „Erst recht, wenn man keine Tabletten mehr hat.“ „Ich kann zur Apotheke fahren“, erklärte sie sich so fort bereit. „Es sind amerikanische Spezialmedikamente, die gibt es hier nicht.“ ,,Das nenne ich Leichtsinn.“ „Er hat noch eine Reserve in seinem Büro in Brüssel.“ Strassbourgs Tochter stocherte lustlos in Hammelra gout und Kartoffelbrei. Saltforth ging nach oben und kam bald wieder herunter. „Wenn es so weitergeht, braucht er Morphium.“ „Das spritzt nur der Arzt. Kennst du einen Arzt in London?“ Saltforth hatte in England ausgezeichnete Verbindun gen. Er versuchte es, aber der Arzt seines Vertrauens war nicht zu erreichen. Der Anschluß war auf automati schen Beantworter geschaltet. Vo r Montag kehrte der 116
Doktor nicht nach London zurück. Strassbourg befürchtete, daß eine Verschlimmerung des Anfalls Slim Newton völlig bewegungs- und trans portunfähig machen würde. „Was wird nun aus unserem Rückzug?“ Er blickte seine Tochter an. Sie merkte es. „Ich weiß, was du denkst“, sagte sie. „Wie fühlst du dich?“ „ Einen Mokka, und ich tanze die Nacht durch.“ „Könntest du auch nach Brüssel…?“ Sie nickte. Das Problem war nur, daß der kürzeste Weg, ein Flug nach Brüssel, wegen der Nebellage nicht möglich war. Der Luftverkehr ruhte. – Von einem Angestellten New tons die Tabletten herüberbringen zu lassen, durften sie aus Gründen der Geheimhaltung nicht riskieren. Magdalen trat ans Fenster. „Mit dem Auto brauche ich mindestens sechs Stunden bis zur Autofähre nach Dover. Voraussichtlich sogar zehn. Oder ich komme gar nicht durch. Aber bis zum Victoria Station schaffe ich es.“ „Ja, nimm die Eisenbahn“, entschied Saltforth. Sie wälzten die Fahrpläne. Um 22.00 Uhr ging der Spätzug, der die Mitternachtsfähre erreichte. Sie hatte um 3.00 Uhr Anschluß an den Frühexpreß Calais-LilieBrüssel. Strassbourg telefonierte nach einem Taxi, aber die Stände waren nicht besetzt. Bei dem Nebe l blieben sogar die Taxis in den Garagen. Also nahm Magdalen den Mini. Marcel Strassbourg umarmte seine Tochter, als würde er sie zum letzten Mal sehen. Er begleitete sie hinaus und blickte den Rücklichtern nach, bis ihr Rot im Nebel verschwand. 117
14. Krisensitzung im BND-Hauptquartier. Anwesend waren der Vizepräsident, der Operations chef, die zuständigen Leute vom Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz sowie der mit diesem Fall befaß te Agent Nr. 18, Robert Urban. „In drei Stunden erwartet uns der Kanzler in Bonn zum Vortrag“, drängte der Vize. „Abflug von Riem in neunzig Minuten. Wer beginnt?“ Urban gab den Lageüberblick für das Ausland. „Von O.R.G.A. wie immer, keine Spur. Auch diese M. Caroll, die zweifellos mit O.R.G.A. zu tun hat, ist mir entwischt wie ein eingeseifter Fisch. Inzwischen wird europaweit nach ihr gefahndet. Ernesto Colonna traf heute in London ein. Nicht von der Hand zu weisen, daß er das Opfer der nächsten O.R.G.A.-Operation sein wird,“ „Dann laßt uns beten“, sagte der BKA-Mann, „daß dies nicht in Bonn stattfindet.“ „Wir beobachten alle neonazistischen Kreise und Or ganisationen“, steuerte der Mann vom Verfassungs schutz bei. „Im Bundesgebiet herrscht derzeit Sommer ruhe. Wahrscheinlich hat sich der ganze Haufen Rich tung Westen verzogen.“ „Im Sommer lockt das Meer“, meinte Oberst Sebasti an. „Es hat leider andere Gründe. Die FAP - und ANSGruppen treffen sich in Frankreich und Belgien mit den wallonischen NDO-Leuten. Lagerfeuer, Lieder zur Laute, ideologische Diskussionen et cetera. Unsere Kollegen im Ausland haben das Ganze unter Kontrolle.“ „Sie unterhalten, laut Mossad, keine Kontakte zu O.R.G.A.“, erklärte Urban. „Auf dieser Welle kommen wir also nicht weiter.“ 118
„Auf welcher dann?“ „Auf der Welle der Hoffnung. Radio Gottvater, der den Kelch von uns nehmen möge.“ Der Vizepräsident bat, daß man wieder konkret wer den solle. „Was können, was müssen wir dem Kanzler vor schlagen?“ „Er soll Colonna und seine Bande einfach ausladen.“ „Dann hätte er vorher andere – ich möchte keine Na men nennen – auch ausladen müssen. Die Hälfte aller Staatsgäste sind Diktatoren, Juntavorsitzende, an die Macht gekommene Revolutionäre. Obwohl in ihren Ländern die Menschenrechte aufs gröbste mißachtet werden, kommen sie als Bittsteller um Wirtschaftshilfe in Form von Bargeld – und bekommen meist auch et was.“ „Und es gibt keinen Paragraphen, gegen den das ver stößt?“ fragte der BKA-Mann. „Ist ja schlimmer als Steuerhinterziehung.“ „Das ist Politik.“ „Wir können uns nicht mit allen Ländern verfeinden“, äußerte der Vize. „Weiß man denn, welche Bedeutung diese Leute eines Tages haben werden?“ „Männer voll Moral sind beneidenswert“, steuerte Urban bei. „Aber bei der Führung eines Staates wird ein Mann mit Moral stets von geringerem Wert sein. Das lehrte schon Macchiavelli im sechzehnten Jahrhundert.“ Der Vize koordinierte geschickt. „Colonnas Besuch in Bonn ist also unabwendbar.“ „Falls uns keiner den Gefallen erweist, ihn schon vor her… hm… gesundheitlich zu beeinträchtigen. „ „In Washington tat man, was man konnte, und die Briten werden sich auch nicht lumpen lassen, diesen Halunken heil über die Runden und außer Landes zu bringen.“ 119
„Auch wir werden unsere Anstrengungen verdoppeln, um ihn… hm… unbeschädigt nach Rom weiterzurei chen.“ Es gab keine andere Möglichkeit. Sie mußten es der Regierung so vorschlagen. „Der Kanzler verlangt immer Alternativen.“ „Eine unbrauchbare Alternative ist auch eine.“ Der Vizepräsident mahnte zum Aufbruch. „Ich war immer der Ansicht“, sagte er, „daß es vor teilhafter sei, eine Sache halbherzig durchzuführen, als unter unkalkulierbaren Bedingungen aufs Ganze zu gehen. Leider bin ich mir nicht sicher, ob ich diesmal damit recht habe,“ Er erwartete, daß zumindest Urban ihm beipflichtete, aber das, Telefon läutete, und Urban wurde abgerufen. Der Dienstwagen des BND-Vize wartete scho n meh rere Minuten, als Urban endlich aus dem Haus hetzte. „Etwas Wichtiges?“ fragte der zweite Mann im BND seinen Topagenten. „Und wie.“ Urban atmete erst einmal durch. „Von Ml-five in London.“ „Die dürften jetzt die Hosen voll haben. Colonna ist gelandet.“ „Um so mehr, als sie in London eine Lady gesichtet haben. Blond, helle Augen, ausgeprägte Formen, ele gant. Ungeheuer clever versuchte sie, die Verfolger abzuschütteln.“ „Die Caroll?“ „Die Caroll in London“, fuhr Urban fort. „Colonna ist gelandet, und die Caroll hat garantiert mit O.R.G.A. zu tun. Immerhin erhielt ich den ersten Hinweis auf O.RGA. in ihrem Apartment an der Costa Brava.“ Der schwarze Mercedes verließ das BND-Gelände fuhr durch das Isartal in Richtung Grünwald und auf kürzestem Weg nach Riem. 120
„Was wissen die Engländer noch?“ „Etwas, das sich nicht recht reimt“, bedauerte Urban. „Sie sahen die Caroll, verloren aber de n Kontakt wegen Nebels. Dann lief sie einem Yard-Kriminaler an Victo ria Station fast in die Arme. Er blickte ihr über die Schulter, als sie eine Fahrkarte nach Brüssel löste. Ein Bahn-Schiff-Bahn-Ticket.“ „Geht die Reise per Schiff schneller?“ „Der Luftverkehr wurde wegen Nebels total einge stellt. Mit dem Auto gibt es auch kein Weiterkommen.“ „Brüssel also“, bemerkte der Vizepräsident. „Wann war das?“ „Vor einer Stunde.“ „Wie lange fährt man bis Brüssel?“ Urban rechnete. Zug-Fähre-Zug. „Ungefähr sechs Stunden. Vorausgesetzt, die An schlüsse klappen.“ „Dann kann sie morgen früh dort sein. Und Sie auch, Urban.“ „Das reicht nicht mehr“, befürchtete Urban. „Wir sind die letzte Maschine, die sie in Riem starten lassen. Bis wir in Bonn ankommen, ist es Mitternacht. Wie ich den Kanzler und den Minister ke nne, wird sich die Sitzung hinziehen.“ „Sie sind hiermit entschuldigt“, entschied der Vize. „Sie fliegen von Bonn gleich weiter nach Brüssel. Ve r suchen Sie eine Nachtfluggenehmigung zu kriegen.“ Urban griff zum Autotelefon. Möglicherweise breitete sich der Nebel über das gan ze Ärmelkanalgebiet aus und griff auf das Festland über. Dann konnte er in Brüssel nicht landen. Die Ge fahr, daß er zu spät kam, war groß. Was aber, wenn der Calais-Expreß in Brüssel einfuhr und niemand zur Stelle war, um die Caroll in Empfang zu nehmen? Urban wählte eine Nummer in Belgien. Es war die 121
des BND-Residenten in Gent. Er erreichte ihn erst beim dritten Versuch, als sie in Riem schon zu der BNDCessna rollten. „Hallo, Rubaix!“ sagte er. „Hier Achtzehn. Alarmstu fe Rot. Laßt alles liegen und stehen und marschiert mit den besten Leuten nach Brüssel zum Nachtexpreß aus Calais. Folgende Person ist zu beobachten.“ Urban gab die Beschreibung durch. „Eine superheiße Braut. Wehe, wenn sie euch ent wischt.“ „Ich nehme drei Männer und drei Fahrzeuge“, ver sprach Rubaix. Urban kannte ihn, Rubaix war zuverlässig. „Man kann sich auf ihn verlassen“, sagte der Vize. Der 280 S rollte bis vor das zweimotorige Geschäfts reiseflugzeug. Die Expertendelegation für Bonn nahm in der Kabine Platz. Urban zwängte sich in den Sessel des Copiloten. Spiegel saß schon links und wickelte den Sprechfunk mit dem Tower ab. Urban machte den Check nach Liste, dann ließ er die Motoren an. Als sie rollten, sagte er: „Richte dich auf eine lange Nacht ein, Bubiface.“ „Lange Nächte, kurze Tage“, sagte der BND-Pilot. „Große Schlucke, kleine Pausen. Viele Mädchen, wenig Mütter. So haben wir es immer gemacht, so mögen wir es auch heute, oder?“ „Noch“, sagte Urban, mit den Gedanken schon acht hundert Kilometer nördlich der Alpen. 15. Der Expreßzug Calais-Brüssel hatte Lilie bereits verlas sen und donnerte durch den grauenden Morgen. Ein Waggon der zweiten Klasse war mit jungen Leu ten besetzt. Sie wirkten trotz der Zivilkleidung wie 122
uniformiert. Statt der üblichen Tennisschuhe trugen sie Knobelbecher, Nato-Schnürstiefel oder Cowboystiefel. Ihre Jeans waren olivgrün oder schwarz, die Leder jacken mit Totenkopfemblemen und Orden benagelt. Sie hatten militärisch kurze Haarschnitte, genannt Bür stenfrisur, und sie tranken Büchsenbier aus unerschöpf lichen Vorräten. Dazu rauchten sie meist selbstgedrehte Zigaretten und sangen Landsknechts- und Kampflieder. Ein Teil war im Zug unterwegs, um Fahrgäste anzu pöbeln oder Mädchen aufzureißen. Einer – sie nannten ihn Micha – kam von so einer Runde zurück, klemmte sich zwischen seine Berliner Kumpels und sagte: „Es darf nicht wahr sein.“ „Immer noch Dünnschiß?“ „Was glaubst du, wer in einem Erste-Klasse-Abteil sitzt, ganz allem?“ „Doch nicht Adolf etwa.“ „Kommt mit!“ Was der Stammführer wünschte, war für sie Befehl. Sie folgten ihm. Zwei Wagen weiter vorn beobachteten sie vom Gang aus das Abteil. „Ist das nicht unsere heiß geliebte Magda?“ „Magda schon, aber nicht die unsere“, sagte Micha. „Sie hat uns aufs Kreuz gelegt. Und diesen BND-Typen, den hat sie auch eingeschleust. Das muß sie büßen.“ „Auf sie mit Gebrüll!“ forderte einer leise. „Sie ist so lo.“ Sie bauten sich beiderseits der Abteiltür auf. Ohne Worte, nur mit Fingerbewegungen, teilte Micha seine Leute ein: du links, er gegenüber, ich neben ihr. „Bei drei.“ Micha zählte: „Eins, zwei…“ Er riß die Tür auf. Sekundenschnell waren sie drin und nahmen sie in die Zange. Als sie das Licht von Blau auf Hell schalteten, er 123
kannte sie die ehemaligen Freunde aus Berlin. „So ein Zufall“, tat Micha freundlich. Nervös ordnete sie ihre Frisur. „Das ist kein Zufall. Ihr wart immer hinter mir her. Hat lange gedauert. Macht, daß ihr rauskommt.“ „Oder sie ruft den Herrn Schaffner“, spottete einer. „Ich ziehe die Notbremse.“ „Erst mal rankommen, hohe Frau.“ Sie öffnete ihre Tasche und hatte blitzschnell einen niedlichen 6,35er in der Hand. „Das wagst du nicht“, sagte Micha. „Mir egal.“ Ehe sie entsichern konnte, schlug er ihr mit der Hand kante gegen das Gelenk, daß es einen knirschenden Ton von sich gab. Einer stand auf und schloß den Vorhang zum Gang. Durch das Waggonfenster konnte man se hen, daß der Zug schon die Vororte von Brüssel erreicht hatte. „Damit kommt ihr hier nicht durch“, zischte sie. Micha tauschte mit einem Kameraden den Platz. Nun saß er gegenüber von Magda. Er zog eine Metallgabel, an deren Ende Gummischnüre befestigt waren, aus seiner Lederjacke und riß seinen Dolch aus dem Gürtel. „Weißt du, was das ist?“ Sie verneinte. „Eine Messerzille. Mit Zillen kann man Steine schleudern. Stahlkugeln, aber auch Messer. Und das geht so.“ Er klemmte den Messergriff in die Leder schlaufe an den Enden der Gummistränge, spannte und schoß es sirrend ab. Trocken fuhr es in die Holzwand dicht neben Magdas Kopf. Dort blieb es federnd stek ken. „Lautlos, aber tödlich“, schwärmte Micha. „Jeder von uns hat so ein Ding. Juppi kann besonders gut damit umgehen. Er wird hinter uns bleiben, wenn wir ausstei 124
gen und rausgehen, und du wirst mit uns kommen.“ Ihre hellen Augen verengten sich. „Was habt ihr vor, ihr kleinen Wichser?“ Micha zog den Dolch aus der Wand und zeigte ihr die Klinge. „Rasiermesserscharf. Damit werden wir dich verzie ren, hohe Frau.“ Sie sprang hoch und versuchte, das Fenster aufzurei ßen. Sie kam weder zum Fenstergriff noch zur Not bremse. Sie stießen sie auf ihren Platz zurück. „Wieviel?“ fragte sie. „Euch kann man doch immer kaufen.“ Micha holte aus und versetzte ihr eine Ohrfeige . Ihr Kopf schlug gegen den Alurahmen. Sein Totenkopfring hinterließ auf ihrer Wange einen Striemen, der sofort blutete. „Wieviel?“ fragte sie, trotzig lächelnd, noch einmal. Micha drehte sich eine schwarze Zigarette. „Kommt darauf an“, sagte er. „Und worauf kommt es an?“ „Ob es um Treue geht oder um Verrat. Um Liebe oder um Haß.“ Der Expreß ratterte über Weichen, unter eisernen Brücken hindurch, zwischen den Mauern grauer Miets kasernen. Erst liefen zwei Gleise neben ihnen her, bald schon ein Dutzend, dann noch mehr. Leere Züge stan den herum, Rangierloks, Güterwagen, Personenzüge, Puffer an Puffer. Die Bremsen schliffen. Der Expreß fuhr langsamer, rollte in die Halle. Jetzt heftiges Brem sen. Der Zug hielt an. Lautsprecherstimmen. Brüssel Hauptbahnhof. Die Türen schwangen auf. Der Lärm schwoll an. Die Fahrgäste drängten und stießen sich und ihre Koffer durch die Gänge. Micha nahm Magda die Tasche ab. Mehr Gepäck hat 125
te sie nicht. Sie gingen mit ihr hinaus, nahmen sie in die Mitte wie Leibwächter eine wichtige Persönlichkeit.
Sie marschierten auf einen uralten VW-Bus zu. Auf Magdalen Caroll wirkte er wie ein rostiges Gefängnis. Sie versuchte es noch einmal. Nur wenige Meter ent fernt stand ein Polizist am Zeitungskiosk. Sie versuchte, sich durch lautstarken Widerstand bemerkbar zu ma chen. Da spürte sie die Spitze des HJ-Messers im Rük ken. Sie drang hinein bis aufs Fleisch. Der Busfahrer riß die Tür auf. Sie warfen sie ins Inne re und sprangen hinterher. Micha stellte den Fuß auf sie. Tür zu und ab. Einer durchsuchte ihre Handtasche. „Schlüssel, Lippenstift, Puder.“ „Braucht sie alles nicht mehr.“ „Dollar, Pfund und Francs.“ „Steck sie ein. Das schuldet sie uns.“ „Notizbuch mit ein paar Adressen.“ „Was habt ihr mit mir vor?“ stieß sie heraus. „Was man mit Verrätern in unseren Kreisen macht.“ Sie gab nicht auf. „Ich habe keinem geschadet. Ich wollte eine Reporta ge schreiben. Na und? Habe ich sie etwa geschrieben? Nein.“ „Du wußtest, wer dieser Urban ist.“ „Anfangs noch nicht.“ „Mister Dynamit!“ zischte einer verächtlich und spuckte aus. „Er wollte uns auffliegen lassen.“ „Hat er euch auffliegen lassen?“ „Der uns“, tat Micha großspurig. „Er hat seine Kno chen gezählt und ist abgehauen.“ „Erst später“, verteidigte sie sich, „als ich die Fotos auswertete, wußte ich, wer er ist.“ 126
„Klar“, sagte einer. „Er war dein Typ.“ „Ihr Typ war jeder, der sich täglich wusch und rasier te.“ „Und mit ihr ins Bett ging.“ „Nur wir waren ihr zu primitiv“, bemerkte Micha Der Bus rollte zügig durch die Stadt. Manchmal kam er in einen Stau, meist vor Verkehrsampeln. Hinter einer Brücke ging es rechts ab. Die Straße wurde schlecht. Der Bus hoppelte über die Gleise eines Rangierbahn hofs. Wenig später dröhnte das Rasseln seines luftge kühlten Motors, als fahre er durch eine enge Schlucht Er hielt an. Die Türen klappten auf. Die Schlucht be stand aus den Backsteinmauern verwahrloster Gebäude. Offenbar eine ehemalige Fabrik. Jetzt stand sie leer. Die Fenster waren eingeschlagen. Außen und innen hatte man die Wände bemalt, besprayt, mit Sprüchen deko riert wie: Nie wieder Frieden – Stell dir vor, es ist Krieg und jeder marschiert mit – Atombombe, dein Freund und Helfer. Sie stießen Magda ins Freie, daß sie stürzte und sich die Knie aufschlug. Da sie hinkte, schleiften und zerrten sie sie in eine Halle mit Betonboden. In den Rissen wucherten Gras und wilde dürre Sonnenblumen. Es stank nach Alteisen und so, als hätten hier hundert Jahre lang Schmiedefeuer gebrannt. Ohne Ordnung lagen Matratzen und Schlafsäcke her um. Unrasierte übernächtigte Gestalten hobe n die Köp fe, rissen Bierbüchsen auf, daß der Schaum spritzte, und grölten. Einer hatte einen tragbaren Stereorecorder auf der Schulter, aus dem lautstark Marschmusik dröhnte. Er torkelte auf Magda zu. ,,’n Bierchen?“ Angewidert wandte sie sich ab. Da schüttete er ihr das Bier über den Kopf und in die Bluse. Mitten im Raum machten sie halt. Micha ging grin 127
send um Magda herum. „Ausziehen!“ befahl er. Sie wehrte sich. Unter Gejohle fetzten sie ihr das Kostüm vo m Körper, die Bluse, die Unterwäsche, bis sie nackt vor ihnen stand, nackt bis auf einen Ohrring. Nun fesselten sie sie an einen Eisenträger. Micha nahm das Messer, setzte es an ihre Stirn und ritzte mit der Spitze ein Hakenkreuz hinein. Sie trat ihm zwischen die Beine. Jetzt banden sie ihr auch die Fußgelenke. Micha ritzte auf ihre Wangen links einen Hammer, rechts eine Sichel. Er setzte seine Verzierungen an ih rem Körper fort. „Zeitungsnutte“, sagte er. „Kommunistenhure.“ Er ließ sich eine Spraydose geben, deren Inhalt ein Mittel war, das normalerweise festgerostete Schrauben löste. Damit hüllte er sie in eine Wolke von Caramba. Sie schrie vor Schmerzen, als sich die Säure in ihre Wunden fraß und wurde ohnmächtig. Plötzlich hatte Micha genug. Er wandte sich angeekelt von ihr ab. „Sie gehört euch“, sagte er. Die anderen standen dabei und schauten zu. Einer mußte kotzen, ein zweiter steckte sich genüßlich eine Zigarette an. „Was heißt das, sie gehört euch?“ „Macht mit ihr, was ihr wollt.“ Stumm machten sie sich davon. Bis auf einen. De r schwarzhaarige, bullenhafte Wallone knöpfte sich den Latz seiner Hose auf.
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16.
Rubaix vom Brüsseler BND-Büro, ein Bursche wie Moses in Schlips und Kragen, nahm Urban am Flugha fen in Empfang. Ein lässiger Gruß an den Hut getippt genügte. Sie kamen sofort zur Sache. „Habt ihr sie?“ „Sie kam nicht allein. Vier Burschen waren um sie herum. Merkwürdige Typen. Sie trugen Eiserne Kreuze und Totenköpfe an den Schirmmützen. Man brachte sie mit einem VW-Bus weg.“ „Wohin?“ „Ungemütliche Ecke .“ „Und weil ungemütlich nicht schön ist, bringst du mich ebenfalls hin.“ Der starke Frühverkehr hatte noch nicht eingesetzt. Sie kamen von Zaventem gut voran. Rubaix nahm die Ringstraße, die ihren Namen mehrmals änderte, bis sie als Leopold II Laan den Kanal erreichte. „Vom Gare du Midi fuhr der VW-Bus zu den Lager häusern, die demnächst abgerissen werden.“ „Konntet ihr nichts tun?“ „Was?“ fragte Rubaix. „Gegen eine Horde vo n Leder jacken. Warum kommst du so spät?“ „Kam in Bonn nicht früher weg. Außerdem war mie ses Wetter und Nachtflugverbot.“ „Was sollten wir tun“, entschuldigte sich Rubaix. „Die Polizei verständigen?“ Urban winkte ab. „Wer ist drangeblieben?“ „Zwei unserer besten Leute.“ Als sie nahe genug waren, versuchte Rubaix, über Funk Kontakt zu kriegen. Wegen starker Nebengeräu sche bekam er ihn erst auf der Kanalbrücke. 129
Sie unterhielten sich in einem flämischen Dialekt, den Urban nicht verstand. Offenbar gab es etwas Neues. Die Straße war so schlecht, daß Rubaix Mühe hatte, den Löchern auszuweichen. „Wir sind gleich da.“ Er winkelte den Rover um die Ecke, daß die Reifen schrien – das sagte Urban genug. Überall lag Unrat herum. Verfallene Mauern vereng ten die Durchfahrt. Die Hallen ohne Däche r waren nur noch rostige Eisengerippe. Der Wagen sprang über Gleise. Links, rechts. „Die Backsteingebäude dort.“ Rubaix hupte. „Warum schaltest du nicht die Sirene ein?“ fragte Ur ban. „Willst du sie im Sturm nehmen?“ „Fast hundert Mann“, sagte Rubaix. Urban stemmte sich gegen Bodenblech und Sitzlehne. Rubaix nahm die letzte Kurve. Sie passierten einen Granada-Combi, der seitlich in Deckung stand, und setzten sich vor ihn. Rubaix stieg aus. Urban folgte ihm. Selten war er in eine so heruntergekommene Gegend gekommen. Ab fallhaufen, schillernde Öllachen, modriger Gestank wie auf einer Müllhalde, Ratten. Aber eine merkwürdige Stille herrschte. Nur in der Ferne tutete eine Rangierlo komotive. „Sie sind weg“, sagte Rubaix hinter Urban. „Alle.“ „Warum hast du dich dann so beeilt?“ „Sie ließen das Mädchen zurück. Auf die Frau kommt es doch an. Oder?“ „Nur auf sie“, sagte Urban.
Magdalen Caroll lebte noch. Sie war so klar bei Verstand, wie es starke Schmerzen, die einem nicht die 130
Gnade der Ohnmacht schenkten, mit sich brachten. Urban schnitt sie los, bettete sie auf eine Decke und versuchte, ihre Wunden zu reinigen. Bald war er mit dem Inhalt von Rubaix’ Verbandska sten am Ende. „Noch eine Decke!“ rief er, denn Magdalen bekam Schüttelfrost. Es war der kühle Wind, der durch die Halle strich, der Schock oder die beginnende Blutvergif tung. „Einen Arzt“, entschied Urban, „aber schnell.“ „Notarzt?“ „Der stellt Fragen. Verdammt, hast du keinen Arzt deines Vertrauens, Rubaix? Eine Privatklinik, wo sie nicht lange Fragen stellen, sondern heilen.“ Rubak verschwand. Urban sagte zu Magda: „Es dauert nicht mehr lange.“ Sie versuchte, etwas zu sagen. „Durst…“ „Ich habe nur Bourbon. Weiß nicht, ob er dir guttut.“ ,,Dann eine Zigarette.“ Er steckte sie an und schob sie zwischen ihre blutver krusteten Lippen. „Wer“, fragte er, ,,hat das mit dir gemacht?“ „Micha“ „Eine zufällige Begegnung?“ Sie wußte es nicht. „Man weiß es nie genau“, sagte er. „Man hat mal auf mein Auto geschossen. Waren sie es oder ein Sonntags jäger?“ „Man weiß es nie genau“, flüsterte sie. „Was tust du in Brüssel?“ Sie schwieg. Er sah ihre Tasche liegen, umgestülpt. Der Inhalt, den sie für wertlos gehalten hatten, war verstreut. Er fand ihre Fahrkarte, London-Calais-Brüssel, Schlüssel, ein 131
Notizbuch mit Adressen. Ziemlich weit hinten stand eine Telefonnummer und St. Johns Wood, Hamilton Gardens Nr. 11. Sie sah ihm zu, versuchte, sich aufzurichten, war aber zu schwach. „Meine Augen“, jammerte sie. Sie waren beinah zu geschwollen. Gelbe Eitertränen klebten auf dem Unter lid. „Was suchst du?“ „Hamilton Gardens“, las er, „liegt im Londoner We stend.“ „Nur eine Freundin.“ „Heißt sie zufällig O.R.G.A.?“ fragte er. Sie wendete den Kopf ab und biß in die Decke. „Töte mich“, sagte sie. „Ich werde nichts verraten.“ „Warum nahmst du den Namen deiner Mutter an? War dir Strassbourg nicht fein genug?“ fragte er. „Dein Vater steht hinter der Firma M. S. International in Port Vendre. M. S. für Marcel Strassbourg.“ Sie bewegte den Kopf hin und her und preßte die Hand auf den Mund. „Nein“, stöhnte sie, „mein Gott, nein.“ „Ist er einer der O.R.G.A.-Chefs? Sitzen sie in Lon don, um mit Colonna endlich abzurechnen?“ „Mein Gott“, keuchte sie noch einmal. „Warum haben sie mich nicht umgebracht?“ „Damit du mir sagen kannst, was du weißt“, erklärte Urban. „Etwas, das dich belastet, seitdem du denken kannst und begriffen hast, um was es geht. Ich stelle die Fragen. Du brauchst nur zu nicken.“ „Warum bin ich nicht tot?“ „Um uns zu helfen. In London also.“ Sie nickte. „Im Hotel?“ Kopfschütteln. „Bei der Fahrt durch die City?“ 132
„Nein.“ „Erst bei seiner Abreise auf dem Zerstörer Bolivar?“ Sie nickte. „Und wie?“ Sie reagierte nicht mehr. „Du weißt es.“ Er drang in sie, versuchte, es aus ihr herauszuwringen. Er drohte ihr, versprach ihr Linderung der Schmerzen, drohte wieder. – Dann hörte er einen Wagen kommen. Ein Kleintransporter, weiß, mit rotem Kreuz, hielt vor dem Tor. Als der Arzt und zwei Sanitäter mit Trage kamen, war Magdalen Caroll ohne Bewußtsein.
Von der BND-Residentur sprach Urban mit Bonn. „Tut mir leid um diese Frau“, bedauerte der BNDVize. „Schätze, Sie werden sofort nach London weiter fliegen.“ „Mein Informant vom britischen MI-five bat mich händeringend, während des Staatsbesuches vo n Colonna nichts zu unternehmen.“ „Wollen die denn, daß Colonna hochgeht?“ „Eigentlich wünscht das jeder“, sagte Urban. „Nur soll es möglichst nicht im eigenen Land passieren.“ „Warum geben Sie den Tip nicht einfach nach Lon don weiter. O.R.G.A. Namen, Adresse und fertig.“ „Die lassen sich nicht ohne weiteres festnehme n und abführen.“ „Nun, Scotland Yard hat tüchtige Beamte, die sich auf solche Politoperationen verstehen.“ „Ganz egal wie man die O.R.G.A.-Leute kriegt, le bend oder tot, zum Reden bringen sie keinen vo n ih nen.“ „Mag sein. Hartgesottene Burschen lassen sich die 133
Wurst nicht vom Teller ziehen. O.RG.A. und Colonna sind professionelle Ungeheuer, das wi ssen wir.“ „Sie werden nicht sagen, wo, wann und wie es ge schehen wird. Eher lassen sie sich vierteilen. Was also wäre gewonnen?“ bemerkte Urban. „Solche Operationen entwickeln von einem bestimm ten Punkt an ihre Eigendynamik und sind gar nicht mehr zu stoppen. Ob man sie hat oder nicht, es wird vermut lich geschehen. – Aber O.R.G.A. wäre endlich das Handwerk gelegt.“ Da Urban schwieg, hakte der Vize nach. „Von Ihnen kommt diesmal aber schon rein gar nichts. Mit Ausnahme davon, daß dies und jenes angeb lich nicht zu machen ist.“ Urban hatte die Situation längst durch und zu Ende gedacht. „Wie heißt doch das Sprichwort: Wenn du den Teufel nicht ausrotten kannst, dann ruf den Beelzebub zu Hil fe.“ „Verstehe ich nicht.“ Urban versuchte, es auszuführen. „Wir vom BND können nicht aktiv werden. Die Eng länder wollen nichts damit zu tun haben. MI-five, der Yard, haben feuchte Hände. Bloß nicht bei uns, denken sie. Also bleibt nur eine einzige Chance.“ Der Vize hatte offenbar begriffen. Aber er konnte es nicht fassen. „Urban, Sie spinnen“, erklärte er fassungslos. Doch Urban erläuterte es ihm und lieferte die Be gründung. „Colonna kennt den Feind. Er weiß nur nicht, wo er steckt. Colonna hat genügend Experten, die so etwas lautlos über die Bühne bringen. Colonna soll gefälligst selbst für seine Sicherheit sorgen. Das kann er am be sten, indem er die O.R.G.A.-Leute schnappt, in seine 134
Nähe verbringt und nicht aus den Augen läßt, bis der Zerstörer Bolivar den Hafen von London verlassen hat,“ „Damit opfern wir O.R.G.A. dem Präsidenten.“ „Weil wir den Präsidenten O.R.G.A. nicht opfern können.“ „O.R.G.A. wären wir damit allerdings los.“ „Angenommen, wir würden dabei auch Colonna los“, kombinierte Urban, „Es ist zwar kaum vorstellbar, nein, vorstellbar ist es nicht.“ Der Vize dachte offenbar auf der gleichen Schiene wie sein Agent. „Und wer informiert Colonnas Stab?“ „Er wohnt im Majestic“, übermittelte Urban ihm. „Wo er wohnt, ist seine Garde. Und wo die ist, ist auch sein Geheimdienstchef. Vom Majestic nach Hamilton Gardens Nummer elf braucht man keine fünfzehn Minu ten durch den Regents Park, mit dem Auto sogar nur sechs.“ „Tun Sie es“, entschied der Vize leise. „Aber ich weiß von nichts.“ „Ich weiß selbstverständlich auch nichts“, antwortete Urban. „Wir alle wissen von nichts und werden nie etwas davon gewußt haben.“ Er legte auf und ließ sich von der Auskunft die Num mer des Majestic Hotels in London geben. 17. Es war zur vereinbarten Stunde, 14.00 Uhr MEZ, genau einen Tag vor dem Zeitpunkt, an dem es geschehen sollte, als Marcel Strassbourg zum Telefonhörer griff und wählte. Nik Saltforth beobachtete den Sekundenzeiger seiner Uhr. „Jetzt!“ sagte er. „Diese ehemaligen Marineleute 135
nehmen es verdammt genau.“ Strassbourg drehte die letzte Ziffer der siebenstelligen Nummer in die Scheibe. Rattern, Freizeichen. Sofort wurde abgehoben. Er gab nur ein Wort durch: „Colonnex.“ „Colonnex, Sir“, wurde ihm bestätigt, „läuft an.“ Es machte Klick. Unter dieser Nummer würde nie mand mehr für sie zu erreichen sein. Slim Newton saß im Lehnstuhl. Er hob die Hand. Es kostete Kraft und schmerzte. „Darauf habe ich gewartet, daß ich das noch erleben darf.“ „Wo Magdalen nur bleibt“, bemerkte Strassbourg be sorgt. „Deine Tochter kommt nicht unter die Rä der“, beru higte der Mann aus Singapur ihn. „Außerdem scheint es Slim besserzugehen.“ „Hoffentlich. In sechs Stunden müssen wir we g sein. Was glaubt ihr, was in dieser Stadt, in diesem Land morgen nach fünfzehn Uhr los sein wird.“ „Nun, man wird alles abriegeln.“ „Bis dahin müssen wir die Insel verlassen haben.“ Newton blickte zum Fenster hinaus. Der Nebe l hatte sich gelichtet. Der Himmel war grau. Noch kam die Sonne nicht durch. „Wann fliegst du, Nik?“ fragte er. „Mit der Dreizehn-Uhr-Maschine nach Kairo. Ich ge he meine Sachen packen.“ „Vergiß nichts“, sagte Strassbourg. „Jeder beseitigt seine eigenen Spuren.“ „Und du, Marcel?“ wollte der gichtleidende Amerika ner wissen. „Ich warte bis sechzehn Uhr auf meine Tochter. Kommt sie nicht, hinterlasse ich eine Nachricht in ihrem Hotel. Dann nehme ich ein Taxi in die City, hole ihren 136
Mini vom Parkplatz Victoria Station und mache mich auf den Weg nach Frankreich. Bis es bumst, bin ich auf meinem Gutshof in der Normandie.“ „Wann zahlt der Südamerikaner den Rest?“ „Erst vierundzwanzig Stunden danach. Ich überweise dir deinen Anteil wie immer nach Genf. Aber wie kommst du weg, Slim?“ Newton wußte es nicht genau. Er dachte daran, sich mit einem Mietwagen zur Fähre nach Dublin bringen zu lassen. Mit Krücken würde er e s schaffen. „Ich habe eine bessere Idee“, schlug Strassbourg vor. „Man läßt einen Kameraden nicht im Feuer liegen. Du kommst mit mir.“ Slim Newton schien dieses Angebot erwartet zu ha ben. „Ich will dich nicht belasten, Marcel.“ „Unsinn. Wenn sie einen von uns kriegen, kriegen sie alle.“ Sie hörten Saltforth die Treppe herunterkommen. „Hinten im Garten ist ein Mann“, sagte er leise. „Es ist dein Haus. Beschäftigst du Gärtner?“ „Eigentlich nicht.“ „Dann mußt du ihn fragen.“ Draußen fuhr der Wagen einer Wäscherei vorbei und hielt oben zwischen den Bäumen. Ein Mann radelte den Gehsteig entlang. Im Arm hatte er einen Packen Werbe prospekte. Er stieg ab, kam in den Vorgarten und schob etwas durch den Türschlitz. Dann wartete er und läutete. „Was will er?“ fragte Strassbourg, wach wie ein Luchs. „Das Haus ist das ganze Jahr unbewohnt. Neue Mieter erwecken sein Interesse.“ Das Läuten hörte nicht auf. Wütend eilte Saltforth hinaus. Schimpfend öffnete er die Tür. Daraufhin ein dumpfer Schlag, ein Geräusch, 137
als falle ein Körper. Im selben Moment sah Slim Newton den Schatten ei nes Mannes in der Küche. „Deckung!“ schrie er, und ließ sich aus dem Sessel zu Boden fallen. Marcel Strassbourg riß die Waffe aus dem Hosen bund, wo er sie immer stecken hatte, und entsicherte sie. Zum Schuß kam er nicht mehr. Ein Fuß stampfte ihm das Handgelenk samt Waffe in den Teppich. Sie schleiften Saltforth in den Salon. Er blutete an der Schläfe und war so schlapp wie ein geplatzter Auto schlauch. Zwei andere Männer, wußte der Teufel, woher sie kamen und wie sie ins Haus gelangt waren, fesselten ihn schnell und professionell. Mit Slim Newton hatten sie wenig Mühe. Doch der Franzose wehrte sich. Ein Handkantenschlag genau in die Ecke zwischen Hals und Schulter versetzte ihn in Vibration, als würde er an Starkstrom hängen. Gefesselt und geknebelt streifte man Wäschesäcke über sie, trug sie hinaus, durch den Vorgarten auf die Straße und schob sie in die offene Ladetür des Wäsche reiautos. Die unbekannten Kidnapper stiegen ein. De r Wagen Mir weg. Das Ganze hatte keine drei Minuten gedauert.
Nach zehnminütiger Fahrt in die City ging es eine Tiefgaragenrampe hinunter, dann mit einem Lift nach oben. Als man sie aus den Säcken schälte, sahen sie sich von schwerbewaffneten Gardisten Colonnas umringt. Ein Arzt versorgte sie und verabreichte jedem eine Spritze. „Das päppelt sie auf, sagte der Arzt, „und stellt sie ru 138
hig. Für etwa sechs Stunden. Dann kommt die nächste.“ Der Arzt ging. Ein Zivilist mit bolzengeradem Offi ziersgang betrat die Hotelsuite. „Ach, die Manager von O.R.G.A.“, sagte Costillez höhnisch. „Fragen Sie nicht, wie wir Sie fanden, Seno res. War ein schweres Stück Arbeit. Sie planen einen Anschlag auf den Generalpräsidenten. Deshalb werden Sie während der letzten zwanzig Stunden seines Besu ches in seiner Nähe bleiben. Ganz in seiner Nähe. Was ihm passiert, wird auch Ihnen zustoßen. Ich schätze, die Attentäter kriege n das mit und werden sich hüten, ihre Bazookas abzuziehen oder ihre Bombe zu zünden. Das war’s, Gentlemen.“ Die Gefangenen wurden pausenlos bewacht. Eine Verständigung untereinander war nicht möglich. Als es Abend wurde, setzte der Arzt wieder seine Spritzen. Diesmal ein Schlafmittel. Sie konnten nichts dagegen tun. Gegen Chemie war jeder Organismus machtlos. Sie versanken in bleischwere Müdigkeit Als sie erwachten, war es heller Morgen. Der letzte Tag von Colonnas Staatsbesuch in England. Der Tag, an dem er sterben sollte. Der Tag der Bombe. Die Gefangenen wurden behandelt wie böse Kinder, bei denen man nicht wußte, welche Dummheit sie sich ausdachten. Leibwächter waren dabei, als sie duschten und sich rasierten. Dann wurden sie angekleidet und bekamen ein leichtes Frühstück. Schinken mit Rührei, Tee, Saft, Toast. Wieder erschien der Arzt und verabreichte seine Be täubungsspritzen. Strassbourg versuchte, sich zu weh ren, zu dritt bändigten sie ihn. Wußte der Teufel, um welches Medikament es sich handelte. Die Mischung versetzte sie in einen Zustand der Gleichgültigkeit. Es war ihnen, als bewegten sie sich in Watte. Die Watte war rosa und duftete. 139
Willenlos folgten sie den Leibwächtern durch das Ho tel zu einem Rolls-Royce. In der Kolonne des Präsiden ten absolvierten sie noch einen Museumsbesuch, dann die Verabschiedung in der Downing Street Nr. 10. Da bei achtete man streng darauf, sie stets so nahe bei Co lonna zu postieren, daß es jedem Attentäter unmöglich war, sie ungeschoren zu lassen. Nach Downing Street und letzter Audienz im Bu ckingham-Palace ging es noch einmal ins Hotel. Unerwartet stand Ernesto Colonna in ihrem Zimmer. Mit verächtlichem Blick musterte er seine ehemaligen Kameraden. „Sie erlauben, Senores“, sagte er, „daß ich Ihnen mei ne Aufwartung mache. Sollte es hier in London zur Hölle gehen, dann fahren Sie mit mir dorthin. Wenn nicht, dann entledigen wir uns Ihrer Gegenwart im Är melkanal. Natürlich auf Ihnen gemäße Weise. Wir we r den Sie lebend ersäufen, wie Katzen, gefesselt in einem Sack mit Gewichten daran.“ Schon ging er wieder. In den nächsten Stunden versuchten die Verhörexper ten von Costillez, aus den O.R.G.A.-Direktoren alles herauszuholen. Wer den Auftrag für das Attentat erteilt hatte und wie es geplant war. Nik Saltforth gestand es ihnen endlich. „Ein Scharfschütze war auf dem Dach des House of Parlament plaziert, ein zweiter am Victoria Memoral. Hat leider nicht geklappt.“ Es war eine Lüge. Aber es tat ihm gut. Der Sprengstofftorpedo unter der Barkasse würde ex plodieren. Daran war nichts mehr zu ändern. Daran änderte auch Gott der Allmächtige nichts. Um 14.00 Uhr war das offizielle Programm beendet. Die Sonne kam heraus, als sich die Wagenkolonne beim Navydock der Themse näherte. 140
Vom Pier aus sah man den Zerstörer Bolivar, Prunk stück von Colonnas Flotte, draußen an der Boje liegen. Die Pinasse mit Matrosen in blütenweißen Uniformen hatte schon an der Pier festgemacht und wartete. Es stank nach Brackwasser und Tang. Am Rolls-Royce mit dem Stander rissen Leibwächter die Schläge auf. Ernesto Colonna, der Generalpräsident in taubenblauer Galauniform, stieg aus. Das Kinn mar kig emporgereckt, schaute er sich um. „Das hätten wir hinter uns“, strahlte er. „Und die Gefangenen, Exzellenz?“ In einer jener Eingebungen, von denen er ungeheuer viel hielt, entschied Colonna: „Scheint so, als hätten wir alle Klippen umschifft. Aber wer weiß. Bringt sie auf die Pinasse. Wir nehmen sie mit. Als Geiseln, wi e bisher. Hat uns doch Glück gebracht, oder?“ Er lachte dröhnend, winkte den Journa listen zu, stieg die Stufen am Pier nach unten und ließ sich an Bord der Pinasse helfen. Der Leutnant salutierte, der Bootsmann pfiff Seite. Colonna verschwand sofort in der niedrigen Kajüte. Als letzte wurden die O.R.G.A.-Leute an Bord ge führt. Die Einschiffung dauerte mehrere Minuten. – Der Staatschef wurde ungeduldig. „Warum fahren wir nicht?“ fragte er seinen Adjutan ten. In diesem Moment wurde der Dieselmotor angelas sen. Die Matrosen drückten die schwerbeladene Pinasse – immerhin befanden sich außer Gefolge und Garde noch drei Gefangene an Bord – mit den Bootshaken vom Pier ab. Der Bootssteuerer schaltete das Wendegetriebe von Rückwärts auf Voraus und gab Gas. – Die Pinasse nahm Fahrt auf. Marcel Strassbourg stand an Steuerbord nahe dem 141
Dollbord. Er starrte in das braunschlammige Wasser des Hafenbeckens und dachte: Dort unten schwimmt der Bote des Todes. Er hat den Sprengsatz unter Wasser heranbugsiert, festgeklemmt und, als wir ablegten, den Zünder auf eine Minute eingestellt. Er wußte, daß er sterben würde, aber er wollte nicht sterben. Marcel Strassbourg stieß die Leibgardisten beiseite und hechtete über Bord. Sie erwischten ihn am linken Fuß und hielten ihn fest. Aber sie zogen ihn nicht herein, sondern ließen ihn mit Kopf und Oberkörper unter Wasser zappeln. Zehn Se kunden, zwanzig, eine halbe Minute, fast eine ganze Minute lang. Doch Marcel Strassbourg war es nicht bestimmt, den Tod des Ertrinkens zu sterben. Slim Newton starb nicht an Gift, und Nik Saltforth, der dritte und letzte O.R.G.A.-Mann, ging nicht im schwülfeuchten Singa pur an irgendeinem Fieber oder einer Seuche zugrunde. Sie alle – auch Ernesto Colonna mit seinen Schergen und Henkern – starben in der entfesselten Gewalt von hundert Kilo Sprengstoff. Für alle kam der Tod unverdient schnell. Ein erdbebenstarker Stoß unter dem Kiel leitete das Inferno ein. Ihm folgte ein Blitz. Mit Urkräften wurde die Pinasse hochgeschleudert, von Wahnsinnsenergien zerfetzt, ja buchstäblich pulverisiert. Nicht einer schrie. Als der Donner der Detonation verhallt war, trieben zwischen Bootsplanken die Teile menschlicher Körper. Die unheimliche Stille währte, bis die Zerstörersirene der Bolivar gellend aufheulte. Nachdem erst BBC, dann die anderen Rundfunk- und Fernsehstationen in aller Welt die Nachricht vom Tod Ernesto Colonnas verbreitet hatten, besuchte Robert Urban die Tochter des Satans in der belgischen Privat 142
klinik. Magdalen Caroll war außer Lebensgefahr. Aber für den Rest ihrer Tage würde sie entstellt bleiben. Kein plastischer Chirurg würde je in der Lage sein, die Nar ben von Messer und Säure in ihrem Gesicht und an ihrem Körper zu beseitigen. Erst recht nicht die an ihrer Seele. „Was wird mit mir geschehen?“ fragte sie leise. „Du bist schon bestraft“, antwortete Urban hart und ohne Mitgefühl. „Ein Prozeß, Zuchthaus gar?“ „Wo kein Ankläger ist, da ist auch kein Richter.“ Sie versuchte, seine Hand zu berühren, aber er entzog sie ihr. „Du wirst mich nicht der Justiz ausliefern?“ „Das ist nicht meine Aufgabe“, erklärte er. „Warum kamst du dann her?“ „Um zu erfahren, was du noch über O.R.G.A. weißt.“ „Und dann?“ wollte sie wissen. „Wirst du frei sein.“ „Frei. – Aber was für ein Leben.“ „Es gibt gewisse mildernde Umstände.“ „Aber was für ein Leben.“ „Dein Leben.“ „Wie kann Gott das nur wollen.“ „Laß Gott aus dem Spiel“, sagte Urban. „Wer den Teufel beerbt, hat keinen Anspruch auf immerwährende Glückseligkeit.“ ENDE
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