Butler � Parker � Nr. 168 � 168
Günter Dönges �
PARKERS � Luftsprung mit � dem Staatsfeind � 2 �
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Butler � Parker � Nr. 168 � 168
Günter Dönges �
PARKERS � Luftsprung mit � dem Staatsfeind � 2 �
»Sie sehen meine bescheidene Wenigkeit mehr als erstaunt«, sagte Butler Parker. Er hatte die Tür zu Lady Simpsons Haus in Shepherd’s Market geöffnet und verbeugte sich grüßend vor Superintendent McWarden. »Ich weiß, um diese Zeit sollte man keine Besuche mehr machen«, entschuldigte sich der hohe Yardbeamte. McWarden, untersetzt, stets reizbar, gab sich überraschend höflich und verbindlich. »Aber die Sache duldet keinen Aufschub.« »Mylady ist selbstverständlich noch nicht zur Ruhe gegangen, Sir. Ich werde Sie sofort melden, Sir. Wenn Sie freundlicherweise drüben im Wohnraum Platz nehmen würden?« »Mylady ist also noch auf.« McWarden war erleichtert. »Mylady arbeitet an Myladys Bestseller«, erklärte der Butler. »Was Sie nicht sagen! Sie hat endlich damit begonnen?« McWarden vergaß für einen Augenblick seine Sorgen und war ehrlich überrascht. Ihm war bekannt, daß die Dame des Hauses schon seit vielen Monaten diesen Bestseller schreiben wollte, um einer gewissen Agatha Christie zu zeigen, wie Kriminalromane wirklich verfaßt wurden. »Mylady deutete diese Absicht zumindest an«, schränkte der Butler vorsorglich ein. Er machte wieder
eine seiner knappen Verbeugungen und verließ den Superintendent, der ihm nachschaute. Butler Parker war ein etwas über mittelgroßer Mann undefinierbaren Alters. Er besaß das ausdruckslose Gesicht eines Pokerspielers und verfügte über erstklassige Manieren. Darüber hinaus war er ein sehr phantasievoller und begabter Amateurkriminalist. McWarden hätte solch einen Mann liebend gern in seiner Abteilung gehabt, doch Parker hatte bisher allen Versuchungen widerstanden, seinen Arbeitsplatz aufzugeben. Er war mit Leib und Seele Butler und dachte nicht daran, diesen Zustand zu ändern. Gemessen und würdevoll stieg Josuah Parker über die Treppe hinauf ins Obergeschoß und erreichte über eine Seitendiele den Trakt des Hauses, in dem seine Herrin wohnte. Nach diskretem Anklopfen und der grimmigen Aufforderung, gefälligst hereinzukommen, stand Josuah Parker Lady Agatha gegenüber. Sie hatte sich einen kleinen Salon als Arbeitszimmer herrichten lassen. Auf einem soliden Tisch stand eine elektrische Schreibmaschine. Links vom Tisch, auf einem Aktenbock, stapelte sich Manuskriptpapier. »Gerade wollte ich anfangen«, beschwerte sich Lady Simpson unwillig. 3 �
Sie wandte sich ihrem Butler zu, der natürlich mit einem Blick sah, daß das eingespannte Papier noch keinen einzigen Buchstaben trug. »Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit hier untröstlich«, entschuldigte sich Parker. »Superintendent McWarden bittet um eine Unterredung. Es scheint sich um einen Fall höchster Dringlichkeit zu handeln.« »Warum sagen Sie das nicht gleich?« Die ältere Dame, die seit einigen Jahren beschlossen hatte, nicht älter als sechzig Jahre zu sein, stand sofort schwungvoll auf. Man sah ihr an, wie sehr sie sich jetzt über die Störung freute. Sie war groß, stattlich und erinnerte an die Walküre aus einer Wagneroper. Mylady verfügte über eine Stimme, die vom Klang her an eine Mischung aus Baß und Bariton erinnerte. Sie war eine sehr dynamische Frau, immens reich und mit dem Blut- und Geldadel Englands eng verschwägert und verschwistert. Darüber hinaus hielt sie sich für eine erstklassige Kriminalistin, die keiner Möglichkeit aus dem Weg ging, sich mit Ganoven und Gangstern aller Kaliber anzulegen. Lady Agatha trug einen wallenden Hausmantel, den sie energisch zuschnürte. Dann rauschte sie aus ihrem Arbeitszimmer, begierig darauf, Superintendent McWarden wieder mal fachlich zu beraten.
»Keine unnötigen Floskeln«, raunzte sie, als sie den Wohnraum betrat. »Kommen Sie zur Sache, McWarden! Ohne mich scheint es also wieder mal nicht zu gehen, wie?« »Wir wären an einer Zusammenarbeit wirklich recht interessiert«, räumte der Superintendent widerwillig ein. »Man riet mir von höchster Stelle dazu, Mylady. Guten Abend, übrigens!« »Welche Kastanien soll ich Ihnen aus dem Feuer holen?« Die energische Dame genoß dieses Einverständnis und ließ sich in einem der bequemen Ledersessel nieder. »Wo drückt der Schuh, McWarden? Reden Sie endlich!« »Fatty Hitcham ist ausgebrochen«, sagte McWarden. »Okay. Und wer ist das?« »Der ehemalige Chef einer Gangsterorganisation«, erklärte der Superintendent. »Mylady erinnern sich bestimmt. Hitchams Bande erpreßte Reedereien. Er wurde zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.« »Wie lange hat er davon abgesessen?« erkundigte Agatha Simpson sich fast beglückt, denn sie hatte den Eindruck, daß es ein recht aufregender Fall werden könnte. »Knapp ein Jahr, Mylady«, lautete McWardens Antwort. »Vor anderthalb Stunden ist er auf geheimnisvolle Art und Weise entkommen. Die näheren Umstände werden zur 4 �
Zeit noch erforscht.« »Was das schon bringt«, sagte sie verächtlich. »Mr. Parker, es dürfte klar sein, daß ich diesen Fall übernehmen werde.« »Selbstverständlich, Mylady«, Parker würdevoll. erwiderte »Mylady dürfen meiner bescheidenen Mithilfe versichert sein.« * »Bescheidene Mithilfe?« grollte die Detektivin, als McWarden gegangen war. »Ich habe mich wohl verhört, Mr. Parker?« »Wie darf, soll und muß ich Myladys Worte interpretieren?« antwortete Josuah Parker gemessen. »Ich will doch sehr hoffen, daß Sie sich gründlich einsetzen«, forderte Agatha Simpson energisch. »Es geht schließlich um Ihren Ruf, Mr. Parker.« »Mylady wissen, wie wenig meiner bescheidenen Person daran gelegen ist.« »Es geht um meinen Ruf.« Lady Agatha wurde nun deutlich. »Zudem habe ich keine Ahnung, wie wir an dieses Subjekt je herankommen wollen. Sie haben hoffentlich bereits eine Idee!« »Mylady sehen mich untröstlich.« Parker sprach die Wahrheit. »Zur Zeit sehe ich mich außerstande, brauchbare Vorschläge unterbreiten zu können.«
»Genau das habe ich erwartet.« Sie sah ihn grimmig an. »Alles muß man allein machen. Wir werden dieses Subjekt aus dem Schlupfwinkel zu locken.« »Gewiß, Mylady.« Josuah Parker sah Lady Agatha fragend an. »Mehr haben Sie dazu wieder nicht zu sagen?« »Fatty Hitcham, Mylady, wird sich nicht so leicht provozieren lassen, wie ich vermute.« »Jeder Mensch hat seinen ganz bestimmten schwachen Punkt, Mr. Parker, oder wollen Sie das etwa abstreiten?« »Keineswegs, Mylady. Falls es erlaubt ist, werde ich mich bemühen, einige Informationen über Fatty Hitcham zu sammeln. Er hat, wie Superintendent McWarden ja schon sagte, nicht nur Freunde. Zudem vermutet man bei ihm eine beträchtliche Beute in der Größenordnung von fast siebenhundertfünfzigtausend Pfund.« »Sie glauben, daß gewisse Individuen der Unterwelt hinter Hitcham her sind?« »Mit letzter Sicherheit, Mylady. Solch eine Summe aktiviert, wenn ich es so ausdrücken darf.« »Sie wissen ja, daß ich mich mit Kleinigkeiten nicht abgebe, Mr. Parker. Tun Sie, was ich für richtig halte! Sie haben völlig freie Hand. Aber ich erwarte selbstverständlich Resultate.« 5 �
Geschickterweise verzichtete Lady Simpson auf jede weitere Diskussion. Sie wollte sich angeblich wieder ihrem geplanten Bestseller widmen und ging zurück ins Obergeschoß des Hauses. Sie setzte wieder mal auf Butler Parker. Er war sich darüber klar, daß die Polizei wesentlich mehr und bessere Möglichkeiten der Großfahndung hatte. Sie brauchte nur ihren großen Apparat und die vielen V-Männer einzusetzen. Überall waren diese Männer jetzt an der Arbeit und sammelten Hinweise, Klatsch und Tips. Mit solch einem Aufwand an Einsatz konnte Josuah Parker einfach nicht konkurrieren. So etwas wäre eine reine Zeitverschwendung gewesen, die dazu noch nicht mal etwas einbrachte. Nein, Parker mußte sich etwas Ungewöhnliches einfallen lassen, daran bestand kein Zweifel. Butler Parker begab sich ins Souterrain des altehrwürdigen Hauses, wo sich seine privaten Räume befanden. Hier gab es unter anderem auch ein gut geführtes Privatarchiv, in dem sich auch der ehemalige Fall Hitcham befinden mußte. Parker wollte sich diese Unterlagen in aller Ruhe und Muße ansehen und dann so etwas wie ein Psychogramm des Gangsters erarbeiten. Er mußte versuchen, sich in die Gedankenwelt Hitchams zu versetzen, denn nur so war es möglich, diesen brutalen und
gefährlichen Mann aufzuspüren und erneut unschädlich zu machen. Butler Parker wußte nicht, daß Lady Agatha zu diesem Zeitpunkt bereits sehr aktiv geworden war. Von ihrem Salon aus rief sie die Redaktionen einiger großer Boulevardzeitungen an und legte damit Zeitbomben, von deren Sprengkraft sie sich keine Vorstellungen machen konnte. * Fatty Hitcham wäre die Idealbesetzung des Gangsterbosses in einem Kriminalfilm gewesen. Er war untersetzt, breitschultrig und hatte das Gesicht einer Bulldogge. Das knappe Haftjahr im Zuchthaus hatte ihn überhaupt nicht verändert. Er strahlte nach wie vor wilde Energie, Brutalität und auch Autorität aus. Nach seiner Flucht aus dem Knast hatte er ganz bewußt darauf verzichtet, zurück nach London zu gehen und sich hier einen Unterschlupf zu suchen. Fatty Hitcham war intelligent. Er konnte sich leicht ausrechnen, wie interessant er für viele kleine und große Ganoven war. 750.000 Pfund, die waren ein Köder, nach dem man immer wieder schnappen würde. Zudem rechnete er damit, daß die Behörden auf seinen Kopf einen hohen Preis aussetzten. Leicht und schnell verdientes 6 �
Geld für Spitzel und Verräter, die natürlich Tag und Nacht, Stunde um Stunde nach ihm forschen würden. Nein, Hitcham hatte es vorgezogen, das wohlvertraute Stadtgebiet Londons zu meiden. Ihm ging es erst mal um Zeitgewinn. Er wollte abwarten, bis die erste Aufregung vorüber war. Der Gangsterboß befand sich seit einigen Stunden in der Nähe von Bristol. Er hatte Quartier in einem kleinen Kurort bezogen, nicht weit entfernt von der alten Römerstadt Bath. Selbstverständlich war er nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich drei ausgesuchte Männer, die seine Flucht in der vergangenen Nacht ermöglicht hatten. Er konnte sich unbedingt auf sie verlassen. Es waren harte Typen, etwa zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt. Sie waren bereits zu einer Zeit seine Leibwächter gewesen, als Hitcham noch der ungekrönte König der Unterwelt gewesen war. Diese vier Männer bewohnten ein kleines Ferienhaus am Avon, nahe an einem kleinen Waldstück, doch von dem vierten Mieter wußte der Besitzer des Ferienhauses nichts. Er kannte nur die drei Mieter, durchaus zivil aussehende Männer mit guten Manieren. Sie hatten sich als Geschäftsleute aus Manchester ausgegeben, die hier in aller Ruhe neue Pläne besprechen und planen wollten.
Ihre Adressen in der großen Industriestadt stimmten durchaus. Nach der damaligen Verurteilung von Hitcham hatten sie London verlassen und sich in Manchester niedergelassen. Ihre Namen waren im Prozeß überhaupt nicht erwähnt worden, weil Hitcham sie klugerweise verschwiegen hatte. In der Organisation aber waren diese drei Männer so gut wie unbekannt geblieben, zumal sie seinerzeit unter falschen Namen gewirkt hatten. Inzwischen hatten sie ihr Aussehen verändert und konnten sicher sein, alle Spuren verwischt zu haben. An diesem Morgen kam Gene Potter aus dem nahen Keynsham zurück. Er hatte eingekauft und auch Zeitungen mitgebracht. Er betrat das kleine Ferienhaus und warf die Zeitungen auf den Tisch. Gene Potter war dreißig Jahre alt, mittelgroß und schlank. Den harten Killer sah man ihm nicht an. Mit seinem dichten, schwarzen Haar erinnert an einen Inder, zumal er eine sehr braune Hautfarbe besaß. »Sensation auf der ganzen Linie, wie?« fragte Fatty Hitcham, der nach den Zeitungen griff. »Kann man wohl sagen, Boß«, erwiderte Gene Potter. »Der Yard spielt verrückt und wird ganz schön durch den Kakao gezogen.« Paul Corston und Will Beaford traten hinter Hitcham, um gemeinsam 7 �
mit ihm die Schlagzeilen zu studieren. Paul Corston war zweiunddreißig Jahre alt, groß, schlank und besaß eine ausgeprägte Stirnglatze. Will Beaford – fünfunddreißig Jahre alt, rundlich und zur Korpulenz neigend – war die Freundlichkeit in Person. Er lachte gern und oft, breit und herzlich. Darüber vergaß man in fast allen Fällen die Kälte seiner Augen. »Großfahndung! Wenn ich das schon lese!« Fatty Hitcham grinste. »In ein paar Tagen und Wochen ist alles eingeschlafen.« Er wollte noch mehr zu diesem Thema sagen, doch sein Blick fiel auf eine weitere Schlagzeile. Er stutzte, knuffte die Zeitung zusammen und beugte sich vor. »Was ist denn das?« meinte er dann halblaut. »Lady Agatha Simpson hat sich in die Fahndung eingeschaltet? Diese irre Ziege!« »Wer ist Lady Simpson?« fragte Gene Potter. »Die kennt ihr nicht«, sagte Hitcham. »Zu unserer Zeit war sie in Frankreich.« »Und wer ist diese Lady?« wollte Paul Corston wissen. »Sie ist stinkreich und überdreht«, gab Hitcham zurück. »Ich habe im Zuchthaus von ihr gehört.« »Und zwar?« Will Beaford zündete sich eine Zigarette an und nahm in einem Sessel Platz.
»Sie arbeitet mit ihrem Butler zusammen. Klar, steht ja auch im Interview. Sie behauptet, Moment mal, ja, sie behauptet, schon etwas wie ‘ne heiße Spur zu haben.« »Lächerlich.« Will Beaford schüttelte den Kopf. »Wer ist diese Lady, Boß? Was hat man sich im Bau über sie erzählt?« »Ihr Butler und sie sind Amateurdetektive. Ihr könnt euch nicht vorstellen, Leute, wie viele sie ins Gefängnis oder Zuchthaus gebracht haben. Und jetzt kommt das Verrückte an der Sache: Die meisten von diesen Jungen sind noch nicht mal sauer auf sie. Sie finden, daß die Alte und ihr Butler ihnen einen guten Sport geliefert haben.« »Diese Alte können wir vergessen«, warf Paul Corston ein. »Und ihren Butler dazu«, erklärte Gene Potter. »Hier in der Provinz bist du sicher.« »Sie will angeblich eine heiße Spur entdeckt haben.« Fatty Hitcham überlas das Interview noch mal, diesmal genauer und intensiver. »Seid ihr sicher, Jungens, daß ihr alle Spuren verwischt habt?« »Wer wird denn gleich nervös werden, Boß?« Will Beaford lächelte breit. »Die Alte hat das Maul voll genommen, liegt doch auf der Hand.« »Nichts als ein Trick«, pflichtete Corston seinem Partner Beaford bei. »Die hofft nur, daß du dich rührst, 8 �
Boß.« »Genau.« Gene Potter ging hinüber in die kleine Küche, um das Frühstück zu bereiten. »Darauf fällt doch noch nicht mal ein Anfänger ‘rein, Boß. Überhaupt nicht darauf eingehen, das ist meine Meinung.« Fatty Hitcham nickte langsam und beschäftigte sich mit den übrigen Zeitungen. Er fand schnell heraus, daß sämtliche Boulevardblätter das Interview mit Lady Simpson brachten. Zwanzig Minuten später schmeckte ihm der Morgentee nicht mehr. Die frische, gesalzene Landbutter, die knusprigen Hörnchen und auch die Orangemarmelade brachten seine Magennerven nicht in Stimmung, obwohl er sich gerade auf dieses erste Frühstück in der Freiheit so sehr gefreut hatte. Lady Agatha und ein gewisser Butler Parker lagen ihm bereits im Magen. * »Dieses Interview wird ihn herausfordern«, prophezeite Lady Agatha Simpson. Sie hatte gefrühstückt und studierte die Zeitungen, die Parker ihr vorgelegt hatte. »Mylady werden ungemein vorsichtig sein müssen«, antwortete der Butler höflich. »Ich merke doch, daß Sie an diese
Herausforderung nicht glauben«, räsonierte die ältere Dame. »Mr. Fatty Hitcham scheint meiner bescheidenen Einschätzung nach ein sehr vorsichtiger Mensch zu sein, Mylady.« »Er wird mir seine Leibgarde auf den Hals hetzen«, hoffte Agatha Simpson zuversichtlich. »So haben diese Gangsterbosse bisher doch immer reagiert. Sie wollen kein Risiko eingehen.« »Wie Mylady meinen.« »Sie sind also anderer Meinung?« Die Detektivin schaute ihn unwillig an. »In etwa, Mylady, wenn ich mich erkühnen darf.« »Sie glauben, daß er sich nicht rühren wird?« »Davon sollte man vielleicht ausgehen, Mylady. Ich habe mir erlaubt, Mr. Hitchams Leben ein wenig zu studieren.« »Und woher bezogen Sie dieses Wissen? Wir waren doch in Frankreich, als sein Fall vor Gericht verhandelt wurde.« »Die Zeitungen berichteten ausführlich über den Prozeß, Mylady. Diese Berichte bieten eine gute Grundlage.« »Dann möchte ich mehr darüber erfahren, Mr. Parker.« »Wünschen Mylady Stichworte oder ein ausführliches Psychogramm dieses Mannes?« »Stichworte«, raunzte sie ungnä9 �
dig. »Mr. Fatty Hitcham, Mylady, ist zweiundfünfzig Jahre alt. Seine Organisation hatte sich auf Reedereien spezialisiert, um es generell auszudrücken. Er erpreßte horrende Zahlungen, die nach einigen gelegten Explosionen an Bord und Schiffsbränden in fast allen Fällen geleistet wurden.« »Wie wurde dieses Subjekt überführt?« »Er ging quasi in eine Falle, Mylady, die ein besonders couragierter Reeder ihm stellte. Dieser Reeder lud Hitcham zu einer Besprechung ein und sorgte dafür, daß Beamte des Yard die Unterhaltung mitverfolgen konnten.« »Das reichte für fünfzehn Jahre?« »Es kam vor der Verhaftung zu einer Schießerei, Mylady, bei der zwei Beamte verletzt wurden. In diesem Zusammenhang sollte ich drei Begleiter Mr. Hitchams erwähnen, die seine Leibwache bildeten, die sich jedoch der Verhaftung entziehen konnten.« »Kennt man ihre Namen?« »Mr. Hitcham verweigerte jede Aussage dazu, Mylady. Meiner bescheidenen Ansicht nach dürften sie es gewesen sein, die die jetzige Flucht ermöglichten.« »Man hat keine Spur von ihnen gefunden?« »Sie verschwanden wie vom Erdboden, wie es in solchen Fällen so
treffend heißt, Mylady. Mr. Hitcham schonte darüber hinaus auch noch die übrigen Bandenmitglieder, die ungeschoren davonkamen. Er nahm alle Schuld auf sich.« »Damit zog er wohl Wechsel auf die Zukunft, wie?« »Eine klassische Formulierung, Mylady, um die ich Mylady beneide.« Parker verbeugte sich. »Sein Schweigen hat sich durchaus gelohnt, wie die Tatsachen beweisen.« »Schön, jetzt aber Details zu diesem Subjekt, Mr. Parker.« »Mr. Fatty Hitcham, Mylady, stammt aus Liverpool und wuchs in äußerst ärmlichen Verhältnissen auf. Daher ist es verständlich, daß er später dem Luxus frönte. Mit anderen Worten, er liebt Delikatessen der Küche, eine gepflegte Umgebung und Maßanzüge.« »Und mit diesem Wissen wollen Sie ihn aufspüren?« Lady Agatha lächelte spöttisch. »Er entwickelte im Lauf der Zeit ganz bestimmte Vorlieben«, berichtete Parker ungerührt und gemessen weiter. »Mr. Hitcham rauchte vor seiner Inhaftierung eine ganz bestimmte, sehr teure Zigarrenmarke, die es nur in einigen Spezialgeschäften hier auf der Insel gibt. Darüber hinaus scheint er sich auf einen ganz bestimmten Sherry spezialisiert zu haben, sowie auf eine Gänseleberpastete aus Dänemark 10 �
und einen Wodka, den es ebenfalls nicht gerade im Supermarkt gibt.« »Das alles haben Sie den damaligen Zeitungsberichten entnommen?« Lady Agatha war ernst geworden. »Es handelte sich um mehr oder weniger saloppe Randbemerkungen der Berichterstatter und »Prozeßbeobachter«, antwortete der Butler. »Ich möchte mir erlauben hinzuzufügen, daß Mr. Hitcham verblüffenderweise eine ganz gestimmte, sehr billige Rotwurst aus Liverpool schätzte, die es praktisch nur in einer einzigen Fleischerei der Stadt gibt.« »Eine Erinnerung an seine Kindheit, wie?« »Durchaus, Mylady. Mir schienen und scheinen diese Details recht wichtig zu sein.« »Papperlapapp, Mr. Parker!« Lady Simpson schüttelte den Kopf. »Diesmal setzen Sie auf das falsche Pferd. Hitcham wird jetzt andere Sorgen haben, als sich um seine ehemaligen Leckerbissen zu kümmern.« »Mylady mögen gütigst verzeihen, aber ich gestatte mir, eine andere Ansicht zu vertreten. Mr. Hitcham dürfte auf all diese Genüsse gut ein Jahr lang verzichtet haben müssen! Seine Gier nach diesen Dingen wird übermächtig in ihm sein.« »Kennen Sie denn die Firmen, die ihm früher das alles geliefert haben?«
»Dies, Mylady, wird sich diskret erforschen lassen.« »Und Sie glauben, daß McWarden alle übersehen wird?« »Mit einiger Sicherheit, Mylady. Superintendent McWarden wird an scheinbare Beiläufigkeiten kaum denken, weil er es gewohnt ist, nach der klassischen Methode zu arbeiten. Ihn wird die Großfahndung voll und ganz beschäftigen.« »Befindet Hitcham sich Ihrer Meinung nach in London?« »Er dürfte sich hinaus aufs flache Land begeben haben, Mylady. In London wäre er schon wegen der ausgesetzten hohen Belohnung nicht sicher.« »Und Sie glauben nicht, daß er sich an dem Reeder rächen wird, dem er seine Verhaftung zu verdanken hat?« »Sir Lance Clanters, Mylady, verstarb vor wenigen Monaten. Ein Racheakt muß ausgeschlossen werden. Sir Lance erlitt einen Herzinfarkt und hinterließ nur eine Tochter namens Patricia, sechsundzwanzig Jahre alt, sie sich dem sogenannten süßen Nichtstun ergeben hat.« »Genug, genug, Mr. Parker!« Lady Agatha stand auf und winkte ab. »Mir ist da gerade eine Idee gekommen.« »Selbstverständlich, Mylady.« »Hitcham wird sich an dieser Patricia rächen, wenn er ihren Vater schon nicht mehr erreichen kann. Ich 11 �
weiß, was ich zu tun habe. Über Patricia Clanters werde ich an Hitcham herankommen, glauben Sie mir. Ich sehe bereits alles ganz deutlich vor mir. Ich werde Kathy einsetzen.« Lady Simpson meinte ihre Sekretärin und Gesellschafterin Kathy Porter, die an diesem Tag aus Brighton zurückerwartet wurde. Sie hatte dort eine Verwandte besucht. »Miß Porter wird stolz sein, Myladys Vorstellungen in die Tat umsetzen zu dürfen«, meinte der Butler höflich. »Sie wird mich begleiten dürfen«, entschied Lady Agatha. »Ich werde diese Patricia ab sofort nicht mehr aus den Augen lassen. Sie allein ist der Schlüssel zu Hitcham, auch wenn Sie das nicht einsehen wollen, Mr. Parker!« * Ben Atkers, an die fünfzig Jahre alt, faltete sorgfältig die Zeitung zusammen und lehnte sich zurück. Der kleine drahtige Mann, der an einen Jockey erinnerte, ließ seine Gedanken auf Hochtouren arbeiten. Er wußte längst, daß sein Intimfeind Hitcham aus dem Zuchthaus entflohen war. Er wußte auch, wie wertvoll dieser Hitcham plötzlich geworden war: siebenhundertfünfzigtausend Pfund suchten jetzt einen neuen Erben. Und dieser Erbe wollte
Ben Atkers werden… Zu Beginn ihrer gemeinsamen Karriere in der Unterwelt hatten sie noch zusammengearbeitet, doch dann hatte Hitcham ihn böse hereingelegt, sich selbständig gemacht und Atkers’ Organisation an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt. Atkers hatte umsteigen und sich ein neues Betätigungsfeld suchen müssen. Er betrieb jetzt einige verbotene Spielclubs, kam gewiß gut über die Runden, wie man sich in seinen Kreisen zuraunte, doch ein As war er nicht. Das konnte jetzt alles anders werden. Er mußte nur diesen Hitcham aufspüren und solange unter Druck setzen, bis sein Intimfeind freudig verriet, wo er sein erpreßtes Vermögen versteckt hielt. Atkers war fest entschlossen, dieses gewiß gefährliche Spiel zu spielen. Da war noch eine alte Rechnung zu begleichen. Er hatte auch das Interview gelesen, das eine gewisse Lady Agatha Simpson den Zeitungen gewährt hatte. Natürlich war ihm diese skurrile Frau bekannt. Bekannter aber noch war ihm Butler Parker, der in Diensten dieser Lady stand. Ben Atkers machte sich da keine Illusionen. Er wußte genau, wie listenreich und phantasievoll Parker war. Die Unterwelt respektierte diesen Mann, der immer gut für jede noch so ver12 �
rückte Überraschung war. Atkers sah hoch, als die Tür sich öffnete. Norman Scott, seine rechte Hand, trat herein. Der etwa Dreißigjährige war ein etwas pomadig wirkender Mann, dem man nicht zutraute, ein Wässerchen trüben zu können. Er sah stets geistesabwesend und verschlafen aus, war aber ein erstklassiger Falschspieler und harter Bursche, der leicht die Kontrolle über sich verlor. »In der Stadt summt’s wie in ‘nem Bienenkorb«, berichtete Norman Scott. »Die Gerüchte überschlagen sich, Chef. Jeder ist hinter Hitcham her.« »Kann ich mir lebhaft vorstellen! Etwas Konkretes herauszubekommen?« »Nichts, Chef. Ob Hitcham überhaupt noch in London ist?« »Bestimmt nicht, Norman.« Ben Atkers schüttelte den Kopf. »Dieses Risiko geht der schlaue Hund nicht ein. Der treibt sich irgendwo auf dem Land ‘rum. Ich kenne doch Hitcham.« »Wie wollen wir dann je an ihn ‘rankommen?« fragte Norman Scott. »Über Patricia Clanters«, erwiderte Ben Atkers wie selbstverständlich. »Das ist die Tochter des Reeders, der…« »Klar, ich weiß Bescheid, Chef.« »Hitcham ist rachsüchtig wie die
Pest.« »Er wird sich an die Kleine ‘ranmachen?« »Ganz bestimmt. Wir werden diese Clanters ab sofort beobachten, Norman, Tag und Nacht. Irgendwann wird Hitcham aktiv werden.« »Er selbst?« »Natürlich nicht, aber er wird einen seiner drei Leibwächter auf sie hetzen. Oder vielleicht sogar alle drei. Dann packen wir zu und lassen uns sagen, wo Hitcham steckt.« »Wird er sich bald rühren?« »Er hat sich irgendwo auf dem Land versteckt, Norman. Und er wird bald Langeweile haben. Ich kenne doch meinen ehemaligen Partner. Also wird er sich ein nettes, kleines Spielzeug besorgen lassen.« »Und dieses Spielzeug ist diese Clanters?« »Richtig. Mit attraktiven Mädchen hat er schon immer gern gespielt.« Ben Atkers lächelte versonnen. »Nein, ich glaube nicht, daß wir besonders lange warten müssen.« »Und die Polizei? Wird die sich nicht auch mit der Clanters befassen?« »Möglich, aber wir werden gerissener sein. Hauptsache, dieser Parker kommt mir nicht in die Quere.« »Und wenn?« »Dann wird nicht lange gefackelt, Norman, dann schlagen wir zu. Ich würde ihm ja normalerweise aus dem Weg gehen, aber bei siebenhun13 �
dertfünfzigtausend Pfund sieht die Sache schon anders aus. Ohne Risiko kein Vermögen.« * Sie war wirklich sehr attraktiv. Patricia Clanters, die Tochter des verstorbenen Reeders und Erbin seines Vermögens, war groß, schlank und verfügte über all jene Rundungen, auf die es ankam. Sie trug knappe Shorts, eine mehr als leichte, tief ausgeschnittene Bluse und befand sich an diesem Nachmittag auf dem Tennisplatz eines exklusiven Clubs in der Nähe von Wimbledon. Sie war eine sportliche Frau und hatte gerade einen älteren Playboy in Grund und Boden gespielt. Patricia Clanters hatte sich ein Handtuch um den Nacken geschlungen und wollte hinauf zum Clubhaus gehen, als sie sich plötzlich einem Mann gegenübersah, der eindeutig nur ein Butler sein konnte. »Parker mein Name«, stellte der Butler sich vor. »Ich habe die Ehre, Lady Simpsons Haus führen zu dürfen.« Die junge Dame sah ihn belustigt an. Parker paßte natürlich überhaupt nicht in diese sportlichungezwungene Umgebung. Er trug seinen schwarzen Zweireiher, die schwarze Melone und hatte trotz des heißen Nachmittags nicht auf seinen altvä-
terlich gebundenen Regenschirm verzichtet. Er sah aus wie ein lebender Anachronismus. »Falls Sie sich verändern wollen, Mr. Parker, ich brauche keinen Butler.« »Mylady schickt meine bescheidene Wenigkeit«, sagte Parker. »Lady Simpson fürchtet im Zusammenhang mit der Flucht eines gewissen Mr. Hitcham um Ihre Sicherheit.« »Hitcham? Ist das nicht dieser Gangster, der von meinem Vater ins Zuchthaus gebracht wurde?« »In der Tat, Miß Clanters. Es steht zu befürchten, daß erwähnter Mr. Hitcham sich an Ihnen rächen möchte.« »Was habe denn ich damit zu tun?« »Die Rachsucht des Mr. Hitcham ist das, was man sprichwörtlich nennt.« »Unsinn, ich habe keine Angst.« Patricia lächelte spöttisch. »Sollen Sie mich etwa bewachen?« »Nicht direkt, Miß Clanters. Mylady würde sich aber recht gern über einen Dauerschutz mit Ihnen unterhalten.« »Sie sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, finde ich.« Patricia Clanters’ Gesicht wurde kühl. »Abgesehen davon, Mr. Parker, Sie machen nicht gerade einen beschützenden Eindruck. Wissen Sie überhaupt, wie man mit 14 �
Gangstern fertig wird?« »Nicht in allen Fällen, wie ich einräumen muß.« »Sind Sie sportlich?« Patricia Clanters sah ihn ironisch an. »Nicht unbedingt«, räumte der Butler erneut ein. »Sie sehen sich einem bereits angejahrten und relativ verbrauchten Mann gegenüber, wenn ich es so umschreiben darf.« »Spielen Sie Tennis?« Ihr schien ein etwas bösartiger Gedanke gekommen zu sein. »Nur in Ausnahmefällen, Miß Clanters.« »Kommen Sie, Mr. Parker! Spielen wir einen Satz. Ich möchte mir ein Bild von Ihnen machen. Wenn sie einigermaßen bestehen, engagiere ich Sie vielleicht als meinen Leibwächter.« »Was keineswegs in meiner Absicht läge, Miß Clanters.« »Nun kommen Sie schon, sonst brauchen wir uns gar nicht weiter über diesen Gangster zu unterhalten. Kommen Sie endlich!« »Ihr Wunsch, Miß Clanters, ist mir natürlich Befehl.« Parker lüftete seine schwarze Melone. »Ich fürchte allerdings, daß ich kaum das abgeben werde, was man gemeinhin eine gute Figur zu nennen pflegt.«
gert und deutete auf den nachlässig gedeckten Tisch. »Konntet ihr nichts anderes auftreiben?« »Wieso, Boß?« fragte Gene Potter achselzuckend. »Ist doch alles da: Schinken, Eier, Chips und Büchsenfisch.« »Ihr Banausen!« Hitcham verzog sein Gesicht. »Der Fraß erinnert mich ans Zuchthaus.« »Da scheint man nicht gerade schlecht zu leben«, frotzelte Paul Corston und merkte Sekunden später, daß er zu weit gegangen war. Er kassierte einen Blick von Hitcham, der ihn frösteln ließ. »Immerhin hast du es mir zu verdanken, daß du in ‘nem Zuchthaus nicht schlemmen brauchtest«, sagte Hitcham dann. »Also schön, Boß, sag’, was du morgen haben willst. Ich werde es ‘ranschaffen.« Der rundliche, stets freundlich wirkende Will Beaford lächelte vermittelnd. »Lange werden wir hier ja sowieso nicht bleiben, oder?« »Wir können noch in der kommenden Nacht losfahren«, schlug Gene Potter vor. »Der richtige Unterschlupf braucht nur bezogen zu werden.« »Ich möchte mal wieder die Rotwurst von Rich Lankwich auf der Zunge haben«, schwärmte Hitcham * und lehnte sich zurück. »Ihr könnt »Ist das alles, was ihr zu bieten � euch einfach nicht vorstellen, wie oft habt?« fragte Fatty Hitcham verär- ich an sie gedacht habe.« 15 �
»Was für Rotwurst?« fragte Paul Corston aus Höflichkeit. »Die hat’s bei uns zu Hause gegeben«, erinnerte sich Hitcham. »War billig, aber erstklassig. Bekamen wir immer am Lohntag. Sagenhafter Geschmack. Ich schmecke sie richtig, wenn ich nur daran denke.« »Also schön, ich werde sie morgen besorgen.« Will Beaford lächelte zustimmend. »Die gibt es nur in Liverpool«, sagte Hitcham. »Nur bei Rich Lankwich, die macht keiner so wie er.« »Liverpool ist ein bißchen weit weg«, meinte Beaford. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, Leute, auf was für verrückte Gedanken man so im Knast kommt«, erzählte Hitcham weiter. »Könnt ihr euch an meine Zigarren erinnern?« »Waren verdammt teuer, oder?« fragte Potter. »Die wurden extra für mich importiert«, redete Hitcham versonnen weiter. »Und auch die Leberpastete aus Dänemark. Das alles gibt es bei Foresters & Foresters in London.« »Den Wodka nicht zu vergessen«, warf Potter ein. »Und auch nicht den Sherry. Ich weiß Bescheid. Ich habe das Zeug ja immer ‘rangeschafft, Boß.« »Auf das alles wirst du vorerst verzichten müssen«, warnte Will Beaford. »Wieso eigentlich?« Hitcham stocherte in den fast kalten Eiern mit
Speck herum, um dann den Teller zurückzuschieben. »Ich wette, daß Foresters & Foresters von der Polizei überwacht werden.« »Richtig, durchaus richtig.« Hitcham Wai’ realistisch genug, um mit dieser Möglichkeit zu rechnen. »Die Leute vom Yard werden an alles denken.« »Bestimmt, Boß.« Will Beaford war froh, daß sein Boß Einsicht zeigte. »Die wiesen über dich genau Bescheid, die kennen alles, was du mal früher getrieben hast.« »Diese Rotwurst«, begann Hitcham nach einer kleinen Pause, »also, die schmeckte nach Majoran und Knoblauch. Und verdammt stark gepfeffert war sie.« »Schmink sie dir ab, Boß«, ließ Paul Corston sich vernehmen. »Die Bullen werden auch von dieser blöden Rotwurst wissen, verlaß dich darauf!« »Woher denn?« Hitcham schüttelte den Kopf. »Das mit der Rotwurst stammt doch aus meiner Jugend.« »Die Bullen forschen alles aus, Boß«, meinte Gene Potter. »Wenn sie dich nicht in London aufspüren, werden sie eben in Liverpool nach dir suchen.« »So nach dem Motto: Zurück in die Schlupfwinkel der Kindheit«, erklärte Will Beaford lächelnd. »Unterschätze den Yard nicht!« Fatty Hitcham zündete sich eine 16 �
der Zigarren an, die man ihm aus Bath mitgebracht hatte. Sie brannte auf seiner Zunge und schmeckte nicht. Er träumte von den ungemein teuren Importen, die er bei einem Glas Sherry geraucht hatte, von seiner Luxuswohnung, die er einst bewohnt hatte, und kam sich hier in dem kleinen Ferienhaus immer noch wie ein Gefangener vor. »Da ist noch etwas«, sagte er schließlich und wandte sich seinen drei Leibwächtern zu. »Das Stichwort heißt Clanters. Ich habe mir wegen seiner Tochter was durch den Kopf gehen lassen. Da ist einiges zu machen, Jungens, um unsere Spuren restlos zu verwischen.« * »Wollen Sie nicht Ihre Melone ablegen?« fragte Patricia Clanters und musterte den Butler mit amüsiertem Blick. »Vielleicht später, falls Sie nicht schon jetzt darauf bestehen.« »Sie werden sich sogar freiwillig den Zweireiher ausziehen«, verhieß sie ihm spöttisch. »Sie wissen doch hoffentlich, wie man einen Tennisschläger hält, oder?« »Theoretisch, Miß Clanters, ist mir dieses Spiel durchaus vertraut«, gab Parker gemessen zurück. »Wenn mich nicht alles tauscht, geht es darum, den über das Netz ankommenden Ball zu retournieren.«
»Richtig.« Patricia unterhielt sich wunderbar. Sie hatte längst mitbekommen, daß man auf der Terrasse des nahen Clubhauses wieder mal auf sie aufmerksam geworden war. Und genau das brauchte sie: Bewunderung und Anerkennung. In ihren Kreisen war sie der Motor für die verrücktesten Unternehmungen. Butler Parker rückte sich seinen schwarzen Binder zurecht, nahm einen Tennisschläger in die Hand und begab sich auf den Platz. Er war bereit, Patricia Clanters ein wenig zu unterhalten, um danach ernst mit ihr zu reden. Ihr Aufschlag war hart. Sie wollte von Beginn an zeigen, wer hier Tennis spielte, deshalb diesen in ihren Augen arroganten Butler demütigen und lächerlich machen. Sie wollte ihn hetzen, bis er in Schweiß gebadet war. Die junge Dame wollte ihn praktisch am Boden zerstören. Ihr Aufschlag hätte auch einen erfahrenen Spieler in Verlegenheit gebracht. Der Ball kam plaziert und landete dicht vor der Seitenlinie. Parker retournierte, wie er es ausdrückte. Scheinbar mühelos erreichte er den Ball, und man hatte den Eindruck, daß es reiner Zufall gewesen war. Er spielte den Ball zurück und sorgte dafür, daß die junge Dame ein wenig laufen mußte, um ihn im letzten Moment noch zu erreichen. 17 �
Sie drosch ihn zurück, aber sie setzte den Ball hinter die Grundlinie. Höflich, wie Parker nun mal war, lüftete er entschuldigend seine schwarze Melone, um dann den nächsten Ball zu erwarten. Patricia Clanters schlug noch härter auf. Butler Parker stand aber wiederum goldrichtig, parierte, nahm den Ball auf und spielte ihn elegant zurück. Seine Bewegungen waren erstaunlich gemessen und immer noch mühelos. Er schien jeden Tag ein paar Trainingsstunden zu absolvieren. Patricia Clanters’ Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. Sie begriff einfach nicht, wieso dieser komische Mensch nicht in Verlegenheit zu bringen war. Sie strengte sich an, aktivierte all ihr Können und verlor den ersten Satz, ohne auch nur einen einzigen Punkt zu machen. Parker hatte sie diskret herumgehetzt. Und sie war es jetzt, der der Schweiß in dichten Perlen auf der Stirn stand. Die Zuschauer auf der Terrasse lästerten langst nicht mehr über diesen Butler, der nach wie vor einen völlig trockenen Eindruck machte. Sein schwarzer Binder hatte sich nicht um einen Millimeter gelockert, das zweireihige Jackett saß korrekt, der Sitz der Hose war tadellos. Nun war der Aufschlag an den
Butler übergegangen. Parker ging es nicht darum, Miß Clanters seine Überlegenheit zu demonstrieren. Er wollte so schnell wie möglich mit ihr reden. Daher beeilte er sich, die junge Dame so zu ermüden, daß ihr die Lust an weiteren Sätzen verging. Parker gewann diesen Satz ebenfalls in Rekordzeit. Patricia Clanters mußte ein As nach dem anderen hinnehmen. Sie hatte überhaupt keine Chance, Parkers Bälle zu erreichen. Entweder erwischte sie sie auf dem falschen Fuß, oder aber die Bälle kamen mit solcher Härte und Geschwindigkeit, daß der Schläfer ihr fast aus der Hand gerissen wurde. Keuchend und entmutigt steckte sie auf. Sie schaute den Butler kopfschüttelnd an und begriff nicht, wie ihr so etwas passieren konnte. »Seit… Seit wann spielen Sie eigentlich Tennis?« erkundigte sie sich, während sie sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht wischte. »Nun das war mein erstes Spiel, wenn ich es recht betrachte«, sagte der Butler. »Unmöglich, das kann nicht sein! Bei wem haben Sie diesen tollen Aufschlag gelernt?« »Aus einem Handbuch für das Spielen von Tennis«, lautete die überraschende Antwort. »Ich muß allerdings gestehen Miß 18 �
Clanters, daß ich dieses Fachbuch nur recht oberflächlich lesen konnte. selbstverständlich leidet mein Spiel noch unter jenen Mängeln, mit denen Anfänger zu kämpfen haben.« »So etwas wie Sie habe ich noch nie erlebt.« Sie schüttelte den Kopf. »Und komisch, Mr Parker, ich bin noch nicht mal sauer auf Sie.« »Was meine bescheidene Wenigkeit glücklich macht, Miß Clanters. Wären Sie jetzt unter Umständen bereit, sich mit mir Ober gewisse Dinge zu unterhalten?« »Ich springe schnell unter die Dusche.« Patricia nickte. »Sie haben gewonnen, Mr Parker. Ich denke, ich sollte mir anhören, was Sie mir zu sagen haben.« »Wo darf ich auf Sie warten, Miß Clanters?« »In der Lounge des Clubs«, erwiderte sie. »Bis gleich.« Parker lüftete seine schwarze Melone, übersah souverän die neugierigen Blicke der Clubmitglieder und der Gäste, lustwandelte aber nicht ins Clubhaus, sondern schaute sich die Nebenanlagen des Clubs an. Waren auf Patricia Clanters bereits einige Gangster angesetzt worden? Interessierte man sich bereits für sie? Diese Interessenten mußten Parkers Meinung nach nicht unbedingt zu Hitchams Kreaturen gehören. Parker hatte da sehr private Vorstellungen und Theorien.
Der kleine Spaziergang sollte sich für ihn lohnen. Parker bemerkte in der Höhe der parkenden Wagen eine Bewegung. War dort nicht gerade ein Mann gewesen, der jetzt blitzschnell hinter einem Wagen Deckung nahm? Butler Parker tat natürlich so, als habe er nichts gemerkt. Er ging zurück zur Ecke der Terrasse, dann durch die Halle und wählte einen Nebenausgang, der in den Wirtschaftshof der Küche führte. Von hier aus erreichte er den Parkplatz. Schon wenige Minuten später entdeckte er einen jungen Mann, seiner Schätzung nach etwa dreißig Jahre alt. Dieser junge Mann hatte überhaupt keine Ahnung, daß er beobachtet wurde. Er beäugte seinerseits die Terrasse und fuhr zusammen, als Parker sich diskret räusperte. Der junge Mann blieb für eine Sekunde wie erstarrt stehen, um sich dann blitzschnell umzudrehen und gleichzeitig zum Schlag auszuholen. Das geschah völlig instinktiv. »Einen schönen Tag erlaube ich mir zu wünschen«, sagte Parker und registrierte, daß der junge Mann sich gut zu kontrollieren wußte. Er ließ den erhobenen Arm nämlich langsam sinken. »Tag«, sagte der junge Mann. »Kann und darf ich Ihnen behilflich sein?« Parker lüftete grüßend die schwarze Melone. 19 �
»Wieso? Ich komme allein zurecht. Was schleichen Sie hinter mir her?« »Ich würde das an Ihrer Stelle als einen puren Zufall betrachten«, gab der Butler zurück. »Falls ich Sie jedoch inkommodiert haben sollte, bitte ich dies entschuldigen zu wollen.« »Schon gut.« Der pomadig aussehende junge Mann winkte ab und ging. »Ach, noch etwas, bitte.« »Was ist denn?« Der junge Mann blieb stehen und wandte sich um. »Meine besonderen Grüße an Mr. Ben Atkers«, erwiderte Parker höflich und bescheiden, wie es seiner Art entsprach. »Richten Sie ihm doch bitte aus, daß es Eisen gibt, die man als überheiß bezeichnen kann. Mr. Atkers sollte dieserhalb mal mit meiner bescheidenen Wenigkeit Kontakt aufnehmen. Vielleicht dient es seiner Gesundheit und einem längeren Leben.« * »Verblüffend«, sagte Agatha Simpson. Sie wollte noch mehr sagen, doch dazu sah sie sich im Moment außerstande. Sie schluckte und kämpfte gegen ihre Bewunderung an. Die ältere Dame befand sich in ihrem Wohnraum und sah sich zwei jungen Damen gegenüber, die sich wie ein Ei dem anderen glichen.
Zwillinge hätten nicht identischer sein können. »Mylady sind zufrieden?« erkundigte sich Josuah Parker, der hinter den scheinbaren Zwillingen erschien. »Nun ja«, meinte Lady Agatha und hatte sich wieder unter Kontrolle. »Recht hübsch.« »Mylady sind in der Lage, die richtige von der falschen Miß Clanters zu unterscheiden?« wollte Parker wissen. »Natürlich könnte ich das, aber ich möchte Sie nicht enttäuschen.« Die energische Dame ärgerte sich natürlich wieder mal über die Fertigkeit ihres Butlers. Er hatte Kathy Porter, ihre Sekretärin und Gesellschafterin in Patricia Clanters verwandelt. Als ein Meister der Maske war ihm ein Kunstwerk geglückt, doch das wollte sie nicht zugeben. »Bin ich Patricia Clanters?« fragte die rechte der beiden jungen Damen. »Oder bin ich Patricia Clanters?« wollte die andere wissen. Geste und Redeweise stimmten völlig überein. Lady Agatha hätte nicht sagen können, wer die richtige Patricia Clanters war. »Schnickschnack«, entgegnete die Detektivin unwillig. »Lassen wir doch diese Albernheiten. Besprechen wir lieber den Plan, den ich Mr. Parker auseinandergesetzt habe.« Das stimmte zwar nicht, denn der 20 �
Plan stammte natürlich von Parker, der jedoch höflich auf jede Korrektur verzichtete. Die beiden Patricias nahmen Platz und machten sich einen Spaß daraus, ihre Bewegungen zu synchronisieren. Agatha Simpson billigte das überhaupt nicht. Sie fühlte sich auf den Arm genommen und schnaubte unwillig. »Fangen Sie an, Mr. Parker«, raunzte sie ihren Butler an. »Mylady gehen davon aus, daß Hitcham versuchen wird, sich an Miß Clanters zu rächen«, faßte Parker zusammen. Er stand steif, als habe er einen Ladestock verschluckt, vor dem Tisch. »Mylady rechnen ferner damit, daß Miß Clanters in diesem Zusammenhang von Mr. Fatty Hitcham entführt wird.« »Ich weiß es!« Sie nickte grimmig. Lady Simpson sah bereits alles deutlich vor sich. »Aus diesem Grund wurde ein gewisser Austausch vorgenommen«, redete der Butler weiter. »Miß Porter übernimmt ab sofort die Rolle von Miß Patricia Clanters, während Miß Clanters ebenfalls ab sofort die Rolle von Miß Porter übernehmen wird.« »Sie werden sich von Hitchams Subjekten entführen lassen, Kindchen.« Agatha Simpson war klug genug, keine der beiden Patricia Clanters’ anzusehen. Sie wußte nämlich immer noch nicht, wer die richtige Reedertochter war. »Sobald man
Sie in sein Versteck gebracht hat, werden Sie mich informieren. Mr. Parker wird Sie technisch so ausrüsten, daß es keine Panne gibt.« »Sehr wohl, Mylady«, sagten die beiden Patricias wie aus einem Mund, worauf Agatha Simpson leicht verstört wirkte. »Miß Clanters bleibt in meiner Nähe und spielt meine Sekretärin«, erläuterte die ältere Dame. »Sie wird ab sofort unter meinem persönlichen Schutz stehen.« »Sehr wohl, Mylady«, gaben die beiden Patricias gehorsam zurück. Lady Agatha schnaubte und wollte aufbrausen, unterließ es aber dann, um sich keine Blöße zu geben. »Das ist der Plan«, bestätigte der Butler noch mal. »Er ist nicht ungefährlich, wie ich bemerken möchte. Fatty Hitchams Reaktionen sind nicht berechenbar. Die falsche Miß Clanters wird noch heute London verlassen und sich in eine geographische Position begeben, die Mr. Hitcham förmlich einlädt, aktiv zu werden.« Die beiden Patricia Clanters’ sahen ihn schweigend an. »Die falsche Miß Clanters«, redete er weiter, »wird nicht ohne einen gewissen zusätzlichen Schutz sein. Ich war so frei, einen recht dubiosen Mann zu engagieren. Sein Name ist Ben Atkers. Er entstammt der Unterwelt und ist daran interessiert, Hitcham einen Streich zu spielen. Es 21 �
handelt sich dabei um eine persönliche Rechnung, die hier nicht näher erörtert zu werden braucht. Mr. Ben Atkers und seine rechte Hand, ein Mann namens Norman Scott, werden in der Nähe von Miß Clanters bleiben.« »Alles klar«, sagte die erste Patricia Clanters und nickte. »Keine Fragen«, fügte die zweite Patricia Clanters hinzu. Sie nickte Lady Simpson zu und folgte dem Butler, der den Wohnraum verließ. Lady Agatha wartete, bis beide in der großen Wohnhalle verschwunden waren. Dann beugte sie sich vor, zwinkerte der zurückgebliebenen Patricia Clanters vertraulich zu und lächelte wissend. »Mein Kompliment, Kindchen«, sagte sie dann leise. »Ihre Maske als Patricia Clanters ist überzeugend, aber Parker braucht das nicht unbedingt zu hören, er wird sonst übermütig.« »Ich werde selbstverständlich kein Wort sagen, Mylady«, gab die zurückgebliebene Patricia Clanters zurück. »Aber Ihr Butler ist Spitze, Mylady.« »Sie… Sie sind die richtige Patricia?« Lady Agatha schnaufte. »Das haben Sie nicht sofort erkannt?« Patricia Clanters lachte. »Natürlich habe ich das sofort durchschaut«, schwindelte die Detektivin prompt. »Mich täuscht man nicht, Miß Clanters. Ich durch-
schaue jeden Trick. Ich… ich… Ah… Ich wollte mir nur einen kleinen Spaß mit Ihnen machen!« * »Boß, das ist heller Wahnsinn«, sagte Gene Potter beschwörend. »Warum wartest du nicht noch ein paar Tage? Wenigstens eine Woche!« »Seid ihr im Bau gewesen oder ich?« Fatty Hitcham war leicht angetrunken. Seine drei Leibwächter wußten aus Erfahrung, wie gefährlich und unberechenbar ihr Boß jetzt war. »Tage waren lang wie Wochen. Und Wochen wie Jahre. Ihr habt ja keine Ahnung, wie so was ist! Ich hab’s satt, mich wie eine Ratte verkriechen zu müssen.« »Wir legen nur unnötig Spuren aus, Boß«, warnte Paul Corston fast beiläufig. Er kannte Hitcham sehr genau. Was der Boß sich mal in den Kopf gesetzt hatte, war ihm nicht mehr auszureden. »Einen Dreck legen wir aus«, brauste Hitcham auf. »Seid ihr nun Profis oder nicht?« »Schon gut, Boß, schon gut.« Will Beaford lächelte beschwichtigend wie stets. »Du wirst dein Zeug bekommen. Ich kann dich verstehen.« »Natürlich werde ich es bekommen!« Hitcham nickte und verließ das kleine Haus. Draußen war es 22 �
inzwischen dunkel geworden. Er brauchte keine Entdeckung zu befürchten. Er zündete sich hinter dem niedrigen Steinschuppen eine Zigarette an und lehnte sich gegen die Mauer. Hier draußen fühlte der Gangsterboß sich freier, konnte endlich wieder atmen. Er sah zum nahen Avon hinunter, der durch das Tal floß, schloß die Augen und dachte an die Monate im Zuchthaus. In ihm brannte ein schrecklicher Haß. In ihm war eine Gier nach Leben. Immer wieder hatte er es sich in seiner Zelle ausgemalt, endlich wieder ein freier Mensch zu sein. Er wollte alles nachholen, was ihm während der Zeit im Zuchthaus verwehrt war. Und er wollte seine Rache haben, sie voll auskosten. Daß er ein Risiko einging, war ihm völlig klar, doch das machte ihm nichts aus. Er hatte gute Leute um sich, erstklassige Profis. Sie hatten ihn nicht aus Anhänglichkeit befreit, gewiß nicht. Sie waren gierig auf das Geld, dessen Versteck nur er allein kannte. Wie die Wölfe würden sie über ihn herfallen, falls sie nur eine Chance witterten, ihn auszuplündern. Er hatte ihnen klar gemacht, daß ihnen das nicht bekommen würde. Ihre Beteiligung an der damaligen Schießerei im Büro des Reeders Clanters war schriftlich niedergelegt
worden. Es gab in London eine Person, die diese Papiere sofort an die Polizei weiterreichen würde, falls ihm etwas zustieß. Diese Sicherung allein aber war es nicht, die Hitcham beruhigte. Jeder der drei Leibwächter glaubte, sich irgendwann mal allein in den Besitz der Beute bringen zu können. Potter, Corston und Beaford belauerten sich gegenseitig und trauten sich nicht über den Weg. Ihre Gier war seine, Hitchams, Sicherheit. Dabei ahnten sie alle drei nicht, daß Hitcham ihren Tod längst beschlossen hatte. Er wollte sich seiner Mitwisser entledigen und wartete nur auf die passende Gelegenheit. Sie sollten sich möglichst gegenseitig an die Kehlen fahren und umbringen. Dazu brauchte es nicht viel Phantasie und Regie. Hitcham fühlte sich wieder stark und unbesiegbar. Schlauheit gegen Brutalität! Damit mußte er es schaffen. Wütend warf er die Zigarette zu Boden und trat sie mit dem Absatz aus. Seine Gedanken waren abgeirrt und beschäftigten sich mit Butler Parker. Zuviel hatte er im Zuchthaus von diesem skurrilen Mann gehört. Instinktiv wußte er, daß er nur diesen einen Mann zu fürchten hatte. War es nicht richtig, ihn so schnell wie möglich umbringen zu lassen? 23 �
Ihn und diese verrückte alte Lady? * Es war früher Morgen, als Butler Parker in Liverpool eintraf. Er hatte einen Nachtzug genommen und die Fahrt im Schlafwagenabteil zugebracht. Parker war ausgeruht und voller Tatendrang, als er sich von einem Taxi in jenes Viertel bringen ließ, in dem der Gangsterboß aufgewachsen war. In der Nähe der Baumwollbörse stieg er aus und ging hinunter zu den Docks. Das Gewirr der engen Straßen und Gassen erinnerte ihn an ein Labyrinth. Parker hatte den Stadtplan jedoch genau im Kopf und wußte, welchen Weg er zu nehmen hatte. In der Nähe der CanningDocks fand er die schmale, häßliche Straße, in der der Fleischerladen des Mr. Richard Lankwich lag. Es war ein kleines Geschäft mit zwei schmalen Schaufenstern, in denen es nur Plastikblumen gab. Die Fleischerei war noch geschlossen. Butler Parker betrat eine Teestube und nahm an einem Tisch in Fensternähe Platz. Natürlich fiel er hier in dieser ärmlichen Umgebung auf, doch man übersah ihn. Die Teestube war bereits gut besucht. Docker kamen und gingen, sie akzeptierten jedoch nach guter britischer Sitte sein Aussehen. Auf der Insel hatte schließlich
jeder das Recht, sich so zu kleiden und zu geben, wie er es wünschte. Parker nippte an dem starken Tee und beobachtete die Fleischerei, deren eiserner Rolladen vor der Ladentür gerade hochgekurbelt wurde. Zu Parkers Tugenden gehörte vor allen Dingen eine immense Geduld. Er trank einen zweiten Tee und schaute in kurzen Abständen immer wieder hinüber zur Fleischerei. Was er hier in Liverpool trieb, war eine Art Lotteriespiel. Er setzte auf die Gier Hitchams. Er hatte sich in die Gedankenwelt des Gangsterbosses versetzt und konnte sich gut vorstellen, daß dieser Mann nach seiner Flucht und nach einem Jahr Gefängiskost unbedingt wieder von jener Rotwurst kosten wollte, von der er während seiner Zeit in Untersuchungshaft einem Reporter gegenüber gesprochen hatte. Das heißt, er hatte eigentlich mehr von Liverpool gesprochen, der Hinweis auf die Rotwurst war von Leuten aus Liverpool gekommen, die zusammen mit ihm in der Nähe der Docks aufgewachsen waren. Als Parker sich gerade eine dritte Tasse Tee bestellen wollte, hielt ein staubbedeckter Wagen vor der Fleischerei, der ein Londoner Kennzeichen trug. Der Butler verzog keine Miene. In seinem Innern aber schlug bereits die Alarmglocke. Seine – Parkers – 24 �
Rechnung schien bereits aufzugehen. Aus dem Wagen stieg ein etwa dreißig Jahre alter junger Mann. Er war mittelgroß, schlank und hatte tiefschwarzes Haar. Er erinnerte den Butler an einen Inder. Dieser junge Mann ging auf die Ladentür zu, blieb kurz stehen und schaute dann prüfend in beide Straßenrichtungen. Jetzt wußte der Butler bereits mehr. Der Beobachtete war auf keinen Fall ein gewöhnlicher Kunde. Sein Verhalten deutete daraufhin, daß er es gewohnt war, seine Schritte abzusichern. Zudem schien er eine Schulterhalfter zu tragen, die gewiß nicht leer war. Hatte Hitcham einen seiner Fluchthelfer losgeschickt, um die heißbegehrte Rotwurst einzukaufen? Wie Hitchams Leibwächter aussahen, wußte Parker leider nicht. Von diesen Männern gab es keine Fotos, die in den Zeitungen seinerzeit veröffentlicht worden waren. Parker sah den jungen Mann vor der Ladentheke. Er rauchte eine Zigarette und kam in kurzen Abständen immer wieder an eines der beiden schmalen Schaufenster, um einen wachsamen Blick nach draußen auf die Straße zu werfen. Parker zahlte seinen Tee und verließ in dem Moment die Teestube, als der junge Mann, der äußerlich an
einen Inder erinnerte, zurück zur Fleischereitheke ging, um dort ein großes Paket in Empfang zu nehmen. Der Butler blieb neben einem Schaufenster stehen und wartete auf den Käufer, der wenig später aus der Fleischerei kam und schnell zu seinem Morris ging. »Entschuldigen Sie gütigst meine Unhöflichkeit«, sagte Parker. »Normalerweise würde ich selbstverständlich grüßend meine Kopfbedeckung abnehmen. Aber aus Gründen der Sicherheit möchte ich in diesem Fall darauf verzichten.« Der Käufer blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte schwer an dem großen Paket zu tragen und keine Hand frei. Zudem nahm er zur Kenntnis, daß Parker seine rechte Hand in den schwarzen Zweireiher geschoben hatte, eine Geste, die diesem Profi bereits alles sagte. »Wer… Wer sind Sie?« fragte der Käufer. »Auf keinen Fall ein Mann, der sich dadurch verblüffen ließe, falls man ihm ein Paket entgegenschleudern würde«, antwortete Parker. »Aber darüber hinaus beantworte ich gern Ihre Frage: Mein Name ist Parker, Josuah Parker.« Der junge Mann antwortete mit einem ordinären Schimpfwort, hütete sich aber, wie geplant, diesem Butler das Paket gegen den Körper zu werfen. 25 �
»Steigen wir doch ein«, bat Parker höflich. »Mr. Hitchams Appetit auf die Rotwurst scheint tatsächlich unbezwingbar gewesen zu sein.« »Dieses Rindvieh!« Der junge Käufer bewegte sich sehr vorsichtig. Er war fest davon überzeugt, daß der Butler ebenfalls eine Schulterhalfter samt Inhalt trug. Er warf das gut verschnürte Paket auf den Rücksitz und nahm vor dem Steuer Platz. »Steigen wir doch gemeinsam von der anderen Seite ein«, schlug der Butler vor. »Ich fürchte ehrlich. Sie könnten sich sonst zu gewissen Unbesonnenheiten hinreißen lassen.« Der junge Mann stieg wieder aus, gelangte über die Beifahrerseite in den Wagen und hütete sich davor, eine unbedachte Bewegung zu machen, die sein Begleiter falsch auslegen konnte. Parker nahm auf dem Beifahrersitz Platz und nickte dem jungen Mann höflich zu. »Fahren wir, wenn ich diesen Vorschlag machen darf. Ich unterstelle übrigens, daß Sie nicht das machen werden, was man im Volksmund Dummheit nennt. Ich möchte nicht verhehlen, daß ich Sie für intelligent halte.« * Mr. Brian Foresters von Foresters & Foresters in London verbeugte sich tief, als er Lady Simpson gegenüber-
stand. Foresters war ein beleibter, sehr gut gekleideter Mann von sechzig Jahren, weißhaarig und seriös aussehend. Er trug zu gestreiften Beinkleidern eine Art Cut, einen Eckkragen und eine schwarze Krawatte. Sein Delikatessengeschäft sah von außen her fast unscheinbar und bedeutungslos aus, bot im Innern aber ein wahres Paradies für Feinschmecker. »Es ist mir eine Ehre, Mylady«, versicherte er der älteren Dame, die zusammen mit ihrer Sekretärin und Gesellschafterin erschienen war. Es handelte sich jedoch um die falsche Kathy Porter. Patricia Clanters hatte sich in Myladys Begleiterin verwandelt. Die Ähnlichkeit war frappierend. »Ob es für Sie eine Ehre sein wird, wollen wir doch erst mal abwarten«, sagte Agatha Simpson mit ihrer tiefen Stimme. »Es war schon stets der Wunsch unseres Hauses, Mylady dienen zu dürfen«, sagte Brian Foresters. »Darf ich Mylady in mein Büro bitten?« »Natürlich dürfen Sie, junger Mann.« Die Detektivin nickte gewährend und schaute sich prüfend in dem Geschäft Um. Das Personal, lauter Herren im gesetzten Alter, gekleidet wie Gäste eines Staatsaktes, bedienten die Kundschaft leise, aufmerksam und schnell. Das Büro und seine Einrichtung 26 �
schien aus der Zeit Charles Dickens’ zu stammen. Die Wände waren bis zur Decke mit Holzpaneelen verkleidet, die Messinglampen schienen noch mit Gas betrieben zu werden. »Noch stehe ich lieber«, raunzte Lady Simpson den Besitzer des Büros an. »Ob ich mich setzen werde, muß sich noch erweisen, Mr. Foresters.« »Was darf mein Haus für Sie tun?« erkundigte sich Brian Foresters eifrig. An einer Kundin wie Lady Simpson, die ihm natürlich nur zu gut bekannt war, war ihm sehr gelegen. Er wußte um ihre gesellschaftliche Stellung. »Sie haben noch vor einem Jahr ein Individuum namens Hitcham bevorzugt beliefert, nicht wahr?« Brian Foresters erlitt daraufhin einen mittelschweren Hustenanfall und bekam einen roten Kopf. »Gegen meinen Willen, Mylady, gegen meinen Willen«, beteuerte er. »Aber gegen gutes Geld, nicht wahr?« »Und aus nackter Angst, Mylady. Ich hatte keine andere Wahl. Zuerst wollte ich jede Lieferung ablehnen, doch dann mußte ich mich beugen. Mit blutendem Herzen, wie Sie mir glauben müssen.« »Dieses Subjekt namens Hitcham bevorzugte bestimmte Zigarren, einen bestimmten Wodka, dann eine ausgesuchte Leberpastete und einen erlesenen Sherry, nicht wahr?«
»Mylady wissen sehr gut Bescheid.« Brian Foresters nickte fasziniert. »Wann traf seine neue Bestellung ein?« fragte Lady Agatha unvermittelt und direkt. »Schon gestern, oder erst heute morgen?« »Heute mor… Mylady!« Brian Foresters hatte sich überrumpeln lassen und erlitt erneut einen Hustenanfall, der bereits als schwer zu bezeichnen war. »Wann sollen die Waren abgeholt werden, junger Mann? Oder anders gefragt, wohin sollen sie geschickt werden?« »Mylady, Sie bringen mich in die größte Verlegenheit.« »Worauf Sie sich verlassen können, falls Sie nicht schnell und ehrlich antworten.« »Mylady, ich weiß nicht mit Sicherheit, ob diese Bestellung heute morgen von Mr. Hitcham aufgegeben worden ist.« »Sehr schön, Mr. Foresters, dann können Sie ja auch meine Frage unbesorgt beantworten. Also, zieren Sie sich nicht! Ich habe das nicht besonders gern.« »Also, die Ware soll an eine Adresse in Swindon geschickt werden. Warten Sie, ich sehe genau nach.« Brian Foresters sortierte einige Papiere durch und hob dann einen Bestellschein hoch. »Sie geht an einen Mr. Hamway. Die genaue Adresse werde ich Ihnen gern auf27 �
schreiben, Mylady.« »Was ich mir auch ausgebeten haben möchte. Soll die Ware per Post verschickt werden?« »Per Eilboten, Mylady, im hauseigenen Zustelldienst, also mit einem Firmenwagen.« »Das klingt recht erfreulich, Mr. Foresters. Ich glaube, ich werde in Zukunft bei Ihnen hin und wieder ein paar Kleinigkeiten einkaufen lassen.« »Mylady machen mich glücklich.« »Papperlapapp, junger Mann. Wann geht die Ware auf den Weg?« »Sie ist bereits auf dem Weg, Mylady«, antwortete Brian Foresters und zog unwillkürlich den Kopf ein. »Der Wagen ist vor einer halben Stunde losgefahren.« »Und das sagen Sie mir erst jetzt?« Sie musterte ihn mit einem geradezu vernichtenden Blick, wurde dann aber abgelenkt, als ein Angestellter nach kurzem Anklopfen eintrat. »Was ist denn?« fragte Foresters wie ein Mensch, den nichts mehr zu erschüttern vermag. »Ein Mr. McWarden möchte Sie sprechen«, sagte er und wollte noch etwas hinzufügen, was sich wohl auf den Titel des Besuchers beziehen sollte. »Stören Sie jetzt nicht«, raunzte Lady Simpson den Angestellten an, bevor er wirklich den Titel nennen konnte. »Kommen Sie später noch mal! Sagen wir in zehn Minuten.«
»Sie haben doch gehört, oder?« Brian Foresters schickte den Angestellten mit einer müden Bewegung aus dem Büro und sah dann Lady Simpson ergeben an. »Ich glaube, ich war ein wenig zu unbeherrscht Ihnen gegenüber«, sagte die ältere Dame mit überraschender Liebenswürdigkeit. »Wahrscheinlich wird mein Butler in Zukunft nicht nur ein paar Kleinigkeiten bei Ihnen kaufen. Wir sollten das alles in meinem Haus ausführlich besprechen.« »Jederzeit, Mylady.« Foresters schluchzte fast dankbar auf. Die Sonne des Wohlwollens strahlte auf ihn herab. »Dann sofort.« Agatha Simpson war nicht daran interessiert, daß Superintendent McWarden draußen im Laden zu schnell Kontakt mit Foresters aufnehmen konnte. »Haben Sie hier so etwas wie einen Privatausgang?« »Aber selbstverständlich, Mylady.« »Worauf warten Sie eigentlich?« Jetzt raunzte sie wieder. »Ich lade Sie zu mir in mein Haus ein. Wollen Sie mir etwa einen Korb geben?« Brian Foresters hüstelte vor Aufregung und eilte voraus. Nun hätte er vor Glück und Freude am liebsten geweint. Er hatte eine Kundin gewonnen, um den die Konkurrenz ihn glühend beneiden würde.
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»Warum sagen Sie nichts?« fragte der junge Mann, der wie ein Inder aussah. Er lenkte den Morris durch die Stadt und hütete sich, eine bestimmte Richtung zu bevorzugen. »Wohin soll es denn gehen?« »Wir sollten nichts überstürzen«, antwortete Josuah Parker, der den jungen Fahrer inzwischen entwaffnet hatte und nun im Besitz einer Waffe war, »Mr. Hitcham wird auf seine Rotwurst noch etwas warten müssen.« »Sie glauben nicht, daß ich lhn verpfeifen werde, wie?« »Natürlich nicht.« Parker schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Wer verzichtet schon gern auf ein Vermögen.« »Ich höre immer Vermögen.« »Siebenhundertfünfzigtausend Pfund«, redete Joshua Parker weiter. »Mr. Hitcham ist ein reicher Mann.« »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« fragte der junge Mann. »Mich können Sie nicht aufheizen.« »Nichts liegt mir ferner als das«, antwortete Packer höflich. »Sie sind Mr. Hitcham in Treue verbunden, wie ich bereits deutlich herausgehört zu haben glaube.« »Sie reden immer von einem Hitcham«, gab der junge Mann zurück. »Wer ist das? Ich muß den Namen doch schon mal gehört haben.«
»Sie sind einer seiner drei Leibwächter«, erwiderte Parker. »Diese Tatsache sollten wir nicht weiter diskutieren. Sie haben für Mr. Hitcham von jener köstlichen Rotwurst geholt, die er so sehr zu schätzen scheint.« »Denken Sie, was immer Sie wollen. Wie soll’s denn jetzt weiter gehen? Ich sterbe nicht gerade vor Angst, seitdem Sie neben mir sitzen.« »Wie richtig Sie mich doch einschätzen.« Parker nickte zustimmend. »Von mir droht keine Gefahr, von meiner bescheidenen Wenigkeit auf keinen Fall.« »Sondern?« Der junge Mann – es handelte sich um Gene Potter – hatte die Innenstadt längst verlassen und befand sich auf der Ausfallstraße in Richtung Birmingham. Er hatte absichtlich diese Route gewählt, um Butler Parker zu täuschen. »Ihre Gefahr heißt Mr. Hitcham«, antwortete Parker, der gegen diese Fahrtrichtung bisher nichts einzuwenden hatte. »Als Realist wissen Sie, daß ein Mann wie Hitcham nicht teilen wird. Er wird und will seine Beute allein genießen.« Der junge Mann antwortete nicht, sondern konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Für die nächsten zehn Minuten hatte er jeden Trick vergessen. Die Person dieses Butlers faszinierte ihn. Solch einem Menschen war er noch nie begegnet. 29 �
»Darüber hinaus haben Sie mit weiteren zwei Gaunern zu tun«, warnte Josuah Parker inzwischen würdevoll weiter. »Es handelt sich um Ihre beiden Partner, wie Sie ja längst wissen. Auch sie werden nicht gern teilen wollen.« »Sie wollen uns aufeinander hetzen, wie?« Gene Potter lachte leise auf, doch dieses Lachen war weder überlegen noch amüsiert. »Müßte ich mich darum wirklich noch bemühen?« Parker schüttelte den Kopf. »Sie alle sind Todfeinde. Sie werden übereinander herfallen wie gierige Raubtiere. Die Frage ist, wer dann schneller sein wird und überlebt.« »Wann kommt Ihr Angebot?« fragte Gene Potter. »Angebot?« Parker schien nicht zu verstehen. »Na ja, das Angebot, gegen Honorar für Sie zu arbeiten, oder?« »Aber nein, da haben Sie meine bescheidene Person gründlich mißverstanden. Ein Angebot kann ich Ihnen nicht machen. Sie können mich übrigens an der nächsten Tankstelle absetzen und Ihre Rotwurst dann zu Mr. Hitcham bringen.« »Moment mal, Sie wollen aussteigen? Sie wollen mich einfach allein weiter fahren lassen?« »In der Tat! Was gesagt werden mußte, ist inzwischen bereits gesagt worden.«
»Da ist doch ein fauler Trick bei.« »Ein gesundes Mißtrauen ist stets anzuempfehlen«, gab der Butler zurück. »In diesem Fall jedoch haben Sie nichts zu befürchten.« »Ich soll Sie wohl zu Hitcham führen, wie?« »Ich glaube kaum, daß ein Verfolger Sie beschatten könnte«, meinte Parker. »Dazu sind Sie schließlich ein Profi. Übrigens, doch das nur am Rande, überlegen Sie sehr sorgfältig, ob Sie Ihren beiden Freunden und Mr. Hitcham von unserem Kontakt erzählen! Es könnte unter Umstanden völlig mißverstanden und mißgedeutet werden. Dort kommt eine Tankstelle. Sie können anhalten.« »Ich soll Ihrer Meinung nach nicht sagen, daß Sie mich abgefangen haben?« »Diese Entscheidung liegt einzig und allein bei Ihnen. Sie werden verstehen, daß ich das Magazin Ihrer Faustfeuerwaffe auf den Rücksitz werfe, nicht wahr?« Während Parker noch sprach, warf er das Magazin auf den Rücksitz. Die Waffe selbst schob er weit unter seinen Sitz. Der junge Mann war deshalb nicht in der Lage, seine Waffe zu ergreifen und blitzschnell wieder zu laden. Der Morris stoppte. Parker lüftete höflich seine schwarze Melone, als er ausstieg. »Ich wünsche eine gute Fahrt«, sagte er gemessen. »Ich nehme an, 30 �
Sie werden jetzt einen weiten Umweg machen, um zurück zum Versteck Mr. Hitchams zu gelangen. Hier ist meine Visitenkarte, prägen Sie sich meine Telefonnummer ein, aber denken Sie auch daran, die Karte zu vernichten! Selbst wenn Sie mich unter dem Anschluß nicht persönlich erreichen, können Sie Ihre Nachricht auf Band sprechen. Ich werde es von Zeit zu Zeit abhören und mich informieren.« »Sie sind ein verdammt raffinierter Hund!« Gene Potter starrte den Butler nachdenklich an. »In der Wahl Ihrer Ausdrücke sind Sie nicht gerade sorgfältig.« »Sie wollen mir einen Floh ins Ohr setzen.« »Ich war so frei, Ihnen nur das zu sagen, was Sie bereits denken«, entgegnete Butler Parker. »Ich erlaube mir, Ihnen noch eine gute Weiterfahrt zu wünschen.« Er deutete eine mehr als knappe Verbeugung an und ging dann hinüber zum nahen Tankstellengebäude, ohne sich weiter um den Morris zu kümmern. Er wußte natürlich, daß der Wursteinkäufer ihm völlig verdutzt nachsah, er wußte aber auch, daß dieser junge Mann ab sofort befangen war und nachdenken würde. Genau darauf war es ihm angekommen. Darüber hinaus transportierte der Fahrer jetzt einen kleinen Sender, den Parker im Morris zurückgelas-
sen hatte… * Lady Agatha Simpson befand sich in ihrem Element. Sie saß am Steuer von Kathy Porters Mini-Cooper und brauste über die Ausfallstraße in Richtung Swindon. Sie freute sich, Superintendent ein Schnippchen McWarden geschlagen zu haben. Er war ganz sicher nicht bei Foresters & Foresteres erschienen, um ein paar Delikatessen einzukaufen. Er wollte mit Sicherheit sich nach einem Käufer erkundigen der eine bestimmte Sorte Gänseleberpastete, einen bestimmten Sherry und spezielle Importzigarren bestellt hatte. Auch McWarden schien sich mit dem Vorleben und den Gewohnheiten Hitcham befaßt zu haben. Nun mußte er eben warten, bis Brian Foresters wieder zurück war. Diesen Vorsprung wollte Mylady ausnutzen. »Wir werden einen kleinen Umweg machen, Mr. Foresters«, sagte die ältere Dame beruhigend zu Foresters, der auf dem schmalen Rücksitz des an sich kleinen Wagens hockte und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Brian Foresters wollte antworten, doch die Stimme hatte ihm den Dienst gekündigt. Er gab nur ein paar gurgelnde Geräusche von sich und fürchtete um sein lieben. Der 31 �
Fahrstil der älteren Dame war verwegen bis artistisch. Es waren vor allen Dingen ihre gewagten Überholmanöver, die ihn nervlich bereits an den Rand einer leichten Ohnmacht gebracht hatten. Agatha Simpson nutzte den leicht frisierten Motor des Mini-Cooper, der dem Wagen die Schnelligkeit eines Geschosses verlieh. Sie überhörte souverän wütendes Hupen überholter Wagen und übersah das wilde Auf- und Abblenden entgegenkommender Wagen. Lady Agatha war nicht mehr zu bremsen. Sie wollte den Empfänger jener Ware stellen, der in Swindon darauf wartete. Nach ihrer Einschätzung war jener angebliche Mr. Hamway eine Kreatur dieses Hitcham. Patricia Clanters, die in der Maske Kathy Porters neben ihr saß, war eine sportliche junge Dame, die so leicht nicht in Angst und Schrecken zu jagen war. Doch jetzt und hier stemmte sie sich unentwegt mit beiden Füßen gegen das Bodenbrett des Wagens und hielt sich mit der Hand an den Haltegriffen fest. Sie war inzwischen kreideweiß im Gesicht geworden und fürchtete nur noch um ihr Leben. Sie hatte in der Vergangenheit manche Rallye mitgemacht und wußte auch, wie ein hochtouriger Sportwagen zu lenken war. Das hier aber übertraf alles, was sie bisher erlebt hatte. Lady Agatha Simpson erinnerte sie an
einen Kamikazeflieger aus dem Zweiten Weltkrieg. Ohne Rücksicht auf Verluste preschte die Fahrerin in Richtung Swindon und fand immer wieder Zeit, sich angeregt mit ihr zu unterhalten. »Sie sind so still?« fragte sie plötzlich. »Ist Ihnen nicht wohl?« »Nicht unbedingt«, erwiderte die falsche Kathy Porter. »Das muß am Wetter liegen«, stellte Lady Agatha mitfühlend fest. »Es wird der leichte Nebel sein hier draußen.« »Er… er wird immer dichter, Mylady«, warnte ihre Beifahrerin, die natürlich keine Ahnung hatte, wie sportlich die ältere Dame war. »Ich habe Augen wie ein Adler«, versicherte Lady Simpson. »Schade, Kindchen, daß der Wagen so langsam ist.« »Langsam, Mylady?« keuchte die falsche Kathy. »Finden Sie nicht?« Agatha Simpson wandte sich ihrer Beifahrerin zu und schien zu vergessen, daß man sich auf einer belebten Überlandstraße befand. »My… My… Mylady, ein Auto!« schrie Patricia Clanters. »Tatsächlich«, erwiderte die Detektivin gelassen und slalomte um einen Lastwagen herum. »Rücksichtslos, diese Autofahrer!« »Mir… Mir… ist… schlecht«, stöhnte Brian Foresters. »Das gibt sich mit der Zeit, junger 32 �
Mann«, fand die Dame optimistisch. »Tief durchatmen, entspannen Sie sich!« »Ich, Ich möchte raus«, wimmerte Brian Foresters. »Später, später«, verhieß Agatha Simpson freundlich und wandte sich zu ihm um. »Sie haben ja eine spitze Nase gekriegt. Bekommt Ihnen die Fahrt nicht?« »My… My… Mylady!« Patricia Clanters’ Stimme ging in einen Schrei über. Vor dem Mini-Cooper erschien riesengroß der mächtige Kühler eines Überlandtransporters. Ein Zusammenstoß schien unvermeidbar. »Flegel«, kommentierte die ältere Dame und steuerte den Mini-Cooper von der Fahrbahn hinunter, beschrieb einen leichten Bogen, wischte über die Grasstreifen, jagte an einer Böschung hoch, drehte sich ein wenig und landete elegant, als wäre überhaupt nichts geschehen, wieder auf der Fahrbahn. Brian Foresters legte sich flach auf den Rücksitz und schluchzte nur noch. Patricia Clanters hatte die Augen geschlossen, wartete auf den unvermeidbaren Zusammenstoß und glaubte dann an ein Wunder, als dieses Unglück ausblieb. »Haben Sie das mitbekommen, Kindchen?« erkundigte Lady Simpson sich grollend. »Dieser Lümmel hat mich doch glatt geschnitten! So etwas sollte man anzeigen!«
»Mylady, ich… kann… nicht… mehr«, stammelte Patricia Clanters mit versagender Stimme. »Nur Mut, Kindchen, wir sind ja gleich da«, verkündete die resolute Dame wohlgemut. »Ich werde noch ein wenig Gas geben, damit wir es endlich hinter uns haben!« * Paul Corston, Hitchams Leibwächter mit der Stirnglatze, wartete in Swindon auf die Anlieferung der Delikatessen, die sein Boß sich gewünscht hatte. In einem Vorort der kleinen Stadt Swindon hatte er Quartier in einem kleinen Landhaus bezogen, dessen Einwohner er in einem Keller eingesperrt hatte. Es handelte sich um ein älteres Ehepaar, das keinen Widerstand geleistet hatte. Corston hatte geklingelt und die beiden alten Leute in die Mündung seiner schallgedämpften Waffe blicken lassen. Alles weitere war nur noch ein Kinderspiel gewesen. Zitternd vor Angst hatte das Ehepaar sich im Keller einschließen lassen. Eine eventuelle spätere Gegenüberstellung brauchte Hitchams Leibwächter nicht zu befürchten. Er hatte sicherheitshalber eine Gesichtsmaske getragen. Nun wartete er als Mr. Hamway, wie der Besitzer des kleinen Landhauses hieß, auf die Anlieferung der
Firma Foresters & und Foresters. Paul Corston fühlte sich überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Nach wie vor hielt er Hitchams Wünsche für reinen Wahnsinn. Konnte der Boß wirklich nicht auf diesen Unsinn verzichten? Mußten es unbedingt Gänseleberpastete, Sherry, Wodka und diese Zigarren sein? Aber mit Hitchams hatte man ja auch früher nie reden kennen. Was er wollte, setzte er durch. Diskussionen gab es bei ihm nicht. Und die Zeit im Zuchthaus schien Hitcham noch härter gemacht zu haben. Paul Corstons stand am Fenster neben der Haustür und dachte an seine nähere Zukunft. Auf die Dauer hatte es keinen Sinn, weiter mit Hitcham zusammen zu arbeiten. Diese Mann würde gefährlich. Paul Corston glaubte nicht daran, daß Hitcham seine Beute von siebenhundertfünfzigtausend Pfund mit seinen drei Leibwächtern teilen würde. Corston ließ sich nichts vormachen. Früher oder später würde Hitcham bestimmt versuchen, ihn, Potter und Beaford aus dem Weg zu räumen. Im Moment brauchte er sie noch, doch das konnte sich schnell ändern. War es möglich, zusammen mit Potter und Beaford gegen Hitcham vorzugehen? Diese Möglichkeit bot sich theoretisch an. Warum setzten sie ihren Boß nicht solange unter Druck, bis er das Versteck des Ver-
mögens verriet? Gegen seine drei Leibwächter hatte er doch nicht die Spur einer Chance. Aber durfte man Potter und Beaford über den Weg trauen? Würden sie überhaupt mitziehe? Diese Frage wagte Corston sich nicht zu beantworten. Wie leicht konnte man von Potter oder Beaford bei Hitcham angeschwärzt werden? Das Risiko war einfach zu groß. Paul Corston wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als ein kleiner schwarzer Lieferwagen in der Einfahrt erschien. Er fuhr langsam an das Haus heran und zeigte dabei auf dem Kastenaufbau den Namen der Firma Foresters & Foresters. Der Gangster blieb hinter der Gardine stehen und wartete, bis der Fahrer ausstieg. Der Mann war allein und machte einen völlig harmlosen Eindruck. Nach Polizei sah er nicht aus. Paul Corston prüfte den Sitz seiner Schußwaffe in der Schulterhalfter und schaut noch mal zur Einfahrt hinüber. Auch dort war alles in Ordnung. Es klingelte. Corston öffnete die Tür und nickte. »Ging ja schnell«, sagte er. »Mr. Hamway?« erkundigte der Fahrer sich. »Richtig. Haben Sie alles, was ich bestellt habe?« Der Fahrer nickte und ging nach hinten zum Wagen. Er öffnete die Tür und Corston griff sicherheitshal-
ber nach seiner Waffe. Jetzt mußte es sich erweisen. War die Polizei bereits mitgekommen? Nein, der Fahrer belud sich mit einem Paket und trug es zur Haustür. »Ich habe noch zwei Pakete«, sagte er. »Die Rechnung liegt oben drauf, Sir.« Corston wartete, bis auch die beiden anderen Pakete im Haus waren. Dann zahlte er, spendierte ein Trinkgeld und wartete an der Haustür, bis der Lieferwagen wieder auf der Straße verschwunden war. Er nahm die Brille ab, die er in einem nahen Supermarkt besorgt hatte, zupfte sich die Watte aus den Wangentaschen, die ein dickes Gesicht vorgetäuscht hatte und kümmerte sich dann um die drei Pakete. Er trug sie zum Wagen, der hinter einer Querhecke stand. Der Gangster nahm den Kellerschlüssel und warf ihn durch den Lichtschacht hinunter in den Keller, in dem das Ehepaar saß. »In zehn Minuten könnt ihr ‘raufkommen«, rief er. »Und kein Wort zur Polizei, sonst lasse ich mich wieder mal sehen, aber dann wird es Zunder geben, klar?« Er schaute sich noch mal um, ging schnell zu seinem Wagen und blieb für einen Moment wie erstarrt stehen. Durch die Einfahrt preschte ein Mini-Cooper, rasierte ein paar Rosensträucher ab, ließ eine Garten-
laube zusammenkrachen und jagte genau auf ihn zu. Da wußte Paul Corston, daß doch etwas schief gelaufen sein mußte. Er hechtete in seinen Wagen und raste seinerseits los. * Gangsterboß Fatty Hitcham war allein im kleinen Ferienhaus zurückgeblieben. Sein Leibwächter Potter besorgte die Rotwurst in Liverpool, und Paul Corston wartete in Swindon auf die Anlieferung der Waren von Foresters in London. Will Beaford war im nahen Keynsham, um Morgenzeitungen zu holen. Hitcham traute sich nicht vor die Tür. Und erneut kam er sich vor wie eingesperrt. Das Risiko, vor dem Haus erkannt zu werden, war einfach zu groß. Auf dem nahen Hügelweg tauchten immer wieder Feriengäste auf, die das Tal des Avon bewunderten und Spaziergänge machten. Hitcham allein wußte, wie dünnhäutig er geworden war. Das knappe Jahr im Zuchthaus hatte ihn gründlich verändert. Er war nervös, reizbar und fühlte sich unsicher. Ihm fehlte die große Organisation, die er seinerzeit aufgebaut und gelenkt hatte. Damals hatte ein knapper Blick ausgereicht, um seine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen.
Damals hatte er nichts zu fürchten gehabt. Er fragte sich natürlich immer wieder, ob er Potter, Corston und Beaford trauen durfte. Warteten sie nicht doch auf eine Gelegenheit, ihn wie eine Gans auszunehmen? Würden sie nicht eines Tages wie die Wölfe über ihn herfallen und darauf pfeifen, daß sie dann automatisch in das Blickfeld der Polizei gerieten? Hitcham ärgerte sich nachträglich über seine verrückten Wünsche. Er hätte sie sich tatsächlich wenigstens für ein bis zwei Wochen verkneifen sollen. Mußten es jetzt Delikatessen sein? War seine Sicherheit nicht wichtiger? Dieses Losschicken seiner Leibwache war eigentlich nichts anderes gewesen als eine Art Kraftprobe. Hitcham hatte herausfinden wollen, ob Potter, Corston und Beaford noch bedingungslos gehorchten. Schön, sie waren losgefahren, aber Hitcham war nicht entgangen, daß sie es nur sehr unwillig getan hatten. Er wurde abgelenkt, als Beaford zurückkehrte. Der Gangster mit dem stets jovialen und verbindlichen Lächeln hatte ein Fahrrad benutzt. Er kam ins Haus und warf einige Zeitungen auf den Tisch. »Deine Flucht ist immer noch Thema des Tages«, sagte Beaford. »Die Polizei sucht fieberhaft, wie es immer so schön heißt. Sie will
angeblich ein paar aussichtsreiche Spuren gefunden haben.« »Quatsch!« Hitcham griff nach den Zeitungen und sah in allen Blättern mehrfach sein Bild. »Die Bullen wollen mich doch nur aufscheuchen, damit ich in irgendeiner Straßensperre lande.« »Klar doch, Boß.« Beaford nickte. »Diese Masche kennt man doch. Aber ich finde, wir sollten doch möglichst bald ins eigentliche Versteck ‘rüberwechseln.« »Da wären wir dann ganz unter uns.« Hitcham sah Beaford prüfend an. »Natürlich wären wir unter uns.« »Drei gegen einen.« »Wieso denn das?« Beaford hatte sofort verstanden und lächelte. »Wann fallt ihr über mich her, Beaford?« »Keine Ahnung, was Potter und Corston planen, Boß.« »Und was planst du?« »Was ich auch sagen werde, Boß, glauben würdest du mir doch nicht.« »Kämen wir beide allein zurecht, Beaford?« »Potter und Corston sind keine heurigen Hasen, Boß.« »Wir aber auch nicht, Will.« »Mal angenommen, Boß, wir beide blieben übrig«, schickte Beaford lächelnd voraus. »Wie soll es dann weitergehen?« »Wir warten in aller Ruhe, bis wir 36 �
uns absetzen können. Südamerika ist groß.« »Und wann wäre ich dann an der Reihe?« »Wieso, worauf willst du hinaus. Will?« »Das weißt du doch, Boß. Wann würde ich von dir umgelegt?« »Alleine komme ich nicht durch.« Sie mußten diese interessante Unterhaltung beenden, da Gene Potter mit dem Morris erschien. Er lud ein großes Paket aus und trug es ins Haus. »Hier ist die Wurst aus Liverpool«, sagte er. »Hoffentlich schmeckt sie, Boß.« »Hat es Ärger gegeben?« erkundigte sich Hitcham. »Nee«, log Potter. »Dieser Lankwich war froh, soviel Rotwurst verkaufen zu können.« Hitcham schnürte das Paket auf und sog den Duft der Wurst ein. Doch Sekunden später verzog er sein Gesicht. »Nee, das ist sie nicht«, meinte er enttäuscht. »Natürlich ist sie das«, widersprach Gene Potter. »Ich habe sie anders in Erinnerung«, meinte Hitcham, »ganz anders.« »Das ist oft so«, schaltete Beaford sich ein. »Ich räume sie erst mal weg.« »Mieser Geruch«, mokierte sich Hitcham. »Und auf so was bin ich
verrückt gewesen.« »Stammt ja auch aus einem miesen Laden«, sagte Gene Potter und überging seine Begegnung mit einem gewissen Butler Parker. »Hat Corston sich schon gemeldet?« »Der wird auch bald hier sein«, sagte Beaford. Dann wandte er sich zu Hitcham um, der in einer Zeitung eine Entdeckung gemacht zu haben schien. »Was ist, Boß?« »Diese Clanters«, meinte Hitcham. »Ihr wißt doch, die Tochter von Lance Clanters, nimmt an einer Segelregatta in Bournemouth teil.« »Nicht besonderes weit von hier«, fand Gene Potter. »Die wäre das richtige Spielzeug für uns«, redete Hitcham weiter. »Mit der Familie Clanters habe ich sowieso noch eine alte Rechnung zu begleichen.« »Sollen wir sie kidnappen?« wollte Will Beaford wissen. Er hatte seinen Boß längst verstanden. »Gegen solch eine Abwechslung wäre nichts einzuwenden«, sagte Gene Potter. »Mal hören, was Corston dazu sagt«, schlug Beaford vor. »Was hat Corston damit zu tun?« Hitcham wirkte sofort wieder gereizt. »Diese Kleine werden wir uns holen. Für den Fall des Falles haben wir dann wenigstens eine Geisel an der Hand!« * 37 �
»Sprechen Sie mich nicht an«, grollte die ältere Dame, als Butler Parker ihr geöffnet hatte. Lady Simpson war wütend und verärgert. »Wie Mylady wünschen.« Parker deutete eine knappe Verbeugung an und begutachtete das Aussehen der beiden Damen, die zurück ins Haus nach Shepherd’s Market gekommen waren. Lady Agatha machte einen zerzausten Eindruck. Ihr sackförmiges Tweedkostüm war an einigen Stellen leicht eingerissen. Ihr Hut, der eine Mischung aus Südwester und Tropenhelm darstellte, war eingedrückt. Patricia Clanters in der Rolle Kathy Porters, schien völlig entnervt zu sein. Sie hielt sich kaum noch auf den Beinen. »Darf ich mir erlauben, Ihnen eine Erfrischung anzubieten?« fragte Butler Parker mitfühlend. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was die junge Frau durchlitten hatte. Parker kannte schließlich den ein wenig forschen Fahrstil seiner Herrin. »Ich glaube, ich brauche auch einen Arzt«, murmelte Patricia Clanters, schwankte auf einen Sessel in der Wohnhalle zu und ließ sich erschöpft nieder. »Auch einen Arzt?« Parker wandte sich zu Lady Agatha um. »Wurde bereits in einem anderen Fall ein Arzt benötigt, Mylady, wenn ich fra-
gen darf?« »Foresters«, gab sie knapp zurück. »Diese Männer! Sie haben einfach keine Nerven.« »Mylady meinen Mr. Foresters von Foresters & und Foresters?« »Ich hatte ihn mitgenommen.« Sie nickte bestätigend. »Bei ihm war die bestimmte Warenanforderung eingegangen, wie ich ja gleich vermutet hatte. Gänseleberpastete, Wodka, Sherry und Zigarren. Die Sendung ging nach Swindon.« »Kann ich einen Kognak haben?« bat Patricia Clanters mit bebender Stimme. »Sofort.« Parker verschwand im Salon und kam nach einer halben Minute mit einem viertel gefüllten Schwenker zurück, der auf einem silbernen Servierteller stand. Er flößte Patricia Clanters die Erfrischung ein, worauf sie sich ein wenig erholte. Der leicht irre Blick normalisierte sich. »An meinen Kreislauf denken Sie wohl gar nicht, wie? Ich habe schließlich eine harte Verfolgungsjagd unter erschwerten Bedingungen hinter mir.« »Mylady werden sofort bedient.« Parker ging noch mal zurück in den Salon und servierte einen dreistöckigen Kognak, um Lady Agatha aufzumuntern. »Um ein Haar hätte ich dieses Subjekt erwischt«, sagte sie verärgert, 38 �
als sie das Glas leergetrunken hatte. »Um ein Haar, Mr. Parker! Es muß einer von Hitchams Leibwächtern gewesen sein.« »Mylady wecken meine unziemliche Neugier«, gestand Parker. »Ich war diesem Gangster dicht auf den Fersen«, berichtete Lady Simpson. »Plötzlich spielte der MiniCooper nicht mehr mit.« »Ein Motorschaden, Mylady?« »Ein Graben«, korrigierte Agatha Simpson. »Und vorher ein Zaun«, warf Patricia Clanters ein. »Mylady kamen bedauerlicherweise vom Weg ab?« fragte Josuah Parker. »Unsinn, Mr. Parker! So etwas passiert mir doch nicht! Ich wählte eine Abkürzung.« »Im dichtesten Nebel«, klagte Patricia Clanters und schüttelte sich nachträglich. »Die Sicht war noch recht gut«, sagte die ältere Dame und sah Miß Clanters strafend an. »Sie betrug wenigstens noch sechs bis acht Meter, das müssen Sie zugeben.« »Leider kamen dann der Zaun und der bereits erwähnte Graben«, erinnerte Parker gemessen. »Damit konnte man nicht rechnen«, antwortete Agatha Simpson. »Und zudem wurde ich vom Geschrei irritiert und abgelenkt.« »Geschrei, Mylady?« »Foresters«, sagte sie grimmig. »Er
behauptete unentwegt, ich würde � ihn umbringen.« »Mr. Foresters nahm an der gemeinsamen Rückfahrt dennoch teil?« »In McWardens Dienstwagen, Mr. Parker. Der Superintendent tauchte nämlich auch in Swindon auf, wenn auch natürlich mit der üblichen Verspätung.« »Konnte Hitchams Leibwächter und Feinkostabholer gestellt werden, Mylady?« »Wenn ich es nicht schaffe, Mr. Parker, wer dann?« fragte sie fast empört. »McWarden ließ ihn natürlich entwischen. Dieser Mann ist bemerkenswert unbegabt, finden Sie nicht auch?« Parker enthielt sich jeder Äußerung und kümmerte sich weiter um Patricia Clanters, die noch immer deutlich litt. * Es war ein kleines Hochmoor in der Nähe von Chew Stoke, das die Gangster sich als eigentliches Versteck ausgesucht hatten. Sie hatten es auf Umwegen während der Nacht erreicht und standen nun an einem See, dessen Ufer mit hohem Schilf bewachsen war. Die Gegend war recht einsam, nach Westen hin waren die Hügel der Mendip Hüls als schwarze Schattenrisse zu erkennen. Die Fahrt bis hier39 �
her hatte die vier Männer gut anderthalb Stunden gekostet. Unterwegs waren sie kaum einem Wagen begegnet. Die Fahndung, von der die Zeitungen in großer Aufmachung berichteten, schien bei weitem nicht so engmaschig zu sein, wie geschrieben wurde. »Die Wagen lassen wir gleich verschwinden«, sagte Gene Potter. »Die saufen ab und werden mit Sicherheit nie wieder gesehen.« »Und wie kommen wir zu der alten Abtei ‘rüber?« wollte Fatty Hitcham wissen. Als Stadtmensch fühlte er sich hier draußen in dieser Wildnis nicht besonders wohl. Fahles Mondlicht lag auf dem dunklen Wasser. Im See waren die Hügel einiger kleiner Inseln zu erkennen, die nur mit dichtem Unterholz bewachsen waren. Vorsintflutliche Saurier schienen ihre Rücken aus dem moorigen Wasser hochgeschoben zu haben. Waldvögel schrien in der Nähe, und im Schilfdickicht raschelte es verdächtig. »Wir haben da vorn ein Ruderboot liegen«, meinte Paul Corston. »Und die Abtei ist noch prima in Ordnung.« »Wird sie nicht besucht?« »Steht unter Naturschutz, darf nicht besichtigt werden.« »Welche Leute treiben sich hier für gewöhnlich herum?« fragte Hitcham weiter. Instinktiv fürchtete er sich,
alle Brücken hinter sich abzubrechen. Saß er erst mal auf der Abteiinsel, dann war ihm jeder Fluchtweg abgeschnitten. »Hier treiben sich nur ein paar Wanderer herum«, beruhigte Corston seinen Boß. »Die Ufer sind verschlammt, die ganze Gegend ist ein einziges Moor.« »Mir gefällt das Versteck aber überhaupt nicht, Jungens.« Fatty Hitcham schüttelte den Kopf. »Man kommt sich so vor wie auf einem anderen Stern.« »Aber auf einem sicheren, Boß«, meinte Will Beaford fröhlich. »Hier findet uns kein Mensch. Drüben in der alten Abtei ist alles, was wir brauchen.« »Ich hole das Boot.« Gene Potter legte eine fast schon verdächtige Eile an den Tag, beziehungsweise an die Nacht »In einer Woche steht der Kutter bereit, um uns dann ‘rüber nach Irland zu bringen.« Fatty Hitcham wollte noch etwas sagen, doch sein Leibwächter Potter war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Und Corston und Beaford kümmerten sich bereits um die beiden in Bath gestohlenen Wagen, mit denen sie ins Hochmoor gefahren waren. Die Motoren rauschten auf, dann arbeiteten die beiden Wagen sich durch den morastigen Untergrund auf einen großen Tümpel am Seeufer durch, dessen Oberfläche im Mondlicht wie Öl schil40 �
lerte. Corston, der das Gaspedal beschwert hatte, sprang im letzten Moment aus dem Wagen und sah zu, wie das Fahrzeug in den Tümpel kippte. Ein widerliches Schmatzen und Glucksen war zu vernehmen, als der Wagen wegsackte. Ein riesiges Untier schien mit Behagen einen kleinen Appetithappen erwischt zu haben. Fasziniert beobachtete Hitcham das Schauspiel. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis von dem Wagen nichts mehr zu sehen war. Da waren noch ein paar dicke Luftblasen, die zerplatzten, dann herrschte Stille. Hitcham suchte nach dem zweiten Wagen, doch auch der war inzwischen in einem anderen, breiigen Tümpel versenkt worden. Beaford und Corston kamen auf ihren Boß zu. »Alle Spuren verwischt«, sagte Beaford lächelnd. »Perfekter geht es nicht, Boß!« »Widerlich, so ein Moor«, antwortete Hitcham. »Ist das Ufer überall so?« »Fast überall«, sagte Beaford. »Darum gibt es hier auch keine Touristen, Boß.« »Und so was in der Nähe von Bristol.« Hitcham schüttelte den Kopf. »Wir können«, rief Gene Potter. »Wir brauchen nur noch die Vorräte zu verladen.« Hitcham rührte keine Hand.
Zweifel nagte an ihm. Warum zog er sie nicht? Warum ließ er seine drei ehemaligen Leibwächter nicht auch in einem der Moortümpel verschwinden? Er merkte, daß Beaford ihn beobachtet hatte. Und Beaford winkte jetzt mit einer verstohlen vertraulichen Geste ab. Beaford wußte demnach, was in ihm, Hitcham, gerade vorgegangen war. Hatte Beaford sich insgeheim auf seine Seite geschlagen? Die Chance war vertan, falls sie überhaupt je bestanden hatte. Potter und Corston standen neben dem Boot und warteten auf ihren Boß. Sie waren jetzt nicht mehr zu überraschen. Eines wußte Hitcham, sie waren, was das Ziehen der Waffen anbetraf, schneller als er. »Also los«, sagte er und gab sich einen inneren Ruck. »Gehen wir endgültig auf Tauchstation, Jungens. Hauptsache, ihr vergeßt die kleine Clanters nicht, sonst kann es vielleicht verdammt langweilig werden.« »Die wird morgen geliefert, Boß«, meinte Corston. »Haben wir alles schon angeleiert. Morgen kann die große Party steigen.« * Ben Atkers und seine rechte Hand hatten keine Ahnung, daß sie die falsche Patricia Clanters beschatte41 �
ten. Der ehemalige, später hereingelegte und ausgebootete Kompagnon von Fatty Hitcham hatte sich entschlossen, für Butler Parker zu arbeiten. Nachdem seine rechte Hand, Norman Scott, von Parker auf dem Tennisplatz entdeckt und angesprochen worden war, hatte der Nachtclubbesitzer Kontakt mit dem Butler aufgenommen und war danach in dessen Dienste getreten. Ben Atkers, der kleine, drahtige Mann mit der Figur eines Jockeys, hatte das ganz sicher nicht aus einem geänderten Rechtsbewußtsein heraus getan. Es war seine Gerissenheit gewesen, die ihn veranlaßt hatte, dieses Angebot anzunehmen. Mit Parker wollte er keinen Ärger bekommen. Nach dem, was er wußte, zahlte sich das niemals aus. Darüber hinaus aber hatte er endlich eine Möglichkeit, sich bei Hitcham zu revanchieren. Ben Atkers wartete ja nur darauf, diesem Mann endlich ein Bein stellen zu können. Insgeheim verfolgte Ben Atkers natürlich noch gewisse private Ziele. Er dachte nach wie vor an die siebenhundertfünfzigtausend Pfund, die bei Hitcham zu holen waren. Vielleicht, so sagte er sich immer wieder, konnte man da ein Stück aus dem Riesenkuchen herausschneiden, ohne daß dieser Butler Parker etwas merkte. Ben Atkers’ Einsatz war von Butler
Parker genau umrissen worden: Er, Atkers, sollte Patricia Clanters, die Tochter des verstorbenen Reeders, diskret überwachen und auch dann nicht eingreifen, falls man sie gegen ihren Willen zu einer längeren Spazierfahrt abholte. Parker wollte nur erfahren, wohin man die Tochter des Reeders brachte. Das war bereits alles. Das Honorar, das Parker dafür ausgesetzt hatte, war anständig, aber nicht gerade überwältigend. Atkers hatte schnell zugesagt, als ihm dieses Angebot gemacht worden war, war es doch auch sein eigener Plan gewesen, über Patricia Clanters an Hitcham heranzukommen. Hier konnte man leicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und erledigen. Patricia Clanters also, die in Wirklichkeit Myladys Gesellschafterin Kathy Porter war, befand sich an diesem Spätnachmittag im Clubhaus des Yachtvereins in Bournemouth und flirtete mit einigen braungebrannten Segelsportlern herum. Ben Atkers und Norman Scott, der stets verschlafen aussehende Mitarbeiter des Nachtclubbesitzers, beobachteten das alles ganz deutlich. Sie benutzten Ferngläser und harrten der Dinge, die laut Parker mit Sicherheit kamen. »Chef, ich glaube, da läuft was«, meldete Norman Scott in seiner typisch verschlafenen Art. 42 �
»Kidnapping?« fragte Atkers sofort. »Falls ja, dann aber prächtig gemacht. Sehen Sie selbst!« Norman Scott reichte das Fernglas seinem Chef. Ben Atkers beobachtete die seitliche Terrasse des Yachtclubhauses und sah zwei Männer, die gerade zusammen mit Patricia Clanters in den Garten hinuntergingen und sich mit ihr unterhielten. »Das sind doch Tatson und Mooney«, meinte Atkers verblüfft. »Kam mir auch so vor, Chef«, erwiderte Norman Scott pomadig. »Die scheinen auf Polizei zu machen.« »Dann aber nichts wie los.« Atkers teilte die Ansicht seines vertrauten Mitarbeiters. Tatson und Mooney waren zwei »Einzelunternehmer« aus London, die man für gutes Geld für spezielle Aufgaben mieten konnte. Sie stellten keine Fragen, erledigten prompt, wofür man sie eingekauft hatte, und waren für ihre Diskretion bekannt. Es waren knochenharte Männer, die über ein unauffälliges durchschnittliches, Aussehen verfügten. Ben Atkers und seine rechte Hand liefen zu ihrem Wagen hinüber und nahmen an der Hauptstraße so etwas wie eine Ausgangsstellung ein. Sie brauchten nicht lange zu warten. Schon nach knapp fünf Minuten erschien ein Chrysler, den Tatson steuerte. Auf dem Rücksitz
saßen Mooney und Patricia Clanters. »Jetzt dürfte es zu Hitcham gehen«, meinte Atkers zu Norman Scott. »Paß höllisch auf, damit die beiden Typen nicht Lunte riechen! Wenn alles klappt, können wir einen Riesenschnitt machen.« * »Ihre Ruhe möchte ich haben, Mr. Parker«, grollte Agatha Simpson an diesem Abend. »Hoffentlich erinnern Sie sich dunkel daran, daß wir nicht die Andeutung einer Spur haben, wo dieses Subjekt Hitcham stecken könnte.« »Dieser Tatsache, Mylady, bin ich mir bewußt«, antwortete der Butler in seiner höflichen Art. »Jeder Fall verlangt eine andere Taktik, wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf.« »Sie setzen auf diesen Rotwursttransporteur, wie?« Die Detektivin spielte auf den jungen Gangster an, der die Rotwurst aus Liverpool geholt hatte. »Und auf den Sender, den ich in seinem Wagen zurückließ, Mylady, allerdings…« »Aha, jetzt kommt der negative Nachsatz, wie?« »In der Tat, Mylady! Die Sendeimpulse waren nur für kurze Zeit zu vernehmen, wie ein mir bekannter Funkamateur mitteilte. Sie endeten plötzlich.« 43 �
»Und wie erklären Sie sich das?« »Es dürfte zwei Möglichkeiten geben, Mylady. Entweder wurde der Sender entdeckt, oder aber der betreffende Wagen existiert nicht mehr.« »Dann bleibt uns also nur die Gier dieses Subjektes.« »Ich rechne mit seiner Einsicht, Mylady.« »Und wenn Sie sich verrechnen, Mr. Parker?« »Bleibt immer noch Miß Porter in der Maske der Miß Patricia Clanters, Mylady.« »Die von zwei kleinen Ganoven überwacht wird.« Mylady schüttelte mißbilligend den Kopf. »Von den Herren Atkers und Scott«, bestätigte Parker. »Darüber hinaus aber setze ich auf Miß Porters Erfahrung. Sie wurde von meiner bescheidenen Wenigkeit entsprechend ausgerüstet.« »Schrecklich, diese Warterei«, stellte die resolute Dame fest. »Wenn dieser Mini-Cooper nur ein wenig robuster gebaut gewesen wäre, hätte ich die Verfolgung dieses Lümmels mit Foresters’ Ware fortsetzen können.« »In der Tat, Mylady.« »Dann wäre der Fall Hitcham bereits erledigt.« »Gewiß, Mylady.« »Wo mag dieses Subjekt inzwischen wohl stecken? Sie müssen sich doch eine Theorie gebildet haben,
oder?« »Ich war so frei, Mylady.« »Und warum unterschlagen Sie sie mir?« »Mir liegt es fern, Mylady vorzugreifen, zumal ich sicher bin, daß Mylady über eine eigene Theorie verfügen.« »Worauf Sie sich verlassen können, Mr. Parker!« Sie nickte nachdrücklich. »Hitcham hat sich irgendwo auf dem flachen Land versteckt. Oder wollen Sie das etwa bestreiten?« »Auf keinen Fall! Ich erlaube mir, mich Myladys Ansicht anzuschließen.« »Und zwar wo?« fragte sie, da sie in dieser Hinsicht keine Vorstellung hatte. »Mylady sehen mich unglücklich und auch ein wenig ratlos«, gestand Josuah Parker. »In zwei Städten wurden Hitchams Leute gesehen, in Liverpool und in Swindon. Das Gebiet dazwischen ist sehr groß.« »Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« »Mr. Hitchams Konterfei, Mylady, ist in sämtlichen Zeitungen abgedruckt«, faßte Parker weiter zusammen. »Zudem wird es vom Fernsehen immer wieder gesendet. Darüber hinaus ist Mr. Hitchams Foto auf sämtlichen Plakatwänden und Postämtern zu sehen, mit anderen Worten, er darf und kann sich in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen. 44 �
Darüber hinaus dürfte bereits die Unterwelt Jagd auf ihn machen. Die siebenhundertfünfzigtausend Pfund sind ein starkes Motiv. Mr. Hitcham wird also eine sehr stille und relativ menschenleere Gegend bevorzugen.« »Das sage ich doch die ganze Zeit.« »Gewiß, Mylady. Und wie Mylady bereits andeuteten, dürfte Mr. Hitcham sich darum in einer moorähnlichen Landschaft aufhalten, in der seine drei Leibwächter sicher eine entsprechende Unterkunft samt den dazugehörigen Vorräten angelegt haben.« »Wir haben hier auf der Insel recht viele Moore«, sagte die ältere Dame mißmutig. »Diese Moorgegend, Mylady, müßte sich meiner bescheidenen Ansicht nach in der Nähe der Küste befinden«, zählte Parker weiter auf. »Mr. Hitcham dürfte die Absicht haben, nach einer gewissen Zeit Großbritannien zu verlassen.« »Aha. Und welches Moor kommt da in Betracht?« »Darüber, Mylady, werde ich, Ihre Erlaubnis vorausgesetzt, noch nachdenken.« »Das brauchen Sie nicht.« Sie war zu einer Erkenntnis gelangt. »Er hält sich im Exmoore National Park auf, Mr. Parker. Denken Sie an meine Worte! Oder im Bodmin Moor, was auch nicht schlecht wäre. Vielleicht
hat er sich aber auch…« »Mylady mögen gütigst entschuldigen.« Parker unterbrach die Aufzählung seiner Herrin, da das Telefon läutete. Er ging zum Apparat, hob den Hörer ab und meldete sich. Er hörte einen Moment zu, legte dann auf und wandte sich zu Lady Simpson um. »Miß Porter wurde soeben entführt«, meldete er dann. »Mr. Ben Atkers gab diese Nachricht durch.« »Von wo aus, Mr. Parker?« Agatha Simpson war wie elektrisiert. »Aus Bridgewater, Mylady. Die Fahrt geht weiter in nördliche Richtung, wie man mir mitteilte.« »Aha. Und wohin führt das?« Mylady hatte die Landkarte nicht im Kopf. »In Richtung Bristol, Mylady. Die Dinge scheinen, wenn ich es so optimistisch ausdrücken darf, in Gang zu kommen.« * Kathy Porter trug weiße Jeans mit einem breiten Hüftgürtel aus Leder, der eine auffallende Schnalle hatte. Der Ledergürtel war mit einer Anzahl phantasievoll angebrachter Ziemieten versehen. Diese Ziernieten wiederholten sich unten an den weit ausgestellten Hosenbeinen. Sie trug ferner eine blaue Bluse und darüber eine Jeansweste, deren Weiß ebenfalls mit Nieten und 45 �
dicker Zierstepperei geschmückt war. Kathy Porter, ganz in der Rolle der Reedereitochter Patricia Clanters, sah aufregend gut aus, hatte aber längst gemerkt, daß die beiden Männer sich herzlich wenig daraus machten. Man hatte ihr inzwischen klar und deutlich gesagt, daß sie entführt wurde. Kathy Porter hatte den beiden Männern daraufhin die ganze Skala der Angst und des Entsetzens gezeigt, sich inzwischen aber scheinbar mit ihrem Schicksal abgefunden. Es wäre natürlich leicht gefallen, diese beiden Männer zu überlisten und außer Gefecht zu setzen, doch genau das durfte sie nicht. Sie wollte sich ja in Hitchams Wespennest befördern lassen. Tatson und Mooney – sie hatten ihre Namen natürlich nicht genannt – benahmen sich ihr gegenüber neutral. Sie führten schließlich nur einen gut bezahlten Auftrag aus. Krumme Touren ihren Kunden gegenüber kannten sie nicht. Sie hatten schließlich in der Unterwelt ein Image zu pflegen und zu wahren. Kathy Porter wußte von Ben Atkers’ und Norman Scotts Existenz. Ob sie folgten, konnte sie nicht feststellen. Sie wagte es nicht, sich umzuwenden und durch das Rückfenster zu sehen. Man hatte ihr übrigens nicht die Hände gefesselt, sie aber sehr deutlich gewarnt. Falls sie
Ärger machte, wollte man sie nachdrücklich zur Vernunft bringen. Dies galt auch für den Fall, daß sie von einem Polizeiwagen per Zufall gestellt wurden. Sie hatte dann eine Ausfahrt mit ihren Freunden anzugeben. Gemäß ihrer Rolle als Patricia Clanters wandte sie sich erneut an ihre beiden Entführer. Sie war ja schließlich eine vermögende Erbin, die über Geld verfügte. Sie mußte ihr Angebot noch mal wiederholen und durfte sich nach außen hin auf keinen Fall mit ihrem Schicksal abfinden. Darüber hinaus mußte sie immer wieder ein wenig Angst zeigen, um den beiden Kidnappern zu zeigen, wie unerfahren sie war. »Ich biete Ihnen die dreifache Summe«, sagte sie also nach einer Weile. »Oder sagen Sie mir doch wenigstens, zu wem Sie mich bringen. Mein Wort darauf, daß ich später nichts ausplaudere.« »Den Mund würde ich grundsätzlich halten, Miß Clanters«, sagte Tatson, der den Chrysler steuerte. »Und ich würde auch vergessen, wie wir aussehen«, fügte Mooney hinzu. »Aber das alles hatten wir doch schon. Wenn Sie später quasseln, werden Sie nicht mehr lange leben.« »Ich zahle Ihnen die vierfache Summe.« »Halte den Mund, Mädchen«, sagte Tatson und schüttelte den 46 �
Kopf. »Noch nie was von einem korrekten Geschäft gehört?« »Ich… Ich bin doch keine Ware«, gab Kathy Porter verzweifelt zurück. »Für uns schon, Süße«, meinte Mooney. »Unsere Wege trennen sich ohnehin bald.« »Sie… Sie wollen mich weiterreichen?« »Genau das, Miß«, entgegnete Tatson. »Aber vorher müssen wir noch eine Kleinigkeit erledigen.« »Hat das was mit mir zu tun? Werden Sie mich fesseln oder so etwas?« »Hat nichts mit Ihnen zu tun, Miß, sondern mit den Pfeifen, die uns verfolgen«, sagte Mooney und lachte auf. »Hier, daraus trinken Sie jetzt einen ordentlichen Schluck, damit Ihre Nerven nicht leiden.« Während er noch redete, reichte er ihr eine schmale Taschenflasche, deren Verschluß er aufgeschraubt hatte. Sie schüttelte den Kopf, drückte sich ängstlich in ihre Wagendecke und sah dann die Härte in seinen Augen. »Schluck, Baby«, sagte Mooney. »Mach’s bald, sonst helfe ich nach!« »Was… Was ist denn da drin?« fragte sie, obwohl sie es selbstverständlich ahnte. Wahrscheinlich wollte man sie mit einem starken Schlafmittel betäuben. »Hustensaft«, spottete Mooney und drückte ihr die Flasche an die Lippen. Er hielt ihr geschickt die Nase zu, und Kathy Porter trank
hastig. »Na also«, freute Mooney sich nach geglückter Operation. »Und gleich wird das Baby tief und fest schlafen.« »Mir wird so komisch«, klagte sie. »Das gibt sich, Süße. Träume schön!« »Und wie gesagt, Puppe, hübsch den Mund halten, falls man sich später mal zufällig über den Weg laufen sollte. Präge dir es ein!« Kathy nickte und spürte bereits die Wirkung des Schlafmittels. Sie gähnte unwillkürlich, schloß die Augen und gähnte erneut. Sie atmete tief und schwer durch, kämpfte jedoch gegen die bleierne Müdigkeit an. Sie wollte doch mitbekommen, was sie eben noch hören konnte. »Wir nehmen sie drüben hinter dem Dorf hoch«, rief Mooney nach vorn. »Und wie?« fragte Tatson. »Restlos«, erwiderte Mooney. »Gegen Augenzeugen habe ich schon immer was gehabt.« Kathy Porter kämpfte verzweifelt gegen den Schaf an, doch die Stimmen wurden schwächer und undeutlicher und schienen jetzt wie durch dichte Watte zu kommen. Sie seufzte noch mal auf und fiel dann in einen tiefen Schlaf. * Fatty Hitcham starrte düster auf die � 47 �
Reste der uralten Abtei. Er sah im fahlen Mondlicht halb verfallene Mauern, leere Rundbögen, die zu einem kleinen Kirchenschiff gehört haben mußten, die Reste eines einstöckigen, langgestreckten Wohnhauses. Daß ausgerechnet in diesem Augenblick auch noch ein Käuzchen schrie, paßte zur ganzen Szenerie. »Sagenhaft«, spottete er halbherzig. »Etwas Schöneres hättet ihr gar nicht auftreiben können.« »Alles nur äußerlich, Boß«, meinte Gene Potter. »Unter den Trümmern sieht es ganz ordentlich aus. Haben wir alles hergerichtet.« »In einer Woche sitzen wir in einem erstklassigen Hotel drüben in Irland«, beruhigte Corston seinen Boß. »Hier sind wir auf jeden Fall sicher.« Der Gangsterboß verzichtete auf jeden weiteren Kommentar. Er war deprimiert und unsicher. Fast bereute er seine Flucht aus dem Zuchthaus. Dort war er wenigstens sicher gewesen. Er traute seinen drei Leibwächtern nicht mehr über den Weg. Warum hatten sie nicht ein besseres Versteck ausgesucht? Warum hatten sie ihn hierher auf diese Abteiinsel verschleppt? Verschleppen, genau das war das richtige Wort! Wollten sie sich hier mit ihm in aller Ruhe befassen? Wer wollte sie daran hindern? Er folgte ihnen in Richtung Abtei
und kam sich immer mehr vor wie ein wehrloses Schlachtopfer. Nach zehn Minuten atmete er erleichtert auf. Er war angenehm überrascht worden. In den Kellergewölben der ehemaligen Abtei hatten seine drei Leibwächter zwei kleinere Räume hergerichtet, die ganz passabel waren. Die Luft war überraschend frisch. Es gab ein paar Feldbetten, dicke, flauschige Decken, eine gut ausgerüstete Kochstelle, sehr viel Konservenvorräte, sogar Radio und ein tragbares Fernsehgerät. »Für eine Woche müßte das reichen, Boß«, sagte Will Beaford. »Natürlich«, erwiderte Hitcham, der sich inzwischen wieder gefangen hatte. »Und die Abtei wird nicht besucht?« »Naturschutzgebiet«, erklärte Corston. »Haben wir das nicht schon mal gesagt?« »Und wenn wirklich mal so ein Naturschützer ‘rüberkommen sollte, ist der nur hinter den Vögeln her«, meinte Gene Potter. »Wir haben uns genau umgehört, Boß.« »Wir sind völlig unter uns«, stellte Will Beaford mit einer eigenartigen Betonung fest, die Hitcham sofort registrierte. »An deiner Stelle, Boß, würde ich mir keine sorgen machen.« »Und ab morgen haben wir sogar eine nette Unterhaltung«, erinnerte Potter und grinste. 48 �
»Die kleine Clanters«, sagte Corston. »Wir haben Tatson und Mooney engagiert. Die dürften inzwischen schon zugelangt haben.« »Tatson und Mooney?« Hitcham kannte diese beiden Einzelunternehmer der Unterwelt natürlich. »Werden die den Mund halten? Wissen sie, daß ich hier auf der Insel bin?« »Natürlich nicht, Boß.« Beaford schaltete sich ein und sah Hitcham fast vorwurfsvoll an. »Übrigens stellen die nie Fragen, das solltest du doch noch wissen.« »Auch dann nicht, wenn es um siebenhundertfünfzigtausend Pfund geht?« »Kaum, Boß.« Gene Potter schüttelte den Kopf. »Wir übernehmen die kleine Clanters zudem in Weston, da drüben an der Küste.« »Und wann soll das geschehen?« »In anderthalb Stunden, Boß. Ich glaube, Gene und ich sollten losziehen.« »Ihr habt die beiden Wagen doch versenkt.« »Dafür läßt sich jederzeit Ersatz auftreiben, Boß. Wir rudern jetzt zur anderen Seeseite ‘rüber und besorgen uns einen anderen Schlitten.« Gene Potter und Paul Corston nickten Beaford und Hitcham zu, verließen dann das Kellergewölbe und waren schon nach wenigen Sekunden nicht mehr zu hören. Beaford zündete eine zweite Petroleumlampe an und ging zur Koch-
stelle hinüber, deren Brenner mit Spiritus betrieben wurden. »Jetzt werde ich erst mal eine Mahlzeit zubereiten«, sagte er. »Danach sieht die Welt anders aus, Boß. Und später haben wir ja eine Puppe, mit der wir spielen können.« »Patricia Clanters.« Hitcham erwärmte sich an diesem Namen. »Könnte ganz nett werden.« * »Sie bewegen sich wieder mal mit der Schnelligkeit einer lahmen Schnecke«, tadelte Lady Agatha grollend ihren Butler. »Sie sollten mich ans Steuer lassen, Mr. Parker.« »Darf ich mir erlauben, Mylady darauf aufmerksam zu machen, daß man gleich Bridgewater erreichen wird?« »Schon?« entfuhr es ihr. »Was ist das für ein Nest?« »Rund vierundzwanzigtausend Einwohner, Mylady«, zählte Parker sofort auf. »Es gibt hier noch eine beachtliche Anzahl sehenswerter Backsteinhäuser aus dem 18. Jahrhundert. Bemerkenswert ist die gotische Kirche aus dem Jahre 1367.« »Aha.« Sie nickte, war aber desinteressiert. »Und was bringt das für mich?« »Darauf, Mylady, vermag ich im Augenblick nicht zu antworten«, entgegnete Butler Parker würdevoll. »Bridgewater ist die Stadt, aus der 49 �
Mr. Ben Atkers sich telefonisch gemeldet hat.« »Diesem Atkers traue ich nicht, Mr. Parker.« »Eine gewisse Vorsicht ihm gegenüber, Mylady, ist durchaus angebracht und am Platz.« »Er spielt ein Doppelspiel.« »Auch damit sollte man rechnen, Mylady.« »Er könnte uns auf eine völlig falsche Spur gesetzt haben.« »Selbst solch eine Möglichkeit sollte man in Betracht ziehen.« »Dann verstehe ich nicht, warum Sie nach Bridgewater fahren!« Sie sah ihn gereizt an. »Weil Mr. Atkers’ Angst vor Mylady größer sein dürfte als ein möglicher Verrat.« »Angst vor mir?« Sie fühlte sich prompt geschmeichelt. »Mr. Ben Atkers und sein Assistent Scott leben in London, Mylady. Sie wissen sehr genau, wie erfolgreich Mylady als Detektiv sind. Nach einem etwaigen Doppelspiel muß Mr. Atkers damit rechnen, daß Mylady eine Gegenrechung aufmachen werden.« »Worauf dieses Subjekt sich verlassen kann.« Die ältere Dame geriet bereits in Wallung. »Darum erlaube ich mir, immer noch auf Mr. Atkers zu setzen, zumal sein Honorar nicht schlecht sein wird.« Während dieser Unterhaltung hat-
ten Parker und Lady Simpson bereits Bridgewater hinter sich gelassen und befanden sich wieder auf dem Motorway Nr. 5 in Richtung Bristol. Nach wenigen Kilometern blendete Parker die Scheinwerfer seines hochbeinigen Monstrums auf, wie sein Privatwagen spöttisch genannt wurde. Das ehemalige echt Londoner Taxi, das nach seinen sehr eigenwilligen Plänen technisch neu gestaltet worden war, war eine einzige Trickkiste auf Rädern, was man jedoch von außen nicht merkte. Im Licht der Scheinwerfer entdeckte der Butler zwei Polizeistreifenwagen und einen Krankenwagen. Er minderte die Geschwindigkeit und näherte sich der Unfallstelle. »Wenn Mylady erlauben, werde ich Hilfe anbieten«, sagte der Butler, nachdem er gehalten hatte. Er wartete die Erlaubnis seiner Herrin allerdings erst gar nicht ab, sondern stieg aus und schritt würdevoll auf die Streifenwagen zu. Er kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Männer des Krankenwagens schoben gerade eine von zwei Tragen in den hinteren Raum. »Ein Unfall, wenn ich die Lage richtig einschätze?« Parker wandte sich an einen der uniformierten Polizisten, wartete nicht auf Antwort, sondern trat neben die zweite Trage und erkannte Ben Atkers. 50 �
Der Nachtclubbesitzer war bei Bewußtsein. Er machte einen leicht lädierten Eindruck, hatte Schrammen im Gesicht und ein dick verbundenes Bein. Er erkannte den Butler und richtete sich auf, das heißt, er wollte es tun, doch er stieß nur einen Wehlaut aus. »Sie sehen mich bestürzt«, sagte Parker und beugte sich über Ben Atkers. »Sie hatten einen Unfall?« »Tatson und Mooney«, flüsterte Atkers hastig und sorgte dafür, daß die Uniformierten diesen Hinweis nicht mitbekamen. »Eine Falle! Um ein Haar hätten die uns umgelegt.« »Moment mal, Sie kennen den Mann?« mischte sich ein Streifensergeant in die Unterhaltung. »In etwa, Sir«, gab Parker zurück. »Falls ich mich nicht sehr irre, besitzt der Bedauernswerte einige Nachtlokale in London. Ich werde Sie, wenn es recht ist, später ausführlicher informieren.« Parker schob sich so vor Atkers, daß der Nachtclubbesitzer wieder ungestört reden konnte. »Ich habe mitbekommen, daß sie nach Weston wollen.« »Zusammen mit der jungen Dame?« »Okay.« Ben Atkers stöhnte. »Hören Sie, das gibt aber Schmerzensgeld, oder?« »Mit Sicherheit«, versprach Parker. »Wie geht es Ihrem Begleiter?«
»Beinbruch und ein paar Rippen im Eimer«, sagte Ben Atkers. »Tatson und Mooney müssen eine Art Mine gelegt haben. Wir sind voll drauf gefahren.« »Mein Mitgefühl wird Sie ins Hospital begleiten«, versicherte Parker dem Nachtclubbesitzer. »Nehmen Sie lieber Tatson und Mooney hoch«, verlangte Atkers und verzog sein Gesicht. »Und verdoppeln Sie das Honorar!« »Mit Sicherheit, Mr. Atkers.« Parker lüftete seine schwarze Melone und widmete sich dem Sergeant, der vor Ungeduld bereits zappelte und argwöhnisch geworden war. »Zu Ihren Diensten, Sir«, meinte Parker zu ihm, während Ben Atkers nun ebenfalls verladen wurde. »Was hatten Sie da miteinander zu tuscheln?« fragte der Sergeant gereizt. »Sie kennen den Mann?« »Dies, Sir, deutete ich bereits an«, meinte Butler Parker, um dann zu einer längeren Erklärung auszuholen, die zwar wortreich war, aber auf keinen Fall den Tatsachen entsprach. Wenn es sein mußte, konnte Josuah Parker unentwegt reden, ohne auch nur das geringste zu sagen. * Sie spürte, daß sie hochgehoben wurde. Sie bekam mit, daß man sie aus dem Wagen trug, hörte Stimmen, leises Lachen, dann das öffnen 51 �
und Schließen von Wagentüren. Ein Motor heulte auf, wieder Stimmen und erneut Hände, die sie auf weiche Polster drückten. Kathy Porter in der Rolle und Maske Patricia Clanters’ kämpfte gegen die lähmende Müdigkeit an, die sie wieder einschlafen lassen wollte. Sie aktivierte ihre Energie, tauchte auf aus dem tiefen Schacht der Willenlosigkeit und war plötzlich voll da. Natürlich hielt sie ihre Augen geschlossen. Sie blieb weich und schlaff auf dem Polster liegen, von dem sie jetzt wußte, daß es der Rücksitz eines Wagens sein mußte. »Lief doch wie geschmiert«, hörte sie eine Männerstimme. »Auf Tatson und Mooney kann man sich verlassen«, stellte, eine zweite Männerstimme fest. »Und falls nicht, werden sie Pech haben.« Die erste Männerstimme ging in leises Lachen über. »Glaubst du, sie würden sich an uns hängen?« »Ich glaube nur, was ich sehe. Kann sein, daß sie ein Zusatzgeschäft machen wollen.« »Wir karren also erst mal durch die Gegend?« »Nee, direkt zum See«, kam die Antwort. »Am Moor wissen wir mehr. Und dort erwischen wir sie auch, falls sie uns nachkommen sollten.« Kathy Porter drohte wieder in den
Schlaf abzurutschen. Die Stimmen der beiden Männer wurden undeutlicher und schwankten in der Tonhöhe. Sie atmete tief durch und erreichte erneut ihr Bewußtsein zurück. Sie bewegte sich scheinbar wie im Schlaf, als plötzlich der Lichtschein einer Taschenlampe ihr Gesicht traf. »Sieht gut aus, die Kleine, wie?« Die erste Männerstimme klang anerkennend. »Hitcham wird seine Freude an ihr haben«, meinte die zweite. »Hitcham, das ist das Stichwort, Gene«, sagte die erste Männerstimme. »Wie verhalten wir uns? Spielen wir weiter mit?« »Wie denkst denn du darüber?« fragte der Mann, der mit Gene angeredet worden war. »Auf welcher Seite stehst du, Will?« »Auf der Seite, die Geld bringt, Gene.« »Ist auch meine Ansicht, Will. Wird Hitcham teilen? Traust du ihm über den Weg? Wird er nicht versuchen, uns früher oder später auszubooten?« »Bei Hitcham sitzt alles drin, Gene.« »Warum warten wir also, bis er zieht?« »Was ist mit Beaford?« »Schwer auszurechnen, aber im Zweifelsfall steht er auf unserer Seite.« Kathy Porter verfolgte das 52 �
Gespräch mit größtem Interesse. Soviel wußte sie inzwischen: Sie war von den beiden ersten Entführern an zwei andere Gangster weitergereicht worden, die mit Hitcham in engstem Kontakt stehen mußten. Butler Parkers Rechnung war also doch aufgegangen. Fatty Hitcham, der aus dem Zuchthaus entkommene Gangsterboß, hatte die Reedertochter Patricia Clanters, deren Rolle sie spielte, entführen lassen, um sich an ihr zu rächen. Der Haß des Gangsterbosses war größer als seine Vorsicht. Er ließ sein Opfer jetzt in sein Versteck bringen, das sich in der Nähe eines Moores befinden mußte. Kathy hatte Zeit, ihre Lage zu überdenken. Wußten Butler Parker und Lady Simpson inzwischen schon von der Entführung? Hatte dieser Ben Atkers Zeit und Gelegenheit gehabt, eine entsprechende Nachricht abzusetzen? War Butler Parker bereits auf dem Weg, um im geeigneten Moment zu erscheinen? Sollte sie schon jetzt den leistungsstarken, aber kleinen Sender, der sich in ihrer Gürtelschnalle befand, in Betrieb setzen? Sie hörte noch mehr. Drei Männer befanden sich zusammen mit Hitcham im Versteck. Zwei davon hier im Wagen hießen mit Vornamen Gene und Will, der dritte hieß Beaford. Es handelte sich mit
Sicherheit um die drei Leibwächter Hitchams, deren Existenz und deren Namen der Gangsterboß während seines Prozesses in London verschwiegen hatte. Obwohl Kathy Porter normalerweise an ein scheues und ängstliches Reh erinnerte, war sie keineswegs furchtsam. Sie konnte sich in Sekundenschnelle in eine Pantherkatze verwandeln. Dennoch hatte sie ein flaues Gefühl in der Magengegend, während sie durch die Nacht gefahren wurde. Sie wußte schließlich nicht, was Hitcham mit ihr vorhatte. Ihr war nur bekannt, daß dieser Gangsterboß ein brutaler und rücksichtsloser Mann war, in dem jetzt zusätzlich noch der Haß kochte. * »Nichts gegen Geschäftsprinzipien«, sagte Tatson. »Richtig«, bestätigte sein Freund und Partner Mooney. »Aber nicht um jeden Preis.« »Siebenhundertfünfzigtausend Pfund sind nicht zu verachten«, fand Tatson. »Dafür kann man schon mal auf Grundsätze pfeifen«, erklärte Mooney. »Noch dazu, daß Hitcham früher oder später doch erwischt wird.« »Richtig. Und dann liegt das Geld nutzlos auf irgendeinem Konto herum.« 53 �
Die beiden Einzelunternehmer hatten ihr Opfer ordnungsgemäß abgeliefert und waren ein Stück die Straße hinuntergefahren. Nun hatten sie angehalten und diskutierten in aller Ruhe ihr nächstes Geschäft. »Klarer Fall, daß Hitcham da drüben irgendwo im Moor steckt«, sagte Tatson. »Liegt auf der Hand.« Mooney nickte. »Wahrscheinlich schwer zu erreichen.« »Schwierigkeiten machen eine Sache erst interessant«, tippte Tatson an. »Schwierigkeiten haben mich schon immer gereizt«, erklärte Mooney. »Natürlich rechnen die damit, daß wir ihnen folgen.« Tatson kannte die Gepflogenheiten der Branche. »Die trauen uns nicht über den Weg.« »Die stellen uns eine Falle«, sagte Mooney und nickte. »Würden wir ja auch machen, oder?« »Natürlich«, bestätigte Tatson. »Das gehört zum Geschäft. Wie gehen wir also vor?« »Wir bleiben in der Gegend und warten, bis es hell wird.« Die beiden Eigenunternehmer hatten keine Eile. Sie suchten sich eine passende Nebenstraße aus, parkten den Wagen unter einem Baum, der zu einer weiten Wiese gehörte und warteten auf das Morgengrauen. Sie hatten viel Zeit. Ihnen war klar, daß
Fatty Hitcham hier in der Gegend sein mußte und daß er sich vorerst nicht aus seinem Versteck wagte. Mooney hatte das Innenlicht des Wagens eingeschaltet und studierte eine Straßenkarte. »Du, mir geht ein Licht auf«, sagte er nach einer Weile. »Du ahnst, wo Fatty steckt?« »So ungefähr. Sieh mal, hier von Weston aus geht eine Seitenstraße ‘rüber nach Bath. Und die geht vorbei an zwei Seen und an ein paar Hochmooren.« »Hört sich aber prächtig an.« »Einzelheiten sind auf dem Ding hier nicht verzeichnet«, redete Mooney weiter. »Das heißt, bei Chew Stoke gibt es im See ein paar kleine Inseln. Und das ganze Gebiet steht unter Naturschutz.« »Inseln?« Tatson wurde hellhörig. »Das ist doch genau das, was Fatty Hitcham braucht.« »Und auf einer der Inseln steht ein altes Kloster. Hier, ist am Rand als Sehenswürdigkeit verzeichnet.« »Sein Versteck? Rennen da nicht dauernd Touristen herum?« »Ist doch ein Naturschutzgebiet. Betreten verboten, steht auch hier am Rand.« »Na bitte.« Tatson hatte begriffen. »Da finden wir Hitcham. Aber zusammen mit seinen drei Leibwächtern.« »Die nicht von schlechten Eltern sind.« Mooney war Realist. 54 �
»So mies sind wir nun auch wieder nicht.« Tatson lächelte. »Vor allen Dingen dann, wenn wir plötzlich im Kloster erscheinen.« »Und denen ‘ne Spezialmesse halten.« Die beiden Einzelunternehmer waren guter Dinge. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß sie auf der richtigen Fährte waren und ihre Schlußfolgerungen stimmen mußten. »Morgen besorgen wir uns Wanderkarten«, schlug Mooney vor. »Darauf ist alles verzeichnet, was wir brauchen. Und dann kann es von mir aus in der kommenden Nacht losgehen. Ich wette, daß Hitcham uns eine Menge sagen wird.« »Und die kleine Clanters wird dann noch eine Belohnung ausspucken, wenn wir sie wieder herausholen«, fügte Tatson hinzu. »Ein paar tolle Angebote hat sie uns ja schon gemacht.« Mooney und Tatson fühlten sich pudelwohl. Sie witterten das Geschäft ihres Lebens, weil sie keine Ahnung hatten, daß Butler Parker und Lady Simpson ebenfalls auf der Spur waren. * »Darf es noch etwas Tee sein, Mylady?« erkundigte sich Josuah Parker gemessen. »Mit einem Schuß Kognak«, erwiderte die Detektivin. »Es ist ziemlich
kühl hier, finden Sie nicht auch?« »Darf ich daran erinnern, daß Mylady jederzeit in einen Gasthof übersiedeln können?« »Nein, nein, ich bleibe auf der Spur.« Sie schüttelte den Kopf. »Drüben in Weston möchte ich nicht gesehen werden. Vielleicht hat Hitcham dort einen seiner Leibwächter postiert.« »Mylady könnten im Wagen etwas ruhen.« Parker deutete auf sein hochbeiniges Monstrum. »Später vielleicht.« Sie nickte, als Parker ihr den heißen Tee mit einem gehörigen Schuß Kognak servierte. Sie saß in einem bequemen Feldstuhl, und vor ihr, auf einer Art Campingstuhl, hatte Parker gedeckt und ein kleines Mahl serviert. Er hatte es auf einem Spirituskocher zubereitet und an guten Zutaten nicht gespart. »Sie glauben also, daß Hitcham sich in einem der Hochmoore befindet, Mr. Parker?« fragte sie nach einem herzhaften Schluck aus der Teetasse. »Diese Annahme, Mylady, drängt sich förmlich auf«, antwortete Josuah Parker würdevoll. »Ich darf gewisse Fakten noch mal erwähnen, falls es erlaubt ist.« »Genieren Sie sich nicht, aber setzen Sie sich endlich!« »Mylady haben vielleicht noch Wünsche?« »Dann werde ich mich schon mel55 �
den.« Sie deutete energisch auf den zweiten Feldsessel, und Parker nahm auf der Kante Platz. Er saß steif, als habe er einen Ladestock verschluckt. »Ich darf darauf verweisen, Mylady«, begann er endlich, »daß Mr. Ben Atkers die Stadt Weston erwähnte, also Weston super Mare, um genau zu sein, jener Badeort dort drüben an der Küste. Hinzu kommen die Rotwurst aus Liverpool und Swindon, wohin die Firma Foresters lieferte. Zeichnet man nun ein Dreieck, Mylady, dann befinden sich in der Mitte dieses geometrischen Gebildes die beiden Seen bei Chew Stoke.« »Ist das nicht etwas weit hergeholt?« Sie sah ihn skeptisch an. »Wenn die Stadt Weston nicht erwähnt worden wäre, Mylady. Dort scheint man Miß Porter an die Männer Fatty Hitchams übergeben zu haben. Daraus erlaube ich mir zu folgern, daß man Miß Porter in eines der kleinen Hochmoore gebracht hat.« »Das hört sich aber sehr unangenehm an.« Lady Simpson schüttelte sich. »Im größeren der beiden Seen, Mylady, im See von Chew Stoke, befinden sich einige Inseln. Auf einer der Insel erheben sich noch heute die Reste der Gemäuer einer ehemaligen Abtei.« »Das haben Sie alles aus Ihren Kar-
ten?« »Gute Landkarten können äußerst hilfreich sein, Mylady. Meiner sehr bescheidenen Meinung nach dürfte Miß Porter sich auf der Abteiinsel befinden, wenn ich diesen Ausdruck prägen darf.« »Das klingt schon fast logisch und überzeugend, Mr. Parker.« Ihr Nicken machte einen wohlwollenden Eindruck. »Und wie kommt man hinüber auf die Insel?« »Hier erlaube ich mir gewisse Schwierigkeiten zu sehen, Mylady.« »Ich nämlich ebenfalls.« Sie richtete sich auf und nahm wieder einen Schluck Tee, der fast nur aus gutem, alten, französischen Kognak bestand. »Man wird uns sehen. Und auch die Polizei, falls wir sie einschalten sollten. Vergessen Sie nicht, daß Hitcham eine Geisel hat, nämlich Kathy!« »Man könnte vielleicht mittels eines Tauchgeräts den See überwinden, Mylady.« »Haben Sie so etwas im Wagen?« »Zu meinem Leidwesen muß ich ungemein bedauern, Mylady. Mit solch einer Möglichkeit habe ich leichtsinnigerweise nicht gerechnet.« »Typisch für Sie, Mr. Parker.« Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. »Mir wäre so etwas nicht passiert.« »Gewiß nicht, Mylady. Aber ein Tauchgerät könnte man sich besorgen.« »Gut, besorgen Sie zwei!« 56 �
»Mylady haben die Absicht, sich an diesem Manöver zu beteiligen?« »Was dachten denn Sie, Mr. Parker? Es geht um Kathy, wenn ich Sie daran erinnern darf! Ich kann das arme Kind doch nicht ohne Schutz lassen. Wer weiß, was inzwischen mit Kathy geschieht, ich darf gar nicht daran denken!« * Fatty Hitcham war aufgestanden und hatte sich vor seinem Opfer aufgebaut. Er war überrascht, wie gut und attraktiv diese Patricia Clanters aussah. Sie hatte den Kopf gesenkt, hatte ganz eindeutig große Angst und zeigte ihm damit genau das, was er sehen wollte. »Du kennst mich?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf und weinte plötzlich. Fatty Hitcham genoß es, denn er hatte keine Ahnung, welch guter Schauspielerin er gegenüberstand. »Fatty Hitcham! Sagt dir der Name etwas?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Dein Alter hat mich vor einem Jahr ‘reingelegt und mir fünfzehn Jahre Zuchthaus verschafft«, redete Hitcham weiter. »Leider ist er abgekratzt, doch das macht nichts. Dafür wirst jetzt du bezahlen, Süße.« »Was… Was habe ich denn damit zu tun?« fragte Kathy Porter in der
Rolle der Patricia Clanters. »Du bist seine Tochter. Das hast du damit zu tun.« »Aber… Aber ich kann doch nichts dafür, daß mein Vater…« »Spielt keine Rolle«, sagte er, sie unterbrechend. »Na ja, ich will dir eine Chance geben, Hübsche.« »Sie wollen Geld?« »Unsinn, davon habe ich selbst genug. Deine Chance heißt leben. Vielleicht bringe ich dich nicht um, wenn du schön mitspielst.« »Mitspielen?« Sie schien überhaupt nicht zu verstehen. »Mit mir, mit uns.« Er lachte dröhnend. »Wir fühlen uns nämlich allein.« Kathy Porter hätte diesen Gangsterboß ohne weiteres angreifen und außer Gefecht setzen können, denn noch waren ihre Hände frei. Sie war sehr erfahren in allen Künsten der Selbstverteidigung. Judo und Karate waren ihr vertraut. Doch da waren noch die drei Leibwächter dieses Widerlings. Sie standen seitlich und hinter ihr. »Packt sie erst mal weg«, sagte Fatty Hitcham jetzt. »Moment, Boß.« Der Mann, den Kathy als Gene Potter identifiziert hatte, ging an eine Kiste heran und griff nach einer Whiskyflasche. Er schraubte sie auf, setzte den Flaschenhals an den Mund und nahm einen Schluck. Er reichte die Flasche an seinen 57 �
Begleiter weiter, der sie ergriff und ebenfalls trank. Kathy stand dicht davor, sich jetzt blitzschnell abzusetzen. Mit etwas Glück konnte sie sich in die Dunkelheit der Gewölbe flüchten und irgendwo verstecken. Vielleicht hatte sie sogar eine Möglichkeit, die Gewölbe der ehemaligen Abtei zu verlassen. War sie erst mal draußen, dann hatte sie nichts mehr zu befürchten. Sie riskierte es! Sie schlug mit der flachen Hand unter den Flaschenboden des trinkenden Mannes, der daraufhin unter Schluckbeschwerden litt. Er gurgelte, warf sich zur Seite und behinderte dadurch seinen Partner, der gerade erst getrunken hatte. Kathy fegte mit einem Beinschwung eine der Petroleumlampen vom improvisierten Tisch, duckte sich und rannte los. Sie hörte hinter sich Fluchen, Rufe, Schreie. Sie kümmerte sich selbstverständlich nicht darum, sondern rannte weiter, prallte gegen eine Steinmauer, stöhnte auf, tastete sich weiter, sah den Lichtstrahl einer Taschenlampe, fand einen Durchgang und lief, was sie konnte. Sie befand sich jetzt in totaler Finsternis, streckte weit ihre Arme aus, ertastete wieder eine feuchte Mauer, war verzweifelt, so vorschnell gehandelt zu haben, hörte hinter sich Schritte, sah dann erneut das
Licht der Taschenlampe und fand ihren Weg. Dicht neben ihr war der lange Gang durch die Seitengewölbe. Wenn sie ihn passieren wollte, mußte sie allerdings durch das Licht. Und dann wurde sie automatisch zur Zielscheibe für die Gangster. Würden sie sofort schießen? Ja, sie ging davon aus. Diese Männer ließen sich bestimmt auf kein Risiko ein und würden mit allen Mitteln ihre weitere Flucht verhindern. Die Gangster hatten sehr geschickt reagiert und ihre weitere Flucht mit der Taschenlampe unterbunden. Sie blieb also stehen, duckte sich und schlich sich dann wie eine Katze zurück zum Gewölbe, aus dem sie geflüchtet war. Jetzt mußte sie es durchstehen und angreifen. * »Ich erlaube mir, Mylady einen schönen guten Morgen zu wünschen«, sagte Josuah Parker und öffnete die hintere Tür seines hochbeinigen Monstrums. Er war korrekt gekleidet wie immer. Er war erstklassig rasiert und sah frisch aus. Eine lange Nacht schien es für ihn nicht gegeben zu haben. »Neuigkeiten?« erkundigte die ältere Dame sich. Sie gähnte und war sofort bei der Sache. 58 �
»Der Tee ist serviert, ebenfalls ein, wenn auch frugales, doch hoffentlich akzeptables Frühstück, Mylady.« »Wo kann ich mich frisch machen?« »Dort unten am Bach, wenn Mylady damit einverstanden sind?« »Natürlich, ich war schließlich Pfadfinderin«, antwortete sie. »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Gibt es Neuigkeiten?« »Diese Frage muß ich leider bedauernd verneinen, Mylady. Der Sender Miß Porters hat sich bisher noch nicht gemeldet.« »Dann ist sie wohl gar nicht hier in der Nähe, wie?« »Man sollte die Hoffnung nicht vorschnell aufgeben, Mylady.« »Sobald ich mich frischgemacht habe, werde ich meine Entscheidung treffen«, grollte sie. »Ich habe keine Lust, hier untätig herumzusitzen.« Parker verbeugte sich andeutungsweise, während Agatha Simpson hinunter zum nahen Bach stampfte und hinter dichten Sträuchern verschwand. Butler Parker, versiert in allen Lebenslagen, heizte den Spirituskocher an und briet einige Scheiben Schinkenspeck. Dann sorgte er für ein gut gewürztes Rührei, bereitete Toast zu und schraubte die Porzellandose mit der frischen, gesalzenen Landbutter auf. Als Lady Agatha nach zehn Minuten wieder am Wagen erschien,
brauchte sie nur noch Platz zu nehmen. »Wir werden diese Abteiinsel besuchen«, entschied die Detektivin. »Ich dulde keine weitere Ungewißheit, Mr. Parker. Besorgen Sie ein passendes Boot!« »Sehr wohl, Mylady, obwohl ich mich erkühnen möchte, von solch einem Unternehmen Abstand zu nehmen.« »Haben Sie neuerdings Angst?« »Um Miß Porter, um genau zu sein, Mylady. Man könnte sie durch ein riskantes Manöver in unnötige Gefahr bringen.« »Nun ja.« Agatha Simspon wußte im Moment nicht darauf zu antworten. Sie widmete sich dem Frühstück und mäkelte am Toast herum, der ihrer Ansicht nach nicht resch genug war. »Während Mylady noch der Ruhe pflegten«, redete Parker weiter, »war ich so frei, die nähere Umgebung zu inspizieren.« »Und was haben Sie entdeckt?« »Eine weitere Wiese, Mylady, auf der Vorbereitungen für eine Ballonfahrt unternommen werden.« »Was hat das mit der Insel zu tun? Wie war das? Ballon? Das ist ja ausgezeichnet!« »Dies erlaubte ich mir ebenfalls zu finden, Mylady. Es handelt sich sogar um mehrere Ballons.« »Ausgezeichnet! Wir werden einen davon mieten. Leiten Sie das in die 59 �
Wege!« »Sehr wohl, Mylady.« »Wir werden die Abteiinsel aus der Luft angreifen. Von dorther erwartet man uns bestimmt nicht.« »Davon könnte man durchaus ausgehen, Mylady, zumal dann, wenn man den Massenstart auch der übrigen Ballons abwartet.« »Das sagte ich ja gerade«, behauptete sie in ihrer selbstverständlichen Art. »Die übrigen Ballons werden unseren Angriff tarnen.« »Ein schöner Tag«, fand die ältere Dame jetzt plötzlich und nickte wohlwollend. »Der Toast war eigentlich auch recht passabel, Mr. Parker.« »Mylady machen eine bescheidene Person glücklich.« »Wann fliegen wir?« »Die Termine müßte man noch mit den Luftfahrern absprechen, Mylady, ohne den eigentlichen Sinn des Privatfluges zu verraten.« »Selbstverständlich.« »Ich hätte noch eine zusätzliche Nachricht, Mylady.« »Nämlich? Wollen Sie mich wieder mal auf die Folter spannen?« »Auf einer dritten Wiese, ganz in der Nähe übrigens, Mylady, parkt ein Wagen, in dem zwei bekannte Männer sitzen, die in der Unterwelt nicht gerade unbekannt sind.« »Hitchams Leibwächter?« »Kaum, Mylady. Sie heißen Tatson und Mooney. Sie verkaufen ihre
negativen Fähigkeiten für Geld und sollen auch vor einem Mord nicht zurückscheuen.« »Tatson und Mooney? Das sind doch diese Subjekte, die Kathy aus Bournemouth entführt haben, nicht wahr?« »Laut Mr. Ben Atkers’ Bericht.« Parker nickte andeutungsweise. »Warum haben Sie diese Individuen nicht außer Gefecht gesetzt?« wunderte die Detektivin sich. »Ich war bereits so frei«, antwortete Parker. »Nach dem Frühstück stehen sie Mylady zu einem Gespräch zur Verfügung.« * Kathy Porter lag flach auf dem feuchten Steinboden und lauschte. Das grelle Licht der Taschenlampe machte es ihr nach wie vor unmöglich, den Gang hinaus ins Freie zu benutzen. Sie wäre so unweigerlich in die Schußlinie der Gangster geraten. Sie warteten ja nur darauf, gezielte Schüsse abgeben zu können. Erstaunlicherweise unternahmen die Männer im Nebengewölbe überhaupt nichts. Sie versuchten nicht, nach ihr zu suchen. Sie blieben im Schutz der Dunkelheit und ließen es offensichtlich auf einen Nervenkrieg ankommen. Sie rechneten wohl damit, daß ihr Opfer die Selbstbeherrschung verlor, aufsprang und zu flüchten versuchte. 60 �
Diesen Gefallen tat Kathy Porter ihnen jedoch nicht. Zentimeterweise arbeitete sie sich an den Eingang zum Nebengewölbe heran, vermied dabei jedes Geräusch und war bereit, jederzeit hochzuschnellen wie eine Stahlfeder. Die Sekunden dehnten sich zu kleinen Ewigkeiten. Kathy Porter hatte die gegenüberliegende Wand erreicht. Im Widerschein des Lichts konnte sie sich recht orientieren. Sie richtete sich vorsichtig auf und dachte erst jetzt daran, den kleinen, aber leistungsstarken Sender in ihrer großen Gürtelschnalle einzuschalten. Sie wußte natürlich nicht, ob Butler Parker bereits in der Nähe war, aber darauf mußte sie es jetzt ankommen lassen. Noch hatte sie eine Möglichkeit, diesen Sender zu bedienen und ihn seine Impulse ausstrahlen zu lassen. Im Nebengewölbe blieb alles ruhig. Kathy Porter entspannte sich ein wenig und hatte nun Zeit, sich mit den Ziernieten an ihrer Jeansweste zu befassen. Sie drehte einen Nietenkopf aus der Verschraubung und warf ihn dann in engem Bogen geschickt und kraftvoll ins Dunkel. Der Effekt war frappierend! Der kleine Metallknopf landete auf dem Steinboden im Nebengewölbe und detonierte wie eine Granate. Fast synchron dazu fielen Schüsse.
Die Geschosse peitschten durch die Gewölbeöffnung in den Gang hinaus und landeten an irgendeiner Wand. Sie prallten ab und jaulten als Querschläger weiter. Die Gangster waren also noch da und durch die Detonation nur aus ihrer abwartenden Reserve hochgeschreckt worden. Sie hatten sich keineswegs zurückgezogen, wie sie es vielleicht hatten vortäuschen wollen. Kathy Porter lächelte. Ihre Vorsicht hatte sich ausgezahlt. Insgeheim dankte sie wieder mal Butler Parker, der sich diese Überraschung hatte einfallen lassen. Er war in seiner Freizeit ja stets damit beschäftigt, sich neue Tricks und Überraschungen auszudenken. Kathy hatte den zweiten Nietenkopf abgeschraubt und schleuderte ihn ins Nebengewölbe. In die Detonation, auch dieses winzig kleinen Sprengkörpers hinein wurden wieder Schüsse abgefeuert. »Miß Clanters«, ließ sich dann eine etwas heisere Stimme vernehmen. »Miß Clanters, hören wir doch mit dem Unsinn auf, einverstanden?« Es war nicht die Stimme von Fatty Hitcham, wie sie sofort hörte. Dennoch hütete sie sich, darauf zu antworten. Ihre Stimme sollte den Gangstern nur verraten, wo sie sich aufhielt. »Miß Clanters, ich denke, wir können uns verständigen«, rief die 61 �
Stimme nach einer kurzen Pause. »Hier bei mir schläft alles. Ich bin allein an Deck. Mein Name ist übrigens Beaford, Will Beaford.« Sie reagierte nicht. »Wir können es auch darauf ankommen lassen«, rief der Mann, der sich Will Beaford nannte. »Ich kann auch anders.« Kathy lächelte und schwieg. Aber sie hielt einen dritten Nietenkopf in der rechten Hand. Ihn hatte sie vom rechten Hosenaufschlag abgedreht. Plötzlich erlosch das Licht der Taschenlampe. »Wetten, daß ich Sie erwische?« rief Will Beaford. »Aber dann geht es Ihnen verdammt schlecht.« Kathy schwieg eisern. Sie hörte eine Bewegung im Nebengewölbe, Schritte, das Rücken von Kisten und Kartons, dann einen leisen Fluch. Sekunden später glomm ein Lichtschein auf, der schnell heller wurde. Der oder die Gangster schienen eine der Petroleumlampen angezündet zu haben. Kathy ahnte, was das zu bedeuten hatte. Man wollte sie ausräuchern und diese Petroleumlampe in ihre Richtung werfen, damit sie irgendwo an einer der Wände zerschellte. Jetzt wurde es gefährlich. Sie mußte schneller sein. *
Sie waren zu sich gekommen. Tatson und Mooney fühlten sich zwar elend und wie verkatert, doch sie sahen sehr deutlich, wer sich da so drohend vor ihnen aufgebaut hatte. Die majestätische Fülle der etwas angejahrten Dame war ja nicht zu übersehen. Tatson und Mooney saßen auf dem Rücksitz ihres Wagens und waren durch zwei solide Handschellen an Händen und Füßen vorerst untrennbar miteinander verbunden. »Ich hoffe, Sie zieren sich nicht«, grollte Lady Simpson. »Ich brauche einige Auskünfte von Ihnen.« »Haben Sie uns das eingebrockt, Lady?« fragte Tatson. Er kannte die ältere Dame und deren Ruf in Kreisen der Unterwelt. »Ich war so frei, meine Herren«, schaltete Butler Parker sich ein und trat aus dem Schatten seiner Herrin. »Ich hoffe, Sie haben den Tiefschlaf genossen.« »Sie… Sie haben uns überfallen«, beschwerte sich Mooney, doch seine Stimme klang nicht sehr sicher. »Sie… Sie haben uns Blasrohrpfeile in die Arme geschossen. Das ist Körperverletzung«, fügte Tatson hinzu. Er sah sie noch jetzt vor sich, diese scheußlich bunt gefiederten Kurzpfeile, die Josuah Parker in Notfällen zu verschießen pflegte. Die Spitzen dieser Pfeile waren natürlich entsprechend präpariert und vermittelten den Opfern ein 62 �
chemisches Tiefschlafmittel, das sehr schnell wirkte. Er konnte diese Pfeile, die an dünne Stricknadeln erinnerten, mittels Kohlesäurepatronen aus seinem altväterlich gebundenen Universalregenschirm verschießen. Wie im Fall Tatson und Mooney, die keine Chance zur Gegenwehr gehabt hatten. »An wen haben Sie Miß Clanters weitergereicht?« erkundigte sich Agatha Simpson, die auf die Beschwerden der beiden Einzelunternehmer überhaupt nicht einging. »Wer ist Miß Clanters?« fragte Tatson. »Nie von gehört«, behauptete Mooney. »Mr. Parker, etwas Musik, wenn ich bitten darf.« Sie beugte sich in den Wagen hinein. »Das Geschrei dieser beiden Subjekte muß ja nicht unbedingt gehört werden.« Parker drehte das Wagenradio auf volle Lautstärke. Dann schaute er diskret zur Seite. Lady Simpsons Ohrfeigen waren bekanntermaßen nicht von schlechten Eltern. Sie war noch immer eine begeisterte Golfspielerin und verfügte dementsprechend über eine gute Handschrift. »Wir setzen das solange fort, bis ich die Wahrheit höre«, grollte die Sechzigjährige und übertönte die Radiomusik, die übrigens im Rahmen einer früheren Folkloresendung schottische Ländler spielte, zu der
eine Laune des Schicksals – im Takt in die Hände geklatscht wurde. Es war eine durchaus passende Musik zu dieser Szene, die von der alteren Dame sofort erkannt und auch rhythmisch genutzt wurde. »Etwas leiser, wenn ich bitten darf«, hörte Parker die Stimme seiner Herrin. »Ich glaube, diese beiden Flegel wollen endlich reden.« Parker minderte die Lautstärke und wandte sich Tatson und Mooney zu. Sie hatten frische, gerötete Gesichter und sahen sehr munter aus. Die Morgenmusik plus Myladys Handflächenbegleitung hatte sie offensichtlich in Stimmung gebracht. »Das ist ungesetzlich«, beschwerte sich Tatson, zog aber sehr schnell den Kopf ein, als er den harten Blick der älteren Dame mitbekam. »Das ist gegen die Menschenrechte«, urteilte Mooney und zuckte zusammen, als Lady Simpson ihre Handflächen unternehmungslustig gegeneinander rieb. »Also?« fragte sie nur. »Hitcham hat uns bezahlt«, gestand Tatson hastig. »Wir haben die Kleine kaum angerührt«, fügte Mooney schnell hinzu. »Das war mehr eine Einladung als eine Entführung.« »Und wohin ist sie gebracht worden?« »Keine Ahnung, Lady, wirklich nicht.« Tatson sah die Sechzigerin 63 �
treuherzig an. »Das wollten wir heute herausfinden«, erklärte Mooney. »Wir wollten die kleine Clanters ja wieder zurückholen, Ehrenwort!« »Und an wen wurde sie übergeben? Die Namen!« »Wir… Also… Nee, niemals! Wir verpfeifen keinen.« Tatson kam sich für zwei bis drei Sekunden wie ein Held vor. Danach nicht mehr. Er hatte die nervigen Hände der begeisterten Golfspielerin erneut gespürt. »An Potter, Corston und Beaford«, rief Mooney, der an Myladys Handfläche überhaupt nicht mehr interessiert war. »Hitchams Leibwächter, nicht wahr?« »Das haben Sie gesagt, Lady«, meinte Tatson hastig. »Von uns haben Sie nichts gehört.« »Die Herren werden sich wahrscheinlich Gedanken darüber gemacht haben, wo Miß Clanters sich befindet«, schickte Parker jetzt voraus. »Darf man zu diesem Thema etwas erfahren?« »Die muß da drüben auf einer Insel sein«, sagte Mooney. »Da, wo die alte Abtei ist«, präzisierte Tatson diese Angabe. »Mehr wissen wir wirklich nicht.« »Erfrischen Sie sich«, meinte Parker und griff nach der flachen Flasche, aus der Kathy Porter bereits hatte trinken müssen. Er hatte sie im
Handschuhfach des Gangsterwagens entdeckt und nach kurzer Prüfung des Inhalts bemerkt, daß das Getränk mit einem starken Schlafmittel versetzt war. Sie tranken gehorsam. Sie teilten sich den Restinhalt der Flasche, der noch beachtlich war. Schon nach wenigen Minuten glitten sie zurück in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Sie sahen aus wie satte Säuglinge, ein Bild, woran ihre rosig rot gefärbten Wangen nicht ganz unbeteiligt waren. Parker opferte eine dritte Handschelle. Er befestigte sie an der Fußspange, die die Beine der beiden Gangster zusammenhielt und verband sie dann mit dem Gestänge der Vordersitze. Ohne spezielles Handwerkzeug war es unmöglich, die beiden Einzelunternehmer zu befreien. * Kathy warf den dritten Nietenkopf ins Nebengewölbe und preßte gleichzeitig beide Fäuste fest gegen die Augäpfel. Obwohl sie die Augen fest zudrückte, wurde sie fast geblendet. Ein greller Lichtblitz flammte auf und schuf eine Helligkeit, die mit Sicherheit für Sekunden für eine fast totale Blindheit sorgte. Als das Rot auf ihrer Netzhaut sich verfärbte und schwächer wurde, kroch sie geschmeidig wie eine 64 �
Eidechse ins Nebengewölbe. Sie war sicher, daß sie nicht gesehen werden konnte. Der grelle Lichtblitz hatte dort unvorbereitete Augen getroffen. Was die Petroleumlampe anbetraf, so hatte sie sich nicht getäuscht. Sie brannte, lag auf dem Boden und drohte jeden Moment auszulaufen und zu platzen. Sie stellte die Lampe hastig wieder hoch und schaute sich um. Sie wußte nicht, was sie von dem Durcheinander halten sollte. Neben kleinen Kisten und Pappkartons lagen zwei Männer auf dem Boden und rührten sich nicht. Ob sie tot waren, konnte sie nicht feststellen. Auf einem Feldbett lag ein Mann, den sie sofort als Fatty Hitcham identifizierte. Hitcham war erstaunlicherweise an Händen und Füßen gefesselt. Ein vierter Mann saß mit angezogenen Knien auf dem Boden und hielt sich die Augen zu. Er krümmte sich und schien starke Schmerzen zu haben. Kathy wollte vorsichtig um ihn herumgehen, hatte aber das Pech, auf der Petroleumlampe auszurutschen. Sie verlor das Gleichgewicht und hatte erneut Pech. Sie fiel auf den sitzenden Mann, der sofort reagierte und trotz seiner Schmerzen fast automatisch zugriff. Sie wollte sich wehren, doch ein
glücklicher, blindlings geführter Fausthieb des Sitzenden traf ihre Schläfe. Sie stemmte sich für Sekundenbruchteile gegen die Ohmacht, verlor dann aber das Bewußtsein und fiel haltlos zu Boden. Als sie wieder zu sich kam, wußte sie nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen war. Sie merkte sofort, daß sie an Händen und Füßen gefesselt war. Sie hatte Kopfschmerzen, doch die ließen sich aushalten. Sie schaute sich nach dem Mann um, dem sie per Zufall doch noch in die Hände geraten war. Es war nichts zu sehen. Auf dem Boden vor den Kisten und Kartons aber lagen noch immer die beiden Männer, und auf dem Feldbett bewegte sich Fatty Hitcham, der sich gegen die Stricke stemmte und freizukommen versuchte. Er bemerkte ihren Blick und fauchte sie wütend an. »Er wird uns alle umbringen«, sagte er hastig. »Los, versuchen Sie hochzukommen und ‘rüber zu mir! Wir müssen die Fesseln lösen!« »Wer ist der Mann?« fragte sie. »Beaford«, sagte Hitcham. »Fragen Sie nicht, verdammt! Los, schieben Sie sich hoch! Benutzen Sie Ihre Zähne! Knoten Sie mich auf, sonst sind wir reif!« »Wie wäre es denn mit Ihren Zähnen?« fragte Kathy Porter. »Was ist 65 �
mit den beiden Männern dort am Boden?« »Potter und Corston. Beaford hat sie außer Gefecht gesetzt.« »Sind sie tot?« »Quatsch, er hat sie mit dem Whisky ‘reingelegt. Schlafmittel. Nun beeilen Sie sich doch, Beaford muß gleich wieder hier sein.« »Er hat auch Sie hereingelegt, wie?« Sie mußte unwillkürlich lächeln. »Das Schwein«, schimpfte Hitcham. »Er läßt uns alle im Sumpf verenden. Beeilen Sie sich!« »Hier sind meine Hände.« Sie hatte sich hochgeschoben und hüpfte an das Feldbett heran. Sie reichte ihm ihre Hände, die Beaford ihr auf dem Rücken zusammengeschnürt hatte. Der Gangsterboß hatte keine andere Wahl. Eifrig wie ein Kaninchen im Möhrenfeld, begann er an ihren Stricken zu knabbern. Er schien wirklich Angst vor seinem ehemaligen Leibwächter Beaford zu haben. * »Hoffentlich bringen Sie gute Nachrichten«, sagte die Detektivin. »Sie haben ja mal wieder eine Ewigkeit gebraucht, Mr. Parker.« »Ich fürchte, Mylady enttäuschen zu müssen«, erwiderte Parker. »Keiner der Ballonfahrer war und ist
bereit, auf seinen Flug zugunsten Myladys zu verzichten.« »Warum haben Sie nicht solch ein Ding gekauft, wie ich es vorgeschlagen habe?« »Auch dieses, Mylady, war nicht zu erreichen, trotz recht hoher Angebote«, erzählte Parker. »Die Luftschiffer, falls dieser Ausdruck richtig ist, freuen sich zu sehr auf ihren Wettbewerbsflug.« »Und wie kommen wir jetzt ‘rüber auf die Abteiinsel? Es wird höchste Zeit.« »Höchste Zeit, Mylady?« Parker hatte einen bestimmten Unterton in der Stimme der älteren Dame herausgehört. »Der Sender hat sich gemeldet. Das heißt, er tut es immer noch!« »Mylady machen meine bescheidene Wenigkeit glücklich.« Parker eilte an das Radiogerät seines hochbeinigen Monstrums und stellte die Lautstärke nach. Die Sendezeichen waren deutlich zu hören. Sie kamen laut und stark durch. »Der Sender muß sich in der Nähe befinden«, urteilte Parker und holte aus dem Handschuhfach ein kleines Gerät, das wie ein Taschenrechner aussah. Er schaltete es ein und hielt es dann prüfend vor sich. Langsam drehte er sich um seine Längsachse und pegelte die höchste Stufe der Empfangsleitung ein. »Die Abteiinsel, Mylady, daran dürfte kaum noch ein Zweifel beste66 �
hen«, meldete er dann. »Besorgen Sie ein Schlauchboot«, verlangte die energische Dame. »Kathy braucht mich!« »Darf ich mir erlauben, Mylady, einen anderen Vorschlag zu unterbreiten?« »Nur, wenn er gut ist, Mr. Parker.« »Normalerweise, Mylady, liegen meiner bescheidenen Wenigkeit Gewalt und Ungesetzlichkeit besonders fern«, schickte Parker voraus und wirkte völlig glaubwürdig. »In diesem speziellen Fall jedoch möchte er ich von meinen ehernen Grundsätzen abweichen.« »Nun sagen Sie doch schon endlich, was Sie meinen!« Sie seufzte auf. »Ich war so frei, Mylady, eine sogenannte Güterabwägung zu treffen.« »Güterabwägung?« Agatha Simpson verstand nicht recht. »Auf der einen Seite, Mylady, bestehen an den Ballons fest umrissene Besitzrechte, auf der anderen Seite hingegen geht es unter Umstände um das Leben von Miß Porter.« »Gut, daß Sie das nicht vergessen haben.« Die Detektivin atmete innerlich auf. Ihr Butler hatte eine Entscheidung getroffen, die wichtig war und die sie bereits jetzt voll und ganz unterstützte. »Aus diesen Gründen, Mylady, erscheint es meiner bescheidenen
Wenigkeit gerechtfertigt, einen der Ballons auszuleihen, wenn ich es so und derart umschreiben darf.« »Das finde ich allerdings auch.« »Mit anderen Worten, Mylady, man sollte sich in den Besitz eines Ballons bringen.« »Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen.« »Mylady billigen also meine Ungesetzlichkeit?« »Das ist einer Ihrer besten Vorschläge, Mr. Parker. Aber können Sie mit solch einem Ding überhaupt umgehen?« »Theoretisch bin ich mir der aerodynamischen, nautischen und flugtechnischen Probleme voll und ganz bewußt, Mylady.« »Es liegt ein paar Jahre zurück«, untertrieb Lady Agatha Simpson. »Damals habe ich an einem Freiflug in einem Ballon teilgenommen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich weiß, wie man einen Ballon lenkt.« »Mylady sind sicher?« »Natürlich«, gab sie energisch zurück. »Sie kennen doch mein technisches Geschick, Mr. Parker. Wir werden diese Abteiinsel im Sturm erobern.« Während sie noch sprach, glaubte sie immer nachdrücklicher und intensiver an ihr Geschick. Parker eigentlich weniger, doch er schwieg aus Höflichkeit. Und auch aus dem Zwang heraus, die Gangster auf der Insel so oder so überraschen zu müs67 �
sen. Butler Parker war nur klar, daß ein zumindest haarsträubendes Abenteuer auf ihn wartete. * Als Schritte im Gewölbegang zu hören waren, hüpfte Kathy Porter eilig zurück zur alten Stelle und ließ sich auf dem feuchten Steinboden nieder. Will Beaford erschien und warf einen prüfenden Blick auf sie. Als sie seinen Blick erwiderte, grinste er fröhlich. »Überstanden?« fragte er. »Es geht«, erwiderte Kathy Porter und verzog ihr Gesicht, lächelte. »Ich lasse Sie jetzt für eine Weile allein. Kann sein, daß Hitcham besonders zäh ist, kann ich mir aber kaum vorstellen.« »Was soll denn aus mir werden?« fragte Kathy Porter. »Weiß ich noch nicht«, gab er zurück. »Es gibt da viele Möglichkeiten. Bis gleich.« Er durchschnitt Hitchams Fußfesseln und zog ihn vom Feldbett hoch. Er hielt plötzlich einen Revolver in der rechten Hand und stieß den Lauf gegen Hitchams Rücken. Er dirigierte den fassungslosen Gangsterboß aus dem Gewölbe, der unentwegt auf seinen ehemaligen Leibwächter einredete. Kathy wartete, bis die Schritte der
beiden Männer verhallt waren. Dann richtete sie sich auf und beschäftigte sich wieder mit dem Strick, der ihre Hände noch immer zusammenhielt. Hitcham hatte zwar gute Vorarbeit mit seinen Zähnen geleistet, doch eine Öffnung nicht geschafft. Kathy schob sich hoch, hüpfte zum improvisierten Tisch hinüber und hatte wenig später eines der Messer in der rechten Hand. Sie rammte es mit aller Kraft ins Holz und benutzte die Schneide, um die Handfesseln zu lösen. Sie war froh, daß sie nicht die Flamme der Petroleumlampe zu benutzen brauchte. Ohne Brandwunden und Schmerzen wäre das sicher nicht abgegangen. Nach wenigen Minuten waren ihre Hände frei. Sie bückte sich, durchschnitt die Fußfesseln und massierte erst mal die Gelenke, bis das aufgestaute Blut wieder richtig zirkulierte. Eine Waffe war schnell zur Hand. Sie fand einen Revolver in der Schulterhalfter eines der beiden am Boden liegenden Männer. Sie überlegte einen Moment. Sollte sie Gene Potter und Paul Corston ungefesselt zurücklassen? Was war, wenn sie aufwachten? Sie nahm sich die Zeit, die beiden Männer zu fesseln. Schnüre, die von den Kisten und Kartons stammten, fand sie in ausreichender Menge. Schnell und geschickt band sie die beiden Gangster. Dann warf sie alle 68 �
Schneidinstrumente, die sie entdeckte, ins Dunkel des Nebengewölbes, nahm die Petroleumlampe und eilte nach draußen. Wenn es sich eben einrichten ließ, wollte sie einen Mord verhindern! * Die aufgeblasene Konkurrenz wiegte sich sanft im Wind, der von der nahen Küste kam. Butler Parker und Lady Agatha befanden sich am Rand der Wiese und warteten auf ihren Einsatz. Die sechs Ballons waren bereits gefüllt, der Start sollte wohl bald erfolgen. Es war noch recht früh, doch aus den nahen Gehöften und von Weston her waren viele neugierige Zuschauer gekommen, die den Massenstart miterleben wollten. In den viereckigen Körben, die mit Sandsäcken bestückt waren, befanden sich bereits die Besatzungen. Haltemannschaften hielten die Leinen. Es war ein schönes und buntes Bild. »Wie steht der Wind?« erkundigte sich Lady Simpson bei ihrem Butler. »Ausgezeichnet, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, Mylady. Er weht in Richtung der Abteiinsel.« »Und wann wollen wir entern?« Sie schwang unternehmungslustig ihren perlenbestickten Pompadour, in dem sich ihr Glücksbringer befand, ein veritables, echtes Hufei-
sen, das aus Gründen der Humanität leicht mit dünnem Schaumstoff umwickelt war. »Man sollte vielleicht eine günstige Position einnehmen, Mylady«, schlug Parker vor. Er deutete mit der Spitze seines Universalregenschirms auf einen bestimmten Ballon, der ein wenig abseits von den anderen stand. Mylady setzte sich sofort in Marsch. Sie wollte zur Stelle sein. Sie schob sich ziemlich rauhbeinig durch die Menge der neugierigen Zuschauer und bahnte ihrem Butler eine Gasse. Dann hatten sie die vordere Reihe der Zuschauer erreicht. Der erste Ballon wurde freigegeben. Sanft und geräuschlos stieg er nach oben, wurde vom Wind erfaßt und gewann an Höhe, wobei er Richtung auf den See im Hochmoor nahm. »Worauf warten wir noch?« Agatha Simpson war nicht mehr zu halten. Sie sorgte sich um Kathy. Die Detektivin stampfte auf den Ballon zu, den sie sich ausgesucht hatte und winkte dem Führer, der sie ein wenig irritiert anschaute. »Ich habe eine Nachricht für Sie«, rief sie energisch. »Sie werden sehr überrascht sein.« Der Ballonführer, ein älterer Herr von etwa fünfundfünfzig Jahren, beugte sich erwartungsvoll vor und gluckste auf, als er von Lady Simp69 �
sons Pompadour am Kopf getroffen wurde. Das geschah derart schnell, daß die beiden anderen Insassen des Korbs gar nicht mitbekamen, was sich ereignet hatte. »So helfen Sie doch«, rief Agatha Simpson ihnen zu. »Sehen Sie denn nicht, daß ihm schlecht geworden ist?« Während sie das noch behauptete, zerrte sie den Ballonführer resolut über den Rand des Korbs nach draußen und leete ihn zusammen mit Parker im taufrischen grünen Gras ab. »Man scheint sie zu benötigen«, sagte Parker zum zweiten Ballonfahrer und legte den Bambusgriff seines Regenschirms um das Genick des verständlicherweise überraschten Mannes. Ein kurzer Ruck, und auch dieser Ballonfahrer befand sich im Gras. Lady Simpson stieg auf die kleine Holztreppe, die das Einsteigen in, den Korb erleichtert hatte und schwang sich in das leichte Gebilde, ohne sich um die Proteste des dritten Mannes zu kümmern. Als er sich leichtsinnigerweise über den Korbrand beugte, um nach seinen beiden Mitfahrern zu sehen, versetzte die Sechzigjährige ihm einen derben Stoß, worauf der Sportsmann nach außen kippte und einen spitzen Schrei der Überraschung ausstieß. Mylady griff herzhaft nach einem
Messer, das in einem Futteral an der Innenseite des Korbs hing und säbelte am Halteseil. Inzwischen stieg Josuah Parker zu und verlor dabei erstaunlicherweise nichts von seiner gewohnten Würde. »Mylady bedauern dieses ungewöhnliche Vorgehen ungemein«, versicherte er den teils überraschten, teils entzückten Zuschauern, die sich jedoch ohne Ausnahme amüsierten. »Höhere Beweggründe zwingen zu dieser Maßnahme, die später eine Erklärung finden wird.« Mylady befestigte inzwischen einige Dynamitbündel am äußeren Korbrand, sowie einige Eierhandgranaten. Parker hatte das Halteseil inzwischen endgültig zerschnitten und lüftete höflich seine schwarze Melone in Richtung einiger Polizeibeamter, die herbeieilten. »Keine unnötigen Höflichkeiten«, ermahnte die ältere Dame ihn unwirsch. »Sorgen Sie für Höhe, Mr. Parker, damit ich mich orientieren kann!« Parker trennte zwei Sandsäcke ab und nahm zufrieden zur Kenntnis, wie der Ballon förmlich nach oben hüpfte. Dann schaute er die kenntnisreiche Ballonfahrerin erwartungsvoll an und deutete auf den See, den man bereits sehen konnte. »Dort hinüber, Mylady, wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf.« »Sagen Sie das nicht mir, Mr. Par70 �
ker, sagen Sie das dem Wind«, raunzte sie ihn an. »Mit ihm scheint da einiges nicht zu stimmen.« * Er redete mit der Schnelligkeit und dem Wortreichtum eines Starverkäufers, der einem Eskimo einen Eisschrank verkaufen will. Fatty Hitcham befand sich bis zur Brust in einem Moortümpel und sackte langsam tiefer. Er schien bereits schon mal vollständig abgesunken gewesen zu sein, denn sein Gesicht war braun verschmiert und seine Augen waren verklebt. Er hing an einem Strick, den Will Beaford um seine Brust geschlungen hatte. Der ehemalige Leibwächter des Gangsterbosses hörte sich freundlich alles an und stellte nur hin und wieder Fang- und Querfragen. Er schien überhaupt nicht zu bemerken, wie Hitcham langsam tiefer ins Moor sank. Der Gangsterboß gab detaillierte Hinweise auf das Versteck der siebenhundertfünfzigtausend Pfund. Er beschrieb jede Kleinigkeit und verbreitete sich dann auch noch hastig über die Sicherungen, die er eingebaut hatte, um seine Beute nicht in falsche Hände gelangen zu lassen. Kathy Porter hatte sich an Beaford und Hitcham herangepirscht, Sie lag hinter einem dichten Strauch und nahm sich Zeit. Auch sie war daran
interessiert, noch mehr zu erfahren. Unmittelbare Lebensgefahr für Hitcham bestand ja noch nicht. Blubbernd sackte Hitcham tiefer in die zähe Brühe, die wie Sirup wirkte. Er bäumte sich auf, strampelte verzweifelt mit den Beinen herum und rutschte dadurch immer tiefer ab. Nach einem erstickten Schrei sackte er völlig weg. Kathy Porter richtete sich ein wenig auf. Wollte Beaford seinen ehemaligen Boß jetzt endgültig im Moor verschwinden lassen? Doch nein, er lupfte ihn wieder hoch, gönnte Hitcham eine kurze Verschnaufpause und bat dann freundlich, die ganze Geschichte noch mal zu wiederholen. Was Hitcham auch prompt tat. Nachdem er ein wenig herumgespuckt hatte, setzte er Beaford noch mal auseinander, wo die Beute sich befand. Er schwor Stein und Bein, die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. »Jetzt glaube ich es langsam«, meinte Beaford lächelnd. »Ich werde dich ‘rausholen, Fatty. Und dann geht es zurück in die Abtei. Falls du mich belogen hast, bist du reif fürs Moor. Ich denke, ich kann es in vier bis fünf Stunden geschafft haben.« »Mein Wort darauf, Will, in Liverpool wirst du das Geld finden«, keuchte Hitcham. Er war total fertig und erschöpft. 71 �
»Okay.« Beaford nickte. »Wenn ich das Geld habe, verschwinde ich. Irgendwie wirst du schon wieder frei kommen, Fatty. Und ich werde dir auch ein paar Scheine im Versteck zurücklassen. Ich bin ja kein Unmensch.« Kathy Porter sah wenig später, daß genau das Gegenteil der Fall war. Will Beaford lockerte das Seil und wandte sich einfach ab. Er schien sich nicht weiter um seinen ehemaligen Boß kümmern zu wollen. Prompt sackte Hitcham wieder ab und schrie. »Gehe zum Teufel«, meinte Beaford lächelnd. »Du wirst Gesellschaft bekommen. Gene und Paul sind gleich hier. Ihr werdet nicht mehr gebraucht.« Er wollte tatsächlich gehen und Hitcham wegsacken lassen. Er kam an dem Gesträuch vorüber, hinter dem Kathy Porter Deckung bezogen hatte. Er war ahnungslos. Und er war es noch, als sie mit dem Lauf der Waffe recht hart zuschlug. Beaford blieb für einen Augenblick wie versteinert stehen, seufzte dann leise auf und fiel dann wie ein Baum der Länge nach zu Boden. Und selbst jetzt, als er bewußtlos war, lag noch ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht. * Mylady war eine erfahrene Luftfah-
rerin. Sie griff nach der Reißleine und langte mit voller Kraft zu. Die Ballonhülle riß prompt auf, das Gas entströmte. »Sehen Sie, Mr. Parker, so wird das gehandhabt«, sagte sie dann und wandte sich ihrem Butler zu. »Sie müssen zugeben, daß ich nichts verlernt habe.« »In der Tat, Mylady«, räumte Parker gemessen ein. »Ich fürchte nur, daß Mylady die falsche Insel gewählt haben.« »Papperlapapp«, raunzte sie verärgert. »Man muß den Landewinkel berücksichtigen. Wir werden genau auf der Abteiinsel landen, warten Sie es ab!« Was Josuah Parker tun mußte, weil er ohnehin nichts unternehmen konnte. Der Ballon verlor schnell an Höhe, wurde von einer leichten Böe erfaßt und trieb genau an der Insel vorüber. »Ballast abwerfen«, kommandierte die Detektivin. »Oder möchten Sie im Moor landen?« »Solch ein Wunsch liegt mir ungemein fern«, antwortete Butler Parker würdevoll. »Aber nach Lage der Dinge wird der Ballon sich wahrscheinlich nicht nach meinen Wünschen richten, Mylady.« Was zutraf. Er gewann zwar noch ein wenig an Höhe, schleppte sich über den See und hielt auf das kleine Hoch72 �
moor zu. »Tun Sie endlich etwas!« fauchte die ältere Dame ihren Butler an. »Genießen Sie nicht nur die Aussicht!« »Falls meine Augen mich nicht trügen, Mylady, sehe ich Miß Porter«, meldete der Butler und deutete zur Insel hinunter, die man bereits passiert hatte. Während er noch redete, lüftete er höflich seine schwarze Melone und grüßte formvollendet nach unten. »Tatsächlich«, freute sich die Detektivin, die ihre Gesellschafterin inzwischen ebenfalls ausgemacht, hatte. »Es scheint dem Kind gut zu gehen.« »Besser als Mylady und meiner bescheidenen Wenigkeit«, konstatierte Parker und deutete nach vorn. »Darf ich empfehlen, ein wenig in Deckung zu gehen. Man dürfte dicht vor einer leicht verunglückten Landung stehen.« Er hatte nicht übertrieben. Der Ballonkorb schleifte bereits durch Sträucher, verhakte sich in einer Weide, riß sich wieder los und klatschte dann in die aufspritzende, braune Moorbrühe. Lady Simpson tat ungewollt einen Hechtsprung über den Korbrand und landete mit ihrem nicht gerade schmalen Gesäß in einem erfreulicherweise seichten Tümpel. Als sie sich mit Parkers Hilfe erhob, hatte sie sich sehr verändert.
»Ich hoffe, Sie grinsen nicht?« grollte sie ihren Butler an. »Auf keinen Fall, Mylady«, erwiderte Parker, der korrekt und sauber wie stets aussah. Er war im Korb geblieben und bemühte sich um die Bergung seiner Herrin. Sie sah abenteuerlich aus. Die braune, zähe Moorbrühe sickerte an ihrer Fülle hinunter. Lady Agatha wischte sich die verklebten Augen aus und schob sich das Haar aus der Stirn. »Alles in allem, eine glückliche Landung«, behauptete sie dann und schaute sich um. »Es gab und gibt schlechtere Landungen, Mylady«, pflichtete der Butler ihr höflich bei. »Eben.« Sie nickte fast schon wieder triumphierend. »Ich würde sagen, das war profihaft, nicht wahr?« »Durchaus, Mylady«, meinte Parker, ohne eine Miene zu verziehen. »Um ein Haar hätten Mylady tatsächlich die Abteiinsel erreicht, wie ich ausdrücklich bemerken möchte!« * »Ich komme zufällig vorbei«, sagte Superintendent McWarden, als Parker die Tür von Myladys Haus in Shepherd’s Market geöffnet hatte. »Mylady werden erfreut sein«, sagte Parker und führte den Gast in den großen Wohnraum. Es war 73 �
Abend geworden, und die ältere Dame entspannte sich beim Fernsehen. Sie schaute hoch und lächelte McWarden maliziös an. »Sie wollen sich bedanken, nicht wahr?« fragte sie. »Habe ich Ihnen nicht alles frei Haus geliefert, wonach Sie suchten?« »Hitcham, die Beute, drei Leibwächter und zwei Auftragsgangster.« McWarden räumte das ohne weiteres ein. »Ich bin beauftragt, den Dank der zuständigen Behörden auszusprechen.« »Reden wir nicht mehr darüber. Das war eine Kleinigkeit für mich. Das heißt, wie ist Hitcham eigentlich aus dem Zuchthaus gekommen, McWarden?« »Diese Frage lag auch mir auf den Lippen«, gestand Parker. »Mittels einer Strickleiter«, antwortete McWarden. »Die Aufsichtsbeamten auf dem Freihof des Zuchthauses wurden mit Betäubungsgewehren außer Gefecht gesetzt, das heißt, genauer gesagt, mit Betäubungsgeschossen, wie die Zoologen sie verwenden.« »Man scheint Sie zu kopieren, Mr. Parker«, stellte Lady Agatha mißbilligend fest. »Sie sollten dagegen etwas unternehmen.« »Da wäre noch etwas«, sagte McWarden. »Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor, Mylady. Sie sollen einen Ballon entführt haben.« »Diese Sache wurde bereits intern
geregelt. Mr. Parker hat diesem Luftfahrer ein neues Gerät gekauft. Sie hinken den Tatsachen wieder mal nach, McWarden, doch das kennt man ja!« »Und wo befinden sich die Damen Porter und Clanters?« »Sie sind ausgegangen und amüsieren sich«, entgegnete die ältere Dame. »Diese jungen Dinger haben ja keinen Sinn für Häuslichkeit.« »Miß Porter hat sich großartig verhalten, Mylady.« »Nun übertreiben Sie nicht gleich«, mokierte sich Lady Agatha prompt. »Sie hatte ja keine ernsthaften Gegner, das wollen wir doch mal festhalten. Nun ja, vergessen wir diesen Fall. Hoffentlich kommt recht bald ein wirkliches Verbrechen auf mich zu, McWarden. Richtig, das wollte ich ja noch sagen: Ich lade Sie ein!« »Sie laden mich ein, Mylady?« McWarden war fast gerührt. »Zu einer Ballonfahrt«, redete die Lady weiter. »Ich habe Gefallen an dieser Sportart gefunden. Mr. Parker und ich werden in den nächsten Tagen zu einem Flug nach Schottland starten.« »Falls die Winde günstig sind, Mylady«, sagte Parker schnell und auch ein wenig distanziert. Er schien von diesem Ausflug wenig zu halten. »Sie kommen also mit, McWarden?« Lady Simpson schien Parkers Einwand überhört zu haben. 74 �
»Wahrscheinlich nicht, Mylady«, gab der Superintendent hastig zurück und schluckte. »Ich würde ja liebend gern mitfliegen, Mylady, aber mein Terminkalender ist randvoll.« »Sie trauen sich wohl nicht, wie?« Sie sah ihn mißtrauisch an. »Jederzeit, Mylady«, log McWarden unverfroren. »Jederzeit würde ich mich Ihnen anvertrauen, falls es sich nicht umgehen läßt.« »Was ich mir auch ausgebeten
haben möchte«, grollte sie. »So, und jetzt möchte ich nicht weiter gestört werden. Ich will diesen Fernsehkrimi sehen. Ich glaube, ich werde auf den geplanten Bestseller verzichten und doch lieber ein Fernsehstück schreiben.« Sie lehnte sich in ihrem bequemen Sessel zurück, nippte an ihrem Kreislaufbeschleuniger und träumte von ihrem nächsten Abenteuer, von dem sie wußte, daß es mit Sicherheit auf sie wartete.
ENDE
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