Von Murray Leinster ist in dieser Reihe erschienen: Nr. 12 Die galaktische Verschwörung
Murray Leinster
PATROUILLE D...
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Von Murray Leinster ist in dieser Reihe erschienen: Nr. 12 Die galaktische Verschwörung
Murray Leinster
PATROUILLE DES FRIEDENS Science Fiction Roman
BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 21
Amerikanischer Originaltitel: Doctor to the Stars Deutsche Übersetzung: Hubert Straßl
© Copyright 1964 by Will F. Jenkins Deutsche Lizenzausgabe 1972 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Printed in Western Germany Titelillustration: Eddie Jones Einbandgestaltung: Rosemarie Roden Gesamtherstellung: Moritz Schauenburg KG, Lahr/Schwarzwald ISBN 3-404-00037 4 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
I »… Niemand ist voll leistungsfähig, wenn er Lob oder Anerkennung für seine Arbeit erwartet. Die Ungewißheit, wie diese Anerkennung ausfallen wird, beeinflußt die Einstellung des Handelnden zu seiner Arbeit … Wenn jemand nach Anerkennung seiner Leistung trachtet, neigt er dazu, die Anerkennung zur Hauptsache zu machen, wodurch die Qualität der Arbeit zur Nebensache wird. Das geht auf Kosten von Menschenleben …« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes S. 17-18. Das kleine Raumboot des Gesundheitsdienstes schien vollkommen bewegungslos, als die Alarmanlage schrillte. Es blieb auch weiterhin in diesem scheinbaren Zustand der Bewegungslosigkeit. Die Tonbänder liefen ohne Unterbrechung und produzierten jene Kulisse undefinierbarer und bedeutungsloser Geräusche, die überall dort existiert, wo Menschen leben, die aber im Schiff künstlich hergestellt werden mußte, weil die tödliche Stille während des Fluges mit Überantrieb den Menschen leicht in einen Zustand versetzen kann, den man mit »raumverrückt« bezeichnet. Die Alarmklingel zeigte eine kommende Veränderung an. Calhoun legte das raummedizinische Handbuch zur Seite und gähnte. Er erhob sich. Murgatroyd, der Tormal, öffnete die Augen und betrachtete ihn schläfrig, ohne den buschigen Schwanz von seiner Nase zu wickeln. »Ich wollte«, sagte Calhoun kritisch, »ich besäße deine Gabe der realistischen Betrachtung der Tatsachen, Murgatroyd! Wir haben hier einen Fall vor uns, der keinerlei Bedeutung hat. Du behandelst ihn als solchen, 6
während ich mich aufrege, wenn ich nur an seine Nichtigkeit denke. Wir sind ein Geschenkpäckchen, Murgatroyd, eine kleine Aufmerksamkeit des Gesundheitsdienstes. Wir müssen den hysterischen wie den berechtigten Notrufen Folge leisten. Meistens opfern wir unsere Zeit für Nichtigkeiten.« Murgatroyd blinzelte schläfrig. Calhoun grinste ihm schief zu. Das Raumboot war ein Fünfzigtonnenschiff – also von unbedeutender Größe, und seine Mannschaft bestand nur aus Calhoun und Murgatroyd, dem Tormal. Es war eines jener kleinen Schiffe, mit denen der Gesundheitsdienst versuchte, wenigstens einmal in vier oder fünf Jahren alle bewohnten Planeten zu inspizieren, um die medizinischen Neuentdeckungen einzusammeln und möglichst schnell und weit zu verbreiten. Der Gesundheitsdienst besaß auch größere Schiffe, mit denen er bedrohlichen Situationen und bis dahin unbekannten Gefahren begegnen konnte. Aber von allen Teams wurde erwartet, daß sie allein mit jeder Situation fertig wurden, weil dieser Patrouillendienst eine Menge Geld und Zeit verschlang. Dieser neue Auftrag zum Beispiel. Ein Notruf war im Sektorenhauptquartier eingetroffen. Er stammte von der Regierung von Phaedra II. Trotz der vielfachen Lichtgeschwindigkeit im Überantrieb, hatte es mit einem Handelsschiff drei Monate gedauert, bis der Ruf ins Hauptquartier gelangte. Und die Situation, für die Hilfe erbeten wurde, war ausgesprochen absurd. Phaedra II und Canis III, so besagte die Botschaft, befänden sich im Kriegszustand. Militärische Handlungen gegen Canis III würden in Kürze eingeleitet werden. Hilfe des Gesundheitsdienstes für Verletzte und Kranke würde benötigt und hiermit sofort erbeten. 7
Die Idee eines Krieges an sich war natürlich lächerlich. Eine militärische Auseinandersetzung zwischen Planeten war undenkbar. Die Welten standen untereinander mit Raumschiffen in Verbindung, aber der LawlorInterplanetarantrieb arbeitete erst in schwerelosem Raum, und der Überantrieb konnte ebenfalls erst außerhalb des Gravitationsfeldes eines Planeten in Betrieb gesetzt werden. Ein Schiff, das nach den Sternen strebte, mußte also erst einmal mindestens fünf Planetendurchmesser vom Boden gehoben werden, ehe es auf irgendeinen eigenen Antrieb umschalten konnte. In gleicher Weise ging auch die Landung vor sich. Die Raumfahrt war praktisch nur möglich, weil man Landegerüste entwickelt hatte – jene riesigen Stahlstrukturen, die ihre Energie aus der Ionosphäre zogen und damit Kraftfelder erzeugten, mit denen das Landen und Starten der Schiffe geschah. Also waren zum Landen Landegerüste notwendig. Und keine Macht des Universums konnte ein Schiff auf einer feindlichen Welt zu Boden bringen, wenn diese Welt das nicht wollte. Aber ein Landegerüst konnte auch Bomben und Geschosse in den Raum schleudern, konnte also den Planeten absolut und uneingeschränkt verteidigen. Wer bei diesen Voraussetzungen einen Krieg führen wollte, war verrückt. »Das Ganze ist Unsinn«, brummte Calhoun. »Wir sind bereits drei Monate unterwegs – die Angelegenheit ist also sechs Monate alt. Wir werden unser Ziel anlaufen und feststellen, daß die Sache längst beigelegt und vergessen ist. Kein Mensch wird sich dort noch gern an den Notruf erinnern. Und wir haben unsere Zeit und unsere Fähigkeiten an einen Job verschwendet, der überhaupt nicht existieren kann! Eine böse Zeit ist über das Universum hereingebrochen, Murgatroyd! Und wir sind ihre Opfer!« 8
Murgatroyd wickelte gemächlich den Schwanz von der Nase. Wenn Calhoun so viele Worte machte, wollte er Geselligkeit. Murgatroyd erhob sich, streckte die Glieder und sagte »Tschie!« Dann wartete er. War Calhoun tatsächlich auf ein Gespräch aus, würde ihn Murgatroyd nicht enttäuschen. Er liebte es, vorzugeben, daß er ein Mensch sei. Murgatroyd Spezies, die Tormals, imitierten menschliches Handeln, wie Papageien die menschliche Sprache nachahmen. Murgatroyd hüpfte, um seine Bereitschaft für ein Gespräch zu bekunden. »Tschie-tschie-tschie!« sagte er gesprächig. »Ich sehe, wir sind einer Meinung«, erklärte Calhoun. »Wir wollen Ordnung schaffen.« Calhoun begann mit jenen kleinen Aufräumungsarbeiten, die man unterläßt, wenn man weiß, daß man viel Zeit und Langeweile hat. Er stellte die Bücher an ihren Platz zurück und ordnete Akten ein. Die Spezialspulen, die Calhoun studiert hatte, kamen wieder in ihre Behälter. Er machte alles sauber und ordentlich für eine Landung und eventuelle Besucher. Das Chronometer zeigte noch fünfundzwanzig Minuten bis zum Austritt in den Normalraum. Calhoun gähnte erneut. Als interstellare Behörde hatte der Gesundheitsdienst manchmal ziemlich verrückte Angelegenheiten zu regeln. Und die Männer mußten allen auftauchenden Problemen gerecht werden. Während des Fluges hatte Calhoun sich mit einer Verrücktheit befaßt, die man in den alten Tagen »Kriegskunst« nannte. Er konnte den Handlungen seiner Vorfahren keinerlei Geschmack abzugewinnen. Glücklicherweise würden solche Dinge nie mehr geschehen. Er gähnte wieder. Calhoun saß bereits angeschnallt im Kontrollsessel, als 9
noch zehn Minuten bis zum Austritt fehlten. Er gähnte erneut – und wartete. Die Warnanlage läutete zum zweitenmal. Eine Stimme verkündete: »Beim Gongschlag noch fünf Sekunden bis zum Austritt!« Ein lautes, scheinbar endloses Ticken. Dann erklang der Gong und eine Stimme zählte: »Fünfvier-drei-zw…« Sie kam jedoch nicht zum Ende. Ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte, gefolgt von elektrischen Entladungen. Es roch nach Ozon. Das Raumboot bockte wie ein störrisches Pferd. Es kam zwei Sekunden vor der Zeit aus dem Überantrieb. Die automatischen Notraketen brüllten auf, und das Schiff versuchte verzweifelt, sich aus einer übermächtigen Umklammerung loszureißen. Calhoun standen die Haare zu Berge, bis er sah, daß der Außenfeldmesser ein starkes künstliches Kraftfeld anzeigte, welches das Schiff umklammert hielt. Als ihn das Rütteln des Notantriebs aus dem Stuhl zu schleudern drohte, schaltete er ihn ab. Stille. Calhoun krächzte ins Spacephon: »Was ist denn los? Hier ist Aesclipus zwanzig. Raumboot des Gesundheitsdienstes! Dies ist ein neutrales Schiff!« Den Ausdruck »neutrales Schiff« hatte Calhoun sich angeeignet, als er während des Überantriebs die Methoden der antiken Kriegsführung studiert hatte. »Schalten Sie diese Kraftfelder ab!« Murgatroyd kreischte entrüstet. Eine hektische Bewegung des Schiffes schleuderte ihn auf Calhouns Lager, wo er sich mit allen vier Pfoten an der Decke festkrallte. Dann beförderte ihn ein erneutes wildes Rütteln samt Decke in eine Ecke. Er versuchte verzweifelt sich freizukämpfen, während er die ganze Zeit über bitterlich schimpfte. 10
»Wir sind kein Kampftrupp!« schimpfte Calhoun. Das war wieder ein Fachbegriff aus den alten Lehrbüchern. Eine Stimme knurrte aus dem Spacephonlautsprecher. »Bereiten Sie alles auf Lichtstrahlverbindung vor«, befahl sie. »Und senden Sie in der Zwischenzeit nicht!« Calhoun schluckte seine Wut hinunter. Ein Raumboot des Gesundheitsdienstes war unbewaffnet. Es gab überhaupt keine bewaffneten Schiffe im Raum. Doch hier hatte man auf ein Schiff gelauert, das genau an dieser Stelle auftauchen sollte. Auf ein feindliches Schiff! Das Wort »Blockade« fiel ihm ein, wieder ein Beweis seiner Bildung in der antiken Kriegskunst. Canis III war blockiert! Er suchte nach dem Schiff, das ihn festhielt. Er erhöhte die Vergrößerung seiner Sichtschirme. Nichts. Die Sonne Canis flammte gerade voraus, und verdächtig helle Sterne glänzten auf den Schirmen – ihrer Färbung nach wahrscheinlich Planeten. Aber das Raumboot befand sich noch immer weit außerhalb der bewohnbaren Zone eines Planetensystems vom Typ Sol. Calhoun nahm die Photozelle aus ihrer Halterung und wartete. Ein neues, sehr helles Licht flammte auf. Es flackerte. Er schob die Photozelle vor den Schirm und verdeckte den blendenden Glanz. Die Drähte verband er mit einem Tonverstärkersystem. Ein tiefes Brummen ertönte. Nicht ganz so rein wie über Spacephon, doch deutlich genug, erklang eine Stimme. »Wenn Sie Raumboot Aesclipus zwanzig sind, so antworten Sie über Lichtstrahl und nennen Sie Ihre Order!« Calhoun hämmerte bereits auf einen Knopf, und eine Signallampe wuchs irgendwo aus der Hülle seines Schiffes. Er sagte gereizt: »Ich zeige Ihnen meine Order, aber ich habe nicht vor, dramatische Vorlesungen zu halten! 11
Zum Teufel damit! Man schickte mich als Engel vom Dienst hierher. Ich bin nicht gekommen, mich von Ihnen aus dem Überantrieb fischen zu lassen, selbst wenn ein Krieg im Gange ist. Dies ist ein Raumboot des Gesundheitsdienstes!« Die leicht verzerrte Stimme sagte so befehlend wie zuvor: »Jawohl, wir haben Krieg. Wir haben Sie erwartet. Sie sollen unsere letzte Warnung nach Canis III bringen. Folgen Sie uns zum Stützpunkt! Dort werden Sie über alles informiert.« Calhoun sagte schroff: »Sie müssen mich in Schlepp nehmen. Als Sie mich aus dem Überantrieb rissen, haben Sie meine Antriebsenergie angezapft.« Murgatroyd sagte »Tschie?« und versuchte auf den Hinterbeinen zu stehen, um in den Schirm zu blicken. Calhoun schob ihn zur Seite. Als das Einverständnis von dem unsichtbaren Schiff kam, schaltete er das Mikrophon zum Lichtstrahl ab. Dann erklärte er Murgatroyd ernsthaft: »Was ich sagte, stimmt nicht ganz, Murgatroyd. Aber hier ist Krieg. Um neutral zu sein, muß ich eindrucksvoll hilflos erscheinen. Das versteht man unter Neutralität.« Aber er war weit davon entfernt, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Kriege zwischen Welten waren einleuchtenderweise unmöglich. Die Art der Weltraumfahrt machte sie undenkbar. Und doch schien man hier eine Möglichkeit gefunden zu haben. Etwas geschah jedenfalls, das im Gegensatz zu allen bisher bekannten Tatsachen stand. Und Calhoun war nun darin verwickelt. Dies bedeutete, daß er sofort seine Meinung und seine Ideen über ein Hilfeleistung revidieren mußte. Der Raumgesundheitsdienst konnte 12
verständlicherweise in einem Konflikt nicht Partei ergreifen. Er hatte kein Recht, der einen oder anderen Seite zu helfen. Seine Funktion erstreckte sich darauf, menschliches Leben zu retten und zu erhalten, soweit es eben möglich war. Also durfte er nicht einer kämpfenden Partei zum Sieg verhelfen. Andererseits konnte er nicht einfach dabeistehen, die Verwundeten pflegen und so vereinzeltes Leid lindern, während er zusah, wie die Zahl der Verletzten wuchs. »Das«, brummte Calhoun, »ist eine verflixte Geschichte!« »Tschie!« stimmte Murgatroyd bei. Das Raumboot wurde gezogen. Calhoun hatte danach verlangt, und es geschah. Eigentlich sollte es keine Möglichkeit geben, ihn ohne feste physikalische Verbindung zwischen den Schiffen zu ziehen. Es gab Kraftfelder, die diese Funktion übernehmen konnten – Landegerüste arbeiteten auf dieser Basis –, aber Schiffe benutzten sie nicht. Keine gewöhnlichen Schiffe, heißt das. Die Tatsache bedrückte Calhoun. »Jemand beschwört eine Menge Ärger herauf«, knurrte er wütend. »Als ob Kriege wieder in Mode kämen und jemand scharf darauf wäre, sie auszufechten. Wer hat uns eigentlich im Schlepp?« Die Bitte um ärztliche Hilfe war von Phaedra II gekommen. Aber die militärische Operation – wenn es überhaupt eine gab – war angeblich von Canis III eingeleitet worden. Die auf dem Schirm flammende Sonne und ihre Trabanten war das Canissystem. Die Chancen standen dafür, daß er von der phaedrischen Flotte aus dem Überantrieb geholt worden war. Er war erwartet worden. Sie hatten ihm befohlen, das Spacephon nicht zu benützen. Die lokalen Streitkräfte würde es nicht kümmern, ob 13
der Planet die Sendung abfing oder nicht. Den Invasoren aber wäre das nicht gleichgültig. Außer, es befanden sich zwei Raumflotten im All, die sich auf eine Schlacht im All vorbereiteten. Doch das wäre unsinnig. Es gab keinen Kampf im schwerelosen Raum, wo jedes Schiff in Sekundenbruchteilen mit Oberantrieb verschwinden konnte. »Murgatroyd«, murmelte Calhoun trübsinnig, »es ist alles verkehrt! Ich sehe einfach keinen Sinn darin. Und ich habe so das Gefühl, irgend etwas ist hier noch viel verrückter, als ich es mir vorstellen kann. Wahrscheinlich ist es ein Schiff von Phaedra, das uns aufgeschnappt hat. Die Leute schienen nicht überrascht zu sein, als ich sagte, wer ich sei. Aber …« Calhoun beendete den Satz nicht. Er überprüfte die Instrumente und beobachtete die Schirme. Die Planeten der gelben Sonne, die nun ganz nahe im Raum hing, wurden sichtbar. Calhoun sah eine fast unendlich dünne Mondsichel, und er wußte, daß man ihn zur innersten Welt des Systems brachte. Tatsächlich brauchte Calhoun das Schleppschiff nicht. Er hatte nur danach verlangt, um jene, die ihn festhielten, in die Irre zu führen. Ein Schiff des Gesundheitsdienstes anzugreifen, wäre unklug. Selbst im Krieg – besonders im Krieg! Seine Augen wanderten zurück zum Außenfeldanzeiger. Ein Kraftfeld hielt das Schiff. Es war von der Art, wie sie von Landegerüsten aufgebaut wurden – ein Typ, der für den Gebrauch auf Schiffen unpraktisch war. Ein Gerät, das solch ein Kraftfeld erzeugen konnte, benötigte einen Durchmesser von dreißig Zentimeter für jeweils eintausendfünfhundert Meter Reichweite. Ein Schiff, das die Reichweite seines Schleppers besaß, müßte so groß wie ein planetarisches Landegerüst sein. Und kein planetarisches Landegerüst konnte so ein Schiff auf den Boden herunterholen oder starten. 14
Plötzlich riß Calhoun die Augen auf. »Murgatroyd!« sagte er entsetzt. »Beim Teufel, sie haben es geschafft! Sie haben eine neuartige Methode zum Kämpfen gefunden!« Kriege gab es schon seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr. Sie waren überflüssig geworden. Calhoun hatte historische Aufzeichnungen vergangener Kriege und ihre Aspekte und Folgen studiert. Als Arzt war er darüber entsetzt gewesen. Organisiertes Töten schien ihm keine geistig normale Methode zu sein, um politische Unstimmigkeiten zu bereinigen. Die gesamte galaktische Kultur basierte auf der glücklichen Gewißheit, daß es keine Kriege mehr geben konnte. Wenn der Krieg noch eine praktische Möglichkeit gewesen wäre, würden die Menschen nicht davor zurückschrecken. Calhoun kannte die menschliche Natur gut genug, um von dieser Tatsache überzeugt zu sein. »Tschie!« fragte Murgatroyd. »Du hast Glück, ein Tormal zu sein!« erklärte ihm Calhoun. »Du brauchst dich deiner Art niemals zu schämen.« Das militärische Wissen, das er sich angeeignet hatte, veranlaßte ihn dazu, den Informationen, die man ihm in Kürze geben wollte, mit Skepsis entgegenzusehen. Natürlich handelte es sich bei den Informationen um das, was man in den alten Tagen mit Propaganda zu bezeichnen pflegte. Man würde ihm in einem Punkt zustimmen, daß Kriege im allgemeinen schrecklich sind. Dann aber würde man ihm höchst plausibel zu erklären wissen – mit tiefstem Bedauern selbstverständlich –, daß dieser spezielle Krieg, von dieser Seite aus gesehen, ehrenvoll und gerechtfertigt sei. »Was ich«, sagte Calhoun düster, »nicht glauben würde, selbst wenn es wahr wäre.«
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»Information aus zweiter Hand ist ohne Ausnahme in irgendeiner Form ungenau. Eine vollständige und begründete Darstellung einer Reihe von Vorfällen ist fast notwendigerweise zurechtgestutzt, verzerrt und redigiert, sonst würde sie nicht vernünftig und vollständig erscheinen. Berichte, die sich allein auf Tatsachen beschränken, werden irrationale oder absurde Elemente enthalten. Die Realität ist viel zu komplex, als daß man sie in einfache Feststellungen fassen könnte, ohne einen Teil der Fakten zu vernachlässigen …« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes S. 25. Er fand seine Vermutungen über die Aspekte bestätigt, unter denen ein interstellarer Krieg möglich war, als das Raumboot landete. Normalerweise war ein Landegerüst ein gigantisches, gedrungenes Gebilde aus Stahlträgern, achthundert Meter hoch und doppelt so breit. Es ruhte auf einem Sockel in untrennbarer Verbindung mit dem Boden und holte seine Energie aus der Ionosphäre. Als das Raumboot in den Planetenschatten eingetaucht war, hing es längere Zeit bewegungslos im Raum. Gelegentlich erfüllten leichte Schwingungen das Schiff, als griffe etwas aus der Finsternis, um sich zu überzeugen, daß es noch da war. Calhoun beobachtete seinen Nahobjektanzeiger und stellte fest, daß etwas sehr Großes sich in der Dunkelheit bewegte und plötzlich stationär wurde. Plötzlich trieb es schnell und zielsicher auf die Oberfläche zu. Als es auf dem Boden verankert war, begann auch das Raumboot im Griff von Kraftfeldern nach unten zu sinken. Es landete im Zentrum eines Landegerüstes. Aber das war keine gewöhnliche Anlage. Sie war viel größer als jedes Gerüst, das Calhoun bisher gesehen hatte. Es war 16
nicht gedrungen, sondern ebenso hoch wie breit. Als das Schiff niederglitt, bemerkte er auf halber Höhe zum Grund eine Schleuse. Die Leute, die sein Raumschiff gefangenhielten, hatten ein Landegerüst gebaut, das über einen eigenen Antrieb verfügte. Ein Landegerüst, das sich im Raum zwischen den Sternen bewegen konnte, vermochte auch einen Offensivkrieg zu führen. »Es ist teuflisch einfach«, erklärte Calhoun Murgatroyd. »Das normale Landegerüst klammert sich an etwas im Raum und zieht es auf den Grund. Dies hier klammert sich an etwas auf dem Grund und stößt sich selbst in den Raum. Es kann sich mit Lawlor- oder Überantrieb bewegen. Es ist imstande, sich überall, auf jedem beliebigen Planeten, festklammern, sich hinabzuziehen und zu verankern. Dann kann es in aller Ruhe die Schiffe einer Angriffsflotte nachziehen und ihnen zur Landung verhelfen. Es ist ein fliegendes Trockendock und gleichzeitig ein bewegliches Landegerüst. Es ist ein vorfabrizierter Raumhafen, wo immer es zu landen beliebt. Und damit ist es die tödlichste Waffe, die in den letzten tausend Jahren erfunden wurde.« Murgatroyd kletterte auf Calhouns Schoß und blinzelte gelangweilt auf die Schirme. Sie zeigten die Umgebung des nun gelandeten Raumbootes, das auf dem Heck ruhte. Unzählige Sterne blinkten am Himmel. Ringsum breitete sich eine weiße Schneelandschaft aus. Lichter waren zu erkennen. Vereinzelte Schiffe ragten auf dem eisigen Untergrund auf. »Ich könnte ja mit Hilfe der Notraketen hinter dem Horizont verschwinden, ehe sie kapieren, was los ist«, knurrte Calhoun. »Aber das ist ja ein regelrechter Militärstützpunkt!« Er erinnerte sich an seine Studien der historischen 17
Kriege, an Schlachten und Massaker, an Plünderungen und Vergewaltigungen. Selbst moderne, zivilisierte Menschen würden sehr schnell barbarische Züge annehmen, wenn sie auf dem Schlachtfeld kämpfen mußten. Man mußte auf alles gefaßt sein, wenn der barbarische Trieb im Menschen erwachte. Und möglicherweise steckte im Wesen der Männer, die diese Schiffe ringsum bemannten, bereits der Keim kommender Barbarei. »Du und ich, Murgatroyd«, sagte Calhoun, »wir beide sind vielleicht die einzigen wirklich vernünftigen Wesen auf diesem Planeten. Und du bist nicht einmal ein Mensch.« »Tschie!« stimmte Murgatroyd zu. Er schien froh darüber zu sein. »Aber wir müssen die Lage genau prüfen, ehe wir etwas Vernünftiges unternehmen«, stellte Calhoun fest. »Was ist denn das?« Er starrte auf den Schirm, der eine Menge Lichtpunkte am Boden zeigte, die sich auf das Boot zubewegten. Calhoun erkannte, daß es Männer waren, die im Schnee wateten. Bald vermochte er auch Waffen wahrzunehmen. Seltsame, komisch anmutende Instrumente waren es – Jagdgewehren gleich, nur mit riesigen Kalibern. Calhoun kramte in seinem neuerworbenen Wissen. Es mußten Abschußgeräte für Miniaturraketen sein, die das Schiff ernsthaft beschädigen konnten. In dreißig Meter Entfernung verteilten sie sich um das Raumboot. Ein einzelner Mann trat vor. »Ich werde ihn hereinlassen, Murgatroyd«, beschloß Calhoun. »In Kriegszeiten muß man jeden Bewaffneten, der einen in die Luft jagen kann, mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln. Das ist ein Gesetz der militärischen Taktik.« 18
Calhoun öffnete die innere und äußere Schleusentür. Der Lichtschein aus dem Schiff fiel auf weißen, unzertretenen Schnee. Calhoun stand in der Schleusenöffnung und beobachtete seinen Atem, der sofort zu weißem Nebel wurde. »Mein Name ist Calhoun«, sagte er barsch zu der herankommenden Gestalt. »Interstellarer Gesundheitsdienst. Neutral, waffenlos und im Augenblick von den letzten Geschehnissen angewidert.« Ein Mann mit grauem Bart und grimmigem Blick trat in den Lichtschein der offenen Schleuse. Er nickte. »Ich heiße Walker«, sagte er ebenso barsch. »Ich bin gewissermaßen der Anführer dieser militärischen Aktion. Jedenfalls ist mein Sohn der Führer des … äh … des Feindes, was mich logischerweise zum Leiter der militärischen Gegenmaßnahmen qualifiziert.« Calhoun wollte seinen Ohren nicht trauen. Wenn Vater und Sohn die Anführer der beiden miteinander verfeindeten Parteien waren, konnten sie doch keine objektiven Entscheidungen treffen. Und sicherlich war ihre Verwandtschaft keine Qualifikation für die Führung eines Feldzuges. Calhoun machte eine einladende Geste, und der Mann erklomm die Leiter zum Einstieg. Dann trat er fest und würdevoll in die Luftschleuse und ins Innere des Schiffes. »Wenn Sie gestatten, werde ich die Schleusentür schließen«, sagte Calhoun. »Sofern Ihre Männer diese Handlung nicht falsch auslegen. Es ist kalt draußen.« Der Mann zuckte die Schultern. »Meine Männer werden Ihr Schiff hochjagen, wenn Sie zu starten versuchen«, sagte er. »Sie sind genau in der richtigen Stim19
mung, etwas hochgehen zu lassen!« Mit der Miene unerschütterlicher Zuversicht setzte er sich. Murgatroyd betrachtete den Mann argwöhnisch. Doch der Fremde ignorierte das kleine Wesen. »Nun?« fragte er ungeduldig. »Ich bin vom Interstellaren Gesundheitsdienst«, erklärte Calhoun. »Ich kann Ihnen das natürlich beweisen. Ich werde mich neutral verhalten, was immer auch passiert. Die Regierung Phaedras hat uns um Hilfe gebeten. Ich vermute, daß Ihre Schiffe von Phaedra hierhergekommen sind. Wie geht der Krieg voran?« Der gedrungene Mann blickte ihn finster an. »Wollen Sie mich zum Narren halten?« fragte er. »Ich war drei Monate im Überraum«, antwortete Calhoun. »Ich habe in dieser Zeit nichts von unserem Universum gesehen oder gehört. Ich habe keinen Grund, Sie zum Narren zu halten.« »Unsere … der Feind«, sagte Walker erbittert, »betrachtet den Krieg als gewonnen. Aber Sie können den Burschen die Augen öffnen, daß das nicht der Fall ist, daß sie den Krieg gar nicht gewinnen können. Wir sind dumm und unverzeihlich geduldig gewesen, aber wir dürfen nicht länger Nachsicht üben. Wir haben vor, zu siegen, selbst wenn wir uns bei der Siegesfeier die eigenen Kehlen durchschneiden müssen. Und das ist bestimmt kein Witz!« Calhoun hob die Augenbrauen. Aber er nickte nur. Seine Studien hatten ihn gelehrt, daß die Kriegspsychose eine ernst zu nehmende Krankheit ist. »Unser Heimatplanet Phaedra muß evakuiert werden«, fuhr Walker fort. »Unsere Sonne zeigt Zeichen von Instabilität. Vor fünf Jahren also schickten wir unsere älteren Kinder nach Canis III, damit sie eine Welt für uns 20
alle aufbauen sollten, in die wir übersiedeln konnten, wenn die Gefahr akut würde. Unsere Sonne drohte zu explodieren. Es ist sicher, daß sie sich jeden Tag in eine Nova verwandeln kann. Wir schickten deshalb unsere Kinder fort, weil sie zu Hause gefährdet waren. Wir drängten sie, fieberhaft zu arbeiten. Wir evakuierten die jungen Frauen ebenso wie die Männer, so daß unsere Familien weiterbestehen und Nachkommen haben konnten, wenn unsere Welt vorzeitig in den Gluten der Sonne versinken sollte. Sobald es möglich war – sobald die Kolonie ihnen Nahrung und Obdach geben konnte –, brachten wir auch die Knaben und jungen Mädchen in Sicherheit. Wir überlasteten die neue Kolonie mit Menschen, die es zu füttern galt, aber zumindest blieben wir Alten dort, wo die Gefahr drohte. Später schickten wir auch die Kleinstkinder fort, als die Zeichen der bevorstehenden Katastrophe immer bedrohlicher wurden.« Calhoun nickte wieder. Es gab nicht viele Nova in der Galaxis, selbst unter Milliarden von Sternen nicht. Aber Calhoun hatte schon einmal von einem Planeten gehört, den man umsiedeln mußte, weil seine Sonne Zeichen von Instabilität gezeigt hatte. In diesem Fall war allerdings die Evakuierung noch nicht beendet gewesen, als die Sonne barst. Die Evakuierung einer ganzen Welt war eine verdammt schwierige Aufgabe. Die Bevölkerung mußte über Lichtjahre hinweg transportiert werden. Weltraumflug nimmt Zeit in Anspruch, selbst bei dreißigfacher Lichtgeschwindigkeit. War der genaue Zeitpunkt der Katastrophe nicht exakt zu bestimmen, so war der von Phaedra eingeschlagene Weg durchaus logisch. Junge Männer und Frauen schickte man am besten zuerst. Sie konnten Unterkünfte bauen für sich selbst und für jene, die nachfolgten. Sie vermochten härter und aus21
dauernder zu arbeiten als jede andere Altersgruppe. Die neue Kolonie würde ein Ort hektischer, nie endender Arbeit, im Wettlauf mit der Zeit begriffen. Sobald man ihr eine neue Belastung zumuten konnte, traten noch Jüngere die Reise an. Sie waren schon alt genug, um helfen zu können, doch noch zu jung, um aufzubauen. Später schickte man dann noch kleinere Kinder, die der Pflege und Aufmerksamkeit der Älteren bedurften. Und im allerletzten Augenblick würden dann die Alten selbst ihre Welt verlassen. Sie hatten in der drohenden Gefahr auszuharren, bis alle Kinder in Sicherheit waren. »Aber jetzt«, sagte Walker düster, »haben unsere Kinder zwar ihre Welt aufgebaut, weigern sich jedoch, ihre Eltern und Großeltern aufzunehmen! Sie haben eine Welt voll junger Leute allein unter ihrer Herrschaft. Sie behaupten, daß wir sie über die bevorstehende Explosion der Sonne Phaedra getäuscht hätten, daß wir ihnen Sklavendienst aufbürdeten und ihre Jugend dem Aufbau einer neuen Welt opferten, die wir dann an uns reißen wollten! Es ist ihnen gleichgültig, ob die Sonne hochgeht und uns mitnimmt, denn dann können sie leben wie sie wollen, ohne sich um uns kümmern zu müssen!« Calhoun sagte nichts. Er wußte, daß Information aus zweiter Hand niemals völlig den Tatsachen entspricht. Ein Arzt durfte nur seinem eigenen Urteil vertrauen. Mochten auch die Tatsachen stimmen, so bekam er doch von Walker nur eine Auslegung davon. In den Jungen regt sich ein Instinkt, nach Unabhängigkeit von den Eltern zu streben, und in den Erwachsenen herrscht der Wille vor, eine schützende dominierende Rolle einzunehmen. In gewissem Sinne besteht immer und überall ein Krieg zwischen den Generationen, nicht nur auf Phaedra und Canis III. Es ist ein Konflikt zwischen In22
stinkten, die uns von der Natur eingepflanzt worden sind. Und vielleicht ist dieser Konflikt notwendig für den Fortbestand der Rasse. »Sie hatten es satt, zu schuften«, sagte Walker und seine Augen loderten. »Deswegen bezweifelten sie die Notwendigkeit ihrer Arbeit. Sie schickten ein paar Leute zurück nach Phaedra, um unsere Beobachtungen über das unstete Verhalten der Sonne zu überprüfen. Unglücklicherweise kamen sie zu einer Zeit hierher, in der sich die Sonne vorübergehend beruhigt hatte. Und so kamen unsere Kinder zu dem Urteil, daß wir überängstlich wären, daß keine Gefahr für uns bestünde und daß wir zuviel verlangten! Sie weigerten sich, weitere Unterkünfte zu bauen und mehr Land zu roden und zu bebauen. Ja, sie verweigerten sogar die Landeerlaubnis für alle Schiffe von Phaedra. Sie verlangten nach Rast und Erholung. Sie erklärten sich von uns unabhängig. Sie enteigneten uns! Giftiger als der Biß der Schlange …« »… ist ein undankbares Kind«, beendete Calhoun den Satz. »Davon habe ich gehört. Also erklärtet ihr den Krieg.« »Das taten wir!« bekräftigte Walker zornig. »Wir sind Männer! Haben wir nicht Frauen, die es zu beschützen gilt? Wir kämpfen selbst gegen unsere Kinder, wenn es um die Sicherheit ihrer Mütter geht. Und wir haben Enkelkinder auf Canis III! Was dort passiert ist und noch immer geschieht, was sie dort…« Der Zorn schien ihn zu übermannen. »Unsere Kinder haben wir verloren. Sie haben sich von uns losgesagt. Sie wollen uns und unsere Frauen vernichten. Und dabei vernichten sie sich selbst. Und unsere Enkelkinder!« Murgatroyd kletterte auf Calhouns Schoß und kuschelte sich eng an ihn. Tormals sind friedliche Tierchen. Der 23
Zorn und die Verbitterung in Walkers Ton erschreckten Murgatroyd. Darum suchte er in Calhouns Nähe Schutz. »Die Fehde besteht also zwischen euch und euren Kindern und Enkelkindern«, stellte Calhoun fest. »Was ist bis zu diesem Augenblick geschehen? Wie sind die Kämpfe ausgegangen? Wie stehen die Dinge im Augenblick?« »Wir haben nichts erreicht«, klagte Walker. »Wir waren zu sanftmütig! Wir wollen sie nicht umbringen, trotz allem nicht, was sie uns angetan haben. Aber unsere Kinder sind entschlossen, uns, ihre Eltern, umzubringen! Vor einer Woche erst sandten wir einen Kreuzer, der Propagandasendungen ausstrahlte. Wir nahmen an, ein Rest von Anstand müsse doch in ihnen verblieben sein! Kein Schiff kann verständlicherweise in Planetennähe einen eigenen Antrieb benützen. Wir brachten den Kreuzer daher in eine parabolische Umlaufbahn. Über Canopolis sollte er der Atmosphäre am nächsten sein, Sendungen über Standardfrequenzen ausstrahlen und wieder in den leeren Raum hinauseilen. Aber die Burschen benützten ihr Landegerüst dazu, die Bahn des Schiffes mit Gestein und Felsbrocken einzudecken. Die Hülle wurde an fünfzig Stellen aufgerissen. Alle Besatzungsmitglieder kamen um!« Calhoun änderte seinen Gesichtsausdruck nicht. Hier handelte es sich um eine Bestandsaufnahme, um eine Analyse der Situation, die der Gesundheitsdienst bereinigen sollte. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, Gefühle zu zeigen. Er sagte: »Was erwarteten Sie vom Gesundheitsdienst, als Sie ihn um Hilfe baten?« »Wir dachten«, sagte Walker verbittert, »daß wir Ge24
fangene machen würden. Wir bereiteten Lazarettschiffe vor, um die Verwundeten zu pflegen. Wir wollten jede notwendige Hilfe leisten, ganz egal, was unsere Kinder uns angetan haben …« »Aber ihr habt keine Gefangenen gemacht, nicht wahr?« unterbrach Calhoun. Er begriff die Sache immer noch nicht. Sie lag so weit außerhalb seiner Erfahrung, als daß er rasch zu einem Urteil hätte kommen können. Jeder Krieg wäre in der gegenwärtigen, modernen Zeit ein Ausnahmefall gewesen. Ein Krieg zwischen Eltern und Kindern auf zwei Planeten war so außergewöhnlich, daß man seine Konsequenzen kaum erfassen konnte. »Wir haben einen Gefangenen«, sagte Walker verächtlich. »Wir fingen ihn, weil wir hofften, mit ihm etwas anfangen zu können. Wir irrten uns. Sie werden ihn zurückbringen. Wir wollen ihn nicht! Bevor Sie abfliegen, informieren wir Sie über unsere Kampfpläne. Wir werden unsere eigenen Kinder vernichten, wenn wir dazu gezwungen sind. Wir töten lieber unsere Kinder, als unsere Enkelkinder umkommen zu lassen!« Diese Anklage wegen der Enkelkinder schien Calhoun nicht ganz plausibel. Er ging jedoch nicht darauf ein. Nachdenklich sagte er: »Ihr behandelt diese Angelegenheit auf eine verrückte Art und Weise, als ob der Krieg nur ein Mittel elterlicher Erziehungsgewalt wäre. Den Feind von seinen Plänen zu unterrichten, zum Beispiel …« Walker erhob sich. In seinem Gesicht zuckte es. »Jeden Augenblick kann Phaedras Sonne explodieren. Das kann seit der letzten Nachricht bereits geschehen sein. Und unsere Frauen – die Mütter unserer Kinder – sind auf Phaedra. Wenn unsere Söhne sie auf dem Gewissen 25
haben, weil sie ihnen Asyl verweigerten, bleibt uns nichts als das Recht …« Ein Klopfen ertönte an der Luftschleuse. »Ich bin fertig«, sagte Walker müde. Er ging zur Schleuse und öffnete die Türen. »Dieser Mann vom Gesundheitsdienst wird mit uns kommen und sich ansehen, was wir vorbereitet haben. Dann wird er unseren Gefangenen mit nach Canis nehmen. Er wird dort berichten, was er weiß. Vielleicht nützt es.« Er trat aus der Schleuse und bedeutete Calhoun, ihm zu folgen. Calhoun schnaufte. Er öffnete einen Wandschrank und nahm die schwere Winterkleidung heraus. Murgatroyd sagte alarmiert »Tschie!«, weil er glaubte, daß Calhoun ihn zurücklassen wollte. Calhoun schnippte jedoch mit den Fingern, und Murgatroyd sprang an ihm hoch und in seine Arme. Der Arzt stopfte ihn unter seinen Mantel und folgte Walker in den Schnee hinaus. Sie befanden sich auf einem Planeten, der Canis III am nächsten lag. Dieser Planet wurde durch einen geringen Überschuß von Kohlendioxyd in der Atmosphäre, durch den sogenannten Treibhauseffekt, mehr erwärmt, als die geringe Sonneneinstrahlung vermuten ließ. Der Schnee war jahreszeitlich bedingt. Kein zu kalter Stützpunkt also für militärische Operationen gegen den Nachbarplaneten. Walker schritt voraus, auf die Reihen der mattschimmernden Raumschiffe zu. Calhoun überlegte sich, daß solch ein Gerüstschiff zu manövrieren dem Jonglieren eines überdimensionalen Papierkorbes gleichkommen mußte. Ein riesiger Hyperdrive mußte dazu nötig sein, und eine längere Reise im Raum stellte höchste Anforderungen an Menschen und Material. Aber das Raumschiff war eine Tatsache. Es hatte sich unbestreitbar selbst von Phaedra in den Raum hinausgestoßen. Es war hier sicher 26
gelandet, und sollte deshalb auch in der Lage sein, auf Canis zu landen und die Flotte nachzuziehen. Dennoch empfand Calhoun eine gewisse Erleichterung bei dem Gedanken, daß es große Schwierigkeiten bieten mußte, mit solch einem Gefährt wirklich weite Entfernungen – so um die zehn oder zwanzig Lichtjahre – zurückzulegen. Möglicherweise würde sich die Kriegsführung nur auf relativ nahe beieinanderliegende Welten beschränken. »Wir dachten daran«, grollte Walker, »hier Unterkünfte zu bauen und den Rest von Phaedras Bevölkerung hierherzubringen, bevor die Katastrophe eintritt. Aber wir können hier nicht alle ernähren. Also müssen wir uns Zutritt zu der Welt erkämpfen, die unsere Kinder aufgebaut haben.« Sie kamen zu einem Schiff, das mit Ausnahme des Gerüstschiffes größer als alle anderen war. Man hatte die Hülle aufgeschnitten und ein riesiges Zelt angebaut. Es war eine gigantische Werkstatt. Das Raumschiff, an dem darin gearbeitet wurde, war offensichtlich der Kreuzer, den Walker eben erwähnt hatte. Calhoun sah die großen, ausgezackten Löcher. Grauhaarige Männer arbeiteten mit verbissener Miene daran. Walker deutete auf ein Objekt von der halben Größe seines Raumbootes. Auch daran wurde fieberhaft gearbeitet. Es handelte sich um ein unbemanntes Geschoß mit einem riesigen Kraftstoffbehälter. »Sehen Sie sich das an«, murmelte Walker. »Das ist ein Raketengeschoß, eine Robotkampfmaschine, die wir vom Raum aus in Aktion setzen werden. Die geräumigen Kraftstofftanks erlauben einen weiten Aktionsradius. Es wird seinen Weg mitten in das Landegerüst von Canopolis finden. Jenes Landegerüst also, womit unsere Kinder ihren Eltern die Landung verweigern. In genau drei Ta27
gen setzen wir dieses Geschoß ein, um das Landegerüst zu zerstören und so viel von Canopolis, wie eine Megatonnenbombe eben schafft. Dann wird unser Gerüstschiff landen, und unsere Flotte wird nachfolgen. Wir werden auf Canis Fuß fassen und uns mit Feuer und Schwert unsere Daseinsberechtigung in der Welt unserer Kinder erkämpfen! Sobald unsere Kampftruppen gelandet sind, holen unsere Schiffe die Frauen von Phaedra nach, sofern sie noch am Leben sind; Wir werden unsere Kinder bekämpfen, als wären sie wilde Tiere – so wie sie uns behandelt haben! In drei Tagen ist es soweit. Bis dahin ist das Geschoß fertig. Wenn sie uns töten – schön und gut. Doch diesen Mord sollen sie mit ihren eigenen Händen begehen, mit ihren Waffen, die sie zweifellos hergestellt haben. Nicht damit, daß sie uns enteignen. Und wenn wir unsere Kinder töten müssen, um unsere Enkelkinder zu retten, beginnt unser Angriff in drei Tagen. Bringen Sie Canis III diese Botschaft!« Calhoun zuckte die Schultern. »Ich fürchte, sie werden mir nicht glauben.« »Sie müssen es!« knurrte Walker. Dann fragte er abrupt: »Welche Reparaturen müssen in Ihrem Schiff ausgeführt werden? Wir lassen es hierher schaffen und instandsetzen. Danach übernehmen Sie unseren Gefangenen und bringen ihn und diese Botschaft zu seinen Freunden, zu unseren Kindern!« Die Ironie, der Zorn und die Enttäuschung in Walkers Stimme, als er »Kinder« sagte, veranlaßten Murgatroyd, sich unter Calhouns Mantel entsetzt zu schütteln. »Ich glaube«, sagte Calhoun, »daß ich nur Treibstoff nachtanken muß. Sie haben meine Energiespeicher angezapft, als Sie mich aus dem Überantrieb fischten. Ich ha28
be zwar noch zusätzliche Duhannezellen, aber sie allein reichen nicht aus.« »Wir versorgen Sie mit genügend Energie«, knurrte Walker. »Dann bringen Sie den Gefangenen und unsere Warnung nach Canis. Versuchen Sie zu erreichen, daß sie sich ergeben.« Calhoun überlegte. »Tschie, tschie!« schimpfte Murgatroyd unter seinem Mantel entrüstet. »Auch wenn ich Ihnen glaube, daß Sie es ernst meinen«, seufzte Calhoun, »stelle ich mir jetzt meinen Vater in einer ähnlichen Situation vor. Wie, zum Teufel, kann ich euren Kindern klarmachen, daß ihr diesmal nicht blufft? Habt ihr das denn nicht dauernd getan?« »Wir haben nur gedroht«, antwortete Walker, und seine Augen glühten in gerechtem Zorn. »Und wir waren bisher zu weichherzig, unsere Drohungen wahrzumachen. Wir haben es ohne Gewalt versucht. Aber nun ist die Zeit gekommen, wo wir gnadenlos vorgehen werden. Wir müssen an unsere Frauen denken!« »Warum habt ihr eure Frauen nicht hierhergebracht?« fragte Calhoun. »Ich erspare Ihnen eine Antwort darauf. Eure Frauen würden euch niemals kämpfen lassen, ganz egal, was eure Söhne und Töchter auch anstellen!« »Aber unsere Frauen sind nicht hier!« wütete Walker. »Nichts wird uns aufhalten!« Calhoun nickte. Wie die Dinge standen, war er geneigt, den Vätern der Kolonisten Glauben zu schenken. Aber er selbst hätte seinem Vater niemals geglaubt, und er vermutete, daß die jungen Leute auf Canis die Drohung ihrer Väter auch nicht wirklich ernst nahmen. Mangelndes Vertrauen wurde hier zur Katastrophe. Es sah ganz so aus, als sollte Calhoun den tragischsten Konflikt der menschlichen Geschichte miterleben. 29
»Die Tatsache, daß eine Feststellung mit einer anderen Feststellung übereinstimmt, bedeutet nicht, daß beide richtig sein müssen. Eine zu genaue Übereinstimmung kann darauf hinweisen, daß beide Feststellungen falsch sind. Umgekehrt könnten widerspruchsvolle Aussagen gegenseitig ihre Richtigkeit bestätigen, wenn der Widerspruch in der Auslegung der Tatsachen liegt, über die sie berichten …« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes S. 43. Sie brachten den Gefangenen eine knappe Stunde später. Zu den Energiespeichern des Raumbootes hatte man Leitungen gelegt, und ein schwaches Summen kündete davon, daß Energie in die Duhannezellen floß. Die Männer betrachteten das Innere des Schiffes ohne Neugier, als wären sie zu verbittert, an irgend etwas Interesse zu finden. Calhoun nahm den Ausdruck ihrer Gesichter wahr. Sie haßten ihren Gefangenen. Aber ihre Mienen offenbarten jene tiefe Verbitterung, die sich eines Mannes bemächtigt, dessen Kinder ihn im Stich gelassen haben – Kameraden wegen, die er für wertlos oder Schlimmeres hält. Der Gefangene kletterte unbekümmert an der Leiter zum Raumboot empor. Er war jung und gutaussehend und trug ein Gehabe zur Schau, das sich aus Herausforderung und Trotz zusammensetzte. Calhoun schätzte, daß der Gefangene sieben Jahre jünger als er selbst war. »Sie sind wohl mein neuer Gefangenenwärter, wie?« stellte der Mann mit übertriebener Munterkeit fest, als er in die Schiffskabine trat. »Oder handelt es sich um einen neuen Trick? Angeblich werde ich zu meinen Freunden zurückgeschickt. Ich bezweifle das!« 30
»Es ist wahr«, versicherte Calhoun. »Würden Sie bitte die Schleusentür verriegeln? Dann könnten wir starten.« Der junge Mann grinste. »Nein«, sagte er, »das werde ich nicht tun!« Calhoun war wütend. Es lag keine besondere Absicht in seiner Bitte. In der Weigerung konnte ebensowenig ein Zweck stecken. Er nahm den Gefangenen am Kragen und hob ihn in die Luftschleuse. »Wir werden bald im Raum sein«, erklärte er sanft. »Wenn die äußere Tür nicht verriegelt ist, wird die Luft aus dem Schleusenraum entweichen. Wenn das eintritt, müssen Sie sterben. Ich kann Sie nicht retten, weil sofort alle Luft aus dem Schiff entweicht, wenn die äußere Tür nicht geschlossen ist und ich versuche, die innere zu öffnen. Aus diesem Grund gebe ich Ihnen den Rat, die Tür zu verriegeln.« Er schloß die innere Tür. Murgatroyd blickte ihn beunruhigt an. »Im Umgang mit Leuten Ihres Schlages«, dozierte Calhoun, »muß ich in erster Linie beweisen, daß ich meine, was ich sage. Tue ich es nicht, werfen sie mich mit ihren Vätern in einen Topf!« Das kleine Schiff erzitterte leicht. Calhoun warf einen Blick auf den Außenfeldanzeiger. Das bewegliche Landegerüst baute sein Kraftfeld auf. Das Raumboot hob sich. Es stieg höher und höher. Die Luft in der Schleuse begann zu schwinden. Drei Kilometer, vier… Dann ertönte ein metallisches Klicken. Ein Blick auf den Anzeiger verriet Calhoun, daß die Außentür dicht war. Er öffnete die innere. Der junge Mann taumelte in die Kabine, bleich und nach Atem ringend. »Danke!« sagte Calhoun kurz. Er schnallte sich im Kontrollstuhl fest. Die Sicht31
schirme zeigten ein Universum voll Schwärze und gleißendem Licht. Neue Sterne tauchten an den Rändern auf. Das Raumboot stieg immer schneller. Die Feldanzeiger fielen schlagartig auf Null zurück. Das Schiff schwebte im freien Raum. Calhoun probierte den Lawlorantrieb aus. Er funktionierte einwandfrei. Das Boot schoß in weitem Bogen aus dem Schatten des Planeten. Die Sonne Canis flammte voraus im Raum, und Calhoun setzte das Schiff auf Kurs. Mit unmerklicher Beschleunigung trieb das Lawlorantriebssystem das Schiff voran. Als die Automatik übernommen hatte, wandte sich Calhoun an seinen unfreiwilligen Begleiter. Murgatroyd betrachtete den fremden jungen Mann mit intensiver Neugier. »Mein Name ist Calhoun«, sagte der Arzt. »Ich bin vom Gesundheitsdienst. Und das ist Murgatroyd, ein Tormal. Wer sind Sie und auf welche Weise gerieten Sie in Gefangenschaft?« Der Junge ging sofort in Abwehrstellung. »Ich heiße Fredericks«, sagte er ausdruckslos. »Was geschieht nun?« »Ich bin unterwegs nach Canis III«, erklärte ihm Calhoun. »Erstens, um Sie dort loszuwerden, und zweitens, um etwas gegen diesen Krieg zu unternehmen. Wie hat man Sie erwischt?« »Es war ein gemeiner Überfall«, antwortete Fredericks verächtlich. »Sie landeten mit einem Schiff auf einem offenen Feld. Wir hielten es für eine neue Propagandabombe, wie sie zuvor schon einmal eine abgesetzt hatten und womit sie uns einhämmerten, wir wären Schurken und ähnliches. Ich wollte sehen, welch amüsante Dinge 32
man sich nun ausgedacht hatte. Aber diesmal war es ein Boot mit Besatzung. Die Männer zerrten mich ins Innere und ab ging die Fuhre. Sie schleppten mich dorthin, wo Sie auch gelandet sind, und versuchten, mich weichzumachen.« Er lachte spöttisch. »Sie zeigten mir wissenschaftliche Daten, die beweisen sollten, daß Phaedras Sonne bald explodieren und den Heimatplaneten mitnehmen würde. Man redete mir ein, wir auf Canis wären alle Narren, pflichtvergessene Söhne und so weiter. Die Eltern umzubringen, würde sich nicht bezahlt machen, behaupteten sie.« »Würde es das?«, fragte Calhoun. »Sich bezahlt machen, meine ich?« Fredericks grinste überlegen. »Was glauben Sie denn! Ich verstehe nicht viel von dem wissenschaftlichen Kram, aber ich weiß, daß sie lügen! Sehen Sie, man schickte den ersten Haufen Kolonisten vor fünf Jahren nach Canis. Keine Ausrüstung, nur das Allernötigste. Man stopfte die Schiffe mit Leuten voll. Alter zwanzig oder so. Und sie schufteten! Sie schufteten Tag und Nacht, um Ausrüstung herzustellen, Unterkünfte zu bauen und dem Boden etwas abzuringen. Und die ganze Zeit über kamen Schiffe mit weiteren jungen Leuten, die man mit Hungerrationen auf den Marsch schickte, damit mehr Personen Platz fanden. Alle Jungen, verstehen Sie? Und sie mußten schuften, um nicht zu verhungern, weil immer neue nachkamen. Jeder mußte hinein in diese Mühle, sobald er das Schiff verließ. Das hat man Ihnen nicht gesagt, nicht wahr?« »Doch!« murmelte Calhoun. »Sie arbeiteten hart!« fuhr Fredericks fort. »Brave Söhne und Töchter! Als sie es so weit geschafft hatten, daß es aussah, als ob es etwas leichter werden würde, da 33
begann man jüngere Kinder zu schicken. Ich war auch dabei! Ich war gerade fünfzehn. Wir überschwemmten Canis wie eine Sturmflut. Zuwenig Unterkünfte, zuwenig Nahrung, zuwenig Kleidung. Aber sie mußten uns füttern. Also hatten wir bei der Arbeit zu helfen. Ich habe an Häusern und Straßen gebaut, Rohre und Leitungen gelegt, den Boden bearbeitet und Wald gerodet. Kein Bummeln, kein Vergnügen! Sie stopften uns so rasch in diese neue Welt, daß es hieß: Friß Vogel oder stirb! Und wir fraßen! Als wir endlich wieder aufatmen konnten, sandten sie uns die kleinen Kinder auf den Hals. Zehnjährige und Neunjährige, die immer Hunger verspürten, auf die man pausenlos aufpassen mußte. Siebenjährige mit ewig rotzigen Nasen! Kein Vergnügen, keine Rast …« Er schnaufte erbittert. »Haben sie Ihnen auch das erzählt?« fragte er. »Ja«, nickte Calhoun, »dies und noch mehr.« »Die ganze Zeit über«, sagte Fredericks wütend, »behaupteten sie, daß die Sonne daheim anschwoll. Daß sie pulsierte, als ob sie jeden Augenblick hochgehen würde! Sie machten uns Angst, jedes Schiff, das von Phaedra kam, könnte das letzte sein. Und wir schufteten wie die Wahnsinnigen. Wir versuchten herbeizuschaffen, was die Kinder brauchten, die sie uns schickten. Und immer jüngere Kinder kamen nach, bis der kritische Punkt erreicht war. Es war nicht mehr zu schaffen. Tag und Nacht arbeiten – ohne Pause. Kein Vergnügen, keine Entspannung, nichts als Arbeit, bis man umfiel, nur um aufzuwachen und wieder zu arbeiten, bis man umfiel.« Er hielt inne. Calhoun sagte: »Also hörtet ihr auf zu glauben, daß die Arbeit wirklich so dringend sei. Ihr schicktet ein paar von euren Leuten los, um die Sache 34
nachzuprüfen. Und Phaedras Sonne kam ihnen ganz normal vor. Sie erkannten keine akute Gefahr. Die Alten zeigten Ihren Freunden ihre Aufzeichnungen und Berechnungen; aber sie glaubten ihnen nicht. Man entschied, man sei betrogen worden. Ihr wart müde. Alle – ausnahmslos. Junge Menschen brauchen Vergnügungen. Ihr hattet sie nicht. Und als eure Boten zurückkamen und verkündeten, die nahende Katastrophe sei nichts als eine Lüge, da glaubtet ihr ihnen nur allzu gern. Ihr stelltet euch vor, die Alten wälzten einfach ihre Sorgen und ihre Probleme auf euch ab.« »Wir wußten es!« krächzte Fredericks. »Also machten wir Schluß. Wir hatten genug getan! Wir beschlossen uns Zeit zu nehmen und zu leben. Wir hatten viel nachzuholen. Sowohl an Vergnügen, als auch an Ruhe. Wir waren in allem zu kurz gekommen. Sklaven waren wir, Sklaven von Plänen und Vorschriften.« Er hielt inne. »Als sie ankündigten, daß nun alle alten Leute nachkommen würden, da war Schluß! Wir sind Menschen! Wir haben ein Recht, wie Menschen zu leben! Als es hieß, wir sollten noch mehr Häuser errichten und noch mehr Land bebauen, damit noch mehr Leute – die Alten diesmal – nachkommen konnten, um uns hier weiter zu schikanieren, hatten wir die Nase voll. Für uns selbst hatte die ganze Sache keinen Gewinn gebracht. Wenn die Alten zu uns kamen, würde das auch niemals der Fall sein. Es war ihnen gleichgültig, ob wir uns zu Tode schufteten. Zum Teufel mit ihnen!« »Eine ganz normale Reaktion«, gab Calhoun zu. »Aber wenn nun eine Annahme falsch war?« »Wovon reden Sie?« fragte Fredericks verärgert. »Die Annahme, daß die Alten logen«, erklärte Calhoun. »Vielleicht steht Phaedras Sonne tatsächlich kurz 35
vor der Explosion. Vielleicht hatte man euch doch die Wahrheit erzählt.« Fredericks spuckte auf den Boden. Calhoun blickte auf. »Wischen Sie das bitte auf!« Der junge Mann starrte ihn an. »Lappen«, bedeutete ihm Calhoun. Fredericks lächelte spöttisch. Calhoun wartete. Murgatroyd sagte auffordernd: »Tschiie, tschie, Tschie!« Calhoun bewegte sich nicht. Endlich nahm Fredericks den Lappen und wischte nachlässig über die Stelle, auf die er gespuckt hatte. »Danke«, sagte Calhoun. Er wandte sich zu den Kontrollen um. Er überprüfte den Kurs und blätterte den wohl ein halbes Jahrhundert alten Vermessungsbericht über das Canis-Sonnensystem durch. Er machte ein finsteres Gesicht und fragte: »Haben Ihre Freunde sich inzwischen erholt? Fühlt sich jetzt jeder auf Ihrem Planeten besser?« »Weit besser!« erklärte Fredericks nachdrücklich, »so daß wir die Dinge lassen, wie sie sind. Die Alten schickten uns wieder ein Schiff, und wir benützten das Landegerüst dazu, Hindernisse in seine Umlaufbahn zu schießen. Wir werden überall kleine Gerüste aufstellen, damit wir ihre Schiffe mit Bomben belegen können – und wir haben verdammt gute Bomben –, sobald sie versuchen sollten, außerhalb Canopolis zu landen. Und wenn sie doch landen, werden wir ihnen einen bösen Empfang bereiten. Bisher wagten sie nur, Flugzettel abzuwerfen, auf denen sie uns beschimpften und uns einredeten, wir hätten das zu tun, was sie befehlen!« Calhoun hatte nun den inneren Planeten, Canis III, im Mittelpunkt des vorderen Sichtschirms. Unbeeindruckt fragte er: 36
»Was ist mit den kleinen Kindern? Sie sagten, die meisten hätten zu arbeiten aufgehört …« »Es ist nicht viel zu tun«, prahlte Fredericks. »Wir mußten die Arbeitsvorgänge automatisieren, damit wir alle Projekte bewältigen konnten. Wir erhielten die Pläne dazu von Phaedra. Nun kommen wir gut zurecht, ohne uns abrackern zu müssen!« Calhoun verdaute, was er eben gehört hatte. Wenn eine Gemeinschaft ohne Privatvermögen existieren konnte, dann nur eine Gemeinschaft junger Menschen. Sie strebten nicht nach Kapital als Eigenwert. Sie wollten das, was man für Geld bekommt. Es würde keine Kapitalisten auf der Welt geben, die nur von Phaedras junger Generation bevölkert war. So eine Gemeinschaft würde sehr interessant sein; aber es war eine Gesellschaft, die sich keine ernsthaften Gedanken um ihre Zukunft machte. »Aber«, fragte Calhoun, »was ist mit den kleinen Kindern? Mit den Kleinstkindern, die der Pflege bedürfen? Ihr habt doch nicht etwa etwas Automatisches erfunden, das auf sie aufpaßt?« »Doch«, erwiderte Fredericks stolz. »Unsere Mädchen passen natürlich gern auf die kleinen Kinder auf. Die weniger attraktiven hauptsächlich. Aber sie reichen natürlich bei weitem nicht aus. Daher entwickelten wir einen Psychokreis mit unbegrenzten Anschlüssen für die Kinder. Ein paar Mädchen spielen mit einer begrenzten Anzahl Kinder und das stellt auch die anderen zufrieden, die an den Psychokreis angeschlossen sind. Ein Ingenieur von uns hat Psychologie studiert, bevor sie ihn mit den anderen fortschickten, um Löcher zu graben und Häuser zu bauen. Er dachte sich den Trick aus, damit das Mädchen, mit dem er verlobt ist, mehr Zeit für ihn hatte. Es gibt eine Menge guter Ingenieure auf Canis III. Wir 37
kommen zurecht!« Die Tüchtigkeit der jungen Ingenieure auf Canis III bezweifelte Calhoun keinen Augenblick. Trotzdem fluchte er leise. Ein Psychokreis war an sich nichts Gefährliches. Im klinischen Gebrauch gestattete er dem Psychiater, während der Unterhaltungen in das Bewußtsein des Patienten einzudringen. Er mußte sich nicht mehr mühsam Assoziationen zusammensuchen, sondern konnte die Gedankenprozesse direkt beobachten. Er vermochte den Block festzustellen, die wunde Stelle im Geist, jene seltsamen, nicht mehr menschlichen Triebe, die zur Besessenheit werden können. Ein Psychokreis war an sich eine wunderbare Sache, aber nicht bei der Kindererziehung. Hunderte von kleinen Kindern würden versunken dasitzen, mit Psychokreisempfängem um den Kopf. Sie würden stillsitzen und vor sich hinlächeln und murmeln. Sie würden großen Spaß dabei haben. In einem kleinen Raum würden ein paar Kinder mit den Kindermädchen spielen. Die konzentrierte Aufmerksamkeit der Erwachsenen und die Liebe für ihre freiwilligen Kindermädchen würden den Kleinen, die wirklich spielen durften, eine erfüllte Kindheit und reines Glück bescheren. Und alle anderen Kinder, die an den Psychokreis angeschlossen waren, würden dieses Glück gleichzeitig miterleben und daran teilhaben. Jedes würde dieselbe Begeisterung verspüren, dasselbe Wohlbehagen und denselben Schmerz, wie die Kinder, die in dem Senderaum mit den Kindermädchen spielten. Doch die Kinder, die mit dem Psychokreis aufwuchsen, bekamen keine körperliche Übung, wurden nicht angeregt zu handeln oder zu denken. Sie entwickelten keine Initiative. Der Effekt wäre erzielt worden, wenn 38
man ihnen Drogen gegeben hätte, damit sie keiner Aufmerksamkeit bedurften. Strebsamkeit und Energie blieben ihnen fremd. Die Kinder würden erwarten, dal? jemand für sie spielte. Die Sterblichkeitsrate bei diesen Kindern mußte hoch sein, und der Gesundheitszustand der Lebenden bedenklich. Sie konnten keine Persönlichkeit entwickeln, wenn Stellvertreter für sie handelten. Und ein anderer, ebenso häßlicher Gedanke kam Calhoun plötzlich. In solch einer Gemeinschaft, wie sie auf Canis III existieren mußte, würden Jugendliche heranwachsen, die sich unglaublichen, faszinierenden Freuden und Genüssen hingaben, wenn sie erst einmal herausfanden, was man mit einem Psychokreis alles anfangen konnte. Calhoun sagte ganz gelassen: »In ungefähr dreißig Minuten werden Sie über Spacephon Canopolis rufen. Ich möchte, daß sie sich melden. Wird das Landegerüst ständig überwacht?« »In der Regel schon«, antwortete Fredericks lässig. »Man erwartet immer, daß die Alten etwas gegen uns unternehmen. Wenn sie es wagen sollten, dann ist das Gerüst da, um sich ihrer anzunehmen!« »Wir landen mit oder ohne Hilfe«, bestimmte Calhoun. »Aber wenn Sie sich nicht melden und jemanden da unten überzeugen, daß einer von ihren Freunden aus dem Krieg zurückkehrt, könnten sie uns mit dem Gerüst angreifen.« »Was soll ich sagen?« »Das ist ein Raumboot des Gesundheitsdienstes«, zitierte Calhoun. »In Übereinstimmung mit interstellaren Konventionen kann die Bevölkerung jedes Planeten ihre Regierung selbst bestimmen. Jeder Planet ist notwendigerweise unabhängig. Ich sympathisiere mit niemandem, 39
weder mit Ihren Freunden noch mit Ihren Feinden. Mich interessiert nur der Gesundheitszustand der Bevölkerung eines Planeten. Sie werden doch schon mal etwas über unsere Schiffe gehört haben, nicht wahr?« »J – ja«, gab Fredericks zu. »Als ich noch die Schule besuchte. Bevor man mich hierher schickte.« »Richtig«, nickte Calhoun. »Also denken Sie sich etwas Schönes aus, das denen da unten gefällt.« Er wandte sich wieder den Kontrollen zu und betrachtete die stetig anschwellende Scheibe des Planeten. Eine Minute später stellte er den Antrieb ab und schaltete das Spacephon ein. »Nur zu«, ermunterte er trocken. »Reden Sie. Bringen Sie uns hinunter oder in Schwierigkeiten. Ganz, wie es Ihnen gefällt.« »Die Erfahrung lehrt, daß jede Versicherung, es fehle an nichts oder es sei alles in Ordnung, grundsätzlich als verdächtig zu betrachten ist. Ärzte lernen nicht wenige Patienten kennen, die nichts über die Art ihrer Beschwerden und deren Ursachen wissen, deren Symptome so langsam und allmählich auftauchten, daß sie sie niemals wahrnahmen …« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes S. 68. Die Gemeinschaft auf Canis III war einzigartig. Nach langer und bemerkenswert belangloser Argumentation über Spacephon glitt das Schiff im Griff des Landegerüstes von Canopolis auf die Oberfläche nieder. Dies geschah mit meisterhafter Geschicklichkeit. Wer immer die Kontrollen bediente, tat es mit jener leidenschaftlichen Perfektion, mit der ein junger Mensch einen Mechanismus bedient, den er versteht und schätzt. Daraus folgte 40
aber nicht, daß solch ein vollendeter Operateur über die Perfektion der Bedienung hinausdachte. Er kam heraus und betrachtete stolz lächelnd das Schiff, als es leicht wie eine Feder auf der grasigen Fläche im Zentrum des Landegerüsts ruhte. Er war ein schlaksiger Siebzehn- oder Achtzehnjähriger. Eine Gruppe Gleichaltriger stolzierte herbei, um die beiden im Schiff zu befragen. Fredericks gab an, wo er gearbeitet und wie man ihn gefangengenommen hatte. Niemand prüfte seine Angaben nach. Sein Alter war Garantie dafür, daß er zu Canis gehörte. Als er von seinen Erfahrungen als Gefangener im Feindesland berichtete, schwanden alle Zweifel. Die jungen Leute stellten Zwischenfragen und quittierten einige Antworten mit lautem Gelächter. Sie klopften sich auf die Schenkel, als er einige Dinge berichtete, die er im Feindesland gesagt und getan hatte. Sie sprachen laut und prahlerisch davon, was sie tun würden, wenn die Alten ihre Drohungen wahrmachen würden. Aber Calhoun bemerkte außer dem perfekten Zustand des Gerüstes selbst keine ernsthaften Vorbereitungen zur Verteidigung des Planeten. Doch dieses Gerüst genügte eigentlich schon, den Planeten ausreichend zu verteidigen – außer gegen einen beweglichen Raumhafen, wie der Gegner ihn besaß. Als sie sich an Calhoun wandten, versicherte dieser kalt: »Meiner Meinung nach können sie euch jederzeit überrumpeln, falls sie sich dazu entschließen, ein paar von euch zu töten, um den Weg freizumachen. Wenn ich die Art und Weise betrachte, wie ihr euch dieser Bedrohung stellt, werdet ihr verlieren.« Sie murrten. Und Calhoun wunderte sich über die stammesmäßige Organisation, die sich hier herausgebildet hatte. Was Fredericks im Schiff erzählt hatte, rundete 41
sich nun zu einem Bild. Er hatte sich viel mit anthropologischen Problemen beschäftigt, weil ein Weltraumarzt nicht nur über Krankheiten Bescheid wissen mußte. Es war unumgänglich, auch die Menschen zu kennen, die diese Krankheiten bekamen. Bruchstücke der Kulturinstinkttheorie kamen ihm in den Sinn und paßten genau in das Bild, das er sich machte. Diese Theorie besagte, daß Stammeskulturen, aus denen auch die höchstzivilisierten sozialen Organismen hervorgehen, keine menschlichlogischen Erfindungen sind. Die fundamentalen Formen der menschlichen Gemeinschaft existieren, weil Instinkte im Menschen sie herausbilden – in exakter Parallele zu den grundlegenden Formen der Sozialstruktur von Ameisen und Bienen. Es schien Calhoun, als studiere er hier ein Musterbeispiel von Instinktreaktionen in der Einteilung der Funktionen dieser Gemeinschaft, die sich vor ihm auftat. Hier, wo es einen Feind gab und Wachsamkeit erstes Gebot war, fand er junge Krieger. Sie übernahmen diese Aufgabe, weil es ihr Instinkt gebot. Erbanlagen regten sich und ließen junge Männer auf gefährlichem Posten zu jungen Kriegern werden. Nichts war wichtiger als das Ansehen im Kreise der Kameraden. Weisheit, Sicherheit, Familie, Besitz – all das wollten sie nicht haben. Der Instinkt ihrer Altersgruppe leitete sie so bestimmt, wie aufeinanderfolgende Generationen von Gemeinschaftsinsekten geleitet werden. Sie trieben sich in Banden umher. Sie prahlten lauthals. Sie lungerten herum, und sie würden die verrücktesten Risiken eingehen, ohne einen zwingenden Grund dafür zu haben. Aber sie würden niemals Städte bauen. Dies war der Impuls der Älteren. Die kriegerische Altersgruppe war größer und bemerkenswerter Geschicklichkeit auf allen 42
Gebieten fähig, die sie wirklich interessierten. Doch lag es ihr nicht, automatische Geräte und Strukturen zu erfinden, die eine Stadt am Leben erhielten. Die Krieger würden nicht so weit vorausdenken. Sie würden kämpfen und sich die Schädel einschlagen lassen. Aber wenn diese exzentrische Welt bis jetzt überlebt hatte, mußte sie eine zusätzliche stammesmäßige Struktur aufweisen. Sie mußte eine Führerschicht haben – intelligenter als diese hitzigen jungen Männer, die zwar perfekt den Mechanismus eines Raumhafens beherrschten, ihn aber bestimmt nicht nachbauen konnten. »Ich muß einen von euren Anführern sprechen«, knurrte Calhoun gereizt. »Wer ist der Boß bei euch? Euer Krieg gegen eure Eltern ist nicht meine Sache. Ich bin dienstlich hier. Mich interessiert nur der Gesundheitszustand der Bevölkerung. Ich werde mich mit den verantwortlichen Personen in Verbindung setzen, Berichte studieren und Erfahrungen austauschen. Soweit es mich betrifft, ist mein Besuch eine reine Routineangelegenheit.« Diese Feststellung entsprach nicht vollkommen der Wahrheit. In gewissem Sinne war die Verhütung von Tod und Krankheit Routine, und in diesem einen Punkt hatte Calhoun dieselbe Pflicht auf Canis III zu erfüllen wie auf jedem anderen Planeten, zu dem man ihn schickte. Aber die Gefahren hier waren keine Routine. Eine Gemeinschaft ist ein Organismus. Sie ist etwas Ganzes. Die Instinkttheorie behauptet, daß die Gemeinschaft nur als Ganzes lebensfähig ist, das sich aus bestimmten Teilen zusammensetzt. Diese Gemeinschaft hatte durch die sich abzeichnende Katastrophe einen Schock erlitten. Viele Menschenleben würden verlorengehen, wenn es nicht 43
gelang, die Folgen dieses schockartigen Erlebnisses zu heilen. Calhoun mußte diesen jungen Männern auf eine andere Art und Weise beikommen als der älteren Generation. »Wer leitet hier die Geschicke des Planeten?« fragte Calhoun. »Ein Mann namens Walker sagte, sein Sohn wäre hier Anführer. Er war darüber ziemlich erbittert. Wer überwacht die Beschaffung von Lebensmitteln? Wer sieht danach, daß die kleinen Kinder gefüttert und gepflegt werden?« Der Raumhafentrupp blickte verdutzt auf Calhoun. Dann meinte jemand achselzuckend: »Wir wechseln uns ab, wenn wir Nahrungsmittel besorgen müssen. Diejenigen, die hier als erste gelandet sind, beanspruchen auch das Kommando. Manchmal wird auch gemacht, was sie befehlen. Die meisten von ihnen sind bereits verheiratet. Sie leben drüben im Zentrum.« Er deutete in diese Richtung. »Kann mich jemand dorthin bringen?« fragte Calhoun. Fredericks sagte großspurig: »Mach’ ich. Muß sowieso dorthin. Wer hat ein Bodenfahrzeug, das ich benutzen kann? Mein Mädchen wird sich Sorgen um mich machen. Sie weiß nicht, daß mich die Alten geschnappt hatten!« Sein Verlangen nach einem Bodenfahrzeug schien auf Widerstand zu stoßen. Es gab wohl Bodenfahrzeuge, aber die wenigen, die keiner Reparatur bedurften, wurden eifersüchtig gehütet. Die Debatte schien kein Ende zu nehmen. Dann erklärte sich ein finstergesichtiger Bursche bereit, Calhoun in das Gebiet zu bringen, in dem die ersten Kolonisten – nun älter, reifer und mit Hang zur Autorität – lebten. Calhoun wunderte sich, daß eine so einfache Sache so lange erörtert wurde. Als man mit der 44
Diskussion zu Ende kam, war Fredericks bereits angewidert weggegangen. Der finstere Bursche holte sein Fahrzeug herbei. Calhoun und Murgatroyd stiegen ein. Das Fahrzeug befand sich in einem ausgezeichneten Zustand. Der Konstrukteur hatte viel Mühe und fachliches Können in diesen Wagen investiert. Mit blitzendem Chrom und wirbelnden Rädern schoß der Wagen mit hoher Geschwindigkeit dahin. Der Junge fuhr mit haarsträubender Waghalsigkeit. Er durchquerte die Stadt in wenigen Minuten und mit einer Geschwindigkeit, die Calhoun nur flüchtige Blicke gestattete. Aber er sah, daß die Stadt fast unbewohnt war. Canopolis war von Phaedras junger Generation nach den Plänen ihrer Eltern erbaut worden, damit es die Einwanderer vom Mutterplaneten aufnehmen sollte. Man hatte den Bau mit aller Macht vorangetrieben und die Stadt dann nur als Durchgangslager benutzt. Unmenschliche Arbeit und Energie waren notwendig gewesen, um die Stadt und ihre wichtigsten Versorgungseinrichtungen noch vor Ausbruch der Katastrophe zu errichten. Aber nun hatten ihre Erbauer genug davon. Die Stadt war praktisch leer. Die letzten Ankömmlinge hatten sich an Plätzen niedergelassen, wo die Versorgung mit Nahrungsmitteln nicht so problematisch und die Lebensweise befriedigender war. Calhoun bemerkte zerbrochene Fensterscheiben und schmutzige Straßen. Überall herrschte Unordnung. Doch hatte man sich beim Bau der Häuser große Mühe gegeben. Einige teilweise fertige Anlagen wiesen auf erstaunliche fachliche Kenntnisse und handwerkliches Können hin. Dann war die Stadt zu Ende und fiel als riesige Ansammlung von Bauwerken schnell zurück. Die Straßen waren hier improvisiert. Sie konnten später fertiggestellt 45
werden. Am Horizont tauchten überstürzt aus dem Boden gestampfte Siedlungen auf – unsolide und unfertig, weil man so viele in so kurzer Zeit benötigt hatte. Das Fahrzeug kam mit kreischenden Bremsen vor einem Rohbau zum Stehen. Eine Frau verschwand. Ein Mann erschien. Noch mehr Männer traten aus dem Haus. Sie kamen drohend auf den Wagen zu. »Steigen Sie aus«, drängte der Fahrer. Er grinste schwach. »Man sieht mich hier nicht sehr gerne. Aber ich habe die Burschen ordentlich aufgescheucht, nicht wahr?« Calhoun stieg aus dem Fahrzeug. Der Wagen wirbelte auf zwei Rädern herum und schoß in Richtung Stadt davon, während der Fahrer sich umwandte und den Männern eine spöttische Grimasse schnitt. Auch sie waren noch ziemlich junge Männer – jünger als Calhoun. Sie blickten ihm ruhig entgegen. Calhoun blickte sich rasch um und rief: »Ich suche einen Mann namens Walker. Er soll der Anführer hier sein.« Ein junger Mann antwortete kalt: »Ich heiße zwar Walker, aber ich bin nicht der Anführer. Woher kommen Sie? Mit einer Uniform des Gesundheitsdienstes und einem Tormal auf der Schulter können Sie unmöglich zu den Kolonisten gehören. Sind Sie gekommen, um uns zu überreden, daß wir uns Phaedra fügen sollen?« Calhoun erwiderte ebenso kühl. »Ich habe eine Botschaft zu übermitteln, daß in drei Tagen ein Angriff aus dem Raum erfolgen wird. Diese Botschaft stammt von Phaedra. Ich bin vom Gesundheitsdienst, wie Sie bereits bemerkt haben. Was mich interessiert, ist der Gesundheitszustand der Kolonie. Wie 46
steht es mit Medikamenten? Wie viele Ärzte und Krankenhäuser haben Sie hier? Wie hoch ist die Sterblichkeitsziffer?« Der junge Walker grinste: »Unsere Kolonie ist sehr jung. Ich bezweifle, daß es auch nur hundert Personen auf dem Planeten gibt, die älter als fünfundzwanzig Jahre sind. Wie viele Ärzte brauchten wir wohl für eine Bevölkerung wie die unsere? Und die Höhe der Sterblichkeitsziffer ist gleich Null. Wissen Sie überhaupt, auf welche Art und Weise wir hierherkamen?« »Ihr Vater hat es mir berichtet«, antwortete Calhoun. »Im Militärstützpunkt auf dem Nachbarplaneten. Die Väter dieser Kolonie bereiten sich auf einen Angriff vor. Ich bin beauftragt, Sie davon in Kenntnis zu setzen. In genau drei Tagen ist es soweit!« Der junge Walker biß sich auf die Unterlippe. »Das werden sie nicht wagen! Wir vernichten sie! Sie haben uns belogen! Uns ausgenützt und …« »… und die Sterblichkeitsziffer ist tatsächlich gleich Null?« unterbrach Calhoun skeptisch. Der junge Mann runzelte die Stirn. »Es hat keinen Sinn, uns übertölpeln zu wollen. Das ist unsere Welt. Wir haben sie aufgebaut, und wir lassen sie uns nicht mehr nehmen! Unsere Väter haben uns lange genug zum Narren gehalten!« »Und Sie haben hier wirklich keine medizinischen Probleme?« Der grimmige junge Mann zögerte. Einer von den anderen sagte herablassend: »Laß ihn doch mal mit den Frauen reden, damit er endlich Ruhe gibt. Die Frauen machen sich tatsächlich Sorgen um ein paar Kinder.« Calhoun atmete erleichtert auf. Diese relativ reifen jungen Männer waren die ersten Kolonisten. Sie hatten 47
das härteste Los tragen müssen. Die schwerste Arbeit und die größte Verantwortung hatte auf ihnen gelastet. Sie waren über alle Maßen beansprucht worden. Und sie hatten schließlich eine verzweifelte Entscheidung getroffen. Doch augenscheinlich hätten die Dinge noch schlimmer stehen können. Gewöhnlich ist es so, daß sich die Frauen immer so verhalten, wie die Männer sie am liebsten mögen. Gerade junge Mädchen werden alles tun, um ihrem zukünftigen Gatten zu gefallen. Und in einer Gemeinschaft, die sich völlig neu formen muß, können sich rasch moralisch anstößige Zustände entwickeln. Aber das war hier offensichtlich nicht der Fall. Tiefverwurzelte Instinkte taten immer noch ihr Werk. Frauen und Mädchen waren hier genauso besorgt um die kleinen Kinder wie ihre Mütter vor ihnen, auch wenn es sich nicht um ihre eigenen Söhne und Töchter handelte. Und Fredericks’ Geschichte … »Auf jeden Fall«, stimmte Calhoun sofort zu, »wenn etwas mit der Gesundheit der Kinder nicht in Ordnung ist …« Walker nickte und wandte sich den Häusern zu. Er blickte finster vor sich hin. Plötzlich sagte er schroff: »Sie haben wahrscheinlich bemerkt, daß nicht viele Leute in der Stadt wohnen.« »Ja«, erwiderte Calhoun, »das ist mir aufgefallen.« »Wir sind noch nicht vollständig organisiert«, fuhr Walker im selben Tonfall fort. »Wir haben nichts anderes getan, als nur aufgebaut. Wir müssen uns erst einrichten, ehe sich ein richtiges Wirtschaftssystem einspielen kann. Viele von denen, die später kamen, haben nichts weiter gelernt, als Häuser zu bauen. Wenn sie umgeschult sind, kann die Stadt besiedelt werden. Wir haben ein genauso 48
gutes Produktions- und Verteilungssystem wie andere Kolonialplaneten. Aber wir brachten gerade erst eine Revolution hinter uns. Das heißt, in gewissem Sinne stecken wir noch immer mitten drin. Wenn wir die erst überstanden haben, wird diese Welt wie jede andere sein – nur besser!« »Ich verstehe«, murmelte Calhoun. »Die meisten Kolonisten leben hier in kleinen Siedlungen. Die Leute bebauen ihre Felder und gewinnen dem Boden ab, was sie zum Leben brauchen. Vielleicht halten Sie uns für primitiv; aber wir haben ein paar gute Ingenieure und Techniker. Sobald sie sicher sein können, daß sie nicht nur für die Alten, sondern auch für sich selbst und uns hier konstruieren und fabrizieren, werden wir gut zurechtkommen. Glauben Sie mir das. Unsere Ausbildung war nicht ausreichend für die Schaffung einer perfekten Welt. Wir sollten sie nur so weit aufbauen, daß die Alten sie ohne eigene körperliche Anstrengung übernehmen könnten. Nun haben wir sie jedoch selbst übernommen!« »Ja«, stimmte Calhoun höflich zu. Man betrachtete ihn zwar nicht direkt als Feind, glaubte aber auch nicht so recht an seine Neutralität. »Alles andere kommt schon noch«, fuhr der junge Walker energisch fort. »Wir werden Geld haben, ein Kreditsystem, geregelte Arbeitsverhältnisse und was sonst alles dazugehört. Im Augenblick aber ist die Verteidigung unser wichtigstes Problem. Darüber sind wir uns alle einig.« »Ja«, stimmte Calhoun wiederum zu. »Die älteren unter uns sind verheiratet«, sagte Walker steif. »Wir haben Verantwortungsbewußtsein und halten die Zügel in der Hand. Man hat uns jedoch belogen, und 49
das nehmen wir übel. Deshalb geben wir den Alten keine Gelegenheit mehr, uns am Gängelband zu führen. Denn wir haben bewiesen, daß wir imstande sind, selbst eine Welt aufzubauen und zu leiten!« Calhoun schwieg. Sie erreichten das Haus. Walker öffnete die Tür und bedeutete Calhoun, ihm zu folgen. Der Arzt blieb stehen. »Einen Moment noch. Der Junge, der mich hierherbrachte, benahm sich ziemlich komisch. Als er gesehen wurde, verschwand eine Frau im Haus, und ihr Männer kamt angelaufen, als ob … Nun ja – ihr schient ziemlich aufgebracht zu sein.« Ärger färbte Walkers Gesicht dunkelrot. »Ich sagte schon, wir haben hier tüchtige Techniker. Einige von ihnen entwickelten ein Gerät, das uns hilft, auf die Kinder aufzupassen. Es ist harmlos. Aber sie wollen es jetzt dazu benützen, die Älteren unter uns auszuspionieren. Uns! Sie wollen in unsere Privatsphäre eindringen! Sie versuchen Psychokreise in der Nähe unserer Wohnungen zu errichten. Sie finden es lustig, zu erfahren, was die Leute tun und sagen …« »Psychokreise können sehr nützlich sein«, gab Calhoun zu, »aber auch unangenehm. Andererseits …« »Kein anständiger Mensch würde so etwas tun!« explodierte Walker. »Und kein Mädchen möchte etwas zu tun haben mit jemandem, der so etwas … Aber es gibt überall Narren und Schmutzfinken!« »Sie beschreiben eine kriminelle Klasse«, stellte Calhoun trocken fest. »Die Verbrecher sind zwar nicht an fremdem Gut, wohl aber an fremden Gefühlen interessiert. Voyeurtypen, die scharf darauf sind, zu erfahren, was andere Leute für jene empfinden, die sie lieben. Was Liebende tun und was sie sagen. Im Grunde genommen 50
also ein Fall von Jugendkriminalität, nicht wahr?« »Jede Zivilisation hat ihre Probleme«, seufzte Walker. »Aber wir werden …« Er brach wieder ab und öffnete eine zweite Tür. »Meine Frau ist bei den Kindern, die uns die Alten aufgehalst haben. Geradeaus bitte!« Bei dem Haus handelte es sich um eine jener Unterkünfte, die während der hektischen Zeit aus dem Boden gestampft worden waren, als es galt, in höchster Eile Notquartiere zur Aufnahme der Bevölkerung eines ganzen Planeten zu errichten. Alles war rohe Maschinenarbeit – die Fußböden unfertig, die Wände rauh, die Einrichtung dürftig. Und doch hatte jemand versucht, mit bunten Farben eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich wohl fühlen konnte. Als das Mädchen aus dem nächsten Raum trat, verstand Calhoun. Sie war etwas jünger als ihr Mann, aber nicht viel. Sie betrachtete Calhoun mit der Besorgnis einer jeden guten Hausfrau, die hofft, daß der unerwartete Besucher kleine Mängel und Schönheitsfehler in der Wohnung übersieht. Diese junge Frau besaß die weiblichen Instinkte, die weit älter sind als alle Tradition. Verpflichtungen und Treueversprechen können zur Seite geschoben werden, aber die Vorstellungen einer Hausfrau von ihrer Rolle ist unwandelbar. »Ich bringe dir hier jemand vom Gesundheitsdienst«, erklärte Walker kurz und wies auf Calhoun. »Ich sagte ihm, es gäbe Schwierigkeiten mit einigen der Kinder.« Und zu Calhoun: »Das ist Elsa, meine Frau.« Murgatroyd grüßte »Tschie!« von Calhouns Schulter herab. Er war plötzlich beruhigt und kletterte auf den Boden. Elsa lächelte ihm zu. »Er ist zahm!« rief sie entzückt. »Vielleicht …« Calhoun hielt ihr die Hand entgegen. Sie nahm sie. 51
Murgatroyd stolzierte vor und streckte seine schwarze Pfote aus. Statt Streit und Haß spürte der Tormal hier eine liebenswerte Gesellschaft, wie er sie gewohnt war. Er fühlte sich fast wie zu Hause. Voll Behagen begann er wie ein menschliches Wesen zu handeln, das zu sein er so gern vorgab. »Ist der süß!« lächelte das Mädchen. »Darf ich ihn Jak zeigen?« Der junge Walker warf ein: »Elsa hilft bei den Kleinen. Etwas beunruhigt sie, das sie nicht versteht. Sie hat ein Problemkind hier. Hole ihn doch, Elsa!« Elsa verschwand. Einen Augenblick später brachte sie einen kleinen Jungen herein. Er war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt und sehr mager. Elsa trug den Knaben auf dem Arm. Seine Augen leuchteten, aber er verhielt sich völlig passiv auf ihren Armen. Sie setzte ihn auf einen Stuhl, und er blickte mit wachen Augen um sich, bewegte sich dabei aber nicht. Er entdeckte Murgatroyd und begann zu strahlen. Der Tormal trat zu dem kleinen menschlichen Wesen, das fast seine Größe hatte, und bot ihm stolz seine Pfote. Der Junge kicherte, doch seine Hand blieb in seiner Jackentasche. »Er rührt sich überhaupt nicht!« erklärte Elsa verstört. »Dabei sind seine Muskeln völlig in Ordnung. Er benützt sie nur nicht. Er sitzt lediglich da und wartet, daß die Dinge für ihn getan werden! Er benimmt sich, als hätte er verlernt, sich zu bewegen oder überhaupt etwas zu tun. Und mit den anderen Kindern ist es nicht viel besser. Sie sitzen einfach da. Sie sind wach, sie nehmen wahr und verstehen; aber sie rühren sich nicht!« Calhoun untersuchte den Jungen. Dessen Ausdruck wurde teilnahmslos. Aber er zuckte, als Calhoun die dünnen Ärmchen und Beinchen berührte. Was an Mus52
keln vorhanden war, war weich wie Teig. Als Calhoun sich aufrichtete, verzog er unwillkürlich den Mund. Die junge Mrs. Walker fragte besorgt: »Wissen Sie, was mit ihm los ist?« »Grundsätzlich«, antwortete Calhoun mit erschreckender Ironie, »befindet er sich im Zustand der Auflehnung. So wie ihr euch gegen Phaedra auflehnt, lehnt er sich gegen euch auf. Euch fehlte Ruhe und Erholung von übermenschlicher Arbeit, die durch Jahre hindurch immer anstrengender wurde. Da lehntet ihr euch auf, und ihr habt eine Rechtfertigung für den Krieg, in den ihr verwickelt seid. Aber auch ihm fehlt etwas, das er nicht bekommen konnte. Also lehnte er sich gegen diesen Mangel auf – so wie ihr. Und er wird an dem gleichen Übel sterben, an dem ihr zugrunde gehen werdet.« Walker erstarrte. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, knurrte er. Calhoun biß sich auf die Lippe. »Ich drückte mich nicht klar genug aus. Der wahre Grund seiner gegenwärtigen und eurer zukünftigen Schwierigkeiten ist die Zerrüttung eines gesellschaftlichen Systems. Die einzelnen Komponenten sind nicht lebensfähig, wenn sie aus der Gesellschaft herausgelöst werden. Und ich frage mich, welche ärztlichen Schritte unternommen werden können, um eine verwundete Zivilisation zu heilen. Ich fürchte, als Arzt stehe ich am Ende meiner Weisheit. Doch wer weiß … Ich werde mich erst einmal gründlich umsehen. – Übrigens, habe ich bereits erwähnt, daß die Flotte von Phaedra in genau drei Tagen angreifen wird?« »Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer Sache. Oftmals wird die Wahrheit nicht erkannt, weil man es für unnötig erachtet, sich gründlich zu 53
informieren. Noch öfter bleibt die Wahrheit verborgen, weil jemand sich gegen eine Vorstellung sträubt…« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes, S. 101–2. Am selben Tag noch besuchte Calhoun die Kinderheime und -krippen, die die ersten Kolonisten errichtet hatten, als die Siedlerschiffe die Kleinstkinder hierherbrachten. Natürlich handelte es sich nicht um Musterbeispiele von Kinderheimen. Um Musterheime zu errichten, hatte es der jüngeren Generation Phaedras sowohl an Zeit als auch an Mitteln gefehlt. Hätte man den Zeitpunkt der drohenden solaren Explosion genau berechnen können, wäre ein organisierteres Handeln möglich gewesen. Seit fünf Jahren erwartete man jeden Moment die Explosion der Sonne. Wenn man das vorher gewußt hätte, wären zuerst ältere, erfahrenere Männer und ausreichende Maschinen auf die neue Welt transportiert worden. Aber die Explosion war eben zeitlich nicht exakt zu bestimmen – sie war eine Sache der Wahrscheinlichkeit, des Zusammentreffens von mehreren Variablen. Und wenn sie schließlich erfolgte, bedeutete es die jähe und absolute Katastrophe. Die Sonne würde sich aufblähen, auseinanderbersten und alles Leben im Sonnensystem zerstören. Die Wahrscheinlichkeit stand eins zu eins, daß es noch in diesem Jahr geschah; zwei zu eins innerhalb der nächsten beiden Jahre, und fünf zu eins, in den kommenden drei Jahren. Auf jeden Fall aber standen die Chancen dagegen, daß Phaedra noch einmal soviel Zeit blieb wie bisher. Die Bewohner der Mutterwelt hatten bisher unwahrscheinliches Glück gehabt. Calhoun lernte die Mädchen kennen, die sich den Kinder widmeten. Sie machten ihre Sache gut. Die kleinen Kinder verhielten sich genauso, wie Cal54
houn es sich vorgestellt hatte. Der magere kleine Kerl, den Mrs. Walker ihm gezeigt hatte, war ein extremer Fall; aber die Folgen des Psychokreiserlebens waren überall sichtbar. Während Calhoun die Kinderheime inspizierte, begleiteten ihn die jungen Schwestern mit besorgtem Gesicht. Aber sie kicherten, als Murgatroyd versuchte, wie Calhoun die Temperatur zu messen und den Puls zu fühlen. Er mußte zurückgehalten werden, als er daranging, einen Halsabstrich zu machen, von dem Calhoun behauptete, er wäre reine Routine. Nach der vierten Inspektion dieser Art erklärte er Elsa: »Das genügt. Mehr brauche ich nicht zu sehen. Wo sind die Knaben der Altersgruppe, der diese jungen Kinderpflegerinnen angehören? Wo sind die Dreizehn-, Vierzehn- und Fünfzehnjährigen?« »Die meisten von ihnen sind in den Wäldern«, antwortete Elsa, ohne zu überlegen. »Sie machen sich nichts aus Mädchen. Sie jagen und fischen und erobern die Welt. Einige betreiben kleine Pflanzungen … Sie hätten kaum genug zu essen, wenn sie es nicht täten, auch wenn keine neuen Kinder dazukommen.« Calhoun nickte. Auf allen Planeten der Galaxis lebten die kleinen Kinder und die Erwachsenen im Familienverband zusammen. Aber die Jungen der erwähnten Altersgruppe sonderten sich immer ab. Sie verschwanden in kleinen Gruppen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit und frönten abenteuerlichen Spielen und Entdeckungen. Sie wollten so selbständig sein wie nur möglich. »Ihr Mann«, riet Calhoun mit ausdrucksloser Stimme, »sollte versuchen, einige von diesen Jungen für das Gemeinwohl einzuspannen. Wenn ich mich an meine eigene Jugend erinnere, sind die Jungen gerade in diesem Alter einer bewunderungswürdigen, ideellen Pflichtauffassung 55
fähig. Wir werden Idealisten gut gebrauchen können.« Elsa vertraute Calhoun, weil er um das Wohl der Kinder besorgt schien. Unglücklich fragte sie: »Glauben Sie wirklich, daß die … Alten angreifen werden? Ich bin reifer geworden in diesen fünf Jahren. Wir, die wir als erste hierherkamen, denken fast schon wie unsere Eltern auf Phaedra – das heißt, in gewisser Weise. Die Jüngeren begegnen uns mit Argwohn, weil wir sie zu erziehen versuchen.« »Wenn Sie damit andeuten wollen, daß Sie glauben, beide Seiten wären an diesem Krieg schuld«, bemerkte Calhoun trocken, »dann haben sie wohl recht. Aber überreden Sie Ihren Mann dazu, daß er die jungen Jäger und Fischer zusammentrommelt. Wir brauchen sie. Ich muß zum Schiff zurück.« Man fuhr ihn zum Landegerüst. Nicht Walker, sondern ein anderer Mann aus dem Rohbaudorf der ersten Siedler begleitete ihn. Er war einer der ersten Pioniere, der auf diesem Planeten abgesetzt wurde. Jetzt betrachtete er sich schon fast als Angehöriger der älteren Generation. »Nun haben wir die Bescherung!« sagte er düster, während er durch die fast verlassene Stadt auf das Landegerüst zufuhr. »Wir müssen einen Weg finden, alles besser zu organisieren. Wir haben eine Horde wilder junger Burschen hier, denen die Welt so gefällt, wie sie ist. Aber sie müssen zur Vernunft gebracht werden!« Calhoun hatte in diesem Punkt seine Zweifel. Schon immer hatte es ideale Modelle von gesellschaftlichen Systemen gegeben, die zum irdischen Paradies für ihre Bürger werden sollten. Hier nun war durch Zufall eine Welt entstanden, die nur von Jugendlichen bewohnt wurde. Calhoun versuchte, die unerfreulichen Tatsachen aus 56
seinem Bewußtsein zu verdrängen, die sich wohl leider im Labor bestätigen würden, sobald er zurück im Schiff war. Er versuchte, sich diese scheinbar ideale Chance für eine bessere Organisation des menschlichen Zusammenlebens vorzustellen. Aber es gelang ihm nicht. Die Kulturinstinkttheorie ist zu gut fundiert, überlegte er. Der Gesundheitsdienst betrachtete die Tatsache als bewiesen, daß die grundlegenden Formen der menschlichen Gemeinschaften instinktiven Ursprungs sind und nicht die rationale Folge positiver Versuche. Das Individuum durchläuft eine Reihe von Instinktschablonen, die der Grund dafür sind, daß das Einzelwesen in einer sozialen Organisation, die zwar im Detail abweichen, aber niemals ihre Art verändern kann, zu verschiedenen Zeiten verschiedene Funktionen ausübt. Diese Organisation muß den Funktionen ihrer Mitglieder Raum zur Entfaltung geben. Tut sie es nicht oder unterdrückt sie diese Instinkte, wird diese Gesellschaftsform nicht überleben. Calhoun dachte verdrossen an die Tests, die er im Schiff durchführen mußte. Als das Fahrzeug in den Raumhafen einbog, sagte er: »Mein Aufgabengebiet ist die Gesundheit. Ich kann euch keinen Rat geben, wie man eine neue Welt organisiert. Selbst wenn ich dazu in der Lage wäre, würde ich es nicht tun. Aber eines weiß ich. Jeder, der auf dieser Welt Verantwortung trägt, sollte sich auf ernste Schwierigkeiten gefaßt machen.« »Wenn Phaedra angreift, werden wir kämpfen!« versicherte der Fahrer düster. »Die Angreifer werden den Boden niemals lebend erreichen. Und sollte es ihnen doch gelingen, werden sie das bitter bereuen müssen.« »Ich dachte dabei nicht an Phaedra«, murmelte Calhoun. 57
Der Wagen hielt nahe am Raumboot und Calhoun stieg aus. Man hatte während seiner Abwesenheit versucht, in das Schiff einzudringen. Die Gruppe Jugendlicher, die das Kontrollgebäude besetzt hielt und Canis III gegen einen Angriff aus dem Raum verteidigen wollte, hatte ihre Neugier nicht bezähmen können. Aber sie waren nicht weit gekommen. Murgatroyd schnatterte schrill, als er auf den Boden gestellt wurde. Er tänzelte erleichtert in der Kabine herum und genoß es sichtlich, wieder in gewohnter Umgebung zu sein. Calhoun zollte ihm keine Aufmerksamkeit. Er schloß die Schleusentür. Dann schaltete er das Spacephon ein und begann mit seinem Aufruf: »Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig ruft die phaedrische Flotte! Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig ruft die …« Der Lautsprecher drohte ihm das Trommelfell zu zerreißen, als jemand im Kontrollgebäude in ein Spacephonmikrophon brüllte: »He! Sie im Schiff! Hören Sie auf damit! Keine Unterhaltung mit dem Feind!« Calhoun stellte den Empfänger leiser und sagte geduldig: »Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig ruft die phaedrische Flotte! Bitte kommen! Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig ruft …« Aus dem nahen Gebäude erscholl ein Brüllen. Die Raumhafenwache hatte aus Neugierde versucht, unerlaubt in das Raumboot einzudringen; aber die Burschen waren jetzt höchst entrüstet, daß Calhoun etwas tat, was nicht in ihr Konzept paßte. Mit ihrer Zwischenruferei 58
machten sie es ihm unmöglich, die Antwort der Flotte aus dem Raum zu hören. Eine andere Stimme, deren Besitzer sich offenbar zum Mikrophon im Kontrollturm durchgeboxt hatte, brüllte drohend: »Sie …! Wenn Sie das weiterversuchen, sind Sie ein toter Mann! Mit dem Gerüst schaffen wir das spielend!« Calhoun sagte kurz: »Raumboot an Kontrolle! Ich habe etwas zu verkünden. Am besten, ihr hört zu. Aber nicht über Spacephon. Schickt euren besten Gerüsttechniker ins Freie, dann werde ich über Außenlautsprecher mit ihm reden.« Er schaltete das Spacephon ab und beobachtete, was geschah. Der Ausgang des Kontrollgebäudes füllte sich mit Gestalten. Einen Augenblick später sah er den schlaksigen Kerl, der nach der perfekten Landung so stolz gegrinst hatte. Die anderen schrien durcheinander und blickten finster auf das Schiff. Calhoun betätigte den Außenlautsprecher. »Ich habe auf Überantrieb eingestellt«, sagte er kalt. »Meine Duhannezellen sind frisch gefüllt. Wenn ihr versucht, ein Kraftfeld um dieses Schiff zu legen, werde ich ein halbes Dutzend Überantriebsladungen auf einmal hineinjagen, die euer Gerüst im Handumdrehen erledigen. Und womit wollt ihr dann die Flotte aus dem Raum bekämpfen? Ich werde mit ihnen über Spacephon sprechen. Hört zu, wenn ihr wollt. Überwacht es. Aber hindert mich nicht länger!« Er schaltete wieder auf Spacephon um und wiederholte geduldig seinen Ruf: »Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig ruft die phaedrische Flotte! Raumboot des Gesundheitsdienstes ruft phaedrische Flotte …« 59
Er sah heftige Auseinandersetzungen außerhalb des Kontrollgebäudes. Einige der Gestalten schrien wütend; aber der Junge, der das Gerüst bediente, schrie ebenso heftig zurück. Calhoun hatte nicht geblufft. Ein Gerüstkraftfeld konnte neutralisiert und von einem landenden oder startenden Schiff sogar unbrauchbar gemacht werden. Wenn ein Raumschiff wie Calhouns Boot im Überantrieb startete, stieß es umgerechnet hundertzwanzig Gramm reiner Energie aus, um ein Kraftfeld aufzubauen, in dem es die Lichtgeschwindigkeit überschreiten konnte. In Pferdekräften oder Kilowattstunden ausgedrückt, wäre diese Zahl unermeßlich groß. Glitt das Schiff aus dem Überantrieb heraus, so wanderte diese Energie größtenteils wieder zurück in die Speicherzellen. Der Verlust war geringfügig im Vergleich zu der Gesamtmenge. Aber wenn diese Energie in das Kraftfeld eines Gerüsts gejagt wurde, würde schon der erste Energiestoß zu einer verheerenden Katastrophe. Die Antwort aus dem Raum traf ein, als die Gruppe am Kontrollturm sich heiser geschrien hatte und ins Innere des Gebäudes ging, um argwöhnisch Calhouns Gespräch mit dem Feind zu belauschen. »Phaedra-Flotte ruft«, sagte eine knurrende Stimme im Spacephonlautsprecher. »Was wollen Sie?« »Von meiner Autorität als Beamter des Gesundheitsdienstes Gebrauch machen«, erklärte Calhoun fest. »Ich setze Sie hiermit davon in Kenntnis, daß ich diesen Planeten als unter Quarantäne befindlich erkläre. Jedweder Kontakt mit ihm vom Raum aus ist verboten, bis die gesundheitliche Situation hier unter Kontrolle gebracht ist. Setzen Sie alle Raumschiffe und Raumhäfen, mit denen Sie in Verbindung stehen, von dieser Verfügung in Kenn60
tnis. Ende der Meldung.« Stille. Langes Schweigen. Dann krächzte die Stimme: »Was ist los? Wiederholen Sie die Meldung!« Calhoun tat es. Er schaltete ab und nahm die Halsabstriche zur Hand, die er in den vier Kinderheimen gemacht hatte. Er packte die Ausrüstung aus und begann mit der Untersuchung eines Abstriches. Seine Ahnungen bestätigten sich. Er nahm eine grobe, aber eindeutige Identifizierung vor. Ernüchtert untersuchte er den nächsten Abstrich. Einen dritten, vierten, fünften, zehnten. Seine Miene war sehr ernst. Bei Sonnenuntergang erklang ein Pochen an der Schiffshülle. Er knipste den Lautsprecher an. »Was wollen Sie?« fragte er. Die Stimme des jungen Walker klang verändert. Die Schirme zeigten etwa ein Dutzend Bewohner von Canis III, die um ihn herumstanden. Einige aus den streitbaren Altersgruppen diskutierten heftig. Aber der junge Walker und vier oder fünf Männer neben ihm blickten besorgt auf das Schiff. »Was soll dieser Unsinn mit der Quarantäne?« fragte Walker barsch. »Sie bedeutet«, erklärte ihm Calhoun, »daß eure tapfere neue Welt als Elendsviertel eingestuft ist. Ihr habt die Kinder mit Psychokreisen künstlich ruhig gehalten. Sie sind unterernährt, weil sie sich körperlich nicht betätigten. Sie sind schwach vor Unterernährung und hinfällig, weil sie nie ihre Muskeln bewegten. Sie sind wie die Kinder in den Slums früherer Zeiten. Hier auf Canis seid ihr auf dem besten Weg, euch selbst zu vernichten. Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr das schaffen!« »Sie sind verrückt!« schnappte Walker. Aber er war bestürzt. 61
»In den vier Kinderheimen, die ich besuchte«, fuhr Calhoun traurig fort, »fand ich vier Fälle von beginnender Diphtherie, zwei von Typhus, drei von Scharlach und Masern, und dazu Erreger von fast jeder Krankheit, die im Lehrbuch steht. Diese Krankheiten haben sich nur entwickeln können, weil die physische Schwäche der Kinder dafür günstige Voraussetzungen schuf. Die Inkubationszeit war bereits überschritten, ehe ich die Kinder untersuchte. Aber die Kinder wurden so ruhig gehalten, daß es niemandem auffiel, daß sie krank sind. Sicherlich haben sie sich gegenseitig angesteckt, auch ihre Pflegerinnen, und somit für die Verbreitung der Krankheiten unter der Bevölkerung gesorgt. Es droht euch also eine verheerende Epidemie. Und ihr habt keine Ärzte, keine Antibiotika – nicht einmal Nadeln für die Spritzen, um Medikamente zu injizieren, falls ihr Vorräte von Arzneien angelegt hättet.« »Sie sind verrückt!« schrie der junge Walker. »Verrückt! Ist das vielleicht ein neuer Trick von Phaedra, um uns umzustimmen?« »Phaedras Trick«, sagte Calhoun müde, »ist eine Atombombe, die sie – Quarantäne oder nicht – in zwei Tagen in dieses Landegerüst werfen werden!« »… Es ist sehr schwer, Leute für eine Mitarbeit bei Maßnahmen zu gewinnen, die von diesen Leuten versäumt oder vernachlässigt worden sind …« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes, S. 189. Calhoun arbeitete die ganze Nacht hindurch und überwachte die Brutapparate, die zur Ausrüstung des Bootes gehörten. Er hatte die Abstriche von den kleinen Patienten unter dem Mikroskop untersucht. Seine schlimmsten 62
Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Das waren die verheerenden Folgen des Psychokreissystems für die Kindererziehung, mit der Fredericks so geprahlt hatte. Calhoun hatte bereits das Schlimmste befürchtet, als ihm Walkers Frau den kleinen Jungen Jak vorführte. Seine schlimmste Ahnung wurde jetzt bestätigt. In jedem menschlichen Körper befinden sich Krankheitskeime. Der Prozeß zur Erhaltung der Gesundheit ist zum Teil ein fortwährender Kampf mit leichten und unmerklichen Infektionen. Aus den Siegen über kleine Invasionen gewinnt der Körper Kraft, sich gegen größere Ansteckungen zu verteidigen. Ohne diese dauernden kleinen Siege würde der Körper aufhören, eine starke Verteidigung gegen Krankheitserreger aufzubauen. Mangelhafte Ernährung kann natürlich einen Körper, der vorher ausgezeichnet für diese Art von Guerillakrieg gerüstet war, entscheidend schwächen. Falls ein unterernährtes Kind solch ein Geplänkel verliert, kann es von einer Krankheit erfaßt werden, die es niemals bekommen hätte, wenn es ein wenig kräftiger gewesen wäre. Doch dann wird das Kind zum Auslöser, zum Keimträger, der sich auf keinen anderen klinischen Fall zurückführen läßt. Und dann wird es zum Ursprung einer Epidemie. Unter Elendsbedingungen kann eine Krankheit, von der man jahrelang nichts gehört hat, über Nacht ausbrechen und wie eine Feuersbrunst wüten. Mit bester Absicht und großer technischer Raffinesse hatten die jungen Siedler von Canis III diesen Prozeß unter den Kindern, die ihre letzte auferlegte Bürde waren, ausgelöst. Die Kinder unterließen jede körperliche Betätigung, lebten vollkommen passiv und hatten daher wenig Appetit. Ihre Ernährung war unregelmäßig. Und ein Axiom des Gesundheitsdienstes lautete, daß ein einziges unte63
rernährtes Kind einen ganzen Planeten gefährden kann. Calhoun bewies diese Tatsache mit erschreckender Gewißheit. Die Kulturen erstaunten selbst ihn. Im Morgengrauen war er so weit, daß er des Tormals besondere genetische Fähigkeiten an ihnen anwenden konnte. Murgatroyd sagte protestierend »Tschie!«, als Calhoun an der kleinen, unempfindlichen Stelle an seiner Flanke das tat, was notwendig war. Aber dann schüttelte sich der Tormal und blickte Calhoun an, wobei er dessen gespannte und besorgte Miene imitierte. Dann blieb er Calhoun auf den Fersen, stapfte menschengleich auf den Hinterpfoten und gab vor, Apparate aufzustellen, wie Calhoun es tat. Murgatroyd ermüdete etwas rascher als gewöhnlich und schlief ein. Der Arzt beugte sich über ihn und kontrollierte Atmung und Herzschlag. Murgatroyd schlief fest. Calhoun kaute in besorgter Erwartung an seinen Fingernägeln. Der Tormal war ein niedliches Tierchen, und Calhoun mochte ihn sehr. Aber Tormals waren Mannschaftsmitglieder auf Einmannraumbooten des Gesundheitsdienstes, weil ihr Metabolismus dem menschlichen sehr glich. Tormals waren jedoch noch nie an einer ansteckenden Krankheit gestorben. Sie konnten sie wohl bekommen, aber nur ein einziges Mal und nur ganz leicht. Es schien, daß diese pelzigen kleinen Wesen eine unglaubliche Empfindlichkeit gegen bakterielle Giftstoffe besaßen. Die Gegenwart infektiöser Stoffe im Blutstrom war Anlaß zu sofortiger, heftiger Reaktion und Produktion von Gegenstoffen in großer Menge. Theoretiker behaupteten, Tormals hätten an Stelle des menschlichpassiven ein dynamisches Immunitätssystem. Der Körper schien energisch nach mikroskopischen Feinden zu suchen, die er töten konnte, statt darauf zu warten, daß sich etwas ent64
wickelte, das es zu bekämpfen galt. Wenn der Tormal jetzt normal reagierte, würde sein Blutstrom in wenigen Stunden mit Gegenstoffen gesättigt sein, die den Erregerkulturen den Tod brachten. Doch mußte Calhoun eine unerfreuliche Tatsache ins Auge fassen. Murgatroyd wog nur zehn Kilogramm. Aber der größte Teil einer planetarischen Bevölkerung brauchte die Abwehrstoffe, die nur der Tormal produzieren konnte. Murgatroyd schlief bis mittag. Er atmete etwas schneller als gewöhnlich. Sein Herzschlag war unregelmäßig. Calhoun fluchte leise, als der Mittag kam. Er überblickte die Geräte, die für die biologische Mikroanalyse bereitlagen – winzige Teströhrchen, Reagenzgläser für Bruchteile von Millilitern, kleinste Werkzeuge und Skalen. Wenn er die Struktur und Formel des Abwehrstoffes feststellen konnte, der sich in Murgatroyds Körper bildete, dann wäre auch die Synthese in großer Quantität möglich. Nur war das Raumboot für eine größere Produktion nicht ausgerüstet. Es gab nur eine Möglichkeit. Calhoun schaltete das Spacephon ein. Augenblicklich dröhnte eine Stimme aus dem Lautsprecher: »… ruft Raumboot Aesclipus zwanzig! Phaedra-Flotte ruft Raumboot Aesclipus zwanzig!« »Hier Raumboot«, meldete sich Calhoun. »Was gibt es?« Die Stimme fuhr fort: »Rufen Raumboot Aesclipus! Rufen Raumboot Aesclipus zwanzig! Rufen …« Ohne Unterlaß. Die Flotte war weit weg, und Calhouns Antwort brauchte eine geraume Zeit, bis sie gehört wurde. Aber dann brach der Ruf ab. »Raumboot! Unsere Ärzte wollen 65
wissen, was es für Schwierigkeiten auf Canis gibt. Können wir helfen? Wir haben Krankenschiffe bereit!« »Die Frage ist«, erwiderte Calhoun, »ob ich eine Formel- und Strukturidentifizierung machen kann und ob Sie den Stoff künstlich herstellen können. Wie ist Ihr Labor ausgestattet? Haben Sie genügend biologische Rohstoffe?« Er wartete. Dem Zeitabstand nach zu urteilen, war das Schiff, mit dem er in Verbindung stand, mindestens acht Millionen Kilometer entfernt, aber längst nicht so weit wie der nächste äußere Planet, auf dem die phaedrische Flotte vor Anker lag. Während Calhoun auf die Antwort wartete, vernahm er ein Murmeln. Es mußte vom Kontrollgebäude kommen, wo die Jungen zuhörten. Calhoun hatte gedroht, das Gerüst zu zerstören, wenn sie damit etwas gegen das Raumschiff unternahmen. Aber er konnte nichts tun, solange sie kein Kraftfeld aufbauten. Sie hörten nur zu und murmelten. Lange Zeit später ertönte die Stimme aus dem Raum wieder. Die Flotte der älteren Generation von Phaedra war bis auf einige Beobachtungsschiffe noch immer stationär. Sie besaß eine vollständige biologische Ausrüstung für jede Notlage. Sie konnte selbst Verbindungen hoher Komplexität künstlich herstellen. »Vor drei Tagen«, sagte Calhoun, »als ich bei euch landete, berichtete mir euer Anführer, daß eure Kinder auf diesem Planeten eure Enkelkinder zerstörten. Er erwähnte nicht, wie. Aber der Prozeß ist im Rollen. Nur wird die gesamte Bevölkerung dieses Planeten aller Wahrscheinlichkeit nach mit zugrunde gehen. Ich brauche eure Krankenschiffe und eure besten Biochemiker!. Es eilt! Ich versuche zu erreichen, daß wenigstens die 66
Krankenschiffe landen dürfen. Ende!« Er horchte. Und eine bittere, giftige Stimme aus der Nähe keifte: »Großartig! Wir lassen die Krankenschiffe landen, vollgestopft mit Waffen und Männern! Wir werden sie auch noch selbst herunterholen! Das fehlte noch!« Ein Klicken. Das Spacephon im Kontrollgebäude war abgeschaltet. Calhoun wandte sich nach dem schlafenden Murgatroyd um. Er bemerkte eine Bewegung am Kontrollgebäude. Zwei Bodenfahrzeuge rasten davon. Calhoun schaltete den planetarischen Sender ein, der alle Wellenlängen einer möglichen Radioverbindung unter der HeavysideSchicht eines Planeten abtastete. Er mußte mit Walker oder anderen Pionieren der ersten Garde Kontakt aufnehmen. Sie waren immer noch voll Bitterkeit gegen die Heimatwelt; doch sie begriffen wohl inzwischen, daß Calhoun die Wahrheit über die Kinder gesagt hatte. Sie würden seine Diagnose bestätigen müssen, wenn sie die Kranken untersuchten. Aber der Peilsender sprach nicht an. Es gab kein organisiertes Nachrichtensystem auf Canis III. Calhoun konnte also nur über Spacephon, das eine Reichweite von Millionen von Kilometern besaß, Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen, und über die Außenlautsprecher des Schiffes – mit einer Reichweite von Hunderten von Metern. Wenn er das Boot verließ, bestand die Wahrscheinlichkeit, daß er es nicht mehr lebend erreichte. Nun ja – es gab für ihn eine Menge Arbeit im Schiff. Die beiden Fahrzeuge kehrten zurück, ehe Murgatroyd aus seinem unruhigen Schlaf erwachte. In Abständen 67
trafen etwa ein Dutzend anderer Wagen vor dem Kontrollgebäude ein und rollten, hohe Staubwolken aufwirbelnd, über den weiten Platz. Mit kreischenden Bremsen kamen die Fahrzeuge zum Stillstand. Junge Burschen sprangen heraus. Einige hoben die Hände, blickten zum Raumboot hinüber und schüttelten drohend die Fäuste. Dann drängten sie alle in das Gebäude hinein. Murgatroyd sagte versuchsweise »tschie?« Er war wach. Calhoun hätte ihn umarmen können. »Nun werden wir weitersehen!« sagte Calhoun grimmig. »Ich hoffe, du hast deine Sache gut gemacht, Murgatroyd!« Murgatroyd kam folgsam zu ihm, und Calhoun hob ihn auf den Tisch, den er bereitgestellt hatte. Der Eingriff tat nicht weh. Eine Stelle über dem Gesäß war gleich nach Murgatroyds Geburt für immer unempfindlich gemacht worden. Calhoun entnahm eine Probe des, so hoffte er, höchst konzentrierten Abwehrstoffes gegen Bakterien. Insgesamt zapfte er dreißig Kubik ab, drängte die roten Zellen zusammen und schied das Serum ab. Einen winzigen Teil verdünnte er und setzte ihn den Nährkulturen zu. Die Bakterien starben augenblicklich. Calhoun besaß nun den Abwehrstoff, der die Katastrophe auf der Welt der Jungen beenden konnte – falls er ihn schnell und exakt zu analysieren vermochte, falls die phaedrischen Krankenschiffe landen durften, falls sie diese höchst komplexen Abwehrstoffverbindungen künstlich herzustellen vermochten und falls die Bewohner von Canis III ihren Haß bezähmten. Er hörte ein Pochen an der Hülle des Raumbootes und blickte auf den Schirm. Zwei der Jugendlichen standen in der Tür des Kontrollgebäudes und schossen mit Jagdge68
wehren auf das Schiff. Calhoun begab sich wieder an die Arbeit. Jagdgewehre konnten nicht viel Schaden anrichten. Etwa eine Stunde lang, während gelegentlich ein Geschoß gegen die Hülle des Raumschiffes schlug, arbeitete Calhoun daran, das Serum von den Antikörpern zu trennen. Eine weitere Stunde lang versuchte er, den Abwehrstoff in seine Bestandteile zu zerlegen. Unglaublicherweise wollte ihm das nicht gelingen. Ein Krachen schreckte ihn hoch. Das ganze Schiff erbebte. Der Schirm zeigte eine Rauchwolke, die sich langsam verzog. Die Mitglieder der Gerüstwache hatten Explosivstoffe an einer der Landestützen gezündet. Calhoun fluchte. Sein Ruf an die phaedrische Flotte war offenbar der Grund für dieses Attentat. Die Gerüstwache würde keine Landung fremder Raumschiffe erlauben. Calhoun hatte gedroht, ihre Kontrollgeräte in die Luft zu jagen, wenn sie mit dem Gerüst das Boot angreifen sollten. Aber sie wollten das Gerüst für sich allein haben, wenn die Flotte kam. Sie konnten es nicht gegen ihn benützen, und er konnte es nicht beschädigen, solange sie kein Kraftfeld aufbauten. Sie wollten ihn jetzt aus dem Raumhafen verdrängen – auf andere Art. Calhoun ging zurück an die Arbeit. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf die Schirme. Ein wenig später bewegte sich eine Gruppe Schwerbeladener auf das Schiff zu. Es mußte sich um eine größere Ladung Explosivstoffe handeln, dachte Calhoun. Calhoun wartete, bis sie nur noch wenige Meter vom Schiff entfernt waren. Dann betätigte er die Notdüse. Ein bleistiftdünner Flammenstrahl schoß zwischen den Landestützen nach unten. Er war blauweiß – vom Weiß der Oberfläche einer Sonne. Einen Augenblick schoß er 69
hungrig über den Boden, dann schmolz er ein Loch in den Grund, in dem er verschwand. Aber während dieses Augenblicks war die Verpackung der Last, welche die Jugendlichen trugen, aufgeflammt. Die Jungen ließen ihre Last fallen und flohen. Der Bleistiftstrahl bohrte sich tiefer und tiefer in den Boden. Wolken von Rauch und Dampf stiegen auf. Ein gleißendes Aufblitzen, und die fortgeworfene Last der Fliehenden war verschwunden. Das Schiff erbebte von der Detonation. Wo die Explosivstoffe gelegen hatten, gähnte jetzt ein Krater. Calhoun schaltete die Notrakete ab, die zehn Sekunden lang mit einem Viertel ihrer Leistung gearbeitet hatte. Die Sonne ging unter. Wieder begann eine arbeitsreiche Nacht für Calhoun. Beiläufig bemerkte er, daß ein paar Fahrzeuge vom Kontrollgebäude fortrasten. Aber sie kamen nicht in die Nähe des Bootes. Er arbeitete die ganze Nacht hindurch. Weit weg – zehn oder zwanzig Millionen Kilometer entfernt – starteten die Krankenschiffe der phaedrischen Flotte vom benachbarten Planeten. Sie würden die Resultate seiner Arbeit benötigen, wenn sie die schreckliche Gefahr aufhalten wollten, die alle Opfer für den Aufbau dieser Welt zunichte machen würde. Seine Arbeit mußte peinlich genau sein! Sie war ermüdend, aufreibend und zeitraubend. Er hatte jahrelange Erfahrung und Kenntnisse; aber seine Augen flimmerten, und er war erschöpft, als schließlich der Morgen graute. Seine Augen schmerzten, als hätte er Sandkörner unter den Lidern. Er fühlte sich ausgelaugt. Doch als sich das erste Rot im Osten hinter den Türmen der Stadt zeigte, hatte er die Formel des komplexen Moleküls, das sich in Murgatroyds Körper gebildet hatte. 70
Als ihm vage zu Bewußtsein kam, daß seine Arbeit beendet war, tauchten zwei helle Scheinwerfer am Rande des Raumhafens auf und tanzten auf das Landegerüst zu. In der rötlichen Dämmerung wirkten sie ungewöhnlich hell. Dann kamen sie zur Ruhe. Ein Mann sprang aus dem Wagen und lief auf das Schiff zu. Calhoun schaltete den Außenlautsprecher ein. »Was gibt es?« Der Mann war der junge Walker. »Sie haben recht!« schrie Walker mit sich überschlagender Stimme. »Krankheit! Überall! Eine Epidemie! Und sie ist erst im Anfangsstadium. Die Leute wurden müde und mürrisch und zogen sich zurück. Niemand ahnte etwas. Aber sie haben Fieber! Ausschlag! Sogar Delirium. Und die Kleinen sind am schlimmsten dran, obwohl sie sich ganz ruhig verhalten! Die Krankheit ist überall. Wir haben noch nie eine echte Krankheit durchgemacht. Was können wir tun?« Calhoun antwortete müde: »Ich habe die Formel für einen Abwehrstoff, den Murgatroyd erzeugt hat, wie es seine Aufgabe ist. Die Krankenschiffe von Phaedra sind auf dem Weg hierher. Sie werden den Abwehrstoff künstlich herstellen, und dann können Ihre Ärzte darangehen, Injektionen zu geben.« Der junge Walker rief heftig: »Aber das würde bedeuten, daß die Schiffe hier landen! Sie würden die Kontrolle an sich reißen! Ich darf sie nicht landen lassen. Ich habe keine Vollmacht, das zu erlauben. Viele von uns würden lieber sterben, als unsere Eltern hier auf diesem Planeten landen zu sehen! Sie haben uns belogen! Schlimm genug, daß sie draußen im Raum lauern. Wenn sie landen, wird es überall zum Kampf kommen. Wir können nicht gestatten, daß sie uns helfen. Wir werden es 71
nicht zulassen! Wir werden kämpfen und lieber sterben!« Calhoun blinzelte eulenhaft. »Das«, sagte er erschöpft, »ist eure eigene Angelegenheit. Wenn ihr sterben wollt, kann ich euch nicht davon abhalten. Sterbt auf die eine oder auf die andere Weise – die Entscheidung bleibt euch überlassen. Ich gehe jetzt schlafen!« Er schaltete Mikrophon und Lautsprecher ab. Er konnte nicht mehr länger die Augen offenhalten. »Wer seine Arbeit abbrechen muß, weil die Umstände ihn dazu zwingen, hält es gewöhnlich für notwendig, das Verdienst für seine Arbeit einem anderen zuzuerkennen, der an Ort und Stelle bleibt und sich moralisch verpflichtet fühlt, seine Welt zu schützen und zu verteidigen, solange er lebt…« Handbuch des Interstellaren Gesundheitsdienstes, S. 167–8. Murgatroyd stupste Calhoun und quietschte ängstlich in sein Ohr. »Tschie-tschie-tschie!« Und nochmals aufgeregt: »Tschie-tschie-tschie!« Calhoun öffnete verstört die Augen. Ein schmetterndes Krachen, und das Boot schwankte auf den Landestelzen. Es kippte fast über und schwang dann langsam wieder in aufrechte Stellung zurück. Ein Knirschen wurde hörbar, als das Gestein teilweise unter einem der Landebeine nachgab. Dann war Calhoun schlagartig wach. In einer einzigen Bewegung sprang er hoch und schnellte in den Kontrollsessel. Eine neue, noch heftigere Detonation folgte. Calhoun ließ seine Hände über die Knöpfe gleiten, und die Augen des Schiffes erwachten zum Leben. Die Schirme wurden hell, das Spacephon knackte, die Außenlautsprecher und Mikrophone summten. Auch das planetarische 72
Sendegerät erwachte zum Leben, das sofort angesprochen hätte, wäre das elektromagnetische Spektrum in der Atmosphäre dieses Planeten benützt worden. Die Kabine wurde zum Tollhaus. Aus dem Spacephonlautsprecher brüllte eine kräftige Stimme: »Dies ist unser letztes Wort! Erlaubt die Landung, oder …« Eine donnernde Explosion drang über die Außenmikrophone ins Innere. Das Boot hüpfte. Wirbelnder weißer Rauch zog am Schiff vorbei. Es war später Vormittag, und die riesige Struktur des Landegerüstes türmte sich vor einem tiefblauen Himmel auf. Das Knacken eines einige tausend Kilometer entfernten elektrischen Sturmes wurde hörbar. Rufe drangen ins Innere. Zwei Gruppen von Gestalten arbeiteten in einer Entfernung von zwanzig bis dreißig Metern an einigen Gegenständen am Boden. Rauch quoll hoch – dann ein schweres »Bum!« Etwas kam funkensprühend durch die Luft gewirbelt. Nahe am Raumboot schlug es auf. Calhoun zündete sofort die Notrakete, als die Granate einschlug. Das Getöse der Rakete erfüllte jetzt die Kabine des Schiffes. Der Spacephonlautsprecher brüllte wieder auf: »Ein Geschoß mit einer Megatonnenbombe befindet sich bereits auf dem Kurs zu euch! Das ist endgültig unser letztes Wort: Gestattet die Landung, oder wir erzwingen sie mit Waffengewalt!« Das Objekt aus dem kanonenähnlichen Gerät explodierte heftig. Die Notrakete half, das Boot weniger unsanft in die Höhe zu jagen, als die Gegner das beabsichtigt hatten. Es fiel wieder zurück, und nur zwei der Landestelzen faßten festen Grund. Weil die dritte Stütze keinen Halt fand, begann das Raumboot sich zu neigen. Einmal umgekippt, wäre das Raumboot hilflos seinen 73
Gegnern ausgeliefert. Calhoun preßte den Knüppel voll nach unten. Das Schiff gewann das Gleichgewicht zurück und hob sich. Es schaukelte über der Grundfläche des Landegerüsts. Sein Strahl schnitt nach unten in das Gestein und wirbelte Qualm hoch. Die Gestalten rund um die Granatwerfer stoben auseinander und flohen. Das Raumboot begann zu steigen. Calhoun fluchte. Das Gerüst war die Verteidigung des Planeten gegen Landungen aus dem Raum, weil es Geschosse jeder Form mit größter Genauigkeit auf jedes Ziel im Bereich von ein paar hunderttausend Kilometer schleudern konnte. Man wollte die phaedrische Flotte abwehren und mußte deshalb das Raumboot loswerden. Das war ihnen nun gelungen. Jetzt konnten sie Bomben oder Felsen schleudern – alles, was die Kraftfelder schafften. Das Spacephon brüllte erneut: »Ihr, am Boden! Unser Geschoß fliegt mit genauem Kurs auf euer Gerüst zu! Es trägt eine Megatonnenbombe! Evakuiert das Gebiet!« Calhoun fluchte wieder. Die Gruppe am Gerüst würde sich über solche Warnungen hohnlachend hinwegsetzen. Die weiseren Köpfe auf Canis III konnten ihre Befehle nicht durchsetzen. Eine menschliche Gemeinschaft muß vollständig sein, sonst kann sie nicht funktionieren. Die Zivilisation, die auf Phaedra II existiert hatte, war durch die zu erwartende Explosion der Sonne zersprengt worden. Die Bruchstücke – auf Phaedra, in der Flotte, in jeder kleinen Gruppe auf Canis III – waren nicht in der Lage, mit irgendeinem anderen Teil der Gesellschaft zusammenzuarbeiten. Die junge Welt war unfähig, sich selbst zu organisieren, nicht einmal auf kleinster, beschränkter Basis. Nun saß eine Miniaturgruppe am Ge74
rüst und würde kämpfen, ohne sich um die Wünsche der anderen zu kümmern, weil sich diese Gruppe zufällig aus instinktgetriebenen Mitgliedern der jungen Kriegerschar zusammensetzte. Aber Calhoun war noch immer innerhalb der Stahlstruktur des Landegerüstes. Er schnallte sich im Sessel fest. Das Schiff stieg und stieg. Dann lag es in einer Ebene mit dem Gerüst. Calhoun erhöhte die Schubkraft und schoß himmelwärts. Ein betäubendes Brüllen kam aus den Lautsprechern: »Jaaa! Hinaus mit dir zu den Alten! Wir kriegen dich schon!« Offensichtlich stammte die Stimme von unten. Das Schiff stieg höher. Calhoun krächzte in das Spacephonmikrophon: »Raumboot ruft Flotte! Holen Sie das Geschoß zurück! Ich habe die Formel und Struktur des Abwehrstoffes! Jetzt ist keine Zeit zum Kämpfen! Holen Sie Ihr Geschoß zurück!« Spöttisches Lachen – wieder vom Boden. Dann die schwere, brummende Stimme eines älteren Mannes. »Bleiben Sie uns aus der Bahn, Aesclipus zwanzig! Diese jungen Narren vernichten sich selbst, nicht nur unsere Enkelkinder. Wären wir nur nicht so weichherzig gewesen! Hätten wir sie von Anbeginn bekämpft, dann mußten die Kleinen fetzt nicht sterben! Halten Sie sich ‘raus. Sie werden uns nachher helfen können, wenn wir den Krieg gewonnen haben!« Der Himmel wurde violett und dann schwarz. Die Sonne von Canis flammte und gleißte in der Schwärze, in der tausend Millionen farbiger Sterne blinkten. Das Raumschiff stieg ohne Unterlaß. Calhoun fühlte sich schrecklich hilflos. 75
Unter ihm erstreckte sich die sonnenüberflutete Oberfläche einer Welt. Die Stadt wirkte nun winzig klein. Am hinteren Sichtschirm sah er etwas mit enormer Geschwindigkeit näherkommen. Es war Gestein und Erdreich aus dem Zentrum des Landegerüstes. Es wurde mit einer gewaltigen Kraft nach oben geschleudert, mit der gleichen Kraft, die Landung und Start bewerkstelligte. Und solange sich das Gestein im Zentrum der Richtstrahlen befand, konnte es die Kraftfelder Hunderttausende von Kilometern weit kontrollieren. Calhoun wich leicht seitwärts ab. Seine Geschwindigkeit betrug im Augenblick mehrere Kilometer pro Sekunde; aber die formlose Masse folgte ihm mit der zehnfachen Geschwindigkeit. Es war ganz gleich, woraus ein derart beschleunigtes Geschoß bestand. Es würde nicht wie ein Körper aufprallen, sondern wie ein Meteorschauer und würde das Schiff im Augenblick des Zusammenpralls zermalmen. Aber das Gerüst mußte vorher sein Schiff freigeben. Eine riesige gespeicherte Kraft schlummerte in den Duhannezellen. Auf das Kraftfeld losgelassen, konnte sie die Quelle dieses Kraftfeldes vernichten. Das Gerüst konnte noch bis zum letzten Bruchteil einer Sekunde seine Geschoßmasse kontrollieren, doch dann mußte es nachgeben – und die Operateure wußten es. Calhoun riß das Schiff wie wahnsinnig herum. Die dahinrasende Masse schoß in einigen hundert Metern Abstand an ihm vorbei. Sie war frei, Sie würde immer weiter in den leeren Raum hinausstreben, monatelang, jahrelang, vielleicht für immer. Calhoun schwang in seinen alten Kurs zurück. Er sendete wütende Kommandos in den Raum hinaus: »Holt 76
das Geschoß zurück! Dir dürft keine Bombe auf Canis landen! Es leben Menschen dort! Ihr dürft keine Bombe auf Canis landen!« Keine Antwort. Wild versuchte er es von neuem: »Aesclipus zwanzig ruft Phaedra-Flotte! Es gibt Seuchen auf Canis! Eure Kinder und Enkelkinder liegen im Sterben! Ihr dürft euch den Weg zu ihnen nicht durch Kampf ebnen! Zutritt zu den Krankenbetten läßt sich nicht durch Bomben erzwingen! Ihr müßt nachgeben! Kompromisse schließen! Ihr müßt zu einer Einigung kommen, oder ihr und sie …« Eine Stimme vom Boden zischte gehässig: »Schon gut, Doktorchen! Sollen sie es doch versuchen! Und uns schikanieren! Wir haben viel zu lange auf sie gehört. Sie sollen es nur versuchen, dann werden sie schon sehen, was passiert! Wir haben ihre Flotte geortet und werden uns ihrer annehmen!« Danach die tiefe, brummende Stimme von der phaedrischen Flotte: »Halten Sie sich da heraus, Aesclipus zwanzig. Wenn unsere Kleinen krank sind, werden wir zu ihnen kommen. Wir versammeln uns dicht vor der Grenze des Bereichs, in dem kein Antrieb funktioniert. Wenn das Gerüst zerstört ist, wird unser Landeschiff niedergehen, und wir werden dort landen. Unser Geschoß ist nur noch eine halbe Stunde vom Ziel entfernt! Wir beginnen in weniger als drei Stunden mit der Landung. Aus dem Weg!« Calhoun murmelte bittere und außerordentlich unhöfliche Worte. Er sah sich zwei Parteien gegenüber, die beide unrecht hatten. Dem rasenden Ärger der Erwachsenen auf Phaedra, die von der Welt ausgeschlossen waren, zu der sie ihre Kinder geschickt hatten, während sie selbst dort blieben, wo der Untergang drohte, stand die erbitterte Auflehnung der Jüngeren gegenüber, die über 77
alles Erträgliche hinaus belastet worden waren. Es konnte keinen Kompromiß geben. Es war nicht möglich – für keine Seite –, auch nur eine halbe Niederlage hinzunehmen. Der Streit mußte ausgefochten werden, und der Haß würde bleiben, gleichgültig, welche Seite gewann. Einem solchen Haß vermochte keine Vernunft beizukommen. Er könnte nur durch einen noch größeren Haß ersetzt werden! Calhoun biß die Zähne zusammen. Das Raumboot schoß weiter in den Raum hinaus, und irgendwo da draußen lauerte die Flotte Phaedras. Murgatroyd mochte das anhaltende Röhren der Notraketen nicht. Er kletterte auf Calhouns Schoß und protestierte. »Tschiie!« sagte er drängend. »Tschie!« Calhoun seufzte. »Murgatroyd«, erklärte er, »eine Regel des Gesundheitsdienstes besagt, daß ein Beamter in seinen Diensten notfalls immer ersetzbar ist. Und ich fürchte, dieser Notfall ist jetzt eingetreten. Halte dich fest, wir müssen es versuchen!« Calhoun drehte das Schiff um hundertachtzig Grad herum und gab vollen Schub. Das Schiff würde schneller verzögern, als es Geschwindigkeit gewonnen hatte. Er stellte den Nahobjektanzeiger auf höchste Empfindlichkeit ein. »Da die Väter beleidigt worden sind«, bemerkte Calhoun, »haben sie ein Geschoß gebaut, das sich seinen Weg durch alles bahnt, was man ihm entgegenschleudert. Zu diesem Zweck dürfte es ferngesteuert sein. Es ist sehr zweifelhaft, daß sich ein Raumschiff auf dem Planeten befindet, das es abwehren könnte, zumindest hat bisher nichts darauf hingewiesen! Das einzige, was dieses Geschoß bekämpfen könnte, ist eine gegenbeschleunigte 78
Masse aus dem Landegerüst. Wie ich nun die Väter kenne, wird das Geschoß keine sehr hohe Geschwindigkeit haben, damit sie es eventuell noch in letzter Sekunde zurückholen können. Sicher hoffen sie, daß das der Fall sein wird.« »Tschie!« drängte Murgatroyd, immer aufgeregter darauf hinweisend, daß ihm der Raketenlärm gar nicht benagte. »Also werden wir uns bei den Vätern so unbeliebt machen, wie es nur möglich ist«, fuhr Calhoun fort. »Und wenn wir das überstehen, müssen wir uns den Haß der Söhne zuziehen. Dann werden sie vielleicht bereit sein, sich gegenseitig ein wenig besser zu verstehen, weil ihr gemeinsamer Haß uns gelten wird. Auf diese Weise kann die bedenkliche Situation auf Canis III vielleicht noch gerettet… Ah!« Der Nahobjektanzeiger ortete etwas, das dem Boot näherkam. Ein kleines Objekt strebte auf den Planeten zu. Zehn Minuten später krächzte das Spacephon: »Aesclipus zwanzig! Was glauben Sie damit zu erreichen!« »Mich in Schwierigkeiten zu bringen«, sagte Calhoun kurz. Stille. Die Schirme zeigten einen winzigen nadelkopfgroßen Lichtpunkt, der durch die Leere glitt. Calhoun überprüfte den Kurs, dann änderte er ihn. »Aesclipus zwanzig!« krächzte das Spacephon wieder. »Bleiben Sie aus der Bahn des Geschosses! Es ist eine Megatonnenbombe! Hören Sie – Aesclipus zwanzig!« Calhoun murmelte scheinbar unbeteiligt: »Die im Streit dazwischentreten, werden meistens selbst getreten.« Dann etwas lauter: »Ich weiß schon, was es ist!« »Aus dem Weg!« knarrte die Stimme. »Das Gerüst am 79
Boden hat es bereits geortet und beschießt es mit Gesteinsbrocken! Sie sind schon unterwegs!« »Verflucht schlechte Schützen«, brummte Calhoun. »Sie haben bei mir vorbeigeschossen!« Er zielte mit seinem Schiff auf das Geschoß. Die Kapazität seines Bootes kannte er, wie sie nur ein Mann kennt, der es lange genug geführt hatte. Er wußte genau, was es zu leisten vermochte und wo seine Grenzen lagen. Das Geschoß, die Megatonnenbombe, kam rauchend und pendelnd von den Sternen. Calhoun brachte sein Schiff auf einen Kurs, der zur Kollision führen mußte. Die Rakete – aus mehreren tausend Kilometern Entfernung gelenkt – wandte sich seitwärts, um ihm auszuweichen. Eine geringfügige Verzögerung war jedoch unvermeidlich, weil eine gewisse Zeit verstrich, ehe die Optik das Bild übermittelte, diese Übermittlung die phaedrische Flotte erreichte und die Kontrollimpulse das Geschoß beeinflussen konnten. Darauf vertraute Calhoun. Er mußte darauf vertrauen. Aber er hatte durchaus nicht vor, eine Kollision herbeizuzwingen. Er wollte lediglich ein Ausweichmanöver erreichen – was auch gelang! Die Rakete wich ab. Calhoun brachte sein Raumboot zum Pendeln – ein haarsträubendes Manöver – und tauchte das Geschoß der Länge nach in seinen Raketenstrahl. Dieser Strahl war zwar nur einen Zentimeter dick, besaß jedoch die Temperatur der Oberfläche einer Sonne und war in der Leere des Raums einige hundert Meter lang. Er durchschnitt das Geschoß wie Butter. Das Geschoß flammte hell auf, und Calhoun spürte einen sanften Stoß. Doch das war nur der explodierende Treibstoff des Geschosses. Eine Atomladung ist die einzige bekannte Bombe, die nicht explodiert, wenn man sie halbiert. 80
Die Teile des gesteuerten Geschosses trieben weiter auf den Planeten zu, aber sie waren jetzt harmlos. »Auch gut!« sagte die Stimme im Spacephon eisig; aber Calhoun glaubte Erleichterung darin zu hören. »Sie haben unsere Landung lediglich verzögert und eine Menge Gesunder der Krankheit in den Rachen geworfen.« Calhoun schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, hinunter. »Nun«, murmelte er, »werden wir sehen, ob das stimmt.« Calhouns Schiff hatte die raumwärts gewonnene Geschwindigkeit verloren, bevor es das Geschoß erreichte. Nun fiel es mit zunehmender Schnelligkeit auf den Planeten zu. Calhoun stellte die Rakete ab, um zu beobachten. Dann schwang er die Hülle herum und gab ein paar kurze Schubstöße. »Wird Zeit, daß ich etwas wirtschaftlicher denke«, erklärte er Murgatroyd. »Raketentreibstoff ist schwer zu bekommen so weit draußen im Raum. Wenn ich nicht aufpasse, befinden wir uns plötzlich in einer Umlaufbahn und haben keine Möglichkeit mehr hinunterzugelangen. Und ich kann mir schlecht vorstellen, daß uns die Bewohner dort unten helfen werden!« Sein Angriff auf das Geschoß hatte ihm eine Verzögerung eingebracht, die einer Umlaufgeschwindigkeit sehr nahe kam. Nun schwebte das Raumboot mit scheinbarer Bewegungslosigkeit um die riesige Krümmung des streitbaren Planeten. In einer knappen halben Stunde befand es sich tief in der Schwärze des Nachtschattens von Canis. Eine Dreiviertelstunde später tauchte es wieder an der Grenze des Sonnenaufganges auf, kaum sechshundert Kilometer hoch. 81
»Die Geschwindigkeit reicht nicht ganz für eine richtige Umkreisung«, erklärte Calhoun Murgatroyd kritisch. »Ein Königreich für eine gute Landkarte!« Aufmerksam beobachtete er die vorbeiziehende Oberfläche. Er konnte genügend Höhe gewinnen, wenn es sein mußte; aber er machte sich wegen des Treibstoffes Sorgen. Raketentreibstoff ist nur für den äußersten Notfall gedacht – ein Raumboot wie seines faßt nicht viel davon. Am Horizont tauchte Canopolis auf und weckte augenblicklich in Calhoun rege Geschäftigkeit. Er drehte das Schiff herum und tauchte in die Atmosphäre hinab. Mit Hilfe von gelegentlichen Schubstößen und der normalen Luftreibung bremste er den Fall. Er war kaum noch drei Kilometer hoch, als er über einen Gebirgszug hinwegglitt und die Stadt vor sich liegen sah. Zweimal betätigte er die Bremsrakete. Mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Stundenkilometern, von einem haardünnen Raketenstrahl getragen, der einem Lichtbogen glich, glitt er über die Spitze des Landegerüstes. Die schwertähnliche Flamme badete den Stahl kurz in einen Funkenregen. Nur ganz kurz. Aber die Flamme fraß sich durch Stahlträger und Kupferkabel. Die Rakete röhrte wild. Das Raumboot führte den Schnitt zuende, während es leicht nach unten glitt. Nun brüllte es auf und gewann wieder an Höhe. Dabei tanzte der Strahl über die andere Seite des Gerüstes, nur einige wenige Meter von dem weiten, kupfernen Mund entfernt, der die Kraftfelder in den Raum spie. Auch hier fraß sich der Strahl in Sekundenschnelle durch Kabel und Träger. Das Gerüst war unbrauchbar. Eine Unmenge von Arbeitsstunden würden notwendig sein, es wieder zu reparieren. 82
Calhoun verwendete den letzten Rest seines Raketentreibstoffes, um Höhe zu gewinnen, während er ins Spacephon sprach: »Rufe Flotte! Rufe Flotte! Raumboot Aesclipus zwanzig ruft phaedrische Raumflotte! Ich habe das Landegerüst unbrauchbar gemacht! Sie können jetzt landen und sich der Kranken annehmen. Es gibt keine erwähnenswerten Waffen hier, und wenn Sie Ihre Schießlust bezähmen können, dürfte es keinen Kampf geben. Ich werde irgendwo nördlich der Stadt in den Wäldern landen. Wenn die örtlichen Bewohner keine Explosivstoffe auspacken, um mir auf den Leib zu rücken, habe ich die Daten für den Gegenstoff für Sie bereit. Sobald ich unten bin, gebe ich sie über das Spacephon durch, für alle Fälle!« Das Nächstliegende trat ein. Sein Treibstoff ging aus, ehe er den Grund berührte. Der Strahl wurde unregelmäßig und setzte dann ganz aus, als er noch etwa einen Meter über dem Boden hing. Das Schiff fiel mit lautem Krachen und Knirschen in die Bäume. Ohne Zweifel eine Bruchlandung. Murgatroyd war sehr erregt darüber. Er quietschte in allen Tonlagen, während Calhoun sich losschnallte und umblickte. Eine Woche später war das Raumboot repariert. Das ursprünglich Landegerüst stand noch. Aber es wurde von dem titanischen Gerüsteschiff der phaedrischen Flotte um ein Vielfaches überragt. Nicht viele Schiffe befanden sich auf dem Boden. Während Calhoun auf das Kontrollgebäude zuschritt, das man durch Kabel mit dem Kontrollraum des fliegenden Gerüstes verbunden hatte, schoß eines der Schiffe in den Himmel hinauf. Ein zweites folg83
te Sekunden später. Calhoun betrat das Gebäude. Der ältere Walker von Phaedra nickte kurz, als er eintrat. Der junge Walker blickte ihm finster entgegen. Er hatte mit seinem Vater beraten, und die Atmosphäre war recht angespannt. »Hmm-m«, meinte der ältere Walker barsch. »Wie sieht es aus?« »Ziemlich gut«, antwortete Calhoun. »Ein kleiner Teil des Antiserum schien etwas schwach gewesen zu sein. Aber die allgemeine Situation ist zufriedenstellend. Es werden natürlich noch einige Fälle von dieser oder jener Krankheit auftauchen – Fälle, die sich im Augenblick noch im Stadium der Inkubation befinden. Aber sie werden entsprechend auf die Abwehrstoffe reagieren, wie es bisher der Fall war.« Er wandte sich an den jungen Walker. »Sie haben gute Arbeit geleistet, indem Sie die Dreizehn- bis Fünfzehnjährigen zusammenriefen und den Flottenärzten unterstellten. Sie haben sich sehr bewährt. Sie waren ideal für diese Aufgabe. Ihre Kriegergruppe …« »Ein Großteil«, sagte der junge Walker, »hat sich in die Wälder zurückgezogen. Sie schwören, niemals nachzugeben.« »Und die Mädchen?« Der junge Walker zuckte die Schultern. »Die stecken die Köpfe zusammen und unterhalten sich über Mode. Wenn die älteren Frauen kommen, wird sich in dieser Hinsicht hoffentlich einiges ändern …« »Und die Jungen in den Wäldern«, prophezeite Calhoun, »werden schon wieder nach Hause kommen. Glauben Sie wirklich, daß es Ärger geben wird?« »Nein«, gab der jüngere Walker mürrisch zu. »Ein Teil von den jüngeren Leuten schien erleichtert zu sein, daß sie die Verantwortung los werden.« 84
»Aber«, knurrte der ältere Walker, »der da, mein Sohn, der will Verantwortung tragen. Er besteht darauf. Und er wird sie auch bekommen.« Er brummte etwas in seinen Bart. »Auch die anderen Jungen, die gezeigt haben, was sie können. Schließlich brauchen wir Alten sie ja. Nichts liegt uns ferner als … Vergeltung.« Calhoun hob die Augenbrauen. »Was Sie nicht sagen!« Der ältere Walker schnaufte. »Sie nehmen doch nicht an, daß wir uns nach allem, was geschehen ist, in die Arme fallen, nicht wahr? Nein! Aber wir werden versuchen unsere… Differenzen, soweit es eben möglich ist, beizulegen. Vergessen werden wir sie jedoch nicht.« »Ich fürchte«, meinte Calhoun, »die sind schwerer im Gedächtnis zu behalten, als Sie glauben. Ihr hattet eine Kultur, die auseinanderbrach. Ihre einzelnen Bestandteile waren unvollkommen – und eine Gemeinschaft muß vollkommen sein, um überleben zu können. Die Gesellschaft ist keine menschliche Erfindung. Die Gemeinschaft ist ein Phänomen, das uns der Instinkt vorschreibt. Es ist der gleiche Instinkt, der die Vögel dazu treibt, Nester zu bauen. Wenn wir eine Kultur errichten, die unserem Instinkt entspricht, kommen wir vorwärts. Tut sie das nicht, gibt es Schwierigkeiten.« Dann unterbrach er sich. »Verzeihen Sie, ich habe nicht vor, Sie zu belehren.« »Oh«, murmelte der ältere Walker, »wirklich nicht?« Calhoun grinste. »Ich dachte mir schon, daß ich der unpopulärste Mann auf diesem Planeten sein würde«, meinte er lächelnd. »Ich habe mich in die Angelegenheiten beider Parteien eingemischt, und keine konnte ihre Pläne so verwirklichen, wie sie es gerne wollte. Aber wenigstens fühlt sich jetzt keiner als Sieger. Sie werden 85
sicher froh sein, wenn ich die Quarantäne aufhebe und verschwinde, nicht wahr?« Der ältere Walker brummte verächtlich: »Wir kümmern uns nicht um Ihre Quarantäne! Unsere Flotte holt unsere Frauen von Phaedra und wird sie, so schnell es der Überantrieb gestattet, hierherbringen. Dachten Sie, wir würden uns um Ihre Quarantäne scheren?« Der junge Walker sagte, als Calhoun wieder lächelte: »Ich nehme an, Sie denken, wir sollten uns alle zum Teufel scheren.« Er brach ab und fuhr etwas leiser fort: »Was Sie taten, war sicher zu unserem Besten. Aber es schmerzt uns mehr als Sie. In zwanzig Jahren sind wir vielleicht in der Lage, über uns selbst zu lachen. Dann werden wir Ihnen wahrscheinlich dankbar sein. Jetzt wissen wir zwar, was wir Ihnen schulden; aber es behagt uns nicht.« »Und das«, lächelte Calhoun, »bedeutet, daß wieder alles im Lot ist. Außerdem ist das die traditionelle Einstellung gegenüber den Ärzten – man macht viel Schulden, aber zahlt nur ungern. Ich unterschreibe die Quarantäneaufhebung und verschwinde, sobald Sie mich mit neuem Treibstoff für meine Notraketen versehen.« »Sofort!« versicherten die beiden Walker wie aus einem Mund. Calhoun schnippte mit den Fingern. Murgatroyd stolzierte an seine Seite. Calhoun nahm die kleine schwarze Pfote in seine Hand. »Komm, Murgatroyd«, sagte er fröhlich. »Du bist der einzige, den ich wirklich schlecht behandelt habe, und dir macht das überhaupt nichts aus. Ich glaube, die ganze Geschichte hat nur eines ganz deutlich bewiesen: Der Tormal ist der beste Freund des Menschen.«
86
II Calhoun warf einen verärgerten Blick auf den Kommunikator, während seine Bandstimme die übliche Ankunftsmeldung wiederholte. Zum zwanzigstenmal bereits, und noch immer war keine Antwort gekommen. Calhoun kannte diesen Raumsektor noch nicht. Man hatte ihm diesen Bereich zugeteilt, weil sein Vorgänger geheiratet hatte, was ihn natürlicherweise nicht länger für den Gesundheitsdienst qualifizierte. Also patrouillierte Calhoun jetzt in diesem Sektor und lauschte seiner eigenen Stimme, die normalerweise sofort hätte beantwortet werden müssen. Murgatroyd, der Tormal, beobachtete ihn interessiert. Der Planet Maya schwamm unter dem kleinen Raumboot Aesclipus zwanzig. Seine fast vollrunde Scheibe wurde auf einem der Sichtschirme wiedergegeben. Das Bild war klar und von lebendigen Farben. Eine vereiste Polkappe leuchtete hell. Kontinente und Meere waren zu unterscheiden. Das Wolkenbild zeigte auf einer Seite deutliche Zeichen wirbelsturmartiger Tätigkeit. Die Erdteile sahen aus, wie sie sollten, und die Meere waren von jenem undurchdringlichen, unbeschreiblichen Farbton, den tiefes Wasser nun einmal aufweist. Immer wieder rief die Bandstimme den Planeten, der hundert-fünfzigtausend Kilometer voraus im Raum hing. »Achtung, Bodenstation«, sagte die Stimme. »Raumboot des Gesundheitsdienstes, Aesclipus zwanzig, ruft die Bodenstation und bittet um Landekoordinaten. Masse: Fünfzig Standardtonnen. Wiederhole: Fünfzig Tonnen. Zweck des Besuches: Planetarische Gesundheitsinspektion.« Die Bandstimme hielt inne. Bis auf die Geräuschkulis87
se, die das Innere eines Schiffes wesentlich vom Inneren eines Grabes unterschied, war kein Laut zu hören. Murgatroyd meinte »Tschie!« Calhoun antwortete ironisch: »Zweifellos, Murgatroyd! Zweifellos! Wer immer auch Dienst hat da unten, ist für einen Augenblick fortgegangen oder tot umgefallen oder hat etwas ähnlich Unpassendes unternommen. Wir werden warten müssen, bis er zurückkommt oder bis jemand anderes den Dienst übernimmt.« »Tschie!« stimmte Murgatroyd zu und begann seinen Schnurrbart zu putzen. Er wußte, daß jemand antworten sollte, wenn Calhoun das Spacephon benützte. Danach würde verhandelt und die Kraftfelder des Landegerüstes würden das Raumschiff übernehmen und planetenwärts lenken. Daraufhin würde es auf einem Raumhafen landen, auf dem ein riesiges, silbern glänzendes Landegerüst in den Himmel ragte. Dann kamen die Leute herbei, begrüßten Calhoun herzlich und hießen ihn, Murgatroyd, mit Lächeln und freundlichem Tätscheln willkommen. »Rufe Bodenstation!« wiederholte die Bandstimme noch einmal. »Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig …« Murgatroyd wartete vergnügt. Wenn das Raumschiff landete, bekam er von den Leuten Süßigkeiten und Kuchen, und sie fanden es entzückend, daß er den Kaffee genau wie ein Mensch trank. Am Boden pflegte sich Murgatroyd sehr gewandt in der menschlichen Gesellschaft zu bewegen, während Calhoun arbeitete. Calhouns Arbeit bestand gewöhnlich aus Konferenzen mit der planetarischen Gesundheitsbehörde. Er hörte sich wichtige Informationen an und berichtete von den neuesten Entwicklungen auf dem medizinischen Sektor, soweit sie dem Interstellaren Gesundheitsdienst bekannt waren. 88
»Jemand wird sich zu verantworten haben«, prophezeite Calhoun düster. Der Lautsprecher erwachte plötzlich. »Rufe Raumschiff des Gesundheitsdienstes«, sagte eine Stimme. »Hallo! Raumschiff des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig! Linienschiff Candida ruft Aesclipus zwanzig! Erhielten Sie eine Antwort von unten?« Calhoun blinzelte. Dann antwortete er kurz: »Noch nicht. Ich habe eine volle halbe Stunde gerufen!« »Wir befinden uns seit zwölf Stunden in Umlauf«, sprach die Stimme aus der scheinbaren Leere. »Haben die ganze Zeit gerufen. Keine Antwort! Das gefällt uns gar nicht!« Calhoun legte einen Schalter um, der einen Sichtschirm mit dem Elektronenteleskop verband. Sterne erschienen und huschten wild über das Sichtfeld. Dann blieb ein heller Fleck in der Mitte des Schirms übrig. Calhoun erhöhte die Vergrößerung. Der helle Fleck schwoll an und wurde zu einem bauchigen, kommerziellen Schiff mit Scheinluken, die den Passagieren das Gefühl vermitteln sollten, sie sähen direkt in den Raum hinaus. Zwei relativ große Frachtluken auf jeder Seite deuteten daraufhin, daß es neben den Passagieren auch schwere Güter beförderte. Murgatroyd trippelte quer durch die Kabine und prüfte das Bild weise. Es sagte ihm natürlich nichts, dennoch meinte er »Tschie!«, als ob er eine Beobachtung von immenser Wichtigkeit gemacht hätte. Dann schritt er zu seinem Polster zurück und machte sich wieder darauf breit. »Wir können nichts Ungewöhnliches feststellen«, beklagte sich die Stimme aus dem Passagierschiff. »Aber sie beantworten einfach unsere Rufe nicht! Wir bekom89
men auch keine Streusignale! Wir gingen bis auf zwei Planetendurchmesser hinunter – nichts! Und wir haben einen Passagier an Bord, der unbedingt aussteigen will! Er besteht darauf!« Normalerweise benützt man zur Verständigung zwischen zwei Orten auf der Oberfläche eines Planeten Frequenzen, welche die Ionenschicht der Atmosphäre über den Horizont hinweg reflektieren. Allerdings entweicht ein kleiner Bruchteil davon in den leeren Raum hinaus. Eine lästige Plage für ein landendes Raumschiff sind die örtlichen Sendesignale, die den Raum in unmittelbarer Nähe fast jedes Planeten mit ihrem Getöse erfüllen. »Ich werde mal nachsehen«, versprach Calhoun. »Bleiben Sie auf Empfang!« Die Candida war wie das Raumboot des Gesundheitsdienstes im Landeanflug und hatte wie Calhoun um Landeerlaubnis gebeten. Die Candida war wahrscheinlich ein fahrplanmäßiges Schiff, und der Gerüstoperateur im Raumhafen hätte es eigentlich erwarten müssen. Der Raumhandel war für jeden Planeten ein wichtiger Teil der Wirtschaft, wie früher der Export für eine Industrienation auf der Erde von lebenswichtiger Bedeutung gewesen ist. Die Planeten hatten sehr komplizierte und teure Handelsabkommen mit Frachtspediteuren abgeschlossen, die nun zwischen den Sonnensystemen hin und her eilten, wie sie es einst zwischen den Kontinenten auf der Erde getan hatten. Solche Handelsabkommen wurden peinlichst eingehalten. Daher war es sehr seltsam, daß ein Raumhafen zwölf Stunden lang auf Funkrufe nicht reagierte. »Wir haben uns schon gefragt«, meldete sich die Candida wieder, »ob vielleicht etwas Schwerwiegendes da unten passiert sein könnte. Eine schlimme Krankheit, beispielsweise.« 90
Das Wort Krankheit ließ sofort an ein noch alarmierenderes Wort denken. Denn eine Seuche hatte einst beinahe die gesamte Bevölkerung von Dorset ausgelöscht. Die ersten Schiffe, die nach dem Ausbruch der Epidemie ankamen, landeten unvorsichtigerweise auf dem Planeten und verschleppten die Seuche auf zwei benachbarte Sonnensysteme. Seitdem waren die Quarantänebestimmungen im Raum sehr streng. »Ich werde der Sache auf den Grund gehen«, versprach Calhoun. »Wir haben einen Passagier«, wiederholte die Candida beharrlich, »der darauf besteht, mit einem Raumboot hinuntergebracht zu werden, wenn das Schiff selbst nicht landet. Er sagt, er hätte da unten wichtige Geschäfte zu erledigen.« Calhoun gab keine Antwort. Die Rechte der Passagiere wurden in diesen Tagen peinlich genau gewahrt. Wenn man einen Passagier nicht an seinem Bestimmungsort ablieferte, gab man ihm das Recht, Schadenersatz zu fordern, den sich keine Raumlinie leisten konnte. Daher kam das Boot des Gesundheitsdienstes dem Kapitän der Candida wie vom Himmel gesandt. Calhoun konnte ihn von dieser Verantwortung befreien und den Passagier übernehmen. Der Teleskopschirm schwenkte ein und zeigte die Oberfläche des Planeten. Calhoun betrachtete das Bild, das der Schirm wiedergab, und richtete das Teleskop auf die Raumhafenstadt Maya City. Er sah Verkehrswege und Gebäudekomplexe. Er fand den Raumhafen und sein Landegerüst. Natürlich konnte er keine Bewegung ausmachen. Er erhöhte die Vergrößerung. Er verstärkte sie noch einmal, doch er sah immer noch keine Anzeichen menschlicher Aktivität. 91
Er vergrößerte, bis sich die Gitterstruktur des Verstärkerkristalls abzuzeichnen begann. Aber bei der Entfernung des Schiffes vom Planeten würde ein Bodenfahrzeug nur den vierzigsten Teil einer Bogensekunde groß sein. Außerdem war eine Atmosphäre mit Wärmeströmungen vorhanden. Es war einfach nicht möglich, etwas von der Größe eines Bodenfahrzeugs auf der Planetenoberfläche zu unterscheiden. Aber die Stadt war ziemlich deutlich sichtbar. Keine Zerstörungen bedeutenden Ausmaßes hatten hier stattgefunden. Es kam lediglich keine Antwort auf die Rufe aus dem All. Calhoun schaltete den Schirm ab. Gereizt sprach er ins Mikrophon: »Ich werde eine Notlandung machen müssen. Vielleicht handelt es sich da unten nur um so etwas Triviales wie einen Energieausfall!« Doch er wußte, daß das sehr unwahrscheinlich war. – »Aber es können ja noch andere Ursachen sein. Ich werde mit den Notraketen landen und Ihnen berichten, was ich vorfinde.« Die Stimme von der Candida fragte hoffnungsvoll: »Können Sie uns ermächtigen, unserem Passagier zu seinem eigenen Schutz die Landung zu verweigern? Er beschwört den Teufel herauf! Er behauptet, daß seine Geschäfte eine Landung unbedingt erforderlich machen!« Ein Wort von Calhoun als Beamter des Gesundheitsdienstes würde das Linienschiff vor einem Anspruch auf Schadenersatz schützen. Aber Calhoun behagte die augenblickliche Lage nicht. Verärgert machte er sich klar, daß er dort unten praktisch alles vorfinden konnte. Es war möglich, daß er den Planeten unter Quarantäne stellen mußte, sich selbst mit eingeschlossen. In diesem Fall würde er die Candida brauchen, um die Nachricht von 92
der Quarantäne zu anderen Planeten zu bringen und das Sektorenhauptquartier des Gesundheitsdienstes zu benachrichtigen. »Wir haben eine Menge Zeit verloren«, beharrte die Candida auf ihre Frage. »Können Sie uns ermächtigen …« »Noch nicht«, vertröstete Calhoun sie. »Ich werde Sie benachrichtigen, sobald ich gelandet bin.« »Aber…« »Ich beginne mit den Landemanövern«, unterbrach Calhoun. »Bleiben Sie in Verbindung.« Er richtete das kleine Schiff nach unten, und während es an Geschwindigkeit gewann, studierte er die Unterweisungsblätter über diese Welt. Er war niemals zuvor hier gewesen. Seine Aufgabe war natürlich, dafür zu sorgen, daß sich die medizinischen Erkenntnisse unter Leitung des Gesundheitsdienstes ausbreiteten. Der Gesundheitsdienst selbst besaß weder politischen Charakter noch Kontrollbefugnisse. Er wachte nur über die Gesundheit der Menschen im All. Jede von Menschen bewohnte Welt sollte wenigstens einmal in vier Jahren von einem Schiff des Gesundheitsdienstes besucht werden. Seine Besuche betrafen den allgemeinen Stand der öffentlichen Gesundheit. Nicht weniger als ein Dutzend bewohnter Welten allein in diesem Sektor verdankten das Überleben ihrer Bevölkerung dem Gesundheitsdienst, und die Zahl derer, die ohne seine Hilfe nicht hätten besiedelt werden können, war riesig. Calhoun überflog den Bericht noch einmal. Maya war einer von vier Planeten in diesem Gebiet, deren Lebensformen einen gemeinsamen Ursprung zu haben schienen, was die Arrhenische Theorie der durch den Raum wandernden Sporen innerhalb gewisser Grenzen bestätigte. Eine Gattung Bodenpflanzen mit bewegungsfähigen Stielen und Blättern und kannibalischen 93
Neigungen wurde als hinreichender Beweis eines gemeinsamen Ursprungs angesehen. Der Planet war bereits seit zwei Jahrhunderten kolonisiert. Sein Hauptexportartikel waren Pflanzenfasern und pflanzliche Verbindungen, die in der Bekleidungsindustrie Verwendung fanden. Es gab keine einheimischen Krankheitskeime, für die Menschen anfällig waren. Eine Anzahl nahrhafter Früchte wurde angepflanzt. Getreide und Gräser konnten nicht angebaut werden, weil die einheimischen Pflanzen den Boden ausnahmslos für sich beanspruchten. Alles Getreide mußte importiert werden, und diese Tatsache beschränkte natürlich die Bevölkerungszahl von Maya. Auf dem Planeten lebten ungefähr zwei Millionen Menschen. Sie verteilten sich auf eine Halbinsel im Yukatan Meer und auf ein kleines Gebiet des Festlandes. Gesundheitsinspektionen hatten früher kleinere Mängel nachgewiesen. Nichts jedoch wies auf die Ursache hin, die für das Nichtbeantworten von Ankunftsmeldungen aus dem Raum verantwortlich sein konnte. Das Raumboot glitt immer tiefer. Der Planet drehte sich unter ihm. Als sich Mayas sonnenbestrahlte Hemisphäre vergrößerte, beobachtete Calhoun die Oberfläche durch das Teleskop. Er sah Städte und weite Gebiete gerodeten Landes, wo einheimische Pflanzen als Rohmaterialien für die organchemische Industrie wuchsen. Er sah jedoch sehr wenig echtes Chlorophyllgrün. Die mayanische Flora neigte zu einem dunklen Oliv. In siebzig Kilometer Höhe war er bereits sicher, daß die Straßen leer waren. Kein Raumschiff stand im Landegerüst. Auf den geradlinigen, vielspurigen Autobahnen bewegte sich nichts. 94
In fünfzig Kilometer Höhe waren noch keine Signale in der Atmosphäre wahrnehmbar. Keine normal modulierten Signale jedenfalls. Dreißig Kilometer – nichts! In zwanzig Kilometer Höhe war Sendeenergie vorhanden, was bewies, daß das Landegerüst normal arbeitete und die oberen Schichten der Atmosphäre nach elektrischen Ladungen abtastete, um den Planeten mit Energie zu versorgen. Von fünfzehn Kilometern abwärts bis zum Grund war Calhoun beschäftigt. Es ist nicht allzu schwierig, ein Schiff nur mit Hilfe der Raketen zu landen, wenn der Boden halbwegs eben ist. Aber auf einem bestimmten Punkt aufzusetzen, ist etwas anderes. Calhoun brachte das Raumboot innerhalb des Gerüstes auf Grund. Seine Raketen brannten bleistiftdünne Löcher in Staub und Gestein. Er stellte sie ab. Stille. Die Außenmikrophone des Bootes übertrugen das leichte Geräusch des Windes, der über die Stadt strich. Sonst war kein Laut zu hören. Doch. Ein sonderbares Klicken, das sich alle zwei Sekunden wiederholte. Das war alles. Calhoun begab sich in die Luftschleuse, und Murgatroyd folgte ihm in Erwartung des großen gesellschaftlichen Erfolges, den er bei den Menschen dieser Welt haben würde. Calhoun stieß die äußere Schleusentür auf. Er roch etwas. Ein leicht säuerlicher Geruch, der von Fäulnis kündete. Aber von Fäulnis war nichts zu bemerken. Absolute Ruhe regierte hier. Kein Verkehrslärm, nicht einmal das kaum wahrnehmbare, allgegenwärtige Murmeln, das jeder Stadt seinen charakteristischen Stempel aufprägt. Die Gebäude sahen so aus, wie sie eben bei Tagesanbruch aussehen sollten. Auffällig war nur, daß alle Türen und Fenster offenstanden. Es war gespenstisch. 95
Eine zerstörte Stadt ist ein tragischer Anblick. Eine verlassene Stadt macht einen pathetischen Eindruck. Diese Stadt jedoch war ein Novum. Man hatte den Eindruck, alle ihre Einwohner seien erst vor ein paar Minuten weggegangen. Calhoun schritt auf das Gebäude des Raumhafens zu. Murgatroyd schlenderte an seiner Seite. Er war verwirrt. Es mußten doch Leute da sein! Sie sollten Calhoun willkommen heißen und ihn, Murgatroyd, bewundern. Aber nichts dergleichen geschah. »Tschie?« fragte er besorgt. »Tschie-tschie?« »Sie sind fort!« knurrte Calhoun. »Wahrscheinlich haben sie die Stadt mit ihren Fahrzeugen verlassen. Es ist keines zu sehen!« Calhoun betrachtete die leeren Straßen. Er erreichte das Kontrollgebäude. Um das Fundament des Gerüstes war eine Grünfläche angelegt. Doch hier lebte keine Pflanze mehr. Die Blätter waren welk und verfaulten. Das Beet war eine gallertartige Masse zusammengefallener Stengel und Blüten aus dunkelstem Olivgrün. Die Pflanzen waren tot – aber noch nicht lange genug, um bereits vertrocknet zu sein. Sie mußten ungefähr vor zwei Tagen eingegangen sein. Calhoun trat in das Gebäude. Das Logbuch des Raumhafens lag aufgeschlagen auf einem Pult. Es gab Auskunft über das Eintreffen einer Fracht mit der Candida, die sich nun irgendwo hoch oben in Umlauf befand. Kein Zeichen von Unordnung war zu bemerken. Man konnte meinen, die Leute wären hinausgegangen, um etwas Interessantes zu beobachten, und dann nicht wiedergekommen. Calhoun verließ das Kontrollgebäude und schritt durch die Straßen. Es war unglaublich. Die Türen standen offen 96
oder waren zumindest unverschlossen. Waren füllten die Schaufenster und warteten auf interessierte Kunden. In einem Restaurant waren sogar noch die Tische gedeckt und die Speisen aufgetragen. Das Essen war erstarrt, als wäre es drei Tage alt; aber es hatte noch nicht zu gären begonnen. Das Lokal machte den Eindruck, als wären die Leute beim Mittagessen auf ein Signal hin aufgestanden und hinausgegangen – ohne ein Zeichen von Panik. Calhoun verzog das Gesicht. Er erinnerte sich an etwas. Zu den Erzählungen, die von der Erde stammten und auch auf Welten der Galaxis bekannt waren, gehörte eine seltsame Geschichte, zu der man bis heute noch keinen befriedigenden Schluß gefunden hatte. Es war die Geschichte des Segelschiffes Marie Celeste, das ohne Mannschaft, aber mit voller Takelage über das Meer segelte. In der Messe stand das Essen, und der Kombüsenofen war noch warm. Nirgends fand man jedoch ein Anzeichen, weshalb man das Schiff verlassen hatte. Keine Menschenseele befand sich an Bord. Niemand hatte jemals eine befriedigende Erklärung dafür liefern können. »Das hier«, wandte sich Calhoun an Murgatroyd, »erinnert mich an dieses Segelschiff. Die Menschen dieser Stadt marschierten vor drei Tagen los und kamen nicht wieder. Wahrscheinlich sind alle Menschen auf diesem Planeten ihrem Beispiel gefolgt, da absolut keine Sprech- oder Sichtverbindung herzustellen ist. Wenn du mich fragst, was ich davon halte, Murgatroyd – es gefällt mir nicht! Nein, es gefällt mir überhaupt nicht!« Beim Rückweg zum Raumboot hielt Calhoun an einer Stelle an, wo normalerweise Rasen hätte wachsen sollen. Er sah ein paar irdische Baumarten und ein paar einheimische, und dazwischen waren die grünen Bodenpflan97
zen umgeknickt und faulten. Calhoun nahm einen verwesenden, halbschleimigen Stengel hoch und roch daran. Es war derselbe leicht säuerliche Geruch, den er wahrgenommen hatte, als er die Schleusentür öffnete. Er warf den Stengel weg und wischte sich die Hände ab. Etwas hatte diese Bodenpflanzen, die irdisches Gras vernichtete, sobald man es hier anpflanzte, getötet. Er lauschte. Überall, wo Menschen leben, gibt es Insekten und Vögel und andere kleine Wesen, die einen wesentlichen Teil des ökologischen Systems bilden, dem die menschliche Rasse angepaßt ist. Sie müssen auf jede neue Welt verpflanzt werden, die man für den Menschen erobern will. Aber kein Laut kündete von dieser lebendigen Kulisse menschlicher Umwelt. Wahrscheinlich war das Brüllen der Notraketen das erste Geräusch gewesen, das die Stadt gehört hatte, seit ihre Bewohner sie verlassen hatten. Die Stille beängstigte Murgatroyd. Er sagte kleinlaut: »tschie!« und hielt sich nahe an Calhoun. Der Arzt schüttelte den Kopf. Dann drängte er plötzlich: »Komm, Murgatroyd!« Er eilte zum Gerüst zurück. Diesmal warf er keinen Blick in das Logbuch. Er trat an das Kontrollpult, mit dem die Funktionen des Gerüstes überwacht wurden. Außer dem üblichen Start- und Landemanöver führte das Gerüst auch noch andere Arbeiten aus. Es bezog Energie aus den Ionen der oberen Atmosphärenschichten und leitete sie weiter. Es lieferte alle Energie, die auf einer zivilisierten Welt gebraucht wurde. Während seines Abstieges war Calhoun aufgefallen, daß Energie vorhanden war. Er blickte auf die Instrumente. Die Nadel an der Skala, die den Energieentzug anzeigte, pendelte langsam vor und zurück. Es war eine rhyth98
mische Bewegung von Maximum- zu Minimumenergieverbrauch und umgekehrt. Annähernd sechs Millionen Kilowatt wurden alle zwei Sekunden für die Dauer einer halben Sekunde aus der Leitung gezogen. Dann hörte der Abfluß für anderthalb Sekunden auf und begann von neuem – eine halbe Sekunde lang. Calhoun erstarrte, und seine Augen wanderten zu einer Farbfotografie, die an der Wand über den Skalen hing. Sie stellte das bewohnte Gebiet von Maya dar – aus sechshundert Kilometer Höhe aufgenommen. Maya City war deutlich zu erkennen. Jedes Detail war gestochen scharf wiedergegeben. Unendlich dünne, schnurgerade Linien führten aus der Stadt hinaus. Vielspurige Autobahnen, die mathematisch geradlinig von einer Stadt zur anderen führten und dann ebenso gerade – wenn auch unter einem neuen Winkel – zur nächsten. Calhoun betrachtete sie gedankenverloren. »Die Leute verließen die Stadt in aller Eile«, erklärte er Murgatroyd, »und es gab keine Verwirrung. Also wußten sie im voraus, daß sie die Stadt räumen mußten, und waren darauf vorbereitet. Wenn sie Gepäck mitnahmen, war es bereits seit Tagen im Wagen verstaut. Aber sie waren nicht sicher, ob das, was sie befürchteten, auch tatsächlich eintreten würde; denn sie gingen ihren Geschäften wie gewöhnlich nach. Alle Läden waren geöffnet, und die Leute haben in den Restaurants gegessen.« »Tschie!«, pflichtete Murgatroyd bei. »Tschie-tschie!« »Wohin sind sie verschwunden, Murgatroyd?«, fragte Calhoun. »Das heißt, eigentlich müßte die Frage lauten: Wohin konnten sie sich wenden? Ungefähr achthunderttausend Menschen lebten in dieser Stadt. Die Fahrzeuge reichten offenbar für alle aus. Zweihunderttausend Wagen, jeder mit vier Personen besetzt. Das ist eine Menge. 99
Wenn sie in Abständen von etwa fünf bis sechs Metern fuhren – zwölf Spuren pro Autobahn – konnten sie auf zwei Autobahnen die Stadt innerhalb von drei Stunden räumen. Mit drei Autobahnen in fast zwei Stunden. Da nirgends ein Zeichen von Panik zu erkennen ist, mußte die Evakuierung organisiert gewesen sein. Sie hatten also alles genau geplant. Vielleicht war es nicht das erstemal…« Er betrachtete die Fotografie genauer. Im Norden verließ eine einzige Autobahn die Stadt. Westlich türmten sich Berge. Eine Straße führte in das Gebirge hinein, aber nicht hindurch. Im Süden lag das Meer, das sich ungefähr fünfhundert Kilometer von Maya City entfernt um das Festland schmiegte und die menschliche Siedlung auf Maya in eine Halbinsel verwandelte. Das Festland bedeckte nur einen kleinen Teil des Planeten. Hier wuchs kein Getreide, nur einheimische Pflanzen, die hauptsächlich Rohmaterialien für die Industrie lieferten. Die Bevölkerung war also nicht stark, mußte ihre Nahrungsmittel importieren. »Sie haben sich ostwärts gewandt«, murmelte Calhoun. Er folgte den Linien mit dem Finger. »Drei Bahnen führen nach Osten. Sie sind die einzige Möglichkeit für einen schnellen Abzug. Und als die Warnung kam, machten sie sich auf den Weg. Auf drei Autobahnen nach Osten. Wir werden ihrem Beispiel folgen und diese Leute fragen, wovor – zum Teufel – sie davonliefen.« Calhoun begab sich zu seinem Raumboot zurück. Murgatroyd blieb ihm dicht auf den Fersen. Als die Schleusentür zufiel, hörte Calhoun über die Außenlautsprecher wieder das Klicken. Einmal – einmal doppelt – ein Zweisekundenzyklus. Die Kraftleitung! Etwas, was sechs Millionen Kilowatt entzog, setzte ein und sofort 100
wieder aus – alle zwei Sekunden. In der Luft war es nicht hörbar, aber in den Lautsprechern. Das Klicken in den Mikrophonen war Induktion. Calhoun zuckte die Achseln und trat an das Spacephon: »Hallo! Candida …«, begann er, und die Antwort unterbrach ihn augenblicklich. »Candida an Raumboot. Kommen! Kommen! Was ist da unten passiert?« »Die Stadt ist ohne ein Zeichen von Panik verlassen worden«, berichtete Calhoun, »und ich nehme an, die Einwohner sind in östlicher Richtung abgezogen. Energie ist reichlich vorhanden. Nichts scheint defekt zu sein. Aber es sieht so aus, als hätte jemand befohlen: ›Alle müssen die Stadt und das Land räumen!‹ Und sie gehorchten. Das geschieht nicht aus irgendeiner Laune heraus. Wie heißt Ihr nächster Bestimmungshafen?« Die Candida gab bereitwillig Auskunft. »Berichten Sie der Gesundheitsbehörde, sobald Sie landen! Diese wird dann das Sektorenhauptquartier informieren. Ich werde hierbleiben und herauszufinden versuchen, was geschehen ist!« »Was ist mit unserem Passagier?« »Zum Teufel mit Ihrem Passagier!« knurrte Calhoun unwillig. »Tun Sie, was Sie für richtig halten!« Er unterbrach die Verbindung. Er und Murgatroyd begaben sich auf die Suche nach einem Transportmittel. Das Raumboot konnte für eine Suchaktion nicht verwendet werden, da die Treibstoffreserven für die Notraketen minimal waren. Sie würden ein Bodenfahrzeug benützen müssen, sofern sie eines fanden. Wieder war es erschütternd festzustellen, daß sich außer ihren Schatten nichts bewegte. In einem Blumengeschäft waren ein paar irdische Blumen und seltsam schö101
ne Gewächse mit olivgrünen Blattern ausgestellt. Er bemerkte auch einen Behälter, in dem man eine Pflanze gezüchtet hatte; sie war verwelkt und faulte. Er entdeckte ein Fahrzeuggeschäft, vielleicht für Importwagen, vielleicht auch für solche, die man auf Maya baute. Er trat ein. Drei Wagen waren dort zur Schau gestellt. Er wählte einen aus, einen rassigen Sportwagen. Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor sprang sofort an. Sorgsam lenkte er den Wagen hinaus in die leere Straße. Murgatroyd kauerte voll Interesse neben ihm. »Das nennt man Luxus, Murgatroyd«, sagte Calhoun. »Außerdem ist es Diebstahl. Wir Beamte vom Gesundheitsdienst können uns gewöhnlich solche Dinge nicht leisten, haben es aber auch nicht nötig, sie zu stehlen. Doch hier walten besondere Umstände. Wir lassen es darauf ankommen.« »Tschie!« meinte Murgatroyd zustimmend. »Wir wollen eine verlorene Bevölkerung finden und sie fragen, weshalb sie weggelaufen ist. Im Augenblick sieht es allerdings so aus, als habe sie überhaupt keinen Grund gehabt, davonzurennen. Die Leute werden sich freuen, zu erfahren, daß nichts ihrer Rückkehr im Weg steht.« Murgatroyd war sichtlich seiner Meinung. »Tschiie!« sagte er. Calhoun fuhr durch die leeren Straßen. Es war nervenaufreibend. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick würde jemand hinter der nächsten Ecke hervorspringen und »buh!« rufen. Calhoun entdeckte eine Stadtautobahn und eine Auffahrt. Sie lief von Westen nach Osten. Calhoun fuhr ostwärts. Auch hier schaute er vergebens nach einem Lebenszeichen aus. Er war schon fast aus der Stadt heraus, als er den 102
dumpfen Druck eines mit Überschall fliegenden Körpers spürte. Darauf folgte ein in der Ferne verschwindendes Dröhnen. Er blickte hoch und sah einen Fallschirm im Blau des Himmels pendeln. Dann vernahm er das tiefe Brüllen einer Überschallmaschine, die himmelwärts schoß. Es war das Rettungsboot des Linienschiffes, das nach dem Abwurf des Fallschirms zum Mutterschiff zurückeilte. »Das«, sagte Calhoun mürrisch, »wird der Passagier der Candida sein. Wenn er lange genug darauf gedrungen hat, hier abgesetzt zu werden, mußte man seinen Wunsch erfüllen.« Er blickte finster. Der Sprecher der Candida hatte gesagt, ihr Passagier verlange aus geschäftlichen Gründen hier abgesetzt zu werden. Und Calhoun hatte ein Vorurteil gegen gewisse Geschäftsleute, die ihre Angelegenheiten für viel wichtiger hielten als alle menschlichen Probleme. Vor zwei Standardjahren hatte er Texia II in einem anderen galaktischen Sektor besucht. Dieser Planet war eine Steppenwelt – ein einziges, immenses Geschäftsunternehmen! Grenzenlose Prärien hatte man mit einer irdischen Grassorte besät, das die ansässigen Bodenpflanzen vernichtete – also die umgekehrte Situation wie hier –, und der ganze Planet wurde zu einer gigantischen Viehweide. Überdimensionale Schlachthäuser waren über die Oberfläche verteilt. Bodeninduktionsfelder fungierten als Zäune. Das Vieh trieb man mittels dieser beweglichen Zäune selbst in die Schlachthäuser. Die Profitgier nützte jede Möglichkeit aus. Calhoun hatte das immer schon als erschreckend und abstoßend empfunden. Das hatte nichts mit Empfindlichkeit oder Sentimentalität zu tun, aber die Kaltblütigkeit des gesamten Prozesses machte ihn krank. Die Arbeiter wurden wie Vieh 103
behandelt. Ihre Unterkünfte waren nicht menschenwürdig. Die Luft trug den Schlachtgeruch überall mit sich herum. Die Menschen arbeiteten für die TexiaGesellschaft, oder sie taten es nicht. Arbeiteten sie nicht, so hatten sie auch nichts zu essen. Arbeiteten sie, so aßen sie – das war kein Leben! Sein Bericht an den Gesundheitsdienst war vernichtend gewesen. Seitdem besaß er ein Vorurteil gegen Geschäftsleute. Der Fallschirm kam tiefer und trieb über die Stadt hinweg. Er würde nicht weitab von der Autobahn niedergehen, der er folgte. Er verlangsamte das Fahrzeug. Dann schätzte er ab, wo der Schirm landen würde. Er verließ die zwölfspurige Autobahn und bog in einen Feldweg ein, als der Schirm noch in vielleicht zweihundert Meter Höhe trieb. Er raste über ein olivgrünes Feld, das bis an den Horizont reichte. Fallschirm und Last berührten den Boden. Calhoun fuhr darauf zu. Der Mann hing hilflos in dem Gewirr von Seilen. Er zerrte ungeschickt daran. Als Calhoun herankam, fragte er argwöhnisch: »Haben Sie ein Messer?« Calhoun reichte ihm sein Messer, wobei er höflich die Klinge freilegte. Der Mann durchschnitt die Seile und befreite sich schließlich vom Fallschirm. Er hatte eine Aktentasche an einem der Riemen festgeschnallt. Als er ihn aufschnitt, fiel die Tasche zu Boden und sprang auf. Eine unwahrscheinliche Menge dickgebündelter Kreditscheine quoll heraus. Calhoun bemerkte, daß es Tausender und Zehntausender waren. Der Mann griff unter seine Achsel und zog einen Strahler hervor. Mit einem starren Blick auf Calhoun steckte er die Waffe in die Tasche und sammelte das Geld auf. Dann erhob er sich. »Ich heiße Allison«, sagte er hochmütig. »Arthur Alli104
son. Sehr erfreut. Und nun bringen Sie mich nach Maya City!« »Nein«, antwortete Calhoun höflich. »Ich komme gerade von dort. Die Stadt ist leer. Es hat keinen Sinn, sich dorthin zu begeben. Keine Menschenseele hält sich in ihr auf.« »Aber ich habe dringende Geschäfte …« Der andere erstarrte. »Sie ist leer? Aber das ist doch unmöglich!« »Sollte man meinen«, stimmte Calhoun zu. »Dennoch ist es so. Sie ist verlassen. Unbewohnt. Alle Bewohner der Stadt sind geflüchtet.« Der Mann, der sich Allison nannte, blinzelte ungläubig. Dann fluchte er. Aber er war nicht erstaunt über die Neuigkeit. Was an sich, bei genauer Betrachtung, selbst wiederum äußerst erstaunlich war. Doch dann wurden seine Augen eng. Er blickte um sich. »Mein Name ist Allison«, wiederholte er, als läge irgendein Zauber in dem Wort. »Arthur Allison. Ganz gleich, was passiert ist, ich habe wichtige Geschäfte zu erledigen. Wohin sind die Leute gegangen? Ich muß sie unbedingt…« »Auch ich muß sie finden«, unterbrach ihn Calhoun. »Ich nehme Sie mit, wenn Sie wollen.« »Sie haben schon mal was von mir gehört?« Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Nein«, antwortete Calhoun höflich. »Wenn Sie nicht verletzt sind, steigen Sie bitte ein. Ich bin ebenso besorgt wie Sie, herauszufinden, was passiert ist. Ich bin vom Gesundheitsdienst.« Allison schritt auf den Wagen zu. »Gesundheitsdienst, eh? Ich halte nicht viel davon! Ihr Kerle mischt euch immer in Angelegenheiten, die euch nichts angehen!« Calhoun schwieg. Der Mann stieg ein. Murgatroyd sagte herzlich: »Tschie-tschie!« aber Allison beäugte ihn 105
nur mit Abneigung. »Was ist das?« »Murgatroyd«, stellte Calhoun ihn vor. »Er ist ein Tormal und gehört zur Mannschaft.« »Ich mag keine Tiere«, erklärte Allison kalt. »Er ist mir weit wichtiger als Sie«, stellte Calhoun fest, »wenn es darauf ankommen sollte.« Allison starrte Calhoun an, als erwarte er von ihm, daß er im Staub versank. Calhoun tat ihm aber diesen Gefallen nicht. Schließlich kletterte Allison brummend in den Wagen. Der Arzt nahm seinen Platz hinter dem Steuer wieder ein. Das Gefährt summte. Es hob sich auf sechs Luftsäulen, die das Fahrzeug an Stelle von Rädern trugen. Als Calhoun den Wagen über die Böschung zur Autobahn steuerte, hielt er plötzlich an. Er stieg aus und betrachtete den Boden. Wo das bepflanzte Feld endete und bevor der Belag der Autobahn begann, befand sich ein Grünstreifen. Hier wäre einer anderen Welt Gras gewachsen. Aber auf diesem Planeten gab es kein Gras. Trotzdem sollte sich hier wucherndes Unkraut der Sonne entgegenrecken. Eine Vegetation hatte es auch hier gegeben, nur bestand sie jetzt aus einer dünnen Schicht schleimiger, leicht säuerlich riechender, faulender Masse. Das waren einmal die Bodenpflanzen dieses Planeten gewesen, von denen Calhoun gelesen hatte. Bodenpflanzen mit beweglichen Stengeln, Blättern und Blüten – und kannibalischen Neigungen –, die dafür verantwortlich waren, daß auf dieser Welt kein Getreide zur menschlichen Ernährung wuchs. Calhoun richtete sich auf und ging zum Wagen zurück. Überall hatte er die faulenden Pflanzen gesehen, auch im Blumenladen in Maya City, wo ein großes 106
Exemplar in einem Behälter gezüchtet worden war, ehe es starb. Das war ein seltsamer Zufall. Die Menschen liefen vor etwas davon, und etwas verursachte den Tod einer bestimmten Gattung kannibalischer Pflanzen. Das war ein merkwürdiger Zusammenhang, aber eindeutige Schlüsse ließen sich nicht daraus ziehen. Calhoun fuhr nachdenklich weiter. Ein vages Bild formte sich. Seine Vermutung mochte irrsinnig sein, doch sicher nicht irrsinniger als der Exodus von fast zwei Millionen Menschen innerhalb kürzester Frist. Sie kamen an eine Abzweigung, die nach Tenochitlan führte. Diese Stadt war ungefähr sechzig Kilometer von Maya City entfernt. Calhoun bog von der Autobahn ab, um festzustellen, ob diese Siedlung ebenfalls geräumt worden war. Es war eine kleine Stadt. Ein paar Läden, einige Fabriken und viele Privathäuser. Calhoun fuhr an Reihenhäusern vorbei und an Villen, die von prächtigen Gärten umgeben waren. Auch hier sah er überall verfaulende kannibalische Pflanzen. Diese idyllische Stadt war ebenfalls verlassen – die Straßen leer, die Häuser unbewohnt. Einige Häuser waren offensichtlich abgesperrt worden, und Calhoun bemerkte drei oder vier Läden, deren Waren man sorgfältig zugedeckt hatte. Er nahm an, daß die Stadt entweder rechtzeitig gewarnt worden war oder daß die Leute gewußt hatten, es stand ihnen genügend Zeit zur Verfügung ehe sich die Autobahnen mit Fahrzeugen aus dem Westen füllten. Allison prüfte die Häuser mit kühlen, abschätzenden Blicken. Die Abwesenheit der Bewohner schien ihn nicht 107
zu beeindrucken. Als Calhoun jenseits der Straße wieder auf die Autobahn zurückkehrte, betrachtete Allison die endlosen Felder dunkelgrüner Pflanzen mit demselben Ausdruck. »Interessant«, murmelte er, »interessant!«, als Tenochitlan zurückfiel und zu einem Punkt in der Ferne zusammenschrumpfte. »Sehr interessant. Ich bin an Land interessiert. Grundstücke, das ist mein Geschäft. Ich habe eine Immobiliengesellschaft auf Thanet III und einige Ländereien auf Dorset. Das kam mir gerade so in den Sinn. Was mag dieses Land wert sein und all die Städte, die diese Leute verlassen haben?« »Und was?« fragte Calhoun, »sind die Leute wert, die weggelaufen sind?« Allison schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen um sich. »Ich kam her, um Land zu kaufen«, murmelte er. »Ich hatte mich darauf vorbereitet, einige hundert Quadratkilometer zu erstehen. Ich würde mehr nehmen, wenn der Preis entsprechend ist. Und wie die Dinge sich anlassen, sieht es so aus, als ob die Preise für Land beträchtlich fallen würden. Beträchtlich!« »Das hängt davon ab«, wies ihn Calhoun darauf hin, »ob überhaupt noch jemand lebt, der es verkaufen kann, und was eigentlich hier geschehen ist.« Allison blickte ihn scharf an. »Lächerlich!« sagte er wegwerfend. »Es gibt keine Zweifel, daß die Leute noch am Leben sind!« »Das beruhigt sie wohl«, bemerkte Calhoun. »Weshalb sie flohen, interessiert Sie anscheinend nicht. Hauptsache, Sie können noch rechtzeitig Geschäfte machen.« Allison ignorierte Calhouns Kommentar. Seine Augen blickten scharf und aufmerksam um sich. Die Flucht der 108
Leute ließ ihn kalt. Er betrachtete alles vom Standpunkt des Geschäftsmannes aus. Der Wagen raste weiter. Endlose Felder flogen links und rechts vorbei. Die Autobahn war verlassen. Drei leere Streifen offener Straße, die mit mathematischer Geradlinigkeit auf den Horizont zustrebten. Siebzig Kilometer hinter Tenochitlan tauchte ein kilometerlanger Streifen von Schuppen und Hallen auf, die landwirtschaftliche Maschinen enthielten. Auch hier war kein Lebenszeichen zu bemerken. Eine Siedlung breitete sich vor einem Hügel aus. Aber von der Autobahn zweigte keine Ausfahrt zu ihr ab. Die Häuser waren hier ebenfalls verlassen. Nichts regte sich. Eine halbe Stunde später rief Murgatroyd kläglich: »tschie!« Er bewegte sich unruhig. Einen Augenblick später jammerte er erneut: »tschie!« Calhoun wandte den Blick von der Straße. Murgatroyd sah unglücklich um sich. Calhoun streichelte seinen pelzigen Körper. Der Kleine preßte sich fest an ihn. Der Wagen raste weiter. Murgatroyd begann zu winseln. Calhouns Finger fühlten, wie sich die Muskeln des Tormal heftig zusammenzogen, wieder lösten und nach einem Moment wieder zusammenkrampften. Murgatroyd schrie fast hysterisch: »Tschie-tschie-tschie-tschie!« Calhoun hielt den Wagen an, aber Murgatroyd schien sich trotzdem nicht besser zu fühlen. Allison fragte ungeduldig: »Was ist denn los?« »Das will ich ja herausbekommen«, antwortete Calhoun knapp. Er fühlte Murgatroyds Puls. Die Muskelkrämpfe stimmten mit den Unregelmäßigkeiten des Herzschlags überein. Sie kamen annähernd alle zwei Sekunden. Das Zusammenziehen der Muskeln währte eine Sekunde. »Aber ich fühle es nicht!« murmelte Calhoun erstaunt. 109
»Na, was ist denn?« verlangte Allison ungeduldig zu wissen. »Wenn das Vieh krank ist, so ist es eben krank! Ich muß …« Calhoun öffnete seine Medikamententasche und kramte darin herum. Er schob Murgatroyd eine Pille in den Mund. »Schluck!« befahl er. Murgatroyd nahm die Pille nur widerstrebend zu sich. Calhoun beobachtete den Tormal scharf. Murgatroyds Verdauungssystem war empfindlich, aber zuverläßlich. Alles, was giftig sein konnte, gab der Magen sofort wieder von sich. Die Pille blieb. »Hören Sie!« sagte Allison unwillig. »Ich habe wichtige Geschäfte zu erledigen. In dieser Mappe befinden sich Millionen! Ich kann ein verdammt gutes Geschäft abschließen. Und ich schätze, das ist mindestens so wichtig wie Ihr Auftrag. Auf jeden Fall aber wichtiger als ein Tier mit Magenschmerzen!« Calhoun blickte ihn kalt an. »Besitzen Sie Land auf Texia?« fragte er unvermittelt. Allison riß den Mund auf. Argwohn und Unsicherheit spiegelten sich auf seinem Gesicht. Er tastete nach der Seitentasche, um den Strahler hervorzuholen, brachte ihn aber nicht mehr heraus. Calhouns Linke landete genau auf dem Punkt. Er nahm Allisons Taschenstrahler und warf ihn weit hinein in das Feld mit den eintönigen Reihen olivgrüner Pflanzen. Dann widmete er sich erneut der Beobachtung Murgatroyds. Fünf Minuten später waren die Muskelkrämpfe verschwunden. Zehn Minuten später tänzelte Murgatroyd bereits wieder umher. Er schien zu glauben, Calhoun habe etwas Bemerkenswertes geleistet. Im Brustton wärmster Überzeugung dankte er »tschiie!« 110
»Sehr schön!« freute sich Calhoun. »Weiter so. Ich nehme an, dir geht es so gut wie uns – eine Zeitlang wenigstens!« Der Wagen hob sich auf seinen Luftsäulen und schoß vorwärts. Aber Calhoun fuhr jetzt langsamer. »Etwas verursachte Murgatroyd rhythmische Muskelkrämpfe«, erklärte er kalt. »Ich gab ihm Medikamente, damit sie aufhörten. Er ist empfindlicher als wir, daher reagierte er auf etwas, das wir noch nicht wahrgenommen haben. Aber ich bin überzeugt, auch wir werden es bald zu spüren bekommen.« Allison schien noch immer wütend zu sein über die Behandlung, die man ihm zugemutet hatte. Es war doch undenkbar, daß jemand Hand an ihn legen konnte! »Was, zum Teufel, hat das mit mir zu tun?« fragte er verärgert. »Und warum haben Sie mich geschlagen? Sie werden mir dafür büßen!« »Bis es soweit ist«, machte ihm Calhoun klar, »werden Sie sich ganz ruhig verhalten. Und nun hören Sie mal gut zu. Es gab einmal eine Erfindung des Gesundheitsdienstes – einen kleinen Trick –, der die Kontraktion gewisser Muskeln erwirkte. Er war sehr nützlich, um ein aussetzendes Herz ohne Eingriff wieder zum Schlagen zu bringen. Er regelte zu langsamen oder gefährlich unregelmäßigen Herzschlag. Aber irgendein gerissener Geschäftsmann hatte die kluge Idee, diese Vorrichtung an ein Bodeninduktionssystem anzuschließen. Ich nehme an, Sie kennen diesen Geschäftsmann!« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, knurrte Allison, aber er wich Calhouns Blick aus. »Dafür weiß ich es um so besser«, fuhr Calhoun unfreundlich fort. »Vor ein paar Jahren machte ich eine Gesundheitsinspektion auf Texia. Der ganze Planet ist eine 111
einzige grenzenlose Viehweide. Dort benützt man natürlich keine Metallzäune. Die Herden sind zu groß und zu stark, als daß so etwas sie aufhalten könnte. Dort braucht man auch keine Cowboys, denn die kosten ja Geld. Nein, auf Texia macht man das nur mit Bodeninduktion und unserem Gesundheitstrick. Die Wirkung gleicht einem unsichtbaren, beweglichen Zaun. Das Vieh fühlt Unbehagen, wenn es diesen Zaun zu überschreiten versucht. Also bleibt das Vieh, wo es bleiben soll. Auf diese Art wird es kontrolliert und von Ort zu Ort getrieben, indem man die Zäune verändert, die nichts anderes sind als in den Boden geleiteter Strom. Selbst in die Schlachthäuser jagt man das Vieh mit diesem verdammten Zaun. So läuft das auf Texia! Ich nehme an, man verwendete den gleichen Trick auf Maya, nur daß hier die Menschen wie Vieh getrieben werden – verjagt von ihren Häusern und Feldern, damit die Grundstückspreise fallen. Ein Immobilienmakler kann dann gute Geschäfte damit machen!« »Sie sind verrückt!« schnappte Allison. »Ich bin eben erst auf diesem Planeten gelandet. Sie sahen es selbst. Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht! Wie sollte ich auch?« »Sie können das Ganze arrangiert haben«, beschuldigte ihn Calhoun. Allison setzte eine Miene verletzter und überlegener Würde auf. Calhoun fuhr den Wagen noch langsamer. Er blickte auf seine Hände, die das Lenkrad hielten. Ab und zu schienen die Sehnen seiner Finger zu zucken. In rhythmischen Abständen kribbelte die Haut auf seinen Handrücken. Er warf einen Blick auf Allison. Dessen Hände waren fest verkrampft. »Hier arbeitet ein Bodeninduktionsfeld«, sagte Calhoun ruhig. »Fühlen Sie es? Es ist ein Viehzaun, und wir 112
fahren mitten hinein. Wären wir Vieh, so würden wir jetzt umkehren.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, brummte Allison. Aber seine Hände blieben verkrampft. Calhoun verringerte die Geschwindigkeit noch mehr. Jeder Muskel seines Körpers versuchte gleichzeitig zu zucken. Es war ein schreckliches Gefühl. Seine Herzmuskeln trachteten danach, in den Rhythmus einzustimmen. Aber das Herz hat seinen Eigenrhythmus. Manchmal fiel der Schlag mit dem Zucken zusammen, dann pochte das Herz so wild, daß es schmerzte. Aber ebensooft folgte die erzwungene Kontraktion des Herzmuskels unmittelbar auf eine normale Kontraktion, und dann blieb es eine halbe Sekunde verkrampft. Das Herz setzte einen Schlag aus. Es war ein Gefühl schrecklicher Agonie. Kein Tier hätte sich bei solchen Empfindungen weiter in die betroffene Zone hineingewagt. Es wäre längst wieder umgekehrt. Calhoun hielt den Wagen an. Er blickte auf Murgatroyd. Der Tormal schien offensichtlich nichts Außergewöhnliches zu spüren. Fragend blickte er auf Calhoun, der ihm freundlich, aber mit verzerrtem Gesicht zunickte. Dann wandte sich der Arzt an Allison. Das Sprechen fiel ihm schwer: »Es wird – immer – stärker. – Sie – wissen – daß es der – Texia-Trick – ist. Ein – Bodeninduktionsfeld. Es trieb – die Menschen – wie das – Vieh. Wir sind jetzt mitten drin. Es hält die – Menschen – gefangen!« Er keuchte. Seine Brustmuskulatur zuckte und sein Atem kam stoßweise. Murgatroyd jedoch, der sich unbehaglich gefühlt hatte, noch ehe Calhoun etwas bemerkte, war nun in offenbar bester Verfassung. Medikamente hatten seine Muskeln gegen äußere Einflüsse unempfindlich gemacht. Er konnte sogar einen großen elektrischen Schock empfangen, ohne darauf zu reagieren. Doch wür113
de das vermutlich sein Leben kosten. Ein wilder Zorn erfüllte Calhoun. Alles paßte zusammen. Allison hatte nach seinem Strahler gegriffen, als Calhoun Texia erwähnte. Seine Vermutung stimmte also. Ein Viehzaun war auf Maya errichtet worden und hielt die Menschen, die er zuerst vor sich hergetrieben hatte, gefangen. Calhoun vermochte sogar mit einiger Sicherheit exakte Rückschlüsse zu ziehen, was bisher geschehen war. Der erste Kontakt Mayas mit dem Zaun mußte sehr sanft gewesen sein, kaum mehr als ein leichtes Unbehagen. Er würde sich von Westen nach Osten bewegt haben, ganz langsam, bis er an einem bestimmten Ort wieder versiegte. Die ganze Sache mußte sehr mysteriös und unbequem gewesen sein, aber sicher war niemand auf die Idee gekommen, sie sei von Menschen verursacht worden. Eine Woche später hatte man das Ganze sicher vergessen. Dann trat ein stärkeres Feld auf und wandert denselben Weg. Auch da würde man noch keinen Verdacht geschöpft haben. Dann kam die dritte Welle, das stärkste Feld – unangenehm und schmerzvoll. Und die Leute hatten nun begriffen, daß sie irgendwo westlich von Maya City ihren Anfang nahm und nach Osten wanderte, mit einer bestimmten Geschwindigkeit, und schließlich an einem bestimmten Ort versiegte. Sie würden sich organisiert haben, und keinem kam es dabei auch nur einen Moment in den Sinn, daß man ihm beigebracht hatte, wie Vieh zu gehorchen. Calhoun nahm natürlich nur an, daß es so geschehen war. Aber konnte es überhaupt anders gewesen sein? Möglicherweise hatte es mehr als drei Wellen gegeben. Vielleicht waren auch schwächere auf stärkere gefolgt, bis die Leute mürbe waren. 114
Die Symptome wurden immer unerträglicher. Calhoun kramte mit unkontrollierbar zuckenden Händen die Medikamententasche hervor. Er nahm zwei der Pillen, von denen er eine Murgatroyd in den Mund geschoben hatte. »Grund genug«, sagte er kalt, »Sie Ihrem Teufelswerk zu überlassen! Aber – hier!« Allison hatte die Angst gepackt. Die schrecklichen Empfindungen, ausgelöst durch den Rinderzaun, der nicht für zerbrechliche Menschen gedacht war, übertrafen seine schlimmsten Erwartungen. Er rang nach Atem und machte groteske Bewegungen. Auch Calhoun zuckte rhythmisch. Anderthalb Sekunden konnte er seine Muskeln kontrollieren, die folgende halbe Sekunde nicht. Er schob eine Pille zwischen Allisons Lippen. »Schlucken Sie!« befahl er. »Schnell, schlucken!« Allison würgte an der Pille. Calhoun gab ihm eine zweite. Murgatroyd blickte fragend zuerst auf den einen, dann auf den anderen der beiden Männer. »Tschie? Tschie!« fragte er. Calhoun lehnte sich in seinen Sitz zurück und atmete vorsichtig, um am Leben zu bleiben. Aber er konnte nichts für den Herzschlag tun. Die Sonne schien hell, obwohl sie bereits tief am Horizont stand. Ein sanfter Wind wehte. Wolken waren am rötlichen Himmel aufgezogen. Alles schien nach außen hin friedlich, ruhig und normal. Aber in dem Gebiet, das die Menschen besiedelt hatten, standen stille, leere Städte, und irgendwo wartete die Bevölkerung des Planeten verzweifelt darauf, daß das letzte und schrecklichste einer Serie von unerklärlichen Phänomenen zu Ende ging. Alle vorangegangenen waren befristet gewesen. Aber diese schlimmste aller Foltern hielt immer noch an. Und das schon drei Tage lang und an einer Stelle, wo alle bisherigen geendet hatten. 115
Die Menschen auf Maya waren verzweifelt. Sie konnten nicht in ihre Häuser zurück, sie konnten nirgends hin. Sie hatten sich nicht auf einen Notstand vorbereitet, der länger als ein paar Tage währte. Sie hatten keine Nahrungsmittelvorräte mitgenommen. Es sah so aus, als ob sie alle verhungern müßten. Calhoun war völlig erschöpft, als der Sportwagen das Ende der Autobahn erreichte. Die zwölf Bahnen schmolzen auf sechs zusammen, und ein breiter Streifen auf jeder Seite zeigte deutlich, daß unzählige Wagen gezwungen gewesen waren, neben der Straße zu fahren. Dann waren plötzlich nur noch drei Spuren, dann zwei und schließlich ein einziges asphaltiertes Band, auf dem nicht mehr als zwei Fahrzeuge nebeneinander fahren konnten. Die Verwüstungen auf beiden Seiten waren beachtlich. Die gesamte Vegetation war links und rechts in einem etwa achthundert Meter breiten Streifen umgeknickt und zermalmt worden. Die Straße bog jetzt ab und schmiegte sich um einen Hügel. Sie war hier auch nicht mehr eben. Sie endete in einer Schleife. Und Calhoun sah hier alle Bodenfahrzeuge des Planeten nebeneinander aufgereiht – soweit das Auge reichte. Es gab keine Straßen und keine Gebäude. Kein Zeichen von Zivilisation, außer Tausenden und aber Tausenden von Fahrzeugen. Das Bild war außergewöhnlich. Mayas Transportmittel lagen vor ihm auf einer Fläche von rund siebzig Quadratkilometern ausgebreitet, hier zusammengeballt, dort mit etwas mehr Raum zwischen den einzelnen Fahrzeugen. Calhoun fühlte sich an einen gigantischen Autofriedhof erinnert. Nur gelegentlich ragte noch ein hoher Baum aus dem erstarrten Meer glänzend-bunten Metalls heraus. 116
Calhoun fuhr bis zum Ende der sichtbaren Straße. Das Medikament hatte gewirkt. Er war weitergefahren. Aber die Stärke des Induktionsfeldes war bis ins Unerträgliche gewachsen. Als der Sportwagen anhielt, zeigten Calhouns Züge unmißverständlich, was er durchgemacht hatte. Sofort kamen einige Gestalten auf ihn zu. Jemand rief aufgeregt: »Es hat aufgehört! Ihr seid durchgekommen! Können wir zurück?« Calhoun schüttelte den Kopf. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel purpurrot. Aber das Gesicht des Arztes war bleich. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, seine Wangen waren grau und eingefallen. Die Anstrengung machte sich bemerkbar. Er sagte keuchend: »Es ist noch da. Wir sind durchgefahren. Ich bin vom Gesundheitsdienst. Haben Sie einen Vertreter der Regierung hier? Ich muß mit jemandem sprechen, der hier Befehlsgewalt hat.« Einige Männer verließen die anwachsende Menge um den Wagen, um jemanden zu holen, der über die legale Befehlsgewalt verfügte. Calhoun blieb erschöpft sitzen. Er brauchte Ruhe, denn die Anstrengung war übermenschlich gewesen. Der Bodeninduktionszaun hatte erst nach fünfzehn Kilometern ein Ende genommen. Der erste Kilometer war nicht schlimm gewesen, nur Murgatroyd hatte die Wirkung gespürt. Nach zwei Kilometern hatten Calhoun und Allison zu leiden begonnen. Nur gut, daß das Mittel das Leiden etwas gelindert hatte. Trotzdem war die Fahrt durch eine lange Zone im Zentrum des Induktionsfeldes die reinste Hölle gewesen – trotz des Medikaments. Calhouns Muskeln waren für einen Teil jedes Zweisekundenintervalls unkontrollierbar gewesen. Sein Herz und seine Lungen schienen jeden Augenblick ihre 117
Funktion aufgeben zu wollen. In diesem Teil des Rinderzaunfeldes hatte er nur noch dahinzukriechen gewagt, aus Angst, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren, weil der Körper nicht mehr in Schach zu halten war. Endlich hatte dann die Feldstärke nachgelassen und schließlich ganz aufgehört. Jetzt begrüßte Murgatroyd die Leute, die sich um das Auto scharten, mit großer Herzlichkeit. Er hatte kaum gelitten. Calhoun hatte ihm die Hälfte seiner eigenen Dosis eingegeben. Das Körpergewicht des Tormal betrug aber nur ein Zehntel von Calhouns Gewicht. Erwartungsvoll betrachtete er die dicht gedrängte Menge, die das Fahrzeug umringte, das sich durch die unsichtbare Barriere gewagt hatte. Die Menschen hofften verzweifelt auf eine gute Nachricht. Murgatroyd dagegen wartete genüßlich darauf, daß ihn jemand willkommen hieß, ihm Kuchen und Süßigkeiten anbot und vielleicht auch eine Tasse Kaffee. Aber nichts dergleichen geschah. Nach langer Zeit teilte sich die Menge. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen, und kilometerweit flammten ringsum die Lichter der Fahrzeuge auf. Irgendwo riefen ein paar Männer. Calhoun schaltete seine Scheinwerfer ein und aus, damit man ihn leichter finden konnte. Erneutes Rufen. Ein paar Männer drängten sich durch die Menge. Schließlich erreichten sie Calhouns Wagen. »Man sagt, Sie wären durchgefahren«, keuchte ein breitschultriger Mann, »aber Sie könnten nicht mehr zurück! Man berichtete mir auch …« Calhoun erhob sich. Allison bewegte sich neben ihm. Der Breitschultrige holte tief Luft. »Ich bin der Präsident. Was können wir tun?« »Zuerst einmal zuhören«, riet Calhoun müde. Er hatte sich inzwischen ein bißchen erholen können. Die paar 118
Stunden Fahrt von Maya City bis hierher hatte ihm nicht viel ausgemacht. Aber die fortwährenden und teilweise unerträglichen Zuckungen der Herz- und Atemmuskeln hatten an seinen Körperkräften gezehrt. Er hörte Murgatroyd auffordernd rufen und beruhigte ihn. »Wovor ihr geflohen seid«, begann Calhoun schwer, »ist eine Art Bodeninduktionsfeld, das die Sendeenergie des Landegerüstes ausnützt. Auf Texia treibt man damit die Herden auf die Weiden. Aber dieses Induktionsfeld ist für Rinder gedacht. Es ist ein Viehzaun, und er könnte Menschen töten.« Calhoun fuhr fort, und seine Stimme gewann an Kraft und Festigkeit, während er sprach. Er erklärte genau, wie ein Bodeninduktionsfeld in einer Linie im rechten Winkel zu seiner Quelle wirkt. Das Feld konnte durch einfache Vorrichtungen an dem Apparat, der es erzeugte, reguliert und gelenkt werden. »Aber wenn dieses Gerüst Sendekraft benützt«, meinte der Präsident, »müßte das Feld zusammenbrechen, sobald man das Gerüst abschaltet. Wenn Sie hierher durchgekommen sind, dann raten Sie uns bitte, wie wir zurück können, und wir werden das Gerüst abstellen! Wir müssen schnellstens etwas unternehmen! Die gesamte Bevölkerung ist hier! Ohne Nahrung! Ohne Wasser! Es muß etwas geschehen, oder wir sterben!« »Sie müssen eines bedenken«, warnte Calhoun. »Wenn Sie die Energie abschalten, werden Sie ebenfalls sterben! Ihr seid hier ein paar Millionen Leute und Hunderte von Kilometern von jeder Nahrung entfernt. Ohne Energie könnt ihr weder in die Stadt zurück, noch könnt ihr Nahrungsmittel herbeischaffen. Wenn ihr die Energie abstellt, seid ihr hier festgenagelt. Eure Wagen werden von der Energie, die das Gerüst ausstrahlt, angetrieben.« 119
Die Männer murmelten ringsum. »Ich habe folgendes herausgefunden«, sagte Calhoun. »Erst während der letzten zwanzig Kilometer war ich mir sicher, was eigentlich gespielt wird. Und ich mußte herkommen, um mich von der Wahrheit meiner Theorie zu überzeugen. Jetzt brauche ich ein paar Mann, die mir helfen. Die Aufgabe wird nicht angenehm sein. Meine Medikamente reichen möglicherweise noch, um ein Dutzend Leute durchzubringen; aber das Risiko ist mit weniger Leuten viel kleiner. Ein Arzt soll mir also sechs kerngesunde Männer aussuchen, mit gutem Herzen und starker Lunge. Zwei davon sollen Ingenieure für Elektronentechnik sein, die anderen gute Schützen. Wenn Sie die Leute hierherschicken, bekommen sie dasselbe Mittel, das uns geholfen hat. Das Mittel wird die Wirkung des Induktionsfeldes lindern. Das ist aber auch alles. Versuchen Sie, außerdem ein paar Waffen aufzutreiben.« Das Gemurmel schwoll an. Die Männer gaben das Gehörte schnell weiter. Das wandernde Übel, vor dem sie geflohen waren, war keine natürliche Katastrophe, sondern von Menschen absichtlich verursacht. Sie waren hier wie Vieh zusammengetrieben worden, und ihre Frauen und Kinder waren hungrig, weil jemand es so wollte. Das Murmeln nahm einen gefährlichen Unterton an. Im Augenblick fragte niemand, zu welchem Zweck man das getan hatte. Reine Wut erfüllte die Menge. Calhoun beugte sich zu Allison hinunter. »Ich würde an Ihrer Stelle das Auto nicht verlassen«, riet er leise. »Und schon gar nicht würde ich versuchen, Landbesitz zu erwerben – zu einem niedrigen Preis!« Allison zitterte. Die allgemeine Erregung wuchs, als die Erklärungen von Mund zu Mund eilten. Einige Ge120
stalten verschwanden in der Dunkelheit. Erhellte Wagenfenster blinkten, während Boten sich durch die Dunkelheit bewegten. Das war kein besonders schnelles Nachrichtensystem; aber lange vor der Morgendämmerung wußten alle, daß die Gefahr, vor der sie geflohen waren, von Menschen herrührte. Daß sie wie eine Herde getrieben worden waren und nun hinter einem Rinderzaun festsaßen, um dort zu verhungern. Allison war grau vor Angst. Er war ein Geschäftsmann, und bisher hatte er als solcher gedacht und gehandelt. Seine Entscheidungen traf er am Schreibtisch und ließ sie von Anwälten, Sekretärinnen und Beamten ausführen. Andere als finanzielle Konsequenzen hatten ihn nicht berührt – bis jetzt! Er war auf Maya gelandet, weil er die Sache für zu wichtig gehalten hatte, sie jemand anderem anzuvertrauen. Während der Fahrt mit Calhoun hatte er sich bereits als Alleinnutznießer der Kolonie gesehen. Es war ein grandioser Traum gewesen! Doch nun hatte er Angst. Auf ein paar Worte Calhouns hin würden ihn die wütenden Männer ringsum buchstäblich in Stücke reißen. Seine pralle Aktenmappe würde als Beweis dienen. Der Angstschweiß lief Allison über den Rücken. Er zitterte, aber er wagte sich nicht von Calhouns Seite. Ein einziger Satz, im ruhigsten Tonfall gesprochen, könnte sein Ende bedeuten. Und er hatte noch nie in seinem Leben wirklicher, körperlicher Gefahr gegenübergestanden. Dann kamen die ausgewählten Männer, um sich von Calhoun ihre Instruktionen geben zu lassen. Sie sahen sehr kräftig und gesund aus und machten sich grimmigen Blicks bereit. Zwei von ihnen waren Elektroniktechniker, zwei Mechaniker, einer war Polizist und einer Arzt. Calhoun gab ihnen die Tabletten und Verhaltensmaßregeln. 121
Sie würden soweit wie möglich in die Induktionszone vordringen und erst, wenn es nicht mehr zu ertragen war, die Pillen nehmen und ihre Wirkung abwarten. Dann würden sie weiterfahren. Calhouns Vorrat an Tabletten war begrenzt. Er konnte jedem der Männer nur drei geben. Da Murgatroyd sich um seinen gesellschaftlichen Erfolg betrogen sah, blickte er verärgert um sich. Calhoun brauchte jetzt mehr Platz und schob Allisons Aktenmappe unter die Vordersitze. Allison war viel zu eingeschüchtert, um dagegen zu protestieren. Vier summende Bodenfahrzeuge hoben sich auf ihren Luftsäulen. Calhoun übernahm die Führung der Kolonne. Seine Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit hinein. Hinter ihm blinkten die anderen Scheinwerfer in einer Reihe. Calhouns Wagen kam auf Touren. Die übrigen folgten. Über ihnen war der Himmel voller Sterne. Ein Nebel von Tausenden von Sonnen – zweitausend Lichtjahre entfernt – erhellte Mayas Oberfläche mit einem milden, bleichen Licht. Die Wagen kamen schnell vorwärts. Bald fühlte Calhoun wieder das Zucken leiser Muskelkrämpfe. Sie gelangten auf die zwölfbahnige Autostraße, die Calhoun von Maya City hierhergebracht hatte. Die rhythmischen Zuckungen wurden intensiver. Allison hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen, nur die Zähne klapperten ihm hin und wieder vor Angst. Er sagte auch nichts, als das Induktionsfeld wieder zu wirken begann. Als es jedoch immer schlimmer wurde, zupfte er Calhoun verzweifelt am Ärmel. »Wollen Sie mich auf diese Art umbringen?« keuchte er heiser. Calhoun hielt an. Die Fahrzeuge hinter ihm blieben ebenfalls stehen. Er gab Allison zwei Pillen und nahm 122
selbst zwei. Murgatroyd begleitete ihn, als er zu den anderen Fahrzeugen trat und sich überzeugte, daß die Männer ihre Tabletten nahmen und sie auch tatsächlich wirkten. Dann kehrte er zum Sportwagen zurück. »Ich hoffte«, sagte Calhoun, »daß Sie die Gelegenheit beim Schopf fassen und verschwinden würden. Für mich hätte das wenigstens ein Problem gelöst. Natürlich nicht für Sie. Aber ich bezweifle sehr, daß Ihre Probleme überhaupt noch zu lösen sind.« Er setzte den Wagen wieder in Bewegung. Die anderen folgten. Calhoun bemerkte, daß das Induktionsfeld nicht mehr so stark wirkte wie auf der Herfahrt. Die ersten Pillen hatten ihre Wirkung noch nicht verloren, als er die zweiten Tabletten nahm. Aber er hielt seine Geschwindigkeit niedrig, bis er sicher war, daß die anderen Lenker ebenfalls mit dem Induktionsfeld fertig wurden. Dann waren sie durch. Er erhöhte die Geschwindigkeit auf hundertdreißig Stundenkilometer. Die anderen Fahrzeuge schlossen auf. Hundertfünfzig. Sie fielen nicht zurück. Der Wagen raste mit voller Geschwindigkeit durch die Nacht. Hundertachtzig. Die anderen Fahrzeuge blieben ihm getreulich zur Seite. Allison sagte verzweifelt: »Hören Sie! Ich verstehe nicht, was passiert ist. Sie reden, als ob ich das alles geplant hätte. Ich erhielt Kenntnis von einem Versuchsprojekt, das hier stattfinden sollte. Aber es war nicht geplant gewesen, die Kolonisten tagelang festzunageln. Irgend etwas ging schief. Ich hörte, die Leute hier wollten Maya verlassen, und ich könnte so viel Land und Betriebe aufkaufen, wie ich haben wollte. Nichts anderes! Eine reine Geschäftssache, das ist alles! Nur Geschäft!« Calhoun gab keine Antwort. Allison sagte vielleicht die Wahrheit. Einige Geschäftsleute würden kaum davor 123
zurückschrecken, die Menschen zu terrorisieren, damit sie ihren Besitz weit unter Wert verkauften. Aber die Menschen auf Maya hätte man fast in den Tod getrieben. Das heißt, diese Gefahr war noch nicht gebannt. Es gab keinen Weg für sie in ihre Häuser zurück und keine Möglichkeit, sie mit Nahrungsmittel und Wasser zu versorgen, solange der Rinderzaun bestand. Auch die Unterbrechung der Energiezuleitung würde nichts daran ändern … Calhoun schätzte, daß der Projektor, von dem das Induktionsfeld ausging, jenseits von Maya City liegen mußte. Er stand irgendwo in den Bergen, die er auf der Fotografie im Kontrollgebäude gesehen hatte. Eine breite Straße führte in diese Berge und war dort zu Ende. Ein Bodeninduktionsprojektor leitete das Feld immer im rechten Winkel zur Energiequelle. Das Feld konnte gesteuert und in jeder beliebigen Entfernung aufgebaut werden. Es konnte auch jederzeit die Richtung ändern. Um die Menschen von Maya City ostwärts zu treiben, mußte sich der Projektor westlich davon befinden. Also in den Bergen. Aber er würde gut versteckt sein. In ein paar Tagen oder sogar Wochen würde man ihn vielleicht finden. Doch die Menschen jenseits der Autobahn konnten nicht so lange warten. Sie hatten nichts zu essen und nichts zu trinken. Der Zaun mußte augenblicklich abgestellt werden – nicht aber die Energie. Calhoun seufzte. Jawohl, genau so mußte es gemacht werden. Sich die Sache bildlich vorzustellen, hatte ihm sehr geholfen. Die Einfachheit der Lösung verblüffte ihn. Er würde die beiden Elektroniktechniker dafür heranziehen. Mit hundertneunzig Stundenkilometer raste Calhoun weiter. Die drei übrigen Fahrzeuge folgten ihm. Murgat124
royd heftete sein Augenmerk auf die Straße. Kilometer um Kilometer fraßen sich die Scheinwerfer in die Dunkelheit. Murgatroyd wurde das zu langweilig. Er sagte »tschie!«, rümpfte angewidert die Nase und versuchte, sich zwischen Calhoun und Allison zusammenzuringeln. Es war nicht genug Platz dafür. Er kletterte über die Lehne und kroch zwischen dem Vorder- und Rücksitz herum. Es folgte ein kurzes Rascheln, und dann ließ sich der Tormal zufrieden nieder. Bald darauf herrschte Stille. Zweifellos hatte er sich den buschigen Schwanz um die Nase gewickelt und war tief eingeschlafen. Allison meldete sich plötzlich. »Wieviel Geld besitzen Sie?« wollte er wissen. »Nicht viel«, gab Calhoun zur Antwort. »Warum?« »Ich – ich habe nichts Illegales getan«, behauptete Allison mit gezwungener Zuversicht. »Aber Sie könnten mich in Schwierigkeiten bringen, wenn Sie mich öffentlich dessen anklagten, was Sie mir gestern vorgeworfen haben. Sie scheinen anzunehmen, daß ich ein Kapitalverbrechen geplant hätte. Daß das Versuchsprojekt, von dem ich zufällig erfahren habe, außer Kontrolle geriet, ist bedauerlich. Aber ich habe damit nichts zu tun. Ich habe nichts juristisch Belangbares getan. Man kann mir rechtlich nichts vorwerfen. Meine Anwälte …« »Das ist nicht meine Sache«, wies Calhoun ihn ab. »Ich bin vom Gesundheitsdienst. Ich bin hier gelandet – mitten im Schlamassel, wie es schien. Ich suchte nach der Ursache dieses Schlamassels und habe sie auch gefunden. Die Lösung dafür allerdings noch nicht. Die gesamte Bevölkerung von Maya ist in Lebensgefahr. Ich hoffe, ich kann diese Gefahr bannen. Mit Schuld oder Unschuld, mit beabsichtigtem oder unbeabsichtigtem Verbrechen habe ich nichts zu tun.« 125
Allison schluckte. Dann sagte er: »Dennoch könnten Sie mir Schwierigkeiten bereiten. Ich würde es gern sehen, wenn Sie – wenn Sie …« »Wenn ich vertusche, was ich über Sie weiß?« fragte Calhoun. »Nein, ich habe nichts Unrechtes getan. Aber Sie könnten Diskretion üben. Ich landete per Fallschirm, um einige Geschäfte abzuwickeln, die ich bereits Monate zuvor arrangiert hatte. Ich werde sie zu Ende führen und mit dem nächsten Schiff abreisen. Das ist alles. Eine reine Geschäftsangelegenheit. Aber Sie könnten ein unerfreuliches Bild von mir verbreiten. Die Öffentlichkeit…! Dabei habe ich wirklich nichts getan, was nicht jeder andere Geschäftsmann ebenfalls tun würde. Ich wußte eben zufällig von diesem Versuchsprojekt…« »Ich nehme an«, sagte Calhoun ungerührt, »daß Sie Leute hierhergeschickt und beauftragt haben, einen Projektor aufzustellen, um die hiesige Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Und diese sollte verängstigt sein, nicht ahnen, was vorgeht, und schließlich den Wunsch äußern, diesen unheimlichen Planeten zu räumen. Dann sollten Sie erscheinen und die ganze Kolonie praktisch für ein Linsengericht aufkaufen. Ich kann das nicht beweisen«, fuhr er fort, »und das ist nur meine ganze persönliche Meinung. Sie möchten aber, daß ich sie für mich behalte. Stimmt’s?« Allison schluckte. »Genau!« stammelte er. Der Schreck saß ihm noch in allen Gliedern; aber er bemühte sich, den Ton eines Geschäftsmanns zu treffen, der eine unerfreuliche Sache mit jovialer Offenheit behandelt. »Ich versichere Ihnen, daß Sie unrecht haben. Sie geben selbst zu, daß Sie Ihren Verdacht nicht beweisen können. Und wenn Ihnen das nicht möglich ist, wäre es dann 126
nicht auch für Sie besser, ihn für sich zu behalten? Ein einfaches Prinzip der Ethik. Meinen Sie nicht?« Calhoun blickte ihn neugierig an. »Warten Sie darauf, daß ich Ihnen meinen Preis sage?« »Ich warte darauf«, sagte Allison tadelnd, »daß Sie mir versichern, mir keine unnötigen Scherereien zu machen. Ich werde nicht undankbar sein. Schließlich bin ich ein einflußreicher Mann. Ich könnte einiges zu Ihrem Besten tun. Ich würde …« »Versuchen Sie herauszubekommen, wieviel ich nehmen würde?« fragte Calhoun mit der gleichen Neugier wie zuvor. Er schien mehr Neugier als Unwillen zu empfinden – und wiederum mehr Spaß an der Sache zu haben als Neugier. Allison schwitzte plötzlich. Calhoun schien nicht bestechlich zu sein, und Allison war verzweifelt. »Wenn Sie es unbedingt so nennen wollen – ja«, sagte er rauh. »Nennen Sie Ihre Summe, ich werde zahlen!« »Ich werde meine Meinung für mich behalten«, sagte Calhoun. »Aber das wird Ihnen auch nichts helfen. Die Leute, die diesen Zaun errichtet haben, werden auspacken. Die einzelnen Teilchen fügen sich bereits zusammen. Das Bild ist schon fast komplett.« »Ich sagte, Sie könnten Ihre Summe nennen!« Allisons Stimme war schrill. »Ich meine, was ich sage! Jede Summe!« Calhoun zuckte die Achseln. »Was soll ein Mann vom Gesundheitsdienst mit Geld anfangen? Vergessen Sie es!« Die Autobahnausfahrt nach Tenochitlan tauchte vor ihnen auf. Calhoun raste vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Allison klapperte wieder mit den Zähnen. Die Häuser von Maya City erhoben sich in der Ferne. 127
Calhoun verlangsamte die Geschwindigkeit, und die anderen schlossen auf. Er öffnete das Fenster und rief: »Zuerst zum Landegerüst! Jemand, der den Weg kennt, fährt voraus!« Ein Wagen übernahm die Führung, und die anderen folgten ihm über die Ausfahrt in die Stadt. Sie fuhren durch die dunklen Straßen und bremsten nach einiger Zeit im Schatten des Landegerüstes. Sie traten ins Kontrollgebäude. Murgatroyd hielt sich eng an Calhoun. Ein Papierstück hatte sich in seinem Schwanz verfangen. Er schüttelte sich, und ein Fünftausenderschein fiel zu Boden. Murgatroyd hatte sich aus Allisons interstellaren Kreditscheinen ein weiches und bequemes Bett gemacht. Sicherlich war es das teuerste Bett, in dem ein Tormal jemals geschlafen hatte. Allison starrte den Tormal wie betäubt an. Er wagte nicht, nach dem Geld zu greifen. »Ich brauche die beiden Elektronikingenieure«, murmelte Calhoun. Dann entschuldigend zu den anderen: »Mir ist nämlich etwas eingefallen auf dem Weg hierher. Ich glaubte, daß wir vielleicht drastische Maßnahmen ergreifen müssen, sobald der Tag anbricht. Aber jetzt bezweifle ich das. Ich würde Ihnen jedoch empfehlen, die Scheinwerfer abzustellen und sich irgendwo niederzulassen, wo Sie ein gutes Schußfeld haben, wenn jemand hier auftauchen sollte. Ich weiß allerdings nicht bestimmt, ob jemand hierher kommen wird.« Calhoun ging voraus und drehte die Lichter in dem Raum an, wo die Skalen und Armaturen den Energieverbrauch anzeigten. Da die Städte jetzt leer waren, war auch der Energieverbrauch nur gering. Die Nadel schwankte rhythmisch vor und zurück. Alle zwei Sekunden stieg der Verbrauch abrupt auf etwa sechs Millionen 128
Kilowatt an. Das dauerte eine halbe Sekunde und hörte dann auf. Für anderthalb Sekunden senkte sich die Verbrauchsanzeigenadel um sechs Millionen Kilowatt. Während dieser Zeit zogen nur Ventilatoren, automatische Pumpen und Gefrieranlagen Energie aus dem Gerüst. »Der Viehzaun«, erklärte Calhoun, »arbeitet alle zwei Sekunden für eine halbe Sekunde. Dann unterbricht er, sonst würden die Tiere gelähmt werden. Oder in diesem Fall die Menschen. Die Unterbrechung vertreibt sie nur. Ersatzteile und Werkzeug werden hier irgendwo vorhanden sein. Ich möchte, daß Sie mir etwas Neues zusammenbasteln.« Die beiden Ingenieure überhäuften ihn mit Fragen. »Wir brauchen«, erwiderte Calhoun, »einen Unterbrecher, der die Energieabgabe für die halbe Sekunde unterbricht, in der der Viehzaun aktiviert wird. Dann soll er, während das Induktionsfeld anderthalb Sekunden aussetzt, wieder die Energieabgabe gestatten. Auf diese Weise wird der Zaun neutralisiert. Ich nehme an, die Bodenfahrzeuge müßten auch funktionieren, wenn in vier Sekunden mal eine halbe Sekunde lang der Saft wegbleibt.« Die beiden Ingenieure sahen sich kurz an. Dann grinsten sie. Sie machten sich sofort an die Arbeit. Calhoun blickte sich um. In einem der Schränke fand er ein Lunchpaket mit drei belegten Broten. Er bot sie der Reihe nach an; aber niemand wollte etwas essen, während am anderen Ende der Autobahn seine Familie hungerte. Die beiden Ingenieure holten sich die zwei Mechaniker zu Hilfe. Calhoun ging nach draußen, wo Allison im Auto saß und vor Verzweiflung schwitzte. »Der Viehzaun wird bald seinen Betrieb einstellen«, sagte Calhoun, ohne Triumph in der Stimme. »Bei Son129
nenaufgang können wahrscheinlich die Menschen wieder hierher zurückkehren.« »Ich habe nichts Unrechtes getan!« röchelte Allison mit trockener Kehle. »Gar nichts! Man würde mir beweisen müssen, daß ich von den Folgen des Versuchsprojekts wußte. Das ist nicht möglich! Daher habe ich nichts Unrechtes getan!« Eine halbe Stunde nach Beendigung der Montagearbeiten stieg der Verbrauch plötzlich an. Das konnte nur bedeuten, daß sich die Fahrzeuge bereits auf dem Rückweg befanden. Fünfundvierzig Minuten später vernahm Calhoun einen Laut, der von draußen kam. Er ging ins Freie. Die beiden Männer, die vor dem Kontrollgebäude Wache standen, starrten in die Dunkelheit hinein. Etwas bewegte sich in der Stadt. Es war ein Bodenfahrzeug, das langsam und ohne Licht fuhr. Calhoun flüsterte den Wachen zu: »Wer immer auch den Viehzaun regulierte, hat inzwischen herausgefunden, daß hier etwas nicht stimmt. Jemand ist gekommen, um nachzusehen. Sicher haben sie auch die Lichter hier entdeckt. Haltet also die Waffen bereit!« Doch das unbeleuchtete Fahrzeug drehte plötzlich um und verschwand. Calhoun zuckte die Schultern. »Sie kommen nicht weit«, versicherte er. »Sobald es hell wird, werden wir sie vertreiben. Der Projektor ist viel zu groß, als daß sie ihn zerstören könnten. Auch werden die Fingerabdrücke auf die Männer hinweisen, die ihn bedienten. Hinzu kommt, daß es sich kaum um Einheimische handeln wird. Die Polizei braucht nur nach ein paar Fremden zu suchen, die in der Nähe des Projektors wohnen. Sie können höchstens in den Dschungel fliehen, aber dort würden sie verhungern. Also werden sie sich ergeben.« 130
Er schritt wieder auf den Eingang des Kontrollgebäudes zu. Allison sagte verzweifelt: »Sie werden ihre Apparate getarnt haben! Sie werden sie niemals finden!« Calhoun schüttelte den Kopf. »Eine Flugmaschine findet die Stelle innerhalb von Minuten. Selbst zu Fuß kann man sie nicht verfehlen. Etwas ist nämlich passiert, mit dem sie nicht gerechnet haben. Darum ließen sie den Projektor auch mit voller Kraft laufen.« Calhoun zuckte die Achseln. Es war ihm nicht nach langen Reden zumute. Aber es war ja nur zu offensichtlich. Etwas hatte die Pflanzen einer bestimmten Gattung abgetötet, deren kleinere Exemplare irdische Gräsersorten vernichteten. Die Bodenpflanzen besaßen bewegliche Stengel und Blätter und Blüten, und sie waren kannibalisch. Sie vermochten ihre Stengel zu bewegen, ebenso ihre Blätter und Blüten, um andere Pflanzen zu verschlingen, vielleicht sogar kleinere Tiere. Der springende Punkt jedoch war, daß sie nur eine begrenzte Bewegungsfähigkeit besaßen. Das Induktionsfeld beanspruchte nun dieses Gewebe, das in primitivster Form muskulös war, bis es zugrunde ging. Die Pflanzen starben buchstäblich an Erschöpfung. Das Bodeninduktionsfeld rottete Mayas Bodenvegetation bis ans Ende der ostwärtsführenden Autobahn aus. Ebenso in der anderen Richtung bis zu seiner Ursprungsgrenze. Nichts war leichter, als dieser offensichtlichen Spur zu folgen. Die sterbende Vegetationsgrenze mußte direkt zum Projektor führen. »Ihre Freunde«, prophezeite Calhoun, »werden sich ergeben und um mildernde Umstände bitten. Viel anderes bleibt ihnen auch nicht übrig.« Er blickte Allison durchdringend an. »Und wahrscheinlich bekommen selbst Sie mildernde Umstände. Wußten Sie, daß der Viehzaun einen interessanten Nebeneffekt hat? Er tötet die Pflanzen, 131
die verhindern, daß hier irdische Grassorten gedeihen. Jetzt kann man Getreide anbauen, soviel man will. Das wird dieser Welt den Wohlstand bringen, wenn sie ihre Nahrungsmittel nicht mehr zu importieren braucht.« Bei Sonnenaufgang trafen die ersten Fahrzeuge in der Stadt ein. Eine Stunde nach Tagesanbruch wurde auch der Projektor gefunden und abgestellt. Gegen Mittag sah man noch immer den Ärger in den Gesichtern der Menschen von Maya. Aber es waren keine Schäden zu beklagen, und das Leben nahm bald darauf seinen normalen Trott wieder auf. Murgatroyd begrüßte die Tatsache, daß sich alles normalisierte. Für ihn war es selbstverständlich, daß man sich um ihn kümmerte, wenn das Raumboot landete. Für ihn war es normal, sich behaglich in menschlicher Gesellschaft zu bewegen und mit schwer stillbarem Appetit Kaffee zu schlürfen und Kuchen und Süßigkeiten in sich hineinzustopfen. Und während sich Murgatroyd in menschlicher Gesellschaft bewegte und alle Freuden genoß, die man ihm bot, ging Calhoun seiner Arbeit nach. Diese Arbeit bestand natürlich aus Konferenzen mit der planetarischen Gesundheitsbehörde, wobei er sich wichtige Information anhörte und dann selbst von den allerneuesten Entwicklungen auf dem medizinischen Sektor berichtete, soweit sie dem interstellaren Gesundheitsdienst bekannt waren.
132
III Das Raumboot des Gesundheitsdienstes, Aesclipus zwanzig, befand sich im Überantrieb, während seine Besatzung gemütlich Kaffee trank. Calhoun genoß Schluck um Schluck aus seiner überdimensionalen Tasse, während Murgatroyd, der Tormal, an einem kleinen Schälchen nippte, das er mit seinen pelzigen Pfoten gerade noch umfassen konnte. Die Astrogationsanlage gab den bereits zurückgelegten Teil des Überantriebsprungs in Prozenten an. Die Nadel stand schon fast am Austrittspunkt. Eine Stunde zuvor hatte ein Warngong auf das nahe Ende des Sprunges hingewiesen. Deshalb der Kaffee. Beim Austritt selbst verlor das Überantriebsfeld seine Wirkung, da die Duhannezellen am Kiel des kleinen Schiffes die das Feld aufrechterhaltende Energie absorbierten. In diesem Augenblick mußte die Aesclipus zwanzig mit der Plötzlichkeit einer Explosion im normalen Universum auftauchen. Das Raumboot sollte in der näheren Umgebung der Sonne Tallien austreten und sich mittels Systemantrieb auf die solähnliche Sonne zu bewegen. Zweck der Reise war eine Routineüberprüfung der gesundheitlichen Zustände auf Tallien III. Calhoun hatte fünf solcher Planeteninspektionen hinter sich, mit mehreren Wochen Überantrieb zwischen den einzelnen Besuchen. Nach Beendigung seiner Arbeit auf Tallien III würde er geradewegs zum Sektorenhauptquartier des Interstellaren Gesundheitsdienstes eilen, um weitere Befehle in Empfang zu nehmen. Murgatroyd leckte genüßlich an seinem Schälchen, um auch den allerletzten Tropfen des schmackhaften Gesöffs seiner Bestimmung zuzuführen. Dann fragte er hoff133
nungsvoll: »Tschie?« Er wollte mehr. »Ich fürchte«, tadelte Calhoun, »du bist verwöhnt, Murgatroyd. Dein leidenschaftliches Verlangen nach Kaffee beunruhigt mich.« »Tschie!« entrüstete sich der Tormal. »Das Kaffeetrinken ist dir zur Gewohnheit geworden«, legte ihm Calhoun ernsthaft klar. »Du solltest wirklich etwas mehr Zurückhaltung üben. Wenn etwas in deiner Umgebung zu einem normalen Bestandteil des Lebens wird, wird es zur Notwendigkeit. Kaffee sollte ein besonderer Genuß sein und als solcher geschätzt werden. Kaffee ist kein Grundnahrungsmittel, das man täglich dreimal verlangen kann!« Murgatroyd sagte ungeduldig: »Tschie-tschiie!« »Also schön«, gab Calhoun nach, »damit du dich nicht noch mehr aufregst. Deine Schale, bitte!« Murgatroyd reichte das Schälchen. Calhoun nahm es, füllte es und gab es zurück. »Aber sei vorsichtig«, riet er. »Wir landen auf Tallien III. Das ist ein neuer Sektor für uns. Man hat diesen Planeten vernachlässigt. Die letzte Inspektion des Gesundheitsdienstes fand vor mehreren Jahren statt. Es könnte Mißverständnisse geben!« »Tschie!« meinte Murgatroyd desinteressiert und widmete sich ausschließlich seinem Kaffee. Calhoun blickte auf die Uhr und öffnete gerade den Mund, um Murgatroyd einen weiteren Rat zu geben, als eine Tonbandstimme sagte: »Nach Erklingen des Gongs sind es noch fünf Sekunden bis zum Austritt!« Ein monotones Ticken, einem Metronom gleich, setzte ein. Calhoun erhob sich und warf einen Blick auf die Instrumente. Er schaltete die Sichtschirme ein. Im Überan134
trieb waren sie natürlich nutzlos, aber nun sollten sie bereit sein, ihm die Umgebung zu zeigen, sobald er sich wieder im normalen Raum befand. Calhoun räumte das Kaffeegeschirr beiseite. Murgatroyd weigerte sich allerdings heftig, sein Schälchen herzugeben, ehe es nicht spiegelblank ausgeleckt war. Dann lehnte er sich behaglich zurück und putzte seine Schnurrbarthaare. Calhoun setzte sich in den Kontrollsessel und wartete. »Bong!« erdröhnte es aus dem Lautsprecher, und Murgatroyd verschwand unter einem Stuhl. Er klammerte sich mit allen vier Pfoten und seinem pelzigen Schwanz fest. Die Stimme im Lautsprecher sagte: »Austritt in fünf Sekunden … vier … drei, . zwei… eins . « Augenblicklich folgte das Gefühl, als ob sich das Universum von innen nach außen stülpte – und Calhouns Magen versuchte, dem Beispiel zu folgen. Er schluckte, und das Gefühl verschwand. Die Sichtschirme erwachten zum automatischen Leben. Myriaden von Sternen füllten sie. Eine Sonne flammte grell voraus. Mehrere helle Objekte schwebten unweit davon. Das mußten die Planeten dieses Systems sein. Einer zeigte sich als silbrige Sichel. Calhoun überprüfte das Sonnenspektrum. Es war die Sonne von Tallien. Er nahm die hellen Objekte genauer unter die Lupe. Drei davon waren Planeten, eines ein entfernter heller Stern. Die silbrige Sichel war Tallien III, dritter Planet der Sonne und Ziel des Schiffes. Es war ein ausgezeichneter Austritt, den er wohl mehr seinem Glück als dem Computer zu verdanken hatte. Calhoun schwenkte das Raumboot auf den nahen Planeten zu. Er näherte sich der Ekliptik in steilem Winkel, um die Gefahr von Meteortreffern auf ein Minimum herabzusetzen. Dann überprüfte er die Instrumente erneut und machte 135
sich verschiedene Notizen, um die Zeit zu überbrücken. Er überflog die Daten und Angaben ein zweites Mal. Der Planet war vor dreihundert Jahren kolonisiert worden. Die Schwierigkeit hatte darin gelegen, ein für Menschen brauchbares ökologisches System zu entwickeln, da die einheimische Flora und Fauna für den Menschen völlig unverwertbar waren. Zwar konnte hier geschlagenes Holz zu Bauzwecken verwendet werden, aber erst nach einem monatelangen Trocknungsprozeß. Solange es wuchs oder grünte, war es genauso wassergesättigt wie ein Schwamm. Hier hatte es niemals einen Waldbrand gegeben. Nicht einmal Blitzschlag vermochte das schwammige Holz zu entzünden. Vieles andere war ebenso seltsam. Die einheimischen Mikroorganismen stürzten sich nicht auf die Abfallprodukte der eingeführten terrestrischen Spezies. Es war notwendig gewesen, Reinigungsorganismen von anderen Welten einzuführen. Diese und andere Schwierigkeiten begründeten die Tatsache, daß nur einer der fünf Kontinente dieser Welt von Menschen bewohnt war. Der größte Teil der Landoberfläche befand sich immer noch in jungfräulichem Zustand – undurchdringliche Dschungel schwammartiger Flora, die eine hauptsächlich unbekannte, nutzlose Fauna beherbergten. Calhoun las weiter. Bevölkerung … Regierung … Gesundheitsstatistiken … Er ging die Listen durch. Da er immer noch Zeit totzuschlagen hatte, beschloß er, nochmals Kurs und Geschwindigkeit in bezug auf den Planeten zu überprüfen. Dann nahmen er und Murgatroyd eine kräftige Mahlzeit zu sich. Hierauf wartete er, bis das Schiff nahe genug herangekommen war, und rief den Hafen. »Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwan136
zig ruft Hafen!« Seine Stimme wurde automatisch auf Band aufgenommen. »Erbitte Landekoordinaten. Masse: fünfzig Tonnen. Wiederhole: fünfzig Tonnen! Zweck der Landung: planetarische Gesundheitsinspektion.« Er wartete, während das Band den Ruf endlos wiederholte. Eine Stimme unterbrach heftig: »Rufen Raumboot des Gesundheitsdienstes! Stoppen Sie Ihr Signal! Bestätigen Sie keinesfalls den Empfang dieses Rufes! Weitere Instruktionen werden folgen! Aber stoppen Sie Ihren Ruf!« Calhoun blinzelte. Von allen möglichen Antworten auf einen Landeruf, war der Befehl, den Ruf sofort abzubrechen, der unwahrscheinlichste. Trotzdem stellte Calhoun einen Augenblick später die Sendung seines Tonbands ein. Sie brach mitten in einer Silbe ab. Stille. Keine vollkommene, weil das Band mit den Hintergrundgeräuschen die ganze Zeit über lief, wenn sich das Schiff im Raum aufhielt. Ohne dieses Band würde die Stille im Boot der Stille des Grabes gleichen. Die Stimme über Spacephon fuhr fort: »Sie haben Ihre Sendung eingestellt. Gut! Hören Sie uns nun genau zu. Bestätigen Sie auf keinen Fall – ich wiederhole: keinesfalls – den Empfang unseres Rufes und antworten Sie auf keinen Ruf eines anderen. Die Situation ist sehr ernst. Sie dürfen unter gar keinen Umständen den Leuten in die Hände fallen, die im Augenblick das Regierungszentrum besetzt halten. Begeben Sie sich in eine Umlaufbahn. Wir werden versuchen, den Raumhafen zu übernehmen, damit wir Sie herunterholen können. Aber bestätigen Sie diesen Ruf nicht! Und antworten Sie auf keinerlei andere Rufe! Tun Sie es nicht! Tun Sie es nicht!« Ein Klicken kam aus dem Lautsprecher. Calhoun rieb heftig an seiner Nase. Murgatroyd folgte augenblicklich 137
seinem Beispiel. Wie alle Tormals war er bestrebt, menschliche Handlungen zu imitieren. Plötzlich erklang eine zweite Stimme. Ihr Ton war sachlich: »Rufen Raumboot des Gesundheitsdienstes!« sagte die Stimme. »Rufen Raumboot des Gesundheitsdienstes! Raumhafen Tallien III ruft Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig. Für Landung richten Sie sich nach folgenden Koordinaten …« Es folgte eine Reihe von Instruktionen in rein routinemäßigem Tonfall. Die Anordnungen waren präzise und klar. Gewohnheitsmäßig sagte Calhoun: »Empfang bestätigt.« Dann fügte er hinzu: »Augenblick! Ich empfing eben einen Notruf…« Die erste Stimme unterbrach heftig: »Hören Sie auf, Sie Narr! Ich habe Ihnen befohlen, keine anderen Rufe zu beachten. Hören Sie sofort auf zu senden!« Die routinemäßige Stimme sagte kalt: »Notruf, eh? Das sind Paras. Sie sind besser organisiert, als wir dachten. Jawohl, wir haben eine Notlage! Eine verdammte Notlage! Uns kommt es wie die Hölle vor. Doch dies ist der Raumhafen. Wir landen Sie!« »In Ordnung«, erklärte sich Calhoun einverstanden. »Welcher Art ist die Notlage?« »Sie werden sehen …« Das war die routinemäßige Stimme. Die andere schnappte erregt: »Schalten Sie ab!« Die routinemäßige Stimme: »… Sie landen. Es ist nicht…« »Schalten Sie ab, Sie Narr! Hören Sie …« Die beiden Leute sprachen gleichzeitig, konnten einander jedoch nicht hören. Beide vernahmen dafür Calhouns Stimme. 138
»Beachten Sie sie nicht! Es …« »… zu verstehen, aber …« »Schalten Sie ab! Beachten Sie sie , .« »… wenn Sie landen.« Die Stimme aus dem Raumhafen brach ab, und Calhoun drehte die andere leiser. Sie fuhr fort zu brüllen, wenn auch gedämpft. Calhoun lauschte volle fünf Minuten, dann sprach er in sein Spacephon: »Raumboot des Gesundheitsdienstes Aesclipus zwanzig ruft den Raumhafen. ich werde den gegebenen Koordinaten folgend zum ermittelten Zeitpunkt eintreffen. ich schlage vor, daß Sie geeignete Maßnahmen treffen, um, falls notwendig, etwaigen Zwischenfallen bei meiner Landung begegnen zu können. Ende.« Er schwenkte das Schiff herum und näherte sich dem Zielpunkt – einem Punkt im Raum, fünf Planetendurchmesser von Tallien III entfernt, der sich in einem gewissen Winkel zum Zentrum der Sonnen- und Planetenscheibe befand. Er drehte den Lautsprecher leise. Die Miniaturstimme brüllte und drohte in der Stille des Kontrollraums. Calhoun sagte nachdenklich: »Mir gefällt das ganz und gar nicht, Murgatroyd! Eine anonyme Stimme befiehlt uns – und wir sind schließlich Personal des Gesundheitsdienstes –, mit wem wir sprechen sollen und was wir zu tun haben. Unsere Pflicht ist es, solche Befehle einfach zu ignorieren. Aber würdevoll, Murgatroyd! Wir müssen die Würde des Gesundheitsdienstes wahren!« Murgatroyd meinte skeptisch »Tschie?« »Mir gefällt deine Einstellung keineswegs«, tadelte Calhoun, »doch muß ich dir zugestehen, daß du des öfteren recht hast.« Murgatroyd fand ein weiches Plätzchen und ringelte sich bequem zusammen. Er rollte den Schwanz um seine 139
Nase und blinzelte Calhoun zu. Das kleine Schiff eilte weiter. Die Scheibe des Planeten wuchs. Aus der vollen Scheibe wurde ein Halbkreis, dann ein fast ovales Gebilde. Im restlichen Sonnensystem änderte sich nichts Entscheidendes. Kleine, schwere innere Planeten zogen ihre kurzen, engen Bahnen um die Sonne. Weiter außen bewegten sich Gasriesen um vieles bedächtiger auf ihren weiten Umlaufbahnen dahin. Kometen von teleskopischer Größe und Meteoriten eilten durch die Leere; die Sonne Tallien sandte gigantische Flammenmassen in den Raum hinaus, und Schneestürme enormen Ausmaßes tobten in den Methanatmosphären der größeren Gasriesen dieses Systems. Aber der Kosmos im allgemeinen zollte den menschlichen Aktivitäten und gewöhnlich unerwünschten Absichten keine Aufmerksamkeit. Calhoun lauschte stirnrunzelnd der erregten Stimme im Lautsprecher. Plötzlich brach sie ab. Das Raumboot des Gesundheitsdienstes näherte sich dem Planeten, zu dem es Monate zuvor vom Sektorenhauptquartier befohlen worden war. Calhoun beobachtete die näherkommende Welt durch das Elektronenteleskop. Auf der Hemisphäre, die sich unter dem Schiff wegdrehte, bemerkte er eine mittelgroße Stadt, einige Autostraßen und ein paar kleinere menschliche Ansiedlungen. Einen Augenblick später kam die größte Stadt in sein Sichtfeld, und damit das Landegerüst – dieses etwa achthundert Mater hohe, käfiggleiche Gerüst aus Stahlträgern. Es entzog der Ionosphäre alle Energie, die die Bevölkerung des Planeten brauchte und die notwendig war, um den eigentlichen Zweck zu erfüllen: Schiffe zu landen und zu starten. Calhoun vermochte aus dieser Entfernung keinerlei Bewegung festzustellen. Es gab keinen 140
Rauch, weil Elektrizität zu Heizzwecken verwendet wurde, und es gab daher auch keine Kamine. Die Stadt glich einer farbigen Landkarte – bis ins kleinste detailliert, doch ohne Bewegung. Die Stimme aus dem Raumhafen drang in sein Bewußtsein: »Rufen Raumschiff des Gesundheitsdienstes. Gerüst bereit zur Kontrollübernahme!« »Gut, ich bin soweit.« Calhoun drehte den Empfänger lauter. Die Stimme vom Hafen sagte besorgt. »Sie bleiben besser an den Kontrollen. Wenn hier unten irgend etwas Unerwartetes eintreten sollte, könnte rasches Handeln Ihrerseits erforderlich sein.« Calhoun zog die Augenbrauen hoch. Er sagte: »Alles bereit!« Er fühlte die sanften, tastenden Bewegungen, als die Kraftfelder des Landegerüstes nach dem Schiff griffen und es in Position brachten. Dann kam der Augenblick, in dem das Gerüst das Schiff mit festem Griff faßte und nach unten zog. Langsam zuerst, dann mit zunehmender Geschwindigkeit. Nichts war ungewöhnlich. Die Form der Kontinente unter ihm war fremdartig. Die Stimme vom Boden sagte sachlich: »Wir glauben, daß alles in Ordnung ist, aber man weiß das nie so genau bei diesen Paras. Letzte Woche verschwanden einige Wetterraketen. Möglicherweise ist es ihnen gelungen, Sprengköpfe zu montieren. Es könnte sein, daß sie das Gerüst anzugreifen versuchen – oder Sie!« Calhoun fragte: »Was sind Paras?« »Man wird Sie über alles informieren, sobald Sie ge141
landet sind«, versicherte die Stimme. Das Raumboot Aesclipus zwanzig glitt immer weiter auf die Oberfläche des Planeten zu. Das Gerüst hatte das Schiff in einer Höhe von ungefähr fünfundsechzigtausend Kilometer in seine Energiefelder gebettet. Endlose Zeit schien zu verstreichen, ehe das Boot vierzigtausend Kilometer Höhe erreichte. Und eine neue Ewigkeit, bis zwanzig-, zehn-, fünf-, eintausend und schließlich fünfhundert Kilometer Höhe erreicht waren. Als das Boot sich noch etwa hundert Kilometer vom Boden entfernt befand, meldete sich die Stimme wieder. »Die letzten hundert Kilometer sind der heikle Teil, und die letzten fünf werden die schlimmsten sein. Wenn etwas geschieht, dann zu diesem Zeitpunkt.« Calhoun blickte angestrengt durch das Elektronenteleskop. Bei stärkster Vergrößerung vermochte er nun einzelne Gebäude auszumachen. Auf den Autobahnen bemerkte er Bodenfahrzeuge, winzigen Punkten gleich. In siebzig Kilometer Höhe verringerte er die Vergrößerung, um einen weiten Blickwinkel zu bekommen. Dasselbe tat er erneut bei fünfzig Kilometer, dreißig und zehn. Dann sah er das erste Zeichen von Bewegung. Es war ein wachsender, weißer Faden, der nur Rauch sein konnte. Sein Ursprung lag weit außerhalb der Stadt. Er kurvte und kam offensichtlich auf das abwärtsgleitende Raumboot zu. Calhoun sagte knapp: »Die Rakete ist auf dem Weg. Sie kommt auf mich zu.« Einen Augenblick später die Stimme vom Boden: »Wir haben sie gesichtet. ich gebe Ihnen volle Bewegungsfreiheit, falls Sie davon Gebrauch machen wollen.« Das Schiff sank nicht länger. Die Kraftfelder des Gerüstes hielten es auf gleicher Hohe, doch konnte Calhoun 142
jederzeit ein Ausweichmanöver starten. Dafür waren seine Notraketen vorgesehen. Ein zweiter Rauchfaden schoß aufwärts. Dann folgten weitere weiße Linien, die ihren Ursprung nahe am Landegerüst hatten. Sie eilten hinter ihren Vorgängern her. Die allerersten Raketen schienen auszuweichen, weitere starteten. Die aufsteigenden Raketen und ihre Verfolger formten ein kompliziertes Muster von Rauchbahnen, das durch die Ausweichmanöver noch verwirrender wurde. Calhoun klammerte sich an die Hoffnung, daß sie höchstwahrscheinlich keine Atomsprengköpfe trugen. Die letzten planetarischen Kriege waren mit Atomwaffen ausgefochten worden, und nur die Mannschaften von ein paar Schiffen hatten überlebt. Die planetarische Bevölkerung nicht! Doch wurde die Atomenergie in diesen Tagen kaum noch verwendet, da man alle Energie für den Bedarf des Planeten aus den oberen, ionisierten Schichten der Atmosphäre gewann. Eine Verfolgerrakete erreichte ihr Ziel. Ein riesiger Rauchball entstand, von einem grellen Blitz begleitet, der aber nicht heller als die Sonne war. Es handelte sich also nicht um eine atomare Explosion. Calhoun atmete erleichtert auf. Er beobachtete die Verfolgerraketen, die jede einzelne der zuerst aufgestiegenen Raketen vernichteten. Die letzte schaffte sogar noch drei Viertel des Weges bis zum Ziel. Das Raumboot schwankte ein wenig, als die Kraftfelder Zugriffen. Einige Gestalten eilten Calhoun entgegen, als er mit Murgatroyd in der Schleuse erschien. Ein paar waren uniformiert. Auf allen Gesichtern lag der Ausdruck, den Männer haben, die lange Zeit der Ruhe entbehrt und unter dauernder Anspannung gestanden hatten. Der Mann, der das Landegerüst bedient hatte, schüttel143
te ihm als erster die Hand. »Gut gegangen! Vielleicht ist es unser Glück, daß Sie gekommen sind. Wir Normale können jetzt etwas Glück gebrauchen!« Er stellte einen Mann in Zivilkleidung als den planetarischen Gesundheitsminister vor. Ein Mann in Uniform war Oberhaupt der planetarischen Polizei. Ein weiterer … »Wir haben nach Empfang Ihres Rufes sehr rasch gearbeitet!« sagte der Gerüsttechniker. »Alles ist für Sie bereit. Aber die Lage sieht nicht gut aus.« »Ich habe mich allerdings gewundert«, meinte Calhoun trocken. »Begrüßt man hier alle ankommenden Schiffe mit Raketen?« »Das sind die Paras«, brummte der Polizeichef. »Sie sind auf die Anwesenheit eines Mannes vom Gesundheitsdienst nicht sehr erpicht.« Ein Fahrzeug kam quer über den Raumhafen. Es raste geradewegs auf die Gruppe neben dem Raumboot zu. Am Tor zum Raumhafen heulte plötzlich eine Sirene auf. Ein zweites Fahrzeug eilte dem ersten nach. Die Sirene heulte erneut. Helle Punkte wurden nahe am Fenster des ersten Wagens sichtbar, Schüsse dröhnten. Ungläubig beobachtete Calhoun, wie die blauweißen Punkte der Geschosse auf ihn zurasten. Die Männer um ihn griffen zu den Waffen, Der Gerüsttechniker sagte scharf: »Schnell! Gehen Sie ins Schiff zurück! Wir erledigen das! Es sind Paras!« Aber Calhoun rührte sich nicht. Sein Instinkt warnte ihn davor, Angst zu zeigen. Tatsächlich fühlte er auch keine. Dies war zu grotesk! Er versuchte verzweifelt, die Sachlage zu erfassen – und dabei ist Furchtsamkeit kein guter Helfer. Ein Geschoß schlug dicht neben ihm in die Hülle des 144
Raumboots. Um ihn erwachten die Waffen zu geiferndem Leben. Ein weiteres Geschoß explodierte vor seinen Füßen. Im angreifenden Wagen befanden sich zwei Männer. Nun, da das zweite Fahrzeug aufholte, feuerte der eine, und der andere versuchte gleichzeitig zu feuern und zu lenken. Der verfolgende Wagen sandte eine Serie von Geschossen in ihre Richtung. Aber beide Fahrzeuge schwankten und hielten keinen geraden Kurs. Ein genaues Zielen war unter diesen Umständen nicht möglich. Doch ein Geschoß traf. Der Zweimannwagen legte sich plötzlich auf eine Seite, und sein Vorderteil berührte den Boden. Das hintere Ende drehte sich halb herum und kam hoch. Die beiden Männer wurden ins Freie geschleudert. Der Wagen überschlug sich einige Male und blieb dann mit den Rädern nach oben liegen. Einer der beiden Insassen lag reglos da. Der andere kam hoch und begann auf Calhoun zuzulaufen. Er feuerte verzweifelt… Geschosse aus dem Verfolgerwagen schlugen rund um den Mann ein. Dann traf ihn eines. Der Mann fiel. Calhoun ballte die Fäuste. Automatisch bewegte er sich auf die zweite, reglose Gestalt zu, um seinen Pflichten als Arzt nachzukommen. Der Gerüsttechniker hielt ihn am Arm zurück. Als Calhoun sich losreißen wollte, bewegte sich der Mann. Seine Waffe kam hoch und bellte auf. Das Geschoß streifte Calhoun an der Seite und verbrannte die Uniform bis auf die Haut. Augenblicklich antworteten die Waffen der Männer um ihn. Der zweite Mann starb. »Sind Sie verrückt?« fragte der Gerüsttechniker aufgebracht. »Er war ein Para! Er ist hergekommen, um Sie umzubringen!« Das Polizeioberhaupt gab kurze Befehle. »Besprüht den Wagen! Seht im Innern nach, ob Geräte zur Verbrei145
tung der Ansteckung verborgen sind! Besprüht alles, was sie berührt haben! Und beeilt euch!« Stille herrschte ringsum. Eine Gruppe von Männern kam aus dem Kontrollgebäude und schob einen Tank auf Rädern vor sich her. Am Wagen angelangt, richteten sie die Schlauchöffnung darauf, und eine dicke, nebelartige Wolke breitete sich über alles aus. Das Sprühmittel hatte den beißenden Geruch von Phenol. »Was geht hier vor?« fragte Calhoun erregt und verärgert. Der Minister für öffentliche Gesundheit sagte verzweifelt: »Wir sind in eine Notlage geraten, der wir nicht Herr zu werden vermögen. Es sieht aus wie eine Seuche – deren Ursache wir nicht kennen. Aber die Seuche ist einer dämonischen Besessenheit nicht unähnlich.« »Ich möchte eine Definition«, verlangte Calhoun. »Was verstehen Sie unter einem Para?« Murgatroyd imitierte seinen Tonfall mit einem unwilligen »Tschie-tschie!« Das war zwanzig Minuten später. Calhoun war in das Raumboot zurückgeeilt, um seine Verbrennung zu verarzten. Er hatte die beschädigte Uniform abgelegt und Zivilkleider angezogen. Das würde hier kaum exzentrisch wirken. Die normale Kleidung des Mannes war fast in allen Teilen der Galaxis von extremer Gleichartigkeit. Frauenkleidung dagegen war ein anderes Kapitel. Nun saßen er und Murgatroyd in einem Bodenfahrzeug, zusammen mit vier bewaffneten Männern der planetarischen Polizei und einem Mann, der Calhoun als Gesundheitsminister des Planeten vorgestellt worden war. Der Wagen eilte auf das Tor des Raumhafens zu. 146
Der dicke, graue Nebel hing immer noch über dem verunglückten Wagen und den beiden erfolglosen Meuchelmördern. Calhoun besaß einige Erfahrung mit Seuchen und den Notmaßnahmen zur Verhinderung von Ansteckung. Er hatte mehr Vertrauen in die primitive, reinigende Wirkung des Feuers. Es erfüllte seinen Zweck, gleichgültig, wie alt der Prozeß der Verbrennung sein mochte. Aber die meisten Menschen kannten eine Flamme nur noch von physikalischen Versuchen aus der Schulzeit her, wo man vielleicht die Verbrennung als auffallend rasche Oxydation dargestellt hatte. Heute verwendete man die Elektrizität für Heiz- und Beleuchtungszwecke ebenso wie zum Betrieb von Motoren. Die Menschheit war dem Zeitalter des Feuers entwachsen. Daher war es auch hier, auf Tallien III, unvermeidlich, infektiöses Material mit antiseptischen Mitteln zu besprühen, anstatt es einfach anzuzünden. »Was«, wiederholte Calhoun, »ist ein Para?« Der Minister für öffentliche Gesundheit antwortete unglücklich: »Paras sind Wesen, die einst normale Menschen waren. Sie sind es nicht mehr. Vielleicht kann man sie nicht einmal mehr als Menschen bezeichnen. Etwas ist mit ihnen geschehen. – Wären Sie ein paar Tage später gekommen, hätten Sie vielleicht nicht einmal mehr landen können. Wir – die Normalen – hatten vor, das Landegerüst in die Luft zu sprengen. So hätte kein Schiff landen und wieder starten und damit die Seuche auf andere Welten übertragen können. Wenn es eine Seuche ist, heißt das.« »Das Landegerüst vernichten«, sagte Calhoun, »ist eine letzte verzweifelte Möglichkeit. Aber sicherlich gibt es andere Mittel und Wege, die man vorher versuchen könnte!« Dann verstummte er. Das Fahrzeug erreichte das Tor 147
des Raumhafens, an dem drei weitere Bodenfahrzeuge warteten. Eines nahm die Position vor ihnen ein. Die beiden anderen schlossen sich hinten an. Der Konvoi von vier Wagen setzte sich in Bewegung. Die Wagen waren schwer bewaffnet, und bewegten sich die breite Autobahn entlang, die hier am Raumhafen ihren Anfang nahm und, eine große Ebene geradlinig durchschneidend, zu einer Stadt führte, deren Gebäude sich vom Horizont abhoben. Die Fahrzeuge bildeten einen Geleitschutz für Calhoun. Er hatte zuvor eines Schutzes bedurft, und möglicherweise war das jetzt wieder der Fall. »Medizinisch gesehen«, sagte er zum Minister für öffentliche Gesundheit, »kann ich also den Para als das Opfer eines Zustandes betrachten, der ihn zu abnormalen Handlungen veranlaßt. Das ist ziemlich nebulös. Sie sagen, daß Sie die Sache nicht von Anfang an kontrollieren konnten. Das läßt natürlich alles sehr im dunkeln. Wie ist die Verbreitung? Geographisch, meine ich?« »Paras sind überall auf Tallien III aufgetaucht, wo es Menschen gibt«, antwortete der Minister. »Seuchenartig also«, stellte Calhoun in berufsmäßigem Ton fest. »Und die Häufigkeit?« »Wir schätzen, daß im Augenblick etwa dreißig Prozent der Bevölkerung betroffen sind«, erklärte der Minister deprimiert. »Aber jeden Tag wächst diese Zahl.« Er schwieg einen Moment und setzte dann hinzu: »Dr. Lett setzt einige Hoffnung in ein Serum; aber für die meisten wird auch das bereits zu spät sein.« Calhoun runzelte die Stirn. Mit vernünftigen, modernen medizinischen Hilfsmitteln sollte es doch möglich sein, fast jeder Art von Infektion Einhalt zu gebieten, noch ehe die Zahl der Krankheitsfälle derartige Ausmaße 148
annahm! »Wann hat es begonnen? Wie lange geht das schon so?« »Die ersten Paras wurden vor sechs Monaten untersucht«, berichtete der Minister. »Man hielt es für eine Krankheit. Unsere besten Ärzte nahmen sich ihrer an. Sie fanden keine Ursache – keinen Keim oder Virus …« »Symptome?« fragte Calhoun stirnrunzelnd. »Dr. Lett faßte sie in medizinische Termini«, fuhr der Minister fort. »Der Zustand beginnt mit einer Periode großer Reizbarkeit und Depression. Die Depression nimmt so überhand, daß sie ihre Opfer oftmals zum Selbstmord treibt. Tritt dies nicht ein, so folgt eine Periode von Mißtrauen und Geheimniskrämerei – stark an Paranoia erinnernd. Gleichzeitig setzt ein abnormales Verlangen nach ungewöhnlichen Nahrungsmitteln ein. Wird es unkontrollierbar, so ist der Patient wahnsinnig!« Die Fahrzeuge rasten auf die Stadt zu. Eine zweite Gruppe von wartenden Wagen tauchte auf. Als die Vierwagenkolonne an ihr vorbeieilte, reihten sich die Wartenden ein. Sie war nun zu einer respektablen Kampfgruppe angewachsen. »Und nach dem Irrsinn?« fragte Calhoun. »Dann sind sie Paras!« erwiderte der Minister. »Sie verlangen nach Unglaublichem. Sie nähren sich von Abscheulichem. Und sie hassen uns Normale wie die Pest!« »Und danach?« bohrte Calhoun weiter. »Ich meine, wie ist die Prognose? Sterben sie daran oder erholen sie sich wieder? Wenn sie sich erholen, wie lange dauert es? Wenn sie sterben, wie bald?« »Sie sind Paras!« antwortete der Gesundheitsminister mit einem hilflosen Achselzucken. »Ich bin kein Arzt! Ich bin Verwaltungsbeamter. Aber ich glaube nicht, daß 149
sie sich erholen. Und sicherlich sterben auch keine daran! Sie bleiben, was sie geworden sind!« »Meine Erfahrungen«, meinte Calhoun, »beschränken sich hauptsächlich auf Krankheiten, an denen man entweder stirbt oder von denen man sich wieder erholt. Eine Krankheit, deren Opfer sich zusammentun, um Wetterraketen zu stehlen und damit ein Schiff zu zerstören – Gott sei Dank ist es ihnen nicht gelungen – und gleich darauf ein Attentat versuchen, ist mir noch nicht untergekommen. Es klingt einfach nicht nach einer Krankheit. Eine Krankheit folgt keiner Absicht. Aber sie hatten eine Absicht – als ob sie einem aus ihrer Mitte gehorchten.« Der Gesundheitsminister sagte unsicher: »Man nimmt an, daß etwas aus dem Dschungel die Ursache ist. Auf anderen Planeten gibt es Wesen, die Blut aus ihren Opfern saugen, ohne diese aufzuwecken. Menschen werden von Reptilien gebissen. Es gibt sogar Insekten, die den Menschen stechen und damit eine Krankheit übertragen. So etwas Ähnliches scheint aus dem Dschungel gekommen zu sein. Während die Leute schlafen, geht etwas mit ihnen vor. Sie werden zu Paras! Etwas von dieser Welt muß dafür verantwortlich sein. Der Planet hat uns nicht willkommen geheißen. Weder eingeborene Tiere noch Pflanzen sind für uns in irgendeiner Weise brauchbar! Wir mußten Bodenbakterien einführen, um irdische Gewächse anbauen zu können! Wir wissen nichts vom tausendfältigen Leben, das der Dschungel birgt! Wenn etwas daraus hervorkriecht und die Menschen zu Paras macht…« Calhoun meinte sanft: »Man sollte denken, daß man solche Dinge entdecken könnte.« Der Minister sagte verbittert: »Nicht dies! Es muß intelligent sein! Es verbirgt sich! 150
Es handelt nach einem Plan, um uns alle zu vernichten! Ja – es gab einen, einen jungen Arzt, der behauptete, er hätte einen Para geheilt! Aber als wir zur Stelle eilten, um uns von der Tatsache zu überzeugen, fanden wir ihn und den Para tot vor. Etwas aus dem Dschungel hatte sie getötet! Sie denken! Sie wissen! Sie verstehen! Sie sind vernunftbegabt und wie die Teufel…« Eine dritte Gruppe von Bodenfahrzeugen wartete auf die Kolonne. Auch diese Wagen waren voll bewaffneter Männer. Sie schlossen sich der Prozession an. Offensichtlich hatte man die Autobahn eines möglichen Hinterhalts wegen abpatrouilliert. Die vergrößerte Kampfgruppe rollte auf die Stadt zu. »Als Arzt«, sagte Calhoun, »bezweifle ich die Existenz von lokalen, nichtmenschlichen, vernunftbegabten Wesen. Jedes Wesen entwickelt sich im Sinne seiner Umgebung und paßt sich an. Es wandelt sich, um einen ganz bestimmten Platz des ökologischen Systems einzunehmen. Gibt es diesen Platz nicht, ist für ein spezielles Wesen in einer Umgebung kein Platz vorhanden, so existiert dieses Wesen auch nicht. Und in keiner Umgebung ist Raum für ein Wesen, das die Umgebung verändert. Das wäre ein Widerspruch in den Begriffen! Wir Menschen verändern zwar die Welten, die wir besiedeln, und jedes vernunftbegabte Wesen wird das tun. Aber ein vernunftbegabtes Tier ist unmöglich, und zwar so unmöglich, wie ein Wesen gar nicht sein kann.« »Tschie!« meinte Murgatroyd zustimmend. Die Türme der Stadt wuchsen stetig am Horizont. Dann erreichte die Kolonne den Rand der Stadt und bewegte sich ins Innere. Das war keine normale Stadt. Die Gebäude waren keineswegs exzentrisch. Auf allen, außer den ganz neu ko151
lonisierten Welten findet man lokale architektonische Besonderheiten. Es war keineswegs seltsam, daß dreifache Bögen die Fenster überdachten oder nutzlose Pilaster sich an den Ziegelmauern von Wohnhäusern befanden. Das hätte der Stadt nur ein individuelles Gepräge gegeben. Aber dies wirkte nicht normal. Die Straßen waren verschmutzt, die überwiegende Anzahl der Fenster zerbrochen. Calhoun sah beschädigte und zerstörte Eingänge und Tore, die man nicht mehr repariert hatte. Alles zeugte von Gewalttätigkeit. Die Straßen waren fast leer. Gelegentlich sah man Gestalten auf den Gehsteigen, aber sie verschwanden schnell in Eingängen oder Seitenstraßen, ehe die Wagenkolonne sie einholen konnte. Die Gebäude wurden größer. Die Straßen blieben auch weiterhin menschenleer, aber immer häufiger erschienen viele Stockwerke hoch Gesichter in den Fenstern. Dann erklangen Rufe von oben. Es war nicht feststellbar, ob es sich um herausfordernde, spottende oder verzweifelte Rufe handelte. Aber sie richteten sich an die vorbeifahrenden Fahrzeuge. Calhoun beobachtete die Gesichter um ihn. Der Minister blickte gleichzeitig erschüttert und verbittert. Das Oberhaupt der planetarischen Polizei starrte grimmig auf die Straße vor ihm. Brüllen und Schreien hallte von den Gebäuden wider. Dann kamen Gegenstände aus den Fenstern geflogen. Flaschen, Töpfe, Pfannen! Stühle und schwere Möbelstücke zerschellten auf dem Pflaster. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, prasselte herab. Gleichzeitig erklangen Flüche. Es kam Calhoun in den Sinn, daß es eine Zeit gegeben hatte, wo der Mob sich mit Brandstiftungen abreagiert hatte. Die Menschen brannten nieder, was sie haßten und 152
fürchteten. Sie verbrannten auch Opfergaben, die sie verschiedenen blutdürstigen Gottheiten darboten. Glücklicherweise, dachte Calhoun keineswegs erleichtert, war hier das Feuer nicht mehr in Gebrauch. Sonst wären sicher brennendes öl und flammende Geschosse auf die Fahrzeuge heruntergeregnet. »Erfreuen Sie sich dieser Unpopularität allein«, erkundigte er sich, »oder habe ich daran Anteil? Bin ich einigen Teilen der Bevölkerung unwillkommen?« »Sie sind den Paras unwillkommen«, sagte das Polizeioberhaupt kalt. »Sie wollen Sie nicht hierhaben. Wer oder was auch immer die Paras besessen macht, hat Angst, daß der Gesundheitsdienst etwas tun könnte, um diesen irren Zustand zu beenden. Sie wollen eben so bleiben, wie sie sind.« Er befeuchtete sich die Lippen. »Doch sind nicht sie es, die diesen Aufruhr verursachen. Wir brachten alle, von denen wir sicher glaubten, sie seien nicht infiziert, in das Regierungszentrum. Diese Leute hier blieben ausgeschlossen. Bei ihnen konnten wir nicht sicher sein. Nun nehmen sie an, wir hätten sie draußen gelassen, damit sie Paras würden – und das gefällt Ihnen nicht!« Calhoun runzelte erneut die Stirn. Man sprach von Infektion und gleichzeitig von geheimnisvollen, unbekannten Wesen, die aus dem Dschungel kamen und die Menschen in Paras verwandelten. Diese Wesen sollten eine Kontrolle über die Paras ausüben, die einer dämonischen Besessenheit glich. Es gab jedoch nur wenig menschliche Eigentümlichkeiten, die nicht in den Akten des Gesundheitsdienstes zu finden waren. Calhoun erinnerte sich an etwas Bestimmtes und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Das, woran er dachte, konnte man ebenfalls eine Infektion und eine Teufelsbesessenheit nennen. Jedenfalls war153
en die dafür verantwortlichen Wesen Teufeln nicht unähnlich gewesen. »Vielleicht ist es am besten, wenn ich mit den Forschern spreche. Sie haben doch Männer, die sich mit dem Problem beschäftigen?« »Wir hatten«, sagte das Polizeioberhaupt grimmig. »Aber die meisten wurden Paras. Wir dachten, daß diese Paras besonders gefährlich seien und haben sie erschossen. Aber das half auch nichts. Es tauchen jedenfalls im Regierungszentrum immer wieder neue Paras auf. Jetzt schicken wir sie durch das Südtor.« Eine Weile herrschte Schweigen in den Häusern, dann erklang ein plötzliches Triumphgeschrei. Ein schweres Möbelstück, eine Couch, schien mit größter Sicherheit das Fahrzeug zu treffen, in dem Calhoun saß. Aber der Wagen machte einen scharfen Bogen und raste auf den Gehsteig, während die Couch genau dort zersplitterte, wo das Auto noch vor einem Augenblick gewesen war. Der Wagen rollte mit gefährlicher Seitenlage wieder auf die Straße hinab und raste weiter. Die Straße endete. Eine hohe Barriere aus Mauerwerk erhob sich über die ganze Breite der Straße. In der Mitte befand sich ein Tor. Die führenden Fahrzeuge scherten aus und hielten zu beiden Seiten. Dasjenige, in dem Calhoun und Murgatroyd saßen, fuhr durch. Eine zweite Mauer kam in ihr Blickfeld, aber ihr Tor war verschlossen. Die übrigen Fahrzeuge folgten. Calhoun bemerkte, daß die Fenster der umliegenden Häuser zugemauert waren. Sie bildeten einen vielstöckigen Wall, der alles ausschloß, was dahinter lag. Einige Männer aus dem Innern der Barriere gingen von Wagen zu Wagen, um die Insassen zu überprüfen. Der Gesundheitsminister sagte verkrampft: 154
»Jeder im Regierungszentrum wird mindestens einmal am Tag überprüft. Wer befallen ist, verläßt das Zentrum durch das Südtor. Jedermann, ich eingeschlossen, muß alle vierundzwanzig Stunden einen neuerlichen Nachweis für seine Gesundheit erbringen.« Das innere Tor schwang auf. Das Fahrzeug mit Calhoun fuhr durch. Die Gebäude ringsum endeten. Sie befanden sich auf einem weiten, offenen Platz, der einst ein Park im Zentrum der Stadt gewesen sein mußte. Da standen Bauwerke, die kaum etwas anderes als Regierungsgebäude sein konnten. Aber die Bevölkerung dieser Welt war klein. Die Bauwerke waren daher nicht prunkhaft. Dicht zusammengedrängt standen einige Gebäude, die man hastig und ohne Augenmerk auf das Äußere errichtet hatte, um einer größeren Menge von Menschen schnellstens Unterkunft gewähren zu können. Und hier gab es endlich viele Menschen. Die Sonne schien hell, Kinder spielten, und Frauen paßten auf sie auf. Man sah auch ein paar Männer, aber die meisten waren ältlich. Alle jungen Männer trugen Uniformen und eilten hastig durch die Notniederlassung. Und obwohl die Kinder fröhlich spielten, sah man kaum ein Lächeln auf den Gesichtern der Erwachsenen. »Ich nehme an«, sagte Calhoun, »das ist das Regierungszentrum. Hierher brachten Sie also alle jene, von denen Sie mit Bestimmtheit annehmen konnten, daß sie noch normal waren. Aber sie bleiben nicht normal. Und Sie nehmen an, daß es sich nicht unbedingt um eine Infektion handeln muß, sondern daß irgend etwas Unerklärliches auf sie einwirkt.« »Einige unserer Ärzte nahmen es an«, meinte der Minister für planetarische Gesundheit. »Aber aus ihnen sind inzwischen Paras geworden. Vielleicht hat dieses Etwas 155
sich ihrer bemächtigt, gerade weil sie der Wahrheit so nahe gekommen sind.« Sein Kopf sank auf seine Brust. Das Polizeioberhaupt sagte kurz: »Wenn Sie zum Schiff zurück wollen, dann zögern Sie nicht, es uns zu sagen. Wir bringen Sie selbstverständlich zurück. Wenn Sie schon nichts für uns tun können, so sind Sie wenigstens in der Lage, andere Planeten davor zu warnen, ihre Schiffe hierherzusenden.« Das Fahrzeug hielt vor einem jener quadratischen, schmucklosen Gebäude, die überall in der Galaxis Laboratorien beherbergen. Der Minister stieg aus. Calhoun folgte ihm mit Murgatroyd auf der Schulter. Das Fahrzeug entfernt sich, und Calhoun betrat das Gebäude. Neben dem Eingang stand ein Polizeiposten. Er überprüfte das nur für einen Tag gültige Gesundheitszeugnis des Ministers. Nach mehreren Visiphongesprächen ließ er Calhoun und Murgatroyd passieren. Schon kurz darauf gelangten sie zu einem zweiten Posten. Ein wenig später zu einem dritten. »Hier schlüpft keine Maus durch«, meinte Calhoun. »Sie kennen mich«, sagte der Minister dumpf. »Dennoch überprüfen sie die tägliche Bestätigung meiner Normalität.« »Ich habe schon die verschiedensten Quarantänen gesehen«, brummte Calhoun, »aber nie eine wie diese! Wenigstens nicht gegen eine Krankheit!« »Sie ist nicht gegen eine Krankheit«, antwortete der Minister mit dünner Stimme. »Sie ist gegen etwas Intelligentes aus dem Dschungel, das aus für uns unerklärlichen Gründen grausam unter uns wütet.« Calhoun meinte nachdenklich: »Abgesehen von dem Dschungel will ich Ihnen nicht widersprechen.« Der Minister klopfte an eine Tür und schob Calhoun 156
durch. Sie betraten einen großen Raum, der ein Gewirr von Kameras, Tischen, Beobachtungs- und Aufnahmegeräten beherbergte, die dem Studium von lebenden Organismen dienten. Die Anlagen zum Studium von toten Objekten unterscheiden sich von so einem Labor grundlegend. Ungefähr in der Mitte teilte eine massive Glasscheibe das Zimmer in zwei Hälften. Am anderen Ende befand sich eine Antiseptikkammer, die man jetzt zur Isolation verwendete. Ein Mann lief unruhig hinter dem Glas auf und ab. Calhoun wußte, daß dies ein Para war, weil er von der übrigen Welt vollkommen abgeschlossen wurde. Die Luft, die man ihm zuführte, ließ sich auf extreme Temperaturen erhitzen und wieder abkühlen, bevor sie in das Innere der Kammer gelangte. Die abgeführte Luft konnte ebenfalls erhitzt und gereinigt werden, so daß keinerlei Keime oder Sporen ins Freie zu gelangen vermochten. Abfallstoffe wurden nach unzähligen Sterilisationsprozessen durch einen Kohlenstoffbogen geleitet und vernichtet. In solchen Kammern hatte man früher aus Samen in antiseptischen Bädern Pflanzen gezüchtet und Küken aus keimfreien Eiern ausgebrütet. Mit Hilfe solcher Zellen hatte der Mensch erfahren, daß einige Bakterienarten außerhalb des Körpers für die menschliche Gesundheit notwendig waren. Aber der Mann in der Kammer hatte sich nicht, wie sonst üblich, freiwillig für solche Versuche zur Verfügung gestellt. Er schritt nun etwas langsamer auf und ab, und seine Finger zuckten konvulsivisch. Als Calhoun und der Gesundheitsminister eintraten, starrte er ihnen entgegen. Er fluchte – unhörbar, da die dicke Glaswand jeden Ton vollkommen verschluckte. Er haßte sie abgrundtief, weil sie nicht so waren wie er; weil sie nicht in einem Glaskä157
fig sitzen mußten, durch dessen Wände man jede Bewegung zu beobachten vermochte. Aber der Haß war nicht das Seltsamste. Mitten in diesem Wutanfall, der so heftig war, daß sein Gesicht dunkelrot anlief, begann er plötzlich unkontrolliert zu gähnen. Calhoun blinzelte und starrte. Der Mann hinter der Glaswand gähnte wieder. Er vermochte es nicht zu unterdrücken. Die Muskeln, die für das Gähnen verantwortlich waren, arbeiteten unabhängig von der Wut, die ein Gähnen hätte unmöglich machen müssen. Er zitterte vor Wut und Scham und gähnte dabei heftiger, als es überhaupt möglich schien. »Es hat sich schon jemand durch starkes Gähnen den Kiefer ausgerenkt«, meinte Calhoun abwesend. Eine sanfte Stimme hinter ihm erklang: »Aber wenn sich dieser Mann den Kiefer ausrenkt, kann ihm niemand helfen. Er ist ein Para. Wir dürfen nicht zu ihm.« Calhoun fuhr herum und begegnete dem Blick eines Mannes in Uniform, der statt der sonst üblichen Kontaktlinsen eine Brille trug. Ein Mann mußte schon sehr schlechte Augen haben, wenn Kontaktlinsen nicht mehr genügten. Er wirkte plump und feist und schien der einzige auf diesem Planeten zu sein, in dessen Ausdruck und Gebaren weder Verzweiflung noch übersteigerte Gefühle wie Haß und Wut zu finden waren. »Sie sind vom Gesundheitsamt«, strahlte er. »Vom Interstellaren Gesundheitsamt, an das man mit allen Problemen der öffentlichen Gesundheit herantreten sollte. Aber hier haben wir ein wirkliches Problem für Sie! Eine ansteckende Verrücktheit! Ein übertragbarer Wahn! Eine Epidemie des Irrsinns! Eine Seuche des Unaussprechlichen!« Der Minister sagte unsicher: »Das ist Dr. Lett. Er war der berühmteste unserer Ärzte. Nun ist er beinahe der 158
letzte.« »Zugegeben«, fuhr der Arzt mit dem gleichen Behagen fort wie zuvor. »Aber nun schickt der Interstellare Gesundheitsdienst jemanden, vor dem ich mein Haupt neigen sollte. Jemanden, dessen Wissen und Erfahrung so unendlich viel größer sind, daß ich Scham empfinden muß! Ich bin verschüchtert! Kaum wage ich es, einem Mann vom Interstellaren Gesundheitsdienst meine Meinung anzubieten!« Es war für einen hervorragenden Arzt nicht ungewöhnlich, die Existenz eines überlegenen Könnens und Wissens übelzunehmen. Aber dieser Mann tat nicht nur das. Er höhnte sogar. »Ich bin gekommen«, versuchte Calhoun höflich zu erklären, »um den üblichen Routinebesuch abzustatten. Erst hier erfuhr ich, daß eine ernste gesundheitliche Notlage herrscht. Ich möchte Ihnen alle Hilfe anbieten, die im Bereich meiner Möglichkeiten liegt.« »Ernst!« Dr. Lett lachte verächtlich. »Die Lage ist hoffnungslos – für arme planetarische Ärzte, wie ich einer bin. Aber natürlich für einen Mann vom Interstellaren Gesundheitsdienst!« Calhoun schüttelte den Kopf. Dieser Mann würde nicht leicht zu behandeln sein. Feingefühl war hier notwendig. Doch die Situation war viel zu ernst, um Taktgefühle zu kultivieren. »Ich habe eine Frage«, sagte Calhoun. »Man berichtete mir, die Paras wären Wahnsinnige. Man erwähnte auch Mißtrauen und Geheimniskrämerei, was an Schizoparanoia denken läßt. Ist der Ausdruck ›Para‹ für die Befallenen von diesem Begriff abgeleitet?« »Es handelt sich um keinerlei Form von Paranoia«, 159
wies der Arzt verächtlich von sich. »Paranoia ist Mißtrauen gegenüber jedermann. Paras mißtrauen nur den Normalen. Paranoia ruft ein Gefühl der Überlegenheit hervor, das mit keinem geteilt wird. Paras sind Freunde und Kameraden untereinander. Sie arbeiten rückhaltslos zusammen, wenn es gilt, Normale ihrem Status anzugleichen. Ein Paranoiker wird keinen zweiten an seiner Überlegenheit Anteil nehmen lassen!« Calhoun erwog das und stimmte zu. »Jetzt, da Sie darauf hinweisen, sehe ich ein, daß es so sein muß. Aber eine Frage bleibt noch offen. Wahnsinn bedingt Täuschungen und Wahnvorstellungen. Doch Paras organisieren sich. Sie planen und setzen ihre Pläne in die Tat um. Sie handeln vernunftgemäß in allem, worin sie übereinstimmen – zum Beispiel im Falle des Anschlages auf mich! Aber wie können sie vernunftmäßig handeln, wenn sie Wahnvorstellungen ausgesetzt sind? Was für eine Art von Vorstellungen haben sie?« Der Minister sagte dünn: »Nur solche, die Schreckensgebilde aus den Dschungeln ihnen eingeben. Ich – ich kann nicht zusehen, Dr. Lett! Wenn Sie vorhaben, zu demonstrieren… Ich… Sie entschuldigen mich bitte!« Der Mann mit den dicken Gläsern winkte. Der Gesundheitsminister verließ hastig den Raum. Dr. Lett sagte freudlos: »Er würde einen schlechten Arzt abgeben! – Hier in diesem keimfreien Raum haben wir also einen Para. Er ist ein ungewöhnlich gutes Studienobjekt. Er war mein Assistent, und ich kannte ihn, als er sich noch allerbester Gesundheit erfreute. Jetzt kenne ich ihn als Para. Ich werde Ihnen seine Wahnvorstellungen zeigen.« Er trat an einen kleinen Brutofen und hantierte im Inneren. Über die Schulter sagte er salbungsvoll: »Die ersten Siedler hatten Schwierigkeiten, ein für den 160
Menschen nützliches ökologisches System aufzubauen. Die einheimischen Pflanzen und Tiere waren unbrauchbar. Sie mußten durch etwas ersetzt werden, das dem biologischen Umweltsystem des Menschen entsprach. Es gab noch weitere Schwierigkeiten. Es waren keine verwendbaren Aasfresser da. Und Sie wissen selbst, daß diese sehr wichtig sind! Gewöhnlich ist die Ratte ein sehr zuverlässiges Tierchen; aber Ratten bleiben hier nicht am Leben. Geier? – Nein, natürlich nicht. Aaskäfer … Mistkäfer… Fliegen …? Sie alle sind auf Tallien III nicht lebensfähig. Auch sind Aasfresser meist Spezialisten. Die Kolonie konnte ohne Aasfresser nicht fortbestehen. Also suchten unsere Vorfahren nach einer Kreatur, die sich außergewöhnlich und vielseitig um das Problem der Abfallstoffe der menschlichen Städte annahm und hier lebensfähig war. Und sie fanden eine solche Kreatur. Es ist wahr, daß sie stank wie ein altes terrestrisches Tierchen, das man Skunk nannte – nach Butylmercaptan. Sie war auch nicht gerade niedlich anzusehen – ganz im Gegenteil, die meisten fanden sie abstoßend. Aber sie war ein Aasfresser, und es gab kein Abfallprodukt, das sie nicht verschlang.« Dr. Lett trat vom Brutofen zurück. Er hielt einen Plastikbehälter in der Hand. Ein schwacher, ekelerregender Geruch breitete sich im Raum aus. »Sie fragen nach den Wahnvorstellungen der Paras?« Er lächelte spöttisch. Er streckte Calhoun den Behälter entgegen. »In ihrer Vorstellung ist dieser Aasfresser, dieser Vertilger unreiner Dinge, dieses unaussprechliche Stück schleimigen, sich windenden Fleisches – in ihrer Vorstellung ist es der ergötzlichste Leckerbissen!« Er hielt Calhoun nun den Behälter unter die Nase. Dieser hielt die Luft an. Dr. Lett sagte in spöttischer Be161
wunderung: »Ah! Sie haben den starken Magen des Mediziners! In der Wahnvorstellung eines Paras sind diese sich windenden, zuckenden Objekte köstlich! Paras haben ein unwiderstehliches Verlangen danach. Es ist, als würden Menschen eines erdähnlichen Planeten einen unkontrollierbaren Appetit auf Aasgeier und Ratten oder noch unappetitlichere Tiere entwickeln. Die Paras essen sie! Aus diesem Grund wollen die Normalen lieber sterben als Paras werden!« Calhoun würgte rein instinktiv. Die Wesen in dem Plastikbehälter waren klein und grau. Hätten sie sich nicht bewegt, wären sie kein schlimmerer Anblick als rohe Austern in einem Cocktail gewesen. Aber sie krochen und krümmten und wanden sich. »Ich will es Ihnen zeigen«, meinte Dr. Lett liebenswürdig. Er drehte sidi der Glaswand zu, die den Raum teilte. Der Mann dahinter preßte sich erregt dagegen. Mit schrecklichem Verlangen blickte er auf den Behälter. Er gähnte hysterisch. Er schien zu winseln. Keine Sekunde wandte er den Blick von der Köstlichkeit, die der Arzt in Händen hielt. »Jetzt!« sagte Dr. Lett. Er drückte auf einen Knopf. Ein Verschluß öffnete sich. Dr. Lett stellte den Behälter in die Öffnung, die sich sofort schloß und damit den Sterilisierungsprozeß einleitete. Der Para gab einen unhörbaren Schrei von sich. Er war von tierischer, unkontrollierbarer Ungeduld erfüllt. Er schrie dem Verschluß entgegen wie ein Tier der Öffnung entgegenbrüllen mochte, durch die das Futter in seinen Stall geworfen wurde. Der Verschluß im Innern der Kammer sprang auf. Der 162
Plastikbehälter erschien. Der Mann sprang darauf zu. Er schlang den Inhalt in sich hinein, und Calhoun fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Aber während der Para seine Gier befriedigte, blickte er auf die beiden, die – zusammen mit Murgatroyd – ihn beobachteten. Er haßte sie mit einer Wildheit, die die Adern an seiner Stirn hervortreten ließ und sein Gesicht krebsrot färbte. Calhoun fühlte, daß er bleich geworden war. Er wandte sich ab und sagte erschüttert: »Ich habe nie zuvor so etwas gesehen.« »Es ist neu, nicht wahr?« erwiderte Dr. Lett, von einem sonderbaren Stolz erfüllt. »Es ist neu! Ich – ich – habe etwas entdeckt, wovon der Interstellare Gesundheitsdienst nichts wußte!« »Ich möchte nicht behaupten, daß der Interstellare Gesundheitsdienst nicht über ähnliche Phänomene Bescheid weiß«, sagte Calhoun langsam. »Manchmal gibt es Dutzende oder vielleicht Hunderte von Opfern. Gelegentlich treten auch vernunftwidrige Gelüste auf. Aber auf planetarischer Ebene? Nein! Es gab noch niemals in der Galaxis eine Epidemie dieser Art und von solcher Wirkung.« Calhoun sah noch immer mitgenommen und krank aus. Dennoch fragte er: »Was ist das Ergebnis dieses Appetits? Was geht in einem Para vor? Welche Veränderungen geschehen im Gesundheitszustand, wenn er Para wird?« »Es gibt keine Veränderung«, sagte Dr. Lett sanft. »Sie sind nicht krank, und sie sterben auch nicht deshalb, weil sie Paras geworden sind. Der Zustand ist nicht anormaler als Diabetes! Zuckerkranke brauchen Insulin! Paras brauchen – etwas anderes! Aber gegen das, was sie benötigen, herrscht eine Voreingenommenheit! Man 163
kann es nur so vergleichen, als würden einige Menschen lieber sterben, als Insulin zu nehmen, und diejenigen, die es nehmen, sind Ausgestoßene. Ich kann nicht sagen, was diesen Zustand hervorruft. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn der Minister glaubt, daß Dschungelwesen hervorkriechen und die Menschen in Paras verwandeln.« Er beobachtete Calhouns Gesichtsausdruck. »Stimmt Ihre Gesundheitsdienstinformation damit überein?« »N-e-i-n«, antwortete Calhoun gedehnt. »Ich fürchte, es ist eine monströsere Angelegenheit, die wenig mit der Diabetes gemeinsam hat.« »Und doch ist es so!« bestand Dr. Lett darauf. »Alles, absolut alles, was verdaulich ist, wie immer unappetitlich es dem modernen Menschen auch erscheinen mag, stand einmal auf dem Speisezettel irgendeines Stammes von Wilden. Sogar die Römer aßen in Honig gekochte Haselmäuse. Warum sollte die Tatsache, daß die gewünschte Substanz zufälligerweise in Aasfressern …« »Die Römer hatten kein unstillbares Verlangen nach Haselmäusen«, unterbrach ihn Calhoun. »Sie konnten sie essen oder stehenlassen.« Der Mann hinter der dicken Glasscheibe starrte auf die beiden Männer außerhalb seines Gefängnisses. Er haßte sie unbeschreiblich. Er brüllte ihnen entgegen. Die Adern an seinen Schläfen pulsierten vor Haß. Er verfluchte sie. »Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen«, sagte Lett. »Ich lege Wert auf eine Zusammenarbeit mit dem Interstellaren Gesundheitsdienst. Ich bin ein Bürger dieses Planeten und nicht ohne Einfluß. Ich möchte, daß der Gesundheitsdienst meine Arbeit anerkennt. Ich weise darauf hin, daß auf der alten Erde Jod in das Trinkwasser gemischt worden ist, um gegen Kropf und Kretinismus 164
vorzubeugen. Fluor gab man hinein, um Karies zu verhindern. Auf Tralee befinden sich Spuren von Zink und Kobalt im Trinkwasser. Das sind notwendige Spurenelemente. Warum wollen Sie sich der Idee verschließen, daß hier ebensolche Spurenelemente oder – Verbindungen notwendig sind?« »Sie möchten also, daß ich eine derartige Meldung abgebe«, meinte Calhoun trocken. »Dazu müßte ich dann aber auch ein paar andere Dinge erklären. Paras sind Wahnsinnige, dennoch organisieren sie sich. Dieser Zustand tauchte erst vor sechs Monaten auf. Der Planet aber ist seit dreihundert Jahren besiedelt. Es könnte sich also kaum um eine natürliche organisch erforderliche Spurenverbindung handeln.« Dr. Lett zuckte verächtlich die Achseln. »Dann werden Sie also nicht berichten, was dieser ganze Planet bestätigen kann«, stellte er fest. »Mein Impfstoff …« »Sie könnten es nicht als Impfstoff bezeichnen, wenn es als Ausgleich für einen Mangel dient – als Befriedigung eines Bedarfs der Bevölkerung von Tallien III.« Spott lag erneut in Letts Lächeln. »Könnte ich es nicht als den Ausgleich für einen Mangel und als einen Impfstoff bezeichnen? Aber es ist auch noch kein wirklicher Impfstoff. Er ist noch nicht voll wirksam. Er muß regelmäßig zugeführt werden, sonst schützt er nicht.« Calhoun fühlte, wie er erbleichte. »Würden Sie mir eine kleine Probe Ihres Impfstoffes geben?« »Nein«, sagte Dr. Lett. »Das wenige, das vorhanden ist, wird für die höheren Beamten gebraucht, die unter allen Umständen vor dem Parazustand geschützt werden müssen. Ich bin eben dabei, eine große Produktion anlau165
fen zu lassen, um die gesamte Bevölkerung versorgen zu können. Dann werde ich Ihnen eine entsprechende Dosis überlassen. Sie werden froh sein darüber …« Dr. Lett lächelte. Calhoun schüttelte den Kopf. »Ist Ihnen denn nicht klar, daß der Gesundheitsdienst hinter diesem Treiben eine ungeheuerliche Absicht vermuten muß? Sind Sie das Ungeheuer, Dr. Lett!?« Dann fragte er scharf: »Wie lange sind Sie schon ein Para? sechs Monate?« Murgatroyd kreischte erregt: »Tschiie! Tschie! Tschie!« als Dr. Lett ein Seziermesser von einem der Tische aufhob und gebückt auf Calhoun losging. »Ruhig, Murgatroyd! Er wird nichts tun, was er später bedauern müßte!« Calhoun hielt einen Strahler in der Hand, der genau auf die Brust des berühmtesten Arztes von Tallien III zeigte. Und Dr. Lett tat nichts. Aber in seinen Augen loderte die Wut eines Wahnsinnigen. Fünf Minuten später trat Calhoun auf den Korridor hinaus, in dem der Gesundheitsminister unglücklich auf und ab schritt. Der Minister sah bleich und krank aus, als hätte er die Demonstration im Geiste miterlebt. Er vermied es, Calhoun direkt anzublicken, und sagte unsicher: »Ich bringe Sie jetzt zum planetarischen Präsidenten.« »Nein«, widersprach Calhoun. »Ich habe einige vielversprechende Informationen von Dr. Lett erhalten. Ich möchte zuerst zum Schiff zurück.« »Aber der Präsident wünscht Sie zu sehen!« protestierte der Minister. »Er möchte Verschiedenes mit Ihnen besprechen!« »Ich muß erst«, sagte Calhoun fest, »einige Fakten in den Händen haben, die ich mit ihm erörtern kann. Hinter 166
dieser Para-Geschichte steckt Intelligenz. Man könnte fast sagen, eine teuflische Intelligenz. Ich will zum Schiff zurück und Dr. Letts Angaben überprüfen.« Der Gesundheitsminister zögerte und sagte dann drängend: »Aber der Präsident ist außerordentlich begierig …« »Würden Sie«, unterbrach ihn Calhoun höflich, »veranlassen, daß man mich zum Schiff zurückbringt?« Der Minister öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Dann sagte er entschuldigend und – so schien es Calhoun – furchtsam: »Dr. Lett ist unsere einzige Hoffnung, diese Epidemie einzudämmen. Der Präsident und das Kabinett fühlten, daß sie ihm volle Autorität zugestehen mußten. Es blieb keine andere Wahl. Wir wußten nicht, daß Sie kommen würden. Dr. Lett wünschte, daß Sie sich sofort nach Beendigung Ihres Besuches bei ihm zum Präsidenten begeben. Es wird nicht lange dauern!« Calhoun meinte grimmig: »Und er hat auch Sie bereits verängstigt! Ich habe den Verdacht, daß mir nicht genügend Zeit bleibt, mich mit Ihnen herumzustreiten!« »Sobald Sie mit dem Präsidenten gesprochen haben, stelle ich Ihnen Fahrzeug und Fahrer zur Verfügung. Es ist nicht weit.« Calhoun knurrte und bewegte sich auf den Ausgang des Labors zu. Er drängte sich an dem Wachposten vorbei, hinaus ins Freie. Der riesige Platz, früher ein Park, war von hohen Gebäuden umgeben. Diese bildeten nun einen geschlossenen Wall, der alle nicht Auserwählten ausschloß. Und die Auserwählten waren dadurch, daß jemand sie ausgesucht hatte, nicht besser dran. »Das Regierungsgebäude, in dem sich der Präsident aufhält, ist gleich da drüben«, sagte der Minister, gleichzeitig deutend und drängend. »Nur ein paar Schritte! 167
Gleich dort drüben!« »Und ich habe noch immer keine Lust, dorthin zu gehen«, schnitt ihm Calhoun das Wort ab und hielt plötzlich seine Waffe in der Hand. »Das ist ein Strahler«, erklärte er sanft. »Er ist auf Minimum eingestellt, so daß er nicht unbedingt Verbrennungen oder gar den Tod verursacht. Diese Einstellung wird von der Polizei bei Aufständen gebraucht. Mit ein bißchen Glück wirkt sie nur betäubend. Dr. Lett bekam sie bereits zu spüren!« fügte er unbewegt hinzu. »Er ist ein Para, wußten Sie das? Der Impfstoff, den er den hohen Beamten gibt, um sie vor einer Ansteckung zu schützen – er befriedigt den monströsen Appetit der Paras, so daß sie keine Aasfresser zu vertilgen brauchen. Aber gleichzeitig ist es jener Stoff, der den Appetit hervorruft. Das ist einer der Wege, den Parazustand zu schaffen.« Der Gesundheitsminister starrte Calhoun an. Sein Gesicht wurde buchstäblich grau. Er versuchte zu sprechen, war dazu aber nicht in der Lage. Calhoun fuhr fort, so unbewegt wie zuvor: »Ich habe Dr. Lett bewußtlos in seinem Labor zurückgelassen. Er weiß natürlich, daß er ein Para ist. Auch der Präsident ist ein Para, aber mit einem genügenden Vorrat an ›Impfstoff‹ kann er es sogar vor sich selbst verbergen. Dem Ausdruck Ihres Gesichts nach zu schließen, haben Sie eben herausgefunden, daß auch Sie es sich selbst nicht länger verheimlichen können. Sie sind ebenfalls ein Para!« Der Minister gab einen unartikulierten Laut von sich. Er rang die Hände. »Daher«, erklärte Calhoun, »möchte ich jetzt zu meinem Schiff zurück und herausfinden, was ich mit diesem ›Impfstoff‹ tun kann, den ich Dr. Lett abgenommen habe. Helfen Sie mir nun oder nicht?« 168
Der Mann schien zusammenzuschrumpfen. Er rang die Hände von neuem. Ein Bodenfahrzeug hielt mit quietschenden Bremsen etwa fünf Meter vor den beiden. Zwei uniformierte Männer sprangen heraus. Der eine fingerte an seiner Waffe. »Das ist der Tormal!« schnappte er. »Wir sind an der richtigen Adresse!« Calhoun zog den Abzug seiner Waffe durch. Der Minister fiel in sich zusammen. Bevor er noch den Boden berührt hatte, stolperte der eine der beiden Uniformierten, brach mit halbgezogener Waffe in die Knie und fiel vornüber. Der dritte Mann sank lautlos zu Boden. »Murgatroyd!« rief Calhoun scharf. »Tschie!« kreischte der Tormal. Er sprang neben Calhoun in den Wagen. Der Motor heulte auf, als Calhoun die Energiezufuhr voll betätigte. Man würde nicht sofort eine Untersuchung anstellen. Die Menschen warfen ihm furchtsame Blicke zu. Und bevor der erste Uniformierte sich bewegte, war Calhoun bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. »Es ist verteufelt«, murmelte Calhoun, während er einer Straße folgte, die scharf rechts abbog. »Es ist eine verteufelte Sache, Skrupel zu haben! Hätte ich Lett kaltblütig umgebracht, wäre ich jetzt die einzige Hoffnung für diese Menschen. Und vielleicht hätten sie meine Hilfe akzeptiert!« Die Straße änderte wiederum ihre Richtung. Da und dort standen einige Gebäude, und bald war er von jener Stelle aus nicht mehr zu sehen, wo er die drei Männer bewußtlos zurückgelassen hatte. Das erstaunliche war, daß man so schnell gehandelt hatte. Kaum mehr als fünfzehn Minuten waren vergangen, seit er das Labor verlassen hatte. Augenblicklich nach seinem Erwachen aus der 169
wohl sehr kurzen Bewußtlosigkeit mußte Dr. Lett den Befehl erteilt haben, einen Mann mit einem kleinen Tier, einem Tormal, tot oder lebendig zurückzubringen. Und der Befehl wäre ausgeführt worden, hätte Calhoun nicht zufällig die Waffe bereits in der Hand gehabt. Das erschreckendste aber war die sich nun enthüllende Situation. Die Menschen im Regierungszentrum wurden Paras, und Dr. Lett hatte alle Autorität in seinen Händen. Für die Dauer des Notstandes war er die Regierung. Doch würde er auch weiterhin an der Macht bleiben, weil alle Männer in den hohen Ämtern bereits Paras waren und dies nur so lange verbergen konnten, wie es Dr. Lett gefiel. Calhoun versuchte, sich die zu erwartende soziale Organisation auszumalen. An der Spitze würde der Tyrann stehen, der absolute Diktator. Unterwürfige Bürger würden ihre Dosierung an »Impfstoff« nur so lange erhalten, wie es ihrem Herrn und Meister in die Pläne paßt. Jeder, der ihm Widerstand entgegenzusetzen wagte oder gar zu fliehen versuchte, würde zu einer Kreatur werden, die sowohl wahnsinnig als auch abstoßend war, weil sie von monströsen und unwiderstehlichen Gelüsten getrieben wurde. Und der Tyrann vermochte selbst deren Befriedigung zu verhindern! Also standen die Bürger von Tallien III vor der ultimalen Wahl zwischen Sklaverei oder Wahnsinn für sich und ihre Familien. Calhoun änderte hinter einem größeren Gebäude die Richtung. Es war klar, daß er das Regierungszentrum nicht auf dem gleichen Weg verlassen konnte, auf dem er es betreten hatte. Wenn Lett noch keinen Befehl erteilt hatte, ihn aufzuhalten, so würde er es jetzt tun. Und Murgatroyd war ein nicht zu verleugnender Identitätsbeweis. Wieder nahm er eine Richtungsänderung vor, wobei er Murgatroyd unter seinen Sitz drückte. Eine neue Bie170
gung; und noch eine … Dann versuchte er sich zu erinnern, wie die Sonnenuntergangslinie verlaufen war, als er auf die Landung gewartet hatte. Er schätzte seine Aufenthaltszeit auf diesem Planeten auf eineinhalb bis zwei Stunden. Aus den Daten sollte es ihm gelingen, die örtliche Zeit zu bestimmen. Es mußte etwa um die Mitte des Nachmittags sein, was bedeutete, daß die Schatten in nordöstlicher Richtung fielen. Er hielt sich nicht länger als ein paar Sekunden auf einer geraden Straße auf. Doch besaß er jetzt bei jeder Gabelung eine vernünftige Voraussetzung für die Wahl der Richtung. Das Resultat seiner Fahrweise war eine stete Südwärtsbewegung. Paras schickte man durch das Südtor. Dieses Tor allein würde eine Möglichkeit bieten, unangefochten aus dem Regierungszentrum zu gelangen. Er fand das Tor. Rechts und links erhoben sich die üblichen hohen Gebäude. Der eigentliche Ausgang bestand aus nackten Betonmauern, die eine Öffnung, nicht breiter als ein Haustor freiließen. Ein gutes Stück vom Tor entfernt standen vier Polizeifahrzeuge mit Bewaffneten. Sie achteten darauf, daß die Paras und jene, die das Zentrum verlassen wollten, weil sie glaubten, Paras zu sein, tatsächlich durch das Tor schritten und es sich nicht im letzten Augenblick anders überlegten. Calhoun hielt den Wagen an und stopfte Murgatroyd unter den Mantel. Dann schritt er grimmig entschlossen auf den schmalen Ausgang zu. Dabei erhoffte er, daß Lett von ihm nicht erwartete, daß er dieses Risiko auf sich nahm. Er gelangte unangefochten durch das Tor. Die Betonwände wurden höher und höher, je mehr er sich von den Polizeiposten entfernte, die kaum gezögert hätten, ihn zu erschießen, wenn sie eine Ahnung von seiner Identität 171
gehabt hätten. Der Weg wurde enger und schließlich zu einem überdachten Durchgang, dessen Ende eine Krümmung verbarg. Dann stand er plötzlich im Freien. Nichts konnte undramatischer sein als sein tatsächliches Entkommen. Er spazierte einfach hinaus. Nichts konnte weniger bemerkenswert sein als seine Ankunft im Stadtgebiet außerhalb des Zentrums. Er fand sich in einer engen Straße wieder. Gebäude erhoben sich überall um ihn. Ihre Fenster aber waren entweder vermauert oder eingeschlagen. Am Fuß eines Hauses befanden sich Bänke, auf denen fünf unbewaffnete Männer hockten. Als Calhoun erschien, blickte einer auf und erhob sich. Ein zweiter wandte sich um und beschäftigte sich mit etwas, das hinter ihm verborgen war. Sie boten keinen sehr grimmigen Anblick. Auch zeigten sie keine Spur von Wahnsinn. Doch Calhoun hatte bereits herausgefunden, daß das Verlangen nur zeitweilig kam. In Intervallen, die man wahrscheinlich im voraus berechnen konnte. Zwischen einem monströsen Hungeranfall und dem nächsten vermochte ein Para völlig normal zu handeln. Unbestreitbare Beispiele dafür waren Dr. Lett, der Präsident und die Kabinettsmitglieder. Einer der Männer auf den Bänken winkte. »Hier entlang«, wies er gleichgültig. Murgatroyd schob seinen Kopf unter dem Mantel hervor. Er betrachtete die Männer mißtrauisch. »Was ist das?« fragte einer der fünf. »Ein zahmes Tier«, antwortete Calhoun kurz. Der Mann, der sich erhoben hatte, nahm einen kleinen Kanister mit Schlauch in die Hand. Ein zischender Laut erklang. Das Sprühmittel bildete eine feine, nebelartige Wolke. Calhoun fing den Duft eines konventionellen or172
ganischen Lösungsmittels auf, das ihm wohlbekannt war. »Das ist ein antiseptisches Mittel«, brummte der Mann mit dem Kanister. »Für den Fall, daß Sie sich da drinnen etwas geholt haben.« Calhouns Kleidung glänzte einen Augenblick, wo das Sprühmittel sich festgesetzt hatte. Als es trocknete, blieb ein kaum wahrnehmbarer Rückstand zurück, der einer Schicht unendlich feinen Staubes glich. Calhoun erriet den Zweck, und ein leiser Schauer überlief ihn. Doch zwischen zusammengepreßten Zähnen fragte er nur: »Wohin jetzt?« »Wohin Sie wollen«, gab der Mann zur Antwort. »Niemand wird Sie belästigen. Ein paar Normale werden Sie davon abhalten, ihnen zu nahe auf den Leib zu rücken. Aber hier können Sie tun und lassen, was Sie wollen.« Dann fügte er desinteressiert hinzu: »Es gibt keine Polizei hier draußen!« Er ging zur Bank zurück und ließ sich wieder nieder. Calhoun machte sich auf den Weg. Seine inneren Empfindungen waren chaotisch, doch er mußte schnellstens weiter. Es war nicht unwahrscheinlich, daß die Para-Organisation bereits informiert war. Möglicherweise würde man ihn jagen, selbst auf die unwahrscheinlich klingende Vermutung hin, daß er aus dem Regierungszentrum entkommen sein könnte. Er schritt die Straße entlang, erreichte eine Kreuzung und bog ab. Ein paar Personen kamen in sein Blickfeld. Auch hier sahen die Häuser so aus, wie er sie von der Fahrt zum Regierungsviertel in Erinnerung hatte. Fenster waren zertrümmert, Türen eingebrochen. Überall lag Abfall herum. Keiner der wenigen Fußgänger schenkte Calhoun besondere Aufmerksamkeit. Trotzdem hielt er Murgatroyd 173
versteckt. Menschen, die sich auf ihn zubewegten, erreichten ihn niemals. Sie bogen ab oder verschwanden in Türeingängen. Diejenigen, die in der gleichen Richtung gingen, vermochte er nicht zu überholen. Auch sie verloren sich in Seitenstraßen oder Eingängen. Das waren jene, die sich noch als Normale betrachteten, verzweifelt nach Nahrungsmittel suchten und hoffnungslos bemüht waren, die Ansteckung von jenen fernzuhalten, denen sie etwas Eßbares brachten. Calhoun wurde von schrecklichem Zorn erfaßt, daß solche Dinge überhaupt geschehen konnten. Er selbst war mit etwas besprüht worden. Dr. Lett hatte ihm einen Plastikbehälter unter die Nase gehalten. Da hatte er noch den Atem angehalten; aber jetzt mußte er atmen. Noch blieb ihm ein bißchen Zeit, aber … Er zwang seine Gedanken zu jenem Augenblick zurück, als er aus dreißig Kilometer Höhe herabgekommen war. Er hatte den Boden mit Hilfe eines Elektronenteleskops beobachtet. Nun breitete sich das Land kartengleich vor seinem geistigen Auge aus. Er vermochte sich zu orientieren. Ein Fahrzeug hielt in einiger Entfernung von ihm. Ein Mann stieg aus. Er hatte die Arme voll Bündel, die wahrscheinlich Lebensmittel enthielten. Calhoun begann zu laufen. Der Mann versuchte in einem Eingang zu verschwinden, ehe Calhoun ihn erreichen konnte. Aber andererseits wollte er auch nichts von seinen Lebensmitteln zurücklassen. Calhoun brachte seine Waffe zum Vorschein. »Ich bin ein Para«, sagte er ruhig, »und ich brauche diesen Wagen. Geben Sie mir die Schlüssel, und Sie können die Nahrungsmittel behalten.« Der Mann murrte. Dann warf er die Schlüssel von sich und floh ins Haus. 174
»Danke«, rief Calhoun höflich in Richtung des davoneilenden Mannes. Er stieg in den Wagen und brachte Murgatroyd aus dem Sichtbereich. »Nicht, daß ich mich deiner schäme, Murgatroyd«, sagte er in einem Anflug von Galgenhumor, »aber ich fürchte, ich könnte mich meiner selbst schämen. Bleib unten!« Er startete das Fahrzeug und raste davon. Er kam durch ein Geschäftsviertel, in dem es viele zerbrochene Fenster gab, und fuhr durch Straßen mit endlosen Bürogebäuden. Er durchquerte ein Industriegebiet, wo sich Fabrik an Fabrik reihte, aber nirgends ein Zeichen von Geschäftigkeit zu bemerken war. Bei jeder Epidemie bleiben die Menschen zu Hause, um eine Ansteckung zu vermeiden. Auf Tallien III war es nicht anders. Niemand war gewillt, seine Arbeit aufzunehmen, weil das weit mehr als das Leben kosten konnte. Calhoun erreichte eine breite, geradlinige Autobahn, die aus der Stadt hinausführte, aber nicht in die Richtung des Raumhafens. Calhoun folgte ihr mit dem »geborgten« Wagen. Weit draußen am Horizont sah er das seltsame Stahlgebilde des Landegerüstes, das sich wie ein kleiner Berg in den Himmel reckte. Er erhöhte seine Geschwindigkeit. Irgendwo in der Gegend, in der er sich im Moment aufhielt, waren die automatischen Wetterraketen mit ihren aufmontierten Sprengköpfen gestartet worden, um die Aesclipus zwanzig zu vernichten. Einmal hatte er freien Blick über flache Felder und sah die Autobahn zum Raumhafen. Sie war leer. Dann kam der Sonnenuntergang. Die obersten Träger und Verstrebungen des Landegerüstes schimmerten noch lange in den Sonnenstrahlen, die den Boden nicht mehr erreich175
ten. Er fuhr und fuhr. Im Regierungszentrum würde niemand annehmen, daß er sich bereits weit außerhalb der Stadt befand. Sie würden wahrscheinlich eine Straßensperre vor dem Raumhafen errichten – für alle Fälle! Aber im Grund genommen würden sie doch annehmen, daß er sich immer noch in der Stadt aufhielt, ohne Hoffnung, etwas zu erreichen. Nach Sonnenuntergang befand er sich bereits mehrere Kilometer jenseits des Raumhafens. Und nachdem das Zwielicht der Dunkelheit gewichen war, raste er auf einer anderen Überlandstraße in Richtung Stadt zurück. Von dieser Seite her würde er unbemerkt an den Raumhafen herankommen. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang schaltete er die Scheinwerfer ab und fuhr durch fast tintenschwarze Nacht. Trotzdem stellte er den Motor etwa einen Kilometer vor dem Gerüst ab. Lange Zeit lauschte er mit angehaltenem Atem. Dann näherte er sich mit Murgatroyd zu Fuß dem Raumhafen. Das gigantische Trägerwerk des Turmes strebte unglaublich hoch in den Himmel hinauf. Calhoun bemerkte die Lichter im Kontrollgebäude. Während er noch hinblickte, verdunkelte sich eines der Fenster für einen Augenblick, als liefe innen jemand vorbei. Es war ganz still ringsum. Nur das leise Winseln des Windes war zu vernehmen, der durch das metallene Skelett des Gerüstes strich. Calhoun konnte nirgends Bodenfahrzeuge entdecken, die darauf hingewiesen hätten, daß Männer hierhergebracht worden waren. Vorsichtig bewegte Calhoun sich auf das Kontrollgebäude zu. Einmal blieb er stehen und stellte seine Waffe auf volle Kraft. Wenn er sie anwen176
den mußte, würde ihm keine Zeit bleiben, so genau zu zielen, daß der Feind nur das Bewußtsein verlor. Er würde um sein Leben kämpfen müssen – oder vielmehr um die Chance, als normaler Mensch leben zu dürfen. Und um die Wiederherstellung dieser Möglichkeit für die Menschen jener schweigenden Stadt am Horizont und der kleineren Städte dieser Welt. Er sah das Raumboot unberührt auf seinen Landeflossen stehen. Dieser Anblick war erhebend. Die Gerüstbedienung hätte in der Zwischenzeit den Befehl erhalten können, das Schiff in eine Umlaufbahn zu bringen oder einfach in den Raum hinauszuschießen. Diese Möglichkeit bestand natürlich noch immer. Calhoun erstarrte. Das mußte schnellstens verhindert werden. Wenn er mit Hilfe seiner Notraketen sofort starten mußte, durfte er nicht das Risiko eingehen, von den kraftvollen Energiefeldern des Gerüstes erfaßt zu werden. Lautlos näherte er sich dem Kontrollgebäude. Er vernahm keine Stimmen, nur das Geräusch einer Bewegung. Vorsichtig blickte er durch das Fenster. Der Gerüsttechniker, der ihn nach der Landung als erster begrüßt hatte, eilte geschäftig im Raum umher. Er schob einen Behälter auf Rädern vor sich her, von dem ein Schlauch ausging, und versprühte eine Flüssigkeit. Das Sprühmittel breitete sich nebelartig aus, hing sekundenlang in der Luft und beschlug Wände, Möbel, Gegenstände und Apparaturen. Calhoun hatte diesen Nebel bereits einmal gesehen. Man hatte ihn dazu benutzt, das Fahrzeug der beiden Attentäter zu besprühen, anstatt es zu verbrennen. Es handelte sich dabei um ein Entgiftungsmittel, dem man die Fähigkeit zuschrieb, jene Ansteckung zu verhindern, die Menschen in Paras verwandelte. 177
Calhoun sah das Gesicht des Gerüsttechnikers. Es drückte verbissene Entschlossenheit und unendliche Bitterkeit aus. Calhoun schritt zur Tür und klopfte. Eine wütende Stimme antwortete: »Verschwinden Sie! Ich habe eben herausgefunden, daß ich ein Para bin!« Calhoun öffnete die Tür und trat ein. Murgatroyd folgte ihm niesend. »Man hat mich behandelt«, sagte Calhoun. »Mir wird es also nicht besser gehen als Ihnen, sobald die Inkubaktionszeit abgelaufen ist. Frage: Können Sie die Kontrollen so einstellen, daß niemand außer Ihnen in der Lage ist, das Gerüst zu bedienen?« Der Gerüsttechniker starrte ihn benommen an. Sein Gesicht war von Tetenblässe überzogen. Er schien Calhoun nicht zu verstehen. »Ich habe eine Menge Arbeit zu erledigen«, erklärte Calhoun. »Deshalb brauche ich Ruhe. Ich muß ungestört im Schiff arbeiten können. Und ich brauche einen Patienten, der sich in einem fortgeschrittenerem Stadium der Krankheit befindet als ich. Es würde Zeit sparen, wenn Sie sich zur Verfügung stellen. Vielleicht gelingt es dann noch, rechtzeitig einzugreifen. Falls Sie sich nicht bereiterklären, muß ich selbst das Gerüst zeitweilig funktionsunfähig machen.« Der Gerüsttechniker sagte mit gepreßter Stimme: »Ich bin ein Para. Ich bin im Begriff, alles zu besprühen, was ich berührt habe. Anschließend werde ich irgendwo hingehen und mich töten …« Calhoun zog seine Waffe. Er stellte sie wieder auf Minimalstärke ein. »Mein Freund«, tröstete er, »mich erwartet dasselbe Schicksal wie Sie, wenn ich kein besserer Arzt als Dr. 178
Lett bin. Nun, werden Sie mir helfen?« Murgatroyd nieste wieder, da der Nebel immer noch in seine Nase stieg. Kläglich sagte er: »Tschiie!« Offensichtlich im Zustand eines Schocks, blickte der Gerüsttechniker auf Murgatroyd hinab. Kein gewöhnlicher Anblick oder Ton hätte in sein Bewußtsein zu dringen vermocht. Murgatroyd aber war ein niedliches, pelziges Tierchen mit langen Barthaaren, einem buschigen Schwanz und der beeindruckenden Vorliebe, menschliche Handlungen nachzuahmen. Er nieste erneut und blickte hoch. In Calhouns Tasche befand sich ein Taschentuch. Murgatroyd zog es heraus und hielt es an sein Gesichtchen. Er nieste noch einmal, sagte »Tschie!« und stopfte das Tuch wieder an seinen ursprünglichen Ort zurück. Dann betrachtete er den Techniker mißbilligend. Der Mann erlebte einen zweiten Schock, der ihn aus seiner Erstarrung riß. Erschüttert sagte er: »Was zum Teufel…« Dann starrte er Calhoun an. »Ihnen helfen? Wie kann ich jemandem helfen? Ich bin ein Para!« »Das ist genau das, was ich brauche«, versicherte Calhoun. »Ich bin Arzt. Hier ist eine Epidemie zu bekämpfen. Darum benötige ich einen Infizierten, der gewillt ist, sich heilen zu lassen. Sie! Aber zuerst das Gerüst…« Aufeinanderfolgendes lautes Klicken drang aus einem der Lautsprecher. Dann eine Stimme: »An alle Bürger! Der Präsident des Planeten wird in den nächsten Minuten die Nachricht vom Ende der ParaEpidemie bekanntgeben!« Eine Pause. Danach kam eine feierliche Stimme über den Lautsprecher: »Meine Mitbürger, ich kann Ihnen die freudige Mitteilung machen, daß es gelungen ist, einen Impfstoff zu ent179
wickeln, der Normale vollkommen vor dem Para-Zustand schützt, und diejenigen, die schon Paras sind, heilt. Dr. Lett vom planetarischen Gesundheitsdienst hat dieses Serum entwickelt. Es befindet sich bereits in Produktion und wird in Kürze auch in größeren Mengen erhältlich sein. Es wird genug für alle hergestellt. Die Epidemie, welche die gesamte Bevölkerung von Tallien III bedroht hat, steht damit kurz vor ihrem Ende! Um den Normalisierungsprozeß zu beschleunigen, wurde Dr. Lett vollkommene Autorität in der Handhabung dieser Aktion gegeben. Er ist berechtigt, von jedem Bürger Arbeit, Geldmittel und jedes andere Opfer zu verlangen, das ihm zur Wiederherstellung der Normalität unserer betroffenen Mitbürger und zum Schutze der übrigen notwendig erscheint. Ich wiederhole: Es ist ein Impfstoff gefunden worden, der als Schutzmittel gegen die Para-Ansteckung hundertprozentig wirksam ist und jene heilt, die bereits zu Paras geworden sind. Dr. Lett besitzt absolute Handlungsfreiheit. Seinen Befehlen ist unbedingter Gehorsam zu leisten. Nur so kann das Ende der Epidemie beschleunigt und ihr erneutes Ausbrechen verhindert werden.« Der Lautsprecher schwieg. Calhoun sagte trocken: »Unglücklicherweise weiß ich genau, was das bedeutet. Der Präsident hat bekanntgegeben, daß die Regierung zugunsten Dr. Letts zurücktritt, und daß die Strafe für Ungehorsam gegenüber Lett der Wahnsinn ist.« Er atmete tief ein und zuckte die Achseln. »Kommen Sie! An die Arbeit!« Der Zeitpunkt war kritisch. Während sich Calhoun und der Techniker in das Raumboot begaben und die Luftschleuse hinter sich schlossen, tauchten Lichter auf der Autobahn zum Raumhafen auf und näherten sich 180
rasch. Dann rasten Bodenfahrzeuge durch das Tor und hielten unter dem Raumboot. Innerhalb von Sekunden hatten sie es umringt, und bewaffnete Männer versuchten, sich Einlaß verschaffen. Aber Raumboote des Interstellaren Gesundheitsdienstes landen auf sehr vielen Planeten mit verschiedensten Graden von Respekt für diesen Dienst. Daher hatte man die Schiffe so gebaut, daß ein gewaltsames Eindringen zwangsläufig auf Schwierigkeiten stieß. Sie verbrachten einige Zeit damit, ungeschickt an der äußeren Schleusentür zu hantieren. Dann ließen sie es sein. Zwei Wagen fuhren zum Kontrollgebäude, das nun still und dunkel dastand. Die Eingangstür war offen. Die Uniformierten gingen hinein. Es herrschte Bestürzung. Das Innere des Kontrollgebäudes roch nach einem antiseptischen Mittel – jenem Sprühmittel, das man zum Schutz gegen Paras benutzte und das manchmal auch ein Mensch verwendete, wenn er erkannte, daß er ein Para geworden war. Aber es hatte keine beruhigende Wirkung auf die Männer, die eben vom Regierungszentrum eingetroffen waren. Anstatt ihre Sicherheit zu bestätigen, schien es eine schreckliche Gefahr zu bergen. Denn trotz der Ansprache des Präsidenten saß ihre Furcht vor den Paras viel zu tief, um sie bei ein paar beruhigenden Worten zu verlieren. Die Männer, die in das Gebäude eingedrungen waren, stolperten ins Freie und erzählten ihren Kameraden stammelnd, was sie im Innern vorgefunden hatten. Diese fuhren entsetzt zurück. Sie hatten selbst vor dem indirekten Kontakt Angst. Alle blieben im Freien, während einer der Männer, die nicht im Gebäude gewesen waren, in einem der Polizeifahrzeuge Verbindung mit dem Hauptquartier der planetarischen Polizei aufnahm und über die 181
Lage Bericht erstattete. Der Versuch, in das Schiff einzudringen, blieb drinnen natürlich nicht unbemerkt. Aber Calhoun achtete nicht darauf. Er leerte die Taschen der Kleider, die er auf seinem Weg in die Stadt getragen hatte. Sie enthielten die üblichen Kleinigkeiten, die ein Mann bei sich trägt. Außerdem befanden sich darunter eine Waffe, auf Minimum eingestellt, eine kleine Phiole mit einer grauen Flüssigkeit und ein Plastikbehälter. Calhoun wechselte eben die Kleidung, als er die Stimme des Berichterstatters in dem Lautsprecher auffing, der auf die Wellenlänge des Polizeidienstes eingestellt war. In erregten Worten meldete der Mann, daß es nicht möglich wäre in das Raumboot einzudringen und daß das Kontrollgebäude finster und verlassen war und nach Sprühmittel roch. Eine andere Stimme gab Befehle. Die höchste Autorität hatte Anweisung gegeben, den Mann vom Interstellaren Gesundheitsdienst unbedingt gefangenzunehmen. Wenn ein Eindringen ins Schiff nicht möglich war, sollte das Gerüst aktiviert und das Schiff in den Raum hinausgeschleudert werden. Ganz gleich, ob im Gebäude eine Ansteckungsgefahr bestand oder nicht, das Raumboot mußte unbrauchbar gemacht werden. »Die halten viel von mir«, meinte Calhoun trocken. »Ich hoffe, ich bin so gefährlich, wie Dr. Lett im Augenblick glaubt.« Dann wandte er sich an den Mann neben ihm. »Sie behaupten, Sie wären ein Para. Ich brauche die Symptome. Ich muß wissen, wie Sie sich fühlen und wo Sie etwas fühlen. Außerdem muß ich wissen, wann Sie den letzten Kontakt mit Aasfressern hatten.« Die Absichten der Polizei außerhalb des Schiffes 182
konnten ignoriert werden. Da die Besatzung sich an Bord befand, wäre es kaum ein Schaden, wenn man das Boot in den Raum hinausschob. Aber das war unmöglich. Der Gerüsttechniker hatte einige kleine, wichtige Teile aus dem Kontrollsystem entfernt. Natürlich konnte man das Schiff in die Luft sprengen, doch würde Calhoun eine solche Absicht rechtzeitig bemerken. Für den Augenblick jedenfalls waren sie sicher. Doch er wußte nichts über die Inkubationszeit, und er war mit dem Mittel in Berührung gekommen, das aus Menschen Paras machte. Er besaß einen Glasbehälter mit einer grauen Flüssigkeit und einen Plastikbehälter mit Aasfressern. Der erste stammte aus Dr. Letts geheimstem Aufbewahrungsort. Der andere aus dem Brutofen des Laboratoriums. Calhoun öffnete die Behälter. Er enthielt kleine, sich windende Organismen, die in einer Nährflüssigkeit schwammen. Sie bewegten sich zuckend umher, so daß die Flüssigkeit zu sieden schien. Der Geruch, der davon ausging, glich dem Gestank eines Skunks. Der Techniker verkrampfte die Hände. »Tun Sie es weg!« schrie er wild. »Verstecken Sie es! Weg damit!« Calhoun nickte. Er sperrte den Behälter in ein kleines Kästchen. Als er den Decke schloß, sagte er schleppend: »Es kommt mir schon nicht mehr so ekelerregend vor wie vor ein paar Stunden …« Aber seine Hände zitterten nicht, als er dem Impfstoff eine Probe entnahm. Er drückte einen Knopf, und ein Stück Wand versenkte sich automatisch. Dahinter befand sich ein winziges, aber erstaunlich vollständiges Labor. Es diente zur Mikroanalyse, der quantitativen und qualitativen Analyse winziger Stoffmengen. Er füllte einen halben Tropfen des Serums in einen Miniatur-Fraktionator und schaltete das Gerät ein. Der Apparat begann zu sum183
men. Der Techniker knirschte mit den Zähnen. »Das ist ein Fraktionator«, erklärte Calhoun. Das Miniaturgerät summte schriller. Der Ton stieg an, wurde zu einem Pfeifen und überschritt die Grenze menschlicher Hörfähigkeit. Murgatroyd kratzte sich an den Ohren und jammerte: »Tschie! Tschie! Tschiie!« »Es wird nicht lange dauern«, versicherte ihm Calhoun. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Patienten, auf dessen Stirn sich Schweißperlen bildeten. Calhoun sagte beiläufig: »Die Substanz, die dem Impfstoff seine Wirkung verleiht, muß logischerweise auch darin enthalten sein. Der Fraktionator trennt die verschiedenen Substanzen, die hier zusammengemischt sind.« Er überlegte kurz, dann fuhr er fort: »Das Gerät arbeitet nach dem chromatographischen Verfahren. Es ist ein uralter Trick!« Das stimmte natürlich. Daß eine Anzahl von gelösten organischen Substanzen durch ihre verschiedenen Diffusionswerte und durch Adsorption an anorganische Stoffe getrennt werden konnten, war seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bekannt. Da dieses Verfahren aber wenig gebraucht wurde, war es weitgehend in Vergessenheit geraten. Das bedeutete aber nicht, daß die Chromatographie von dem Raumgesundheitsdienst aufgegeben worden war, nur weil es kein taufrisches Verfahren war. Calhoun entnahm einen weiteren Tropfen des Serums und verrieb ihn zwischen zwei Glasplättchen. Dann trennte er die Glasplättchen und legte sie in den Vakuumtrockner. »Ich werde mich nicht mit einer genauen Analyse abmühen«, bemerkte er. »Es wäre Unsinn, einen so komp184
lizierten Prozeß durchzuführen, wenn man nur einen einzigen Stoff identifizieren muß. Zumindest hoffe ich, daß das genügt.« Er brachte ein Gerät zum Vorschein, das einem winzigen Staubsauger ähnelte. Damit reinigte er seine abgelegte Kleidung. Jedes Stäubchen wurde entfernt und in einer transparenten Röhre gesammelt, die zu dem Gerät gehörte. »Ich bin mit etwas besprüht worden, von dem ich das Schlimmste annehme«, fuhr Calhoun fort. »Das Mittel ließ nach dem Trocknen einen Belag zurück. Ich glaube, dieses Desinfektionsmittel sorgt erst dafür, daß jeder, der das Regierungszentrum verläßt, auch wirklich zum Para wird. Ein weiterer Grund zur Eile.« Der Gerüsttechniker knirschte erneut mit den Zähnen. Er hörte Calhoun kaum zu. Er befand sich in einer privaten Hölle von Scham und Entsetzen. Im Innern des Schiffes herrschte jetzt gespanntes Schweigen. Calhoun arbeitete ruhig und stetig, aber von Zeit zu Zeit schien sich sein Magen zu verkrampfen. Das waren keineswegs die Folgen einer Infektion oder dämonische Besessenheit, sondern allein der Gedanke an den eingesperrten Para im Laboratorium. Der Mann hatte das Unaussprechliche verschlungen, weil er nicht dagegen anzukämpfen vermochte. Aber der ekelerregende Biß hatte ihn vor Wut und Scham verrückt gemacht. Calhoun stand das gleiche bevor… Der Lautsprecher knisterte. Calhoun drehte ihn lauter. »Achtung, Hauptquartier!« keuchte eine Stimme. »Ein Mob von Paras bildet sich in den Straßen des MooretonDistrikts. Sie wüten! Sie haben die Rede des Präsidenten gehört, und sie schwören, ihn umzubringen! Sie wollen keine Heilung! Sie verlangen, daß jeder Para wird. Sie dulden keine Normalen auf dem Planeten. Wer sich wei185
gert, stirbt!« Der Techniker starrte auf den Lautsprecher. Bitterkeit sprach aus seinen Zügen. Er bemerkte Calhouns Blick und sagte wild: »Dort gehöre ich hin!« Murgatroyd kroch in sein Versteck. Calhoun holte das Mikroskop hervor und untersuchte die vakuumgetrockneten Glasplättchen. Der Fraktionator schaltete sich automatisch ab. Calhoun betrachtete die Staubprobe, die er den Kleidungsstücken entnommen hatte. Sie enthielt gewöhnliche Staubteilchen, Blütenstaub und allerlei mikroskopischen Unrat. Aber durch die gesamte Probe zogen sich unendlich winzige Kristalle. Sie waren viel zu klein, als daß das nackte Auge sie hätte entdecken können. Sie besaßen eine charakteristische Form. Die von einer Substanz gebildeten Kristalle geben zwar keinen exakten Aufschluß über die Art der Substanz, aber sie verraten doch dem Experten, daß diese Kristallstruktur gewisse Substanzen ausschließt. Die Auswertung der Abstriche auf den Glasplättchen würde ihm weitere Hinweise geben. Die Diffusionsbestimmung einer organischen Lösung grenzte die Möglichkeiten der in Frage kommenden Substanzen noch viel enger ein. Die Ergebnisse beider Untersuchungsmethoden müßten ihn auf die richtige Spur bringen. Wieder eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Hauptquartier! Paras massieren sich am Nordtor! Es wird bedrohlich! Sie versuchen in das Regierungszentrum einzudringen! Wir werden zu den Waffen greifen müssen, um sie aufzuhalten! Wie sind Ihre Befehle?« Der Gerüsttechniker sagte tonlos: »Sie werden alles niederreißen. Weil ich ein Para bin, möchte ich nicht mehr leben. Dabei habe ich noch nicht 186
einmal wie ein Para gehandelt. Noch nicht. Meine Leidensbrüder benehmen sich wie Paras, weil sie nicht geheilt werden! Weil sie nie vergessen können, was sie getan haben! Weil sie sich zu Tode ekeln müssen!« Calhoun aktivierte ein kleines Elektronengehirn. Er fütterte die Ergebnisse seiner Untersuchungen in den Computer, wo sie mit den Informationen in den Erinnerungsspeichern verglichen wurden. Eine Stimme plärrte aus einem zweiten Lautsprecher, der ebenfalls auf Außenfrequenz eingestellt war: »Meine Mitbürger, ich trete mit der Bitte an Sie heran, Ruhe zu bewahren. Bitte haben Sie Geduld! Üben Sie die Selbstkontrolle, die Sie sich und Ihrer Umwelt schuldig sind! ich appelliere an Sie …« Draußen im Sternenlicht ruhte das Raumboot friedlich auf seinen Landestelzen. Rundum und darüber erhob sich das Gerüst. Hier im Licht der Sterne übertrugen die Funkwagen die gleiche Stimme, dieselbe Botschaft. Der Präsident von Tallien III hielt seine dritte Ansprache. Kurz zuvor hatte er von dem Mann Befehle entgegengenommen, der bereits absoluter Beherrscher über die Planetenbevölkerung war. Die Polizei stand unschlüssig um das Raumboot herum. Einige der Polizisten, die zuvor das Kontrollgebäude betreten hatten, warteten zitternd im Freien und fanden nicht den Mut, es noch einmal zu wagen. Eine drückende Stille lastete über dem Raumhafen, die durch das Singen des Windes in den oberen Teilen des Gerüstes noch unheimlicher wirkte. Am Horizont war ein schwaches Leuchten zu sehen. In der Hauptstadt brannten noch die Straßenlampen. Aber obwohl die Gebäude hoch in den Himmel ragten, schimmerten dort keine Lichter. Niemand hielt es für 187
klug, seinen Aufenthaltsort zu verraten. Sicher, es gab die Polizei, aber sie hielt sich im Regierungsbezirk auf. Der größte Teil der Stadt war dunkel und trostlos leer, bis auf den Mob, der sich durch die Straßen wälzte. Neun Zehntel der Stadt waren der Gnade der Paras ausgeliefert. Familien verdunkelten ihre Wohnungen, versteckten sich ängstlich in düsteren Ecken und Kammern und warteten verzweifelt, bis das Grölen der Massen sich wieder entfernte. Im Raumboot fuhr der Lautsprecher fort: »… ich habe Ihnen berichtet«, sagte der planetarische Präsident, und seine Stimme zitterte. »Ich habe Ihnen berichtet, daß Dr. Lett einen Impfstoff entwickelt hat, der jeden Bürger schützen und jeden Para heilen wird. Sie müssen mir Vertrauen schenken! Sie müssen es! Den Paras verspreche ich, daß ihre Freunde, die nicht vom gleichen Schicksal betroffen waren, vergessen werden! ich verspreche, daß niemand sich erinnern wird, was im Delirium geschehen ist! Alles, was vorgefallen ist – und es hat wahrlich Tragödien gegeben –, wird ausgelöscht sein. Haben Sie nur Geduld! Haben …« Calhoun wandte sich wieder seinen Untersuchungsergebnissen zu. Der Computer rührte sich nicht. Calhoun hatte nach einer organischen Verbindung gefragt, einer Verbindung von bestimmter kristalliner Form, bestimmtem Diffusionsgrad, bestimmtem spezifischen Gewicht und anderen charakteristischen Eigenschaften. Der Mensch glaubte nicht mehr an eine endgültige Grenze der Anzahl von möglichen Verbindungen. Die ursprüngliche Schätzung von etwa einer halben Million war längst überholt. Selbst ein Elektronengehirn brauchte Zeit, alle seine Erinnerungsspeicher auf eine Verbindung nach Calhouns Angaben hin zu erforschen. 188
»Als Wissenschaftler muß man darauf gefaßt sein, daß alles, was passieren kann, tatsächlich geschehen wird! Oder genauer: daß jede Verbindung, die existieren kann, früher oder später in der Natur vorkommen wird! Wir suchen nach einer bestimmten Verbindung. Irgendwann muß sie sich auf natürliche Weise geformt haben, aber nie in ausreichender Menge, um für eine Zivilisation bedrohlich zu werden. Warum?« Murgatroyd leckte den rechten Teil seines Schnurrbarts. Er winselte ein wenig. Der Tormal war ein kleines Tier, das sich permanenter Gesundheit erfreute und von außergewöhnlicher Fröhlichkeit erfüllt war, ganz einfach deshalb, weil er sich des Lebens freute. Im Augenblick schien Murgatroyd jedoch keineswegs glücklich. »Es ist seit langem bekannt«, dozierte Calhoun ungeduldig, »daß keine Lebensform allein existieren kann. Jedes Lebewesen befindet sich in einer spezifischen Umgebung, in Gemeinschaft mit und abhängig von seiner Umwelt. Alles, was Bestandteil dieser Umgebung ist, ist für das Lebewesen von Bedeutung. Also sind organische Verbindungen genauso wichtige Teile eines planetarischen Lebenssystems wie – beispielsweise – Kaninchen auf einer erdähnlichen Welt. Sind keine natürlichen Feinde vorhanden, werden sich die Kaninchen vermehren, bis sie verhungern.« Murgatroyd jammerte »Tschie!« und nochmals ganz erbärmlich »Tschie!« »Ratten«, fuhr Calhoun verärgert fort, »Ratten ist es auf verlassenen Schiffen schon so ergangen. Ein Mann namens Malthus behauptete, uns Menschen würde es eines Tages nicht besser gehen. Aber er hatte unrecht, weil nicht allein die Erde zur Ausbreitung der Menschen zur Verfügung stand. Wir haben die Galaxis erobert. Und 189
wenn uns diese einmal zu eng wird, dann finden wir andere Sternennebel – ohne Ende! Aber es hat Fälle gegeben, wo sich Ratten und Kaninchen über jegliches erträgliche Maß hinaus vermehrt haben. Und hier handelt es sich um ein organisches Molekül, das sich übermäßig vermehrt hat. Es ist ein ganz unbedeutendes Molekül, das in seiner normalen Umgebung von anderen Molekülen in Schach gehalten, ja von ihnen aufgelöst wird. Dadurch wird seiner anormalen Vermehrung eine Grenze gesetzt. Es ist also genau wie bei Ratten und Kaninchen, deren natürliche Feinde dafür sorgen, daß sie nicht überhandnehmen. Bei diesem bestimmten Molekül jedoch fehlt der Feind, der Aufpasser.« Die dröhnende Stimme des Präsidenten war immer noch zu hören. Er erhielt laufend Berichte, las sie vor und verhandelte mit den Paras, die versucht hatten, das Nordtor des Regierungszentrums zu stürmen und die gesunden Menschen zu infizieren. Der Präsident war bemüht, Rhetorik zu einer Waffe gegen den Wahnsinn zu machen. Calhoun schnitt eine Grimasse und sagte ärgerlich: »Das ist nun ein Molekül, das existieren muß, weil es dazu fähig ist. Es ist ein Teil einer normalen Umgebung, aber erzeugt normalerweise keine Paras. Hier aber schon! Warum? Welche Verbindung oder welcher Umstand verhindern sein Überhandnehmen? Was fehlt. Und warum fehlt es hier?« Jemand brüllte in das Mikrophon des Polizeifunks: »An alle Polizeifahrzeuge! Paras haben die Gebäudemauer an der Westseite durchbrochen! Sie stürmen das Zentrum! Alle Wagen sofort in das gefährdete Gebiet! Waffen auf Maximalstärke einstellen. Treibt sie zurück oder tötet sie!« Der Gerüsttechniker wandte sich verbittert an Cal190
houn. »Die Paras – wir Paras – wollen nicht geheilt werden!« sagte er wild. »Wer möchte schon wieder normal sein und sich erinnern, daß er Aasfresser vertilgte? Ich habe es bis jetzt noch nicht getan, aber … Wer könnte sich mit einem Mann unterhalten, von dem er weiß, daß er – daß er …« Er schluckte. »Wir Paras wollen, daß alle so sind wie wir, damit wir den Zustand ertragen können! Einen anderen Ausweg für uns gibt es nicht – es sei denn der Tod!« Er erhob sich und griff nach dem Strahler, den Calhoun zur Seite gelegt hatte, als er sich umkleidete. »… und ich werde von dieser Möglichkeit Gebrauch machen!« Calhoun wirbelte herum. Seine Faust schoß vor. Der Techniker taumelte zurück. Die Waffe entfiel seiner Hand. Murgatroyd kreischte schrill. Er haßte Gewalttätigkeit. Calhoun stand wütend über dem Techniker. »Es ist noch nicht so schlimm«, schimpfte er. »Sie haben noch kein einziges Mal gegähnt! Sie können dem Verlangen noch eine ganze Weile widerstehen! Und ich brauche Sie!« Er wandte sich um. Die Stimme des Präsidenten brach plötzlich ab. Dr. Letts sanfte, ölige Stimme wurde hörbar. »Meine Freunde! Ich bin Dr. Lett! Man hat mir alle Regierungsgewalt anvertraut, weil ich – und ich allein – die Macht über die Ursache und Entwicklung des ParaZustandes besitze! Von diesem Augenblick an bin ich die Regierung! Für Paras gilt folgendes: Eine Heilung ist nicht unbedingt erforderlich! Wenn Sie es vorziehen, ein Para zu bleiben, wird man Ihnen einen Platz und freie Verpflegung zuweisen, so daß Sie sich jener tiefen Befriedigung erfreuen können, die nur Ihnen bekannt ist! Für 191
die Normalen: Sie werden vor der Ansteckungsgefahr ausreichend geschützt werden, außer Sie selbst hegen den Wunsch, den Para-Zustand kennenzulernen. Als Gegenleistung werden Sie gehorchen! Der Preis für den Schutz ist Gehorsam; die Strafe für Ungehorsam Verlust des Schutzes! Aber jene, die ihren Schutz verlieren, haben keinerlei Anrecht mehr auf Versorgung. Paras, behalten Sie das im Gedächtnis! Normale, vergessen Sie es nicht…« Sein Tonfall änderte sich. »Nun werde ich meinen ersten Befehl geben! Polizei und Normale! Sie werden den Paras nicht länger Widerstand leisten! Paras, Sie werden das Regierungszentrum ruhig und friedlich betreten und sich von den Normalen fernhalten. Ich beginne augenblicklich mit der Organisation eines neuen sozialen Systems, in dem Paras und Normale zusammenarbeiten. Doch Gehorsam bis zur letzten …« Der Techniker fluchte und erhob sich mühsam. Calhoun bemerkte es nicht. Der Computer hatte endlich den Streifen mit der verlangten Antwort ausgestoßen. Und sie war von keinerlei Nutzen! Calhoun sagte tonlos: »Bitte, schalten Sie den Computer ab.« Während der Gerüsttechniker gehorchte, las Calhoun den Streifen immer und immer wieder. Sein ohnehin schon blasses Gesicht verlor alle Farbe. Murgatroyd kroch aus seinem Unterschlupf hervor. Er schnupperte. Er begab sich zu dem kleinen Kästchen, worin der Behälter mit den lebenden Aasfressern war. Er drückte seine Nase an den Spalt des Deckelverschlusses. »Tschiie!« meinte er befriedigt. Er blickte Calhoun erwartungsvoll an. Doch der bemerkte es nicht. »Das«, murmelte Calhoun, »das ist sehr schlimm! Es ist zwar eine Antwort auf unsere Frage, aber es würde 192
eine Menge Zeit kosten, sie nutzbringend anzuwenden. Und Zeit haben wir nicht! Dazu kommen noch die Herstellung und die Verteilung …« Der Techniker knurrte. Dr. Letts Sendung hatte Calhouns Worte bestätigt. Dr. Lett war nun die Regierung von Tallien III, und es würde niemand geben, der sich ihm entgegenzustellen wagte. Er vermochte jeden in einen Para zu verwandeln und die notwendigen Bedürfnisse zu versagen. Er konnte jeden auf diesem Planeten in einen Wahnsinnigen mit wildem, unstillbarem Appetit verwandeln und dessen Befriedigung verhindern. Die Menschen von Tallien III waren nun Dr. Letts Sklaven. Der Gerüsttechniker sagte mit vor Wut zitternder Stimme: »Vielleicht kann ich bis zu ihm vordringen und ihn töten, bevor …« Calhoun schüttelte abwehrend den Kopf. Dann bemerkte er Murgatroyd, der noch immer an dem Kästchen herumschnüffelte. Offen besaß es einen schwachen, aber unerträglichen Geruch. Geschlossen vermochte Calhoun keinen Geruch wahrzunehmen. Murgatroyd roch das Zeug durch den Deckel hindurch. Er schnüffelte immer noch. Dann drängte er Calhoun ungeduldig: »Tschie! Tschie! Tschiie!« Calhoun erstarrte. Er preßte seine Lippen aufeinander. Er hatte von Murgatroyd angenommen, daß er gegen alles immun war, denn ein Tormal vermochte schneller zu reagieren und Abwehrstoffe zu finden, als Mikroorganismen sich vermehren konnten. Doch war er nur gegenüber Giftstoffen immun, nicht gegenüber dem appetitverursachenden Molekül, das bei ihm schneller wirkte als beim Menschen. »Tschie! Tschie! Tschiie!« verlangte er noch dringender. »Tschie-tschie-tschie!« 193
»Es hat ihn erwischt«, stöhnte Calhoun. Er fühlte sich entsetzlich elend. »Es wird auch mich erwischen. Denn ich kann etwas so Komplexes, wie es nach den Angaben des Computers notwendig ist, um das Wachstum des Para-Moleküls einzudämmen, nicht künstlich herstellen!« Murgatroyd schnatterte wieder. Er war entrüstet. Er wollte etwas haben, und Calhoun verweigerte es. Ein so groteskes Verhalten war ihm unverständlich. Er hob seine pelzigen Pfoten und zerrte an Calhouns Hosenbein. Calhoun hob ihn hoch und wirbelte ihn durch die ganze Breite des Kontrollraums. Er hatte das zuvor schon oft im Spiel getan, aber jetzt war es irgendwie anders. Murgatroyd starrte Calhoun ungläubig an. »Um es einzudämmen«, sagte Calhoun bitter, »brauche ich aromatische Olefine und Azeton, Säurereste, Ester und submolekulare Gruppen des Methyls. Um es vollkommen zu zerstören, benötigte ich ungesättigte Kohlenwasserstoffe. Das müssen Gase sein! Dann muß ich das aufgespaltene Erregermolekül daran hindern, sich neu zu bilden! Dazu müßte ich zwanzig verschiedene organische Radikale zur gleichen Zeit verfügbar haben! Allein den Herstellungsprozeß auszutüfteln, bedeutet einen Monat Arbeit für ein Dutzend kompetenter Leute. Und ich müßte die Radikale und Substanzen produzieren, daß es für Tausende von Menschen reicht. Dabei haben wir weder die Regierung noch die Paras auf unserer Seite …« Murgatroyd war außer sich. Er verlangte nach etwas, das Calhoun ihm nicht geben wollte. Calhoun war ungeduldig mit ihm gewesen – etwas so gut wie Unbekanntes! Murgatroyd wand sich unglücklich. Er wollte immer noch, was in dem Kästchen war. Wenn er nun etwas tat, um sich beliebt zu machen … Er blickte sich um und sah die Waffe am Boden lie194
gen. Calhoun pflegte ihn oft mit einem Streicheln zu belohnen, wenn er, menschliche Handlungen imitierend, etwas aufhob, das auf den Boden gefallen war. Murgatroyd hopste auf die Waffe zu. Er warf einen Blick auf Calhoun. Der schritt gereizt wie ein Stier auf und ab. Der Gerüsttechniker war im geistigen Kampf gegen das Unerträgliche und Ungeheuerliche versunken. Murgatroyd ergriff den Strahler. Der Tormal hüpfte auf Calhoun zu und zerrte wieder an dessen Hosenbein. Er hielt die Waffe so, wie es seinen kleinen Pfoten möglich war. Sein schwarzer Finger lag auf dem Abzug. »Tschie-tschie!« sagte er und bot die Waffe an. Calhoun sprang hoch, als er sah, was Murgatroyd in den Pfoten hielt. Der Strahler drohte seinen Fingerchen zu entgleiten. Er faßte fester zu, dabei zog er den Abzug durch. Ein Strahlgeschoß verließ lärmend den Lauf. Gleich einem Kugelblitz raste es in den Boden, verdampfte den Oberflächenbelag und verkohlte das vielschichtige Holz darunter. Das ganze Schiff stank plötzlich nach Holzrauch und geschmolzenem Belag. Murgatroyd flüchtete in höchster Panik in seinen Unterschlupf. Calhouns Gesicht drückte reine Überraschung aus. Einige Sekunden lang war er sprachlos, dann sagte er verdutzt: »Verdammt! Wie blöd kann der Mensch sein, wenn er sich anstrengt? Riechen Sie das?« fragte er den Gerüsttechniker. »Riechen Sie das? Das ist Holzrauch – Holzrauch!« Murgatroyd lauschte furchtsam. »Holzrauch!« sagte Calhoun fast andächtig und biß sich auf die Lippen. »Und ich bin nicht daraufgekommen! Der Mensch kannte das Feuer zwei Millionen Jahre lang – und die Elektrizität erst ein halbes Jahrtausend. Zwei Millionen Jahre gab es keinen Mann, keine Frau 195
und keine Kind, die nicht täglich Gase eingeatmet hätten, die beim Verbrennen von Holz entstehen! Ich erkannte nicht, daß diese Gase ein normaler Bestandteil der menschlichen Umgebung waren! Daß sie ganz einfach nicht fehlen durften!« Ein Krachen riß Murgatroyd hoch. Calhoun zerschmetterte einen Stuhl. Der Stuhl war eine Rarität, da er ganz aus Holz bestand. Und gerade, weil er eine Rarität war, hatte Calhoun ihn sich angeschafft. Jetzt zerschlug er ihn zu kleinen Stücken, schichtete die Holzscheite auf zu einem Haufen und schoß mit dem Strahler hinein. Die Luft im Raumboot wurde beißend, stechend, würgend. Murgatroyd nieste. Calhoun hustete. Der Gerüsttechniker kämpfte mit einem Erstickungsanfall. Aber in dem weißen Rauch schrie Calhoun triumphierend: »Aromatische Olefine! Azeton! Ester! Säureradikale und Submolekulargruppen des Methyls! Und Rauch enthält ungesättigte Kohlenwasserstoffgase … Das ist das Zeug, das unsere Vorfahren in winzigen Mengen hunderttausend Generationen lang eingeatmet haben! Natürlich war es wesentlich für sie! Und für uns! Es war ein Teil ihrer natürlichen Umgebung, also mußten sie Verwendung dafür haben. Es kontrollierte auch gewisse Moleküle …« Die Lufterneuerungsanlage saugte den Rauch und die verbrauchte Luft automatisch ab, doch das Raumboot roch immer noch nach Holzrauch. »Wir wollen die Sache sofort überprüfen!« schnappte Calhoun. »Murgatroyd!« Der Tormal kam zögernd aus seinem Unterschlupf gekrochen. Er blinzelte Calhoun flehentlich an. Auf wiederholten Befehl hopste er schließlich seinem Herrn entgegen. Calhoun streichelte ihn. Dann öffnete er das Kästchen, in dem sich der Behälter mit den Aasfressern befand. 196
Er nahm den Behälter heraus und öffnete den Verschluß. Murgatroyd fuhr zurück. Sein Ausdruck war unbeschreiblich. Fraglos hatte man seine Nase aufs tödlichste beleidigt. Calhoun wandte sich an den Techniker. Er hielt ihm eine Probe hin. Der Mann biß die Zähne zusammen und nahm sie. Dann begann sich sein Gesicht zu verzerren. Hastig gab er Calhoun die Probe zurück. »Es ist entsetzlich!« keuchte er benommen. »Entsetzlich!« Dann riß er den Mund auf. »Ich bin kein Para! Ich bin kein Para …« Nachdem er zur Besinnung gekommen war, sagte er wild: »Wir müssen sofort etwas unternehmen! Wir müssen anfangen die Paras zu heilen …!« »Die«, unterbrach Calhoun, »sich zu Tode schämen werden, sobald sie sich erinnern. Wir können nicht mit ihrer Mitarbeit rechnen! Und wir dürfen auch von der Regierung keine Hilfe erwarten! Die Männer, die einst die Regierung bildeten, sind nun Paras und haben ihre Autorität Dr. Lett übertragen. Sie nehmen doch nicht etwa an, daß er abdanken wird, oder? Schon gar nicht, da er doch mit ziemlicher Sicherheit die Ursache dieser Krankheit war.« Calhoun lachte fast hysterisch. »Möglicherweise war das Ganze nur ein Zufall. Vielleicht entdeckte er eines Tages ganz erstaunt, daß etwas mit ihm vorgegangen war. Aber in diesem Zustand der Erniedrigung durfte er nicht allein bleiben. Das konnte er nicht ertragen. Also schuf er dieselben Voraussetzungen für andere. Das war der erste Schritt zur Para-Epidemie. Und schließlich wollte er, daß es keinen mehr gab, der nicht so war wie er …« Calhoun seufzte. »Nein, von ihm können wir keine Hilfe erwarten!« Er schaltete die Sichtschirme ein, um die Vorgänge 197
außerhalb des Schiffes zu beobachten. Er aktivierte alle Empfänger, die auf Außenfrequenz eingestellt werden konnten. Stimmen klangen auf: »Überall Kämpfe! Die Normalen dulden keine Paras in ihrer Mitte. Paras belästigen Normale … Sie berühren sie; hauchen ihnen ihren verderbenbringenden Atem ins Gesicht – und lachen, lachen; die Kämpfe …« Die Meinungen, daß der Para-Status ansteckend war, wurde von den meisten Paras weidlich ausgenützt. Infektion schien ihnen besser als Besessenheit. Trotzdem gab es natürlich auch solche, denen die letztere Deutung noch mehr zusagte und die ihren Neigungen in dieser Richtung nun keinen Zwang mehr auferlegten, was zu grauenhaften Szenen führte. Entsetzliche Schreie drangen aus den Lautsprechern. Dazwischen eine keuchende Stimme: »Schnell, schickt Polizei! Die Paras rasen! Sie …« Calhoun setzte sich an das Kontrollpult. Er betätigte Schalter, dann drückte er einen Knopf einen Augenblick lang nieder. Ein leichtes Zittern ging durch das Schiff, und ein Brüllen war von außen hörbar. Dann Stille. Calhoun blickte auf die Bildschirme, die das Gebiet um das Raumboot zeigten. Rauch und Dampf wirbelten auf. Männer rannten in kopfloser Flucht vom Schiff weg, ohne sich um ihre Fahrzeuge zu kümmern. »Ein leichter Schub mit der Notrakete«, grinste Calhoun schwach »und sie sind auch schon fort. Jetzt werden wir die Plage auf Tallien III beenden!« Der Gerüsttechniker stand noch immer ganz im Banne des Fehlens jeglicher Anzeichen seiner Entwicklung zum Para. Er sagte stockend: »Sicher! Sicher! Aber wie?« »Holzrauch!« verriet Calhoun. »Notraketen! Dächer! In der Luft dieses Planeten hat es noch nie Holzrauch 198
gegeben, weil keine Waldbrände entstehen konnten und die Menschen nichts verbrannten. Sie haben ja die Elektrizität! Also beginnen wir mit der Produktion von Holzrauch, und die Menge eines gewissen modifizierten Butylmercaptanmoleküls wird absinken. Zur normalen Höhe! Von einem Augenblick zum anderen!« Die Notraketen brüllten donnernd auf, und das Raumboot hob sich. Natürlich hatte es immer wieder Notmaßnahmen gegen Ansteckung gegeben. Man brachte nur in der menschlichen Geschichte zu blättern. Auf der Erde gab es einst einen französischen König, der alle Leprakranken in seinem Land töten ließ. Man verbrannte Schiffe und Häuser, um die Pest auszurotten, und Quarantänen, die den Alltag der Menschen empfindlich störten, wurden fast täglich verhängt. Calhouns Maßnahme auf Tallien III war drastischer als jede Quarantäne, aber sie diente einem guten Zweck. Er begann damit, die planetarische Hauptstadt in Brand zu setzen. Das Raumboot glitt über die verdunkelten Gebäude. Seine Notraketen bildeten zwei dünne, flammende Stifte von fünfzig Meter Länge. Zuerst entzündete er einige Dächer im Osten der Stadt, dann stieg er auf, um zu sehen, in welche Richtung der Wind die Flammen trieb. Dann sank er von neuem hinab, und die feurigen Zungen leckten liier und dort… Dicke Wolken von Holzrauch ballten sich über der Stadt zusammen. Sie waren nicht wirklich gefährlich, aber sie erzeugten Panik. Die Kämpfe im Regierungszentrum brachen ab, als das mysteriöse Etwas – keiner hatte je brennendes Holz gesehen oder gerochen – herantrieb. Die Menschen flohen, während sich die graue, beißende Rauchdecke über der Stadt ausbreitete. 199
Wenn man alles in Betracht zog, war es kein großes Feuer. Weniger als zehn Prozent der Stadt brannten, aber mehr als neunzig Prozent der Paras hörten auf, Paras zu sein. Mehr noch, sie hatten plötzlich wieder eine unbezwingliche Abneigung gegen den Geruch von Butylmercaptan, auch wenn es ein modifiziertes Butylmercaptan war. Und man erkannte auch sehr bald, daß kein Normaler, der Holzrauch gerochen hatte, noch Para werden konnte. Alle Städte und auch die alleinstehenden Farmen waren von jetzt an darauf bedacht, daß jeder Bewohner dieser Kolonie von Zeit zu Zeit beißenden Holzrauch in die Nase bekam. Aber Calhoun wartete nicht mehr auf diese erfreulichen Nachrichten. Er durfte nicht auf Dankbarkeit hoffen. Er hatte einen Teil der Hauptstadt in Brand gesteckt. Er hatte Paras gezwungen, nicht länger Paras zu sein und sich ihres bisherigen Zustands zu schämen. Und jene, die keine Paras gewesen waren, versuchten verzweifelt, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Sie konnten das nicht so einfach fertigbringen. Dankbarkeit dafür, was Calhoun für sie getan hatte, würde sie nur wieder an ihren Ekel erinnern. Calhoun handelte dementsprechend. Er landete am Raumhafen und verabschiedete sich von seinem Komplicen, dem Gerüsttechniker. Nachdem das Gerüst wieder funktionsfähig war, hob der Techniker Calhouns Raumboot fünf Planetendurchmesser weit in den leeren Raum hinauf. Einige Stunden, nachdem das Schiff in den Hyperraum eingetreten war, saßen Calhoun und Murgatroyd gemütlich beim Kaffee. Der Tormal leckte genüßlich an seinem leeren Schälchen, um auch den allerletzten Tropfen des köstlichen Getränks seiner Bestimmung zuzuführen. Er sagte glücklich: »Tschie!« Er wollte mehr. 200
»Kaffee«, behauptete Calhoun ernsthaft, »ist dir zur Gewohnheit geworden, Murgatroyd! Wenn sich dieser abnorme Appetit zu weit entwickelt, wirst du mich angähnen, was mir bestätigen würde, daß dein Verlangen nach Kaffee übermächtig ist. Ein Gähnen, verursacht durch das, was man ein brennendes Verlangen nennt, kann zur Ausrenkung des Kiefers führen. Das könnte dir passieren. Es würde dir nicht gefallen!« Murgatroyd sagte: »Tschiie!« »Du glaubst mir nicht, wie?« fragte Calhoun. Dann fuhr er fort: »Murgatroyd, ich werde mich mein ganzes Leben immer wieder fragen, was wohl mit Dr. Lett geschehen ist! Sie werden ihn umbringen! Aber es dürfte sehr schwierig sein, eine Strafe zu finden, die seinem Verbrechen angemessen ist. Ist das nicht viel interessanter als Kaffee?« »Tschie! Tschiie! Tschiie!« protestierte Murgatroyd ungeduldig. »Es wäre nicht sehr klug gewesen, zu bleiben und eine Routineinspektion vorzunehmen«, meinte Calhoun. »Sobald sich die Dinge wieder normalisiert haben, werden wir jemand anderen herschicken.« »Tschiie!« sagte Murgatroyd energisch. »Also gut!« gab Calhoun nach. »Ehe du dich noch mehr aufregst. Reich mir deine Schale!« Er hielt die Hand hin, und Murgatroyd streckte ihm sein Schälchen entgegen. Calhoun füllte es. Murgatroyd schlürfte genüßlich. Das Raumboot Aesclipus zwanzig eilte im Überantrieb zum Sektorenhauptquartier des Interstellaren Gesundheitsdienstes zurück … ENDE 201