PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE. NEUES JAHRBUCH
erscheint als Organ der „Stiftung zur Förderung der Begründungswissenschaft METAPHYSIK“, Sitz Würzburg – Justitiar und Mitherausgeber: RA Wolf Malo (FA f. Steuerrecht), Würzburg – in Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft für Metaphysik, Tokio, Centre International pour Étude Comparée de Philosophie et d’Esthétique“. Wissenschaftlicher Beirat: Eric Blondel (Paris), Dieter Harmening (Würzburg), Tomonubu Imamichi (Tokio), Paul Janssen (Köln), Marco Olivetti (Rom), Franz Träger (Augsburg), Dietmar Willoweit (Würzburg), Josef Zumr (Prag).
Umschlaggestaltung: Bernard Vandemeulebroecke The paper on which this book is printed meets the requirements of "ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence". ISBN-10: 90-420-2131-4 ISBN-13: 978-90-420-2131-0 © Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2006 Printed in The Netherlands
Satz: Dora Steigerwald, Würzburg
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger† Herausgegeben von Wiebke Schrader – Georges Goedert – Martina Scherbel
Band 32 – 2006
Amsterdam – New York, NY 2006
Die Intention des Jahrbuches PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE. NEUES JAHRBUCH
eröffnet Forschern, welche die Arbeit philosophischer Begründung und Rechtfertigung des Denkens auf sich nehmen, eine Publikationsmöglichkeit. Das Jahrbuch versteht sich nicht als Schulorgan einer philosophischen Lehrmeinung, sondern sieht seine Aufgabe darin, an der Intensivierung des wissenschaftlichen Philosophierens mitzuarbeiten.
Inhalt
I Erschließung von Sinnräumen Jürgen Große (Berlin) Langeweile. Zur Metaphysik einer Stimmung .............. 11 Sigbert Gebert (Kehl) Welt, Sinn, Gefühle und „das“ Nichts. Blinde Flecken der Systemtheorie ............................................ 41 Heinz-Gerd Schmitz (Köln) Onto-Semiotik. Zur Grundlegung der Zeichentheorie bei Saussure und Heidegger .......................................... 55 Vítûzslav Horák (München) Das Bild als Werkzeug ................................................... 81
II Fluchtpunkte der Freiheit Dagmar Fenner (Basel) Ist die „negative Freiheit“ ein Irrtum? Berlins Konzept „negativer Freiheit“ im Kontrast zu Taylors Gegenentwurf „positiver Freiheit“ .................. 99 Reinhard Platzek (Würzburg) Moderne Hirnforschung oder das vermeintliche Ende des freien Willens .............................................. 133
Kurt Mager (Bochum) Wissen als Verrat an der Freiheit der Existenz? Zum Problem der Subjektivität bei Karl Jaspers ......... 163 Georges Goedert (Luxemburg) Dankbarkeit als Dialogizität ........................................ 183 Andreas Lischewski (Eisingen) Über die Erziehung zum Patriotismus. Geschichtlicher Streifzug zu einem aktuellen Thema ................. 207
III Perspektiven des Sinngrundes Edgar Früchtel (München) Inneres Auge und göttliche Schau. Reflexionen zum antiken Horizont des Begriffs „Vision“ .............. Helke Panknin-Schappert (Mainz) Ein Denker zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zum Selbstverständnis des Nikolaus von Kues in seiner Spätschrift De apice theoriae ........................ Peter Böhm (Buffalo, NY) Vom Wesen des Menschseins. Überlegungen zur politischen Ästhetik bei Karl Philipp Moritz ........ Harald Holz (Bochum) All-Wesen und Unendlichkeit: Chinesische und europäische Landschaftsmalerei im Vergleich ...........
259
281
305
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IV Buchbesprechung Christoph Glimpel [Rez.] (Wolfach-Kirnbach) Reinhard Hiltscher: Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Traktat. Acht Vorlesungen mit Anhang zu einem systematischen Problem der Philosophie (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Band 71), Hildesheim/Zürich/ New York 2006 ........................................................ 373
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Redaktionsnotiz Mitarbeiterliste Redaktion Inhalt der 31 Bände
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I Erschließung von Sinnräumen
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Jürgen Große LANGEWEILE Zur Metaphysik einer Stimmung
Langeweile gehört seit der philosophischen Neuzeit zu den Stimmungen, denen metaphysische Begabung zugeschrieben wird. In Heideggers Existentialanalytik der Grundstimmung erreicht diese Tendenz ihren Höhepunkt. Der Preis für die philosophische Aufwertung der Stimmungen und unter ihnen wiederum der Langeweile war ihre Reinigung von affektivem Gehalt. Die Rede von metaphysischen Stimmungen bzw. einer spezifischen Langeweile der Philosophen führt auf die Frage, ob das metaphysische Denken seine eigenen affektiven Voraussetzungen einschließen oder ob es gewisse Stimmungen als Zugangsmöglichkeit zu ihrerseits nicht mehr stimmungshaften Einsichten begreifen soll.
Vorüberlegung: Die Langeweile der Philosophen Es gibt eine Reihe von Stimmungen, denen man eine besondere Nähe zu metaphysischen Fragen zubilligt oder zur Disponiertheit, solche Fragen zu stellen. Ein prominentes und frühes Beispiel dürfte hier die Melancholie sein, die seit Aristoteles als das Temperament des geistreichen Menschen überhaupt gilt (Problemata Physica XXX1). Im vergangenen Jahrhundert waren es Angst und Verzweiflung, denen die Existenzphilosophie und eine ihr folgende Belletristik Erschließungskraft für Seins- und Sinnfragen zuschrieb. Wie steht es mit der metaphysischen Begabung der Langeweile? In den letzten anderthalb Jahrzehnten – oder feierlicher: zur letzten Jahrtausendwende – ist eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln zur Langeweile erschienen.1 Einige davon verstehen sich als explizit philosophische Beiträge zum Thema.2 Worin das spezifisch Philosophische bzw. Metaphysische in der Behandlung von ‚Langeweile‘ bestehen könnte,
12 wird nicht immer klar, ebensowenig, ob bzw. wie Langeweile selbst einen Zugang zu philosophischen vor anderen Behandlungsweisen eröffnen könne.3 Andererseits fällt auf, wie stark in der Langeweileliteratur als Gewährsmänner fürs Phänomen – neben Literaten4 – Philosophen herangezogen werden. Das ist ein gravierender Unterschied der Rede über Langeweile gegenüber ähnlichen Stimmungen, denen sich die Genres ‚fachwissenschaftliche Monographie‘ und ‚Ratgeber‘ zuwenden. Als vorläufiger Eindruck ergibt sich: Die Langeweile hat es – trotz einer beachtlichen philosophie- bzw. allgemein geistesgeschichtlichen Dokumentiertheit – bislang schwer gehabt, als philosophisch privilegierte Stimmung das Ansehen etwa der Angst oder der Melancholie zu erlangen.5 Die Eignung der Langeweile, ein metaphysisches Thema abzugeben, bewähren der kurze Literaturüberblick wie ein erstes Nachdenken. Die Abstraktheit dieses Leidens, sein unfestgestellter Gegenstandsbezug, die davon ausgehende Versuchung zur indirekten Beschreibung (über ‚Zerstreuungen‘, die die Langeweile füllen) kommen den Anforderungen einer Prinzipienwissenschaft, einem Wissen von den nicht-empirischen Bedingungen des Empirischen auffällig entgegen, den Fragen nach Einheit und Zusammenhang der Welt nicht weniger als der Existenz.6 Mehr als andere ‚negative Stimmungen‘ (O.F. Bollnow) führt die Langeweile aus konkreten Bezügen und Interessiertheiten in der Welt hinaus. In der Gleichgültigkeit wird alles unbedeutend. Langeweile transzendiert und totalisiert, könnte man sagen. Der Ausgang auf Transzendenz und Totalität ist aber eine Minimalcharakteristik der metaphysischen Denkbewegung. Kann man darum aber von einer Langeweile der Philosophen sprechen? Die Frage läßt sich, gemäß dem Doppelsinn des Genitivs, in zweierlei Hinsicht stellen: 1. Gibt es ein spezifisch philosophisches Nachdenken über die Langeweile, sozusagen eine Langeweile eigens für die Philosophen? 2. Und umgekehrt, als die andere Form des Genitivs: Ist die Langeweile vielleicht ein Movens philosophischen Nachdenkens (gewesen)?
13 Zuvor muß jedoch eine Einschränkung in diesen Nachfragen benannt werden. ‚Langeweile‘ hat eine Zeit- und eine Sinnkonnotation, betrifft eine Erfahrung mit der Zeit sowie eines Sinnmangels. Dies ist, seit dem Ende des 18. Jh.s, nur der deutschen Wortbildung aus ‚langer weil‘ eigentümlich, nicht aber den zahlreichen Entsprechungen des Lateinischen. In den Fortbildungen des ‚taedium vitae‘, die viele der vertrauten Langeweile-Phänomene umfassen, kann die Zeitkomponente ganz fehlen.7 Im folgenden interessiert jedoch Langeweile in der genannten Doppelhinsicht.
1. Wie kann Langeweile ein Thema für Philosophen werden? Hier ist es naheliegend, nach dem Ort der Langeweile in den Spezialmetaphysiken bzw. nach metaphysischen Implikationen der Langeweile-Behandlung in einzelnen Wissenschaften zu fragen. Worin liegen die Möglichkeiten und Hindernisse in Theologie, Kosmologie, Psychologie bzw. ihren neuzeitlichen Ausformungen, etwa in Anthropologie und Soziologie, damit sich eine selbständige Metaphysik der Langeweile herausbilden konnte? Die mögliche metaphysische Autonomie der Langeweile findet sich von Anbeginn in doppelter Bedrängtheit durch Moralisierung und Pathologisierung, durch ihre Behandlung ausschließlich als willensontologisches Problem oder aus einer therapeutischen Außenseiterperspektive. Letztere überwiegt in einer der frühesten Behandlungen des Themas, nämlich im Achtlasterkatalog des Johannes Cassian. Die „acedia sive taedium cordis“ (Überdruß des Herzens, verdrossene Gleichgültigkeit) ist ein Leiden der frommen Einsiedler in der nitrischen Wüste, sie befällt den Mönch um die Mittagsstunde, daher ‚Mittagsdämon‘. Die acedia ist eine Folge ungenügender Vorbildung gegenüber den Anforderungen des einsamen Wüstenlebens, sie erscheint als eigentümliches, letztbedingtes Laster in einer Reihe von Verfehlungen (acedia – tristitia – ira …).8 Bei Gregor dem Großen
14 ist die acedia eine Verfehlung, der alle Menschen anheimfallen können, hier liegt der Akzent auf der Schwäche des Willens, durch sündhafte Trauer etwa: Die acedia verschwindet als selbständige Sünde, ist der tristitia untergeordnet. Als Thomas von Aquin sich der acedia im 2. Buch seiner Summa theologiae, über die Liebe, widmet, kann er bereits auf eine jahrhundertelange Diskussion um die Frage nach der Selbständigkeit der Langeweile qua Kardinalsünde und um ihren Ursache- oder Folgelasterstatus zurückblicken. Thomas stellt die Langeweile in eine Analogie, in der sie bis dahin noch nicht gesehen worden war: Er fragt nach ihrem Gegensatz und findet ihn im gaudium, dessen Verneinung aufs Gut des Nächsten (Neid) oder aufs Ganze der Heilsgüter gerichtet sein kann, das Mißvergnügen am bonum divinum sei die acedia. In scharfer Form, wenngleich innertheologisch zunächst fast folgenlos, wendet Thomas sich gegen eine Identifikation der acedia mit Faulheit, Trägheit, Stumpfsinn und dgl. (Summa theologiae, II, 2, 35). Die acedia bedeutet eine – selbstverschuldete – Lage des Menschen, worin verschiedene Folgelaster erst attraktiv werden können. Thomas hat, innerhalb des theologischen Kontextes, Grundzüge einer autonomen Metaphysik der Langeweile ausgearbeitet, nämlich ihre Unterscheidung von psychologischen Kompensaten und ihren Totalitätsbezug, der innerweltliche Veranlassungen übersteigt. Die Menschen- und Seelenlehre der beginnenden Neuzeit ist wesentlich Bewegungslehre. Angesichts einer ursprünglichen Bewegtheit (Streben, Wollen – conatus, cupiditas u.a.m.) ist das Erklärungsbedürftige die Ruhe, genauer: die Unruhe in der Ruhe. Diesen systematischen Platz besetzt die Langeweile. Die Sinnirritation durch den Ennui verdeutlicht, daß Transzendenz jetzt in die Seelen- bzw. Menschennatur selbst verlegt ist – diese existiert, durch Langeweile erfahrbar, in stetem Abstand zu sich, erfährt in zielloser Unruhe, daß sie nicht ganz aus einem Stoff sein kann. Bei Pascal ist die Unruhe und das Unglück des gelangweilten Menschen noch das Signum lediglich der gefallenen Natur. Glück wäre Ruhe in Gott, der Ennui zeigt etwas an,
15 nämlich den fehlgeschlagenen Autonomieversuch. Die stets auf konkrete Wunscherfüllungen gerichtete Unruhe des Menschen ist endlos, aber abkünftig von einer göttlichen Autonomie: den Menschen treibt erstens das Gefühl eines beständigen Elends, Nichtig- und Abgefallenseins, zweitens die Erinnerung an die Größe seiner ursprünglichen Natur (Pensées, Nr. 136). Glück wird als Ruhe in fiktiven – endlichen – Zielen gesucht. Es geht dabei nur um die Bewegtheit als solche, welche die Einsicht ins Elend der menschlichen Natur verbergen soll. In der Langeweile müßte diese Einsicht emporsteigen. Die ‚Zerstreuungen‘ sollen diesen Ennui, dessen Synonyme bei Pascal ‚Nichtigkeit‘, ‚Verlassenheit‘, ‚Ohnmacht‘, ‚Verzweiflung‘ sind, unterdrücken. Auch Gesellschaftlichkeit scheitert als Langeweileunterdrükkung, da sie eine – wegen des ursprünglichen Gottesverlusts aber fehlschlagende – individuelle Autonomie voraussetze: Pascal konstruiert hierfür Modellsituationen eines von allen sozialen Bezügen abgeschnittenen Einzelnen, den nur die Unerträglichkeit des Nichtstuns und Nichtsfühlens hinaus in Welt und Gesellschaft treibe (Nr. 36, 79). Der Ennui ist für Pascal mithin eine Generalhypothese für menschliche Verhaltensweisen und für Erlebnisse, deren Gehalt erst in einer Umkehr bzw. Rückwendung zum göttlichen Grund alles Sinns sichtbar werde. Pascal muß hierfür eine auszuhaltende bzw. unüberwindliche Langeweile, eine Leere, von der sich in den divertissements manifestierenden Langeweile unterscheiden. Die furchtlose Erkenntnis ersterer wäre ein Titel auf menschliche Größe, vergleichbar dem Gleichnis vom denkenden Schilfrohr. Pascal hat ‚Langeweile‘ überwiegend als Ennui, Überdruß, also Sinnlosigkeitserleben formuliert. Ein möglicher Zeitbezug liegt in seinem Hinweis, daß dem gelangweilten Menschen die Gegenwart unerträglich sei und er sich am liebsten in Erinnerungen und Projekten – Vergangenheit und Zukunft – aufhalte (Nr. 47). Bei Kant und Schopenhauer ist der Zeitlichkeitsaspekt wesentlich. Diese Autoren verankern die Langeweile fest in der Bedürfnis- und Antriebsstruktur des Menschen. Die läh-
16 menden Erfahrungen von Sinnabsenz, Motivmangel u.ä. werden gedeutet als ein Heraustreten aus dem Element der Zeit, die in ihrem leeren Verfließen nun als Anschauungs- oder Daseinsbedingung selbst anschaulich werde. Ähnlich wie bei Pascal, jedoch ohne theologischen Unterton, zeigt sich auch bei Kant und Schopenhauer in der Langeweile, daß das Dasein in sich keinen Wert besitze – weil bzw. solange es als solches fühlbar werde. „So ist die Anekelung seiner eigenen Existenz aus der Leerheit des Gemüths an Empfindungen, zu denen es unaufhörlich strebt, der langen Weile, wo bei man doch zugleich ein Gewicht der Trägheit fühlt, d.i. des Überdrusses an aller Beschäftigung, die Arbeit heißen und jenen Ekel vertreiben könnte, weil sie mit Beschwerden verbunden ist, ein höchst widriges Gefühl, dessen Ursache keine andere ist, als die natürliche Neigung zur Gemächlichkeit (einer Ruhe, vor der keine Ermüdung vorhergeht). – Diese Neigung ist aber betrügerisch, selbst in Ansehung der Zwecke, welche die Vernunft dem Menschen zum Gesetz macht, um mit sich selbst zufrieden zu sein, wenn er gar nichts thut (zwecklos vegetirt), weil er da doch nichts Böses thut. Sie also wieder zu betrügen (welches durch das Spiel mit schönen Künsten, am meisten aber durch gesellige Unterhaltung geschehen kann), heißt die Zeit vertreiben …“9 Kant hält also das LeereErlebnis für vorübergehend und scheinhaft, seine Überwindung durch Arbeit ebenso angeraten wie durch Zerstreuungen. Schopenhauer hält die in der Langeweile aufscheinende Sinnabsenz und dadurch -fühlbarkeit für metaphysisch wesentlich: „Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser Wesen und Dasein besteht, einen positiven Wert und realen Gehalt in sich selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße Dasein an sich selbst müßte uns erfüllen und befriedigen.“ Reine Willenshaftigkeit wie reine Kontemplativität entheben der Konfrontation mit dem nackten Dasein. Doch wofern „wir nun nicht in einem jener beiden Fälle begriffen, sondern auf das Dasein selbst zurückgewiesen sind, werden wir von der Gehaltlosigkeit und Nichtigkeit desselben überführt – und
17 das ist die Langeweile.“ (SW IV, 339)10 Schopenhauer folgt Kant darin, die Langeweile innerhalb einer binären Struktur von Unlust und Lust zu verankern, wobei der Unlust- bzw. Schmerzbzw. Mangelempfindung der Primat bei der Individual- wie Kulturentwicklung zukomme. Alle Befriedigung ist nur negativ. Glück ist geregelter, maßvoller Wechsel dieser Zustände von Sehnen und Erfüllung, das Unglück der Langeweile ihre zu langsame oder zu schnelle Abfolge, d.h. je das Leiden der überwiegend arbeitenden oder der überwiegend konsumierenden Klasse. Langeweile freilich beleuchtet diese Pendelstruktur als ganze, in prekärer Weise, weil sie die mangelnde Begründbarkeit des Strebens der Seele bzw. des Wollens überhaupt via temporärer Zielbenennungen verdeutliche: „Die Basis alles Wollens … ist Bedürftigkeit, Mangel also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile.“ (II, 427 f.) Die Not der Langeweile und damit die metaphysische Leere des Daseins als solchen erkennen höchstens – selten genug! – die zu dauerhafter Wunschbefriedigung Privilegierten: „Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält, ist das Streben nach Dasein. Mit dem Dasein aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen.“ (429) Eine vergleichbare systematische Stellung gewinnt die Langeweile innerhalb von Kosmologien bzw. Kosmogonien, worin die metaphysische Begründungsthematik neu verhandelt wird. Mit dem Reputationsschwund der rationalen Kosmologie und ihres metaphysischen Dogmatismus häufen sich seit dem 18. Jh. frivole Spekulationen über einen ‚Grund‘ der Welt in der Langeweile bzw. ihren Korrelaten (dem Nichts, dem Einförmigen, der Leere u.a.m.). Galiani, Wieland, Leopardi, Kierkegaard, Cioran reformulieren die metaphysische Thematik von Grund und Grundlosigkeit, Bedingtem und Unbedingtem z.T. unter dem Zeichen konstitutionstheoretischer Umwälzungen der fundamen-
18 talistischen Metaphysik. Die Rede von ‚Langeweile‘ als prima causa vor und jenseits aller innerweltlichen Verursachungen entspricht dabei auf ironische Weise gewissen transzendentalphilosophischen Unterscheidungen von phänomenaler und noumenaler Sphäre.11 Nach diesem raschen Durchgang durch diverse spezialmetaphysische Ansätze lassen sich einige Grundmerkmale festhalten, die eine philosophische Autonomisierung der Langeweile anzeigen. Ein wiederkehrendes Muster von metaphysischer Relevanz ist zunächst die Unterscheidung von trivialer, gelegentlicher und prinzipieller, theoriewürdiger Langeweile. Letztere wird zumeist über eine Reflexion zu den anthropologischen, psychologischen u.ä. Voraussetzungen von Weltüberdruß und Weltdistanz eingeführt. Diese Hochform der Langeweile, deren Unterdrückung nicht mehr gelingt, sticht gegenüber anderen Affekten bereits früh durch das Fehlen eines konkreten Objektbezugs ab. In den neuzeitlichen Anthropologien der Langeweile ist das evident in der Rede von ‚mattem Sehnen ohne Objekt‘, ‚leerem Sehnen‘ (Schopenhauer), ‚Leerheit des Gemüts an Empfindungen‘ (Sulzer, Kant), ‚Gemütshohlheit‘ (J.G. Zimmermann) u.a.m. Doch bereits anhand der theologischen Acedia-Diskussionen zeigt sich, wie der unfestgestellte affektive Status der Langeweile zu ihrem schwebenden, wechselnden Ort im Gefühlsganzen führen mußte, zuerst moraltheologisch zwischen den Lastern. Durch die Langeweile werden – in freilich depravierter Form – Erkenntnis- und Anschauungsformen sowie Daseinsbedingungen selbst aufweisbar. Leere, Sinnabsenz, Gottverlassenheit u.ä. werden als Erfahrungen gedeutet, die die Immanenz des emotionalen Lebens durchbrechen. In den neuzeitlichen Psychologien, die eine ursprüngliche Bewegtheit der Seele, einen ‚Hunger nach Empfindungen‘ (vgl. Garve, Kant u.v.a. Autoren des 18. Jh.s) unterstellen, erfährt dies eine besondere Zuspitzung. Denn da die Seele auch im Zustande der De-Motivation und Beschäftigungslosigkeit nie leer ist, mit der Langeweile vielmehr sogleich ‚aufgefüllt‘ wird (Leopardi), kann dieses Leiden nicht mehr
19 durch bloße Analyse der Seelenvermögen angemessen gedeutet werden. Eine besondere, oft – moralphilosophisch gesehen – dramatische Erfahrung macht es zugänglich (Selbsterkenntnis, Umkehr; Isolationserlebnisse). Dem entspricht als Denkform die Explikation, die Aufhellung der verfahrenen menschlichen Situation vor einem hypothetischen Negativum. Daher die Beliebtheit des Gedankenexperiments: was wäre, wenn … man im Zimmer bliebe (Pascal), sich der Schöpfer nicht gelangweilt hätte (Kierkegaard), das Nichts nicht von seiner vorweltlichen Nichtigkeit erlöst worden wäre durch Schöpfer bzw. Schöpfung (Galiani, Leopardi). Das metaphysisch anspruchsvollere Nachdenken über die Langeweile arbeitet mit Paradoxien (‚inhaltlose Ewigkeit‘, ‚hungrige Übersättigung‘, ‚genußlose Seligkeit‘ – Kierkegaard) und Figuren der Inversion. Nicht erst La Rochefoucauld entdeckt die metaphysisch belangvolle Umkehrmöglichkeit im Ennui-Phänomen: „Äußerste Langeweile kann die Langeweile vertreiben.“ (Reflexionen oder Sentenzen und moralische Maximen, Nr. 532) Von der theologischen Diskussion über acedia und gaudium bis hin zu modernen sozialpsychologischen und -anthropologischen Erörterungen der Antriebsschwäche12 ist das Phänomen des Umschlags von Überdruß in Tatendrang, von Sinngebung und Sinnverneinung in der Totalen bekannt. Wenn man in der Überschau von Langeweile-Texten eine Vielzahl von Einsatzpunkten für eine metaphysische Erhöhung dieser Stimmung entdeckt, so darf doch ein Statusunterschied nicht verwischt werden. Bei einigen Überlegungen sind metaphysische Motive erkennbar, denen Langeweile als eine Metapher für Sachverhalte dient, die auch unabhängig davon zu benennen wären. In den Spekulationen über die weltschöpferische und -erhaltende Kraft der Langeweile seit dem 18. Jh. beispielsweise ist in einer Art analoger Rede der Ennui auf das metaphysische Fragen nach dem letzten Grund abgebildet. Hier liegt, wenn auch spielerisch, eine originär metaphysische Denkbewegung vor. Davon zu unterscheiden ist die Entdeckung metaphy-
20 sischer Problemgehalte in Einzelwissenschaften bzw. regionalen Ontologien, etwa, wenn die oft äquivoke Verwendung von ‚langweilig‘ thematisch wird. So kann nämlich Langeweile als Hypothese neben anderen zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen oder -verweigerungen (Gewalttätigkeit, Apathie) herangezogen werden, darüber hinaus aber auch als Universalhypothese dienen (langweilig werdende moderne Welt)13. Oft sind es Einzelwissenschaftler selbst gewesen, die gegenüber solchen Äquivokationen Skepsis anmeldeten und philosophische Fragegehalte zur Sprache brachten.
2. Movens und Methode des Philosophierens selbst 2.1 Philosophieren aus Langeweile? Debatten um den möglichen philosophischen Gehalt der Langeweile treten nicht im luftleeren Raum auf. Wo sozial privilegierte Zeitverschwendung, sprich: die Entlastung von Handlungsund Entscheidungszwängen durch Muße unproblematisch ist, wird eine aus dieser Muße erwachsende theoretische Tätigkeit nicht leicht unter Langeweile-Verdacht kommen.14 Das Problem eines Mißbrauchs der Muße und eines dadurch begünstigten eitlen, leeren, lebensfernen, verantwortungslosen Denkens war in der Antike durchaus bekannt. In manchen hellenistischen Philosophenschulen kritisiert man diesbezüglich die platonische Akademie und die Aristoteliker. Als paradigmatische Situation, wie ein Philosophieren aus der Langeweile kommen bzw. ihr dadurch auch entkommen kann, sei kurz die Situation seit der Aufklärung rekonstruiert. Die Freiheit von unmittelbarer Existenznot durchschneidet den sorgenden Bezug zur Welt und macht sie bzw. das ihr vorgängige Nichts oder Chaos zum Gegenstand gedanklicher und bald auch schöpferischer Spiele. Dem Sorglosen ist jede Ordnung der Welt vorstellbar, so auch ihre Schöpfung aus Lange-
21 weile. Das sind Merkmale metaphysischen Denkens, die sich in den Spekulationen sozial abgesicherter, u.U. sogar auf diese Absicherung reflektierender Denker finden (Galiani, Kierkegaard). Ebenso wie die Muße ist auch das Philosophieren zunächst in einer vertikalen Schichtung der Gesellschaft leicht verortbar. Das Philosophieren kann erst dort auf diese Muße – reduktiv – bezogen werden, wo diese selbst funktional erscheint, im Gefüge der Differenz Freizeit/Arbeitszeit bzw. körperliche/geistige Arbeit. Die theoria als um ihrer selbst willen betriebene und daher höchste Tätigkeit ähnelt womöglich – etwa wie eine Allegorie – der Langeweile, sie läßt aber eben darum keine Langeweile aufkommen, weil sie ihre Zeit setzt. Ein Philosophieren aus Langeweile dagegen scheint denkbar, wenn die Gegenstände des Nachdenkens sich in einer sozialsituativ unverfügbaren, zwar sinnleeren, aber sozusagen objektiven Zeit befinden. Dieses Philosophieren wird eine Sache von Isolierten. Oder, um es in die vertraute Formel zu bringen: von Einsamkeit und Freiheit. Soziale Schichtung ist in der bürgerlichen Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert u.a. erfahrbar als Verfügenkönnen über Zeit. Langweile taucht im Gegensatzpaar von Müßiggang und Arbeit auf, Muße ist dem Müßiggang zugeordnet. Man kann nun in mehreren Schritten verfolgen, wie das Konzept eines ‚Philosophierens aus Langeweile‘ an Kontur gewinnen mußte. Mit der Aufklärungspsychologie ist die Ansetzung eines (seelischen) Bewegungstriebes beschlossene Sache. Dadurch kann das Fehlen von Triebzielen (Objekten) sowohl der leibseelischen wie der moralischen Gesundheit verderblich werden. Die Zerstreuungen sind die moralisch wie materiell kostspieligen Surrogate des Motivmangels. Hiergegen ist allen Lebensaltern und sozialen Schichten die Arbeit empfohlen. In dem objektiv vorgegebenen Takt der Arbeit kann sich aber die Unruhe der Langeweile erneut melden. Dann bietet sich die Arznei der Selbstbeschäftigung an. Die ‚geistige Tätigkeit‘ ist ihr Musterbild. Man kann zu Hause bleiben und doch tätig sein. Diese Konstellation kennt man freilich auch aus den Langeweilediskursen der weltmän-
22 nisch-aristokratischen Moralistik. (Man geht in Gesellschaft, weil man sich selbst nichts zu geben hat – Vauvenargues, Montesquieu, Chamfort.) Allerdings stellt die reflexive Tätigkeit, die Beobachtung der Langeweile der anderen, ihrerseits keinen Erlebniszusammenhang her. Ihr Medium ist die Sentenz, der Aphorismus, nicht das kontinuierliche Argumentieren. Anders die ‚geistige Thätigkeit‘ der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft, die solche Zusammenhänge schafft. Sie können ihrerseits wieder als entfremdete Lebenszeit erfahren werden. In der Spätaufklärung mehren sich die Hinweise auf die Langeweile der Gelehrten – die sie erleiden wie die sie anderen, den nicht-gelehrten Zeitgenossen, zufügen. Es heißt nun, der Gelehrte müsse Philosoph sein.15 Einsamkeit soll gleichbedeutend sein mit einer Ermächtigung, die nicht mehr der Reihung der Projekte, der wissenschaftlichen Arbeiten folgt. Die Romantiker stellen Dichter und Denker gegen den Philosophen qua Gelehrten. Erstere allein entgehen der Langeweile. Aber der von allen Verbindlichkeiten befreite Dichterdenker, der frei mit jeglichem objektiv vorgegebenen Sinn spielende Ironiker langweilt sich von neuem. Seine sinn-befreite Zeit scheint ihn geradewegs in die Verzweiflung zu führen. Diese Beobachtungen stellt ein Postromantiker wie Kierkegaard an: Langeweile sei „das einzige Stetige und Zusammenhängende, das der Ironiker“ besitze (Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates). Ihre totale Selbstermächtigung hat philosophische Reflexion wertlos, ja beliebig gemacht. Es beginnt die Suche nach nicht reflexionsbezüglichem Sinn, nach Sinntranszendenzen. Diese Suche kann zurück in die positive Religion oder ins revolutionäre Tatmenschentum führen – oder in den passiven Erlebnishunger, der nur will, daß etwas geschehe, damit die Langeweile verfliege. Der Ausgangspunkt ist jedoch in allem der gleiche, nämlich eine ‚romantische Reaktion‘ gegen eine als entfremdet, ‚verdinglicht‘ empfundene Zeitlichkeit. Dagegen wird die Langeweile zunächst als eine Leere und ein Innehalten bejaht, als ein Zustand, aus dem autonom – eigene – Zeit und Sinn
23 zu setzen sei. Novalis und F. Schlegel sprechen von der ‚Begeisterung der Langeweile‘,16 die dem philiströsen Geschäftigsein des gelehrten – auch des philosophischen – Arbeitens entgegenzusetzen sei. Schlegel nennt die „Leidenschaft der Langeweile“ als „erste Regung der Philosophie. Alle Langeweile die man hat, macht man eigentlich sich selbst.“17 Diese Hochform der Langeweile, die die welt-zeitlichen Projekte der Arbeitsgesellschaft, auch der gelehrten, auch der philosophischen, und die billigen Zerstreuungen auf eine Ebene rückt, nimmt für sich in Anspruch, mit einem anderen Zeit-Verhältnis auch eine andere Ordnung der Dinge setzen und sehen zu können. Das ist eine, die sich im privilegierten Augenblick zeigt. Denken ähnelt sich so dem Dichten an. Schopenhauer hat diese romantische Intuition ins System gebracht, wenn er nicht nur Kunst und Philosophie als die zwei Königswege beschreibt, Sinnentfremdungen der industriellen Gesellschaft zu umgehen, sondern auch die dauerhaften Palliative der Langeweile darin erblickt. Die existentielle, auch sozialweltlich benennbare Bedingung dafür ist Distanz durch Einsamkeit und Freiheit bei sozialer Absicherung. Hinreichende Ausstattung mit äußeren Gütern bei regem theoretischen Interesse – diese von Aristoteles bekannte Doppeldefinition von Glückswürdigkeit lautet bei Schopenhauer auf ‚die zwei Unnatürlichkeiten‘: „Treffen nun aber beide Unnatürlichkeiten, die äußere und die innere, zusammen, so ist es ein großer Glücksfall: denn jetzt wird der so Begünstigte ein Leben höherer Art führen, nämlich das eines Eximierten von den beiden entgegengesetzten Quellen des menschlichen Leidens, der Not und der Langenweile oder dem sorglichen Treiben für die Existenz und der Unfähigkeit, die Muße (d.i. die freie Existenz selbst) zu ertragen, welchen beiden Übeln der Mensch sonst nur dadurch entgeht, daß sie selbst sich wechselseitig neutralisieren und aufheben.“ (SW IV, 409) Die Schopenhauersche Grundunterscheidung eines notleidenden und eines langeweilegeplagten Daseins erzwingt dann folgenden Befund: „Dem bei weitem größten Teile
24 der Menschheit aber sind die rein intellektuellen Genüsse nicht zugänglich; der Freude, die im reinen Erkennen liegt, sind sie fast ganz unfähig: sie sind gänzlich auf das Wollen verwiesen.“ (I, 431) Philosophische wie künstlerische ‚Ideenschau‘ via Kausalitätsunabhängigkeit und Willensverneinung realisiert sich erst in Fixierung gewisser innerweltlicher Bedingungen. Eine Totalität von Sachverhalten zeigt sich im theoretischen oder ästhetischen Verweilen jenseits der langweilenden Monotonien bürgerlicher Arbeit und Zerstreuung (gefangen in der linearzeitlichen Ordnung des Willens und der Gründe), durch Distanz werden diese transzendiert. Derlei Distanznahme kann auch, etwa in pastoraltheologischer Bewertung, als schuldhaft aufgefaßt werden.18 In jedem Fall aber ist dieser Zusammenhang gesehen: gewisse existentielle Reduktionen oder Rückzüge gewähren den Blick auf ein seinerseits reduziertes welttranszendentes Ganzes.
2.2 Ist Langeweile als metaphysische Schlüsselstimmung operationalisierbar? Transzendenzzugang durch ontische Selbstexilierung, wie zuletzt am Beispiel Schopenhauers ersichtlich, hat ihren Preis: nur bestimmte Teile der Person gewinnen Bezug zu einer Totalität, und diese Totalität ist ihrerseits eine, die nur um den Preis solcher Vereinseitigungen erscheint. Wie sähe eine Alternative dazu aus? ‚Dasein‘ oder ‚Leben‘ selbst transzendieren in ein Ganzes, der Philosoph, der dieses auslegt, findet sich selbst in der Totalität des Seienden vor, ist also nicht schon qua Philosophieren der erfahrungshaften Situiertheit enthoben oder ihr überlegen. Für die Problematik metaphysischer Autonomisierung der Langeweile bedeutete dies, daß ihr Wesen als Stimmung im Unterschied zu Affekt und Ratio deutlich geworden sein muß. Der offene Gegenstandsbezug der Stimmungen verspricht einen Stand inmitten einer Totalität und doch gleichzeitig die Transzendierung dieses Standes durch je verschiedenen Bezug
25 auf sie.19 Denn Affekte sind stets intentional gerichtet, würden an Einzelnes binden, die Distanznahme in der ‚theoretischen Einstellung‘ hingegen faßte das Ganze um den Preis einer Reduktion in den Blick. Überlegungen wie diese finden sich nicht nur bei M. Heidegger, doch ist hier am konsequentesten die spezialmetaphysische bzw. regionalontologische Einbindung der Langeweile überschritten – im Unterschied zu vergleichbaren Ansätzen etwa in der philosophischen Hermeneutik oder der lebensphilosophischen Anthropologie (s. 2.2.1). Grundbefindlichkeiten wie die Angst bzw. Grundstimmungen wie die Langeweile sollen die daseinsanalytisch reformulierte Frage der Metaphysica generalis nach dem Sein als solchen wiederaufnehmen helfen. Dieses Programm, vorbereitet durch die Befindlichkeitsanalytik in Sein und Zeit (§ 68)20 und die Angst- und Langeweile-Deskription in Was ist Metaphysik?, ist ausführlich durchgeführt in Heideggers Vorlesung von 1929/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit.21 Metaphysik heißt dort ‚zentrales Lehrstück der ganzen Philosophie und Angriff des Daseins auf den Menschen‘ (31). In der Gestimmtheit ist Dasein als das Seiende erschlossen, das es zu sein hat. ‚Erschlossen‘ heißt freilich noch nicht, als solches erkannt – hier kommt die Existentialanalytik als Nachfolgerin der Metaphysica generalis ins Spiel (vgl. SuZ, 179). Stimmung erschließt Dasein in seiner Geworfenheit und In-der-Welt-sein als Ganzes (SuZ, 136 f.). Stimmung ist ausgezeichnet durch Weltoffenheit, Möglichkeit jeglichen Gegenstandsbezugs – ,Angängigkeit‘. In ihr und durch sie erfährt Dasein sich als Sein in Möglichkeiten. Bisherige Metaphysik habe eine solche Erkenntnis nicht leisten können, weil sie das Thema Dasein zugunsten einer Suche nach einem höchsten Seienden vernachlässigte (GdM, 68 f.). Durch Weckung der Stimmung ist Dasein als Dasein zu ergreifen (99). Nicht jede Stimmung kommt dafür jederzeit in Frage. Dasein ist so oder so. Die verborgene Grundstimmung der Zwischenkriegszeit – ‚unserer Zeit‘ – ist die Langeweile (111). Man müsse auf sie hören
26 lernen, denn üblicherweise ist eine Grundstimmung verdeckt, durch allerlei Lärm. Heidegger führt hierfür die Weltkriegskatastrophe ins Feld, die nicht als solche erfahren sei, er spricht vom ‚Ausbleiben wesenhafter Bedrängnis‘, einer Gleichgültigkeit, die uns angähne (115). Zum Beispiel aus den kulturphilosophischen Deutungen unserer Tage (Spengler, Klages, Scheler, Ziegler) – sie vergegenständlichten vorschnell, in weltgeschichtlichen Positionierungen, unsere Situation, die erst stimmungshermeneutisch angemessen auszulegen sei (111). Nach diesen Abweisungen und Abwertungen falscher bzw. unterlassener Stimmungshermeneutiken folgt die Analyse selbst. Ihr Resultat: Langeweile entsteigt einer bestimmten Art und Weise, wie unsere eigene Zeitlichkeit sich zeitigt (191). Nicht irgendein Seiendes – Zeit selbst versagt etwas! Heidegger führt in mehreren Schritten an diesen Befund heran. Worauf es ihm ankommt, ist leicht zu sehen: eine Phänomenologie der Langeweile, die jenseits einseitiger thematischer Fixierungen (‚von etwas‘ gelangweilt sein, ‚bei etwas‘ sich langweilen) steht. Sukzessive verabschiedet die Analyse die Gegenständlichkeit des Affektiven. Mitunter wird diese sogar denunziert als Form der Langeweile, die – ebenso wie Verzweiflung – die tiefe Langeweile verdeckte (vgl. 211). Entschieden wendet sich Heidegger gegen die „vulgäre Abschätzung“ der Langeweile als etwas Störendes, äußerlich nur Begegnendes (238). Als letzter Schritt bleibt nach diesen Abtragungen von Gegenständlichkeit und Subjektivität ein ‚es ist einem langweilig‘. Es erlaubt kein Ausweichen mehr, ist von weltgeschichtlicher Ortsbestimmung einerseits, bloßer Introspektion andererseits gleich weit entfernt. Mit einem „Schlag wird alles und jedes gleichgültig, alles und jedes rückt in einem zumal in eine Gleichgültigkeit zusammen. ... Wir stehen nicht mehr als Subjekte und dergleichen ausgenommen von diesem Seienden diesem gegenüber, sondern finden uns inmitten des Seienden im Ganzen, d.h. im Ganzen dieser Gleichgültigkeit.“ (208) „Die eigentümliche Verarmung, die mit diesem ‚es ist einem
27 langweilig‘ bezüglich der eigenen Person einsetzt, bringt das Selbst erst in aller Nacktheit zu ihm selbst, das ist und sein Dasein übernommen hat. Wozu? Es zu sein.“ (215) Denn „das eigentlich Versagende ist nicht das Seiende, sondern die Zeit, die selbst die Offenbarkeit dieses Seienden im Ganzen ermöglicht.“ (226) Durch „langweilende Leere“ (244), durch das „Langweilende der Langeweile“ eröffnen sich handlungsrelevante Ausblicke, die der traditionellen Metaphysica generalis verschlossen bleiben mußten. Wer Langeweile recht auslegt, der findet sich verwiesen auf jene existentielle Gegenwart des ‚Augenblicks‘, der traditionell als privilegierter Zustand der Schau eines ‚vorhandenen‘ Ganzen oder in diesem selbst als bloßer ZeitPunkt bestimmt war. Hier fehlte das Zwingende, das erst aus der Gestimmtheit erwächst. „Was demnach die bannende Zeit an sich hält und im Ansichhalten zugleich als Freigebbares ansagt und als Möglichkeit zu wissen gibt, ist etwas von ihr selbst, das Ermöglichende, das sie selbst und nur sie sein kann, der Augenblick. Die Hingezwungenheit des Daseins in die Spitze des eigentlich Ermöglichenden ist das Hingezwungensein durch die bannende Zeit in sie selbst, in ihr eigentliches Wesen, d.h. an den Augenblick als die Grundmöglichkeit der eigentlichen Existenz des Daseins.“ (224) Der weitere Fortgang führt in Heideggers politische Ontologie und Gegenwartsanalyse: „als wesentliche Not im Ganzen“ gilt hier das „Ausbleiben der wesenhaften Bedrängnis des Daseins“, nämlich „die Leere im Ganzen, so daß keiner mit dem anderen und keine Gemeinschaft mit der anderen in der wurzelhaften Einheit eines wesentlichen Handelns steht. Alle und jeder sind wir die Angestellten eines Schlagwortes, Anhänger eines Programms, aber keiner ist der Verwalter der inneren Größe des Daseins und seiner Notwendigkeiten.“ (244) Auch das ist Leergelassenheit, „die im Grunde langweilende Leere“ (ebd.). Als Besonderheit gegenüber früheren philosophischen Annäherungen an ‚Langeweile‘ ist festzuhalten: Die Stimmung ‚Langeweile‘ distanziert nicht, sondern erschließt dem Dasein
28 eine Situation. Deren Auslegung geschieht im Transzendieren des Daseins selbst. Die philosophische Leistung der Daseinsanalytik, die diesen Sachverhalt durchsichtig machen will, ist selbst stimmungshaft: eine ‚Grundstimmung‘ des Philosophierens sei zu wecken, durch ein ‚Hören auf …‘. Dafür ist eine Abtragung des Affektiven (‚Lärm‘, ‚Betrieb‘) notwendig. In diesem Freilegungs- und Besinnungsmotiv kommt Heidegger mit der philosophischen Tradition überein. Neu ist, daß das Abzutragende seinerseits durch verdeckende Auslegungen der stimmungshaften Situiertheit des Daseins bestimmt sein soll. Die philosophische Arbeit des auf Grundstimmungen hörenden Existenzontologen besteht also zu einem Gutteil im destruktiven Umgang mit Tradition und philosophischer Zeitgenossenschaft, insbesondere mit den Versuchen, Stimmungen wie die Langeweile in ‚weltgeschichtlichen Ortsbestimmungen‘ zu ‚verrechnen‘. Dafür ist eine selbst stimmungshafte Entschlossenheit vonnöten. Fazit: ‚Stimmung‘ hat bei Heidegger einen doppelten, hierarchischen Bezug zu Affekt und Theorie, die Befindlichkeitsanalyse der Langeweile verdankt sich einer Radikalisierung und Verkehrung von Motiven der Tradition. Radikalisiert ist das Drängen auf eine Lösung vom Gegenstandsbezug, der das Spezifische von Langeweile qua Stimmung im Unterschied zu ‚Affekt‘ hervorhebt. In ihr Gegenteil verkehrt ist die traditionelle Hochschätzung der theoretischen Einstellung, in die eine affektiv gereinigte Langeweile führen könne. Bevor die Probleme bzw. der Preis dieser Auffassung von ‚Stimmung‘ benannt werden, sind zwei Anschlußfragen zu stellen: Wie konnte ‚Stimmung diese Aufwertung erfahren (2.2.1), wie unter den Stimmungen wiederum ‚Langeweile‘ (2.2.2)?
2.2.1 Warum ‚Stimmung‘? Heideggers metaphysische Privilegierung von Stimmungsphänomenen ist sicher kaum zu überbieten. Aber auch neben und vor
29 der Existentialontologie hatten Stimmungen einen hohen philosophischen Stellenwert erreicht. Statt einzelner Denker und Diskussionen sei hier nur die lebensphilosophische Anthropologie aus der Nachfolge Diltheys genannt. Bei O.F. Bollnow, H. Lipps, P. Lersch, P. Schröder u.a. bildet statt des Seiendenim-Ganzen das Ganze des Seelenlebens den Ausgangs- und Zielpunkt der Stimmungsanalytik, gemäß der hier geläufigen Problemexposition aus einer deskriptiven Psychologie. Derartige Denkansätze wurzeln ihrerseits in einer bestimmten Situationsanalyse: Metaphysik sei nurmehr im Modus von Metaphysikkritik zulässig. Ein – legitimes – ‚metaphysisches Bedürfnis‘, ‚metaphysisches Gefühl‘, ‚Bedürfnis des Gemüts‘ (Schopenhauer, Lotze, Dilthey) sei, so lautet es nach dem Reputationsverlust der idealistischen Systemphilosophie im 19. Jahrhundert, von illegitimen Äternisierungen seiner Produkte, namentlich der ‚Systeme‘, abzugrenzen. Diese überwiegend anthropologisch geführte Metaphysikkritik trifft mit einer Reformulierung des Gefühlsthemas zusammen, das sich aus der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts gelöst hat und in begründungs- oder konstitutionstheoretische Zusammenhänge einrückt. Gedanken und selbst Gefühle erscheinen dabei als Leistungen oder Produkte einer ihrerseits ungegenständlichen Erzeugerinstanz. Die Unterscheidung von dauerndem Stimmungsuntergrund und temporärem Erzeugnis, von Gestaltungskraft und Gestalt fügt sich zu einer Auffassung von Metaphysik, wonach diese als fortwährende – kritische – Vergewisserung der metaphysikermöglichenden Instanz allein noch möglich sei. Das metaphysische Bedürfnis überdauert qua Stimmung seine Verfestigungen, diese können ihrerseits in einer – z.B. kritischen, ‚destruktiven‘ – Geschichte der Metaphysik rekonstruiert werden. Das Verhältnis von metaphysischem Bedürfnis zu faktisch auftretender Metaphysik entspricht dem von Stimmung zu Ausdruck. Philosophie erscheint demgemäß in der analytischen Doppelhinsicht von deskriptiver Psychologie und historischer Geisteswissenschaft. In W. Diltheys Spätwerk zeigt sich, wie die Stimmungen hierdurch in eine
30 fundamentalphilosophische Position aufsteigen können. Stimmungen sollen basal und umgreifend sein: „Lebensstimmungen, die zahllosen Nuancen der Stellung zur Welt bilden die untere Schicht für die Ausbildung der Weltanschauungen“ (DGS VIII, 82)22, die je Schöpfung einer Person sind, „in welche diese Alles, ihre Begriffe wie ihre Ideale ergießt“, „von Einer Gemütsverfassung, Einer Grundstimmung getragen“ (33). Die Stimmungen sind dadurch aus der Trias der antiken wie der neuzeitlich-empirischen Seelenlehre23 herausgelöst und herausgehoben übers bloße ‚Gefühl‘. Stimmungen sind mehr als Gefühlszustände, sie sind umgreifende Weltbezüge, nicht auf Einzelobjekte, sondern aufs Ganze der jeweiligen phänomenalen Welt bezogen, eben dadurch aber meist verdeckt und hintergründig, instabil, schwankend (vgl. DGS I, 364; VIII, 92, 162 f.). Das Verhältnis von Grundstimmung und Weltanschauungsgebilden ist ein Verhältnis der unvermeidlichen Vergegenständlichung. Dadurch kommt in Diltheys metaphysikgeschichtliche Narrationen ein tragischer Ton wie von Schicksalhaftem. Aber eben nur ein Ton. Die Grundmelodie nimmt das metaphysische Motiv der Ewigkeitsaspiranz auf: die metaphysische Stimmung ist der die Systeme überdauernde Rest- und darin Grundbestand der Metaphysikgeschichte (vgl. DGS I, 364), das metaphysische Bewußtsein bspw. der Person in ihrer Selbstbesinnung sei „ewig“ (386). Ihre wirkungsreichste Ausarbeitung erhalten diese Ansätze in O.F. Bollnows Studie Das Wesen der Stimmungen (1941).24 Stimmungen seien die der Spaltung von Mensch und Welt vorausliegende ursprüngliche Einheit (WdS, 26), sie lägen als unterste Stufe dem gesamten seelischen Leben zugrunde (33). Die Probleme von Selbstbeschreibung, wie in Introspektionspsychologie und systemidealistischer Subjektlehre gleichermaßen einschlägig, entfallen damit. ‚Lebensgefühle‘ oder ‚Stimmungen‘ seien die einfachste und ursprünglichste Form, in der das Leben seiner selbst ‚inne‘ werde (ebd.). Bollnow teilte die Heideggersche Intention, „den strengen Sinn der Stimmung als der Grundverfassung des menschlichen Daseins“ herauszuarbeiten (34).
31 Vielleicht aus Respekt vor den entsprechenden Angst-Analysen in SuZ und WiM läßt Bollnow eine existenz- wie lebensphilosophisch typische Zweideutigkeit zu, wenn er die Stimmungen zugleich als ohne „bestimmten Gegenstand“ und „gegenständlich unbestimmt“ qualifiziert (34 f.). Freilich weiß Bollnow, daß man mit ‚Stimmung‘ ein Doppeltes bezeichnet: „sowohl den Stimmungsuntergrund als auch den Stimmungswechsel; sie geht sowohl auf das Beharrende als auch auf das Veränderliche innerhalb der menschlichen Seele“ (60). Bollnows Stimmungsbegriff ist normativ und daher nicht ohne Restriktionen: „Jede Stimmung ist Übereinstimmung, und so handelt es sich auch bei der ‚Gemütsstimmung‘ um eine solche durchgehende Übereinstimmung des ganzen Menschen, der in seinen verschiedenen Seiten gleichmäßig auf einen bestimmten ‚Ton‘ gestimmt ist.“ (39) Die Hoffnungen in derlei Problemexpositionen sind unübersehbar: Überwindung von Dualismen (innen – außen, Subjekt – Objekt, Mensch – Welt), Überwindung einer ‚bloß theoretischen Einstellung‘. Durch ‚Stimmung‘ und ‚Lebensgefühl‘ kann sich auch der Mann am Schreibtisch mitten ins Leben bzw. ins Ganze des Seienden versetzt fühlen. Überdies haben ihm – in der rasanten Akademisierung der Lebensphilosophie im ersten Drittel des 20. Jh.s – Stimmungsanalyse und Weltanschauungstypologie neue Arbeitsfelder geschaffen (Dilthey, Lipps, Jaspers, Bollnow).25 Die Gefährdungen dieses Denkens erweisen sich angesichts der in ihm bevorzugten Metaphorik von Schicht und Quelle. Bollnow nennt die Stimmungen „unterste Schicht des seelischen Lebens“, „tragender Grund der Seele“, Straßer spricht von Gefühlen als „höheren Leistungen“, die dem Stimmungsuntergrund „entquellen“ (vgl. WdS, 37). Die Zweideutigkeit der Stimmung liegt dabei in ihrer Beanspruchung als Basis und Ursprung konkreter affektiver wie rationaler Vollzüge. Die metaphysischen Aspirationen aus dieser Zweideutigkeit zeigen sich an der Definition der ‚Stimmung‘ im Kontrast zu ‚Affekt‘: ohne bestimmten Gegenstand bzw. gegenständlich unbestimmt.26 Die Hoff-
32 nung ist offensichtlich, in einer gegenständlichen Unbestimmtheit sei Gegenständlichkeit überhaupt zu fassen, das Verführerische liegt darin, daß eine Disposition (z.B. ‚Offenheit‘, ‚Angängigkeit‘) sich anscheinend wie ein Faktum behandeln läßt ohne reduktionistischen Beigeschmack. Hiermit schließt sich der Kreis zur Langeweile-Problematik. Die Eröffnung einer Sphäre der Gegenständlichkeit überhaupt war bei Heidegger als die spezifische Leistung der Gestimmtheit, das Leerbleiben oder Leerlassen dieser Sphäre war in der Tradition als spezifische Leistung des Ennui gesehen worden. Bollnow u.a. Lebensphilosophen protestieren gegen die Auszeichnung gewisser Stimmungen als metaphysisch begabter ‚Grundstimmungen‘, trotzdem ist die Irritation angesichts der Unbestimmtheit der ‚negativen Stimmung‘ Langeweile spürbar. Bollnow grenzt sie ab von der Heidegger so wichtigen ‚Ungestimmtheit‘, die den Lastcharakter des Daseins selbst in den Blick bringe: „Zwar hat auch die Langeweile dieselbe ‚Fahlheit‘ mit der vollen Ungestimmtheit gemeinsam, in der die Farbigkeit des Lebens wie in einem Nebel verschwindet, und doch bedeutet dies in der Langeweile wieder schon einen bestimmten durchgehenden Ton, der vom Menschen eine Antwort erfordert und aus dessen wirklichem Aushalten eine neue Kraft des Lebens hervorgeht, während in der Ungestimmtheit jeder Anhaltspunkt für eine menschliche Antwort fehlt.“ (WdS, 64)
2.2.2 Warum ‚Langeweile‘? Die metaphysische Brisanz der Langeweile unter den Stimmungen läßt sich nun genauer fassen. Sie liegt in ihrer Aura von Abstraktheit, Ambiguität, Absolutheit innerhalb des Gefühlsganzen. Abstraktheit: In der Langeweile werden Bezüge auf innerweltlich Einzelnes zugunsten einer Direktbeziehung auf ein Ganzes überschritten. Sinnbedingungen und -zusammenhänge
33 wie Zeit, Sein, Leben, Dasein, Selbst und Welt werden negativ bzw. im Ausbleiben konkreter Erfüllungen erfahrbar. Dies betrifft zunächst Langeweile als Sinnirritation, als Sinn-Frage. Dazu kommt aber noch eine metaphysische Leistung aus ihrem Zeitbezug. Mit der Langeweile scheint nämlich inmitten eines affektiven Geflechts dessen temporale Ermöglichung, ihr ‚Grund‘ oder ihre ‚Möglichkeitsbedingung‘, faßbar. Langeweile folgt einerseits Mangel, Schmerz, Not innerhalb einer binären Struktur sich zeitigender Existenz, doch in ihr allein kann diese Gesamtstruktur durchsichtig werden. Aus der Langeweile allein läßt sich über Not und Langeweile, Elend und Elendsverdeckung etc. philosophieren (Pascal, Schopenhauer, Heidegger). Die Langeweile hat ihre Zeit, bringt andererseits das Humanspezifische bzw. Existentielle von Zeitigung in den Blick. Hierbei zeigt sich freilich schon die typische Ambiguität solch einer ‚Langeweile der Philosophen‘. Im Gegensatz zu anderen metaphysisch beanspruchten Stimmungen ist die Langeweile nämlich nicht ein psychologisch-empirisches Phänomen mit transzendentalem Doppelgänger, der nach methodischer Purifikation des ersteren schon die philosophische Relevanz des solcherart ‚Erschlossenen‘ verbürgt. In der ‚Furcht‘ etwa kann ein konkretes, innerweltliches Wovor durch ein transmundanes Worum ersetzt werden, auf daß sich metaphysisch belangvoll von ‚Angst‘ reden lasse. Kann die Langeweile vergleichbare Aussichten eröffnen? Gerade ihre doppelte Leistung, konkrete Stimmung als auch das Stimmungsganze zu vergegenständlichen (durch Aussetzen, Leerhalten) hat immer wieder verunsichert. Manifest ist dies bei Bollnow, der sich fragt, ob Langeweile noch unter die Stimmungen gehöre oder eine Ungestimmtheit sei. Bollnow war es auch, der auf die Gegensatzlosigkeit einiger Stimmungen hingewiesen hat (vgl. WdS, 49). Darin liegt ein Versprechen von Absolutheit, das noch in der existenzphilosophischen Privilegierung von Angst und Verzweiflung das Fortwirken älterer metaphysischer Motive bezeugt. Auch die Langeweile scheint in einer Sonderstellung über Affekt-Gegensatzpaaren zu thronen, in-
34 dem sie das gesamte affektive Leben lahmzulegen vermag. Ihr funktionaler Status in den modernen Metaphysiken der Stimmung erinnert an den von Begierde, Streben, Verwunderung gegenüber Trauer/Freude, Unlust/Lust in der rationalen Psychologie der Neuzeit (Descartes, Spinoza). Doch ist die Langeweile wirklich ohne affektives Oppositum? Man könnte dieses im Staunen erblicken, dem Affekt der Interessiertheit überhaupt, der schon bei Descartes neben der Begierde als gegensatzlos beschrieben ist (Les passions de l’ame, § 53). Das Staunen über Einzelnes, das sich bis zum Staunen über das Seinsganze zu steigern vermag, steht am Anfang der abendländischen Metaphysikgeschichte. Der Weg der Philosophie beginnt bei einem Staunenerregenden (Theaitetos 155 d; vgl. Aristoteles, Metaphysik I c 2, 982 b) und führt auch zu einem solchen hin (Symposion 210 e). Ist die Langeweile prominent geworden als die typische Bedrohung des Fachmanns, des Berufsphilosophen – des Denkers am Ende einer Denkgeschichte? Langeweile vor der Fülle des schon Gedachten, allein übrig bleibend der Nachvollzug einer fixen Ordnung geschichtegewordener Denkvollzüge, darin Gegenstück des Staunens am Anfang? Diese Motivlage scheint Heidegger vor Augen gestanden zu haben, als er fast gleichzeitig mit seiner Ankündigung einer destruktiven Geschichte der Metaphysik sich an die Vorlesungen zur Langeweile machte und wenig später das Staunen als Grundstimmung des Anfangenkönnens, des neuen Anfangs benennt.27
Schlußbetrachtung In einem starken Sinne ist von einer ‚Langeweile der Philosophen‘ und überhaupt von ‚metaphysischen Stimmungen‘ nur dann zu reden, wenn die Aspekte 1 und 2 vorliegender Betrachtung, d.h. eine bestimmte Thematik mit einer bestimmten Zugangsweise, verschränkt sind. Heidegger und Bollnow erheben je diesen Anspruch. Existentialontologie und lebensphilosophi-
35 sche Hermeneutik bzw. Anthropologie behaupten, daß wegen des unbestimmten Gegenstandsbezugs in einigen Stimmungen – ‚eigentlichen‘ Stimmungen wie Angst und Langeweile – oder Stimmungen überhaupt eine Person sich ganzheitlich oder daß ihr ein Weltganzes gegeben sei oder daß überhaupt dieser Unterschied in der Stimmung schwinde. Dennoch bedeutet als ganze ‚gegeben‘ oder ‚erschlossen‘ ja nicht ‚als ganze zugänglich‘. Stimmungen können eine metaphysische Beunruhigung anzeigen. Die Beunruhigung z.B. darüber, daß es auf die Frage nach dem Ganzen der Welt und des Lebens keine Antwort gibt, muß jedoch ihrem Sachgehalt nach nicht stimmungshaft sein. Gerade in dem radikaleren Konzept Heideggers, der das Dasein durch die Stimmung ins Ganze-des-Seienden versetzt, durch die Langeweile es mit sich selbst konfrontiert sieht, wird deutlich: eine affektförmige Beunruhigung kann das Denken auf einen metaphysischen Weg bringen, das Affektive dieser Beunruhigung schwindet bei Explikation, gibt jedenfalls keine konkreten Explikationsschritte vor. (Freilich sagt Heidegger selbst, daß ‚eigentliche Stimmung‘ wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit besage.) Damit scheint sich folgende Alternative zu ergeben: Entweder man kehrt zur methodischen Auszeichnung gewisser Stimmungen als theoretischer Einstellungen zurück, erkauft Transzendenz und Totalität durch regionalontologisch beschreibbare Distanzierungsakte (Bollnow etwa akzeptiert diese affektiven Voraussetzungen in seiner Rede von ‚theoretischen Stimmungen‘). Oder man verzichtet auf den Anspruch einer Handhabbarkeit von Stimmungen, betont ihre Offenheit, Angängigkeit (was die Tradition ‚pathe‘ nannte) und hört auf das, was sie je und je, von Zeit zu Zeit zu sagen haben nach ihrer Freilegung qua ‚Grundstimmungen‘. Dann muß gewärtigt werden, daß die metaphysische Einsicht mit ihrer Zeit verschwinde.
36 Anmerkungen 1 Martina Kessel, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001; Valentin Mandelkow, Der Prozeß um den „ennui“ in der französischen Literatur und Literaturkritik, Würzburg 1999; Patricia Meyer Spacks, Boredom. The Literary History of a State of Mind, Chicago/London 1995; Didier Nordon, L’ennui – féconde mélancolie, Paris 1998; Norbert Jonard, L’ennui dans la literature européenne: des origines à l’aube du XXe siècle, Paris 1998; Frantz-Antoine Leconte, La tradition de l’ennui splénétique en France de Christine de Pisan à Baudelaire, Washington/Paris 1995; Christopher Schwarz, Langeweile und Identität: eine Studie zur Entstehung und Krise des romantischen Selbstgefühls, Heidelberg 1993; Hans Zeier, Arbeit, Glück und Langeweile. Psychologie im Alltag, Bern u.a. 1992; Martin Doehlemann, Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt/M. 1991; Anne Wallemaq, L’ennui et l’agitation, Brüssel 1991; Alfred Bellebaum, Langeweile, Überdruß und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung, Opladen 1990. Die Zahl der internationalen Zeitschriftenbeiträge zur Langeweile im letzten Halbjahrzehnt beträgt ca. 100. 2 Neben der Ratgeberliteratur mit oft impliziten Metaphysikanleihen – Beispiel: Zeier, Arbeit, Glück und Langeweile, S. 157 ff. – und einzelwissenschaftlichen Monographien, die der Langeweile der Philosophen viel Platz einräumen – Beispiel: Bellebaum, Langeweile, Abschnitte 7 bis 9 –, erschienen Philosophien der Langeweile: Benno Hübner, Der de-projizierte Mensch. Metaphysik der Langeweile, Wien 1991; Friedhelm Decher, Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Langeweile, Lüneburg 2000; Lars Svendsen, Kleine Philosophie der Langeweile (Kjedsomhetens Filosofi, Oslo 1999), aus dem Norwegischen von Lothar Schneider, Frankfurt/M./Leipzig 2002. 3 Bei Decher fehlt solche Reflexion völlig, Svendsen ernennt Langeweile zum „philosophischen Problem“ (S. 13 ff.) auf dem Umweg über eine kulturdiagnostische Intuition (daß Langeweile „heute“ „für beinahe jeden in der modernen westlichen Welt als relevantes Phänomen angesehen werden muß“, a.a.O., S. 13) und eine moralphilosophische Analogie („Orientierungslosigkeit“ sei „typisch auch für die tiefe Langeweile“). Als Erklärungsansatz neben anderen erscheint der philosophisch-anthropologische in: Doehlemann, Langeweile? S. 62 ff. 4 Hier ist ‚Langeweile‘ ein anerkanntes und bewährtes Thema für motivgeschichtliche Untersuchungen von zunehmend interdisziplinärer Relevanz – vgl. Mandelkow, Der Prozeß, S. 8 ff. 5 Die Verspätung, mit der sich etwa ‚l’ennui‘ aus seiner Unselbständigkeit als bloß abgeschwächter Variante der Melancholie herausbilden konnte, entspricht der wissenschaftsgeschichtlichen Unbehausbarkeit der Langeweile überhaupt, vgl. Mandelkow, a.a.O., S. 9. 6 Fast unmöglich, von ‚Metaphysik‘ nicht über den Zugang durch
37 ‚Metaphysikkritik‘ zu sprechen. Für einen Querschnitt solcher Zugänge vgl. Uwe Justus Wenzel (Hrsg.), Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt/M. 1998. 7 Zur Bedeutungsgeschichte namentlich von ‚Ennui‘ im Kontrast zu ‚Langweile‘ vgl. Ludwig Völker, Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs, München 1975, S. 137 ff. 8 Johannes Cassianus, De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis, deutsch: Von den Einrichtungen der Klöster – Unterredungen mit den Vätern, zwei Bände, Kempten 1877, I, S. 95. 9 Immanuel Kant, Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1907-1917 (Reprint Berlin 1968), VII: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 151 f. 10 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, fünf Bände, Frankfurt/M. 1986 (zit. als „SW“). 11 Galiani: Gott habe die Welt aus nichts geschaffen, also haben wir Gott zum Vater, die Langeweile zur Mutter, denn das Nichts bat Gott, es aus seiner Nichtigkeit zu befreien. In Momenten der Langeweile empfinden wir nichts – unser mütterliches Erbteil aus kosmogonischen Tagen! (Vgl. Wilhelm Weigand, Die Briefe des Abbé Galiani, München/Leipzig 1907, I, S. 35-37) Ein häufiges Thema dann in Nihilismusdiskussion und schwarzer Romantik im beginnenden 19. Jh.: Gott selbst langweilt sich in der Ewigkeit dort oben und erspart sie dem Menschen bis zum jüngsten Tag (Nachtwachen von Bonaventura IX: Monolog des wahnsinnigen Weltschöpfers); Kierkegaard läßt in den Ästhetiker-Papieren von „Entweder/Oder“ ein Kontinuum von welttranszendenter und weltimmanenter Langeweile entstehen: „Die Götter langweilten sich, darum schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum ward Eva erschaffen. Von diesem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt, wuchs an Größe in genauer Entsprechung zum Wachstum der Menge des Volks.“ (Sören Kierkegaard, Entweder/Oder, I/1, deutsch von Emanuel Hirsch, Gütersloh 1985, S. 305) Selten sind kosmogonische Überlegungen zur Langeweile, die sich aus theologoumenen Schemata entfernen. Ein Beispiel wäre Leopardis Ursprungsgeschichte der Langeweile im ‚Einförmigen‘. In platonisierender Weise sind Seins- und Erkenntnisgrund einander gleichgesetzt: Einförmigkeit als Ursache und Erfahrung (in) der Langeweile. Derlei erzwingt – wie im originären Platonismus – die terminologischen Doppelungen, wie etwa in der scharfen Scheidung von Leere und Langeweile: Es gibt keine Leere in der Seele des Menschen, sie wird sogleich durch Langeweile gefüllt. Die Langeweile ähnele der Luft, die alle Zwischenräume zwischen den Gegenständen einnimmt und sogleich ihren Platz, falls sie verschwinden – so fülle die Langeweile auch die Leere in der Seele des Menschen, die es also nur in Form ihrer Verdrängung geben kann. (Giacomo Leopardi, Zibaldone, hrsg. von Ernesto Grassi, 1949, Nr. 3713). 12 So vermutet der amerikanische Sozialanthropologe Ralph Linton, „daß des Menschen Vermögen zur Langeweile eher als seine gesellschaftlichen
38 oder natürlichen Bedürfnisse an der Wurzel seines kulturellen Fortschritts liegt“ (Roger Shattuck, The Banquet Years, New York 1968, S. 185, zit. nach: Doehlemann, S. 71). Als kriminalsoziologisches Beispiel einer metaphysischen Deutungsfigur, nämlich der Tendenz des Denkens zur Konkretion, vgl. Norbert Klinkmann, Gewalt und Langeweile, in: Kriminologisches Journal XIV (1982), S. 265: Menschliches Leben dränge nach Bezug, wegen „der Unfähigkeit des Bewußtseins zur Gegenstandslosigkeit“. 13 Als typischer Text hierfür sei genannt: Joachim Bodamer, Leere und Langweile. Krankheitssymptome der modernen Gesellschaft, in: Die politische Meinung 6 (1961), S. 48 ff. Ein hohes Problembewußtsein hinsichtlich solcher Generalthesen findet sich unter – oft interdisziplinär arbeitenden – Soziologen. Als beispielhaft seien die Arbeiten von Doehlemann und Bellebaum genannt. 14 Vgl. Elisabeth Charlotte Welskopf, Probleme der Muße im alten Hellas, Berlin 1962, S. 203, S. 205. 15 Christian Garve, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, fünf Bände, Breslau 1819-1821, III, S. 59 f.: Selbst der einsame Gelehrte spüre wegen der Einseitigkeit seiner Tätigkeit „die Erschlaffung, die Trägheit, und eine gewisse Niedergeschlagenheit“, die „in einen Zustand übergehen, welcher der langen Weile … ähnlich ist“. Woraus folgt: Der Einsame „muß entweder Philosoph, oder Dichter seyn“ (S. 89). 16 Novalis, Schriften, hrsg. von Richard Samuel, fünf Bände, Stuttgart 1960-1988, II, S. 628. 17 Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler und Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, 35 Bände, 1958 ff., XVIII, S. 87. 18 Christliche Denker konnten so immer wieder einmal die Betrachtung der Welt als Welt mit der herrschend gewordenen Langeweile in Verbindung bringen. Ein Beispiel für diese Argumentationsfigur: Wenn Gott aus der Lebensmitte verschwunden sei, werde die Welt „immanent-unendlich und damit die Zeit endlos“, eine „Einbruchstelle der Langeweile“ – so Gerhard Jacobi, Langeweile, Muße und Humor und ihre pastoral-theologische Bedeutung, Berlin 1952, S. 19. Ähnlich schon Walter Rehm, Experimentum Medietatis, München 1947, S. 100: „Die Leere und Tiefe der Langeweile … ist Sinnbild jener Leere, die dort gähnt, wo ein Platz im Menschen frei geblieben ist: der Platz Gottes.“ Noch die moderne moraltheologische Behandlung der Langeweile sieht deren Spektrum „von der einfachen ‚Zerstreuung‘ beim Gebet bis zur Abneigung dagegen, bis zum Überdruß davor, bis zum Widerwillen vor Gott und den göttlichen Dingen“. Letzteren, als eine Form der sündhaften Trauer, verdrießt gerade die Hinordnung alles weltlich Seienden auf einen transzendenten Sinn (Josef Endres, Angst und Langeweile. Hilfen und Hindernisse im sittlich-religiösen Leben, Frankfurt/M. u.a. 1983, S. 75). 19 „So sicher wir nie das Ganze des Seienden an sich absolut erfassen, so gewiß finden wir uns doch inmitten des irgendwie im Ganzen enthüllten
39 Seienden gestellt. Am Ende besteht ein wesenhafter Unterschied zwischen dem Erfassen des Ganzen des Seienden an sich und dem Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen. Jenes ist grundsätzlich unmöglich. Dieses geschieht ständig in unserem Dasein.“ (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? Frankfurt/M. 141992 (zit. als „WiM“), S. 30). 20 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Frankfurt/M. 121972 (zit. als „SuZ“). 21 Martin Heidegger, Gesamtausgabe („MHGA“), hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, Bd. 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt/M. 1992 (zit. als „GdM“). 22 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, hrsg. von Bernhard Groethuysen u.a., Berlin/Leipzig 1912 ff. (zit. als „DGS“). 23 Vgl. Johann Nicolaus Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, zwei Bände, Leipzig 1777, I, S. 590. 24 Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt/M. 31980 (zit. als „WdS“). 25 Karl Jaspers’ „Psychologie der Weltanschauungen“ ist hierfür sicherlich am prominentesten geworden. Diese Arbeit führt die typologische Ordnung der Stimmungen bis ins Detail, mit der Rückung, daß es speziell die philosophischen Deutungen von Welt und Leben seien, die als ‚Gestalt‘ gewordene bzw. ‚vergegenständlichte‘ Stimmungen gelten könnten (vgl. a.a.O., Berlin 1919, S. 444 f.). 26 Vgl. hierzu die grundsätzlichen und berechtigten Einwände von Andreas Graeser, Positionen der Gegenwartsphilosophie. Vom Pragmatismus bis zur Postmoderne, München 2002, S. 75. 27 Vgl. MHGA LXV (Beiträge zur Philosophie), S. 434; MHGA XLV (Grundfragen der Philosophie), S. 155 ff., S. 170, S. 197.
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Sigbert Gebert WELT, SINN, GEFÜHLE UND „DAS“ NICHTS Blinde Flecken der Systemtheorie
Luhmann hat mit seiner These vom blinden Fleck einer jeden Beobachtung zwangsläufig die Frage nach seinem eigenen blinden Fleck aufgeworfen. Er selbst hat ihn durch „Welt“ und „Sinn“ bezeichnet. Eine Hinterfragung dieser Begriffe zeigt, daß sie auf weiteren blinden Flecken beruhen: der Ausblendung von Gefühlen (Stimmungen) und des blinden Flecks der Existenz überhaupt: „des“ Nichts.
1. Jede Beobachtung verwendet eine Unterscheidung, die sie selbst nicht hinterfragen kann. Beobachten ist die Einheit von Unterscheiden und eine Seite der Unterscheidung bezeichnen. Die Unterscheidung ist für den Beobachter ein blinder Fleck. Nur eine andere Beobachtung mit einer anderen Unterscheidung kann ihn sehen – auf Kosten der Unsichtbarkeit ihrer eigenen Unterscheidung. Möglich ist allerdings auch die Selbstbeobachtung, die die verwendete Unterscheidung auf sich selbst anwendet: Die Unterscheidung tritt in sich selbst ein. Im Falle Luhmanns führt die Unterscheidung von System/Umwelt so dazu, daß sich Luhmann als soziologischer Beobachter, der die Unterscheidung System/Umwelt verwendet, von seiner Umwelt unterscheidet. Was für die Unterscheidung aber auch dann unbeobachtbar bleibt, ist ihre Einheit, denn sie führt auf die Paradoxie der Einheit des Differenten, die eine Beobachtung verunmöglichen würde: Das Unterschiedene zeigt sich als dasselbe. Die Einheit der Unterscheidung ist ein „tiefer“ gelegener blinder Fleck. Aber auch das sieht der Beobachter, und entsprechend kann er versuchen, die Einheit zu benennen: Die Einheit der Differenz von System/Umwelt ist so nach Luhmann die „Welt“.
42 „Welt“ meint hier einen differenzlosen Begriff, läßt sie sich als Einheit von System und Umwelt doch von nichts anderem unterscheiden. „Welt“ ist einer der wenigen Begriffe, der als Letztbegriff einer universale Geltung beanspruchenden Theorie in Frage kommt. Welt aber gibt es nur für Sinnsysteme. Nur sie können die Welt als das, was sie selbst als System mit ihrer Umwelt voraussetzen, bezeichnen. Sinn gibt es andererseits nur in der Welt. Welt und Sinn setzen sich gegenseitig voraus. Für Einzelsinn ist die Welt der Letzthorizont, den jeder Beobachter mit seiner Unterscheidung voraussetzt. Alle Unterscheidungen zeichnen sich in die Welt ein. Die allen möglichen Welten vorausliegende Gesamtwelt, die „Einheitsformel aller Unterscheidungen“, der „Gesamthorizont alles sinnhaften Erlebens“,1 „ist“ dann unbestimmte Komplexität, die Welt vor aller Bedeutung, vor jeder Unterscheidung, der unterscheidungslose Weltzustand, der unmarked state. Die Gesamtwelt „ist“, wie sie „ist“. Über sie kann nichts, Tautologisches oder, schon verfälschend, nur in negativer Abgrenzung ausgesagt werden, was sie nicht „ist“.2 Sinnsysteme erleben alles im „Medium“ Sinn, können nicht sinnfrei erleben. Sinn läßt sich als Einheit der Differenz von Aktualität und Möglichkeit fassen. Der je aktuelle Sinn verweist auf weitere Möglichkeiten, genügt sich nicht selbst, sondern ist zugleich als Verweisungsüberschuß. Sinn verweist auf weiteren Sinn, aber nie aus Sinn hinaus. Unsinn kann zwar von Sinn unterschieden werden, aber diese Unterscheidung macht wiederum Sinn. Ebenso bedeutet Sinnlosigkeit nicht die Negation von Sinnhaftigkeit, sondern ist nur möglich als Negation eines besonderen Sinns. Sinn ist wie Welt ein unnegierbarer, differenzloser Begriff.3 2. Sind differenzlose Begriffe aber die „tiefsten“ blinden Flekken? Immerhin werden Welt und Sinn von Luhmann doch benannt, auch wenn sie sich nicht selbst beobachten lassen, Grenz-
43 begriffe bleiben. Setzt nicht auch ein als Grenzbegriff bezeichneter Begriff eine Unterscheidung voraus, aufgrund derer er bezeichnet werden kann? Und ist vielleicht gerade diese Unterscheidung, die der Beobachter nicht sieht, sein letzter blinder Fleck? Was sieht man nicht, wenn Welt und Sinn als Letztbegriffe fungieren? Welche Gegenbegriffe sind zu ihnen denkbar? Da die Welt alles umfaßt, was sprachlich benannt werden kann, und die Grenzen meiner Sprache bekanntlich die Grenzen meiner Welt, die Grenzen von Sinnsystemen die Grenzen der Welt sind, bleiben nicht viele Möglichkeiten. Die Welt läßt sich von nichts anderem unterscheiden, denn alles was ist, geschieht in der Welt: Ihr Gegenbegriff kann einzig „das“ Nichts sein.4 Welt als Horizont gibt es nur, solange es Sinn gibt. Sinnsysteme können sich zwar eine Welt ohne sich selbst denken, unterstellen sinnvollerweise eine sinnfreie Sphäre als ihren Unterbau, aber das sind dann Dinge ohne Horizont. Mit dem Tod hört die Welt auf, und der Tod aller Sinnsysteme bedeutete das Ende der Gesamtwelt, ihre Auflösung ‚ins‘ Nichts. Der blinde Fleck Luhmanns läge dann nicht darin, daß er die Welt nicht beobachten und das „Medium“ Sinn nicht verlassen kann, sondern daß er „das“ Nichts und den Tod nicht sieht. 3. Allerdings: Wenn Sinnsysteme sich nur in Sinn bewegen können, müssen Nichts und Tod sinnhafte Begriffe darstellen. Sie deuten auf „Phänomene“ hin, die nur von Sinnsystemen aus bezeichenbar sind und zum Welthorizont „irgendwie“ dazugehören. Sollen Tod und Nichts Gegenbegriffe zur Welt sein und das „Medium“ Sinn sprengen, müssen sie zugleich aus der Welt hinausweisen und ein sinnhaftes Verstehen blockieren. Wie kommen Tod und Nichts in Sinnsystemen zur Geltung? Sinnsysteme sind nach Luhmann die Kommunikation (Gesellschaft) und das Bewußtsein. Über Tod und Nichts kann kommuniziert werden. Diese Kommunikation wird meist zu einer Vergegenständlichung tendieren, „das“ Nichts zu einem Etwas
44 machen. Als Welt transzendierender Begriff kann ihm nur durch Schweigen kommunikativ angemessen begegnet werden. „Erleben“ kann es nur das Individuum. Wie? Luhmann hat nie überzeugend die Operationsweise des Bewußtseins oder psychischen Systems bestimmt. Sie hatte für ihn etwas mit Denken zu tun, zugleich aber auch mit Wahrnehmen. Mit Heidegger läßt sich besser das Verstehen als Operationsweise ansetzen.5 Dann zeigt sich auch, daß das individuelle Verstehen nicht einfach nur mit Sinn operiert, sondern den Sinn durch Stimmungen „formt“. Stimmungen erschließen die Welt. Verstehen ist immer gestimmtes Verstehen. Je nach Stimmung erscheint dann eine andere Welt. „Das“ Nichts als Nichts aber zeigt sich nach Heidegger in der Angst. Sie erschließt dem Individuum sein mögliches Ende, das Ende seiner Welt. Die Angst erfährt „das“ Nichts, das Wegsein von Welt, die „Leere“ (die sich andeutungsweise auch in der Langeweile, verschärft in der Depression zeigt). 4. Angst in diesem Sinne wird von Luhmann nicht thematisiert (die Angst, die Protestbewegungen kommunizieren, entspricht Heideggers Begriff der Furcht vor etwas). Gefühle sind für ihn eine Art Immunsystem des Bewußtseins, das bei auftretenden Problemen den Weitervollzug der Autopoiesis des Bewußtseins sichert (wobei dann allerdings die Abweichungsverstärkung, die falsche Reaktion des Immunsystems, die Gefährdung der Autopoiesis durch Gefühle – und zwar nicht nur die der Gesellschaft –, mitbedacht werden muß). Gefühle sind interne Anpassungen an interne Problemlagen des Bewußtseins.6 Damit wird aber in erster Linie nur auf eine bestimmte Art von Gefühlen, auf Affekte, abgestellt. Daß Stimmungen die Welt allererst erschließen, bleibt verdeckt. Mit den Theoriemitteln Luhmanns lassen sich Gefühle allerdings auch anders bestimmen.7 Wenn man Wahrnehmen und Denken als zwei verschiedene Operationsweisen faßt, so lassen sich ein umfassendes psychisches System und das Bewußtsein
45 unterscheiden.8 Die unmittelbaren Wahrnehmungen des psychischen Systems kann das Bewußtsein dann zwar beobachten, aber nur sprachlich, und das heißt nicht direkt und nicht vollständig wiedergeben. Gefühle aber registrieren genau diesen Sinnverlust, der durch die Bezeichnung von Beobachtungen zustande kommt. Das Nicht-Bezeichnete und Nicht-Bezeichenbare der Wahrnehmung wird mit wahrgenommen und als Gefühl bezeichnet. Gefühle würden darauf hinweisen, daß sich die von der Wahrnehmung unmittelbar, ohne Begriffe erfaßten Aspekte des Lebens und der Welt mit Begriffen nicht angemessen bezeichnen lassen, und ihr Ausdruck sie doch zu erfassen suchen (allerdings notwendig unzureichend, denn Gefühle werden nur als Zeichen Moment des Bewußtseins, nicht als Gefühl, und als Zeichen sind sie kein unmittelbares, sondern ein kommunikativ, sozial vermitteltes Phänomen). Gefühle müßten dann bei jeder Wahrnehmung anfallen, also nicht bloß, wie bei Luhmann, ein Immunsystem darstellen. Wenn Gedanken und Wahrnehmungen, Bewußtsein und psychisches System zwei Systeme sind: worin besteht dann aber ihre Gemeinsamkeit? Sind sie „strukturell gekoppelt“ durch die Gefühle, die wahrgenommen und bezeichnet werden? Lassen sich diese zwei Aspekte aber tatsächlich so trennen, daß es sinnvoll wird, von zwei Systemen, Psyche und Bewußtsein, zu reden? Führt das in der Konsequenz nicht zu noch mehr eigenständigen Systemen innerhalb der Psyche, etwa einem Willenssystem? Dagegen hatte schon Luhmann eingewandt, daß die Einheit des Bewußtseins in seinen „Fähigkeiten“ Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Wollen evident ist.9 Geht man mit Heidegger als einheitlicher Operationsweise des „Daseins“ vom Verstehen aus, dann liegt ihr Gemeinsames darin, daß sie im Vollzug verstanden werden. Genauer: da sich dem Dasein seine Welt stimmungsmäßig erschließt, ist es gestimmtes Verstehen in allen seinen Verhaltensweisen. Es ist wenig plausibel, die verschiedenen Facetten dieses einheitlichen Geschehens als eigenständige Systeme anzusetzen, gibt es doch keine getrennten Gefühls- und
46 Verstehenszusammenhänge. Das zeigt sich auch bei einem weiten Gefühlsbegriff: Schmerzen beeinflussen zwangsläufig das Verstehen und werden als Schmerzen verstanden, ebenso Affekte, die zudem erst aufgrund eines besonderen (gestimmten) Verstehens entstehen.10 Durch die sprachliche Bezeichnung geht denn auch nicht die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung oder des Gefühls verloren, sondern zeigt sich ausdrücklich (und im Falle von Kommunikation noch verschärft), daß es Unmittelbarkeit für das (gestimmte) Verstehen nicht gibt. Bei Heidegger meint das Dasein, das Sein- oder Sinnverstehen, allerdings Individuum und Gesellschaft. Auch die Gesellschaft wäre dann gestimmtes Verstehen – eine wenig sinnvolle Annahme: die Gesellschaft hat keine Stimmung. Der Begriff Dasein differenziert zu wenig (bzw. sieht Gesellschaft als Ansammlung von Individuen): Das Individuum ist gestimmtes Verstehen und bringt dieses als Sinnofferte in die Kommunikation ein, die aufgrund dieser Vorgaben versteht. Die Kommunikation selbst ist nicht gestimmt, sondern wird von Stimmungen in besondere Richtungen gelenkt. Stimmungen gehören als psychisches Geschehen zu ihrer Umwelt. Sie wirken unthematisch an den Sinnofferten mit (oder in Form ausgedrückter Emotionen als „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“11). Deshalb haben etwa auch wissenschaftliche Theorien „einen eigentümlichen Weltstimmungsgehalt, den sie selbst (…) nicht formulieren, vielleicht nicht einmal wahrnehmen können.“12 Ein weiterer blinder Fleck der Kommunikation liegt so in der ihr unzugänglichen, sie mitbestimmenden Stimmung. Er wird zu einem (vermeidbaren) blinden Fleck der Soziologie, wenn sie Emotionen nicht als soziale Phänomene, als integralen Bestandteil allen sozialen Geschehens, sieht und ihre soziodynamischen Wirkungen nicht beachtet.13 5. Die Kommunikation hat keine Stimmung. Die „Erfahrung“ des Todes, „des“ Nichts, setzt jedoch die Stimmung der Angst voraus. Die Kommunikation kann „das“ Nichts folglich nicht als
47 Nichts erfahren, im besten Fall auf diese Erfahrung hindeuten. Die traditionelle begriffliche Fassung aber verfehlt sie. Der traditionelle Gegenbegriff zum Nichts war das Seiende (etwa in der Leibnizschen Frage: warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts). Für Luhmann konstituiert die Unterscheidung Sein/Nichts denn auch die traditionelle zweiwertige Ontologie, die das Nichts, das es nicht gibt, aus dem Sein (Seienden) ausschließt und unbeachtet läßt.14 Noch Heidegger sieht das Nichts als Nicht-Seiendes, und das ist für ihn das von der Tradition „vergessene“ Sein, das durch seine „Lichtung“ erst Seiendes und Nicht-Seiendes offenbar werden läßt, sich dabei aber selbst als Nicht-Seiendes im ausgezeichneten Sinn verbirgt. Das Nichts ist das Sein. Was kann überhaupt zu nichts werden? In der traditionellen Fassung müßte das Seiende vom Nichts bedroht sein. Streng genommen kann das Seiende aber nicht zu nichts werden, sondern ändert nur seine Form, zerfällt in seine Bestandteile. „Das“ Nichts betrifft nur besonderes Seiendes: Was zu nichts wird, ist das Leben, im Falle des Daseins die jeweilige Welt. Die Unterscheidung Sein/Nichts meint letztlich die Unterscheidung Leben/Tod. Der Tod bedeutet das Nichtsein des Lebens, die Auflösung ins Nichts. Und da nur Sinnsysteme vom Nichts wissen, stellt es nur für sie ein Problem dar, ist es für sie der Gegensatz zu ihrer Welt. Die Unterscheidung Sein/Nichts bezieht sich nicht auf das Seiende, sondern auf das Seinsverständnis, auf Sinn, die Sprache. Der Tod kommt in Luhmanns Werk kaum vor, was nicht weiter verwundert, insofern es ihm um die Gesellschaft geht. Die Gesellschaft kann, wie sie keine Stimmung hat, auch nicht sterben, nur zerstört werden, und der Tod stellt für die moderne Gesellschaft nur noch ein nachrangiges Verwaltungsphänomen (Ausnahme: Katastrophen) dar.15 Ein Problem ist er heute nur noch für die Individuen – allerdings „das wohl wichtigste Problem der Autopoiesis des Bewußtseins.“16 Alle Elemente des Bewußtseins sind auf Wiederholung, Reproduktion, angelegt.
48 Ein zukunftsloses Element wie der Tod ist nicht vorgesehen und als Gedanke doch da – ein Gedanke, der nicht wirklich gedacht werden kann, da er das Denken transzendiert. Der Tod ist sicheres Wissen und sicheres Nichtwissen zugleich, eine Grenzerfahrung, die der Form von Grenze, die eine andere Seite voraussetzt, widerspricht.17 Das Bewußtsein kann sich nicht als Nichtsein begreifen, obwohl es „das“ Nichts als seine Zukunft weiß. Diese Zukunft ist kein Ziel, keine Vollendung, sondern ein immer drohender Abbruch. Insofern die Zukunft keine Vollendung bringt, der Tod im Dasein immer schon (als gewußter) da ist, ist das Dasein in jedem Augenblick „ganz“. „Wenn es also neben der Einheit der Autopoiesis eine ‚zweite Einheit‘ der Totalität des Bewußtseins gibt, dann kann es nur diese unakzeptierbare Einheit des Todes sein, nämlich die in jeder Erneuerung des entschwindenden Bewußtseins mitlaufende Möglichkeit, daß es aufhört.“18 Einheit der Autopoiesis meint die ständige Reproduktion des Bewußtseins, durch die es sich als Bewußtsein begreift. Eine zweite Einheit der Ganzheit des Bewußtseins stellt sich über das Bewußtsein vom eigenen Tod her. „Einheit des Todes“ meint die Einheit von Selbstreproduktion der Elemente und gleichzeitigem Wissen vom unbestimmten, jederzeit möglichen Tod. Das Bewußtsein reproduziert sich und weiß zugleich um die Möglichkeit des Todes, „des“ Nichts. Diese Einheit des Bewußtseins ist folglich die Einheit der Unterscheidung Leben/Tod oder Sein (Welt)/Nichts. „Das“ Nichts gibt es, auch wenn es allem Leben bevorsteht, ausdrücklich nur für Sinnsysteme, die, nach heutigem Verständnis, nach einer langen Evolution „emergieren“. Folgt man dem Bild Heideggers, so „lichtet“ sich das Sein. Konkret heißt das aber doch, daß sich mit jeder Geburt eines sprachfähigen Wesens das Sein lichtet, Welt wird. Und „vor“ dieser Welt war Nichts und „nach“ ihr wird Nichts sein (bzw. die Erinnerung bei anderen, bis sie ebenfalls im Nichts vergeht). Aus „dem“ umfassenden Nichts taucht das Sein, die Welt auf. Das einzig denkba-
49 re differenzlose, begriffslose „Geschehen“ ist „das“ Nichts. Als Begriff bleibt es zwar bestimmt durch Gegenbegriffe: Sein, Welt, Sinn, Zeit und zeigt sich nur, solange sie sind. Aber es ist der Begriff, der keine weitere Differenzierung, keine Entfaltung über Unterscheidungen erlaubt. Mit „dem“ Nichts ist der blinde Fleck von Sinnsystemen überhaupt bezeichnet. 6. Blinde Flecken haben eine latente Funktion, sichern das reibungslose Funktionieren der auf ihnen gegründeten Unterscheidungen. Wird „das“ Nichts oder der Tod als das Nichtdenkbare, Nichtbestimmbare, das jenseits von Welt, Sinn, Zeit erfahren, blockieren sie das Operieren mit Sinn. Normalerweise wird der Tod deshalb als sinnvolles Phänomen in die Welt einbezogen, meist mit religiösem Sinn aufgeladen. Eine andere Strategie besteht in der Verdrängung oder, sofern dies heute, in einer aufdeckungswütigen Zeit, gerade die Thematisierung bewirkt, in der Überbeschäftigung mit dem Tod, die dem Unvertrauten, dem Rätsel schlechthin, durch steten Umgang eine Art von Vertrautheit verschafft. Heidegger verhindert eine Blockade seines Denkens durch „das“ Nichts, indem er es als Nicht-Seiendes und Nicht in das Sein, den allumfassenden Grundbegriff seines Denkens, hineinnimmt. Das Sein, auch wenn es mit dem Nichts in Beziehung steht, rechtfertigt sich durch sich selbst als „wertvoll“. (Allerdings führt der Ansatz des Seins als Letztidentität zu einer anderen Art der Blockade, zum tautologischen In-sich-Kreisen der „Seinsmystik“.) Luhmann behandelt den Tod in Zusammenhang mit der Autopoiesis des Bewußtseins, die schon deutlich Abstand von einer existentiellen Erfahrung hält, danach nur noch als religiöses Phänomen.19 Hier wie dort ist die latente Funktion des blinden Flecks, das eigene Unternehmen abzusichern. Der Tod, der nicht an die Systemoperationen angeschlossen werden kann, wird ausgeblendet oder so einbezogen, daß sich die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns nicht stellt. Heidegger spricht vom Spiel des
50 Seins, das spielt, weil es spielt, und die Sinnfrage erst aus sich entläßt, also nicht selbst nach seinem Sinn befragt werden kann. Bei Luhmann ergibt sich Ähnliches: Die gesellschaftlichen Funktionssysteme haben zwar noch eine externe Rechtfertigung, insofern sie sich auf ein wichtiges gesellschaftliches Problem beziehen. Intern sind sie jedoch zirkulär verfaßt, orientieren sich an ihrem Code und reproduzieren sich durch ihr Operieren, schließen ohne Ziel Operation an Operation (mit der Tendenz zu ständiger Ausdehnung). In letzter Instanz gilt: Die Gesellschaft, die Kommunikation, kommuniziert, um zu kommunizieren. Die Gesellschaft weist nicht über sich hinaus, operiert, weil sie operiert. Genauso lebt das Leben, um zu leben.20 Das Wissen um „das“ Nichts ist hingegen Sand im Getriebe. Es bleibt unbeachtet, zumindest existentiell unbedeutend, solange das jeweilige Tun als sinnvoll erscheint, solange es Zufriedenheit, „Glück“ bringt. Erscheint das jeweils verfolgte Ziel aus irgendwelchen Gründen allerdings nicht mehr als selbstevident oder wichtig, bricht das Wissen um die letztendliche Vergeblichkeit aller Anstrengungen, um die Ziellosigkeit des Ganzen auf, das sich dann in seiner Zufälligkeit und Endlichkeit, in seiner Hineingehaltenheit ins Nichts, zeigt. Das gilt auch für Theorieanstrengungen. Luhmanns Motivation zu seinem Werk konnte nicht besser gefaßt werden als mit dem Titel „Theorie als Passion“. Abgesehen von seinen Anfangszeiten, in denen er sich noch vorsichtig durch bessere Theorien Rückwirkungen auf die Praxis versprach, sah Luhmann für die Theorie keine über sich selbst hinausweisende Aufgabe. Der Sinn der Theorie liegt letztlich (auch wenn man mit ihr Geld verdienen sollte) in ihr selbst. Das Dasein will verstehen, weil es Seinsverständnis ist, will verstehen, um zu verstehen. Theorie ist Selbstzweck, l’art pour l’art, ist Passion, bringt (manchmal) „Glück“. Im Zeichen des Todes wird sie fraglich: Der kranke Luhmann reagierte nicht mehr auf das, was ihn immer gefesselt hatte – Theorie, und genau das deutete auf den Ernst der Lage.21 Der blinde Fleck aller Theorie, „das“ Nichts, zeigte sich in seiner Gewißheit ohne Lebenshoffnung. Und dann gibt es nichts mehr zu sagen.
51 7. Die „Urunterscheidung“ auf der alle Kommunikation, alles Denken, alles Verstehen aufbaut, ist die Unterscheidung von Sein (als allumfassenden Verstehen) und Nichts. Sie weist als sinnvolle, welthafte, zeitliche Unterscheidung über Sinn, Welt und Zeit hinaus, ohne mit diesem Jenseits noch etwas Sinnhaftes, Weltliches, Zeitliches zu beschreiben. Die differenzlosen Begriffe Sinn, Welt, Zeit müssen, um ihre jeweiligen Unterscheidungen entfalten zu können, an sich selbst, auf der Seite des Seins, anschließen. Nur auf dieser Seite läßt sich Wissenschaft, Soziologie (etwa als Frage nach der Stellung des Todes in der Gesellschaft und den Sinn der Todesriten) betreiben. „Das“ Nichts bleibt ausgeschlossen, die letztendliche Vergeblichkeit, die Endlichkeit allen Operierens verdeckt. Die Soziologie sieht sich meist als kritische Analyse der Gesellschaft, die Verbesserungen anzielt, der Praxis dienen will. Die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns stellt sich, wie auch in den beliebten Fragen: wozu Geisteswissenschaften?, nicht angesichts „des“ Nichts, sondern hinsichtlich der Gesellschaft als Frage nach dem Nutzen für sie oder das „Leben“. Und die Gesellschaft (Politik), die die Finanzierungswürdigkeit der Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt der Anwendungsbezogenheit bewertet, fordert eine solche Antwort. Ein Anschluß auf der Seite „des“ Nichts ist hingegen nicht möglich. „Das“ Nichts blockiert vielmehr jede Forschung. Das Bedenken „des“ Nichts verweist „nur“ auf die Lichtung des Seins aus ihm und sein Verlöschen in ihm, verweist auf das „grundlose“ Leben, das „grundlose“ Operieren der Gesellschaft und ihre Endlichkeit. Die Theorie muß, will sie zu Ergebnissen kommen, von nicht hinterfragten Unterscheidungen auf der Seite des Seins (wie System/Umwelt) ausgehen, auch wenn sie als kontingent gewußt werden. Die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme setzen sich als sinnvolles Geschehen voraus. Die Ausblendung des blinden Flecks sichert das Weiteroperieren, die alltägliche Geschäftigkeit. Auch die Philosophie hat im allgemeinen das Sein als wertvoll behauptet und diese Entscheidung durch einen absoluten
52 Sinn abgesichert. Eine auf die sprachlichen Grundlagen von Gesellschaft und Individuum zielende Philosophie oder Soziologie müßte von ihrem Anspruch her aber den blinden Fleck des Normaloperierens einbeziehen und als selbstreflexive Theorie sich ihm auch selbst aussetzen, den Sinn der Gesellschaft und ihren eigenen Sinn angesichts „des“ Nichts bedenken. Sie setzt sich dadurch allerdings der Gefahr aus, sich selbst in Frage zu stellen und zu blockieren. In diesem Sinne gilt in der Tat, daß „das“ Nichts nichtet. Führt sich Grundlagenreflexion selbst ad absurdum? Oder ergeht es ihr wie Thomas Buddenbrook, der nach der ihn faszinierenden Lektüre von Schopenhauers Todesmetaphysik doch lieber wieder in die alltägliche Geschäftigkeit eintaucht? Schließlich geht das Leben weiter. Ist Blockade durch „das“ Nichts oder sein Vergessen die Grundalternative allen Denkens? Anmerkungen 1 N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1997, S. 152 f. 2 Vgl. N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, S. 527. 3 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft …, Kap. 1, III, S. 44-59, Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1984, S. 96. Andere differenzlose Begriffe, wie Realität als Einheit der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand, bezeichnen nur eine Sinnmöglichkeit (in diesem Fall Wissenschaft) und kommen nicht als Letztbegriffe in Frage. Möglich ist aber noch die ‚Zeit‘ als Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Sinn ist, wie er welthaft ist, immer schon zeitlich. Gerade die Zeitlichkeit allen Sinns verweist auf den Tod. Auch die Zeit, die Luhmann nicht ausdrücklich als Letztbegriff behandelt, führt auf „das“ Nichts. 4 Implizit deutet das auch Luhmanns Begriff der Welt als unmarked state, der nichts enthält, an, denn was sollte er anderes bedeuten als Nichts. Welt ist nur die jeweilige Einheit von System und Umwelt, die entsteht, wenn sich ein System von einer Umwelt abgrenzt, der jeweilige, geordnete Welthorizont, in den hinein sich das Verstehen vollzieht (der unmarked space). (Vgl. N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1995, S. 51) Die Einheit aller Unterscheidungen, die Gesamtwelt, ist das Gesamt von Sinn- oder Sprachmöglichkeiten, die ja nie als bloßes, beliebig formbares Medium vorliegen, sondern immer schon geordnet sind. Die Welt ist nicht weder Sein
53 noch Nichtsein, bloße Hintergrundsunbestimmtheit, (Luhmann, Die Gesellschaft …, S. 897) sondern immer Ordnung, im Gegensatz zum Nichts. So verstanden läßt sich auch eine Vieldeutigkeit von Luhmanns Weltbegriff (vgl. G. Thomas, Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont? Zur Azentrizität des Weltbegriffs, in: W. Krawietz/M. Welker [Hrsg.], Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt 1992, S. 327-354) auflösen und wird deutlich, daß nicht eine metaphysische Letzteinheit, die Welt, die Theorie trägt (wie Thomas unterstellt), sondern eine Differenz (Nichts/Welt) bzw. der differenzund einheitslose Letztbegriff Nichts. 5 Das hat dann allerdings eine etwas andere Abgrenzung von Kommunikation und Individuum als Teilsysteme von Sinn (als System, nicht Medium!) über eigene Codes (Kommunikation/Nicht Kommunikation, Ich/Nicht-Ich) zur Folge. Vgl. S. Gebert, Bewußtsein als Umwelt der Kommunikation – Anmerkungen zum Grundansatz Luhmanns, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 26 (2000), S. 263-283. 6 Luhmann, Soziale Systeme, S. 371. 7 Zum Folgenden vgl. P. Fuchs, Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle?, in: D. Baecker (Hrsg.), Soziologie der Emotion, Soziale Systeme 10/ 2004, S. 89-110. 8 Das Bewußtsein mit seiner Operationsweise „Gedanken“ ist dann ein Sonderfall dezidierter Operationsverkettungen (besonderer Formen) in einem Medium nicht-dezidierter Operationen, nämlich den Wahrnehmungen als der Operationsweise des psychischen Systems. Bewußtsein löst ein kompaktes, undifferenziertes Erleben in verkettungsfähige Ereignisse auf. Vgl. P. Fuchs, Der Eigen-Sinn des Bewußtseins – Die Person, die Psyche, die Signatur, Bielefeld 2003, Teil B, S. 47-71. 9 N. Luhmann, Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme, in: Soziologische Aufklärung 6 – Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, (S. 25-36) S. 26, S. 30. 10 Vgl. die Definition von Emotionen durch W. Alston, Emotion und Gefühl, in: G. Kahle (Hrsg.), Logik des Herzens – Die soziale Dimension der Gefühle, Frankfurt 1981, (S. 9-33) S. 30 f.: Emotion ist ein gestörter Zustand des Organismus mit den dadurch verursachten Körperwahrnehmungen, hervorgerufen durch die Bewertung eines Gegenstandes, also ein Komplex von Bewertung, körperlicher Erregung und deren Wahrnehmung. 11 F. Simon (Zur Systemtheorie der Emotionen, in: D. Baecker [Hrsg.], Soziologie der Emotion, Soziale Systeme 10/2004, S. 111-139) sieht so die Entwicklung spezialisierter Funktionssysteme als Versuch, der Motivation durch Emotionen nicht emotionale Motive (Geld, Recht, Macht) entgegenzusetzen. Die Ausdifferenzierung gilt ihm als Institutionalisierung der Negation kommunizierter Emotionen. 12 N. Luhmann, Soziologische Aufklärung 3 – Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 176. 13 Vgl. die Beiträge von Ciompi, Simon, Staubmann, in: D. Baecker (Hrsg.), Soziologie der Emotion, Soziale Systeme 10/2004.
54 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft …, S. 895 ff. In einfachen Gesellschaften bedroht der Tod wichtiger Mitglieder die ganze Gesellschaft, während die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft nicht mehr von einzelnen Individuen, die in ihren Rollen ersetzbar sind, abhängt. Zur soziologischen und philosophischen Analyse des Todes vgl. S. Gebert, Sinn – Liebe – Tod, Kehl 2003, Kap. 3. 16 Luhmann, Soziale Systeme, S. 374. 17 Vgl. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000, S. 51. 18 Luhmann, Soziale Systeme, S. 375. 19 Auch für G. Schulte (Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, Frankfurt 1993) liegt der blinde Fleck der Existenz im Tod, der latent bleiben muß, um handeln zu können. Luhmanns Soziologie gilt ihm als die „Kompensation des Todesgrauens“ (S. 240): Luhmann lasse wegen seines „ÖdipusKomplexes“ statt des Todes mythische Gestalten wie den Teufel oder die Gorgonen auftreten. Dieser psychoanalytisch motivierte Vorwurf geht fehl: Nicht die sporadisch angeführten mythischen Figuren bestimmen Luhmanns Theorie, sondern Grundbegriffe wie System/Umwelt, Welt. Und nicht Luhmann verdrängt durch seine Systeme den Tod, wie Schulte behauptet, sondern er beschreibt die Operationsweise der heutigen Gesellschaft, die operiert, als ob sie nie enden würde. 20 Zu dieser Struktur vgl. Gebert (wie Anm. 15), Kap. 1. 21 P. Fuchs (in: T. Bardmann/D. Baecker [Hrsg.], „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“, Erinnerungen an Niklas Luhmann, Konstanz 1999) über sein letztes Telefongespräch mit Luhmann. 14 15
Heinz-Gerd Schmitz ONTO-SEMIOTIK Zur Grundlegung der Zeichentheorie bei Saussure und Heidegger Onto-semiotisch kann man eine Theorie nennen, welche angibt, wo die Zeichen an die Welt anknüpfen. Wittgenstein hat über dieses Problem viel nachgedacht, ohne eine rechte Lösung zu finden. Erforderlich ist eine Konzeption, die beide Arten von Zeichen, Repräsentatoren (Phoneme/Grapheme) wie Indikatoren (Rauch/Feuer) zu vereinigen vermag. An eben dieser Aufgabe scheitert Saussure, dem es nicht gelingt, Mentalismus und Strukturalismus so zu verbinden, daß die Konkurrenz von Repräsentatoren und Indikatoren aufgehoben wird. Dies gelingt Heidegger in Sein und Zeit. Er fundiert die Repräsentationssemiotik so in einer onto-semiotischen Lehre von den Verweisungen, daß schließlich der Weltbezug der Zeichen deutlich wird.
Grüblerisch fragt sich Wittgenstein: „Wo knüpft das Zeichen an die Welt an?“1 und hat auch schon zuvor bekennen müssen, seine Schwierigkeit vor Abfassung des Tractatus habe darin bestanden, „einen Zusammenhang zwischen den Zeichen auf dem Papier und einem Sachverhalt draußen in der Welt zu finden“2. Was Wittgenstein sucht, ist eine Onto-Semiotik. Diesen Namen soll im folgenden eine Lehre führen, welche erklärt, wie den Zeichen überhaupt Weltbezug zuwachsen kann, i.e. wie sie onto-logisch fundiert sind. Dazu muß freilich zunächst im Vorfeld geklärt werden, was überhaupt ein Zeichen ist. In der Tradition des semiotischen Denkens findet, wer diesem Problem nachsinnt, wenig Trost. Im wesentlichen treten zwei Lehren3 auf: Einmal nimmt man an, es gäbe gewisse Elemente der Welt, welche dazu verwendet würden, anderes zu repräsentieren4 – aliquid stat pro aliquo. Als Beispiel kann hier das Verhältnis der Notenschrift zu den Schallwellen dienen.5
56 Alternativ faßt man die Zeichen als Entitäten, welche auf andere Elemente der Welt zeigen oder sie ankündigen: Rauch deutet auf Feuer hin, aber er vertritt es nicht. Dunkle Wolken zeigen ein drohendes Unwetter an, aber sie geben es nicht wieder. Einer der neuzeitlichen Ahnherren der ersten Lehre ist John Locke. Seine Bestimmung der semiotischen Aufgabe lautet: „to consider the Nature of Signs, the Mind makes use of for the understanding of Things, or conveying its Knowledge to others“6, indem die zur Kommunikation verwendeten Zeichen als Repräsentatoren von Bewußtseinsinhalten entschlüsselt werden, welche ihrerseits schon Stellvertreter von Dingen oder Sachverhalten der extramentalen Welt sind. Locke intendiert – wie man schnell sieht – mit diesen Angaben keine Onto-Semiotik; denn der Weltbezug der Zeichen ist ihm gar kein Problem. Bei ihm kann Wittgenstein also keine Auskünfte erwarten. Anders scheint es mit der Theorie eines der wirkungsmächtigsten Vertreter der zweiten Lehre zu stehen, mit der Semiotik Ferdinand de Saussures nämlich. Gegenstand seiner Wissenschaft soll sein: „la vie des signes au sein de la vie sociale“7. Im Gegensatz zur lediglich dienenden Funktion, welche der Semiotik in der empiristischen Tradition angewiesen wird, postuliert die Zeichentheorie im Saussureschen Denken und erst recht in den strukturalistischen Theorien der von ihm inspirierten Philosophie sehr wohl den Status einer Onto-Semiotik; denn man traut ihr nun zu, die von den Menschen durch den Verweis auf Sachverhalte und deren Zusammenhänge vorgenommenen Gliederungen der Realität8 beschreiben und damit das jeweilige Wirklichsein der Wirklichkeit bestimmen zu können. Hier ist also in der Tat der Anspruch erhoben, Wittgensteins onto-semiotisches Problem zu lösen. Eine Zeichentheorie, die der Lockeschen Auffassung verpflichtet ist, soll im folgenden Repräsentationssemiotik heißen. Verweisungssemiotik wird hingegen die konkurrierende mit dem Hinweis auf den Strukturalismus bezeichnete Theorie genannt. Beide stehen in Opposition; denn was verweisen soll,
57 kann ja nicht repräsentieren, was vertreten muß, vermag nicht zu zeigen.9 Eine Onto-Semiotik hat im Angesicht dieses Gegensatzes zunächst eine gewisse Vorarbeit zu leisten. Sie muß nämlich, ehe sie sich anschickt, über den Weltbezug der Zeichen Auskunft zu geben, einen uniformen Zeichenbegriff finden. Saussure stellt sich dieser Aufgabe, indem er beide traditionelle Erklärungen des Zeichens in seiner Theorie verarbeitet. Freilich gelingt dies – wie im folgenden gezeigt werden soll – nicht so, daß deren Konkurrenz aufgehoben und die eine durch die andere überwunden wäre. Vielmehr geht Saussure in seiner Vorlesung von einem repräsentations- zu einem verweisungssemiotischen Zeichenbegriff über und liefert daher eine Theorie, die schließlich nur als der mißlungene Versuch einer additiv vorgenommenen Kompilation beider Ansätze angesehen werden kann. Damit scheitert der onto-semiotische Anspruch des Strukturalismus schon im Vorfeld, denn es gelingt nicht, einen einheitlichen Zeichenbegriff zu etablieren. Auch hier findet Wittgensteins Problem mithin keine zufriedenstellende Lösung. Die Konstitution einer Verweisungssemiotik, welche der Forderung gerecht wird, sowohl einen uniformen Zeichenbegriff zu begründen als auch die ontologischen Prätentionen Saussures bzw. seiner strukturalistischen Nachfolger wirklich einzulösen, ist an einem Ort vollzogen worden, an dem man zunächst schwerlich nach ihr suchen würde, in Heideggers Sein und Zeit.10 Hier wird – gewiß ohne daß der Autor das Problem der Begründung einer Theorie der Zeichen bewußt zu lösen versucht hat – die Voraussetzung geschaffen, die Repräsentationssemiotik in einer ontosemiotischen Lehre von den Verweisungen so zu fundieren, daß die Konkurrenz beider Entwürfe aufgehoben und der Weltbezug der Zeichen expliziert ist.11 Dies zu entfalten, ist die Absicht der folgenden Überlegungen. Dabei steht nicht die Exegese des Heideggerschen Werkes im Vordergrund, sondern ausschließlich die zeichentheoretische Problematik, zu deren Aufhellung ein Blick auf gewisse Passa-
58 gen von Sein und Zeit geworfen wird. Zunächst aber gilt es, die Schwäche der Saussureschen Position zu kennzeichnen.
I Saussure gewinnt seinen ersten Zeichenbegriff durch eine Reform der Repräsentationssemiotik, welche er so durchführt, daß er ihre traditionelle Gestalt kritisiert und sich selbst auf einen strengen Mentalismus verpflichtet. Doch ist er letztendlich gezwungen, einen zweiten verweisungssemiotischen Zeichenbegriff in seine Überlegungen einzubeziehen, welcher mit seiner ersten Konzeption nicht vereinbar ist. Die Repräsentationssemiotik taucht im Cours de linguistique générale unter der Bezeichnung Nomenklaturtheorie auf. Darunter versteht Saussure eine Linguistik, welche die Sprache als „une liste de termes correspondant à autant de choses“ nimmt.12 Wenn man die bezeichneten Gegenstände oder Sachverhalte als das den Wörtern voranstehende außersprachliche und bewußtseinsunabhängige Prius betrachtet, so erhält die Nomenklaturtheorie die Gestalt einer gegenstandstheoretischen Erklärung des Zeichens. Diese stellt eine Vorform der traditionellen Repräsentationssemiotik dar.13 Denn hier wird behauptet, die von einem Subjekt geäußerten Laute – verstanden als physikalisch meßbare akustische Phänomene – korrespondierten einem ebenfalls empirisch wahrnehmbaren Objekt der extramentalen Welt. Saussure geht auf diese Variante der Nomenklaturtheorie nicht ein – wohl weil sie zu schnell widerlegt werden kann; denn die Sprache verfügt ja über eine ganze Reihe von Abstrakta, denen in der Welt gar kein Gegenstand entspricht. Gleiches gilt z.B. für Präpositionen, für Artikel etc. Das entscheidende Argument gegen diese Auffassung dürfte freilich in dem nicht zu widerlegenden Hinweis auf die Tatsache bestehen, daß die Gegenstandstheorie Begriffe mit Eigennamen verwechselt. Die zweite Gestalt der Nomenklaturtheorie, nämlich die vor-
59 stellungstheoretische Bestimmung des Zeichens, i.e. die traditionelle Form der Repräsentationssemiotik, wird im Cours de linguistique générale ausdrücklich verworfen. Sie besagt, die Wörter – wiederum verstanden als akustische Phänomene – bezeichneten Bewußtseinsinhalte des Sprechers. Hier wird also keine Beziehung zwischen extramentalen, physikalisch meßbaren Größen hergestellt, sondern die eigentümliche Leistung der Sprache soll darin bestehen, das Subjektive mit Hilfe der Phoneme zu objektivieren.14 Saussure stimmt der Nomenklaturtheorie zu, insofern sie „l’unité linguistique“ als „une chose double“15 auffaßt, kritisiert aber an ihrer vorstellungstheoretischen Variante eine nicht bedachte Prämisse. Es werde nämlich stillschweigend vorausgesetzt, das Bezeichnete, die Idee, sei schon vorhanden, bevor es seinen Ausdruck finde. Demgegenüber behauptet Saussure, daß es erst die jeweilige Sprache des Sprechers sei, welche die Zuordnung von Laut und Idee vornehme, indem sie aus dem Strom der Bewußtseinsinhalte und der Laute Segmente bilde und diese dann einander zuordne. Denn das Denken sei in sich selbst gar nicht gegliedert, sondern „comme une nébuleuse où rien n’est nécessairement délimité“16. Gleiches gelte vom Reich der Töne: Auch diese Welt sei diffus, auch sie müsse erst zerteilt werden. Der Irrtum der traditionellen vorstellungstheoretischen Repräsentationssemiotik besteht nach Saussure also in der nie geprüften Annahme, die Sprache schaffe vermittels der Laute so den materiellen Ausdruck der Gedanken, daß die Phoneme als „matérialisation des pensées“17 verstanden werden könnten, wodurch zugleich eine „spiritualisation des sons“18 erfolge. Vielmehr ist die Sprache „d’intermédiaire entre la pensée et le son“19, indem sie als „série de divisions“20 sowohl den Strom der Gedanken als auch den der Laute segmentiert. Mit diesen Angaben findet der onto-semiotische Ansatz des Strukturalismus seine Begründung. Die These lautet: Die Zeichen knüpfen so an die Welt an, daß die Sprache Denken und Lautstrom auf eine Weise gliedert, die bestimmt,
60 (1) was als Laut- bzw. Ideeneinheit gilt und (2) welche Laut- welcher Ideeneinheit als deren Repräsentator entspricht. Freilich hat diese Auskunft – wie sich schnell zeigen wird – nur vorläufigen Charakter.
II In einer zweiten kritischen Wendung gegen die vorstellungstheoretische Repräsentationssemiotik macht Saussure den Status der Relata selbst zum Gegenstand. Die Stoßrichtung dieser Überlegungen wird deutlicher, wenn man beide Varianten der Nomenklaturtheorie berücksichtigt. Gegenstandstheoretisch werden extramentale Größen, Laut und Objekt, verbunden, vorstellungstheoretisch hingegen die mentalen Bewußtseinsinhalte mit den akustischen Phänomen. Die erste Erklärung wahrt zwar eine einheitliche Perspektive auf ihren Gegenstand – nämlich, wenn man so sagen will, eine physikalistische Hinsicht –, doch sie erkauft diese Uniformität durch die Beschränktheit ihres Explikationspotentials. Die zweite Erklärung zieht aus diesem Fiasko die Konsequenz einer Erweiterung der physikalistischen um eine mentalistische Perspektive, der Gegenstand wird durch die Idee ersetzt. Damit aber sind – so die Kritik Saussures21 – die Gesichtspunkte ungerechtfertigt vermischt. Das Gegenstandsfeld der Zeichentheorie zerfällt also schon innerhalb der vorstellungstheoretischen Repräsentationssemiotik in zwei miteinander nicht verbundene Teile, nämlich einen phonologisch und einen psychologisch zu erforschenden. Die Heterogenität der Gesichtspunkte erzeugt zwei differente Objektbereiche. Eine Vereinheitlichung wird auch dadurch nicht gelingen, daß die phonetische der psychischen Seite übergeordnet wird; denn der Laut bildet mit der Vorstellung eine Einheit, ist zudem an sich selbst schon ein Zusammengesetztes, also gar kein Primum, das als Ausgangspunkt gewählt werden könnte –
61 und endlich: in seiner akustischen Realisation ist er schließlich nur „l’instrument de la pensée“22. Um seiner Wissenschaft die postulierte Uniformität zu verschaffen, muß Saussure den repräsentationssemiotischen Zeichenbegriff so reformieren, daß der Zusammenhang von Bezeichnendem und Bezeichnetem streng mentalistisch gefaßt wird, die einzige Möglichkeit, die ihm nach dem Zusammenbruch von Gegenstands- und Vorstellungstheorie zu verbleiben scheint. Auf diese Weise wird das in der traditionellen Repräsentationssemiotik aufbewahrte extramentale Residuum der Gegenstandstheorie getilgt; denn nun wird auch vom Laut angenommen, daß er rein mentalen Charakter habe. Die Sprachwissenschaft ist damit zu einer Disziplin der allgemeinen Psychologie geworden.23 Saussure gelangt dann zu folgender Version der Repräsentationssemiotik: „un concept et une image acoustique“24 bilden das sprachliche Zeichen. Die Idee ist gänzlich abstrakt, steht also zur extramentalen Außenwelt keinesfalls in einem Abbildungsverhältnis. Das Lautbild ist die Repräsentation des materiellen Lautes, wie er sich mental niederschlägt.25 Die reformierte repräsentationssemiotische Definition des Zeichens lautet mithin: „Nous appelons signe la combinaison du concept et de l’image acoustique“. Die verbundenen Elemente heißen signifié , i.e. die Idee, und signifiant, i.e. das Lautbild. Ihre Einheit aber ist das Zeichen.26 Mit dieser Bestimmung hat Saussure die Voraussetzung, aber auch zugleich die Notwendigkeit geschaffen, zu einem zweiten, diesmal verweisungssemiotischen Zeichenbegriff überzugehen. Denn als Einheit von Lautbild und Vorstellung ist das Zeichen eine „équivalence entre des choses d’ordres différents“27. Mit Seinesgleichen aber schließt es sich zu einem systematischen Ganzen zusammen. Innerhalb dieser Struktur kann ein Element nur durch seine Beziehung zu den anderen gekennzeichnet werden, nicht aber durch den Verweis auf etwas, das außerhalb der Relation von Zeichen und Zeichengruppen steht. Indem sich
62 Saussure der Pluralität der Zeichen zuwendet, stößt er auf die systematische Anordnung, in welcher sie zueinander stehen. Die neue Konzeption, die er hier gewinnt, so wird sich zeigen, entzieht seiner Semiotik die Fundierung und macht daher auch ihren onto-semiotischen Anspruch zunichte.
III Der Begriff des Systems stellt den Kern der Saussureschen Verweisungssemiotik dar. Aus seiner Definition ergibt sich zugleich die Erklärung dafür, daß Saussure überhaupt gezwungen ist, über seinen reformierten repräsentationssemiotischen Zeichenbegriff hinauszugehen. System heißt ein Ganzes (G) aus Elementen (E), denen eine Regel (R) ihren Platz anweist. Eine strukturale Beschreibung von G muß zunächst E1 bis En identifizieren und sodann durch ihre Zuordnung auf R schließen. Im Felde der sprachlichen Zeichen erweist sich nun aber der erste Schritt dann als undurchführbar, wenn man an der Repräsentationssemiotik festhält. Man begegnet – nach Saussures Bestimmungen –, wenn man es mit einer Sprache zu tun bekommt, zunächst nur einem Lautstrom, welcher vom Linguisten segmentiert werden muß. Dies kann freilich nur dann geschehen, wenn er schon Einsicht in die Zuordnung von signifié und signifiant gewonnen hat, also über die repräsentationssemiotisch bestimmte Bedeutungen schon verfügt. Doch auch wenn solche Kenntnis vorliegen sollte, ermöglicht sie es nicht, Synonyma zu unterscheiden. Es gilt also, eine andere Möglichkeit zur Zeichendifferenzierung zu finden. Hier stößt Saussure auf die Verweisungssemiotik. Er führt sie mit einem Vergleich von Sprach- und Wirtschaftswissenschaften ein: Der ökonomische Wert drückt sich zunächst in der Relation von Ungleichartigem aus, in der Beziehung von Geld und Gegenstand, dann aber auch im Verhältnis von Gleichartigem, von Geldeinheiten untereinander. Der Wert eines Stücks wird hier je-
63 weils durch seine Umgebung bestimmt, genauer: durch die spezifischen Unterschiede, die es von allen anderen differenzieren. Auf das sprachliche Zeichen übertragen heißt das: Jedes Element E ist als eben dieses Element E1 durch die Opposition identifizierbar, in welcher es zu E2 bis En steht. Mit diesen Überlegungen gibt Saussure der Verweisungssemiotik eine negative Wendung. In ihrer klassischen Gestalt erklärt sie ja das Zeichen aus dem, worauf es deutet. Hier nun wird ein Element des Systems dadurch gekennzeichnet, daß man es auf die Elemente verweisen läßt, auf welche es nicht deutet, wodurch sich schließlich sein Ort im Relationsgefüge bestimmen läßt. Saussure unterscheidet hier eine lineare, die syntagmatische, von einer assoziativen, der paradigmatischen, Zeichenverkettung. Die Gesamtheit des Systems ist beschrieben, wenn alle Elemente E lokalisiert, i.e. syntag- und paradigmatisch vermessen sind. Damit ist dann auch die Regel R gefunden, welche den Elementen ihren Platz anweist. Indem Saussure seinen reformierten repräsentationssemiotischen Zeichenbegriff mit diesem ex negativo gewendeten verweisungssemiotischen Ansatz verbindet, kann er zu folgender Definition gelangen: „Un système linguistique est une série de différences de sons combinées avec une série de différences d’idées.“28 Damit ist freilich nichts anderes vollzogen als die Kompilation beider Zeichenbegriffe. Die Rede vom Lautbild entspringt dem radikalen Mentalismus, der Systembegriff begründet hingegen eine strukturalistische Linguistik. Daß beides kaum vereinbar ist, fällt sofort ins Auge, wenn man nach der jeweiligen Erklärung der Wortbedeutung fragt. Der mentalistische Saussure müßte hier antworten: Die Bedeutung eines Wortes ist die Idee, für die es steht, der strukturalistische hingegen: Das Zeichen bedeutet genau das, was alle anderen Elemente seines Syntagmas und Paradigmas nicht bedeuten. Mit der ersten Auskunft kann sich Saussure nicht zufriedengeben, denn fände er sich dazu bereit, dann fiele die Zeichentheorie ja auf die zwar mentalistisch reformierte, aber hinsicht-
64 lich ihrer explikativen Kraft immer noch beschränkte Repräsentationssemiotik zurück. Zudem ignoriert die erste Antwort den Systemcharakter der Zeichen. Also hat man – streng strukturalistisch – die zweite Auskunft zu favorisieren. Doch nun ergibt sich ein Zeichenbegriff, der durch kein „außerstrukturales Prinzip“29 mehr gehalten wird. Denn der Verweisungssemiotik Saussures fehlt jede Fundierung. Sein Strukturalismus ist realitätsleer, denn die Zeichen haben keinerlei Verbindung zur Welt. Mit Hilfe der Saussureschen Verweisungssemiotik kann nämlich nur gesagt werden, wo die Zeichen an andere Zeichen anknüpfen. Wittgensteins Frage bleibt daher unbeantwortet. Saussures Zeichenbegriff scheitert bei dem Versuch, eine Onto-Semiotik zu begründen, also schon im Vorfeld. Die nicht überwundene Opposition der beiden Zeichentheorien stellt nach wie vor die Uniformität ihres Gegenstandes in Frage. Solange diese aber nicht gewährleistet ist, kann an eine Antwort auf die onto-semiotische Frage nicht gedacht werden. Eine Aufhebung der Konkurrenz von Repräsentations- und Verweisungsemiotik und damit eine Antwort auf Wittgensteins Frage, wo denn die Zeichen an die Welt anknüpfen, findet sich – so soll nun gezeigt werden – in den zeichentheoretischen Erwägungen, die Heidegger in Sein und Zeit anstellt.
IV Heidegger wendet sich in Sein und Zeit den Zeichen zu, um das Phänomen der Verweisung hinsichtlich seiner ontologischen Herkunft aufzudecken.30 Er macht also expressis verbis den Anspruch, eine Semiotik zu finden, auch wenn er das Wort nicht in den Mund nimmt. Ontologisch heißt hier ein Fragen nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit des Seins überhaupt.31 Demgegenüber machen die ontischen Wissenschaften Besonderes zu ihrem Gegenstand, sie bleiben damit auf bestimmte Regionen be-
65 schränkt. Soll also die ontologische Herkunft von etwas in den Blick genommen werden, so tritt das Denken als Lehre vom Sein auf. Anders als die positive Wissenschaft, welche wissen will, was das Sein eines vorliegenden Besonderen ist, wendet sie den Blick auf das Sein des Seienden überhaupt, ohne dabei freilich das Seiende aus den Augen zu verlieren.32 Eine in diesem Sinne vorgenommene Analyse des Zeichens strebt also viel mehr an, als die Repräsentationssemiotik zu leisten verspricht, welche ja nur eine positive Wissenschaft der Kommunikationswerkzeuge sein soll. Heideggers ontologische Fragestellung will den grundsätzlich semiotischen Zug des Seins selbst und überhaupt aufdecken. Damit wird nach eben dem Fundament Ausschau gehalten, welches die Saussuresche Auffassung von den Zeichen nicht in den Blick zu nehmen vermochte, da es ihr nicht gelang, über die positivistische Semiotik hinauszugehen und zugleich einen einheitlichen Zeichenbegriff zu wahren. Sie taugte zwar dazu, eine instrumentelle Zeichentheorie im Sinne Lockes zu reformieren, aber sie mußte letztlich doch in der Opposition von beschränkt repräsentationssemiotischem Mentalismus und weltlosem Strukturalismus verharren. Um zu zeigen, welche Gestalt Heideggers onto-semiotische Überlegungen in Sein und Zeit gewinnen, muß seine Anverwandlung der traditionellen Verweisungs- und Repräsentationssemiotik dargestellt und der Ort bestimmt werden, an welchem er die zweite in die erste integriert, so daß die Opposition beider Ansätze überwunden ist. Im folgenden werden Heideggers Kernbegriffe kurz hergeleitet.33 V Das Zeichen ist ein Instrument im Sinne des lateinischen Wortes instruere: mit ihm wird etwas auf-, an- oder hergerichtet, beschafft oder veranstaltet, aufgestellt oder geordnet. Heidegger bedient sich des deutschen Wortes Zeug.34 Zeug heißt, was im
66 besorgenden Umgang begegnet. Besorgung ist Name für die Gesamtheit der Aktivitäten, mit denen wir uns um uns selbst kümmern, i.e. die Lebensäußerungen eines Mangelwesens, das sich seinen Ort und die Dauer seines Aufenthaltes in der Welt – im weitesten Sinne – erarbeiten muß.35 Umgang heißt daher das alltägliche In-der-Welt-Sein des Daseins. Dasein wiederum bezeichnet dasjenige Seiende, welches der Mensch ist.36 Der Mensch also verwendet dasjenige, was nicht von seiner Art, also kein Dasein, sondern Zeug ist, zur Besorgung seiner Lebendigkeit. Vor allem, was Zeug ist, zeichnet sich der Mensch dadurch aus, daß er ein Verhältnis zu seinem Sein hat, also über ein Seinsverständnis verfügt. Das meint nicht, das Seiende sei in seinen Zusammenhängen durchforscht und daher erkannt,37 sondern vielmehr: Um sich zu seinem Sein verstehend verhalten zu können, muß dieses zuvor überstiegen sein. Überstiegen wird das jeweilig Seiende. Der Mensch ist also genau dasjenige Seiende, welches den Überstieg vorgängig vollzogen hat. Nur so kann er sich auch zu sich selbst verhalten, zu seinem eigenen Sein, denn auch dieses ist ihm durch den Überstieg immer schon erschlossen.38 Das Sein, auf das hin sich der Mensch entwirft, heißt Existenz, das Seinsverständnis führt den Namen existenziell.39 Das Wesen des Menschen liegt in seiner Existenz, seine Essenz hingegen resultiert aus den jeweils möglichen Weisen des Seins. Alles, was seiend, aber nicht von der Art des Daseins, i.e. des Menschen, ist, das also, worin er lebt, heißt Welt. Der Begriff faßt, da der Mensch expressis verbis nicht als Subjektivität bestimmt wird, nicht die „Innensphäre eines ‚subjektiven‘ Subjekts“40; ebensowenig ist die Welt das Objektive. Denn Existieren bedeutet für das seinsverständige Dasein so in der Welt zu sein, daß diese im vorgängigen Überstieg bereits einen „ursprünglichen Anblick“41 gewonnen hat, nicht aber einfach nur ein Vorkommen des Daseins in der Welt.42 Mithin schließt Seinsverständnis Weltverständnis ein.43
67 Der Mensch ist tatsächlich, hat seine Faktizität nur als Inder-Welt-Seiendes. Näherhin meint der Begriff: Wir sind als Menschen demjenigen Seienden, welches nicht von unserer Art ist, i.e. dem in der Welt Begegnenden, verhaftet. Mit ihm gehen wir um. Eben dieser Umgang ist die Besorgung.44 Ihr ªrganon ist das Zeug. Es tritt nie isoliert, sondern immer im Kontext auf. Heidegger spricht von Zeugganzheit und meint damit: Zeug weist auf anderes Zeug, welches wiederum auf ein weiteres deutet: Der Brieföffner verweist auf den Brief, der mit ihm zu öffnen, der Brief auf das Schreibgerät, mit dem er verfaßt worden ist; das Schreibgerät wiederum.45 Für das im Verweisen miteinander verwobene Zeug wird der Name Um-zu46 eingeführt. Den Verweisungsbezügen des Zeugs haben wir uns im Gebrauch unterzuordnen, wenn das Zeug sachgerecht gehandhabt werden soll. So gewinnen wir Umsicht, i.e. wir verstehen uns auf die Seinsart des gebrauchten Zeugs, Heidegger spricht von seiner Zuhandenheit.47 Die Zuhandenheit ist nicht nur auf das bezogen, was man gemeinhin Werkzeug nennt, sondern auch auf das, was mit ihm hergestellt worden ist. Im Produkt finden sich Verweise auf die Gerätschaften, mit denen es gemacht, auf das Material, aus dem es hergestellt worden ist – schließlich auf den Benutzer, dem es seinerseits als Zeug dienen soll. Heidegger betont, daß hier nicht daran gedacht werden möge, ein objektiv Vorliegendes werde nachträglich subjektiviert,48 sondern gemeint ist: Die Zuhandenheit ist eine von Seiendem, wie es an sich ist, nicht wie es nach der Bearbeitung für mich dasteht. Der besorgende Umgang formt keine objektive Dingwelt in eine subjektive Menschenwelt um, er spürt vielmehr den Verweisungslinien nach, deckt die Kontexte auf und gewinnt so Umsicht, ohne daß das gehandhabte Um-zu ausdrücklich werden müßte. Erst in der Störung nämlich, wenn das Zeug unverwendbar ist, dämmert uns, was worauf verweist, meldet sich im ganzen der Verweisung die Welt. Denn diese ist selbst nichts Zuhandenes. Vielmehr leuchte sie erst auf, wenn etwas uns seinen
68 Dienst versagt:49 Das Automobil, das nicht anspringt, läßt uns das Um-zu eines unserem Kommando gehorchenden Transportmittels schmerzlich bewußt werden. Bleibt das Zeug unauffällig, die Verweisung unthematisch, dann gehen wir in unserer Welt auf, i.e. im Kontext des jeweiligen Zeugs. Die aus den Verweisungen bestehende Zeugganzheit bleibt stumm. Was uns nur im Versagen des Zeugs vor Augen tritt, die Kontextualität des Verweisens, das macht das Zeichen ausdrücklich, gerade dann, wenn es nicht versagt, sondern im Gegenteil seine Funktion erfüllt – dies freilich nicht im Sinne eines repräsentationssemiotischen aliquid stat pro aliquo, also nicht in der Stellvertretung eines anderen, sondern so, daß der Verweisungskontext sichtbar wird. Heidegger fundiert seine Semiotik mithin nicht – wie Saussure – in einer reformierten Repräsentationstheorie, sondern in einem erweiterten Begriff des Verweisens. In der tradierten Lehre zeigt das Zeichen etwas, das es nicht selbst ist, ein Element der Welt, das nicht die Raum-/Zeitstelle des Zeichens einnimmt. Im verweisungssemiotischen Ansatz Heideggers hingegen wird die Leistung des Zeichens erheblich höher veranschlagt, denn in ihm meldet sich nun nicht mehr nur ein Einzelnes, sondern auch sein Kontext. Während Saussure die Repräsentationssemiotik reformiert, um seine Linguistik begründen zu können, geht Heidegger von der Verweisungssemiotik aus. Sein Ansatzpunkt besteht in einer erweiterten Bestimmung der Zeichenfunktion: Das Zeichen macht auffällig, worin wir unausdrücklich leben. Zeichen werden, um ihre explikative Funktion erfüllen zu können, eigens gesetzt. Man stiftet sie. Dies geschieht, indem etwas hergestellt wird oder indem man etwas als Zeichen nimmt, was als solches bisher nicht entdeckt war. Wenn also etwas Zeichen werden soll, dann muß man die Selbstverständlichkeit des Verweisungskontextes zerstören, Alterität ins Vertraute tragen. Die Zeichen scheuchen auf. Werden sie in dieser Funktion stumpf, dann versteht man sie nicht mehr, weil sie ihre explikati-
69 ve Kraft verloren haben. Sie sind unauffällig geworden. Man kann sie nur dadurch wiederbeleben, daß man ein Zeichen setzt, welches auf das verblichene Zeichen weist. So entstehen Zeichenketten, in denen das jeweils jüngere Glied die Auffälligkeit des älteren garantiert. Eine solche Kette reicht freilich nicht in infinitum, denn an ihrem Ende steht die Verweisung selbst. Diese kann nun aber kein Zeichen mehr sein, denn sonst entstünde ein unendlicher Progreß, in welchem die Zeichen ihre Bedeutsamkeit verlören. Heidegger entgeht ihm, indem er die Verweisung, die Kontextualität selbst als ein Konstituens der Wirklichkeit versteht und sie so bestimmt, daß sie das letzte Denotat ist. Reißt die Kette der Zeichen ab, i.e. ist eines ihrer Glieder unauffällig geworden, dann verlieren wir die Spur.50 Wir fallen dann zurück in die Selbstverständlichkeit eines dumpfen Alltags. Hier ist nichts mehr fremd. Genau dieser Mangel an Alterität ist es, der die Weltlichkeit der Welt, welche in der Verweisungsganzheit aufleuchtet, gänzlich verdunkelt. Den Verweisungskontext, welchen die Zeichen explizit machen, nennt Heidegger auch die Bewandtnisganzheit. Mit Einführung dieses Begriffs gelingt es, die Rede vom Seinsverständnis derart zu präzisieren, daß seine semiotische Dimension vollends in den Blick kommt – in der Sprache Heideggers: Zeug ist, was zuhanden ist, solches, was auf anderes verweist, nicht bei sich selbst sein Bewenden hat. Der Seinscharakter des Zeugs ist Bewandtnis.51 Der Endpunkt solcher Bezugsketten muß dort zu finden sein, wo ein Glied auftritt, das auf kein anderes mehr verweist. Dies gilt – wie schon gezeigt – für die Zeichen, aber auch generell für alles Zeug. Ein solches Letztes, dem alles dient, das aber keinem Weiteren mehr als Zeug dienlich ist, kann als primäres Wozu bestimmt werden. Es führt in Heideggers Terminologie den Namen Umwillen. Da nun alles Seiende entweder Dasein oder Zeug ist, das Zeug aber per definitionem immer auf ein anderes verweist, kommt als ein Letztes der Verweisung nur das Dasein selbst, i.e. der Mensch, in Frage. Alle Verweisungsketten enden bei ihm,
70 die des Zeugs im allgemeinen und die der Zeichen im besonderen, deren letztes Glied ja, um den infiniten Progreß der Semiose zu vermeiden, als die Verweisung selbst bestimmt worden ist. Die Zeichen machen in der Explikation der Bewandtnisganzheit die Weltmäßigkeit des Zuhandenen ausdrücklich. Sie stiften sie nicht etwa, sondern sie zeigen, was als Seinsverständnis von uns bereits vorentdeckt ist, nämlich der Verweisungskontext als solcher. In der vorentdeckten Bewandtnisganzheit ruht unser ontologischer Bezug zur Welt, i.e. das zu unserem Sein gehörende Seinsverständnis. Dieses garantiert, daß uns Seiendes so begegnet, daß es auf anderes verweist. Das Seinsverständnis sichert die Spur, der es zu folgen gilt, die Zeichen machen sie auffällig. Sie lassen die Weltlichkeit der Welt sichtbar werden, denn indem uns das, was wir nicht sind, das Zuhandene also, dergestalt begegnet, daß es auf anderes deutet, zeigt sich die Welt, wird sie in ihrer Struktur phänomenal. Diese Bezüge, mit denen das Dasein immer schon vertraut ist, in deren Verweisungskontext es sich bewegt, die es also gar nicht zu lesen lernen muß, werden im Zeichen sichtbar, welches nicht zeigt, was etwas bedeutet, sondern daß es etwas bedeutet. Es zeigt die Kontextualität der Kontexte. Eben dies ist Heideggers Umwandlung der traditionellen Verweisungssemiotik. Aus ihr resultiert sein Begriff der Bedeutung. Bedeuten meint den „Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens“52, die Kontextualität selber also. Die Gesamtheit aller Bezüge, worin das Seinsverständnis des Daseins ruht, heißt Bedeutsamkeit.53 Diese ist die Struktur der Welt. Die Zeichen zeigen nichts anderes. Die Bedingung der Möglichkeit des Zeigens der Zeichen ist die Bedeutsamkeit als die Gesamtheit aller Verweisungsbezüge, i.e. die Struktur der Welt. Das Sein, das nicht von der Art des Daseins ist, ruht in Verweisungsketten, an deren Ende der Mensch sich selbst findet. Mit diesen Angaben ist die Umwandlung der tradierten Verweisungssemiotik abgeschlossen. Zugleich ist die onto-semioti-
71 sche Dimension der Heideggerschen Überlegungen schon umrißhaft deutlich geworden: Die Struktur der Welt besteht in Verweisungsbezügen, welche in ihrer Gesamtheit einen Kontext bilden. Die Zeichen legen die Spur, welche zum Kontext aller Kontexte führt. In diesen Ansatz gilt es nun, die Repräsentationssemiotik so aufzunehmen, daß sie nicht in Konkurrenz zur Verweisungssemiotik tritt. VI Heideggers repräsentationssemiotische Überlegungen finden sich in seiner Bestimmung der Sprache. Ich referiere sie nur so weit, wie sie zeichentheoretisch von Bedeutung ist. Spezifisch sprachphilosophische Probleme bleiben also unberücksichtigt. In der Sprache – so lautet Heideggers These – drücken wir ein Verstehen der erschlossenen Welt wie ein solches des Mitdaseins anderer Menschen aus und formulieren damit die erreichte Entdecktheit des Seienden. Diese Bestimmung ist das Ergebnis folgenden Herleitungsganges. Die Grundverfassung des Menschen ist das In-der-Welt-Sein. Der Wortbestandteil Da- weist dabei auf die existenziale Räumlichkeit des Daseins: das Auseinander von hier und dort. Diese Angabe läßt sich nur näher erklären, wenn auf das Beziehungsgeflecht zurückgegriffen wird, das die Verweisungsganzheit der Zeichen konstituiert: Zuhandenes muß die Bedingung erfüllen, in der Nähe zu sein, sonst ist es eben nicht zu-handen. In der Nähe zu sein, heißt einen Platz in der Umwelt haben. Die Umwelt wird strukturiert durch das System der Raumstellen, welche wir dem Zeug anweisen. Gegend ist die Bezeichnung, die Heidegger dem System der Raumstellen gibt, welche durch den Zeugkontext konstituiert wird. Um einem Zeug seinen Platz anweisen zu können, müssen wir die Gegend immer schon entdeckt haben. Dies ist durch die Erschlossenheit der Bewandtnisganzheit gewährleistet, also durch das, was sich als letztes Glied der Verweisungskette der
72 Zeichen ergeben hat. Weil wir implizit mit der Bewandtnisganzheit vertraut und so dazu fähig sind, der Verweisungsspur zu folgen, haben wir die Gegend immer schon entdeckt. Nur so läßt sich die Möglichkeit des Ausgriffs auf die Dinge, welcher vom Hier zum Dort erfolgt, erklären. Der Mensch ist mithin räumlich verfaßt, insofern er in der Welt ist. Diese Räumlichkeit wird dadurch konstituiert, daß wir die Plätze gleichsam auseinanderlegen und sie so in Bezug setzen. In der Besorgung unserer Lebendigkeit sind wir darauf aus, das, was fern ist, in die Nähe, in unseren Umkreis zu bringen. Wir machen es uns auf diese Weise zuhanden und folgen dabei der Spur der Zeichen. Denn diese geben die Richtung an, in welche wir uns zu wenden haben. Sie geben dem, was uns begegnet, Raum. Im Zeugzusammenhang ruht nicht nur der Verweis auf die Dinge, sondern auch der auf andere Menschen. Denn wie das Werkzeug auf das Produkt verweist, so zeigen beide, Werkzeug und Produkt, den Produzenten an, das Produkt zudem aber auch den, der es verwendet. Produzent und Konsument stehen beide am Ende der Verweisungskette, denn sie sind weder vor- noch zuhanden, sie sind beide Dasein – und dies nicht im Unterschied des einen Daseins vom anderen, sondern so, daß das Dasein immer schon in der Pluralität der anderen, i.e. unter ihnen, existiert. Die Welt wird mit anderen geteilt, ist gemeinsame Welt. Als solche erhält sie den Namen Mitwelt.54 Dasein ist nur als Mitsein. Der Umgang mit den anderen heißt im Gegensatz zur Besorgung, die sich auf das Zeug richtet, Fürsorge. Mit der Ausdehnung der Dimension des Daseins um die des Mitseins erweitert sich zugleich der bisher eingeführte Begriff von Bedeutsamkeit und Weltlichkeit. Die Verweisungsganzheit, welche im Gefüge der Zeichen aufleuchtet, muß nun nämlich so bestimmt werden, daß die Bezugsketten zwischen einer Pluralität von Besorgenden und Fürsorgenden gespannt sind, wobei in diesem Raum die Zeugganzheit das Da des jeweiligen Daseins festlegt. Das vorgängige Selbstverständnis impliziert ebenso die anderen,
73 unter denen wir leben, wie auch die Räumlichkeit, welche die Relation der Relata als Bezugsgefüge konstituiert. Die Gesamtheit der anderen und das zu ihnen gehörige Dasein nennt Heidegger das Man. Die Alltäglichkeit des Daseins gründet in ihm. Das Man macht nämlich die Unauffälligkeit zur Bedingung des Mitseins. So zieht es die Grenzen, innerhalb derer sich Vertrautes findet. Die Bewandtnisganzheit, welche uns vorgängig erschlossen ist, wird also derart limitiert, daß die Pluralität der Menschen regelt, bis zu welchem Punkt die Spur der Zeichen gelesen werden kann und welche Zeichen gegeben werden dürfen. Das Man errichtet Lesetabus. Entdecken läßt sich die Welt, die ja immer mehr als die jeweilige Mitwelt ist, nur dann, wenn wir dazu fähig sind, diese Demarkationen einzureißen, die Grenzen der Durchschnittlichkeit aufzubrechen und die Spur der Zeichen bis zu ihrem Ende zu verfolgen, an welchem das Bedeutungsganze steht. Dem in diesen Grenzen eingeschlossenen Menschen sind gleichursprünglich Welt, Mitsein und Existenz erschlossen, wodurch die Weise festgelegt ist, in der ihm das Zuhandene begegnet. Dies bedingt zugleich sein Etwas-verstehen-Können. Es gründet im Worum-willen, i.e. im Endpunkt der Verweisungskette. Alles weitere Verstehen muß aus ihm abgeleitet werden. Denn im Worum-willen ist niedergelegt, was es bedeutet, in der Welt zu sein. Daraufhin entwerfen wir uns in unserem Verstehen. Damit sind wir – gemäß unseres jeweiligen Entwurfes – immer ein Sein-Können. Dasein heißt also Möglichsein. Möglich ist etwas, das noch nicht vorhanden ist, aber auch gar nicht vorhanden sein muß. Diese wesenhafte Potentialität ist die Voraussetzung von Freiheit. Frei ist der Mensch insofern, als er sich auf sein Worumwillen hin entwirft. Im Entwurf gewinnt er also einen Blick auf das Worum-willen und die Bedeutsamkeit als die Wirklichkeit seiner Welt. Die Spur der Zeichen lesend stoßen wir auf uns selbst und auf das Verweisungsgefüge in seiner Gesamtheit, in welcher die Bewandtnisganzheit ruht. Doch diese Bestimmun-
74 gen sind solange unvollständig, wie man nicht hinzufügt: Die Lektüre der Spur ist von einem entwerfenden Verstehen geleitet. Die im Verstehen entworfene Möglichkeit wird in der Auslegung expliziert. Als deren Derivat führt Heidegger die Aussage ein, deren dritte Bedeutung neben der Aufzeigung und Prädikation schließlich die Mitteilung ist. Dieser Begriff leitet dann direkt zur Behandlung der Sprache über. Die Auslegung ist die Explikation der Verweisung, das laute Lesen der im vorhinein schon stumm buchstabierten Spur: Wenn Zuhandenes sich dem besorgenden Dasein zu verstehen gibt, dann zeigt es sich als etwas. Denn aufgrund des vorgängig erschlossenen Bewandtniszusammenhangs ist es uns nun möglich, die im jeweilig Zuhandenen liegende Verweisung ausdrücklich zu interpretieren und das in Frage Stehende als ein so und so Bestimmtes anzusprechen. Das Zuhandene wird besorgt, welcher Zugriff aber voraussetzt, daß sein Um-zu interpretiert worden ist. Interpretieren heißt, etwas als etwas in den Blick zu bekommen, i.e. die Verweisungsspur ausdrücklich zu machen. Dieser Vorgang kann zwar noch ohne Sprache bewerkstelligt werden, aber nicht ohne Zeichen. Denn das Lesen der Verweisungsspur ist überhaupt nur möglich, weil das Sein einen semiotischen Zug aufweist, so daß die Weltlichkeit der Welt in Verweisungsbezügen ruht und das Dasein im Vorhinein mit dieser Semiose vertraut ist. Auslegen heißt deren Explikation. Vorsprachlich besteht sie im Lesen der Verweisungsspuren. Diese Lektüre vollzieht sich in einem Hinsehen, in welchem etwas als etwas genommen wird. In der Auslegung der Verweisungsspur gewinnt das Dasein Sinn, i.e. das erschlossene Seiende hat sich einem expliziten Verständnis gefügt, kurz: Die Spur ließ sich so lesen, wie die Vorstruktur des Verstehens es konzipiert hat. Sinnlos ist es hingegen, wenn die Auslegung nicht erfolgen kann – aus welchem Grunde auch immer. Das überhaupt keiner Interpretation Unterzogene bleibt einfach unsinnig, denn Spuren, die nicht gelesen werden, sind schließlich gar keine Spuren.
75 Die Auslegung kann sich in der Aussage vollziehen, einer ihrer abgeleiteten Vollzugsformen. Der ursprüngliche Zugriff erfolgt in der wortlosen Besorgung, in welcher wir der Spur des Zeugs folgen und die Zeichen entziffern. Wird das Zeug zum Gegenstand einer Aussage, dann wandelt sich das Zuhandene in das Vorhandene. Nun geht es nicht mehr um das Um-zu, sondern um das Was. Mit dem Hinweis auf diesen Aspektwandel fundiert Heidegger die Repräsentations- in seiner Verweisungssemiotik. VII Der Zusammenhang von verweisendem Zeichen und repräsentierendem Wort der Sprache läßt sich so bestimmen: Die Zeichenhaftigkeit des Zeichens liegt in der Zuhandenheit des Zeugs, welches eines der Momente der semiotischen Bewegung ist, an deren Ende das Dasein selbst steht. Nehmen wir dieses Zuhandene als Vorhandenes, dann gewinnt die vollzogene Lektüre der Spur sprachlichen Ausdruck. Dieser tritt zunächst in der Aussage auf, welche das Ergebnis des Spurenlesens formuliert, indem sie die Semiose für einen Augenblick stillstellt; denn die Auslegung greift nun nicht mehr in die Bewandtnisganzheit aus. Vielmehr ist sie in der das Vorhandensein bestimmenden Aussage so nivelliert, daß das Womit des Zuhandenen zum Worüber des Vorhandenen erstarrt. Die Zeichen eröffnen einen Verweisungszusammenhang, die sprachlichen Aussagen stellen gleichsam eine Verschnaufpause auf der Reise dar, welche wir beim Spurenlesen unternehmen. Wir verständigen uns hier darüber, wohin der Weg bisher geführt hat. Die Repräsentation zeigt sich so als verharrende Verweisung, als eines ihrer Glieder, das man für eine gewisse Zeit aus seinem natürlichen Zusammenhang herausgenommen hat. Denn die Wurzel der Sprache ist die Rede, die den Sinn, i.e. das Seinsverständnis, äußert, welches das Dasein in der Auslegung der Verweisung gewonnen hat.55
76 Das Bedeutungsganze, das sich aus der Spur der Zeichen als deren Endpunkt ergibt, wird in der Rede zudem in Bedeutungen aufgegliedert. Insofern stellt sie eine Reinterpretation der Auslegung dar, denn sie organisiert das Ergebnis des Spurenlesens und ermöglicht so Verständlichkeit. Zu den im Gliederungsakt gewonnenen Einheiten, den Bedeutungen nämlich, treten Worte hinzu. Mit dieser Bestimmung hat Heidegger den repräsentationssemiotischen Zeichenbegriff in seinen Erklärungszusammenhang aufgenommen: Die Wörter stehen für die Bedeutungen, in welche das Ergebnis des Spurenlesens segmentiert worden ist. Saussure war gezwungen, seinen verweisungssemiotischen Zeichenbegriff einzuführen, um den mentalistisch reformierten repräsentationstheoretischen Ansatz wahren zu können. Auf diese Weise entstand aber eine Kompilation unvereinbarer Zugänge, welche schließlich den onto-semiotischen Anspruch seiner Theorie schon im Vorfeld zunichte machte. Heidegger hingegen erreicht eine Fundierung des aliquid stat pro aliquo in einer allgemeinen Verweisungssemiotik. Diese läßt sich abschließend so kennzeichnen: Wir lesen die vorverstandene Spur der Zeichen und entwerfen uns auf einen Sinn hin, welchen wir in der Rede in Bedeutungseinheiten gliedern und damit für eine gewisse Zeit stillstellen, ohne damit freilich dem Spurenlesen wirklich jemals ein Ende machen zu können. Mit diesen Angaben ist die Täuschung überwunden, welcher Saussure unterlag, als er meinte, der unzureichende repräsentationssemiotische Zeichenbegriff ließe sich mit einer verweisungssemiotischen Konzeption additiv verbinden und so ontosemiotisch fruchtbar machen. In Heideggers Überlegungen sind hingegen – wie mir scheint – die Voraussetzungen geschaffen, Wittgensteins Frage, wo denn die Zeichen an die Welt anknüpfen, zu beantworten. Die Auskunft lautet: In der Kette der Verweisungen steht als letztes Denotat die Verweisung selbst. Sie ist der Kontext aller Kontexte, i.e. die Struktur der Welt. Dies macht das ontologische Fundament der Semiotik aus, das, was
77 das Zeichen auf dem Papier und die Sachverhalte draußen verbindet. Anmerkungen Schriften, Bde. I-VII, Ffm. 1969 ff., hier: Bd. II, S. 70. Ebd., Bd. I, S. 108. 3 Vgl. U. Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 30 ff. 4 Vgl. die treffende Formulierung J. Derridas: „Le propre du representamen, c’est d’etre soi et un autre … Le propre du representamen, c’est de n’etre pas propre …“ (De la grammatologie, Paris 1967, S. 72). 5 Dies ist ein Beispiel Wittgensteins im Tractatus (4.014; 4.0141). In: Schriften, Bde. I-VII, Ffm. 1969 ff., hier: Bd. I, S. 27. 6 An Essay Concerning Human Understanding, ed. P. Nidditch, Oxford 1979, S. 720. 7 Cours de linguistique générale, 3edition critique préparée par Tullio de Mauro, Paris 1973, S. 33. 8 Vgl. R. Barthes: Éléments de sémiologie. In: Communications 4 (1964), S. 91 ff. 9 U. Eco sucht beide Zeichenbegriffe so zu vereinen, daß er das repräsentierende Zeichen auf das verweisende zurückführt (wie Anm. 3, S. 62). Die benötigte Subsumtionskategorie gewinnt er aus der Rezeption: Die Entschlüsselung der Zeichen erfolge in allen Fällen durch inferielle Prozesse (S. 73), nämlich als Induktion, Deduktion oder Abduktion (S. 67). Freilich ist der auf diese Weise gewonnene gemeinsame Nenner so breit gewählt, daß sich mit seiner Hilfe viel mehr fassen läßt als nur die Zeichenrezeption, wodurch deutlich wird, daß auf diese Weise schließlich gar nicht gesagt wird, was das Zeichen denn letztendlich sei. 10 (= SuZ), 12. Aufl. Tübingen 1972. Natürlich liegen Welten zwischen der Philosophie Heideggers und dem Denken Wittgensteins; vgl. hierzu R. Rorty: Contingency, irony, and solidarity, New York/Port Chester/Melbourne/Sidney 1989, insbes. S. 96 ff. Einer systematischen Reflexion können diese Abgründe aber so lange gleichgültig bleiben, wie man sich Ansätze zu einer Problemlösung versprechen darf. 11 Eben die Heideggersche Onto-Semiotik hat G. Schönrich aus der Perspektive einer an Peirce orientierten Zeichentheorie kritisiert (Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch.S. Peirce, Ffm. 1990). Der Vorwurf lautet, Heideggers Zeichenbegriff sei depraviert (S. 416). Der Grund für diese Einschätzung ist wohl darin zu suchen, daß Schönrich nicht zwischen Verweisung- und Repräsentationssemiotik unterscheidet, sondern – aufgrund seiner Peirceorientierung – nur dem zweiten Ansatz verpflichtet ist. Daher kommt die innovative Kraft, welche in Heideggers Ausführungen steckt, nicht zum Vorschein. 1 2
78 Saussure (wie Anm. 7), S. 97. Die erste Erörterung einer gegenstandstheoretischen Repräsentationssemiotik erfolgt in Platons Kratylos. Vgl. hierzu Verf.: Die Eröffnung des sprachphilosophischen Feldes. Überlegungen zu Platons ‚Kratylos‘. In: Hermes 119 (1991), S. 43-60. 14 Dies ist der Zeichenbegriff der Repräsentationssemiotik, wie er eingangs mit Lockes Ausführungen exemplifiziert wurde. Die erste Formulierung findet er freilich durch Aristoteles, De int. 16 a 3-8, wo folgende Reihung festgelegt wird: (a) prágmata, (b) pay}mata têw cuxêw als deren Ebenbilder, (c) tà \n fvnê i.e. die Laute, welche die Vorstellungen repräsentieren, (d) tà grafómena als Repräsentatoren der Laute. Damit ist bereits das erst neuzeitlich so benannte semiotische Dreieck konstituiert, welches aus dem Zeichen selbst, dem Ding und schließlich aus dem besteht, als was das Ding verstanden werden soll. (Vgl. K. Oehler in seiner Einleitung zu den von ihm übersetzten und kommentierten Kategorien des Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, begr. v. E. Grumach, hrsg. v. H. Flashar, Bd. 1/I, Darmstadt 19862, S. 115). 15 Saussure, (wie Anm. 7), S. 98. 16 Ebd., S. 155. 17 Ebd., S. 156. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 97. 22 Ebd., S. 24. 23 Vgl. ebd., S. 33. 24 Ebd., S. 98. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 99. 27 Ebd., S. 115. 28 Ebd., S. 166. 29 M. Frank: Was ist Neostrukturalismus? Ffm. 1983, S. 85. 30 SuZ 76. 31 SuZ 11. 32 Phänomenologie und Theologie, Ffm. 1970, S. 14. 33 Dabei wird es unvermeidlich sein, sich des Heideggerschen Vokabulars zu bedienen, so fremdartig seine Wortwahl dem heutigen Leser erscheinen mag. 34 SuZ 77. Das Grimmsche Wörterbuch erklärt den Begriff als „sammelwort für sachliche concreta“ (Bd. 31, Sp. 825). 35 In seinen Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles (hrsg. v. G. Neumann. Mit einem Essay von H.-G. Gadamer, Stuttgart 2002), die Heidegger 1922 den Philosophischen Fakultäten in Marburg und Göttingen vorlegt, heißt es: „Der Grundsinn der faktischen Lebensbewegtheit ist das Sorgen (curare). In dem gerichteten, sorgenden ‚Aussein auf etwas‘ ist das Worauf der Sorge des Lebens da, die jeweilige Welt“ (S. 14). 12 13
79 36 Heidegger betont ausdrücklich, keine Anthropologie entfalten zu wollen (vgl.: Kant und das Problem der Metaphysik, Ffm. 19734, S. 1); denn das hieße ja, den ontologischen oder auch fundamentalontologischen Ansatz wiederum zu regionalisieren, also auf den Status einer Einzelwissenschaft zurückzufallen. 37 Vom Wesen des Grundes, Ffm. 1937, S. 36/37. 38 Ebd., S. 18/19. Mit diesen Bestimmungen wendet sich Heidegger in aller Entschiedenheit gegen die neuzeitliche Subjektphilosophie, welche das Ich als ‚Hypokeimenon‘ auffaßt. Vielmehr soll die Rede vom Subjekt durch „eine vorgängige ontologische Grundbestimmung“ geläutert werden (GA 2, S. 62). Diese Kritik trifft natürlich auch den Mentalismus, den Saussure zur Reformierung der Repräsentationssemiotik postuliert. 39 SuZ 12 f. 40 Vom Wesen des Grundes (wie Anm. 37), S. 38. 41 Ebd., S. 39. 42 Ebd., S. 21. 43 H.-G. Gadamer weist darauf hin, daß damit nicht „totale Durchsichtigkeit“, sondern „ein wesenhaftes Durchherrschtsein von Unbestimmtheit“ benannt wird (Martin Heidegger und die Marburger Theologie. In: O. Pöggeler [Hrsg.]: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Denkens, Königstein 1984, S. 169-178, hier: S. 173). Weil er diesen Zusammenhang verkennt, kann H. Schweppenhäuser Heideggers Sprachauffassung Zirkularität vorwerfen (Studien über Heideggers Sprachtheorie, Phil. Diss. Ffm. 1956. In: Archiv für Philosophie 7 [1957], S. 279-324, Schlußkapitel in: ebd. 8 [1958], S. 116144, hier: 7 [1957], S. 323). Zur Kritik der in mehrfacher Hinsicht unfairen Darstellung Schweppenhäusers vgl. I. Bock: Heideggers Sprachdenken, Phil. Diss. München 1965. 44 SuZ 67. 45 Diese Bestimmung der Kontextualität des Instrumentellen findet sich bereits bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Sie resultiert aus dem Wesen der poíhsiw: Sie hat ihr Telos nicht in ihr selbst, ihr Umwillen (o˚ £neka) erfährt sie di' £teron (EN 1094 a 20), ihre Verweisungsbezüge gehen e†w ƒpeiron (EN 1094 a 20). 46 SuZ 82. 47 GA 2, S. 93. 48 Vgl. den Hegel/Marxschen Arbeitsbegriff, wie er in Hegels Rede von der Arbeit als der „negativen Mitte“ zwischen Subjektivem und Objektivem besonders prägnant zum Ausdruck kommt (Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1926, S. 149). Vgl. in diesem Zusammenhang Verf.: Wie kann man sagen, was nicht ist – Zur Logik des Utopischen, Würzburg 1989, S. 49-72. 49 SuZ 74. 50 Mit diesem Begriff ist also nicht gemeint, was J. Derrida unter ihm versteht: Das Verweisen des Bezeichnenden auf ein Bezeichnetes, welches seinerseits ein Bezeichnendes ist et ad infinitum, konstituiere eine Spur, welche sich selbst tilge, indem sie sich immer wieder der Präsenz entziehe. So gilt für
80 Derrida schließlich: „La trace n’est ni perceptible ni imperceptible“ (Ousia et grammè, note sure une note de Sein und Zeit. In: J. D.: Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 31-78, hier: S. 76). Diese Spur wird dann bestimmt als die Summe aller möglichen Relationen des Zeichens (vgl. V.B. Leitch: Deconstructive Criticism, New York 1983, S. 28), welches jedoch in der Dekonstruktion Derridas schließlich alle Bedeutung verliert, weil seine Referentialität gänzlich verloren geht. Gerade das Gegenteil des von Heidegger in Sein und Zeit Angestrebten hat Derrida also vor Augen, wenn er das Zeichen aus der Möglichkeit zum Kontextbruch bestimmt (vgl. Signature événement contexte. In: J. D.: Marges …, a.a.O., S. 364-393, hier: S. 377 f.). Während Heidegger mit der im folgenden zu entfaltenden Rede von der Weltlichkeit der Welt, zu welcher die Spur führt, den Kontext aller Kontexte meint, versetzt Derrida den jeweiligen Zusammenhang der Zeichen gleichsam in eine wirbelnde Bewegung, so daß schließlich alles Bedeuten ein Ende hat (vgl. hierzu: J. Culler: On Deconstruction, Ithaca, NY 19866, S. 128). Die um die Möglichkeit einer endlosen Semiose geführte Diskussion ist freilich älter als der Dekonstruktivismus. Vgl. die Erörterungen im Anschluß an Peirce Bestimmung des Zeichens: G. Gentry: Habit and the Logical Interpretant. In: Ph.P. Wiener/F.H. Young (Hrsg.): Studies in the Philosophy of Charles Sanders Peirce, Cambridge/Mass. 1952, S. 75-90; R.J. Bernstein: Peirce’s Theory of Perception. In: E.C. Moore/R.S. Robin (Hrsg.): Studies in the Philosophy of Charles Sanders Peirce, Second Series, Amherst 1964, S. 165-189; J.F. Boler: Habits of Thought. In: E.C. Moore/R.S. Robin (Hrsg.), (wie oben) S. 382-400; neuerdings: G. Schönrich (wie Anm. 11). Einen an Heidegger orientierten Begriff der Spur liefert E. Levinas (En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 19672), der den Zusammenhang von Spur und Zeichen so formuliert: Die Spur tritt zur Bedeutung des Zeichens so hinzu, daß sich das Zeichen in der Spur hält. Dies meint nicht, aus der Intention der Zeichen sei schon zu entnehmen, worin die Spur bestehe; denn das hieße ja, die Spur subjektivistisch zu reduzieren (S. 199 ff.) oder im Vokabular der vorliegenden Überlegungen: ihr den onto-semiotischen Charakter zu rauben. 51 SuZ 84. 52 SuZ 87. 53 SuZ 87. 54 SuZ 118. 55 Vgl. H. Jaeger: Heidegger und die Sprache, Bern/München 1971, S. 127.
Vítûzslav Horák DAS BILD ALS WERKZEUG Bilder gehören zu den ältesten Zeugnissen der menschlichen Kultur. Sie sind, soweit bekannt, wesentlich älter als jede Form des sprachlich vermittelten diskursiven Denkens. Bereits dieser historische Umstand markiert die Bilder als etwas Vortheoretisches. Philosophische Theorien über Bilder stützen von Beginn an diese geschichtliche Kontingenz. Die Bildtheorie verdankt Platon die bis in unsere Tage überaus wirksame Denkposition, dass sich Bilder primär an die Sinnlichkeit wenden und nicht an den Verstand. Eine alte Feindschaft – die zwischen Sprache und Bild, dem Diskursiven und Nicht-Diskursiven oder dem Propositionalen und Nicht-Propositionalen – wurde im Laufe der Zeit von disparat bestehenden philosophischen Traditionen erhärtet. Die seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jh.s immer intensiver betriebene Bildtheorie konzentriert sich ebenfalls auf das, was Bilder von der Sprache trennt. Im folgenden wird dagegen jener Aspekt hervorgehoben, den Bilder mit der Sprache gemeinsam haben. Bilder sind wie sprachliche Äußerungen in erster Linie äußerst flexible und vielseitig einsetzbare Werkzeuge. Die Frage nach ihrer Bedeutung gleicht der Frage nach ihrem Gebrauch durch die Menschen.
1. Die vermeintlich feste(re) Semantik von Fotografien Beginnen wir mit einem Beispiel: Angenommen ich besitze eine äußerst seltene antike Fotografie1 von Gottlob Frege. Ich möchte dieses wertvolle Bild einem bekannten Antiquitätenhändler zum Verkauf anbieten. Ich will ihm zuerst eine Fotokopie der Fotografie schicken, um den Wert grob einzuschätzen. Aus diesem Grund lasse ich eine exakte Kopie im hiesigen Kopierladen anfertigen. Zugleich leite ich ein Frege-Seminar an der Universität und möchte den Studenten in die erste Sitzung ein Porträt von Frege mitbringen. Aus zeitlicher Not entschließe ich mich, die soeben gemachte Fotokopie zu verwenden.
82 Unser Beispiel stellt eine Herausforderung an die Bildsemantik dar. Auf was bezieht sich unsere fotografische Kopie? Was repräsentiert sie, bzw. was bildet sie ab? Naheliegend ist die folgende Interpretation: Die Kopie bezieht sich im Seminar auf Frege und bei dem Händler auf das Originalfoto. Sie ist im zweiten Fall ein Abbild des Bildes und nicht der Person. Qua Porträt bezieht sie sich auf etwas anderes als qua Faksimile. Sie dokumentiert, da ich sie beide Male dokumentarisch verwende, einmal das Aussehen einer Person und ein anderesmal das Aussehen eines Bildes von einer Person. Aber ist die Fotokopie ein Porträt oder ist sie ein Faksimile? Oder ist sie etwa beides oder keines von beiden? Und, die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang ist: Wie ist es möglich, dass der Händler und die Studenten genau dieses Problem nicht haben? Wie kann es sein, dass sie in der jeweiligen Situation verlässlich den Bezug der Kopie identifizieren? Ferner ist zu fragen: Bezieht sich die Fotokopie im Seminar auf Frege, und bei dem Händler auf das Bild? Oder beziehe ich mich mit ihrer Hilfe einmal auf Frege und ein anderes mal auf sein Bild? Mit anderen Worten: Ist Bezugnahme ein Fakt oder ein Akt? Kann es sein, dass Bezugnahme eine Handlung ist und kein Aspekt der Fotokopie? Wenn ich 18 Fotokopien der Fotografie mache, weil ich 17 Studenten im Seminar habe, jedem ein Stück mitgeben und eine dem Händler schicken möchte, so mache ich 18 Bilder, deren Produktionsweise und äußere Gestalt immer die gleiche ist. Der Bezug des einen Bildes ist jedoch deutlich verschieden von den 17 anderen. Das Beispiel verrät die Fragestellung und zugleich einen tragfähigen Lösungsvorschlag der Bildsemantik. Nicht was bedeutet ein Bild, ist hier die Frage, sondern wie. Die Fragestellung lautet: Wie kommt Bedeutung bei Bildern zustande? Und wie lautet der entsprechende Lösungsvorschlag? Wir haben die Evidenz über die Bedeutung eines Bildes niemals vor der Evidenz über seinen Gebrauch in einer Kommunikationssituation. Weder die ersichtliche Ähnlichkeit unserer Kopie mit etwas,
83 noch ihr fester kausaler Zusammenhang mit einem Original liefern hinreichende Anhaltspunkte für das, was sie in der jeweiligen Situation bedeutet. Besonders oft ist der Aspekt des Gebrauchs in der Theorie der Fotografie missachtet worden. Und darin liegt auch die Provokation unseres Frege-Beispiels. Ein Zitat aus einer neueren Theorie der Fotografie von Martin Seel: Sobald ein durch fotografische Apparate erzeugtes visuelles Muster in die Funktion eines Bildes eintritt, verweist es auf eine Wirklichkeit, die den Prozessen seiner Deutung vorausliegt. [...] Dasselbe Foto hat in jedem Gebrauch denselben Bezug.2
Derartige Theorien der Fotografie suggerieren, was ein Foto bedeute (bzw. bezeichne), sei wiederum ein Fakt und nicht ein Akt. Das heißt unabhängig vom Faktor Gebrauch durch bestimmte Akteure, gebe es genau eine feste Bedeutung der Fotografie. Denn bei einer Fotografie zeichnet niemand, sondern ein Apparat zeichnet auf. Die Intentionalität des Menschen scheint vordergründig bei der Bedeutungskonstitution des fototechnisch hergestellten Bildes gar keine Rolle zu spielen.
2. Platons Bildtheorie Die Fotografie wurde von Karlheinz Lüdeking als „die konsequenteste Verwirklichung der platonischen Bildkonzeption“3 bezeichnet. Platon positioniert die Bildbedeutung eindeutig auf der Seite von Fakten und nicht von Akten. Er ist in dieser Hinsicht der Begründer eines äußerst prominenten Denkansatzes innerhalb der Bildtheorie. Er vertritt eine kausale Bildtheorie4 und seine zentralen Beispiele sind in den Dialogen Politeia und Sophistes Spiegel und Schatten, also im wesentlichen physikalische Projektionen und keine Malwerke. Das zehnte Buch der Politeia beginnt mit einer ironischen Übertragung des Gedanken der Widerspiegelung auf die Malkunst: Am schnellsten aber wirst du wohl, wenn du nur einen Spiegel nehmen und den überall umhertragen willst, bald die Sonne machen und was am
84 Himmel ist, bald die Erde, bald auch dich selbst und die übrigen lebendigen Wesen und Geräte und Gewächse und alles, wovon nur so eben die Rede war. [...] Nämlich einer von diesen Meistern, meine ich, ist auch der Maler.5
Die Stelle ist gleichsam der locus classicus der folgenreichen antiken „static and passive notion of art as ‚mirroring‘.“6 Es ist einer der zentralen Punkte der platonischen Bildtheorie, dass sie die Bilder als eine „Leistung des Abgebildeten“7 und nicht des Malers versteht. Und daran wird anschaulich, was bzw. wer die Instanz ist, die Bildern ihre Bedeutung verleiht. Nicht der Maler macht sie bedeutungsvoll, sondern das Abgebildete. Bilder sind Repräsentationen, sind grundsätzlich statische und passive Abbilder von etwas. In ihnen manifestieren sich Dinge und nicht Intentionen. Und das Resultat der Überlegungen über die Abbilder in der Politeia, im Kratylos und in anderen Dialogen lautet: Es gehört zu den Bedingungen der Anwendbarkeit des Begriffes „Abbild“, dass es im Hinblick auf ein durch es darzustellendes Original defizitär ist. Platon beklagt in der Politeia, dass der Maler von den Dingen „nur wenig [...] nämlich nur ein Scheinbild hinmalt.“8 Und er appelliert noch deutlicher im Kratylos: „[M]erkst du nicht, wie viel den Bildern daran fehlt, dasselbe zu haben wie das, dessen Bilder sie sind?“9 An dieser Stelle beginnt das schwere Schicksal von Bildern im abendländischen Denken. Die Tradition der Bilder ist zwar wesentlich älter als Platons Philosophie, aber nicht die Tradition des Bildbegriffes. Nicht nur der Platonismus in der Bildtheorie, sondern auch der historische Umstand, dass Bilder älter sind als die gesamte uns überlieferte Philosophie, markiert sie als eine vortheoretische und im Vergleich zur Sprache minderwertige und marginale Form der Auseinandersetzung mit der Welt. Erst kürzlich wird diese Asymmetrie durch eine systematische Beschäftigung mit der vernachlässigten Bildlichkeit ausbalanciert. William J.T. Mitchell und Gottfried Boehm haben Anfang der 90er Jahre mit dem pictorial bzw. iconic turn dieser Wende Ausdruck verliehen.10 Abbilder sind defizitäre Strukturen und sollen idealerweise
85 vom Betrachter auch so verstanden werden – als bloße Abbilder einer zugrunde liegenden Wirklichkeit. Die Einsicht, dass dem nicht immer so ist, bringt Platon dazu, einen zentralen Teil seiner Bildtheorie in den spezifischen Kontext der Sophistenkritik zu positionieren. Die beliebteste Zielscheibe von Platons Kritik, der Sophist, ist jemand, der Scheinbilder immersiven Charakters produziert. Durch geschickte und irreführende Argumentation täuscht er die Rezipienten. Was er sagt, scheint wahr zu sein, ist es jedoch in Wirklichkeit nicht. Er produziert somit im weiteren Sinne unvollkommene (Schein)Bilder der Gegenstände seiner Rede, die er dem Rezipienten glaubhaft macht. Das bedeutet natürlich nicht, der Sophist male mit Pinsel und Farbe wirkliche Bilder. Vielmehr malt er mit seinen Worten. Den letzteren Gedanken kann man in der Politeia explizit als Kritikpunkt gegen die Dichter verzeichnen.11 „[A]ls ganz vorzüglich“12 den Sophisten charakterisierend, erweist sich für die Gesprächspartner im Dialog Sophistes seine Bestimmung als „Künstler im Streitgespräch“13. Diese Bestimmung greift Platon wieder auf und steuert auf die Bildtheorie zu. Er führt zuerst eine Phantombeschreibung eines (gesuchten) Mannes an, der „alle Dinge insgesamt zu machen und hervorzubringen“14 vermag. Im folgenden werden, wie bereits in der Politeia, einerseits die Maler und andererseits die Sophisten unter das Phantombild subsumiert: Von dem nun, welcher verheißt imstande zu sein, durch eine Kunst alles zu machen, wissen wir doch, daß er durch Verfertigung gleichnamiger Nachbildungen des wirklichen vermittelst der Malerkunst imstande sein wird, unnachdenkliche junge Knaben, wenn er ihnen von fern das Gemalte vorzeigt, zu täuschen.15
Für die Tätigkeit der Sophisten gilt im weiteren, „daß es auch in Worten eine andere ähnliche Kunst gebe, vermöge deren es möglich wäre, Jünglinge und solche, die noch in weiter Ferne stehen, von dem wahren Wesen der Dinge durch die Ohren mit Worten zu bezaubern, indem man gesprochene Schattenbilder von allem vorzeigt, so daß man sie glauben macht, es sei etwas Wahres gesagt und der, welcher es sagt, der Weiseste unter allen in allen Dingen.“16
86 Beim Sophisten liegt die Rednerkunst nicht darin, was er sagt, sondern wie er es sagt. Die Rednerkunst liegt an der Technik der Präsentation. Nicht zuletzt liegt das Täuschungspotential an der kognitiven Kompetenz der Hörer – vorwiegend unerfahrener junger Menschen, die „bei reiferem Alter in der Nähe mit den Dingen zusammentreffen“17 und dann „notwendig alle ihre damals entstandenen Vorstellungen umwandeln“18 und so endgültig „jene Trugbilder aus Worten zerstört werden“19. Ein Zwischenresümee: Platon erklärt den Bildcharakter aus der Nähe zu den Dingen, nicht zum Bildproduzenten. Für ihn ist die Einheit aus Bild und Bildbedeutung ein Fakt und kein Artefakt. Die Nähe der Bilder zu den Dingen ist sogar so gravierend, dass Bilder als Bilder vom Betrachter nicht erkannt werden müssen. Der Betrachter kann ähnlich Ovidius’ Narziss, der sein eigenes Spiegelbild für eine reale Person hält, getäuscht werden. Er kann das Bild mit dem Dargestellten verwechseln. Diese Verwechslung trägt den Charakter der Sinnestäuschung. Wie der Sophist den Betrachter „durch die Ohren mit Worten“ bezaubern kann, so kann der Maler den Rezipienten durch die Augen mit Bildern bezaubern. 3. Gebrauchstheorie der Bildbedeutung Gerade die Bildart der Fotografie, bei der der feste kausale Bezug zum Fotografierten das unerschütterliche Faktum der Bedeutung darzustellen scheint, leitete die Wende zur zunehmenden Dehnbarkeit der Bildbedeutung ein. Walter Benjamin erkannte in seinem berühmten Kunstwerkessay in der Fotografie das erste revolutionäre Reproduktionsmittel. Gerade moderne Reproduktionstechniken machen es möglich und einfach, dass äußerlich ununterscheidbare Bilder in hohen Mengen produziert werden. Sie können folglich in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte gebraucht werden. Dies muss schlicht Auswirkungen auf die Bedeutung und auf den theoretischen Bedeutungsbegriff für Bilder haben.
87 Ein Che Guevara-Foto auf dem T-Shirt oder in der Hand eines Demonstranten spielt eine ganz andere mitteilende Rolle als ein Che Guevara-Foto in seinem Personalausweis, obwohl, nehmen wir es einfach an, sie sich äußerlich nicht signifikant unterscheiden. Die Kontext- und somit Gebrauchssensitivität der Bildbedeutung stellt sich aktuell in den Vordergrund. Es ist eine Sensitivität, über die frühere Theorien wie die Platonische gar nicht reflektieren mussten, da die Problemlage anders war. Das heißt es wäre falsch zu sagen, dass Platon mit seiner Bildtheorie einfach falsch lag, genauso wie es falsch wäre zu denken, die Problemlage hätte sich seit Platon nicht verändert. Sie hat sich durch die Bilderflut, die Reproduktionstechniken und durch die Ausdifferenzierung der Bereiche des Bildeinsatzes in Kunst, Wissenschaft(en) und Unterhaltungsindustrie markant verändert. Es ist deswegen kaum überraschend, wenn Theoretiker heute verstärkt nach der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gebrauchsoptionen von Bildern rufen. Stellvertretend für alle schreibt etwa Uwe Pörksen: „Bilderkritik [...] ist vor allem Bildgebrauchskritik, so wie Sprachkritik Sprachgebrauchskritik ist.“20 Überraschend ist dagegen die Selbstverständlichkeit, mit der diese Behauptung aufgestellt wird. Historisch verläuft die Entwicklung in der Theorie sprachlicher Bedeutung ähnlich wie in der Theorie der Bildbedeutung von einem repräsentationalistischen zu einem gebrauchstheoretischen Paradigma. Kurzum, Sprachkritik ist erst relativ spät Sprachgebrauchskritik geworden und Bildkritik ist ebenfalls, wenn überhaupt, so erst relativ spät Bildgebrauchskritik geworden. Genauer betrachtet, Bildkritik muss erst werden, was Sprachkritik bereits ist. Die Bildtheorie wird historisch klar von einem Paradigma dominiert, das auf der Resistenz von Bildern gegenüber dem Gebrauch aufbaut. In Bildern wird überwiegend eine Zeichenart gesehen, die mit Hilfe der natürlichen und spontan verständlichen Relation der Ähnlichkeit bedeuten. Bildern wird sog. semantische Transparenz unterstellt. Das heißt sie bedeuten im Unter-
88 schied zu sprachlichen Zeichen durch Eigenschaften, die der Zeichenträger selbst besitzt bzw. zu erkennen gibt. Von Vertretern aus disparaten philosophischen Traditionen wird die semantische Transparenz hervorgehoben. Ludwig Wittgenstein charakterisiert Bilder als semantisch transparent, wenn er in den Philosophischen Untersuchungen sagt: „ ‚Das Bild sagt mir sich selbst‘ – möchte ich sagen. D.h., dass es mir etwas sagt, besteht in seiner eigenen Struktur, in seinen Formen und Farben.“21 Weiter unten wird sich jedoch zeigen, dass Wittgenstein diese Bildauffassung eher ablehnt als vertritt. Hans-Georg Gadamer charakterisiert Bilder ebenfalls als semantisch transparent, wenn er in Wahrheit und Methode sagt: „Das Bild [...] erfüllt seine Verweisung auf das Dargestellte allein durch seinen eigenen Gehalt.“22 Derartige Auffassungen über Bilder führen zu der weit verbreiteten Ansicht, dass ein Bild ein „wahrnehmungsnahes Zeichen“23 ist. Diese Ansicht kann geschichtlich zum ersten mal im zehnten Buch der Politeia nachgewiesen werden, wo Platon den Vorwurf erhebt, nachahmende Künste wie die Malerkunst würden sich ausschließlich an die verwerfliche Kompetenz der Sinnlichkeit wenden.24 Die Interpretation eines Bildes funktioniere deswegen auch wesentlich unmittelbarer als bei der Sprache, bei der wir auf zusätzliches Wissen – um sprachliche Konventionen, um den sozial etablierten Gebrauch – angewiesen sind.25 Das Bild werde dagegen im wesentlichen spontan verstanden, ohne auf den Gebrauch rekurrieren zu müssen. Das Denken über Bilder und Sprache ist stark dichotomisch geprägt und kapriziert sich auf folgende Oppositionen: Auf der Seite von Bildern figurieren Ähnlichkeit, Nichtarbitrarität und Natürlichkeit des Interpretationsvorgangs. Auf der Seite der Sprache figurieren Nichtähnlichkeit, Arbitrarität und Künstlichkeit des Interpretationsvorgangs. Die Annahme der semantischen Transparenz steht jedoch im klaren Widerspruch zu unserem Frege-Beispiel. Die Quintessenz des Beispiels ist es gerade, dass zwei Bilder mit identischer
89 Struktur der Bildträger Unterschiedliches bedeuten können. Gegen die Annahme der semantischen Transparenz von Bildern läßt sich folgende Beobachtung anführen: Bei unverändert bleibender Eigenstruktur des Bildes kann die Bedeutung variieren. Sie kann bei einem und demselben Bild in der Zeit variieren. Und sie kann bei äußerlich ununterscheidbaren Bildern verschieden sein. Die gleiche Beobachtung bei der Sprache brachte den späten Wittgenstein dazu, seine frühe Sprachphilosophie zugunsten einer Gebrauchstheorie der Bedeutung radikal abzulehnen: „Möchtest du das tun?“ Man wird [...] vielleicht sagen: „Was er sagt, hat die Form der Frage, ist aber wirklich ein Befehl“ – d.h. hat die Funktion des Befehls in der Praxis der Sprache. (Ähnlich sagt man „Du wirst das tun“, nicht als Prophezeiung, sondern als Befehl. Was macht es zu dem einen, was zu dem anderen?)26
Die Kartographie des Problems der Bedeutung eines Zeichens zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen lautet: Zwei identische Zeichenvorkommnisse können unterschiedliche Bedeutung haben. Dies ist den Theoretikern und Wittgenstein-Interpreten hinreichend bekannt. Weit weniger bekannt ist der Umstand, dass in den Philosophischen Untersuchungen nicht nur über sprachliche Zeichen, sondern auch über die Bilder ähnlich geurteilt wird: Denken wir uns ein Bild, einen Boxer in bestimmter Kampfstellung darstellend. Dieses Bild kann nun dazu gebraucht [Hervorhebung, V. H.] werden, um jemand mitzuteilen, wie er stehen, sich halten soll; oder, wie er sich nicht halten soll; oder, wie ein bestimmter Mann dort und dort gestanden hat; oder etc. etc.27
Interessant ist dabei der Verweis auf die Singularität dessen, was das Bild darstellt, und auf die Pluralität seiner durch den optionalen Gebrauch definierten Bedeutung(en). Wittgenstein geht an dieser Stelle auf sozial standardisierte Gebrauchsweisen ein, die entweder von äußerlich ununterscheidbaren Bildern oder von einem und demselben Bild zu unterschiedlichen Zeiten okkupiert werden können. Das Boxerbild kann dazu gebraucht werden, „um jemand mitzuteilen, wie er stehen, sich halten soll“ – also
90 zum Zwecke der Handlungsanweisung – oder um jemand mitzuteilen, „wie ein bestimmter Mann dort und dort gestanden hat“ – also zum Zwecke der Dokumentation. Die Diagnose bleibt in beiden Fällen die gleiche: Bei konstant bleibendem Darstellungsaspekt variiert die Bedeutung. Ein Zwischenresümee: Die Bildbedeutung wird beim späten Wittgenstein von dem Darstellungsaspekt abgekoppelt. Dadurch wird sie gleichzeitig von der gesamten Tradition der Ähnlichkeitstheorie(n) befreit. Sein Ansatz ist es dabei nicht, bei Bildern die Ähnlichkeit kontraintuitiv zu leugnen, sondern darauf hinzuweisen, dass sie nicht in dem oft unterstellten Grade bedeutungsrelevant ist. „Auf einem Bild bleibt die Ähnlichkeit mit etwas Abwesendem bestehen, auch wenn das Bild nicht als Zeichen für das, womit es Ähnlichkeit hat, genommen wird.“28
4. Wie bedeuten Bilder? Der Wittgensteinsche Ansatz formuliert die Bedeutungsfrage bei Bildern neu. Der Akzent verschiebt sich von Sachfragen auf Zweckfragen. Nicht mehr die Fragen: „Welche Faktoren waren kausal für die Entstehung des Bildes verantwortlich?“ oder: „Womit besitzt das Bild Ähnlichkeit?“ sind primär, sondern die Fragen „Wozu ist das Bild da?“ „Was ist der Zweck des Einsatzes bildlicher Mittel?“ Wir verstehen die Mitteilung, die Bilder bezwecken, nicht aus dem Bild. Wir verstehen das Bild gewissermaßen erst aus der Mitteilung, die es bezweckt. In Wittgenstein finden also die neuesten Fragestellungen der Bildtheorie, wie die von W.J.T. Mitchell „What do pictures want?“ und die jüngsten Forderungen nach der Bildpragmatik bei Uwe Pörksen29 oder Gernot Böhme30 einen prominenten Vorläufer. Die Herangehensweise Wittgensteins rechtfertigt eine Kategorisierung von Bildern nach Zwecken. Eine nicht angemessene Gewohnheit hat sich in der Bildtheorie verbreitet, Bilder tendenziell nach der Art und Weise ihrer Entstehung zu klassifizie-
91 ren. Es ist einerseits eine richtige, aber leicht irreführende Strategie. Richtig ist sie, weil bestimmte signifikante Differenzen von Bildern durch die Untersuchung ihres Entstehungsprozesses herausgearbeitet werden können. So ist ein Foto nicht die gleiche Art Bild wie ein Malwerk und beide unterscheiden sich erheblich von Spiegelreflexionen oder digitalen Bildern. Leicht irreführend ist die Herangehensweise deswegen, weil sie gemäß der Unterscheidung von Herstellungsarten zur Anwendung bestimmter semantisch aufgeladener Begriffe wie z.B. „Abbild“ verführt. Die Legitimität des Abbildbegriffes wird vom Herstellungsprozess hergeleitet. So scheint ein Foto immer ein Abbild sein zu müssen. Von einem Abbild fordern wir jedoch eine ganz andere Form der Adäquatheit als wir es von etlichen Fotografien in etlichen Verwendungskontexten fordern. Umgekehrt ist eine alte Handzeichnung des Sonnensystems jederzeit ein Abbild, obwohl sie kein Foto ist. Sie gehört sinngemäß in die gleiche Gruppe von Bildern, die in der heutigen Astronomie fototechnisch hergestellt werden. Es sind Dokumente. Diese Bilder dokumentieren etwas. Gerade am Begriff des Abbilds und am Begriff des fiktionalen Bildes lässt sich die Legitimität der Kategorisierung nach Zwecken am besten demonstrieren. Bei beiden Begriffen geht es dabei primär um das Problem der Referenz, der Bezugnahme. Der überwiegende Teil von Theorien versteht die Bezugnahme eines fiktionalen Bildes sowie eines Abbilds als eine Faktenfrage und nicht als eine Handlungsfrage. Beim Begriff „Abbild“ ist aber unklar, wie das Verhältnis der Beschaffenheit eines bestimmten Bildes als Abbild und seines Gebrauchs aufzufassen ist. Die Funktion eines Abbilds ist es, das zugrunde liegende Original möglichst treu wiederzugeben. Das wird von den Theoretikern kaum bezweifelt. Aber: Schließen wir aus der tatsächlichen Beschaffenheit eines Bildes als Abbild auf seine Funktion, das Original treu wiederzugeben? Oder schließen wir aus der Funktion bestimmter Bilder, das Original treu wiederzugeben, auf ihre faktische Beschaffenheit als Abbild? Ist der Abbildcha-
92 rakter dem Bild (aufgrund seiner Entstehungsgeschichte) inhärent oder bezeichnet „Abbild“ einen Gebrauch von Bildern? Ein analoges Problem ergibt sich bei fiktionalen Bildern. Zahlreiche Theorien gehen davon aus, dass die Legitimationsgrundlage der Bestimmung eines Bildes als „fiktional“ die Tatsache des Fehlens eines Bezugsgegenstandes ist. Demnach wären bestimmte Bilder fiktional, weil ihnen Bezugsgegenstände fehlen. Dieses Kriterium erfüllt z.B. ein Bild von Pegasus. Aber: Entweder bestimmte Bilder haben keinen Bezugsgegenstand und sind insofern fiktional. Oder bestimmte Bilder sind fiktional und haben insofern keine Bezugsgegenstände – weil es schlicht nicht die Absicht gibt, sich mit einem fiktionalen Bild auf etwas Reales zu beziehen. Die Bilder in einem Zeichentrickfilm sind nicht deswegen fiktional, weil die animierten Wesen wie Schneewittchen oder Rotkäppchen nicht existieren. Sie sind deswegen fiktional, insofern niemand die Absicht hat mit den Bildern zu behaupten, es gebe Schneewittchen oder Rotkäppchen. Wie wir sehen, liegt die entscheidende Frage beim Abbild und bei fiktionalen Bildern (und bei sämtlichen anderen Gebrauchsweisen) immer „darin, ob wir die Funktion aus dem Gebilde oder das Gebilde aus der Funktion zu verstehen suchen, ob wir diese in jenem oder jenes in dieser ‚begründet‘ sein lassen.“31 Fiktionalität und der Abbildcharakter bestimmter Bilder können gebauchstheoretisch gefasst werden als zwei sozial standardisierte Gebrauchsweisen von Bildern. Der Anspruch auf die zuverlässige Darstellung von Fakten unterscheidet fiktionale Bilder von Abbildern. Ein Bild des Loch-Ness-Ungeheuers oder eine wacklige Aufnahme von Bigfoot sind, selbst wenn die beiden Wesen nicht existieren, stets Abbilder, sofern jemand behauptet, Nessie oder Bigfoot abgebildet zu haben. Die Art der Herstellung der beiden Bilder, ob sie mit der Kamera aufgenommen oder mit der Hand gemalt wurden, sind für die Kategorisierung als Dokument oder Fiktion völlig unerheblich. Und noch wichtiger: Alleine durch den Anspruch, etwas dokumentiert zu haben, ist das Bild nachträglich überhaupt als eine Fälschung be-
93 stimmbar. Bei einem Pegasus-Bild wird wohl kaum jemand auf die Idee kommen, es für eine Fälschung auszugeben.
5. Die Bildsemantik zwischen Fakten und Akten Wenn es uns um den semantischen Gehalt von Bildern geht, ist eine Aufteilung nach Zwecken der Typologie nach der Entstehungsart vorzuziehen. Die Beobachtung dahinter ist: Begriffe wie „Dekoration“, „Dokumentation“, „Präskription“, „Demonstration“, „Fiktion“, „Illustration“ bezeichnen unterschiedliche sozial standardisierte Gebrauchsweisen von Bildern. Kurzum: Bilder, die wir (in anatomischen Atlanten) in reportativer Weise verwenden, sind dokumentarisch oder sog. Abbilder. Bilder, die wir (in Bauplänen) in normativer Weise verwenden sind präskriptiv oder sog. Vorbilder. Bilder, die wir (in der Beweisführung) in explorativer Weise verwenden, sind demonstrativ oder sog. Spurbilder. Bilder, die wir (in einem Modell des Wasserstoffatoms) in explanativer Weise verwenden, sind illustrativ oder sog. Schema- bzw. Schaubilder. Bilder, die wir (in der Unterhaltungsindustrie) in narrativer Weise verwenden, sind fiktional. Bilder, deren semantischer Gehalt weitgehend belanglos ist, sind dekorativ oder sog. Zierbilder. Diese Typologie muss nicht exklusiv sein, sondern deutet ein wichtiges Forschungsdesiderat an.32 Rufen wir uns noch einmal die Annahme der semantischen Transparenz und spontanen Verständlichkeit von Bildern ins Gedächtnis: „Das sprachliche Zeichen ist auf eine Zunge, eine Gemeinschaft begrenzt und nur in ihr sofort verständlich, – das visuelle bildhafte Zeichen ist rasch erlernbar und international leicht kommunizierbar.“33 In jeder Kommunikationssituation mit Bildern werden jedoch auch konventionelle Bedeutungskomponenten mitgeteilt, beispielsweise die Information über ihren dokumentarischen, fiktionalen oder dekorativen Status. Bilder sind keine seman-
94 tisch transparente, spontan verständliche, natürliche Zeichen. Diesem allzu häufigen Irrtum liegt die Tatsache zugrunde, dass sich die Bildtheorie seit Platon auf das Verhältnis zwischen Bild und Welt konzentriert – auf Ähnlichkeit und die kausalen Zusammenhänge mit den Dingen. Sie thematisiert den Bildcharakter aus der Nähe zu den Dingen, nicht zum Menschen. Die Relation zwischen Bild und Mensch wird dagegen erst jetzt schrittweise hervorgehoben. Programmatisch für diese Wende ist der vordergründig falsche Satz von Hans Belting: „Alle Bilder sind zuerst einmal die Bilder des Menschen.“34 Anmerkungen 1 Im folgenden sind mit Fotografien ausschließlich analoge Fotografien gemeint. 2 Martin Seel, Fotografien sind wie Namen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 43, Hft. 3 (1995), S. 465-478, S. 465 f. 3 Karlheinz Lüdeking, Zwischen den Linien. Vermutungen zum aktuellen Frontverlauf im Bilderstreit, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. G. Boehm, München: Fink 1994, S. 344-366, S. 358. 4 Vgl. Oliver Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, Frankfurt/Main: Klostermann 20042, S. 82 ff. 5 Politeia X 596 d. (Platons Dialoge werden im folgenden nach der Ausgabe von H. Stephanus Paris 1578 zitiert.) Jens Kulenkampff stellt fest, Platon sei an dieser Stelle der erste gewesen, der den Gedanken aussprach, die künstlerische und somit auch die gesamte Bildproduktion sei aus der Entstehung des Spiegelbildes heraus zu erklären. Vgl. Jens Kulenkampff, Spieglein, Spieglein an der Wand …, in: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, hrsg. v. B. Recki u. L. Wiesing, München: Fink 1997, S. 270-293, S. 271, 273. 6 Stephen Halliwell, Plato. Republic 10, Warminster: Aris&Phillips 1988, S. 9. 7 Hans Belting, Bild und Kult, München: C.H. Beck 1990, S. 174. 8 Politeia X 598 b. 9 Kratylos 432 d. 10 Vgl. William J.T. Mitchell, The Pictorial Turn, in: Art Forum International, Bd. 30, Hft. 7 (1992), S. 89-94 und Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. G. Boehm, München: Fink 1994, S. 11-38. Seit Mitchell und Boehm wurden die Ausdrücke „pictorial turn“ und „iconic turn“ vielfach variiert. Ferdinand Fellmann spricht vom „imagic turn“. Vgl. Ferdinand Fellmann, Wovon sprechen die Bilder? Aspekte der
95 Bild-Semantik, in: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, hrsg. B. Recki u. L. Wiesing, München: Fink 1997, S. 147159. Klaus Sachs-Hombach spricht noch allgemeiner vom „visualistic turn“. Vgl. Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium, Köln: Herbert von Halem 2003, S. 10. Bei Peter Spangenberg kommt der Ausdruck „pictural turn“ vor. Vgl. Schaulust und Informationsbedürfnis. Die mediale Herstellung von Öffentlichkeit unter dem Primat der Visualisierung, in: Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, hrsg. v. R. Hettlage, Konstanz: UVK 2003, S. 145-157. 11 Vgl. Politeia X 601 a. 12 Sophistes 232 b. 13 Ebd. 14 Ebd., 233 d. 15 Ebd., 234 b. 16 Ebd., 234 c. Platon formuliert diesen Gedanken als eine Frage des Fremden aus Elea an seinen Gesprächspartner Theaitetos. Dieser pflichtet bei. 17 Ebd., 234 d. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Uwe Pörksen, Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 35. 21 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, § 523. 22 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 1960, S. 145. 23 Sachs-Hombach (wie Anm. 10), S. 88 ff. 24 Politeia X 603 b. 25 Vgl. Reinhard Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – vom Spiegel zum Kunstbild, München: Hanser 1999, S. 93. 26 Wittgenstein (wie Anm. 21), § 21. 27 Wittgenstein (wie Anm. 21), Anmerkung zum § 22. 28 Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 166. 29 Vgl. Anm. 20. 30 Vgl. Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München: Fink 1999, S. 10. 31 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 10. 32 Vorarbeiten findet man beispielsweise bei Christian Doelker. Vgl. Christian Doelker, Ein Bild ist mehr als ein Bild. Visuelle Kompetenz in der Multimedia-Gesellschaft, Stuttgart: Klett-Cotta 1997 und Christian Doelker, Ein Funktionenmodell für Bildtexte, in: Bildhandeln. Interdisziplinäre Forschungen zur Pragmatik bildhafter Darstellungsformen, hrsg. v. K. SachsHombach u. K. Rehkämper, Magdeburg: Scriptum 2001, S. 29-39.
96 Pörksen (wie Anm. 20), S. 154. Hans Belting, Der Ort der Bilder. Jai-Young Park im Gespräch mit Hans Belting und Boris Groys, Stuttgart: Cantz 1993, S. 21. 33 34
II Fluchtpunkte der Freiheit
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Dagmar Fenner IST DIE „NEGATIVE FREIHEIT“ EIN IRRTUM? Berlins Konzept „negativer Freiheit“ im Kontrast zu Taylors Gegenentwurf „positiver Freiheit“ Der Beitrag kontrastiert die beiden Freiheitsbegriffe einer „negativen“ und „positiven Freiheit“, hinter denen die divergierenden Positionen des Liberalismus und Kommunitarismus stehen. Isaiah Berlins Konzept der „negativen Freiheit“ entpuppt sich insofern als Irrtum, als Freiheit nur in einem triadischen Modell hinreichend bestimmt werden kann: Weder als rein negative Abwesenheit von sozial externen Freiheitsschranken („Handlungsfreiheit“) noch als möglichst breites Spektrum an beliebigen Handlungsoptionen („Willkürfreiheit“). Wie Charles Taylors Gegenmodell aufweist, setzt Freiheit positiv gefasst als „Freiheit wozu“ vielmehr höherstufige Wünsche oder Ziele voraus. Diese gründen letztlich in einem normativen Selbstentwurf, der nur in Interaktion mit der sozialen Außenwelt stabilisiert werden kann.
1. Isaiah Berlin: Negative Freiheit Als Isaiah Berlin 1958 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Oxford zwei Freiheitsbegriffe gegeneinander abgrenzte, brachte er damit eine bis heute anhaltende politische und philosophische Diskussion ins Rollen. Für Berlin handelt es sich dabei „nicht um zwei verschiedene Deutungen eines einzigen Begriffs, sondern um zwei grundverschiedene, unvereinbare Einstellungen zu den Zielen des Lebens“1. Hinter den beiden Freiheitsbegriffen stünden also divergierende und unvereinbare Grundhaltungen, die beide absolute Ansprüche erheben. Natürlich ließen sich diese Forderungen in der Praxis nie ganz erfüllen, sondern müssten meist einem Kompromiss zwischen ihnen weichen.2 Im Laufe der durch Berlin entzündeten Kontroverse
100 zwischen dem von ihm klar bevorzugten Konzept „negativer Freiheit“ und dem daraufhin von Taylor vehement verteidigten Modell „positiver Freiheit“ trafen schließlich die komplexen und unübersichtlichen Diskussionskontexte des Liberalismus und Kommunitarismus aufeinander. Bevor ich Taylors Einwände gegen Berlin und seinen eigenen Gegenentwurf erläutere, möchte ich Berlins Plädoyer für negative Freiheit einer immanenten Kritik unterziehen.
1.1 Freiheit als Abwesenheit von Zwang Berlin knüpft bei seiner Definition negativer Freiheit ausdrücklich an die liberale Tradition von Hobbes über Locke und Hume bis hin zu Mill an. Der Mensch wäre in diesem Verständnis frei, wenn er jenseits des Einflusses von staatlichen Institutionen oder Privatpersonen tun und lassen kann, was er will.3 Solche Freiheit ist offenkundig primär negativ bestimmt, indem sie wesentlich „Freiheit von“ Behinderungen meiner Wunsch- oder Zielvorstellungen durch direkte oder indirekte Fremdeinwirkungen meint: „Freisein in diesem Sinne bedeutet für mich, daß ich von anderen nicht behelligt oder gestört werde. Je größer der Bereich der Ungestörtheit, desto größer meine Freiheit.“4 Wiederum mit Berufung auf die in der Renaissance inthronisierte Freiheitsauffassung der Moderne identifiziert Berlin diesen Bereich mit der Privatsphäre, mit dem „Bezirk der persönlichen Beziehungen“, welcher vor jeglichen sozialen Kontrollen geschützt werden müsse.5 Über das Prinzip, mittels dessen man dieses unantastbare Gebiet der Nichteinmischung umreißen bzw. ein Minimum festlegen könne, unter welchem der Mensch Schaden nehmen würde, seien sich die Denker bis heute nicht einig geworden: mal machte man Naturrechte geltend, mal Nützlichkeitserwägungen oder Gesellschaftsverträge.6 Angesichts der Schwierigkeiten, das Minimum an privatem Freiraum zu definieren und eine Trennlinie zwischen Privatem und Öffentlichem festzule-
101 gen, hilft Berlins Bezugnahme auf John Stuart Mill kaum weiter: Mill teilt dem Privatbereich alles zu, was nur die Interessen des Einzelnen betrifft, dem öffentlichen hingegen, was auch fremde Interessen tangiert.7 Wie ich den gängigen Einwänden gegen dieses Abgrenzungskriterium Recht geben würde, dürfte es selbst im intimen Bereich nur wenige Aktivitäten geben, die nicht wenigstens in indirekter Weise auf soziale Kontexte bezogen sind, auf sie reagierend oder auf sie einwirkend.8 Wenn Berlins zweiter Gewährsmann Benjamin Constant den (negativen) Freiheitsbegriff der Moderne gegenüber dem antiken Freiheitsverständnis als politischer Souveränität favorisiert, weil die Staatsgewalt in der Antike selbst „in die intimsten häuslichen Bereiche“ eingedrungen sei und sämtliche „private Handlungen“ des Heiratens, der Religionsausübung oder der gewerblichen Betätigung reglementiert habe,9 werden mit einer Einschränkung der Freiheit auf den Privatbereich ohne Frage wesentliche Lebensbereiche ausgeklammert. Gerade weil seit der Antike der Privatraum der Bedürfnisbefriedigung, der Lust und der Gefühle als „privatio“ (Beraubung) der Entwicklung höherer menschlicher Fähigkeiten im öffentlichen Raum gedeutet wurde, attackierte die in den 1960er Jahren eingesetzte Frauenbewegung die starke Kontrastbildung von Öffentlichem und Privatem und die Verbannung der Frauen in die Privatsphäre als beobachtungsfreien Raum der Selbstbestimmung.10 Als zweites irritierendes Moment der ex-negativo-Definition von Freiheit fällt Folgendes auf: Indem nur willentliche Eingriffe durch Staat oder Privatpersonen als Freiheitsbegrenzungen gelten, treten sämtliche anderen Barrieren wie Krankheiten, Behinderungen, Armut oder schlechte Ausbildung aus dem Blickfeld. Analytisch gesprochen stellt Berlin damit allein die externen sozialen Beschränkungen in Rechnung, nicht aber die internen sozialen, d.h. die sozialen Handlungsressourcen als Bedingung für Ausbildung, berufliche Qualifikation oder Gütererwerb, oder die internen natürlichen (angeborene physische und geistige Fähigkeiten der Menschen) und externen natürli-
102 chen (Gegebenheiten der Umwelt).11 Aber ist jemand, der von Natur aus gelähmt ist oder unter dem Existenzminimum lebt, nicht massiv darin eingeschränkt, zu tun und zu lassen, was er will? Ein solches Unvermögen, unsere Ziele ungestört verfolgen zu können, sei genauso wenig Unfreiheit wie die Unfähigkeit, wie ein Adler zu fliegen oder ein Wal zu schwimmen, so lautet das von Helvétius entliehene Argument Berlins.12 Bei einem Mangel an ökonomischen, physischen oder geistigen Fähigkeiten dürfe nur dann von Unfreiheit statt von Armut oder Krankheit gesprochen werden, wenn diese Insuffizienz durch bestimmte soziale oder politische Abmachungen und Maßnahmen verursacht wird, die jemanden im Unterschied zu allen anderen ungerechterweise benachteiligen. Die Verwendung des Ausdrucks „Freiheit“ hinge dann tatsächlich „von einer bestimmten Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie über die Ursachen meiner Armut oder Schwäche ab“13, welche Berlin dem Einzelnen anheimzustellen scheint: „Das Kriterium für Unterdrückung ist die Rolle, die meiner Ansicht nach andere Menschen direkt oder indirekt, absichtlich oder unabsichtlich bei der Vereitelung meiner Wünsche spielen.“14 Mit diesen Ausführungen reduziert Berlin offenkundig die immense Bedeutungsvielfalt des Freiheitsbegriffs auf die politische Dimension. Er rechtfertigt diese begriffliche Einengung damit, dass es sich dabei um die „gewöhnliche“ Begriffsverwendung von „Freiheit“ handle und Freiheit in dieser Bedeutung eine zentrale Rolle für die Menschheitsgeschichte gespielt habe und spiele.15 Ebenso gebräuchlich scheint mir zumindest in der Philosophie die eng verwandte „Handlungsfreiheit“ zu sein, welche als der weitere Begriff die Abwesenheit sowohl von äußeren als auch von inneren Beschränkungen meint und also auch die Freiheit von physischen und ökonomischen Grenzen einschließt.16 Mag man Berlin bei seiner Aufmerksamkeitszentrierung auf die politische Bedeutung negativer Freiheit noch folgen, muss doch sein Ausschluss der internen sozialen Freiheitsschranken aus seinem Freiheitskonzept als äußerst proble-
103 matisch erscheinen. Denn nicht nur unmittelbarer gesellschaftlicher Zwang, sondern auch das Unterlassen kollektiver Regelungen zum Ausgleich unverdienter, nicht-gewählter Nachteile bei der Ausstattung mit natürlichen und sozialen Gütern stellt zweifellos eine „ungerechte Benachteiligung“ dar. So werden die weniger Begabten oder sozial schlechter Gestellten solange durch gesellschaftliche Regelungen ungerecht behandelt und in ihrer Notlage festgehalten, als etwa den Gelähmten kompensatorische Maßnahmen wie Rollstühle und rollstuhlgängige Bauten oder den Lernschwachen Sonderschulen vorenthalten bleiben. Denn ist die Gesellschaft nicht indirekt und unabsichtlich an der Vereitelung der Wünsche und damit an der Freiheitsbeschränkung solcher Minoritäten schuld, indem sie ihre sozioökonomischen Güter und Einrichtungen nur auf den gesunden, durchschnittlich begabten „Normalmenschen“ zuschneidet? Macht sich hier nicht das Defizit einer ausgereiften Gerechtigkeitstheorie bemerkbar, welche die Kriterien für eine „ungerechte Benachteiligung“ festsetzte?
1.2 Freiheit als Spielraum von Handlungsoptionen Wo Berlin sein Freiheitskonzept nicht ausschließlich negativ definiert als Abwesenheit von externen sozialen Zwängen und Reglementierungen, tritt das aktive Verfügenkönnen über positive Handlungsmöglichkeiten in den Blick. Sowie wir in 1.1 die Analogie zur „Handlungsfreiheit“ herstellten, ist hier die Nähe zur „Wahl-“ oder „Willkürfreiheit“ unverkennbar als der grundlegenden menschlichen Fähigkeit, zwischen Alternativen auswählen und eine Entscheidung treffen zu können. Da Freiheit grundsätzlich eine dreistellige Relation darstellt mit einer handelnden Person, der Beschränkungen, von denen sie frei sein soll, und dessen, wozu sie frei gestellt sein soll, scheinen mir beide Aspekte sachlich untrennbar zusammenzugehören.17 Negative Freiheit basiere also aus positivem Blickwinkel darauf,
104 „wie viele Türen mir offen stehen und wie weit sie geöffnet sind“18, unabhängig davon, ob ich diese Wege tatsächlich gehen will oder nicht. Es geht ausdrücklich nicht um die Wege, die jemand tatsächlich gehen will, weil die Menschen durch soziale Zwänge zur Aufgabe bestimmter unerwünschter Handlungsziele oder Wünsche gebracht werden können.19 Zweitens komme es zudem darauf an, „wie leicht oder wie schwierig es ist, diese Möglichkeiten zu aktualisieren“20. Drittens gelte es schließlich in Rechnung zu stellen, „wie wichtig diese Möglichkeiten in meinem Lebensplan, angesichts meines Charakters und meiner Lebensumstände sind“, und viertens, „welchen Wert nicht nur der Handelnde, sondern auch die Gesellschaft, in der er lebt, den verschiedenen Möglichkeiten beimessen“.21 Berlin stellt bezüglich des ersten Punktes klar, dass es auch hier wieder nur um diejenigen Alternativen geht, bei denen „absichtlich oder unabsichtlich durch veränderbares menschliches Handeln oder durch menschliche Institutionen solche Türen geschlossen oder nicht geöffnet“ werden können.22 Wäre der Staat dann aber nicht dazu verpflichtet, sämtliche Türen zu allen möglichen Wegen zu öffnen, die ein Bürger einzuschlagen beschließen könnte? Wenn zweitens die Leichtigkeit angesprochen wird, Handlungsmöglichkeiten tatsächlich wahrzunehmen und zu realisieren, ist der Staat offenkundig nicht nur in negativer Hinsicht gefordert, indem er den Menschen Hindernisse bei ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen aus dem Weg räumt. Da selbst „negative Freiheit“ kein reines Abstraktum sein soll, und es gemäß Sartres Diktum Freiheit prinzipiell „nur in Situation“ gibt,23 setzt sie vielmehr bestimmte, ganz konkrete, situative Handlungsbedingungen voraus. Zur Erweiterung des tatsächlichen und nicht bloß theoretischen Handlungsspielraums seiner Bürger hätte der Staat daher ein möglichst breites Angebot an Bildungs-, Arbeits- und Freizeitvergnügungsstätten zur Verfügung zu stellen.24 Um beispielsweise die von Berlin genannte Religions- und Meinungsfreiheit zu sichern, dürfte mit der staatlichen und gesellschaftlichen Nichteinmischung wenig erreicht
105 sein bezüglich der Aktualisierung unterschiedlicher Glaubenspraktiken oder möglicher Wege wirksamer Meinungskundgabe. Wenn wir in unserer Gesellschaft nur eine Glaubensgemeinschaft mit entsprechenden Kirchenbauten und Gemeindeorganisationen vorfinden, wäre uns zwangsläufig der Weg dazu verschlossen oder doch erheblich erschwert, einen anderen Glauben zu praktizieren.25 Allerdings handelte man sich damit die Schwierigkeit ein, dass Zahl und Vielfalt der potentiellen Handlungsmöglichkeiten aller Menschen natürlich grundsätzlich unendlich ist, so dass man sich auf die „wichtigsten“ unter ihnen beschränken müsste (nach Punkt 3/4). In seiner späteren Einleitung zu den vier Essays, in welcher Berlin auf die Kommentare seiner Kritiker reagiert, äußert er sich auch zum Dilemma, „daß der Glaube an die negative Freiheit mit großen, dauerhaften sozialen Mißständen durchaus vereinbar ist.“26 Zweifellos zeuge es von Hohn, wenn Herbert Spencer und seine Schüler den in Slums aufgewachsenen und in Gruben oder Fabriken zugrunde gerichteten Unterschichtkindern zurufen, „sie hätten das Recht, ihr Geld nach eigenem Gutdünken auszugeben und sich nach Belieben zu bilden“, denn: „Was sind Rechte ohne die Möglichkeit, sie zu nutzen?“27 Gleichwohl insistiert Berlin auf der Differenz zwischen der Freiheit und den Bedingungen ihrer Ausübung. Auch wenn jemand zu arm oder zu unwissend sei, von seinen Rechten Gebrauch zu machen, bedeute ihm diese negative Freiheit zwar nichts, wodurch sie selbst aber „nicht nichtig“ werde.28 Nur wenn man aber die negative Bestimmung negativer Freiheit als Abwesenheit von Fremdbestimmung isoliert (gemäß 1.1), macht hier die Rede von Freiheit „an sich“ Sinn, die man wie Rawls vom „Wert“ der Freiheit für einzelne oder Gruppen unterscheiden könnte.29 Mit Blick auf Berlins positive Bestimmung negativer Freiheit als Spielraum tatsächlich realisierbarer Handlungsoptionen (Punkt 2) wäre eine solche rein abstrakte Freiheit hingegen unzweideutig als „nichtig“ zu deklarieren und die postulierte Begriffsunterscheidung entpuppte sich als sophistisch. Nicht nur hinsichtlich einer not-
106 wendig triadischen Freiheitsdefinition, sondern auch im allgemeinen Sprachgebrauch macht es in Peter Kollers Worten „einfach keinen Sinn […], zu sagen, jemand habe die Freiheit, nach seinem Willen zu handeln, wenn ihm hierzu alle nötigen Mittel vollständig fehlen und wenn es für ihn auch keine Aussichten gibt, jemals in den Besitz solcher Mittel zu kommen.“30 Gemäß Berlins eigenem Zugeständnis kann negative Freiheit indes nur da aktualisiert werden und für den Betroffenen Wert erlangen, wo gewisse elementare menschliche Bedürfnisse gestillt sind und die Menschen nicht mehr um das tägliche Überleben zu kämpfen haben. So fehlt es halbnackten, analphabetischen, unterernährten und kranken Menschen zwar nicht an negativer Freiheit im Sinne des Schutzes vor politischen Zwangsmaßnahmen, aber „sie brauchen zunächst einmal medizinische Hilfe und Bildung, ehe sie eine Zunahme ihrer Freiheit verstehen oder nutzen können.“31 Obgleich die Freiheit der Bürger augenscheinlich nicht dadurch garantiert ist, dass der liberale Staat allen denselben Zugang zu sämtlichen Ressourcen sichert, versäumt es Berlin anders als etwa Martha Nussbaum, eine Schwelle zu bestimmen, die jeder Bürger zum Zwecke seiner Freiheit dank staatlicher Gesundheits- und Erziehungssysteme überschreiten sollte.32 Oberhalb dieser Schwelle als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit überhaupt ließen sich dann je nach Gesundheit, Reichtum oder Macht verschiedene Grade von Freiheit (bzw. des „Wertes“ oder der „Realisierungsbedingungen“ rein negativer Freiheit) unterscheiden. Stattdessen bemerkt Berlin lapidar: „individuelle Freiheit ist nicht jedermanns oberstes Bedürfnis“33! Gleichwohl wähnt er, es spreche sehr vieles „für Eingriffe des Staates oder anderer geeigneter Körperschaften, um die Voraussetzungen sowohl für die positive Freiheit als auch für ein Mindestmaß an negativer Freiheit der Individuen zu sichern“34. Argumente für gesellschaftliche Planung und Wohlfahrtsstaat ließen sich nicht nur aus Erwägungen über positive, sondern auch über die Ansprüche der negativen Freiheit ableiten.35 Wenn er
107 sich persönlich zu einem weltweiten einheitlichen Schulsystem bekennt, begründet er dies inkonsequenterweise mit freiheitseinschränkenden Idealen der „sozialen Gleichheit“ oder der „gesellschaftlichen Solidarität“36 oder verwickelt sich in Widersprüche: Um mittels Bildungsgleichheit „einer möglichst großen Zahl von Kindern Chancen zu freier Entscheidung zu verschaffen“, raubt man in bevormundender Manier den Eltern das Recht, die Art der Schulbildung ihrer Kinder selbst zu bestimmen.37 Mit den Punkten drei und vier weist Berlin mein in Frageform gefasstes Gedankenexperiment zurück, demzufolge der Staat den Bürgern sämtliche Ressourcen einschließlich der Ausbildung der zu ihrer Nutzung notwendigen Kompetenzen zur Verfügung stellen soll, die ihnen die Umsetzung willkürlich gewählter Lebensziele oder Handlungsoptionen erleichtere. Denn es gehe keineswegs allein um die Quantität von Alternativen, so dass negative Freiheit bereits durch das Minimum von zwei Wahlmöglichkeiten gesichert wäre, sondern durchaus auch um deren Qualität. Berlin statuiert aber keinen Maßstab, mittels dessen ein Individuum oder die Gesellschaft einer Handlungsalternative mehr oder weniger Wert beimessen könnte. Ein wirtschaftsliberaler Staat würde die unabdingbare Einschränkung dieses Spielraums an positiven Handlungsmöglichkeiten wohl dem Marktprinzip überlassen in der Hoffnung, aufgrund der Nachfrage der Individuen mit ihren unabhängigen, eigenständigen Zielvorstellungen entscheide sich auf dem Markt, welche Optionen in der Gesellschaft als wertvoll angesehen werden. Demgegenüber pflichtet Berlin in seiner Reaktion auf die kritische Rezension von David Spitz diesem zwar insoweit bei, „daß alles darauf ankomme, wie man das Wesen des Menschen oder die Ziele der Menschen sieht“, um die Handlungsräume, Grundfreiheiten und Freiheitsbegrenzungen eruieren zu können, die solche Werte fördern.38 Seine vage Formel eines „normalen Menschen“ scheint für dieses schwierige Unterfangen aber wenig geeignet: Was man bald als „Naturrecht“, bald als „dauerhafte Interessen des Menschen“ bezeichnet habe, sei „so tief im
108 Wesen der Menschen, wie sie sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben, verwurzelt […], daß sie nun ein wesentliches Element dessen ausmachen, was wir als normales menschliches Wesen bezeichnen.“39 Ein „normales menschliches Wesen“ verfüge zum einen über Grenzen, in denen Menschen unantastbar sind, zum anderen habe es ein unbedingtes Recht, unmenschliches Handeln zu verweigern. Das „normale menschliche Wesen“ werde immer dann missachtet, wie die von Berlin ins Feld geführten Exempel illustrieren, wenn einem Menschen von einem Gesetzgeber oder der Gesellschaft ein fremder Wille aufgezwungen werde.40 Damit verweist das gesuchte Kriterium zur Bestimmung allgemein wertvoller Handlungsmöglichkeiten uns offenkundig zurück auf die ex-negativo-Definition der Freiheit als Abwesenheit von Zwang (1.1) und bringt keine inhaltliche Konkretisierung: Von Freiheit in einem positiven Sinne als Spielraum von Handlungsoptionen dürfe nur da gesprochen werden, wo der Handelnde frei von Fremdbestimmung ist und auch keinem an der Handlung Beteiligten seinen Willen aufzwingt. Dieses vollkommen formale Kriterium ist aber sicherlich viel zu weit und zu schwach, um den Wert von Handlungsoptionen „in meinem Lebensplan, angesichts meines Charakters und meiner Lebensumstände“ zu bestimmen (gemäß Punkt 3). Noch viel mehr erfordert die Festlegung gesellschaftlich bedeutsamer Handlungsoptionen notwendig die Einigung auf ein material gehaltvolles essentialistisches Menschenbild. So hängt fraglicher Wert von Handlungsmöglichkeiten etwa nach Kollers überzeugendem Vorschlag erstens ab „vom Gewicht der allgemeinmenschlichen Interessen, die mit ihnen verknüpft sind, und zweitens von der Reichweite der variablen individuellen Ziele, deren Realisierung sie ermöglichen.“41 Bezüglich der „allgemein-menschlichen Interessen“, zu denen Koller die für das Überleben und Wohlergehen der Menschen unabdingbaren Grundbedürfnisse zählt, pocht Berlin hingegen nach liberalistischer Manier auf die irreduzible „Vielfalt menschlicher Grundbedürfnisse“42. Die Reichweite einer Handlungsoption
109 wäre beispielsweise bei der freien Berufswahl sehr groß, weil sie uns ein weites Spektrum an Handlungszielen eröffnet, die für unsere Lebensgestaltung bedeutsam sind.43
1.3 Freiheit als allgemeines gesellschaftliches Ideal? Berlin stellt in seiner später verfassten Einleitung gegenüber allen Missverständnissen seiner Kritiker klar, negative Freiheit könne keineswegs das alleinige gesellschaftliche Ideal sein und dürfe auch nicht als ein absoluter Wert über weniger wichtige Werte gestellt werden.44 Die beiden Grundprobleme des von ihm verteidigten Freiheitskonzeptes machen dieses defensive Zugeständnis unvermeidlich: Offenkundig kann a) die Freiheit des einen mit der Freiheit des andern in Konflikt geraten und b) der Wert der Freiheit mit anderen Werten kollidieren. (Ad a:) Historisch betrachtet habe das Pochen auf das die negative Freiheit konstituierende Prinzip der Nichteinmischung oft dazu gedient, „politisch und gesellschaftlich destruktive Strategien zu stützen, die den Starken, Brutalen, Skrupellosen die Oberhand über die Menschenfreundlichen und Schwachen gaben und den Tüchtigen und Rücksichtslosen zum Vorteil über die weniger Begabten und weniger Glücklichen verhalfen.“ Er zieht den Sozialdarwinismus und die schrankenlose, unerbittliche Konkurrenz des Kapitalismus als Beispiele heran und resümiert mit an Nietzsche erinnernder Metaphorik: „Die Freiheit der Wölfe bedeutet oft genug den Tod der Schafe.“45 In diesem historischen Zusammenhang bezieht sich „negative Freiheit“ offensichtlich nicht auf einen wie auch immer definierten Privatbereich, der nicht angetastet werden darf (vgl. 1.1), sondern wird verwechselt mit einem „ungehinderten laisser-faire“46, einer skrupellosen Willkürfreiheit, die auch vor den Interessen der anderen nicht Halt macht. Wird aber in einem Gesellschafts- und Rechtssystem solches Laisser-faire gefördert, fehlen die „Mindestvoraussetzungen […], unter denen Individuen oder Gruppen ihre negative
110 Freiheit in nennenswertem Maße überhaupt ausüben können.“47 In Anbetracht solcher faktischer Missstände schließt Berlin, „daß bisweilen die Freiheit einiger beschränkt werden muß, um die Freiheit anderer zu sichern.“48 Er scheint sich damit vertragstheoretischer Argumentationsstrategien zu bedienen: Ausgehend vom angeblich allgemeinmenschlichen Interesse schrankenloser Willkürfreiheit, d.h. der Unabhängigkeit von der Willkür anderer, demonstriert er, wie das Ausleben dieser Interessen in unreglementierter Form zu einem unwünschbaren gesellschaftlichen Zustand führte. Zum ersten irritiert vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ausführungen die Identifikation von negativer Freiheit mit Willkürfreiheit und Berlins Insistieren, trotz ihrer Unerwünschtheit handle es sich bei Arbeitgebern, die ihre Arbeiter ausbeuten oder Folterknechten, die ihren Opfern Schmerzen zufügen, um Formen negativer Freiheit.49 Dies steht in deutlichem Kontrast zu unseren definitorischen Bemühungen in 1.2, die solche Handlungsoptionen mittels eines formalen Kriteriums (Punkt 4) gerade ausschlossen. Zum zweiten setzte das vertragstheoretische Modell wohl die Evidenz voraus, dass die Beseitigung eines Zustandes der Konkurrenz zwischen hemmungslos ausagierten Willkürfreiheiten im wohlverstandenen Interesse aller liege. Für die starken Wölfe, für die Mächtigen und Reichen dürfte aber schlechterdings nicht einsichtig sein, wieso für sie eine Beschränkung der Freiheit um der Freiheit willen geboten sein soll. Wäre die negative (Willkür-)Freiheit ein unantastbarer und höchster Wert, so postuliert Berlin, könnte es tatsächlich kein solches Prinzip der Freiheitsbeschränkung geben.50 Damit blendet er jedoch folgende Alternative aus: Wenn Freiheit nämlich „als kritisches Prinzip ein gesetzlicher Maßstab der Beurteilung freiheitlichen Verhaltens in Staat und Gesellschaft“ sein sollte, müsste sie „konkrete Gestalt haben“51 und an bestimmte spezifisch menschliche Werte und Ziele geknüpft sein. So wird bezüglich der „Menschenrechte“ oder „Grundfreiheiten“ der Menschen angenommen, „dass sie jeder Person zukommen und
111 deswegen, weil sie für das Wohlergehen und die Lebenschancen der Menschen grundlegende Bedeutung haben, eines besonderen Schutzes bedürfen“52. Berlin scheint im Rahmen seiner qualitativen Bestimmung positiver Handlungsmöglichkeiten zwar ein Bild eines „normalen Menschen“ mit elementaren Grundgütern und entsprechenden Grundfreiheiten anzuvisieren, welches er aber zugunsten schrankenloser Willkürfreiheit wieder verwirft. Schließlich sei die negative Freiheit des Individuums selbst in den liberalsten Gesellschaften de facto weder „der einzige oder auch nur der vorrangige Maßstab für gesellschaftliches Handeln“53. Um die negative Freiheit zu verteidigen, scheint Berlin daher bei seinem Plädoyer paradoxerweise gezwungen, Freiheit als politischen Maßstab zu disqualifizieren und sie in den Privatbereich zurückzudrängen. Er begnügt sich am Ende mit der „Forderung nach einem notfalls künstlich ausgesparten, ‚negativen‘ Bereich, in dem jeder sein eigener Herr ist und, soweit dies mit dem Bestand einer organisierten Gesellschaft vereinbar ist, niemandem Rechenschaft für sein Handeln schuldet.“54 Verzichtet man auf Freiheit als wesentliches gesellschaftliches, inhaltlich konkretisiertes Handlungsprinzip, stehen wohl grundsätzlich zwei Wege offen, den Umfang zu bestimmen, auf den das Handeln der Menschen begrenzt werden muss, „um jeder Person die weitestgehende Freiheit zu gewähren, die mit der gleichen Freiheit aller anderen vereinbar ist“55: Entweder man fahndet wie Kant (Kriterium der Nichtausschließung), Mill (Kriterium der Nichtschädigung) oder Koller (Kriterium der Kostenminimierung) nach einem formalen Kriterium, welches das Ausmaß der Freiheit auf rein mechanische Weise festlegt ohne Bewertung der Handlungen im Lichte allgemeinmenschlicher Interessen oder Werte.56 Oder aber man versucht, wofür sich Berlin entscheidet, die Freiheitsbegrenzungen im Rekurs auf konkurrierende Prinzipien bzw. Werte zu legitimieren, wodurch er sich allerdings das Problem der (materialen) Wertbegründung einhandelt. (Ad b): Berlin oszilliert bei seinen werttheoretischen Reflexionen zwischen der Überzeugung von einem irreduziblen
112 Wertpluralismus und der Vorstellung von tief in unserer Tradition verankerten Auffassungen vom Menschen und seinen Grundbedürfnissen: Im Kontrast zu kommunitaristischen Staaten, die von einem universellen Ideal des „guten Lebens“ und entsprechenden traditionell verankerten Wertvorstellungen ausgehen, verteidigt Berlin als Liberaler die Wahlfreiheit der Bürger zwischen heterogenen Wertoptionen. Nicht nur gäbe es „viele mögliche Handlungsweisen und viele lebenswerte Lebensformen“, sondern die Vision eines vollkommenen Lebens ohne rational auflösbare Wertkollisionen sei eine politisch verheerende Utopie.57 Andererseits warnt Berlin zugleich vor einer Überbewertung der Relativität und Subjektivität von Werten der Menschen, weil die Kommunikation zwischen verschiedenen kulturellen Gemeinschaften sich sonst sehr viel schwieriger gestalten würde.58 Weil er allerdings „in der Frage, wie unveränderlich, wie definitiv, wie universell, wie elementar menschliche Werte sind, keine Gewißheit“ empfinde, möchte er die Beantwortung dieser „quasi-empirischen Frage“ den Anthropologen und Sozialwissenschaftlern überlassen.59 Konkret müsse der Wert menschlicher „Freiheit“ abgewogen werden gegen die Werte „Gleichheit, Gerechtigkeit, Glück, Sicherheit, öffentliche Ordnung“60. Obgleich sich Berlin vehement verwehrt gegen objektive Werte in einem Ideenhimmel und eine einzige umfassende Wertskala, eruiert er neben dem natürlichen Anspruch auf Freiheit auch einen natürlichen Gerechtigkeitssinn, wie ihn der tief verankerte „Respekt vor den Grundsätzen der Gerechtigkeit oder das Gefühl der Beschämung angesichts einer massiv ungleichen Behandlung“ zum Ausdruck bringen sollen.61 „Gerechtigkeit“ scheint denn auch der gesuchte Konkurrenzwert zu sein, der „gebietet, allen Individuen ein Mindestmaß an Freiheit einzuräumen“ – welches auch immer das sei – und dem liberalen Staat die Aufgabe eines „Nachtwächters oder Verkehrspolizisten“ überträgt.62 Eine differenzierte plurale Wertetheorie, welche den Vorrang der Gerechtigkeit vor der Freiheit begründet und das komplexe Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen sämtlicher von ihm ins Feld geführter Werthaltungen aufzeigen würde, ist leider Desiderat geblieben.
113 2. Charles Taylor: Positive Freiheit Im Aufsatz „Der Irrtum der negativen Freiheit“, veröffentlicht 1985 in seinen Philosophical Papers,63 versucht Charles Taylor, Berlins negative Freiheitskonzeption als falsch zu entlarven. Obgleich Taylor darin übereinstimmt, die beiden Freiheitsauffassungen basierten auf zwei heterogenen politischen Grundansichten, warnt er zugleich mit Recht vor polemischen und karikaturistischen Überzeichnungen von Extrempositionen. So pflegen die Gegner der positiven Freiheit eine totalitäre linke Theorie wie diejenige des offiziellen Kommunismus zu attackieren, derzufolge „Freiheit ausschließlich in der Ausübung kollektiver Kontrolle über das eigene Schicksal innerhalb einer klassenlosen Gesellschaft besteht.“64 Eine solche Karikatur kredenzt uns nicht zuletzt Berlin, wo er die Idee positiver Freiheit unweigerlich in Tyrannei und Despotismus einmünden lässt.65 Wenn aber die positive Freiheitstheorie einen Despotismus zur Konsequenz haben könne, der sich als wahre Befreiung ausgebe, muss laut Berlin bereits in den Prämissen der einschlägigen Argumentation ein Fehler stecken.66 Wie wir in 1.3 zutage brachten, verhehlt Berlin daneben nicht, dass auch die negative Freiheitskonzeption das Übel eines ungehinderten Laisser-faire mit schweren Verstößen gegen elementare Menschenrechte und gegen die negative Freiheit selbst zeitigen könne und in historischen Spielarten des Sozialdarwinismus oder des ökonomischen Kapitalismus auch tatsächlich gezeitigt hat. Weil die Rhetorik der positiven Freiheit heute sowohl in kapitalistischen wie antikapitalistischen Gesellschaften im Vormarsch sei, müsse diese jedoch viel heftiger bekämpft werden als die geringere Gefahr ultra-liberaler Entartungen.67 Statt uns mit karikaturistischen Extremversionen oder mit der Wahrscheinlichkeit zukünftiger historisch-politischer Entgleisungen abzugeben, wollen wir in diesem zweiten Teil Taylors philosophische Argumente für die Vorzüge des positiven vor dem negativen Freiheitsverständnis prüfen.
114 2.1 Möglichkeits- und Verwirklichungsbegriff von Freiheit Wie im ersten Teil gezeigt wurde, erblickt Berlin die wesentliche Differenz zwischen negativen und positiven Freiheitstheorien darin, dass erstere sich mit dem Bereich befassen, in dem das Subjekt frei von sozialer Einmischung handeln kann, letztere hingegen damit, wer die Herrschaft ausübt (vgl. 1.1). Taylor will demgegenüber den Akzent bewusst etwas anders setzen und erblickt den artspezifischen Unterschied im „Möglichkeitsbegriff“ des negativen bzw. im „Verwirklichungsbegriff“ des positiven Freiheitsverständnisses.68 In der Tat insistiert Berlin darauf, negative Freiheit sei „Chance zum Handeln, nicht Handeln selbst“, also „die Möglichkeit zu handeln, nicht unbedingt ihre dynamische Verwirklichung“.69 Demgegenüber fungiert bei Taylor als Charakteristikum einer positiven Freiheitstheorie die Identifikation von „Freiheit mit Selbstlenkung, das bedeutet, mit der faktischen Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben.“70 Frei wären wir dann in dem Ausmaß, „in dem wir tatsächlich über uns selbst und die Form unseres Lebens bestimmen“71, was nicht nur ein Bewusstsein von uns selbst, unseren Potentialen und unseren Lebensumständen voraussetzt, sondern den praktischen Vollzug. Während beim negativen Möglichkeitskonzept Freiheit jemandem bereits dann attestiert werden kann, wenn sich keine physischen oder sozialen fremdbestimmenden Zwänge eruieren lassen, verlangt das Verwirklichungsmodell vom Handelnden die aktive Selbstbestimmung. Anders als in Hobbes’ ursprünglichem Konzept negativer Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen erweitert Berlin dieses simple einseitige Modell allerdings um das positive Moment der „Freiheit zu“ verschiedenen Handlungsalternativen (vgl. 1.2). Indem sich die Aufmerksamkeit von der „Abwesenheit von Hindernissen“ auf „mögliche Wahlentscheidungen und Betätigungen“ verlagert,72 scheint man sich aber dem Verwirklichungsmodell anzunähern. Stimmt man mit Berlins Kritikern darin überein, dass ein dyadisches Freiheitsmodell, also die Reduktion von Freiheit auf Handlungs-
115 oder Hindernisfreiheit grundsätzlich theoretisch unterbestimmt bleibt, müsste das reine Möglichkeitskonzept notwendig seine scharfen Konturen verlieren. Taylor konzediert entsprechend, dass „negative Theorien sowohl auf eine Möglichkeitskonzeption wie auf eine Verwirklichungskonzeption gegründet werden können“73. Handelte es sich dann aber beim Möglichkeits- und Verwirklichungsbegriff von Freiheit nicht nur um die Differenz zwischen Potenz und Akt statt um einen kategorialen Qualitätsunterschied zwischen verschiedenen „Freiheiten“? Oder fehlt den Anwälten negativer Freiheit der emphatische Begriff positiver Selbstbestimmung, welcher in der Verwirklichungstheorie von Freiheit offenkundig eine zentrale Rolle spielt? Berlin stellt richtig klar, dass zwischen der „potentiellen“ Freiheit von Fremdbestimmung bzw. der Möglichkeit, sich ohne äußere Zwänge für eine Handlungsoption zu entscheiden, und der aktualisierten Fähigkeit, sein eigener Herr zu sein und sich selbst zu bestimmen, logisch betrachtet kein kategorialer Unterschied oder gar Widerspruch besteht. Nicht anders als die Fürsprecher positiver Freiheit geht er nämlich von der Grundintuition aus, dass der Handelnde über sich selbst bestimmen und dabei nicht von anderen gelenkt werden möchte – „gleichgültig, wie weise und wohlmeinend diese anderen sind“74. Da der Mensch allerdings niemals „völlig autark oder gesellschaftlich allmächtig“ sein kann und sein Streben nach Willkürfreiheit notgedrungen mit demjenigen seiner Mitmenschen kollidiert, schließt er unplausiblerweise auf die Notwendigkeit der Festsetzung eines unantastbaren Privatbereichs (vgl. 1.1). Demgegenüber habe die positive Freiheitsversion die metaphysische Spaltung des „Selbst“ in ein „höheres“ und „niederes Selbst“ konsolidiert und Selbstbestimmung im Zeichen einer „wahren Freiheit“ als Disziplinierung und Lenkung des „niederen Selbst“ durch die Vernunft oder das „höhere Selbst“ missinterpretiert.75 Vollständige Pervertierung habe die Ausgangsintuition schließlich der politischen Vision zu verdanken, das rationale Handeln der „höheren Selbste“ ließe sich konfliktfrei in ein harmonisches
116 Muster einfügen. Ja das „höhere Selbst“ sei bisweilen unter der Hand mit dem gesellschaftlichen Ganzen identifiziert worden, an welchem das Individuum nur teilhabe, und welches den einzelnen zur rationalen Selbstbestimmung und höheren Freiheit zwingen dürfe.76 Mit Recht kontert Taylor angesichts dieser karikaturhaften Inszenierung eines möglichen Entartungsphänomens, die Verfechter negativer Freiheit würden primär aus Furcht vor der totalitären Bedrohung beim bloßen Möglichkeitsmodell verharren und damit die für ein tiefergreifendes Freiheitsverständnis grundlegenden Konzepte von Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und kollektiver Selbstregierung marginalisieren.77 So verwehrt sich Berlin vehement dagegen, es lasse sich die „Freiheitsvorstellung direkt aus den Anschauungen darüber herleiten, wodurch ein Selbst, eine Person, ein Mensch konstituiert wird“78. Gleichzeitig erkennt aber auch er, dass das „bloße Vorhandensein von Alternativen“ nicht ausreicht, „um mein Handeln (selbst wenn es auf meinem Wollen beruht) frei zu machen“, weil diese Alternativen etwa „durch bewußtes menschliches Handeln eröffnet“ und in bezug auf den persönlichen Lebensplan bewertet werden müssen.79 Ob Berlins Unterstellung einer verheerenden metaphysischen Spaltung des Selbst berechtigt und seine Furcht vor totalitärer Bedrohung begründet sei, wird sich bei einer näheren Analyse des Verwirklichungsmodells weisen.
2.2 Individuell-psychologische Freiheitsbedingung: Normative Selbstwahl Da Taylors Aufsatz „Der Irrtum der negativen Freiheit“ explizit als Replik auf Berlins berühmten Freiheitsessay konzipiert ist, zeigten sich viele Kritiker konsterniert durch Taylors Konzentration auf das Problem individueller Selbstverwirklichung. Indem er dieses Problem zudem in einem psychologischen Kontext abhandelt, könnte man tatsächlich leicht zu Reese-Schäfers
117 Schluss gelangen, seine Kritik sei „völlig unzureichend und verfehlt den politischen Kern von Berlins ‚negativer Freiheit‘.“80 Während der Vorwurf einer Aussparung der politischen Dimension zwar auf diesen Aufsatz selbst zutrifft, in welchem nur ein „erster Schritt“ zur Klärung der Freiheitsdebatte geleistet wird, kündigt Taylor im letzten Abschnitt doch den im darauffolgenden Beitrag zu vollziehenden „zweiten Schritt“ Richtung kollektiver Selbstregierung an.81 Bevor diese politischen Reflexionen in 2.3 zur Diskussion stehen sollen, möchte ich die konzeptuelle Schwäche von Taylors moralpsychologischem Argument verdeutlichen: Die Theorien negativer Freiheit kranken in Taylors Augen an einer allzu schlichten bzw. „plumpen“ Moralpsychologie, indem sie zugunsten der äußeren sozialen Zwänge die inneren psychischen Hindernisse völlig ausblenden.82 Betrachte man Freiheit als Selbstlenkung oder Selbstverwirklichung, könne sie nicht nur eine Frage dessen sein, „was wir im unproblematischen Sinne tun wollen“83. Denn wir seien „nicht frei, wenn wir durch Furcht, durch zwanghaft verinnerlichte Normen oder falsches Bewußtsein motiviert werden, unsere Selbstverwirklichung zu vereiteln“, sondern nur dann, wenn „wir imstande sind, das zu tun, was wir wirklich wollen“.84 So könnte ich beispielsweise durch die Furcht davor, in der Öffentlichkeit aufzutreten, an einer Laufbahn gehindert werden, die mir große Erfüllung verspricht.85 Wie zutreffend auch diese Beobachtungen sein mögen, scheint mir Taylor bei seinem Modellentwurf positiver Freiheit als Selbstlenkung oder -verwirklichung zwei Ebenen zu vermischen, die wir hier gegeneinander abzugrenzen versuchen: 1. die Ebene unserer Motive, Wünsche und Bedürfnisse, die für unser Handeln und unsere Selbstverwirklichung grundlegend sind; 2. die höhere Ebene von „Wünschen zweiter Stufe“, d.h. von „Wünsche(n), die sich auf Wünsche beziehen“ und zu diesen wertend Stellung nehmen.86 Auf der unteren Ebene unserer faktischen Motive oder Wünsche kann es offenbar solche geben, die uns daran hindern, das zu tun, was wir „wirklich wollen“. Ohne dass Taylor selbst sich
118 hierbei um systematische Klarheit bemühte, lassen sich prinzipiell zwei Arten unterscheiden:87 Neurotische oder irrationale Wünsche oder Bedürfnisse zum einen entspringen einer krankhaften psychischen Verfassung, etwa dem von Taylor erwähnten unmotiviert und unkontrolliert in mir schwelenden Groll.88 Solche ungesunden Gefühle, Komplexe oder Zwangsvorstellungen können nun die Entstehung der zweiten Art der nicht-aufgeklärten oder uninformierten Wünsche begünstigen, welche durch verzerrte Wahrnehmung oder Fehleinschätzung der Handlungssituation verursacht werden.89 Je nach Stärke und Handlungswirksamkeit neurotischer oder nicht-aufgeklärter Wünsche bilden diese analog zu äußeren sozialen Zwängen innere Fesseln, die unsere „Handlungsfreiheit“ mehr oder weniger beeinträchtigen können. So ich recht sehe, kann Taylor auf dieser Ebene Berlins einseitig auf externe soziale Beschränkungen fokussierte Modell negativer Freiheit lediglich um einen wesentlichen Aspekt erweitern, nicht aber umstürzen.90 Dazu ist der Sprung auf die höhere Ebene unumgänglich, der uns nach Harry Frankfurts Terminologie mit den „Wünschen zweiter Stufe“ im Zeichen menschlicher „Willensfreiheit“ konfrontiert:91 Die Befürworter positiver Freiheit setzen sich erst dadurch substantiell von ihren Gegnern ab, dass sie „keine Auffassung von Freiheit verteidigen können, die nicht zumindest eine gewisse qualitative Unterscheidung hinsichtlich der Motive einschließt.“92 Positive Freiheit qua Willensfreiheit setzt also die qualitative Bewertung unserer faktischen Motive, Wünsche oder Bedürfnisse „als höher oder niedriger, als edler oder tiefstehend“ voraus, d.h. ihre Einschätzung mittels evaluativer „starker Werte“ anstelle „schwacher Werte“ des Angenehmen.93 In solchen Wünschen zweiter Stufe erachten wir etwa eine erfüllende berufliche Laufbahn für wichtiger als manche vorübergehende Bequemlichkeit, Freundschaften für bedeutsamer als gehässiges Grollen.94 Während negative Freiheit als Entscheidungsfreiheit zwischen Alternativen ein „Wert an sich“ zu sein scheint, hängt die Bedeutung der Freiheit hier offenkundig von der „Beurteilung der Ziele der Menschen“
119 ab, und ist unsere Freiheit „um so größer, je bedeutsamer die Ziele sind“.95 Um eine solche Taxierung aus höherer Warte reflexiver Distanz vornehmen zu können, ist zweifelsohne die von Berlin monierte Aufspaltung unseres „Selbst“ unabdingbar, in Taylors Worten „ein gewisses Selbstbewußtsein, ein Selbstverständnis, eine gewisse moralische Urteilsfähigkeit und Selbstkontrolle“96. Auf seine entscheidende Frage, „was hinter unserer Beurteilung [steckt], daß bestimmte Zwecke oder Gefühle bedeutsamer sind als andere“97, verweist Taylor aber nur vage auf die „gesamte Vorstellung von unserer Identität“, auf „Selbsterkenntnis und Selbstverständnis“.98 Statt die für positive (Willens-)Freiheit konstitutive höherstufige „normative Selbstwahl“ zu explizieren, versteift er sich unvermittelt auf die provokante These, der Mensch könne „nicht die oberste Autorität sein“ bei der Bewertung dessen, was er wirklich wolle.99 Doch stellt der Appell zur Außenbeurteilung nicht ein „Plädoyer für eine prinzipielle Entmündigung des Subjekts“ dar, und wer sollte diese Fremdeinschätzung vornehmen?100
2.3 Sozial-interaktive Freiheitsbedingung: Politische Mitbeteiligung Verfehlt scheint mir Reese-Schäfers Verdacht, Taylor wolle die angeblich erforderliche Fremdeinschätzung an Psychotherapeuten delegieren. Zunächst legt Taylor lediglich den Ton auf die allgemeine und unbestreitbare Tatsache, dass sich die menschliche Suche nach einem Ordnungsprinzip seiner Selbstverwirklichung, d.h. einem reflektierten normativen Selbstentwurf, nicht monologisch vollziehen lässt, sondern nur in Interaktion mit der Welt, insbesondere der sozialen Welt: Diese genießt insofern einen „hermeneutischen Vorrang“, als wir uns selbst nur im Medium der Außenwelt zum Objekt und zum Interpretandum werden können, indem wir die Reaktionen und Werthaltungen anderer mit Blick auf unsere experimentellen Selbstbilder berück-
120 sichtigen bzw. antizipieren.101 „Die Entdeckung der eigenen Identität heißt nicht, daß ich als isoliertes Wesen sie entschlüssele, sondern gemeint ist, daß ich sie durch den teils offen geführten, teils verinnerlichten Dialog mit anderen aushandele.“102 Die Außenbeurteilung von Freunden oder Beratern, die uns nahe stehen und uns an Lebenskenntnis überlegen sind, können uns zudem vor privatperspektivischen Fehleinschätzungen unserer Potentiale oder unserer Lebenssituation bewahren.103 Ob wir unser Leben wirklich frei von psychischen Verzerrungen (neurotischen Wünschen) und kognitiven Irrtümern (nicht-aufgeklärten Wünschen) bestimmen, können wir prinzipiell nur in der Auseinandersetzung mit Außenbeurteilungen feststellen, d.h. wenn wir bereit sind, die Perspektiven anderer einzunehmen.104 Wir sind also beim Reflexionsprozess unserer Selbstbestimmung auf „wechselseitigen Austausch und gemeinsames Beraten“ verwiesen,105 die umso effizienter ausfallen dürften, je mehr alltagspraktische sowie wissenschaftlich-methodisch kontrollierte Erfahrungen im Bereich der Selbsterkundung zur Verfügung stehen. Auch wenn man aber konzediert, dass „erst die Teilnahme an gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Praktiken dem einzelnen intelligente Entscheidungen über das gute Leben“ bzw. über ein adäquates normatives Selbstbild ermöglichen, erreicht ein solcher sozialer Austausch noch keineswegs eine politische Dimension.106 Taylor drängt jedoch nur deswegen auf „die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Konzepten einer solchen Verwirklichung“, weil letztlich die „Idee individueller Selbstverwirklichung gegen unterschiedliche Konzepte kollektiver Selbstverwirklichung etwa einer Nation oder einer Klasse“ ins Rennen geschickt werden soll.107 In diesen gegensätzlichen Modellen von Selbstverwirklichung spiegelt sich die Opposition von liberalem atomistischem und kommunitarisch-kollektivistischem Menschenbild: Nach kommunitarischer Ansicht muss nämlich die Frage nach dem „normativen Selbst“ bzw. dem „guten Leben“ auf diejenige zurückbuchstabiert werden, „ob und auf welche Weise die Menschen dieses Gute allein
121 verwirklichen können“ bzw. „inwieweit sie Teil einer Gemeinschaft sein müssen, um im vollen Sinne menschlich zu sein.“108 Wenn Freiheit im kommunitarischen Verwirklichungsmodell wesentlich als „kollektive Selbstverwirklichung“ begriffen wird, verdient sie ohne Frage die Aufmerksamkeit einer politischen Theorie. Wie viele kommunitarische Protagonisten pocht Taylor in formaler Hinsicht auf die von den Liberalen fälschlicherweise als selbstverständlich vorausgesetzten externen sozialen und politischen Vorbedingungen von Selbstverwirklichung: auf unsere demokratischen Institutionen gemeinsamer Beratung und wechselseitiger Achtung und Anerkennung, die den reflektierenden Personen die Ausformung eines nicht-manipulativen Selbstverhältnisses jenseits systematischer ideologischer Täuschung und Repression ermöglichen.109 Nur unter solchen Bedingungen können wir lernen, „Autonomie als Habitus auszubilden, uns selbst als autonom zu verstehen und schätzen zu lernen“110. Inhaltlich betrachtet verfügt gegenüber Berlins zweifelhafter Einschränkung negativer Freiheit auf einen wie auch immer definierten Privatbereich Taylors These über wesentlich größere Plausibilität, derzufolge positive Freiheit als reflektierte und verantwortete Selbstverwirklichung sich vorwiegend über die Teilnahme an bestehenden gesellschaftlichen Praktiken realisieren muss. Wie bei Hegel fungiert die reziproke Anerkennung insofern als eine wichtige normative Leitvorstellung seiner politischen Philosophie, als die moralisch-politische Identität des Individuums sich nur dank der Verankerung in konkreten gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und Werthorizonten konstituieren kann. Die meisten starken Werte unseres normativen Selbstentwurfs wie Freundschaft, Sicherheit oder Gerechtigkeit sind sozial verflochten, indem sie immer auch die Interessen anderer bzw. eines Kollektivs betreffen. Nach einer befremdlichen traditionalistischen Lesart von Taylors Theorem müssten wir uns daher zur Ausbildung eines konventionellen und moralischen Selbst blindlings an vorgegebenen gesellschaftlichen Zielen, einem „ge-
122 meinsamen Guten“ oder einem Horizont kollektiver Werte orientieren.111 Nun hat sich bei unserer Kritik an Berlins Freiheitsmodell gezeigt, dass der Staat um der tatsächlichen Freiheit seiner Bürger willen nicht nur auf äußere Reglementierungen und Zwänge weitestgehend zu verzichten, sondern vielmehr die materiellen Ressourcen für sinnvolle individuelle Wahlmöglichkeiten bereitzustellen hat. Während die Liberalen auf den neutralen öffentlichen „Markt der Ideen“ setzen in der Hoffnung, die wertvollen Lebensformen oder individualistischen Selbstverwirklichungsmodelle würden die weniger wertvollen verdrängen,112 plädieren Kommunitarier auf die staatliche Förderung der für ein gutes menschliches Leben wesentlichen kollektiven Praktiken. Um die Bürger vor falschen oder unvernünftigen Entscheidungen bezüglich Selbstbild und Lebensform zu schützen, verbietet etwa der marxistische Perfektionismus entfremdete Arbeitsverhältnisse oder subventioniert eine aktuelle Kulturpolitik die wertvollen und anregenden Theatervorstellungen, nicht aber die mehrheitlich als abstumpfend und frustrierend erlebten Boxveranstaltungen.113 Angesichts solch weitreichender Kompetenzen des kommunitarischen Staates leuchtet Taylors Schluss unmittelbar ein, die Bürger könnten nur dank kollektiver Selbstregierung vor Fremdbestimmung bewahrt werden: Positive Freiheit als Selbstbestimmung oder -kontrolle sei „zumindest partiell mit kollektiver Selbstregierung verknüpft“114. Im Zeichen eines weniger traditionalistischen als vielmehr sozialdemokratischen Kommunitarismus ist der Mensch erst frei, wo er in einer kontinuierlichen gemeinsamen Auseinandersetzung über ein „gutes menschliches Leben“ oder „menschliche Würde“ die gesellschaftlich bedeutsamen Handlungsoptionen und entsprechenden konkreten institutionellen Realisationsbedingungen mitbestimmen kann.115 Auch wenn das für uns Gute „in wichtigen Hinsichten an die kulturellen Praktiken geknüpft [ist], die uns mit anderen Mitgliedern unserer Gemeinschaft verbinden“116, wählen wir entsprechend unserer individuellen Begabungen aus, an welchen Institutionen wir uns ak-
123 tiv mitbeteiligen, und welche Werte in unserem persönlichen Selbstbild hierarchisch bedeutsamer sind als andere.
3. Fazit Fassen wir zusammen: Abgesehen davon, dass Berlin „Hindernis- oder Handlungsfreiheit“ auf „Freiheit von“ sozial externem Zwang reduziert, ohne sozial interne sowie natürliche physische oder psychische Beschränkungen zu berücksichtigen, stellt ein reines Möglichkeitsmodell negativer Freiheit in zweierlei Hinsichten einen Irrtum dar: 1. Systematisch betrachtet ist Freiheit nur durch ein triadisches Modell hinreichend bestimmt als Relation zwischen einer handelnden Person, den Beschränkungen, von denen sie frei sein soll, und dessen, wozu sie frei gestellt werden soll. 2. Es macht einfach keinen Sinn, jemandem Freiheit zu attestieren, der zwar frei ist von jeglichen sozialen Zwangsmaßnahmen, dem aber jegliche Mittel fehlen, nach seinem Willen zu handeln. Auch wo Berlin demgegenüber negative Freiheit positiv definiert als aktives Verfügenkönnen über Handlungsoptionen im Sinne der „Wahl- oder Willkürfreiheit“, bleiben die entscheidenden Fragen ungeklärt: Soll negative Freiheit nicht unplausiblerweise auf einen schwer abgrenzbaren und lebenspraktisch gesehen peripheren Privatbereich eingeschränkt werden, müsste der Staat seinen Bürgern neben einer generellen Sicherung von Frieden und politischer Ordnung durch gezielte Schutzmaßnahmen die materiellen Ressourcen und institutionellen Einrichtungen zur Verfügung stellen, damit sie von ihrer Freiheit Gebrauch machen könnten. Obgleich Berlin richtig erkennt, der Staat vermöge angesichts der prinzipiell unendlichen Vielfalt potentieller Handlungsziele seiner Bürger niemals die Realisierungsbedingungen sämtlicher Handlungsalternativen zu garantieren, sondern nur die für Individuen oder die Gesellschaft „wertvollen“, liefert er diesbezüglich nur ein allzu vages formales Wertkriterium. Angesichts der zusätzlichen konzeptuellen
124 Crux, dass ein über den Privatbereich hinausreichendes Aktualisieren frei gewählter Handlungsoptionen schwerwiegende Konflikte und eine Gefährdung eines minimalen Freiheitsspielraums schwächerer Gesellschaftsmitglieder zeitigt, sieht sich Berlin schließlich gezwungen, negative Freiheit als politischen Maßstab zu disqualifizieren: Da sie selbst in den liberalsten Gesellschaften weder den einzigen noch höchsten Wert darstelle, müsse sie gegen andere Werte wie Sicherheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit abgewogen werden, wobei eine ausdifferenzierte Wertetheorie Desiderat bleibt. Noch tiefer greift die Kritik Taylors an Berlins negativem Freiheitsmodell, wo er aufzeigt, dass dieses unserer allgemeinen Grundintuition von Freiheit nicht gerecht wird, die Berlin im Grunde teilt und selbst so artikuliert: Ich will Subjekt, nicht Objekt sein; will von Gründen, von bewußten Absichten, die zu mir gehören, bewegt werden, nicht von Ursachen, die gleichsam von außen auf mich einwirken. Ich will jemand sein, nicht niemand; ein Handelnder – einer, der Entscheidungen trifft, nicht einer, über den entschieden wird, ich will selbstbestimmt sein, nicht Gegenstand des Wirkens der äußeren Natur oder anderer Menschen, als wäre ich ein Ding oder ein Tier oder ein Sklave, der unfähig ist, die Rolle eines Menschen zu spielen, also eigene Ziele und Strategien ins Auge zu fassen und zu verwirklichen.117
Eine emphatische Selbstbestimmung im Sinne der „Willensfreiheit“ oder „Autonomie“ setzt voraus, dass wir eine reflektierte Vorstellung davon entwickelt haben, wer wir sein wollen, und dass wir mit Blick auf diese normative Selbstwahl unsere faktischen, prinzipiell irrtumsanfälligen Neigungen und Wünsche kritisch bewerten. Da die meisten starken Werte unserer normativen Selbstwahl sozial verflochten sind und sich unsere Selbstverwirklichung wesentlich im Rahmen kollektiver Praktiken vollzieht, bindet Taylor mit Recht die positive Freiheit an die Fähigkeit zur kollektiven Selbstregierung. Während man nach Frankfurt erst mit dieser positiven Willensfreiheit die für Menschen spezifische und eigentliche Freiheitsform erreicht, könnten die sie konstituierenden Werte bezüglich eines „guten menschlichen Lebens“ doch insofern auf die negative Freiheit als Synthese von Handlungs- und Wahlfreiheit zurückwirken,
125 als sie den Maßstab bildeten für die staatliche Beseitigung von Hindernissen bzw. die Bereitstellung konkreter Realisierungsbedingungen bestimmter menschlicher Handlungsoptionen.118 Anmerkungen 1 Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a.M. 1995, S. 249, vgl. auch ebd., S. 51. 2 Vgl. ebd. 3 „Politische Freiheit in diesem Sinne bezeichnet den Bereich, in dem sich ein Mensch ungehindert durch andere betätigen kann.“ (ebd., S. 201) 4 Ebd., S. 203. 5 Vgl. ebd., S. 209. 6 Vgl. ebd., S. 207. 7 „Ein wie großer Teil des menschlichen Lebens sollte dem Individuum, wie viel davon der Gesellschaft vorbehalten sein?“, fragt Mill und antwortet: „Dem Individuum sollte der Teil des Lebens gehören, bei dem hauptsächlich der einzelne interessiert ist, der Gesellschaft dagegen der Teil, an dem die Gemeinschaft ihr Interesse hat.“ (John Stuart Mill: Über die Freiheit, Stuttgart 1974, S. 103.) 8 „Fast alle Kritiker Mills haben darauf hingewiesen, daß alles, was ich tue, zu Ergebnissen führen kann, die anderen Menschen schaden. Außerdem bin ich nicht nur im Hinblick auf die Interaktion mit anderen, sondern auch in einem tieferen Sinne ein gesellschaftliches Wesen. Denn bin ich das, was ich bin, nicht bis zu einem gewissen Grad dank dem, was andere von mir glauben und über mich denken?“ (Berlin: Freiheit, S. 236 f.) In Berlins Augen verwechseln Mills Kritiker dabei das (private) Freiheitsverlangen mit dem Wunsch nach (öffentlicher) gesellschaftlicher Anerkennung (vgl. ebd., S. 236 -241). 9 Vgl. Benjamin Constant: Über die Freiheit, in: ders.: Politische Schriften, Berlin 1972, S. 368 f. 10 Vgl. zu diesem feministischen Diskussionskontext Christoph Horn: Einführung in die Politische Philosophie, Darmstadt 2003, S. 118 f. 11 Vgl. zu dieser hilfreichen analytischen Differenzierung Peter Koller: Grundlinien einer Theorie gesellschaftlicher Freiheit, in: Julian Nida-Rümelin und Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.): Ethische und politische Freiheit, Berlin/New York 1998, S. 481 f. 12 Vgl. Berlin: Freiheit, S. 313, Anm. 3. 13 Ebd., S. 202. 14 Ebd., S. 203. 15 Vgl. S. 201. „Gewöhnlich sagt man“, so führt er den Begriff ein, „ich sei in dem Maße frei, wie niemand in mein Handeln eingreift, kein Mensch und keine Gruppe von Menschen.“ (ebd.)
126 16 Vgl. den Artikel „Freiheit“ in: Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, München 1997, S. 76 f. oder Kollers Definition: „Eine Person hat Handlungsfreiheit, wenn und insoweit sie durch keinerlei Beschränkungen gehindert ist, etwas zu tun, was sie tun möchte“ (Koller: Grundlinien, S. 482). 17 Vgl. zum triadischen Modell Rawls: Eine Theorie, S. 230 oder Koller: Grundlinien, S. 480, zu den meines Erachtens ungerechtfertigten Einwänden gegen Berlins angeblich nur zweistelliges Modell von Seiten seiner Kritiker Claude J. Galipeau: Isaiah Berlin’s Liberalism, Oxford 1994, S. 90 f. 18 Berlin: Freiheit, S. 42. 19 „Wäre das Ausmaß von Freiheit eine Funktion der Wunschbefriedigung, könnte ich diese Freiheit durch Beseitigung der Wünsche ebenso wirksam vergrößern wie durch ihre Befriedigung; ich könnte Menschen (auch mich selbst) frei machen, indem ich sie so konditioniere, daß sie jene Wünsche aufgeben, die nicht zu befriedigen ich beschlossen habe. Statt mich dem Druck, der auf mir lastet, zu widersetzen oder ihn zu beseitigen, kann ich ihn auch ‚verinnerlichen‘. Dies gelingt Epiktet, wenn er behauptet, er, der ein Sklave, sei freier als sein Herr.“ (ebd., S. 41) 20 Ebd., S. 314, Anm. 10. 21 Ebd. 22 Ebd., vgl. auch Berlins Punkt (d), den ich oben nicht eigens aufgeführt habe. 23 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 845. 24 Horn fragt richtig: „Aber lässt sich eine saubere Trennlinie zwischen negativen und positiven Freiheitsaspekten tatsächlich angeben? […] Wenn ein bestimmter Staat die negativen Güter Freizügigkeit, Versammlungs-, Religions- oder Pressefreiheit garantieren würde, ohne zugleich die positiven Güter sicherzustellen, nämlich die faktische Zugänglichkeit und die reale Wahrnehmbarkeit dieser Freiheiten, dann wäre dies im Ergebnis genauso, als hätte er diese Freiheiten von vornherein nicht eingeräumt. Erst die positiven Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtsgüter garantieren ja die tatsächliche Fähigkeit, negative Freiheiten in Anspruch zu nehmen und auszuüben.“ (Horn: Einführung in die Politische Philosophie, S. 49 f.) 25 Vgl. dazu etwa Kymlicka: „Wenn wir nur zu solchen Ressourcen Zugang haben, die auf eine einzige Lebensauffassung zugeschnitten sind, dann können wir, wenn wir an ihr zu zweifeln beginnen, nicht mehr nach unseren eigenen Überzeugungen handeln, jedenfalls nicht, ohne Nachteile in Kauf zu nehmen.“ (Will Kymlicka: Politische Philosophie heute. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 1997, S. 175.) 26 Berlin: Freiheit, S. 47. 27 Ebd., S. 48 f. 28 Vgl. ebd., S. 55. 29 „Wir unterscheiden also folgendermaßen zwischen der Freiheit und ihrem Wert: Die Freiheit besteht in dem gesamten System der gleichen bürgerrechtlichen Freiheiten; der Wert der Freiheit für einzelne oder Gruppen hängt
127 von deren Fähigkeit ab, innerhalb dieses Rahmens ihre Ziele zu erreichen. Die Freiheit ist als gleiche Freiheit für alle gleich […]. Doch der Wert der Freiheit ist nicht für jedermann der gleiche. Manche haben mehr Macht und Reichtum und daher mehr Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen.“ (John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 9. Auflage, Frankfurt a.M. 1996, S. 233.) 30 „Von einem Obdachlosen zu sagen, es stehe ihm frei, ein Haus am Starnberger See zu kaufen, wäre ebenso zynisch wie absurd“, konkludiert Koller (in: Grundlinien, S. 485). 31 Berlin: Freiheit, S. 264. 32 Martha Nussbaum nennt neben Erziehung und Ausbildung (Erziehungswesen) medizinische Versorgung (Gesundheitswesen) und den Ausschluss unwürdiger Arbeitsbedingungen (angemessene Arbeitsverhältnisse) als elementare Bedingungen für Freiheit (in: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M. 1999, S. 63 und S. 45). 33 Berlin: Freiheit, S. 204. 34 Ebd., S. 49. 35 Vgl. ebd. 36 Ebd., S. 56. 37 Vgl. ebd. 38 Berlin zitiert aus fraglicher Rezension ebd., S. 52. 39 Berlin: Freiheit, S. 247 f. 40 „Solche Regeln werden gebrochen, wenn ein Mensch ohne ordentliches Verfahren für schuldig erklärt oder unter Berufung auf ein rückwirkend erlassenes Gesetz bestraft wird; wenn Kindern befohlen wird, ihre Eltern zu denunzieren, wenn Freunde einander verraten sollen oder wenn Soldaten befohlen wird, barbarische Methoden anzuwenden; wenn Menschen gefoltert oder ermordet, wenn Minderheiten niedergemetzelt werden, weil sie den Zorn der Mehrheit oder eines Tyrannen erweckt haben.“ (ebd., S. 249) 41 Koller: Grundlinien, S. 489. 42 Berlin: Freiheit, S. 244. 43 „Da es jedoch im vernünftigen Interesse jeder Person liegt, einen möglichst großen Spielraum für die Verfolgung ihrer individuellen Ziele zu haben, liegt es nahe, den Wert von Handlungsmöglichkeiten daran zu messen, ob und inwieweit sie es ermöglichen, zwischen verschiedenen Zielen zu wählen und die gewählten Ziele zu verfolgen. Ich möchte dies die Reichweite von Handlungsmöglichkeiten nennen. Die Reichweite einer Handlungsmöglichkeit ist um so größer, je mehr Optionen sie uns eröffnet, zwischen verschiedenen Handlungszielen zu wählen, die für unsere Lebensgestaltung bedeutsam sein könnten.“ (Koller: Grundlinien, S. 490) 44 Berlin: Freiheit, S. 59. 45 Ebd., S. 48. Vgl. Nietzsches Tierfabel von den starken, aggressiven Raubvögeln und den ohnmächtigen, friedliebenden Lämmer, in: GM, S. 278 f. 46 Berlin: ebd.
128 Ebd. Ebd., S. 206. 49 „Daß bestimmte Formen von negativer Freiheit (vor allem dort, wo sie sich mit Macht und Rechten ausstatten) in vielen Fällen höchst unerwünscht sind und in einer geordneten Gesellschaft eingeschränkt oder unterbunden werden sollten (z.B. die Freiheit von Eltern oder Schulleitern, über die Bildung von Kindern zu befinden, die Freiheit von Arbeitgebern, ihre Arbeiter auszubeuten oder zu entlassen, die Freiheit von Sklavenbesitzer, über ihre Sklaven nach Belieben zu verfügen, die Freiheit von Folterknechten, ihren Opfern Schmerz zuzufügen), ändert nichts an der Tatsache, daß es sich auch bei ihnen um Formen von Freiheit handelt; und diese Tatsache gibt uns auch nicht das Recht, die Definition von Freiheit so zu verändern, daß sie fortan ausnahmslos Gutes bezeichnet“ (ebd., S. 59). 50 Ebd., S. 206. 51 Artikel „Staat“ in: Höffe: Lexikon der Ethik, S. 285. 52 Koller: Grundlinien, S. 502. 53 Berlin: Freiheit, S. 252. 54 Ebd., S. 63. 55 Koller: Grundlinien, S. 496. 56 Vgl. dazu ebd., S. 496-501. Kollers „Kriterium der Kostenminimierung“ besagt: „Die Freiheit aller Bürger erreicht dort ihren größtmöglichen Umfang und muß daher dort ihr Ende finden, wo die Grenzkosten einer Freiheit, bestimmte Dinge nach Belieben zu tun, und die Grenzkosten einer weitergehenden Beschränkung dieser Freiheit sich die Waage halten, d.h. gleich hoch sind.“ (ebd., S. 500) 57 Vgl. Berlin: Freiheit, S. 53 f. und S. 250 f. 58 Vgl. ebd., S. 55. 59 Vgl. ebd., S. 54. 60 Ebd., S. 253. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 207. 63 Cambridge 1985. Eine Auswahl dieser zweibändigen Aufsatzsammlung wurde von Hermann Kocyba übersetzt und 1988 in Frankfurt a.M. veröffentlicht unter dem Titel „Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus“. 64 Talyor: Negative Freiheit?, S. 118. 65 Vgl. Berlin: Freiheit, S. 47. 66 Vgl. ebd., S. 235. 67 Vgl. ebd., S. 48 f. 68 Vgl. Taylor: Negative Freiheit, S. 121. 69 Berlin: Freiheit, S. 44. 70 Taylor: Negative Freiheit, S. 122. 71 Ebd., S. 121. 72 Berlin: Freiheit, S. 42. 73 Taylor: Negative Freiheit, S. 122. 47 48
129 Berlin: Freiheit, S. 46. „Dieses dominierende Selbst wird nun abwechselnd mit der Vernunft oder meiner ‚höheren Natur‘ identifiziert, mit dem Selbst, das berechnet und anstrebt, was ihm auf lange Sicht am besten Genüge tut, mit meinem ‚wirklichen‘ oder ‚idealen‘ oder ‚autonomen‘ Selbst oder mit dem ‚besten Teil‘ meines Selbst.“ (ebd., S. 212) 76 „[…] das wirkliche Selbst wird nun als etwas begriffen, das größer ist als das Individuum […], als ein gesellschaftliches ‚Ganzes‘, an dem das Individuum nur teilhat: Stamm, Rasse, Kirche, Staat, die Große Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Ungeborenen. Diese Entität wird nun zum ‚wahren‘ Selbst erhoben, das seinen widerspenstigen ‚Gliedern‘ den eigenen kollektiven oder ‚organischen‘, einzigartigen Willen aufzwingt und auf diese Weise seine eigene – und daher auch ihre – ‚höhere‘ Freiheit erlangt.“ (ebd.) 77 Taylor unterstellt ihnen ein „strategisches Motiv“: „Denn die meisten, die diesen Standpunkt vertreten, geben dadurch viele ihrer eigenen Intuitionen preis, während sie in Wirklichkeit doch mit uns übrigen an einer nachromantischen Zivilisation teilhaben, die der Selbstverwirklichung einen hohen Wert beimißt und die Freiheit vor allem deshalb so hoch schätzt. Es ist die Furcht vor der totalitären Bedrohung, so möchte ich behaupten, die sie dazu veranlaßt hat, dieses Terrain dem Gegner zu überlassen.“ (Taylor: Negative Freiheit, S. 123) 78 Berlin: Freiheit, S. 214. 79 Vgl. ebd., S. 314. 80 „Taylors Argumentation spart den politischen Bereich der republikanischen Selbstregierung und der damit möglichen Tyrannei der Mehrheit vollkommen aus und konzentriert sich nur auf das Problem der Selbstverwirklichung. Deshalb ist seine Kritik völlig unzureichend und verfehlt den politischen Kern von Berlins ‚negativer Freiheit‘.“ (Walter Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, 2. Auflage, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 53.) 81 „Der erste Schritt von der Hobbesschen Definition zu einer positiven Auffassung, zu einer Auffassung von Freiheit als der Fähigkeit, meine Zwecke zu verwirklichen […], ist ein Schritt, den wir notwendig tun müssen. Ob wir auch den zweiten Schritt gehen müssen, hin zu einer Auffassung von Freiheit, die diese nur in einer bestimmten Gesellschaftsform für realisierbar oder für voll realisierbar hält […], dies sind Fragen, mit denen wir uns jetzt beschäftigen müssen.“ (Taylor: Negative Freiheit, S. 144) 82 Vgl. ebd., S. 120. 83 Ebd., S. 125. 84 Ebd. 85 Vgl. ebd., S. 132, wo sich noch weitere Paradeexempla finden. 86 Vgl. ebd., S. 131. 87 Vgl. zu dieser Unterscheidung Verfasserin: Glück. Grundriß einer integrativen Lebenswissenschaft, Freiburg/München 2003, S. 289-293. 88 Vgl. Taylor: Negative Freiheit, S. 132 f. 89 Vgl. ebd., S. 141 ff. 90 Wie Berlin richtig konstatiert, liegt dabei letztlich dieselbe Grundinten74 75
130 tion der „Freiheit von“ vor: „Die Idee der Freiheit sowohl in ihrem ‚positiven‘ als auch in ihrem ‚negativen‘ Sinne zielt im Kern auf das Fernhalten von etwas oder von jemandem – von anderen, die in mein Gebiet eindringen oder die behaupten, sie hätten Autorität über mich, oder von Obsessionen, Ängsten, Neurosen, irrationalen Kräften – von Eindringlingen und Despoten.“ (Berlin: Freiheit, S. 240) 91 „Neben wünschen und wählen und bewegt werden, dies oder das zu tun, können Menschen außerdem wünschen, bestimmte Wünsche oder Motive zu haben (oder nicht zu haben). Sie können, was ihre Vorlieben und Zwecke angeht, gern anders sein wollen, als sie sind. Viele Tiere scheinen durchaus zu, wie ich sagen will, ‚Wünschen erster Stufe‘ fähig zu sein. Kein Tier außer dem Menschen scheint dagegen die Fähigkeit zur reflektierenden Selbstbewertung zu haben, die sich in der Bildung von Wünschen zweiter Stufe ausdrückt.“ (Harry G. Frankfurt: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Peter Bieri [Hrsg.]: Analytische Philosophie des Geistes, Königstein 1981, S. 288.) 92 Taylor: Negative Freiheit, S. 127. 93 Vgl. ebd., S. 131. 94 Vgl. ebd. 95 Ebd., S. 130 und S. 144. 96 Ebd., S. 124. 97 Ebd., S. 131. 98 Ebd., S. 137 und S. 144. 99 Vgl. Taylor: Negative Freiheit, S. 125. 100 „Er kann zwar zeigen, daß es Fälle gibt, in denen jemand anderes meine eigenen Wünsche besser und richtiger beurteilen kann als ich selbst. Mit diesem Nachweis ist aber nicht das Geringste gewonnen, denn wer soll beurteilen, ob jemand in einem bestimmten Augenblick mehr seinem eigenen Willen oder dem Rat des Therapeuten zu folgen hat? Ein Plädoyer für die prinzipielle Außenbeurteilung wäre ein Plädoyer für eine prinzipielle Entmündigung des Subjekts, die wir nur unseren Kindern und vielen in geschlossenen Anstalten verwahrten Geisteskranken zumuten, wohl wissend, daß es eine unangemessene Umgangsform mit voll entwickelten menschlichen Persönlichkeiten ist.“ (Reese-Schäfer: Was ist Kommunitarismus?, S. 53) 101 Vgl. Krämer: „Was das Selbst sei, wird allerdings primär hermeneutisch in der Begegnung mit der Welt gewonnen, in der das Selbst immer schon ist und auf die es sich bezieht. Dabei sind es […] vor allem die Differenzen, die Nichtübereinstimmungen mit der Welt, die das Selbst enthüllen. Insbesondere gilt dies für den Bezug zur Sozialwelt, und zwar sowohl formal wie inhaltlich.“ (Hans Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1992, S. 146) Nach Meads symbolischem Interaktionismus wir der einzelne „für sich selbst nur zum Objekt, indem er die Haltungen anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungs- und Verhaltenskontextes einnimmt, in den er ebenso wie die anderen eingeschaltet ist.“ (George H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, 9. Auflage, Frankfurt a.M. 1993, S. 180.)
131 102 Taylor: Das Unbehagen an der Moderne, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1995, S. 57. 103 Vgl. ders.: Negative Freiheit, S. 125 f. 104 „Der Anspruch auf kognitive Aufgeklärtheit unseres Fühlens und Wünschens schließt außerdem den auf ihre intersubjektive Überprüfbarkeit ein. Denn letztlich können wir nur in der Auseinandersetzung mit anderen Personen feststellen, inwieweit unsere Gefühle und Wünsche frei von epistemischen Irrtümern und Täuschungen sind. Die Bereitschaft, die eigenen Annahmen über die Welt und sich selbst zu hinterfragen, ist ja nur glaubhaft, wenn sie mit der Bereitschaft einhergeht, sich von anderen korrigieren zu lassen.“ (Holmer Steinfath: Selbstbejahung, Selbstreflexion und Sinnbedürfnis, in: ders. [Hrsg.]: Was ist ein gutes Leben?, Frankfurt a.M. 1998, S. 88.) 105 Vgl. Taylor: Negative Freiheit, S. 177. 106 Vgl. Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 189. „Bedauerlicherweise unterscheiden die Kommunitaristen nur selten zwischen kollektiven und politischen Prozessen“, kritisiert Kymlicka (ebd.). 107 Taylor: Negative Freiheit, S. 123. 108 Ebd., S. 147 f. 109 „Der grundlegende Irrtum des Atomismus in all seinen Formen besteht darin, daß er nicht in Betracht zieht, in welchem Maße das freie Individuum mit seinen eigenen Zielen und Wünschen […] nur möglich ist innerhalb einer bestimmten Art von Zivilisation, daß es einer langen Entwicklung bestimmter Institutionen und Praktiken, der Herrschaft des Gesetzes, der Regeln wechselseitiger Achtung, der Gewohnheiten gemeinsamer Beratung, gemeinsamen Umgangs, gemeinsamer kultureller Selbstentwicklung und so weiter bedurfte, um das moderne Individuum hervorzubringen“ (ebd., S. 175). Vgl. dazu Beate Rösslers treffende Analysen in Bedingungen und Grenzen von Autonomie, die v.a. die negativen Auswirkungen manipulativer oder inegalitärer Lebensverhältnisse auf die Genese unserer Wünsche aufweisen, in: Herlinde Pauer-Studer und Herta Nagl-Docekal (Hrsg.): Freiheit, Gleichheit und Autonomie, Wien 2003, S. 343 ff. 110 Ebd., S. 343. 111 Vgl. ebd., S. 157 ff. Kritik und Befremden drückt etwa Daniel M. Weinstock aus im Aufsatz The political theory of strong evaluation, in: James Tully (Hrsg.): Philosophy in the age of pluralism, Cambridge 1994, S. 173 ff. Kymlicka moniert, dass Taylors diesbezügliche Ausführungen abstrakt bleiben und er kein Beispiel für solche gemeinsamen Ziele zu nennen wisse – „und das liegt zum Teil sicher daran, dass es auch keine gibt“ (Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 194)! 112 Vgl. ebd., S. 187. 113 Vgl. ebd., S. 171. 114 Taylor: Negative Freiheit, S. 122. 115 Diese sozialdemokratische Deutung des Taylorschen Kommunitarismus, derzufolge jederzeit eine kritische Distanznahme des Einzelnen zu den faktisch geltenden Werten möglich ist, scheint mir nicht nur die einzig sinn-
132 volle und interessante zu sein, sondern lässt sich vielfach belegen. Vgl. etwa ebd., S. 75 ff. oder S. 150: „Im Gegensatz dazu ist die soziale Konzeption des Menschen davon überzeugt, daß eine wesentliche, konstitutive Bedingung des Strebens nach dem menschlichen Guten mit der gesellschaftlichen Existenzweise des Menschen verknüpft ist. Wenn ich daher behaupte, daß der Mensch außerhalb einer Sprachgemeinschaft und einer gemeinsamen Auseinandersetzung über Gut und Böse, gerecht und ungerecht nicht einmal ein moralisches Subjekt und damit ein Kandidat für die Verwirklichung des menschlich Guten sein kann, dann weise ich damit alle atomistischen Auffassungen zurück.“ Vgl. auch die Taylor-Interpretation von Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M./New York 1998, besonders S. 181-189. 116 Kymlicka: Politische Philosophie heute, S. 173. 117 Berlin: Freiheit, S. 211. 118 Nach Frankfurt setzt die Willensfreiheit keineswegs Handlungsfreiheit voraus: „Wenn wir fragen, ob eine Person einen freien Willen hat, dann fragen wir nicht danach, ob sie in der Lage ist, ihre Wünsche erster Stufe in die Tat umzusetzen.“ (Frankfurt: Willensfreiheit, S. 296) Da wir aber am negativen Freiheitsmodell Kritik übten, weil die Rede von Freiheit unsinnig sei, wo jegliche Ressourcen fehlen, um nach dem eigenen Willen zu handeln, müsste man präzisieren: Willensfreiheit setzt Handlungs- und Willkürfreiheit insofern voraus, als wir zumindest fähig sein müssen, Anstrengungen zur Realisierung unserer Handlungsziele bzw. zur Beseitigung unliebsamer Hindernisse in die Wege zu leiten.
Reinhard Platzek MODERNE HIRNFORSCHUNG ODER DAS VERMEINTLICHE ENDE DES FREIEN WILLENS Mit zunehmendem Detailwissen sind einige Vertreter der modernen Hirnforschung überzeugt, daß mit den Funktionen des Gehirns zugleich das Denken als Epiphänomen vorausberechnet werden kann. Daher sei der freie Wille des Menschen bloße Illusion. Daß die Physiologie des Hirngeschehens mit der reflexiven Struktur des Denkens nicht zur Deckung kommt, und im Gehirn also kein „Scharnier“ zwischen Materie und Geist aufzufinden ist, wird besonders in der Gestaltung des musikalischen Kunstwerks deutlich. So lassen sich Akzent und Rhythmus in ihrer musikalischen Bedeutung nicht durch physikalische Gesetze beschreiben, sondern sind Ausdruck der freien Intentionalität des Menschen. Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, … (Goethe, Faust)
Jüngst machte Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, in einem Interview deutlich, wohin seines Erachtens die Ergebnisse der von ihm betriebenen Wissenschaft tendieren, nämlich dahin, daß sich ein freier Wille über kurz oder lang als „Konstrukt“, will sagen als eine Illusion erweisen wird. In der monatlich erscheinenden Zeitschrift1 Spektrum der Wissenschaft – der deutschen Ausgabe des Scientific American – brachte Singer im Februar 2001 einer breiten Leserschaft seine Argumente nahe, die diese Auffassung stützen sollten. Singer geht davon aus, daß sich Natur in ihrem Ablauf exakt beschreiben und berechnen läßt. Für ihn ist evident, daß Forscher in den einzelnen Wissenschaften die Möglichkeit haben, von ihnen beobachtetes Geschehen präzise zu erfassen und mit Hilfe definierter Arbeitsanweisungen systematisch zu objektivieren. Dies gelingt um so besser, je brauchbarer die Werkzeuge sind, deren man sich bedient.
134 Gute Werkzeuge sind nicht zuletzt solche mathematische Formulierungen, die Ereignisse im Zeitverlauf abzubilden in der Lage sind. Gute Algorithmen können in den Naturwissenschaften sogar eine Vorausberechnung leisten und vermögen so in gewisser Weise die Zukunft vorwegzunehmen. Allerdings wird solche Leistung dort immer fraglicher, wo sich ein klarer Ausgangspunkt der Überlegung nicht bestimmen läßt, von dem aus der Rechenprozeß zu starten wäre. Und schwierig wird es auch, wenn sich ein prozeßhaftes Geschehen deshalb nicht eindeutig beschreiben läßt, weil unkalkulierbare Störgrößen nicht ausgeschlossen werden können. Eine Bewegung von „hier“ nach „dort“ kann dann zwar mit einer hohen Wahrscheinlichkeit angenommen, aber nicht sicher vorausgesagt werden. Die Biologie ist eine Wissenschaft, die in besonderem Maße solche Unwägbarkeiten zu kalkulieren hat. Deswegen nimmt sie Ungenauigkeiten der Vorhersagbarkeit in Kauf. So geht es ihr nicht darum, heute schon sagen zu können, wie denn in jeder Einzelheit die Pflanze aussehen wird, die sich aus einem bestimmten Samenkorn entwickelt. Ihr genügt es zu verstehen, welche grundsätzlichen Entwicklungsgänge die Pflanze durchläuft, um zu ihrer vollen Größe und Pracht zu gelangen. Soweit dann die Biologie Stoffwechsel und Organisation der Zelle versteht, ist sie in der Lage, den Wuchs der lebenden Pflanze in für sie genügender Genauigkeit zu erfassen. Dem Hirnforscher und Neuro-Biologen ist dies dagegen nicht genug. Er zielt mathematische Präzision an, und er ist auch der Überzeugung, daß jede Nuance hirnbiologischer Gegebenheit im Detail beschreibbar und das Hirngeschehen, im Wissen der physiologischen Zusammenhänge der Zelle, vorausberechenbar ist. Wenn dann angenommen wird – und dies ist bei den Hirnforschern in der Regel und bei Singer explizit der Fall –, daß „unsere kognitiven Funktionen“2, unsere „Denkprozesse“3, ja das psychische4 Leben schlechthin auf neuronalen Vorgängen beruhen und „kausal erklärbar“5 aus „physiko-chemischen Interaktionen“6 hervorgehen, dann wird das philosophische Problem sicht-
135 bar: Für die Neurobiologen sei es „konsensfähig“ – so Singer –, daß „alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind“7. Es soll folglich gelten: Wissen wir einen Anfangszustand aller Gegebenheiten im Gehirn, dann können wir voraussagen, welche Zustände nach einer bestimmten Zeit festzustellen sind. Der Prozeß nämlich läßt sich nach dieser Auffassung lückenlos darlegen, weil „neuronale Vorgänge in der Großhirnrinde nach immer gleichen Prinzipien ablaufen“8 und weil die „biologischen Strukturen unseres Gehirns … vollständig durch physikalische Gesetze bestimmt sind“9. Ungenauigkeiten ergeben sich allenfalls durch ein „thermisches Rauschen“10, was zwar zu einem Fehler im Ergebnis führen kann, dieses aber keineswegs grundsätzlich in Frage stellt. Dieser Blickwinkel, aus dem sich Naturzustände erschließen und sich einer objektivierenden Sehensweise einordnen lassen, wird von Singer „Dritte-Person-Perspektive“11 genannt. Es ist jene Perspektive, in welcher der Forscher von außen, mit unbestechlichem Blick, Dinge, die er sieht, beschreibt und für sich faßbar macht.12 Untersuchungsgegenstand und Untersucher sind strikt getrennt, wodurch die Objektivität gesichert sei. Im Gegensatz hierzu müsse der Forscher, wenn er Bewußtsein13 oder den freien Willen untersucht, sich selbst betrachten. Er muß also in der – nach neurobiologischer Lesart minderwertigen – subjektiven „Erste-Person-Perspektive“ arbeiten, will er nach den entsprechenden „neuronalen Grundlagen psychischer Phänomene“14 suchen. Nun sieht Singer durchaus, daß „Bewußtsein“, „Werte“, „freier Wille“ oder gar „intentionales Handeln“ einen, wie er es nennt, „Status von Realität“15 haben, aber sie sind für ihn nicht befriedigend fundiert, weil er sie nicht aus der „DrittePerson-Perspektive“ zu fassen bekommt. Zwar seien sie wirksam und bestimmten unser Handeln, aber nur deshalb, weil der Forscher in einer „Theorie des Geistes“, von seinem eigenen Erleben, aus der „Ich-Perspektive“, auf das Empfinden der anderen Menschen glaubt schließen zu dürfen. Singer operiert also mit zwei „Beschreibungssystemen“16, die
136 für ihn einen unterschiedlichen Stellenwert haben. Einerseits will und kann er die subjektive Perspektive des „Ich denke“ nicht aufgeben, weil er sonst das Phänomen Freiheit gar nicht thematisieren könnte, anderseits ist diese ihm fragwürdig, weil sie der „naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise“17 des „Es wird geforscht“18 nicht zugänglich ist.19 Zunächst aber will Singer festhalten, daß wir bereits erhebliche Fortschritte im Verständnis einfacher Nervensysteme haben und demnächst wissen könnten, „was ein Wurm als nächstes tun wird“20, sofern uns bei diesem die „Gesamtheit aller Erregungszustände“21 zugänglich wäre. Und was für die Neuronen des Wurms gilt, muß doch auch für das Gehirn des Menschen gelten, so daß prinzipiell eine Voraussage seines Handelns möglich sein müßte; vorausgesetzt, wir überwinden „technische Probleme …, die mit der Komplexität und den Messinstrumenten zu tun haben.“22 Blicken wir zunächst auf die Schwierigkeiten, denen das von Singer geforderte Meßinstrument begegnet. Es hat im Idealfall die Gesamtstruktur aller Neuronen zu erfassen. Das bedeutet, daß nicht nur Milliarden von Nervenzellen zu beobachten sind, sondern daß darüber hinaus auch jede einzelne der zahlreichen durch Synapsen sichergestellten Verschaltungen untersucht werden muß. Hierbei handelt es sich allerdings lediglich um eine grobe Oberflächenstruktur der Hirnzellen. Wollte man das Geschehen genau abbilden, wäre weiterhin nach den Neurotransmittern zu fragen. Welche und wieviel sind in dem synaptischen Spalt vorhanden? Welche Richtung nehmen diese Moleküle, um ein elektrisches Signal zu übertragen? Gehen sie überhaupt zur andern Zelle oder werden sie wieder präsynaptisch eingebunden? Aber auch die Zelle selbst ist keineswegs statisch. Welche Oberflächenstrukturen bildet sie durch Prozesse in ihrem Innern als sogenannte Rezeptoren aus? Was veranlaßt sie dazu, dieses und nicht jenes Protein zu bilden? Und nicht zuletzt bleibt die Frage zu klären, welche – oft von außen23 beeinflußte – Schaltvorgänge in ihrem Genom gerade abgerufen werden.
137 Will man dieses alles mit mathematischer Exaktheit voraussagen können, dann darf vielleicht jetzt schon gefragt werden, ob Singer zurecht behauptete, eine Vorhersage des Nervengeschehens sei prinzipiell möglich. Schon jetzt könnte deutlich geworden sein, daß eher das Gegenteil der Fall ist. Doch gilt es noch eine wichtigere Ungereimtheit des Singerschen Denkens anzusprechen. Die von dem Autor geforderte Vorausberechenbarkeit von Hirngeschehen setzt nämlich – wie selbstverständlich – voraus, daß es genügte, die Physiologie der Nervenzellen zu verstehen, um psychische Wirklichkeit erklären zu können. Fraglos seien es die neuronalen Strukturen und Mechanismen, welche als „emergente Eigenschaften“24 Bewußtsein25 und Denken aus sich entließen. – Oder: Könnten sich vielleicht auch andere Bedingungen des Denkens finden? Dazu später. Der Hirnforscher Roth weist darauf hin, daß man heute in der Lage sei, „mit Hilfe unterschiedlichster Methoden diejenigen Prozesse im menschlichen Gehirn zu untersuchen, die zu geistigen Prozessen parallel verlaufen“26. Betrachten wir die biologische Ebene, so bereiten hinsichtlich des Parallelisierungsgedanken allein schon die neueren hirnphysiologischen Untersuchungen Erklärungsprobleme, wenn diese zeigen, daß sich – im Millisekundenbereich – bereits vor einer bewußt beschlossenen27 Bewegung eine motorische Gehirnaktivität28 nachweisen läßt. Endgültig zu Fall kommt die Forderung einer Parallelität allerdings dann, wenn wir am Problem des psychischen „Jetzt“ zeigen werden, daß sich Hirnzustände gar nicht linear auf psychische Wirklichkeit abbilden lassen. Roths Kollege Linke geht übrigens noch einen Schritt weiter, wenn er dessen Gedanken präzisiert: „Wir sehen die Seele nicht unmittelbar im Positronen-Emissions-Tomogramm, aber wir sehen ihr parallelistisches Korrelat und sogar ein Korrelat zum Denken über die Seele“29. Zugegeben: Wir können mit der modernen Technik, mittels radioaktiv markierter Zuckermoleküle, vermuten, in welchen Hirnarealen ein vermehrter Stoffwechsel stattfindet, sobald eine
138 Versuchsperson eine Rechenaufgabe zu lösen beginnt. Der Hirnforscher aber schließt: Wir sehen, wie die Person eine Rechenaufgabe löst und wir wissen, welche Hirnzellen sie hierfür benötigt. Ist dies ein zutreffender Schluß? Oder hätte man nicht schlicht wie folgt formulieren müssen: Während in einer Apparatur zur Registrierung radioaktiver Ereignisse eine Versuchsperson eine Rechenaufgabe löste, ließ sich in einem grob umschriebenen Bereich ihres Gehirns ein höheres Aufkommen von Zuckermolekülen dadurch nachweisen, daß eine vermehrte Strahlung detektiert wurde. – Dabei läßt sich zum Geschehen in der einzelnen Zelle gar keine Aussage machen. Erst recht nicht wird bei dieser Untersuchung etwas ausgesagt über ein somatisches Korrelat zu der psychischen Wirklichkeit des Nachdenkens während einer Rechenübung. Denn nicht einmal das grobe Geschehen in der Zelle ist hier sichtbar geworden.30 Bemerkenswert ist aber etwas anderes, nämlich, daß wie selbstverständlich, die Gesamtheit funktionierender Nervenzellen – also, wie oben angesprochen, deren Physiologie – für das Korrelat des Denkens verantwortlich gemacht wird. Ein anderer „Denkursprung“ kommt für die Hirnforscher kaum in Betracht. Diese wollen zwar jegliches Denken als ein materielles Geschehen auffassen, doch wagen nur wenige den Schritt, die Materie selbst zu ihrem Forschungsgegenstand zu machen. Dann nämlich dürften sie die Gesetze der Physik bei ihren Überlegungen nicht außer Acht lassen. Denkt man konsequent materiell, so muß die Frage erlaubt sein, welche Gebilde und Eigenschaften der Nervenzelle für die Fähigkeit, Psychisches hervorbringen zu können, verantwortlich sein sollen. Gerne werden hier hirnelektrische Ableitungen als Beleg für die Funktion der Zelle genannt. Aber mit dem gleichen Recht, wie ein in einer Nervenzelle meßbares elektrisches Signal für „Denken“ signieren soll, könnte doch ein strukturell verändertes Molekül oder gar jedes einzelne Atom Relevanz für die „Denkfähigkeit“ der Zelle haben. Oder wären sogar die atoma-
139 ren Zustände selbst noch für das, was „lebendiges Denken“ heißen soll, mitentscheidend? Es könnte dann, so Damasio, die Geistestätigkeit „sogar eine quantenmechanische Erklärung erfordern.“31 Wenn Denken aber nichts anderes sei, als eine emergente Erscheinung eines physikalisch materiellen Prozesses auf neuronaler Ebene, dann brauchten tatsächlich nur die naturhaften Veränderungen in ihrem Zeitverlauf in höchstmöglicher Genauigkeit erfaßt werden, um Denken und Hirnvorgang parallel zu setzen, also eins zu eins abzubilden. Sei doch, so Linke32, jedem seelischen Vorgang ein Hirnvorgang und vice versa jedem Hirnvorgang ein seelischer Vorgang direkt zeitlich exakt zugeordnet. Würde diese Zuordnung gelingen, dann ließe sich mit der physikalischen Berechenbarkeit alles Hirngeschehens auch eine Vorhersage dessen, was zukünftig gedacht wird, abgeben und der freie Wille wäre tatsächlich eine Illusion. In bezug auf die Genauigkeit einer physikalischen Messung ist seit vielen Jahren die Begrenztheit der Zustandsbeschreibung als „Unschärferelation“ erkannt worden. Wenn daher das Denken nichts anderes als ein Zustand bzw. Veränderung von Materie sein sollte, dann würden, hinsichtlich einer Vorausberechenbarkeit, diese physikalischen Grenzen zugleich die Grenzen für eine jede Voraussagbarkeit des Denkens bilden. Allein darum irrt Singer, wenn er meint, prinzipiell dereinst vorhersehen zu können, wie ein Mensch zukünftig handeln wird. Es wären zudem die Denkmöglichkeiten selbst endlich, und es könnte nicht über eine „natürliche Grenze“ hinaus gedacht werden. Denn das Denken müßte – wäre es direkt an Materie gebunden – sich in seinen kombinatorischen Möglichkeiten genauso erschöpfen wie die Umorganisation von Teilchen im Universum eine endliche ist –: wenngleich auch die Menge an möglichen Denkinformationen, entsprechend der möglichen Materiekonstellationen, unvorstellbar groß wäre. „Endlich viele Partikel … können … nur in einer endlichen Anzahl von Konfigurationen arrangiert werden“33, so die Überlegung von Krauss und Starkmann. Dies bedeutet: die Möglichkeiten zu denken sind be-
140 schränkt. Die Freiheit, die wir zu haben glauben, ist lediglich die Illusion der schier unermeßlich großen Möglichkeiten zu wählen. Analog hierzu sind die jüngsten Überlegungen von Seth Loyd und Y. Jack Ng zu werten. Die beiden Physiker wollen das Universum als einen Computer auffassen, der, seit dem Anfang des Weltalls, eine zwar unvorstellbar große – genannt wird die Zahl 10123 – aber doch endliche Anzahl von naturhaften Prozessen in Form von Rechenabläufen34 gespeichert hat. Das bedeutet, die Informationsspeicherung35 des Universums ist nicht unbegrenzt, sondern endlich. Wäre daher das Denken an Materie gebunden, dann könnte über diese mathematisch genau bestimmbare Grenze hinaus prinzipiell nichts gedacht werden. So konsequent materiell denkt Singer nun doch nicht. Seine Überlegungen beginnen mit dem Nervensystem. Die Komplexität der neuronalen Verschaltungen habe im Laufe der Evolution immer weiter zugenommen, bis sie endlich im Menschen das heutige Ausmaß angenommen hat. Nachdem es nun so weit gekommen ist, genügt es nicht mehr nur den einzelnen Menschen mit seinem Gehirnzustand zu erfassen, sondern berücksichtigt werden muß die gesamte Menschheit, denn die Menschen wirken aufeinander ein und beeinflussen sich gegenseitig. An dieser Stelle nimmt der Gedankengang Singers eine eigenartige Wendung. Wenn er bisher betonte, daß er als Wissenschaftler „aus der Dritte-Person-Perspektive“36 zu urteilen habe, so sei es nunmehr der Fall, daß sich die „Wechselwirkung der … komplexen Organismen“37 diesem Beschreibungssystem entziehen. Aus dem darwinistischen Entwicklungsprozeß, der aus der objektiven Dritte-Person-Perspektive mit naturwissenschaftlichen Termini lückenlos beschrieben werden kann, gehen, so Singer, „Phänomene hervor, die in diesem Beschreibungssystem nicht mehr vorkommen.“38 Diese Phänomene nämlich werden „durch subjektives Erleben“39 erfaßt. Es handele sich hierbei auch um „etwas Reales“40, nämlich um „erlebbare soziale Realitäten.“41 „In diesem individuellen Erleben erfahren wir uns als
141 ‚frei‘.“42 Wir dürfen hinzufügen: aber ohne es in einem naturwissenschaftlichen Sinne wirklich zu sein. Denn – so Singer – „eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt.“43 Nun kann man sich fragen, warum die Wechselwirkung komplizierter Systeme – grundsätzlich – nicht mehr aus der Dritte-Person-Perspektive sollte beschreibbar sein können. Warum sollten jetzt die Gesetze der Physik nicht mehr ausreichen, um das Aufeinanderwirken der Organismen zu beschreiben, ähnlich – nur eben viel komplizierter – wie man das Wechselwirken, nämlich den Zusammenstoß zweier Billardkugeln beschreiben und deren Lauf vorausberechnen kann. „Entsteht“ hier wirklich „Freiheit“ – oder gerade nicht? Singer mag ein anderes Bild vor Augen gehabt haben: Heute vermögen nicht nur Rechenmaschinen gegeneinander Schach zu spielen, was die Illusion erwecken kann, als handelte es sich hier um eine intelligente Leistung des Apparates. Es gibt auch lustige Computer, denen man grob die Gestalt eines Hundes gegeben hat und die programmiert wurden, in zwei Mannschaften auf einem kleinen Spielfeld einen Ball in das gegnerische Tor zu befördern. Der Programmierer schaut dabei interessiert zu. Er sieht sein Werk und ist stolz auf sich – nicht etwa auf den Computer! –, denn das bessere Programm und nicht der Computer, gewinnt das Spiel. Der Zuschauer freilich mag den agilen „Hundecomputer“ bewundern. Er mag diesen Roboter als „geschickt“ wahrnehmen, mag den Eindruck haben, dieser handele klug und überlegt, so, als entscheide er sich für diese oder jene Taktik. Vielleicht gar empfindet er ihn als beseelt und „springlebendig“. Singer würde hier wohl sagen müssen, daß zwar die Abläufe im Computer streng programmiert und berechenbar sind, nicht aber das „Spiel“ selbst, denn dieses hat Zufallskomponenten, die auf den Computer in unvorhersehbarer Weise einwirken. Das Hundespiel lasse sich daher nicht vorhersagen. Der Hund erscheint zwar frei in seinen Bewegungsmöglichkeiten; er ist es aber nicht.
142 Auch dieser Gedanke ist noch nicht zu Ende gedacht. Denn in der deterministischen Welt des Hirnforschers dürfte es kein zufälliges Rollen des Balles geben, und hätten wir nur genügend genaue Daten und reichlich Rechenkapazität44, ließe sich sowohl die Bewegung der Computerhunde, wie die Richtung des Ballverlaufs vorhersagen, wäre Singers Aussage der prinzipiellen Berechenbarkeit zutreffend. Woher aber kommt der Eindruck, daß das Spiel der sich bewegenden Roboter „lebendig“ erscheint. Selbst Singer würde auf diese Frage vielleicht antworten: weil es der Betrachter aus der „Ich-Perspektive der ersten Person wahrnimmt.“45 Denn Singer gesteht dem Zuschauer durchaus eine Subjektivität zu. Aber anstatt daß er sich fragte, was hier das „Ich“ meint, würde er dieses sofort neurobiologisch aus seiner Dritte-Person-Perspektive erklären und somit auflösen wollen, freilich ohne zu bemerken, daß er damit sein eigenes Selbst „auflöste“. Die Lebendigkeit, die der Zuschauer im Computerspiel sieht, rührt daher, daß der Betrachter selbst lebendig ist. Er ist eben in der Lage, das Zeitliche im Spiel zu überschauen. Er erinnert das Zuvor-Geschehene, sieht jetzt die Aktion und erwartet eine Bewegung, welche das Spiel in eine entscheidende Richtung leiten könnte. Kurz: die Möglichkeit des Menschen einen Prozeß als ganzen überblicken und innerlich gestalten zu können, ist der Grund der Lebendigkeit seiner Psyche. Hier hat Singer ein Problem, denn Psychisches ist für ihn dem materiellen Geschehen nachgeordnet. Es galt also, die örtlich und zeitlich auseinanderliegenden „neuronalen InformationsVerarbeitungsprozesse“46 ineinanderzufügen, um die „alles koordinierende Instanz“47 zu erklären, „die wir mit dem ‚Ich‘ gleichsetzen.“48 Zu suchen wäre – würde man der Intuition folgen – ein Zentrum im Gehirn, in welchem „alle Verarbeitungsergebnisse zusammenkommen“49. Dort wäre dann, so Singer „der Ort, wo entschieden und geplant wird, und dort müsste sich auch das ‚Ich‘ konstituieren.“50 Aber genau solch ein „Konvergenzzentrum“51 können die
143 Hirnforscher nicht nachweisen. Es gebe eben keine „Kommandozentrale“52, welche Entscheidungen trifft und die man als das „Ich“ ansprechen könnte. Vielmehr stellen sich Wirbeltiergehirne als „hochvernetzte, distributiv organisierte Systeme dar“53. Das Gehirn des Wirbeltieres54 Mensch unterscheidet sich hier lediglich durch seine besonders ausgeprägte Komplexität, aber es unterscheidet sich nicht prinzipiell. Wie also kommt das „Ich“ zustande? Ohne die philosophische Bedeutung seiner Aussage zu bemerken, weist Singer auf den tatsächlich entscheidenden Punkt hin: Nicht ein Zentrum ließe sich im Gehirn feststellen, sondern das gesamte Gehirn sei so organisiert, daß „eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig abläuft.“55 Das Gehirn nutze „die zeitliche Dimension als Kodierungsraum“56 und verwende die „präzise zeitliche Synchronisation als Code für die Zusammengehörigkeit neuronaler Antworten“57. Daraus ergibt sich, daß „das neuronale Korrelat eines Wahrnehmungsinhaltes oder einer Entscheidung oder eines vorformulierten Satzes“58 nichts anders wäre als ein „komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen“59. Ein solcher Hirnzustand brauchte nur „hinreichend lange Zeit stabilisiert“60 sein, dann könnte er verhaltensrelevant oder sogar bewußt werden.61 „Alles Wissen“ nämlich, „über das ein Gehirn verfügt, residiert“ – so Singer – „in seiner funktionellen Architektur, in der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen.“62 Im wesentlichen sind dies Gedanken, die im 19. Jahrhundert bereits Johannes von Kries geäußert hatte. Nach dessen Auffassung sollte „ein fest bestimmter cerebraler Zustand“63 ein Wort, wie das Wort „Rom“, „jedesmal in wenigstens annähernd gleicher Weise“64 begleiten. Ein solcher „annähernd fixierter cerebraler Zustand“65 sei „das im psychischen Geschehen Maßgebende“66. Folglich müssen viele stabile zerebrale Zustände einen Satz bilden, wie etwa den: ‚Rom ist eine bedeutende Stadt‘. Nach der Denkungsart Singers muß der Hirnzustand „Rom“, der Hirnzustand „ist“, der Hirnzustand „eine“ usw. im zeitlichen
144 Kodierungsraum des „Ich“ gesehen werden. Wie sonst sollte auch ein Sinn erfaßt werden können. Hier allerdings, wo Singer Zeit problemlos als Bezugsmedium fordert, muß die philosophische Überlegung ansetzen. Denn in welcher Bestimmtheit erscheint hier Zeit, wenn das Gehirn sie als „Kodierungsraum“ soll nutzen können? Es kann hier selbstverständlich, da naturhafte Prozesse vorliegen sollen, nur die objektiv-meßbare, also physikalische, mit Hönigswald gesprochen, „transeunte“67 Zeit gemeint sein. In diesem Kodierungsraum müßten materielle, gleichzeitig stattfindende Operationen Denken aus sich hervorgehen lassen können. Was aber meint hier „gleichzeitig“? Es geht um solche Prozesse, die zu einem genau feststellbaren Zeitpunkt an verschiedenen Orten des Gehirns ein bestimmtes Muster aufweisen. Wenn Singer jetzt davon spricht, daß eine Synchronisation stattfinden soll, dann kann dies nur meinen, daß eine Veränderung an einem Ort des Gehirns mit einer Veränderung an einem andern Ort des Gehirns unmittelbar zusammenhängen soll. Als Beleg der Synchronisationshypothese führt Singer an: Experimente hätten gezeigt, daß bei einer Versuchsperson, die ein Bild erkennt, in den abgeleiteten Hirnströmen „hochsynchrone Zustände“68 gefunden wurden. Das mag immerhin bemerkenswert sein, sagt aber gar nichts über die Aktivität einzelner Hirnzellen aus. Auch wenn sich tatsächlich an verschiedenen Orten befindliche Nervenzellen – aber auf welche Weise?69 – ohne Zeitverlust zu gleichzeitiger elektrischer Aktivität zusammenschlössen, so bliebe eine ganz wesentliche Schwierigkeit doch völlig ungelöst, nämlich die Frage, welche Bedeutung einer Fortentwicklung der durch das gesamte Gehirn gebildeten Zustände überhaupt zukommen kann. Denn es kann sich doch nur um eine Art Prozeßkonglomerat handeln, das ständig in ein anderes übergeht, wobei der Zusammenhang aller Prozesse noch immer einem naturhaften blinden Ablauf gehorchen muß. Mit anderen Worten: Das Hirngeschehen bleibt in der transeunten Zeit beschreibbar. Aber, und wir denken an die spie-
145 lenden Roboter zurück, eine Zeitgestalt erschließt sich nur dem Betrachter und zwar deswegen, weil er im psychischen Jetzt, das Früher und Später überschaut. Eine solche Zeitgestalt aber ist nicht linear auf ein physisches Geschehen abbildbar, was wir kurz am Beispiel des Rhythmus in der Musik darlegen wollen. Zunächst sei das Zeiterlebnis selbst beleuchtet. Zeit – als erlebte Zeit – erschließt sich allein im Bereich des Psychischen. Wenn Psychisches auf Physisches linear aufeinander abbildbar sein sollte, dann müßte psychische Zeit und die physikalische Zeit direkt korrelieren. „Erlebnisimmanente“70 Zeit muß sich also nach den Forderungen des psychophysischen Parallelismus direkt vergehender (transeunter) Zeit zuordnen lassen können. Aber lassen sich die beiden Zeitbestimmtheiten überhaupt parallelisieren? Wir wollen zeigen, daß dies nicht der Fall ist: Denn unter welcher Rücksicht läßt sich von erlebnisimmanenter Zeit überhaupt nur sprechen? Lediglich unter der Rücksicht, daß Zeit in ihrem Vergehen, das heißt in ihrem Vorher und Nachher überschaut wird. Dies aber kann nur dort der Fall sein, wo ein Prinzip waltet, welches das Vorher und Nachher im Jetzt gegenwärtig zu haben vermag. Ein solches Prinzip erst ermöglicht, eine Zeitstrecke in-eins-zu-schauen; es ist Garant dafür, eine zeitliche Erstreckung gegenwärtig haben zu können; mit anderen Worten: es verbürgt das „psychische Jetzt“. Das psychische Jetzt aber hat, unter der Rücksicht seiner Gegenwärtigkeit, selbst keine – physikalisch meßbare – zeitliche Erstreckung.71 Ihm eignet vielmehr jene schlechthin nicht meßbare, weil Meßbarkeit überhaupt erst ermöglichende, Zeitbestimmtheit: „Präsenz“. Sie ist nicht meßbar, weil sie als Prinzip selbst keine Zeitstelle beansprucht. Sie ermöglicht Meßbarkeit allererst dadurch, daß sie den Bezugspunkt möglicher Messungen in Gegenwart verbürgt. Dadurch ermöglicht sie, Zeit als extensive Größe wahrzunehmen. Diese in Gegenwart überschaute Zeit, ist einer Gliederung zugänglich. Hier kann Bedeutsames und weniger Bedeutsames, Nachhaltiges und weniger Nachhaltiges in einem Ordnungsgefü-
146 ge erscheinen. Zeit wird auf diese Weise als gestaltete Zeit wahrnehmbar. Im Erleben des Rhythmus begegnet uns dies jeden Tag.72 Dort, wo Rhythmus als musikalische Gestalt erscheint, da wird das, was wir das „bedeutende Element“ nannten, zur „Betonung“73, und die „Nachhaltigkeit“ wird repräsentiert durch das (zeitversetzt74 vorgetragene) „Intervall“75. So geben Betonung und Intervall, wie sie in der (vergehenden) Zeit erscheinen, dem Rhythmus Gestalt. Diese Gestalt aber hat – als Gestalt – selbst keine zeitliche Erstreckung, weshalb Hönigswald pointiert formulieren durfte, daß der „Rhythmus streng genommen weder Anfang noch Ende“76 hat. Er ist eben als (erlebnisimmanente) Zeitgestalt ohne extensive Maßbestimmung. Da aber das psychische Jetzt es mir ermöglicht, Rhythmus als gegenwärtigen zu haben, ist es zeitüberlegen. Ihm kommt – wenn auch in endlicher Weise – Prinzipiencharakter zu. Wollte man diesen Prinzipiencharakter leugnen, würden sofort die Schwierigkeiten deutlich. Denn was müßte das Haben eines Rhythmus im psychischen Jetzt für den Gedanken eines psychophysischen Parallelismus bedeuten? Zunächst dies, daß das psychische Jetzt in bezug auf vergehende Zeit ausgedehnt und punktuell zugleich müßte abgebildet werden können. Wollte man dies nicht sofort als einen inneren Widerspruch anerkennen, so müßte erklärt werden, in welcher Weise die rhythmischen Elemente einzelnen definierten Gehirnzuständen77 entsprechen sollen. Denn um die Rhythmizität überhaupt erkennen zu können, bedürfte es eines weiteren, sagen wir ruhig übergeordneten, Gehirnzustands, der in der Überschau der Einzelereignisse den Rhythmus wahrzunehmen ermöglichte. Es müßte also dem erlebnishaften Jetzt des Rhythmus ein weiterer Gehirnzustand entsprechen. Nun wissen wir alle, wie Rhythmen in einem Musikwerk durchaus wechseln können und wie dadurch die Lebendigkeit eines Musikwerks allererst entsteht. Um aber diese verschiedenen Rhythmen überhaupt als verschiedene im Musikwerk würdigen zu können, müssen sie überschaut werden. Sie
147 müßten also, im psychischen Jetzt, wiederum einen neuen eigenen Gehirnzustand aufweisen. Und gehen wir weiter und erinnern uns an die Rhythmen, die uns in der Musik bis heute begegnet sind, so wird letztlich deutlich, daß wir alle die uns bekannten Rhythmen in ihrer Unterschiedenheit nur deswegen wissen können, da wir sie grundsätzlich als überschaute im psychischen Jetzt vereint haben. Das psychische Jetzt ist eben immer jetzt, auch wenn die Zeit voranschreitet. Das bedeutet: Ich bin immer jetzt, auch wenn die Zeit vergeht. Oder anders: Ich kann nicht anders sein als in Gegenwart. Letztlich also müßte mein gegenwärtiges „Ich“ einen eigenen, „höchsten Gehirnzustand“ repräsentieren. Doch selbst ein solcher, gedachter „höchster Gehirnzustand“ wirft sofort ein weiteres grundsätzliches Problem auf. Es muß nämlich gefragt werden, ob überhaupt durch einen einzigen – wenn vielleicht auch „höchsten“ – Gehirnzustand ein „Ich“ charakterisiert zu werden vermag. Mit anderen Worten, ist nicht vielmehr, soll von einem „Ich“ die Rede sein können, eine innere Gegliedertheit dieses Ichs zu fordern, wenn anders von einer Lebendigkeit des Ichs doch wohl keine Rede sein könnte? Räumte man aber den Gedanken einer solchen Gliederung ein, so ließen sich die verschiedenen Elemente einer solchen Gliederung keinesfalls zu einem „einzigen – wenn auch höchsten – Gehirnzustand“ parallelisieren. Hielte man immer noch am Gedanken der Parallelisierung fest und glaubte man verschiedene, hierarchisch gegliederte Gehirnzustände dem Denken zuordnen zu dürfen, so wäre jetzt noch auf das Problem der Möglichkeit einer Gliederung der psychischen Wirklichkeit selbst hinzuweisen. Denn, auf seiten der Psyche würden sich „Elemente“ eben dieser Gliederung überhaupt nur dann durch eine endlich große – wenngleich auch jede Vorstellung übersteigende – Zahl ohne Schwierigkeiten beschreiben lassen, wenn, was nicht der Fall ist, Psychisches ohne weiteres zählbar wäre. Diesem Problem der Zählbarkeit widmet Hönigswald78 in seinen Grundlagen der Denkpsychologie ein
148 eigenes Kapitel. Er bringt das Problem auf den Punkt, wenn er feststellt, daß Erlebnisse nicht „wie die vor mir auf dem Tisch liegenden Nüsse“79 abgezählt werden können. Zählbarkeit kann Erlebnissen nur zukommen, „sofern sie in gewissem Sinne gegenständlich gewertet werden können“80. Das aber können sie nur in einem gegenwärtigen Wissenshorizont. Dieser ist Garant für die Zählbarkeit von Erlebnissen. Hierbei spielt die reflexive Struktur alles Wissens die entscheidende Rolle. Wissen ist nur, sofern es gewußt wird und sofern das Wissen um das Wissen gewußt wird und so fort. „Denn alles Wissen ergreift … sich selbst als ein Wissen um das Wissen“81. In unserem Problemzusammenhang bedeutet dies: Wie sollte es möglich sein, diese reflexive Struktur des Wissens selbst – die ja als reflexive Struktur ist, noch bevor ich sie, um ihrer gewiß zu werden, in Zeit entfalte – als einen Gehirnzustand abzubilden? In bezug auf den Gedanken der Gliederung von Psychischem bedeutet dies, daß das, was ich gegenständlich werten will, meiner Intention unterliegt. Physikalisch verstehbare „Denkelemente“, gar zählbare „Denkbausteine“ lassen sich im Psychischen nicht finden. Wollten wir hier von einem „Element des Denkens“ sprechen, dann meint dies etwas anderes. Denn ein von mir gedachtes „Denkelement“ steht stets in einem Bezug zu anderen „Elementen des Denkens“. Und – was in unserem Zusammenhang noch wichtiger hervorzuheben ist – das, was als ein „Element meines Denkens“ aufgefaßt werden soll, bestimme ich selbst im freien intentionalen Akt. Wollte man entgegen aller bisher genannten Schwierigkeiten dennoch eine „Pyramide“ der Gehirnzustände annehmen, wo der jeweils höhere Baustein einem eigenen Gehirnzustand entsprechen soll, so ließe sich in keiner Weise die Frage lösen, wie denn der eine Zustand vom anderen soll wissen können. Und es wäre weiter zu fragen, wie der eine Zustand in den anderen übergeht. Und schließlich stünde zum Problem, wie alle diese Zustände letztlich dennoch ein einheitliches Bewußtsein sollten er-
149 möglichen können.82 Die von uns geforderte hierarchische Ordnung selbst nämlich kann in den Gehirnzuständen der Pyramide gar nicht angetroffen werden, da ja diese Ordnung überhaupt erst die Gestalt der Pyramide verbürgte. Und ließe man den Gedanken hierarchisch gegliederter Gehirnzustände immer noch zu, wie sollte die Intention der Rhythmisierung selbst abgebildet werden? Ist diese doch keinesfalls in der Natur, sondern ein Akt der Freiheit des Menschen. Intention ist gewissermaßen „jene Zeit, die er frei ergreift“83. Das bedeutet, um von einer Stufe der Pyramide zu der anderen gelangen zu können, bedarf es der Freiheit, ohne welche Rhythmus gar nicht gefaßt werden könnte. Andernfalls wäre der Rhythmus lediglich ein bloßer Verlauf eines irgendwie gearteten, lediglich blind pulsierenden Geschehens. Intentionalität aber läßt sich nicht auf einen Zeitverlauf abbilden. Was aber, wenn umgekehrt dem psychischen Jetzt kein bestimmter Gehirnzustand entspräche. Was wäre, wenn man sich tiefer auf den Gedanken der Gegenwärtigkeit meines „Ich“ einließe, wenn eben doch der Prinzipiencharakter des psychischen Jetzt anerkannt werden müßte. Dann wäre nicht nur der Rhythmus ohne Anfang und Ende, dem Ich qua Ich käme ebenso weder Anfang noch Ende zu. Mit Hönigswald: „Präsenz hat überhaupt nicht Anfang und Ende, eben weil sie Präsenz ist. Und Präsenz ist das ‚Ich‘ “84. Dann ginge das Ich dem einzelnen Erleben immer schon voraus. Also: „Ohne Ich-Kontinuität kein psychischer Einzelakt“85. Mögen immerhin Erlebnisse als Diskreta behandelt werden können, sie können es nur, sofern sie auf eine der Zählung schlechterdings entrückte Instanz bezogen sind. Als „meine“ Erlebnisse sind sie, wie Hönigswald zutreffend formuliert, „jeder numerischen Kennzeichnung ebenso entrückt, wie ich selbst der numerischen Kennzeichnung ermangle. ‚Ich‘ bin ‚niemandem‘ hinzuzuaddieren“86. Der Mensch ist eben „nicht irgendetwas oder irgendwer. Das Ich ist kein ‚aliquid‘ “87. Singer hat versucht, das Ich auf einen „Kodierungsraum“ zu reduzieren. In einer Zeit, in der mit immer komplizierter wer-
150 denden Apparaten das Gehirn untersucht werden kann, unterlag er der Versuchung, die mit den Mitteln der Naturwissenschaft erzielten Forschungsergebnisse von Hirnuntersuchungen, also etwa wissenschaftlich nachweisbare biochemische, hirnelektrische oder neurophysiologische Prozesse des Gehirns, als eine Erscheinung des Psychischen selbst auffassen zu wollen.88 Eine noch so genaue Beschreibung der Hirnfunktionen vermag aber psychische Wirklichkeit nicht zu erklären. Psychische Wirklichkeit als bloßes Epiphänomen von Hirnfunktionen forderte, daß ein „Prozeß naturaler Notwendigkeit“ einen gerichteten Denkakt, also einen „Akt der Freiheit“89 immer in der Weise begleiten würde, daß sich Freiheit und Naturprozeß entsprechen müßten. Ein naturaler Prozeß aber läßt keine Freiheit zu, da dieser ja gerade eine gerichtete, in bestimmbaren Grenzen vorausberechenbare Entwicklung bedeutet, von einem „Vorher“ zu einem „Nachher“, von einem „Hier“ zu einem „Dort“, von einem „So-geformt-Sein“ zu einem „Anders-geformt-Sein“. Noch weniger ist ersichtlich, wie ein naturaler Prozeß aus sich heraus sollte Freiheit entlassen können. Genau dies aber müßte gezeigt werden, sollte das Denken nicht mehr sein als ein bloßes Epiphänomen physiologischer Prozesse. Nach Singer müßte sich individuelle Spontaneität als vorausberechenbar erweisen. Dann freilich wäre Freiheit eine Illusion und menschlicher Erfindungsgeist und Kreativität in Wahrheit barer Zufall der Natur. Das Denken wäre nichts anderes als ein Nebenprodukt systemerhaltender90 Gehirnabläufe, vergleichbar der Leistung des pumpenden Herzens, das durch seine Arbeit das biologische Leben des Organismus sichert. Das Gehirn wäre ein „Denkorgan“, und die Sache „Denken“ entspräche einem mit den Mitteln der Naturwissenschaft beschreibbaren Vorkommnis unter Vorkommnissen –: freilich ohne daß es selbst in der Lage wäre etwas auszusagen. Wenn aber, wie gezeigt wurde, naturwissenschaftliche Beschreibungen das Ich nicht erklären können, dann sollte erkannt werden, daß es in Wahrheit umgekehrt das Denken ist, welches
151 die Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise überhaupt erst begründet. Oder anders: Das Gehirn, welches Gegenstand der Forschung ist, erforscht nicht etwa sich selbst, kraft seiner eigenen Naturgesetzlichkeit. Sondern ein vernunftgeleitetes Denken vermag sich auch ein Organ „Gehirn“ zum Gegenstand seiner Nachdenklichkeit werden zu lassen. Was wäre, wenn das Denken dem Gehirnzustand in Wahrheit vorausginge. Dann würde nicht das Gehirn denken, sondern – man verzeihe mir den Neologismus – das Denken „gehirnen“. Soll heißen, das Denken würde den Gehirnzustand bestimmen und nicht umgekehrt. In Ansätzen müssen dies sogar die Hirnforscher zugeben. So, wenn sie konstatieren, daß ein Einüben von Vokabeln im Lernprozeß zu einer Änderung oder Stabilisierung von synaptischen Verschaltungen führt, wobei „die neu gelernten Fakten in die neuralen Schaltkreise gleichsam eingraviert werden“91; oder wenn es heißt, daß das Gehirn, um wichtige „Stimuli einzuspeichern“92 für „das Signal mehr Zellen“93 zur Verfügung stellt.94 Oder noch allgmeiner gesprochen führe „Bildung“ zu einer „höheren zerebralen Reservekapazität in Form größerer Synapsendichte“95. Immer ändert sich das Gehirn in einer bestimmten Weise, weil etwas Bestimmtes gedacht oder auch weil Musik gehört wird.96 Das Denken hat dann einen Ort in der Natur gefunden. Daher ist es in den Worten Hönigswalds, „zeitstellenbezogene Präsenz“97. Das Denken eines Menschen ist also in Zeit, zu einer bestimmten Zeit und doch zugleich zeitüberlegen, da es verschiedene Zeiten im psychischen Jetzt zusammenführt. Das ist der Grund dafür, daß mein Denken nicht zerfällt und daß ich auch in vergehender Zeit derjenige sein werde, der ich jetzt bin und früher schon war. Diese Identität macht die Lebendigkeit aus, sie läßt sich nicht durch noch so umfangreiche materielle Informationen und komplizierte Verschaltungen erklären. So aber wie Singer den Menschen auffassen will, ist er nicht von einer komplizierten Maschine zu unterscheiden, er ist weder frei noch lebendig. Er ist
152 lediglich ein Spielball98 der Natur. Für das von uns diskutierte Interview Singers bedeutet dies, daß bei dem Autor zwangsweise Hirnprozesse abliefen, die eine Bewegung seiner Finger auslösten, welche Buchstaben zu Papier brachten und in einer Weise aneinanderreihten, daß sie anderen Gehirnen als Text erscheinen mußten, der wiederum bei den determinierten Organismen ganz bestimmte Verhaltungsweisen auslösen mußte – usw. In der Konsequenz seiner Sichtweise könnte Singer gar nicht wissen, was er geschrieben hat. Es verwundert daher nicht, daß er selbst immer wieder die Dimensionen verschleift und seinem Ansatz untreu wird: Ob es sein freier Wille gewesen sei, Spektrum der Wissenschaft ein Interview zu geben, beantwortete er mit den Worten: „Ich fürchte nein, und die Bedingtheiten kennen Sie: Dem Gespräch gingen Telefonate voraus und dann“ – hier erfolgt eine plötzliche Wendung auf ein Gehirngeschehen – waren da ja „gewisse kognitive [!]99 Prozesse in meinem Gehirn, die letztlich dazu führten, dass ich zugesagt habe, das Interview zu führen.“100 So wandelt sich die gedankliche Auseinandersetzung ein Gespräch zu führen bei ihm problemlos in einen deterministischen Hirnprozeß. Wie aber ließen sich die Schwierigkeiten überwinden? Dadurch, daß die Beschreibungsebenen nicht vermischt werden und die Forschungen in ihren Bereichen bleiben. Man kann das biologische Leben des Gehirns von seiten der Naturwissenschaft untersuchen und es kann die Geisteswissenschaft Überlegungen zum Sinn eben dieses Lebens anstellen. Man nähert sich dann – um ein Bild zu gebrauchen – von zwei Seiten asymptotisch an den Problemkern an – doch bekommt ihn so nie ganz zu fassen. Die Welt der Natur und die Welt101 des Geistes lassen sich im Gehirn nicht – gleichsam wie in einem Schanier – zur Deckung bringen. Wohl aber erscheinen sie unhintergehbar in der psychosomatischen Ganzheit jenes Wesens, das Welt hat –: im Menschen.
153 Anmerkungen 1 Wolf Singer, Das Ende des freien Willens? In: Spektrum der Wissenschaft 2 (2001), S. 72-75 (= Singer 2001). 2 Wolf Singer, Unser Menschenbild im Spannungsfeld von Selbsterfahrung und neurobiologischer Fremdbeschreibung, Ulm 2003 (= Reden und Aufsätze der Universität Ulm, Heft 11), S. 16 (= Singer [2003]) 3 Singer (2003), S. 18 4 Vgl. Singer (2003), S. 11 5 Singer (2003), S. 12 6 Singer (2003), S. 12. Damasio geht noch weiter. Er behauptet, „daß die biologischen Prozesse … selbst mentale Vorgänge sind – und daß wir sie mit hinreichend detailliertem Verständnis auch als solche erkennen werden.“ (Antonio R. Damasio, Wie das Gehirn Geist erzeugt. In: Spektrum der Wissenschaft, Spezial [2000], 1, S. 56-61) (= Damasio [2000]), hier: S. 58 c. 7 Singer (2001), S. 75 a. In einer Übersichtsarbeit gehen Synofzik/Huber/Wiesing auf einige Differenzen ein, die jenseits des Mimimalkonsenses in der Neurophilosophie bestünden. (Synofzik/Huber/Wiesing, M. Synofzik, L. Huber, U. Wiesing, Philosophieren über die Rätsel des Gehirns, Übersicht zur Neurophilosophie, Nervenarzt 75 (2004), S. 1147-1152). Die Autoren stützen sich hierbei auf Walter, der auf Seite 461 folgende Grundanahmen als allgemein konsensfähig ansieht: „1. Mentale Zustände sind wesentlich durch neuronale Zustände bestimmt; 2. philosophische Theorien sollten Erkenntnissen der Neurowissenschaften nicht widersprechen und 3. aus dem Wissen über neuronale Mechanismen des Gehirns kann man etwas über mentale Prozesse lernen“. (Henrik Walter, Neurophilosophie. In: Lexikon der Neurowissenschaft, Heidelberg 2000, S. 461-464); (= Walter [2000]). Wie sich aus unseren Überlegungen ergeben wird, sind diese Thesen allerdings um so fragwürdiger, je enger sie den Bereich des Psychischen und den des Physischen korrelieren wollen. Daß Lokalisationstheorien in der Medizin eine lange Tradition haben, steht außer Frage. (Vgl. Edwin Clarke und Kenneth Dewhurst, die Funktionen des Gehirns. Lokalisationstheorien von der Antike bis zur Gegenwart, aus dem Englischen übertragen und erweitert von Max Straschill, München 1973). Sie wurden sogar zum Teil so berühmt, daß sie in die sprichwörtliche Redensart eingingen. (Vgl. Brockhaus-Wahrig: Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden bearbeitet von Gerhard Wahrig, Hildegard Krämer und Harald Zimmermann, I-VI, Stuttgart 1980-1984, hier III, S. 590 a; vgl. ebenso Lutz Röhrich, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, I-III, Freiburg im Brsg. 1992, Neudruck Darmstadt 2001, hier II, S. 720 b). So geht ‚etwas im Hinterkopf haben‘ auf den Würzburger Scholastiker Berthold Blumentrost zurück, der die Fähigkeit des Erinnerns in das Hinterhaupt lokalisierte; „prima cellulae“: „sensus communes“ (scilicet „tactus“, „gustus“, „olfactus“, „auditus“, „visus“) – „secunda cellula“: „fantasya“, „ymaginatiua“, „cogitatiua seu estimatiua“ – „tercia cellula“: „memoria"; vgl. Rüdiger Krist: Berthold Blumen-
154 trosts ‚Quaestiones disputatae circa tractum Avicennae de generatione embryonis et librum meteorum Aristotelis‘. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des mittelalterlichen Würzburgs, Teil I: Text, Pattensen bei Hann. [jetzt Würzburg] 1987 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen 43), Frontispiz, unter Rückgriff auf Walther Sudhoff: Die Lehre von den Hirnventrikeln in textlicher und graphischer Tradition des Altertums und Mittelalters, Sudhoffs Arch. 7 (1914), S. 149-205 mit Taf. 7, hier S. 190. Heute werden Lokalisationen im angewandten medizinischen Wissen berücksichtigt. Als Beispiel sei Duus genannt; hier das Kapitel „Motorische Sprachregion (Broca)“ auf den Seiten 371 bis 375. Peter Duus, Neurologisch-topische Diagnostik, Stuttgart/New York 1987. Es geht in diesem Zusammenhang aber nie darum, eine Aussage zu treffen, in welcher Weise mentale Zustände mit der Gehirnfunktion zusammenhängen sollen. 8 Wolf Singer, Keiner kann anders, als er ist. Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1. 2004, Nr. 6, S. 33 (Feuilleton), (= Singer [2004]). 9 Hans Moravec, Die Roboter werden uns überholen. In: Spektrum der Wissenschaft, Spezial (2000) 1, S. 72-79; hier: S. 75 a. 10 Singer (2001), S. 75 a. 11 Singer (2001), S. 72 a. 12 Daß er dies selbst nicht anders als im Medium des Geistes kann und folglich der Forscher in der von Singer so wenig geschätzten „Ich-Perspektive“ bleiben muß, sei nur erwähnt. 13 „Jeder kann jedermanns Körper und Gehirn beobachten, doch das Bewußtsein ist nur seinem Besitzer zugänglich“ formulierte bereits Damasio. (Antonio R. Damasio, Wie das Gehirn Geist erzeugt, Spektrum der Wissenschaft, Spezial [2000], 1, S. 56-61; hier: S. 56 b). 14 Singer (2001), S. 72 b. 15 Singer (2001), S. 72 b. 16 Vgl. Singer (2001), S. 72 b. 17 Singer (2001), S. 72 b. 18 Wie sollte man sonst die „Dritte-Person-Perspektive“ beschreiben. Nicht er oder sie forscht, denn sollten hier Menschen mit Geist gemeint sein, würden diese ja selbst wieder nur in der „Erste-Person-Perspektive“ über das Erforschte nachsinnen können. 19 Man verwechsele die von Singer so genannten Beschreibungssysteme der ersten und dritten Person nicht mit den bei Vogeley et al. (K. Vogeley, M. May, A. Ritzl, P. Falkai, K. Zilles, G.R. Fink, Neural correlates of firstperson perspective as one constituent of human self-consciousness. In: Journal of cognitive neuroscience 16 [2004], S. 817-827) genannten Perspektiven (vgl. S. 817: first-person perspective, third-person perspective). Seine Untersuchungen geben Hinweise darauf, daß beim Blick auf Gegenstände unter unterschiedlichen Betrachtungswinkeln verschiedene Hirnareale einer Versuchsperson aktiv werden. Möglicherweise kann mit den gewonnenen Er-
155 kenntnissen ein Beitrag geleistet werden, um psychopathologische Erscheinungen besser, nämlich lokalisatorisch, verstehen zu können. Genannt wird beispielhaft die Anosognosie. (Vgl. Kai Vogeley, Gereon R. Fink, Neural correlates of the first-person-perspective. In: Trends in cognitive sciences 7 [2003], S. 38-42; hier S. 41.) 20 Singer (2001), S. 72 c. Singer spricht sogar einige Zeilen zuvor vom „Verhalten von ganz einfachen Organismen“. Ob der Wurm sich freilich „verhält“ oder „etwas tut“ oder doch nur schlicht reagiert wird von Singer nicht eigens überlegt. 21 Singer (2001), S. 72 c. Daß dies nur ein ganz eingeschränkter Aspekt ist, belegen die Forschungen von Chiel und Beer (1997). Denn selbst einfache Organismen stehen im Kontakt zur Umwelt, und deren Nervensysteme reagieren ständig auf äußere Reize, wobei die sensorischen Rückkopplungen („sensory feedback“) keinesfalls vernachlässigt werden dürfen. (Hillel J. Chiel, Randall D. Beer, The brain has a body: adaptive behaviour emerges from interactions of nervous system, body and environment. In: Trends in neurosciences 20 [1997], S. 553-557; vgl. insbesondere S. 555). 22 Singer (2001), S. 73 a. 23 Einen interessanten Beitrag zu der Frage einer Wirkung von außen liefert Robert Sapolsky (Geziefer im Gehirn. In: Spektrum der Wissenschaft 5 [2003], S. 98-101). „Legionen von Hirnforschern untersuchen die neuronalen Grundlagen der Aggression: beteiligte Hirnbahnen und Botenstoffe, Wechselwirkungen zwischen Genen und der Umwelt, Neuromodulationen durch Hormone und so weiter. […] das Tollwut-Virus hat dabei die ganze Zeit über einfach ‚gewusst‘, welche Neuronen es infizieren muss, um sein Opfer tollwütig zu machen. Und meines Wissens hat noch kein Neurowissenschaftler versucht, die Tollwut als Modell für das neurologische Verständnis der Aggression zu verwenden.“ (A.a.O., S. 100 b) 24 Singer (2003), S. 11. 25 Nach Singer lassen sich neuronale Vorgänge klassifizieren „in solche, die grundsätzlich keinen Zugang zum Bewußtsein haben, solche, die wahlweise ins Bewußtsein gelangen können, und solche, die grundsätzlich bewußt sind.“ (Singer [2004]) 26 Gerhard Roth, Die Konstruktion unserer Erlebniswelt durch das Gehirn. In: TW Neurologie Psychiatrie 11 (1997), Hft. 3, S. 139-146; hier: S. 140. 27 Besser hätte formuliert werden müssen: „bereits eine von mir ‚als bewußt beschlossene registrierte‘ Bewegung“. 28 Vgl. Sukhvinder S. Obhi und Patrick Haggard, Der freie Wille auf dem Prüfstand, Spektrum der Wissenschaft 4 (2005), S. 90-97; hier: S. 91 f. 29 Detlef Bernhard Linke, Martin Kurthen, Parallelität von Gehirn und Seele, Neurowissenschaft und Leib-Seele-Problem, Stuttgart: Ferdinand Enke 1988, S. 22 (= Linke [1988]). 30 Immerhin ist gesundes Gewebe der Ausgangspunkt der Überlegungen. V. v. Weizsäcker (Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmungen
156 und Bewegen, 5. unveränd. Aufl. Stuttgart/New York 1986) hatte noch beklagt, daß Hirnfunktionen aus Einschränkungen hergeleitet wurden, die sich nach einem Untergang von Hirngewebe ergaben. Man müsse aber, so Weizsäcker, „mit einer Neuschöpfung von Phänomenen in der Krankheit […] rechnen“ (a.a.O., S. 29). 31 Damasio (2000), S. 58 a. Diesen Ansatz hält Singer übrigens für „grundlegend falsch“. (Singer [2000], S. 63 a) 32 Vgl. Linke (1988), S. 4. 33 Lawrence M. Krauss, Glenn D. Starkmann: Das Schicksal des Lebens im Universum. In: Spektrum der Wissenschaft 1 (2000), S. 52-59; hier: S. 59. 34 Denn „das Universum speichert und verarbeitet Information“ (Seth Lloyd und Y. Jack Ng, Ist das Universum ein Computer? In: Spektrum der Wissenschaft 1 [2005], S. 32-41; hier: S. 34) (= Lloyd/Ng [2005]), wobei aufgrund einer naturgesetzlich vorgegebenen Taktgeschwindigkeit sich eine Anzahl von Rechenoperationen bestimmen läßt. Was aber berechnet das Universum? „Sich selbst […] Während es rechnet, vermisst es seine eigene Raumzeit-Geometrie mit der äußersten Präzision, welche die physikalischen Gesetze zulassen.“ (Lloyd/Ng [2005], S. 41). 35 Dort, wo die höchstmögliche Dichte an Informationsspeicherung erreicht ist, gibt es keine weitere Denkmöglichkeit, da „alles“ gedacht ist, was möglich war. Die Physiker haben sich dem Problem der Speicherungskapazität gewidmet und stellten sich die Frage, wann die Grenze der Kompaktheit erreicht sein würde. Hinsichtlich der speicherbaren Datenmenge gilt: „Solange die Schwerkraft keine Rolle spielt, ist die Speichergröße proportional zur Gesamtzahl der Teilchen“ (Lloyd/Ng [2005], S. 36 c); hinsichtlich der Kompaktheit ist zu beachten, daß, wenn bei einer extremen Schrumpfung der ultimativen Rechenmaschine die Gravitation dominiert, sich die Teilchen miteinander verbinden und sie deshalb „zusammen weniger Information zu speichern vermögen“ (Lloyd/Ng [2005], S. 36 c) als vor der optimalen Verkleinerung. Diese wiederum fände ihre Grenze in einem sogenannten „schwarzen Loch“, welches dann viel weniger Daten speichern kann „als derselbe Computer vor seiner Kompression.“ (Lloyd/Ng [2005], S. 36 c). Die Rechenmaschine „Gehirn“ muß folglich – allein schon aufgrund der vergleichsweise lockeren Anordnung ihrer materiellen Strukturen – sehr bald an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stoßen. 36 Singer (2001), S. 72 a. 37 Singer (2001), S. 73 a. 38 Singer (2001), S. 73 b. 39 Singer (2001), S. 73 b. 40 Singer (2001), S. 73 b. 41 Singer (2001), S. 73 b. 42 Singer (2001), S. 73 a. 43 Singer (2004). 44 Nach unserm Verständnis führt eine noch so große Rechenleistung nicht dazu, daß, wie aus dem Nichts, Lebendigkeit entstünde. Eine andere
157 Auffassung hat hierzu Moravec. (Hans Moravec, Die Roboter werden uns überholen. In: Spektrum der Wissenschaft 1, Spezial [2000], S. 72-79). Er glaubt, daß bei einer genügend großen Komplexität, ein Roboter eine „gewisse Art von Bewußtsein erlangen“ (a.a.O., S. 79 b) könne. Und er nennt auch Daten bezüglich der Rechenkapazität. Diese liege bei einem menschlichen Gehirn bei „100 Billionen Instruktionen pro Sekunde“ (vgl. S. 76 a). Ein Affe hätte etwa den zwanzigsten Teil dieser Rechenleistung verfügbar. Computer könnten in absehbarer Zeit ähnlich leistungsfähig werden. Bis zum Jahre 2050 würden sie dann in ihrer Leistungsfähigkeit die menschliche Intelligenz überholt haben. (Vgl. a.a.O., S. 79 b) 45 Singer (2001), S. 72 b. 46 Singer (2003), S. 23. 47 Singer (2003), S. 23. 48 Singer (2003), S. 23. 49 Singer (2003), S. 23. 50 Singer (2003), S. 23. 51 Singer (2003), S. 23. 52 Singer (2003), S. 23 f. 53 Singer (2003), S. 24; Hervorhebung v. Verf. 54 Für den Hirnforscher gibt es nicht einmal einen „gleitenden Übergang vom Tier zum Menschen“ (Hans Prinzhorn, Persönlichkeitspsychologie. Entwurf einer biozentrischen Wirklichkeitslehre vom Menschen, 2. Auflage bearbeitet von Dr. Ernst Frauchiger, Heidelberg 1958; hier: S. 35; = Prinzhorn [1958]), geschweige denn einen „Wesensunterschied“ (a.a.O., S. 35) zwischen beiden. Sein fokussierter Blick auf die Nervenzelle macht ihn blind für den Dimensionssprung zwischen Tier und Mensch. 55 Singer (2003), S. 24; Hervorhebung v. Verf. 56 Singer (2003), S. 25. 57 Singer (2003), S. 25. 58 Singer (2003), S. 25. 59 Singer (2003), S. 25. 60 Singer (2003), S. 25. 61 Vgl. Singer (2003), S. 25. 62 Singer (2004). 63 Johannes v. Kries, Über die Natur gewisser mit den psychischen Vorgängen verknüpfter Gehirnzustände. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 8 (1894), Heft 1, S. 1-33; hier: S. 27; (= Kries [1894]). 64 Kries (1894), S. 27. 65 Kries (1894), S. 27. Bei Singer ist er „hinreichend lange Zeit stabilisiert“. 66 Kries (1894), S. 27. Dagegen seien die Begleiterscheinungen des Bewußtseins „gewiß nicht das, worauf es beim wirklichen Denken ankommt“, (a.a.O., S. 27). 67 Vgl. Richard Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie, zweite umgearbeitete Auflage, Leipzig/Berlin: B.G. Teubner 1925, S. 84; (= Hönigswald [1925]).
158 68 Singer (2003), S. 25. Bei entsprechenden Experimenten mit Affen wurden synchrone Entladungen mit einer Frequenz von 40 Hertz gefunden. Vgl. Singer (2000), S. 63. 69 Daß diese mit „Aufmerksamkeit belegt“ (Singer [2001], S. 73 c) seien führt nicht weiter. Selbst wenn man das Phänomen der Aufmerksamkeit auf eine physikalische Signierung reduzieren wollte, bleibt zu fragen, wie geschieht diese Signierung, welche Zellen erhalten sie, wie geht sie vonstatten? Am schwierigsten zu beantworten aber wäre: Wie gelangt die Signierung – ohne Zeitverlust! – zu anderen entsprechend „belegten“ Neuronen? (Vgl. unten Anm. 99.) 70 Hönigswald (1925), S. 84. 71 Man wende hier nicht ein, daß die „psychische Präsenzzeit“ (William Stern, Psychische Präsenszeit. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 13 [1897], S. 325-349) doch sogar psychologischen Zeitexperimenten zugänglich ist und relativ exakt ermittelt werden kann. Denn dasjenige, was sich psychologisch, wie Stern auf Seite 334 sagt, als „eine in ununterbrochener Verschiebung befindliche kleine Zeitstrecke“ beschreiben läßt, vermag uns ja nur deshalb als eine Zeitgestalt zu erscheinen, weil uns prinzipiell die Möglichkeit gegeben ist, Zeit gegenwärtig zu haben. Jenes Prinzip aber, welches es uns ermöglicht, Zeit als überschaute gegenwärtig zu haben, meint Hönigswald, wenn er von „Präsenz“ spricht. 72 In seiner Schrift Vom Problem des Rhythmus, Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie (Leipzig/Berlin: B.G. Teubner 1926) weist Richard Hönigswald auf Seite 2 darauf hin – und Keil exemplifiziert es 1997 (Gundolf Keil, Krankheit und Zeit in der Medizin des Mittelalters und der Frühmoderne. In: Trude Ehlert [Hrsg.], Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung, Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, S. 117-138) –, daß die Natur in überreicher Fülle Rhythmen darbietet: „Pulsschlag, Grillengezirpe, Brandung“. Und doch ist der Rhythmus nicht mit dem Pulsschlag, dem Grillengezirpe, der Brandung identisch. Denn er ist nicht selbst ein Phänomen der Natur. Vielmehr ist er, wie Hönigswald (a.a.O., S. 20) formuliert, „nur vermöge der Tatsache des Erlebens überhaupt“. Er ist also auf seiten der Psyche, auch wenn er sich an Erscheinungen der Natur zeigt. 73 Diese Hervorhebung heißt in der Sprache des Musikers auch „Akzent“. 74 Die kleine Terz des Kuckucksrufs kann eben nur im Zusammenklang der beiden Töne als solche erkannt werden. 75 Wenn hier vom Intervall die Rede ist, dann wird in bezug auf den Rhythmus abgehoben auf die „Folge von kurzen und langen Zeitwerten“ und auf das „Verhältnis der Längen und Kürzen zueinander“ (Leo Schrade, Das Rätsel des Rhythmus in der Musik. In: Melos. Zeitschrift für neue Musik 18 [1951], Hft. 11, S. 305-309; hier: S. 307). Schrade betont übrigens, daß nicht so sehr die „Folge von Zeitwerten“ (a.a.O., S. 308) als vielmehr die Akzentsetzung das „rhythmische Gefühl“ (a.a.O., S. 308) enthüllt. In bezug auf unser Parallelismusproblem ist das von nicht geringer Bedeutung. Denn: „Während ich wohl ganz genau feststellen kann, wie lange ein langer Ton dauert und wie lange er im Verhältnis zu anderen Tönen dauert,
159 während ich also wissenschaftlich einwandfrei alle Werte messen kann, gegenüber den Akzenten versagt die wissenschaftliche Methode“ (a.a.O., S. 308). Ich vermag nämlich nicht objektiv zu bestimmen, ob ein Akzent leicht oder schwer ist, da es „so etwas wie eine Waagschale zum Wiegen der Zeit noch nicht gibt“ (a.a.O., S. 308). Man wende hier nicht ein, daß es ja möglich sei den Schalldruck zu messen, gleichsam als könnte dieser in seiner Dynamik als ein objektives Maß für den musikalischen Akzent herangeholt werden. Denn der Akzent hat die Eigenart, nur im psychischen Jetzt definiert werden zu können. Er vermag nämlich, worauf Weber (Kaspar Weber, Beobachtungen und Überlegungen zum Problem der Zeiterlebensstörungen, ausgehend von den Veränderungen des Musikerlebens in der experimentellen Psychose, Confinia psychiat. 20 [1977], S. 79-94; [= Weber]) zutreffend hinweist, in einer Melodie nur in bestimmter Weise gesetzt zu werden, sofern wir „das Folgende schon gegenwärtig haben. Wir würden ihn anders setzen, wenn die Melodie anders weiterginge“ (a.a.O., S. 81). Das bedeutet, daß nur durch die Gegenwärtigung von Zukünftigem der musikalische Akzent überhaupt erst gesetzt zu werden vermag. Der Akzent gewinnt seine Bedeutung eben nur aus dem bereits vorweg gegenwärtig geschauten Ganzen des Musikwerks. Gilt also für den Musizierenden, daß er den Akzent im psychischen Jetzt in exspectatione („exspectatio“ sei hier mit Augustinus 20, 26 [Augustinus, Confessiones / Bekenntnisse, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, Lateinisch und Deutsch, 3. Aufl. München: Kösel-Verlag 1966]: praesens de futuris) hat und daher zur rechten (transeunten) Zeit zutreffend zu setzen vermag, so gilt für den Zuhörer, daß er den Akzent endgültig „erst rückwirkend, wenn die Melodie fertig gestaltet ist“ (Weber, S. 82), kraft der memoria zu verstehen in der Lage ist; („memoria“ sei hier mit Augustinus 20, 26: praesens de praeteritis). Daß wir aber als Zuhörer nicht bis zum Schlußakkord warten müssen, um in einem Musikstück die Bedeutung der gesetzten Akzente wenigstens vorläufig zu erfassen, liegt daran, daß wir die Einheit eines Musikstückes schon im Zuhören erfassen; wir „gewinnen sie nicht erst nachträglich aus einer Retention und Konstruktion des Gehörten“ (Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, 2. Aufl. Berlin/Heidelberg 1956, Neudruck Berlin/Heidelberg/New York 1978, S. 62). Dieses Spannungsfeld aber zwischen Erwartetem und Gehörtem – und die musikalische Auseinandersetzung in der Würdigung von beidem, so wie sie der Zuhörer im psychischen Jetzt gegenwärtig hat – macht die Lebendigkeit der Musik aus. So handelt es sich hier mithin um eine Lebendigkeit, die sich zwar in vergehender Zeit ereignet, die selbst aber, so wie der Rhythmus, keine zeitliche Erstreckung hat. Wie aber sollte ein Gehirnzustand aussehen, dem eine solche Lebendigkeit zeitlich exakt parallel gesetzt werden könnte? 76 Hönigswald (1926), S. 52. 77 Diese Forderung ist um so problematischer als neueste Forschungen belegen, daß „im Gehirn offenbar kein spezielles Musikzentrum existiert“; (Norman M. Weinberger, Wie Musik im Gehirn spielt. In: Spektrum der Wissenschaft 6 (2005), S. 30-37; hier: S. 31 c), (= Weinberger [2005]).
160 78
Hönigswald (1925), S. 77-150; vgl. das Kapitel: „Ist Psychisches zähl-
bar?“ Hönigswald (1925), S. 81. Hönigswald (1925), S. 81. 81 Richard Hönigswald, Das Problem der Schlagfertigkeit, Eine Untersuchung aus dem Bereich der kritischen Denkpsychologie. In: Analysen und Probleme (= Richard Hönigswald, Schriften aus dem Nachlass, Band 2), Stuttgart 1959; hier: S. 141. 82 Es wäre also – wenn wir den Gehirnzustand einzelnen Zellen zuordnen wollten – mit Bölsche (1922), der sich an der im folgenden zitierten Stelle mit Haeckel auseinandersetzt, zu fragen: „Wie ist es möglich, daß viele beseelte, mit einem einfachen Bewußtsein begabte Zellen zusammentretend wieder ein einheitliches Bewußtsein ergeben können? Etwa die Ganglienzellen unseres Gehirns unser Ichbewußtsein“. (Wilhelm Bölsche, Eine nichtgehaltene Grabrede: Ein letztes Wort zu Ernst Haeckel. In: Der gerechtfertigte Haeckel, hrsg. von Gerhard Herberer, Stuttgart 1968, S. 23-42; hier: S. 37). 83 Rudolph Berlinger, Unus dies par omni? In: Ders., Vom Anfang des Philosophierens, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1965, S. 63-73: hier: S. 64. 84 Hönigswald (1925), S. 324. 85 Hönigswald (1925), S. 111. 86 Hönigswald (1969), S. 179. 87 Rudolph Berlinger, Das Nichts und der Tod, Dritte, überarbeitete und erweiterte Aufl., Dettelbach 1996; hier: S. 109. 88 Im Jahre 2000 war Singer noch zurückhaltender, wenn er formulierte: „Vielleicht läßt sich ja auch die Frage, was Bewußtsein ist, niemals endgültig klären.“ (Singer [2000], S. 63 a). 89 Rudolph Berlinger, Philosophisches Denken. Einübungen, Amsterdam: Rodopi 1992 (= Elementa. Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 57); hier: S. 32. 90 Nach Damasio (2000) verfügt das Gehirn „über Vorrichtungen, die das Leben des Organismus so regeln, daß das für dessen Fortbestehen unverzichtbare innere chemische Gleichgewicht zu jeder Zeit aufrecht erhalten bleibt.“ (Vgl. S. 60 c. Gemeint ist „aufrechterhalten“.) 91 Damasio (2000), S. 59 c. 92 Weinberger (2005), S. 35 b. 93 Weinberger (2005), S. 35 b. 94 Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang bleiben, daß auch das Hören von Musik auf die Strukturen des Zentralorgans wirkt, so daß Weinberger heute konstatiert: „Die Studien bestätigen ganz klar, dass unser Gehirn dazu fähig ist, auf solche [musikalische] Einflüsse hin neuronale Verschaltungen umzuarbeiten.“ Weinberger (2005), S. 36 a. 95 Was sogar hinsichtlich einer dementiellen Entwicklung einen „Protektionsmechanismus“ bilden soll. (H. Bickel, Epidemiologie der Demenz. In: Konrad Beyreuther, Karl Max Einhäupl, Hans Förstl, Alexander Kurz [Hrsg.], Demenzen, Grundlagen und Klinik, Stuttgart/New York 2002, S. 1542; hier: S. 32.) 79 80
161 96 Eine Auffassung, die Singer so freilich nicht akzeptieren kann, da sie ein „Verursachungsproblem“ (Singer [2004]) darstellte. Singer würde die erlernten „Vokabeln“, wie ebenso die vernommene Musik, auf Hirnprozesse reduzieren, die bei häufigem Wiederholen bestimmte Verschaltungen festigten. (Vgl. hierzu auch auf S. 463 Walter [2000] und dessen Rede von „der Veränderung der Stärke synaptischer Verbindungen“.) Nach unserm Verständnis spricht Singer dann aber gar nicht mehr vom „Wort“ und freilich erst recht nicht von „Musik“. Wie auch sollte eine Symphonie von Hirnprozessen erklingen? 97 Hönigswald (1925), S. 342. Hier müßte dann erneut über das Problem der Korrelation von Psychischem zu Physischem nachgedacht werden. Unter dem von uns dargelegten Ansatz könnte ja das Denken durchaus vielfältiger sein als es materiell abgebildet werden kann. Falls dann keine eineindeutige Zuordnung vorliegen würde, könnte eine unbegrenzte Vielfalt von „Denkinhalten“ auf je verschiedene Hirnstrukturen zurückgreifen, um verlautbart werden zu können. 98 Prinzhorn (1958) spricht in diesem Zusammenhang von der Marionettenhaftigkeit eines so verstandenen Menschen. (Vgl. S. 35). 99 Der Prozeß selbst kann freilich nie „kognitiv“ sein. Er ist ja nur ein strikt biologisch ablaufender Vorgang, der sich in seinem gesetzhaften Verlauf letztlich, wenn auch viel schwieriger, so exakt erfassen läßt, wie das Herabrollen einer Kugel auf der schiefen Ebene. Ähnlich unverständlich ist die Formulierung, daß Nervenzellen sich zu „synchron oszillierenden Ensembles“ zusammenschließen, „wenn die Inhalte die sie codieren … mit Aufmerksamkeit [!] belegt werden.“ (Singer [2001], S. 73 c) 100 Singer (2001), S. 72 a. Man beachte: Die Telefonate bedingen offensichtlich den Hirnprozeß und nicht umgekehrt. 101 Was wir sagen wollen, kann auch hier wieder Musik verdeutlichen. Berlinger spricht von ihr als der „Weltmetapher“ (Rudolph Berlinger, Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen, Amsterdam: Rodopi 1988 [= Elementa. Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 49]; hier: S. 319). Denn in Musik kommen Zeit und Freiheit zusammen. An ihr ist daher beispielhaft der Schnittpunkt von Soma und Psyche sichtbar.
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Kurt Mager WISSEN ALS VERRAT AN DER FREIHEIT DER EXISTENZ? Zum Problem der Subjektivität bei Karl Jaspers In der Gegenwart hat die Existenzphilosophie wie auch das Denken Karl Jaspers’ an Ausstrahlung und prägender Kraft verloren. Bedenkt man jedoch die etwa vor zwei Jahrzehnten angestoßene philosophische Diskussion um das Subjekt, so bedeuten die für Jaspers grundlegenden Gesichtspunkte von Subjekt und Existenz auch heute noch eine Herausforderung für jedes Nachdenken über den Begriff der Subjektivität. Im Hinblick auf die durch Freiheit und Transzendenz bestimmte Existenz wird der Jaspers’sche Begriff des Subjektes kritisch untersucht.
I. Person und Existenz1 Zu Beginn der Neuzeit wird mit dem Subjekt der Gedanke eines autonomen und kreativen Individuums verbunden. Von diesem Begriff her läßt sich eine Brücke zur christlich verstandenen Persönlichkeit, zur Person und zur Existenz schlagen. Gegen den Persönlichkeitsbegriff Goethes der von einer abgeschlossenen Ganzheit einer Persönlichkeit ausging, entwickelt sich nach negativen gesellschaftlich-geschichtlichen Erfahrungen ein Unbehagen. An die Stelle des individualistisch gefärbten Persönlichkeitsbegriffes, trat der mehr abstrakte, das Allgemeine im Menschen betonende Begriff der Person wie er etwa von Romano Guardini vertreten wurde: Person ist das „gestalthafte, innerlich geistige schöpferische Wesen, sofern es in sich selbst steht und über sich selbst verfügt.“2 Person weiß sich in diesem Sinne geborgen im Leben des Geistes, „aber nun nicht mehr allein aus der Bildungs- und Gestaltwelt des Geistes, sondern aus einer innerlichen Rückbindung an das Prinzip des Geistes, den
164 Geist Gottes.“3 Ist aber dieser Glaube an einen persönlichen Gott angesichts der Unheilserfahrungen und Krisen des Geistes in Frage gestellt oder gar aufgehoben, so kann auch im Begriff Persönlichkeit keine „Abrundung des Menschseins“4 mehr gesehen werden. Jaspers grenzt deshalb die Existenz vom Daseinssubjekt ab. An die Stelle der abgerundeten Persönlichkeit „tritt der Begriff der Existenz in der Situation der Aufgebrochenheit, der Grenzerfahrung und der Zerrissenheit“5 des Seins. Die Dimension des Daseins des Subjektes entspricht nun dem Bewußtsein überhaupt. Subjekt meint hier den „ganz auf sein Daseinsinteresse konzentrierten mit seiner Selbsterhaltung beschäftigten im ‚Kampf ums Dasein‘ stehenden Ichpunkt oder das beliebig austausch- und ersetzbare Verstandessubjekt“, das sich vornehmlich „in Wissenschaft und Technik wegen einheitlicher Konstitution des ‚Bewußtseins überhaupt‘ universal einsetzen und funktionalisieren läßt“6. Damit ist zunächst einmal ein Subjekt definiert, das in seiner Gestalt rational im Denken erfaßt werden kann. Dieses Subjekt wird überstiegen und verwandelt sich zur Existenz. Existenz aber vollzieht sich „nicht mehr aus der Harmonie ihres Geistwesens und in ihrer Unmittelbarkeit als Geist zu Gott“7, sondern vermittelt ihr Sein aus dem Scheitern, nicht also aus „affirmativer Unmittelbarkeit“8, sondern aus den Erfahrungen der Negativität. „Existenz gewinnt keine Rundung als Bild, weder für andere, noch für sich selbst; denn der Mensch muß in der Welt scheitern.“9 Existenz durchbricht vielmehr dieses geistig gerundete Bild der Persönlichkeit. „Existenz verhindert daher das Selbstmißverständnis der Persönlichkeit“10, die sich nach Jaspers als Ganzheit gegenüber der Wirklichkeit abschließt und isoliert, und damit einen echten Begriff der Persönlichkeit ermöglicht. Persönlichkeit steht nun im Dienst der Existenz: Existenz „tritt in die Subjektivität durch Erscheinungen in dem Einzelnen als Idee seiner Persönlichkeit, ohne mit dieser identisch zu werden“11. Wirklichkeit kann bei Jaspers nicht zureichend im
165 Begriff des Geistes und der Totalität seiner Ideen im Sinne der ganzheitlichen Persönlichkeit erkannt werden, weil diese Wirklichkeit jede Ganzheit durchbricht und umgreift. „Der Ort ursprünglicher Wirklichkeitserfahrung liegt allein in dem durch Begriffe des Verstandes und des Geistes nicht mehr fassbaren Einheits- und Integrationspunkt der Existenz“12. Existenz ist weiter der Ursprung für das Vernehmen der Transzendenz. „Existenz ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält.“13 Transzendenz aber legt sich als ein nicht festumrissenes Gottesverhältnis aus. In dem Transzendenzverhältnis eröffnet sich dem Individuum vielmehr der Abgrund der Wirklichkeit.
II. Existenz und Kommunikation Das Individuum wäre jedoch in der Gewinnung seiner möglichen Existenz nicht vollständig erfaßt, wenn nicht der soziale Bezug in der für das Individuum notwendigen Kommunikation mitberücksichtigt würde. „Ich kenne ein Angesprochenwerden, auf das ich als eigentlich ich selbst innerlich antworte, durch Verwirklichung meines Seins. Was ich bin, dessen werde ich aber nicht als isoliertes Wesen inne.“14 Gegen die Zufälligkeit meines empirischen Daseins in seinem Eigenwillen erfahre ich mich in der Kommunikation: „Daß ich selbst bin, ist mir nie gewisser, als wenn ich in voller Bereitschaft zum Anderen bin, so daß ich ich selbst werde, weil im offenbarenden Kampfe auch der Andere er selbst wird.“15 Damit ist eine gedoppelte Relation des Subjektes als Existenz zum Ausdruck gebracht. Einmal ist es die Existenz, die sich als Wirklichkeit nur innerhalb dieser aktualisierten Existenz aus der Transzendenz begreifen kann, zum anderen erfahre ich mich in meinem individuellen Sosein nur im Dialog mit dem Anderen.
166 III. Vom Subjekt zur Existenz Diese Existenz aber setzt bei Jaspers auch Phasen ihrer Selbstwerdung voraus. Ich stehe zunächst in einem unmittelbaren Dasein, ich verwirkliche die mir nächsten Zwecke und denke an meine Aufgaben. „Zwar sage ich ‚ich‘, aber ich bekümmere mich nicht, in welchem Sinne ich bin.“16 Diese Daseinsunmittelbarkeit, das noch unreflektierte Verhältnis zum Sein, kann durch eine „Erschütterung in der Situation“17, durch eine „Grenzerfahrung“, die die Selbstverständlichkeit des Daseins aufhebt, durchbrochen werden. Es ist aber möglich, daß sich auf diesem Wege das Problem und die Frage nach der eigenen Identität aufhebt. Die Frage nach meinem So-sein kann wieder abgewehrt werden. Es entsteht dann eine „defiziente Daseinsunmittelbarkeit“18, die mit einer Selbstentäußerung an die „Belanglosigkeit des Daseinsgeschäftes“ oder fanatische Hingabe an „verabsolutierte Ziele“19, sich ihrer Existenzmöglichkeiten begibt und sie verfehlt. Der Weg zum Selbstwerden als Existenz führt also über die Selbstüberwindung des Daseins. „In der Erscheinung werde ich mir selber nur durch Selbstüberwindung. Ich konnte empirisch mein Sein als meine Anlage, als mein Nun-einmal-Sosein auffassen; für mich als eigentlich selbst ist mein Charakter nicht Ich; ich habe ihn und verhalte mich zu ihm. Sein blindes, weil gegebenes Sein verwandle ich kämpfend in ein frei gewolltes, entfalte in ihm mich selbst und übernehme es als meine Schuld. Das ‚ich selbst‘ stellt mich über den Charakter von einer rein formellen Unabhängigkeit in passiver Betrachtung aufsteigend bis zur aktiven Einwirkung.“20 Das Ich wirft „Schalen seines Selbst“21, die von ihm als unwahr bezeichnet werden, ab, „aber um das tiefere und eigentliche unendliche, wahre Selbst zu gewinnen. Im Untergehen zu sich kommen ist die Erscheinung des Selbstseins“22. Das Dasein bricht auf in das Verhältnis, „das mit dem Selbstverhältnis in der Selbstreflexion beginnt“23 und zu den „Antinomien des Selbstseins“ führt.
167 Solche Antinomien kommen in folgenden Passagen zum Ausdruck: „Ich erscheine mir in der Zeit, in der ich nie ganz sein kann. Wenn ich eigentlich bin, bin ich mir zugleich Aufgabe.“24 Ich kann mich an dieser Stelle nur in Scheinwissen verlieren. „Jedes Sprechen von diesem eigentlichen Selbstsein mußte ohne gewußtes Resultat bleiben.“25 Die Erscheinung ist nicht das Selbst, „das rein und ganz in ihr sich erschiene, so muß sich wegen einer nie aufhörenden Inadäquatheit sowohl die Erscheinung, wie das Sprechen von ihr in sich unaufhebbaren Widersprüchen bewegen“26. Auch auf dieser Stufe gibt es Mängel und Fehlleistungen. Diese entstehen durch „Selbstauflösung“ der Selbstüberwindung, durch „Ichlosigkeit“27 oder dadurch, daß die „Selbstreflexion als unendliche Reflexion in sich selbst kreist“28. Diese unendliche Reflexion kann in den „völligen Ruin“29 führen, sie kann aber auch „Bedingung echter Existenz“30 werden, sofern sie den die Selbstreflexion beendenden Willen, die Glaubensentscheidung, den Entschluß zur Existenz ganz im Sinne von Kierkegaard auf sich nimmt. Die unendliche Reflexion, die einen nihilistisch auflösenden Charakter zeigt, ist jedoch auch Bedingung der Freiheit. Sie sprengt jedes „Gefängnis des Endlichen“31. Die Entscheidung zur Existenz ist zugleich ein Akt der Freiheit. Selbstreflexion wird also auf dem Weg zur Existenz „ihrem Sinne nach ein jeweils transitorisches Medium verlorengegangener und wieder herzustellender Unmittelbarkeit“32. Die Reflexion wird durch das beendet, auf das sie reflektiert, das „ich selbst“, „von dem sie ihrerseits doch nur in Bewegung gehalten war“33. Eine sich aber verabsolutierende Reflexion endete im Sichausbleiben der Existenz: „Nur weil es eine Ursprünglichkeit gibt, die sich reflexiv nicht brechen läßt, die Unbedingtheit der Existenz in Freiheit und Kommunikation, läßt sich Reflexion zum ‚faktischen Existieren‘ aufheben“34. Unter diesen Voraussetzungen kann Existenz nicht mehr reflexiv eingeholt und erzwungen werden, sie ist vielmehr in ihrer Freiheit „ein ‚Sichgeschenktwerden‘ aus Kommunikation und Transzendenz“35.
168 Dieses eigentliche Selbst, „was ich gleichsam ewig von der Transzendenz bin“36, tritt an die Zeitlichkeit meines gegenwärtigen Lebens nun als unbedingte Forderung an das jeweilige Dasein heran. In diesem Sinne bin ich auch ein Repräsentant der Ewigkeit in Zeit. „Im Untergehen zu sich Kommen ist die Erscheinung des Selbstseins“37. An der Grenze vom Dasein zum Selbstsein bricht „das Dasein auf in ein Verhältnissein, das mit dem Selbstverhältnis in der Selbstreflexion beginnt.“38 Mit der Herstellung von Verhältnissen ist aber noch nichts über die Wahrheit dieser Verhältnisse entschieden, vielmehr „muß ein ‚Sprung‘, ein Durchbruch durch das reine Verhältnissein“39 dorthin getätigt werden, wo „das Verhältnis zum Verhalt“40 wird. Erst hier läßt sich die Doppelung des Verhältnisses (zum Anderen, zur Transzendenz) als Definition der Existenz entfalten „als die positive (d.h. glaubende und kommunikativ verantwortete) Entscheidung des Sinnes und der Bedeutung menschlichen In-verhältnis-seins“41, als Verhältnis zum Verhältnis verstehen. Selbstsein besteht somit in der kommunikativen Existenz und im kommunikativen Vollzug dieser Existenz, sowohl im Sein zum Anderen, als auch zur Transzendenz. Dies ist die Wahrheit des Verhältnisses. Damit ist das Selbstsein der Existenz vorausgesetzt. Selbstsein der Existenz ist darum das Wahrsein der menschlichen Seinsverhältnisse. „Allerdings garantiert das Wahrsein kraft existenzieller Kommunikation nicht die Wahrheit des Seins.“42. Wahrheit bleibt geschichtlich. Wahrheit kann auch geschichtlich bleiben, da diese Existenzdefinition das Zusammenbestehen der Freiheiten und des geschichtlichen Andersseins der Selbstseienden ermöglicht, ,,solange das Fundament des Existenzverhältnisses gewahrt bleibt“43. Der Mensch kann damit als Existenz leben. „Das Wahrsein des Existenzverhältnisses wird zum Halt und Verhalt im Unbedingten.“44 In der Durchsichtigkeit „ihres Verhältnisseins vermag sich Existenz in ihrer geschichtlichen Bindung frei zu verstehen.“45
169 IV. Existenz und Freiheit Das freie Wollen als eigentlicher Ausdruck der Existenz erweist sich als das Andere, als das Geschenk: „Je entschiedener ich frei bin, desto klarer wird mir bewußt, daß ich in meiner Freiheit mir geschenkt werde. Ich kann zwar wollen, wenn mir mein Wollenkönnen zuteil wird, aber ich kann nicht das Wollen wollen, wenn es mir ausbleibt. Ich bin frei durch eine Macht, die nicht die meine ist.“46 In dieser Möglichkeit, daß ich mir ausbleiben kann, sieht Jaspers die geheimisvolle Grenze, die er mit der möglichen „Erfahrung des Sichgeschenktwerdens“47 gleichsetzt. Mit Aktualisierung der Freiheit trifft der Mensch in dieser Freiheit auf etwas „was nicht nur ich selbst bin“, er trifft auf Transzendenz, auf einen Freiraum, auf eine Dimension, die der Freiheit Raum gibt: „Indem ich frei bin, erfahre ich in der Freiheit, aber nur durch sie, die Transzendenz.“48 Erst in der existentiellen Freiheit erfüllt sich das Freiheitsbewußtsein. „Transzendental gedachte Freiheit ist bei Jaspers Basis und Voraussetzung jeder philosophischen Erhellung von Freiheit, da sie als Bedingung der Möglichkeit menschlichen In-Verhältnis-Seins (auch des Denkens) gedacht wird“, „das seinen fundamentalen Ausdruck in der Unbedingtheit des Seins-zum-Anderen hat.“49 Diese Freiheit entscheidet nach einem Gesetz, das ich als verbindlich anerkenne und worin ich frei bin. Das Seinkönnen des Menschen in der Wahrheit (Sittlichkeit, Grenzbewußtsein) ist das Umwillen, der Zweck und das Gut, in dessen Dienst sich die transzendentale Reflexion stellt. Der philosophische Glaube der Transzendentalphilosophie besteht also in dem Glauben an das Unbedingte, die Freiheit beruht auf dem Glauben eines unbedingten Aktes der Freiheit, dem Transzensus schlechthin, die das Erscheinungssein transzendiert: „Der Mensch der sich wirklich seiner Freiheit bewußt wird, wird sich zugleich Gottes gewiß. Freiheit und Gott sind untrennbar. Warum? Ich bin mir gewiß: in meiner Freiheit bin ich nicht durch mich selbst, sondern ich werde in ihr mir geschenkt, denn
170 ich kann mir ausbleiben und mein Freisein nicht erzwingen.“50 Da nun Freiheit „etwas Unerkennbares, Unbeweisbares, niemals etwas Gegenständliches ist, etwas ist, das sich aller forschenden Wissenschaft entzieht“51, besteht die Selbsterfahrung der Freiheit in einem Akt existentiellen und philosophischen Glaubens, in einer „glaubenden Wahrnehmung“52. Freiheit ist keine Wesenseigenschaft des Menschen, sie ist vielmehr ein Freiheitsbewußtsein, das der Selbstverständigung bedarf über das Freigesetztsein der Freiheit und seinen Sinn in der Abgrenzung von Willkür, in der Analyse ihres unbedingten Gesetzes als transzendentaler Freiheit und ihres regulativen Charakters als Idee in ihrer Erfüllung, als Wahl der Existenz und Bindung an Transzendenz.
V. Das absolute Bewußtsein „Die Möglichkeit, deren sich Existenz an den Grenzen gewiß werden kann, ist Freiheit in Kommunikation und Geschichtlichkeit“53. Dieses ihr Selbstverständnis spricht sich in einem an Hegel nur äußerlich erinnernden absoluten Bewußtsein aus. „Absolutes Bewußtsein ist nicht als allgemeine Form; in ihm ist Form und Gehalt nicht trennbar. Der Gehalt selbst in seiner ursprünglichen Erscheinung ist das absolute Bewußtsein als Gewißheit der Existenz, nicht als Wissen der Existenz von sich.“54 Gerade in dem „Nichtwissenkönnen des Seins“ werde das Nichtkönnen „nicht mehr nur ertragen, sondern vielmehr ergriffen als der Preis der Gewißheit eigentlichen Selbstseins im bezug auf seine Transzendenz.“55 Es ist die Gewißheit, daß ich in den Grenzsituationen doch leben kann und es ist nach Jaspers die „Koinzidenz von Liebe, Glaube und Phantasie“56, die dieses Weiterleben überhaupt ermöglicht. Ein „Indiz“ aber für das absolute Bewußtsein ist das Gewissen als die Stimme des eigenen Selbst: „Das Gewissen“ ist „unmittelbar Ausdruck des absoluten Bewußtseins.“57
171 VI. Die Wißbarkeit von Existenz Existenz, die erst im Aufschwung aus dieser Subjektivität gewonnen und gelebt wird, die als je anders verwirklichte Möglichkeit der Individuen in Erscheinung tritt, versteht sich als Ursprung von unmittelbarer Wirklichkeit: „Als Existenz ist der Einzelne der Ursprung, der vor dem bloß Individuellen und dem bloß Allgemeinen liegend, beide beseelt.“58 Existenz als das eigentliche Seinkönnen umgreift nach Jaspers die einzelnen Akte und Eigenschaften wie Selbstsein, „Kommunikation, Geschichtlichkeit, die „signa der Existenz“ sind. „Existenz dagegen bleibt in allem geistigen Hellwerden der immer auch unaufhebbare dunkle Ursprung.“59 Existenz wie Transzendenz werden in der Existenzerhellung von Jaspers „am Leitfaden der Wissensfrage“60, nämlich in Abhebung von Welt als dem Inbegriff des Wißbaren eingeführt. Jaspers selbst nennt Welt „den Inbegriff all dessen, was mir durch Orientierung des Erkennens als ein zwingend für jedermann wißbarer Inhalt zugänglich werden kann“61. Aber alles Sein sei nicht mit dem Weltsein erschöpft: „Was in mythischer Ausdrucksweise Seele und Gott heißt, in philosophischer Sprache Existenz und Transzendenz, ist nicht Welt. Sie sind nicht im selben Sinne, wie Dinge der Welt als Wißbarkeiten, aber sie können auf andere Weise sein.“62 Das Sein der Existenz wird nur im „Vollzug des Existierens selbst zugänglich“63, nicht aber durch „erzwingendes Wissen“64. Schon der „Wille, zu wissen wird auf dem Gebiet der Existenz als verderblich“65 zurückgewiesen, da jenes fixierende Wissen schon jene Unsicherheit der Existenz aufheben würde: „Dieser Wille, zwingend zu wissen, was seinem Wesen nach nicht wißbar ist, wird zum Verrat an der Existenz.“66 Ontologie ist für Jaspers die Lehre vom Sein schlechthin. Sie ist „Wissen und Wissenwollen dessen, was das Sein eigentlich ist, in Form einer Begrifflichkeit, welche es konstruktiv darbietet“67. Ontologie aber täuscht durch Verabsolutierung von Et-
172 was, „wovon das Andere sich herleiten soll. Sie fesselt an objektiv gewordenes Sein und hebt Freiheit auf.“68 Jaspers eigene Methode der Existenzerhellung versteht sich als „ein appellierendes Sprechen“, „um damit jede Möglichkeit der Zurücknahme des Ausgesprochenen in die Form eines gesicherten Besitzes zu verhindern“69. Im appellierenden Aussprechen des Existentiellen handelt es sich nicht um eine einfache Wissensvermittlung, sondern darum, daß sich dadurch „im Mitdenkenden der Funke des Selbstseins entzündet, welchen direkt zu vermitteln unmöglich ist“70. Dies meint bei Jaspers „indirekte Mitteilung“. Freiheit der Existenz verlangt deshalb die Trennung von Appell und zwingendem Wissen. „Was der Mensch sei, ist ontologisch nicht zu fixieren“71. Ontologische Aussagen über Existenz führten zu einer neuen Objektivität des Subjektes und zu einer Erstarrung des appellierenden Denkens, die „in ihrer Erkenntnisbedeutung nichtig und ein Werkzeug des Mißbrauchs“72 sei. Letztlich verhinderte sich nach Jaspers die Existenzerhellung selbst, wenn sie sich zu einer ontologischen Theorie entfaltete, weil Existenz sich nicht objektivieren lasse:73 „Dieser Wille, zwingend zu wissen, was seinem Wesen nach nicht wißbar ist, wird zum Verrat an der Existenz.“74
VII. Kritik Existenz kann sich allein dadurch als „Quellgrund“75 durch kompromißloses Durchhalten der Unruhe verwirklichen. Da Wissen Sicherheit und Ruhe gibt, muß „der Schein von Wissen immer wieder aufgehoben werden.“76 Aber bei strenger Durchführung der Existenzerhellung erweist sich die Unmöglichkeit, aus den appellativen Sätzen weitere Folgerung zu ziehen, „oder in einem konstruktiven Aufbau Beziehungen oder Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den einzelnen Sätzen und damit zwi-
173 schen den einzelnen Seiten des menschlichen Daseins herzustellen.“77 Nach Otto Friedrich Bollnow beruht jeder einzelne Satz unmittelbar in der Erfahrung der Existenz, auf die er appellierend sich wieder bezieht, es sei aber nicht möglich, diese Sätze auf einen gewissen Grad der Bestimmtheit zu bringen. Reine Existenzerhellung verbleibt so auf einer rein beschreibenden Ebene. Jaspers kann auf dieser Basis nicht zum Ganzen im Sinne „eines konstruktiven Durchgreifens“78 kommen. Zwar bemüht er sich um Vollständigkeit und Allseitigkeit, um ein möglichst lückenloses Aufzeigen aller menschlichen Möglichkeiten, aber die Gliederung der verschiedenen Seiten bleibt, „da ein konstruktives Bezugssytem ausgeschlossen bleibt, nur Frage der äußeren Anordnung.“79
1. Erkenntnis und Subjekt Jaspers versteht objektives Wissen „im Sinn von Gegenständlichkeit“ und objektiv „im Sinn von Allgemeingültigkeit“. Dieses bei Jaspers zugleich theoretische und wertfreie Wissen bringt natürlich nicht die einzige Form von Wahrheit zum Ausdruck. Jaspers ist vielmehr ein einseitig positivistischer und naturwissenschaftlicher Wissensbegriff zu unterstellen. So sei in den Geisteswissenschaften kein „zwingendes Wissen“ zu gewinnen. Einzig aber dieses zwingende Wissen wird bei Jaspers als Wissenschaft anerkannt. Die Sonderung von Wesentlichem und Unwesentlichem (die Wertung also) liegt deshalb schon „außerhalb des zwingend Beweisbaren“80. Dies bedeutet aber, „daß in den Geisteswissenschaften alle wesentliche Einsicht außerhalb der Wissenschaft liegt.“81 Die von Jaspers hochgeschätzte Webersche Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft kann sich aber in den Geisteswissenschaften nur auf die „Ausschaltung willkürlicher und vermeidbarer Wertungen“82 beziehen. Der Wert selbst jedoch „ist nichts, was erst hinterher einer an sich wertfreien Sache aufgeklebt würde, sondern konstituiert die Sa-
174 che erst als möglichen Gegenstand geisteswissenschaftlicher Betrachtung“83. Jaspers anerkennt nur dort Wissenschaft, „wo ihre Ergebnisse unabhängig von allen Besonderheiten des erkennenden Subjektes sind“84. Das Hineinkommen „der erkennenden Subjektivität bedeutet für ihn notwendig eine Verunreinigung des Erkenntnisvorganges“85. Alles Eingehen irgendwelcher Besonderheiten des erkennenden Subjektes in die geisteswissenchaftliche Forschung sei „unwahre Subjektivität“86. Die so von Jaspers als unwahr „diffamierte“ rationale Subjektivität ist jedoch die Voraussetzung für die Geisteswissenschaften. Das „Eingehen der persönlichen Besonderheit“ im Akt des Erkennens und Verstehens ist keine Störung, die man nach Möglichkeit zu vermeiden habe, sie ist im Gegenteil gerade „die Bedingung der Möglichkeit echter Objektivität im Sinne eines den Gegenstand in seiner Tiefe aufschließenden Verstehens“87. Objektives Verstehen im eigentlichen Sinne vollziehe sich vielmehr erst „in der lebendigen Berührung des innersten Kerns des Subjektes mit dem Kern des Objektes“88. Mit der Möglichkeit der Erkenntnis stehe und falle vielmehr die Philosophie, nämlich „die Möglichkeit, überhaupt Sätze durch Folgerungen zu verbinden“. Die Jaspersche Voraussetzung, daß in dieser Dimension der Existenz alle Objektivität falsch sei, macht aber „existentielle Aneignung geradezu unmöglich“89.
2. Die Unsicherheit der Existenz und Handlung als Problem Die Unsicherheit von Existenz stellt bei Jaspers jeden erreichten Status für den Menschen wieder in Frage. Das Existieren wird dadurch in seiner ganzen Schärfe hervorgetrieben. Jaspers ruft die Unruhe hervor und verhindert ihr Absinken in Sicherheit. „Die Frage aber ist, ob die Unsicherheit als solche künstlich erstrebt und bewahrt werden kann oder ob die Unsicherheit als solche erstrebt und als solche festgehalten, nicht schon sich sel-
175 ber aufhebt.“90 Unsicherheit ist gewiß ein schöpferisches Moment im Leben, indem sie es bei keinem erreichten Ziel und keinem gestalteten Werk zur Befriedigung kommen läßt. Sie bleibt „notwendige Begleiterscheinung“, ist „aber kein Ziel, das man als solches erstreben könnte“. Sie wird bei Jaspers aber in einem solchen Maß verselbständigt und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt, daß dadurch ihre „erregende vorwärtstreibende Kraft verlorengeht“91. Die damit gegebene Asymmetrie von Innerlichkeit und Äußerlichkeit wird bei Jaspers nicht durch das Handeln überwunden, da das Wesentliche des Handelns sofort wieder auf der Seite des begleitenden Bewußtseins gesehen wird. „Wenn auch Jaspers selbst betont, daß Existenz außerhalb der Möglichkeit einer planenden Verwirklichung stehe, so bleibt dennoch das Ganze seiner Philosophie ein umfassend angelegter Versuch zur Pflege einer weltlosen Innerlichkeit.“92 Das Wagnis einer bestimmten Aussage wird erst gar nicht auf sich genommen. Der Mensch im Jasperschen Sinne hat nämlich von der natürlichen Wegwendung von sich an die Sache abgesehen, er hat sich in sich selbst zurückgezogen und den Zusammenhang mit der echten Realität verloren. Nach Bollnow müßte an die Stelle eines selbstgenügsamen Subjektes das spannungshafte Verhältnis zum Werk zu treten. In ihm entsteht erst jene Spannung des Menschen, die auf Dauer echte Existenz hervorbringen kann. Zwar kennt auch Jaspers das Heraustreten des Menschen aus der Sphäre der Innerlichkeit in die des Handelns. Handeln ist für ihn jedoch nur das „Verwirklichen endlicher Ziele, die als solche vorher gefasst und dann ausgeführt werden“93. Nach Bollnow liegen aber diese Handlungen „in einer Sphäre, die dem Kern des Menschen äußerlich bleibt“94. Darum haben solche Handlungen auch keinen inneren Wert. Selbst der Begriff der „unbedingten Handlungen“95 sprengt diesen Rahmen nicht. Die Unbedingtheit liegt angesichts der Diskrepanz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit einzig auf der Seite des begleitenden Bewußtseins, verändert aber nicht das
176 Wesen der Handlung als solcher. In Wirklichkeit liegt in jeder Handlung auch ein schöpferischer Zug, der von bloßer Zweckhaftigkeit befreit. Jaspers aber schaltet diesen kreativen Zug als existenziell belanglos aus, er führt alles Schaffen auf bloßes zweckhaftes Handeln zurück:96 „Alles Handeln bleibt dem Menschen im Letzten äußerlich; es ist nicht volle Hingabe an ein Werk.“97 Elisabeth Hybasek bringt im Zusammenhang von Selbstsein und Handeln auch das methodische Dilemma in Jaspers Philosophie zur Sprache, das darin besteht, daß weder das Selbstsein des Menschen objektivierbar ist, noch sich der normative Gehalt des Selbstseins „verallgemeinernd darstellen ließe“98. Wenn die Unbedingtheit menschlichen Handelns für Jaspers Maßstab und konstitutiver Bestandteil des Selbstseins ist, so ist eben damit gemeint, daß „der einzelne Mensch den unbedingten Sollensanspruch, den er sich selbst gegenüber als mögliche Existenz stellt, in einen Sollensanspruch der Welt, d.h. dem Staat, der Gesellschaft und allen objektiven Welteinrichtungen gegenüber umsetzt“99. Mit dieser Forderung, in der Welt „nach dem in ihm erhellten Handlungsmaßstab seines Selbstseins zu agieren“, tritt er in „die Spannung von Subjektivität und Objektivität“100. „Existenzielles Sollen, das der Mensch an sich wahrnimmt und objektives Sollen, als realer Anspruch der Daseinswirklichkeit in Gestalt von Staat und Gesellschaft geraten miteinander in Konflikt.“101 Diesem Konflikt muß sich jeder Einzelne, will er die Möglichkeit sein Selbstseins nicht verwirken, stellen. Jaspers bleibt die Frage schuldig, wie sich die Unbedingtheit des Einzelnen in der Welt, in Staat, Gesellschaft, Politik äußert, da bei ihm die Objektivierbarkeit „ethischer Normen des Selbstseins ‚im großen und ganzen‘ nicht möglich ist.“102
177 3. Erleben Existenz findet ihren letzten Halt in der Transzendenz; sie ist das Einzige, dem sich Existenz restlos hingeben kann. Der religiöse Akzent ist bei Jaspers hier unverkennbar. Jaspers meint, daß der Mensch als Existenz die Transzendenz erlebt. Dies führt zu erkenntnistheoretischen Fragen an die Leistungskraft des Erlebens. Gibt das Erleben tatsächlich die Gewähr dafür, daß das transzendente Eine eine an sich seiende Wirklichkeit ist? Ist es unter der Jasperschen Voraussetzung des Erlebens nicht vielmehr ein subjektives Phänomen? Wenn dieses Erleben nur die Wirklichkeit der Transzendenz erschließt, so bleibt die Frage offen, ob „die in dem Schluß enthaltene Annahme zutrifft oder nicht“103. Das Wahrheitsproblem taucht hier wieder in der Weise auf, wie es Jaspers nur innerhalb der Sphäre des Bewußtseins anerkennen kann. Es bleibt ungeklärt, ob dieses Erleben ein tatsächliches oder nur vermeintliches Wissen verbürgt. Es bleibt ungeklärt, ob dieses Wissen eine Wirklichkeit oder nur eine Täuschung ist. Es muß mehr über sie gewußt werden, wenn von ihr behauptet wird, daß sie der menschlichen Existenz einen Halt gibt. Dies aber setzt voraus, „daß sich sowohl theoretische Kategorien und Wertprädikate auf die Transzendenz mit Recht anwenden lassen.“104 Hanoch Tennen meint, daß zwar das Wissen bei dem von Jaspers geschätzten Kant im Bereich des Übersinnlichen leer bleibt und daß er seinen Ideen der theoretischen Vernunft keine Objektivität zu verleihen vermag. Dies beweise jedoch noch lange nicht, „daß Erkenntnis im Bereich des Übersinnlichen notwendig negativ enden muß“105 und notwendig einem formlosen philosophischen Glaubensakt überantwortet werden kann. Verzichtet nämlich das Erleben auf jede weitere theoretische Deutung und behauptet, daß in ihm „das eine Sein selbst anwesend sei und die scheinbare erkenntnistheoretische Problematik nur dadurch auftrete, daß man sich vom Berühren der Existenz mit der Transzendenz gar keine inhaltlichen Vorstellungen ma-
178 chen könne“, dann ist das, was Jaspers ja auch behauptet, „nicht mehr unterscheidbar von den Lehren jener Mystiker, die vom vollkommenen Einswerden der Seele mit Gott sprechen“106.
4. Die Paradoxie des Selbstseins Nach Wolfgang Stegmüller ist das Selbstsein eigentlich gar kein Sein, da Jaspers bekanntlich auf die Ontologie verzichtet, sondern lediglich ein Seinkönnen, das dann veranschlagt wird, wenn der Mensch „sein ihm gegebenes Dasein in seiner Beschaffenheit ergreift und verwandelt“, es also erst als Mensch beseelt. „Hier liegt ein letztes und unerklärliches Geheimnis: etwas, das mehr ist als Dasein, verhält sich zum Dasein und entscheidet aus einem Ursprung, welcher nicht im Dasein liegt“107, sondern in der Transzendenz gegründet ist. Wenn das mit einem Freiheitsbegriff verbundene existentielle Selbstsein mit der Transzendenz verknüpft wird, so ist nach Stegmüller diese Verknüpfung „kein logisch zwingendes Faktum“108, sondern vielmehr eine der rational nicht mehr auflösbaren Paradoxien von Jaspers, „daß ich frei sein kann nur durch etwas Anderes als ich selbst bin“109. Wenn nun nach Jaspers das eigene Tun nicht genügt, den Aufschwung aus dem bloßen Dasein zur Existenz zu schaffen, weil Kommunikation, Transzendenzerlebnis und das Sichgeschenktwerden durch die Transzendenz als Voraussetzungen bindend sein müssen, so bedeutet dies nichts anderes als „die existenzphilosophische Deutung des religiösen Begriffs der ‚Gnade‘, die auch ausbleiben kann“110. Wir haben uns im Nachvollzug der Selbstreflexion Gestalt, Leistungskraft und Bedeutung von Subjekt und Existenz bei Jaspers kritisch anzueignen versucht. Es ergab sich, daß der Ansatz dieses Subjektes sich einem einseitig naturwissenschaftlichen und positivistisch orientierten Denken, dem „zwingenden Wissen“ verdankt. Die Konzeption eines geisteswissenschaftli-
179 chen Subjektes als Voraussetzung für ein vermittelbares Erkennen und Verstehen wird von Jaspers nachdrücklich verworfen. Das „Eingehen“ von „Besonderheiten dieses erkennenden Subjektes in die geisteswissenschaftliche Forschung“ ist für ihn „unwahre Subjektivität“111. Selbst wenn der Begriff des geisteswissenschaftlichen Subjektes bei Otto Friedrich Bollnow in Verbindung mit Diltheys Lebensphilosophie erkenntniskritisch gesehen nicht ganz unproblematisch ist und deswegen auch Widerspruch112 hervorgerufen hat, so ist doch mit Bollnow deutlich geworden, daß Subjektivität, (Bollnow spricht von der „innersten Tiefe des Subjektes“) „nicht nur als auslösende Bedingung“ Bedeutung hat, sondern „konstitutiver Bestandteil“113, ja unabdingbare Voraussetzung für Erkennen und Verstehen in den Geisteswissenschaften ist. Dieses Subjekt sollte auch in der Lage sein, philosophische Aussagen über Existenz und Transzendenz in der Weise zu machen, „daß theoretischer Wahrheit ein viel größerer Anwendungsbereich“114 eingeräumt wird, als dies bei Jaspers der Fall ist. Das „Bewußtsein überhaupt“ seines Verstandessubjektes kann dieser Leistung nicht gerecht werden. Die Philosophie von Jaspers ist „zwar kein Irrationalismus im radikalen Sinne, daß wissenschaftliche Wahrheit als solche verworfen“115 würde. Sie ist aber „in dem Sinne irrationalistisch, als sie über wissenschaftlich ausweisbare Wahrheiten hinausgeht und alles wissenschaftlich Erkennbare von einer ‚höheren‘ Warte aus zu relativieren versucht und die tiefste erreichbare Wahrheit in das existenzielle Erleben des Einzelnen verlegt, das nicht mehr mitgeteilt werden kann.“116 Anmerkungen 1 Vgl. hierzu Franz Josef Fuchs, Seinsverhältnis. Karl Jaspers Existenzphilosophie, Bd. 1: Existenz und Kommunikation, Frankfurt u.a.,Verlag Peter Lang 1984, S. 401-405. 2 Romano Guardini, Welt und Person, Würzburg 1955, S. 121 f. 3 Fuchs (wie Anm. 1), S. 403. 4 Ebd. 5 Ebd.
180 Ebd., S. 401. Ebd., S. 404. 8 Ebd. 9 Karl Jaspers: Philosophie II, 3. Aufl. Berlin u.a., Springer 1956, S. 411. 10 Fuchs (wie Anm. 1), S. 404. 11 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 343. 12 Fuchs (wie Anm. 1), S. 404. 13 Jaspers Philosophie I, 3. Aufl. Berlin u.a, Springer 1956, S. 15. 14 Jaspers I (wie Anm. 13), S. 16. 15 Ebd. 16 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 24. 17 Ebd., S. 25. 18 Fuchs (wie Anm. 1), S. 386. 19 Ebd. 20 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 47. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Fuchs (wie Anm. 1), S. 386. 24 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 45. 25 Ebd., S. 46. 26 Ebd. 27 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 48. 28 Fuchs (wie Anm. 1), S. 387. 29 Jaspers, Vernunft und Existenz, München, Piper 1960, S. 20. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 21. 32 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 40. 33 Ebd., S. 41. 34 Fuchs (wie Anm. 1), S. 391 f. 35 Fuchs (wie Anm. 1), S. 392. 36 Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1948, S. 32. 37 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 47. 38 Fuchs (wie Anm. 1), S. 387. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 388. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 386. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Jaspers, Aneignung und Polemik, München, Piper 1968, S. 500. 47 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München, Piper 1963, S. 197. 48 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 198. 49 Fuchs (wie Anm. 1), S. 396. 6 7
181 Jaspers, Einführung in die Philosophie, München, Piper 1953, S. 36. Fuchs (wie Anm. 1), S. 394. 52 Jaspers, Existenzphilosophie, Berlin, de Gruyter 1960, S. 74. 53 Jaspers I (wie Anm. 13), S. 55. 54 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 257. 55 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 263. 56 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 276-284. 57 Elisabeth Hybasek, Das Menschenbild bei Karl Jaspers, Phil. Diss., Graz 1985, S. 142. 58 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1958, S. 81. 59 Ebd. 60 Otto Friedrich Bollnow, Existenzerhellung und philosophische Anthropologie. In: Blätter für deutsche Philosophie, 12. Bd. (1938), S. 135. 61 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 1. 62 Ebd. 63 Bollnow (wie Anm. 59). 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Jaspers I (wie Anm. 13), S. 93. 67 Jaspers, Philosophie III, 3. Aufl. Berlin u.a, Springer 1956, S. 161. 68 Ebd. 69 Bollnow (wie Anm. 59), S. 157. 70 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 11. 71 Jaspers III (wie Anm. 66), S. 187. 72 Jaspers II (wie Anm. 9), S. 432. 73 Ebd., S. 429 74 Jaspers I (wie Anm. 13), S. 93. 75 Bollnow (wie Anm. 59), S. 157. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 158. 79 Ebd., S. 159. 80 Jaspers I (wie Anm. 13), S. 189. 81 Bollnow (wie Anm. 59), S. 159. 82 Ebd., S. 150. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 151. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 161. 90 Ebd., S. 166. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 167. 93 Ebd. 50 51
182 Ebd. Jaspers II (wie Anm. 9), S. 292 ff. 96 Jaspers I (wie Anm. 13), S. 116 f. 97 Bollnow (wie Anm. 59), S. 168. 98 Hybasek (wie Anm. 57), S. 138. 99 Ebd., S. 140. 100 Ebd., S. 139. 101 Ebd. 102 Ebd., S. 140. 103 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 8. Aufl. Stuttgart, Kröner 1989, S. 238. 104 Ebd., S. 239. 105 Hanoch Tennen, Jaspers Philosophie in kritischer Sicht. In: Zs. f. Phil. Forschung Bd. 28 1974, Hft. 4, S. 559. 106 Stegmüller (wie Anm. 102), S. 239. 107 Ebd., S. 217. 108 Ebd., S. 219. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 241. 111 Bollnow (wie Anm. 59), S. 151. 112 Vgl. Hans Ineichen, Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt. Diltheys Logik der Geisteswissenschaften, Frankfurt: Klostermann 1975, S. 26 u. 163. 113 Bollnow, Studien zur Hermeneutik, Bd. 1, Freiburg/München: Alber 1982, S. 31. 114 Stegmüller (wie Anm. 102), S. 240. 115 Ebd., S. 234. 116 Ebd. 94 95
Georges Goedert DANKBARKEIT ALS DIALOGIZITÄT Dankbarkeit, was verstehen wir darunter? Inwiefern kann auch die Philosophie ihr Scherflein zum Verständnis dieses doch so bekannten Benehmens beitragen? Wir haben hier zu tun mit einer alltäglichen Verhaltensweise, mit der wir uns an einen oder mehrere Mitmenschen richten. Wir können auch rein innerlich dankbar sein, ohne uns nach außen hin dankbar zu erweisen. In vielen Fällen gibt es in unserer Umgebung keinen Adressaten für unsere Dankbarkeit. So sind wir beispielsweise dankbar gegenüber unseren Verstorbenen. Und wer an Gott glaubt, als den Schöpfer, ist ihm dankbar in so mancher Situation seines Lebens. Abgesehen davon sind wir oft dankbar für all das Schöne, das uns im Leben begegnet. Dankbarkeit ist eine Form der Lebensbejahung. Wiebke Schrader zu ihrem 75. Geburtstag mit vorzüglichem Respekt in Dankbarkeit
Einleitung An Dankesformeln fehlt es nicht, doch sagen sie meistens nicht viel aus: vielfach sind sie abgedroschen, abgenutzt, wie alte Münzen, die ihren Glanz verloren haben, abgestumpft wie Messer, die wegen des vielen Gebrauchs ihrer Schärfe verlustig geworden sind. Leere Hülsen, so kann man sagen. Ihre Wirkung ist dann auch dementsprechend, doch sind sie unerläßlich für korrektes Zusammenleben. Aber zumindest zeigen wir dadurch an, daß uns eine Gabe, eine Aufmerksamkeit, vielleicht sogar eine Unterstützung zuteil wurde.
184 Betrachten wir zuerst einige konkrete Vorgänge! Wann äußern wir gewöhnlich Dankbarkeit? Beispielsweise, wenn wir uns in einem Geschäft oder einem Restaurant verabschieden. So danken wir für Aufnahme und Bedienung, auch für die gekauften Waren oder die gute Bewirtung. Viel mehr als eine Gewohnheitsangelegenheit ist das nicht. Doch aufgepaßt! Selbst wenn die üblichen Höflichkeitsfloskeln nur wenig bedeuten, so bekunden sie dennoch ihren Wert indirekterweise, und zwar von dem Augenblick an, wo sie ausbleiben, das heißt, wo sie nicht ausgesprochen werden. Das kann zu Sorge und Verdruß führen. Möglicherweise handelt es sich dabei nur um ein Vergessen oder um das Verpassen des geeigneten Augenblicks. Es kann auch aus Unbeholfenheit geschehen oder aus Mangel an Anstand, an Savoir-vivre, was nicht heißt, daß eine schlechte Absicht vorliegt. Doch kommt es ebenfalls vor, daß die Unterlassung willentlich geschieht. Das verändert natürlich die Lage total: Wir bedanken uns nicht, weil wir nicht zufriedengestellt wurden. Es ist uns einfach nicht das zuteil geworden, was wir erwartet haben und worauf wir ein Recht zu haben glaubten. Vielleicht sind wir sogar geschädigt oder verletzt worden. So wollen wir denn auf diese Weise unserer Unzufriedenheit, ja unserem Ärger Luft machen, etwa in einem Restaurant, wenn wir kein Trinkgeld geben, um zu zeigen, daß wir schlecht gespeist haben oder mangelhaft bedient wurden. Denken wir aber auch an den Dank, den wir normalerweise erstatten, wenn wir selber es sind, die jemanden entlassen, verabschieden. Dabei kommt dann gewöhnlich unsere Zufriedenheit über die uns entgegengebrachte Leistung aufrichtig zum Ausdruck. „Besten Dank“ heißt möglicherweise aber auch: „Laß mich in Ruhe! Verschwinde! Ich bin froh, daß ich dich los bin.“ Es kann sich ebenfalls handeln um die bitterironische Antwort auf eine Kritik, einen Vorwurf, ja sogar eine Beleidigung. Man will einfach sagen: „Ich hab jetzt die Nase voll.“ Hier gibt es in der Gesinnung eine ganze Menge Nuancen, auch in der sprachlichen Formulierung, bis hin zu Grobheiten, die zu nennen der
185 Anstand mir verbietet. Auch die französische Sprache ist reich an solchen Wendungen. Diese können sogar sehr pittoresk sein. So sagt man beispielsweise: „Va te faire cuire un oeuf“ (wörtlich übersetzt heißt das: „Laß dir ein Ei kochen!“). Wir haben bis jetzt aber nur eine sehr oberflächliche Seite in dem als Dankbarkeit zu bezeichnenden Benehmen erfaßt. Da gibt es noch viel mehr, und zwar in puncto Impuls, Absicht, Intensität, Aufrichtigkeit. Falls der Adressat verstorben ist, fühlen wir uns möglicherweise schmerzlich berührt, weil die in der Dankbarkeit enthaltene Beziehung nur noch in unserem eigenen Innern zum Austragen kommt. Und manchmal ist unsere Freude so überschwenglich, daß wir die ganze Welt umarmen möchten, besser gesagt, die ganze Menschheit, oder uns dazu gedrängt fühlen, Gott selber zum Adressaten unserer Dankbarkeit zu nehmen. Überraschenderweise stellen wir aber fest, daß die philosophischen Lexiken und Handbücher die Dankbarkeit eher stiefmütterlich behandeln, um nicht zu sagen gar nicht. Im Dekalog steht davon auch nichts, es sei denn implizit im ersten Gebot, wo die Rede ist, daß man Vater und Mutter ehren soll. Das Vaterunser erwähnt die Dankbarkeit genauso wenig. Dennoch weiß man gut, daß es sich hier um einen ganz wichtigen ethischen Wert handelt, genauso wie sein Gegenteil, die Undankbarkeit, ein entsprechend großes Übel darstellt. Daß der Dankbarkeit eine moralische Bedeutung zukommt, steht außer Zweifel: Sie gehört zu unseren moralischen Verpflichtungen. So wäre es denn auch Aufgabe der Moralphilosophie, sich ihr zu widmen. Wenn die Ethik dies nicht tut, überhaupt nicht oder nur in geringem Ausmaße, so könnte die Ursache die sein, daß es sich um ein Benehmen handelt, das sich anderen, allgemeineren ethischen Kategorien unterordnen läßt, so etwa dem Dienst am Nächsten und der Gerechtigkeit. Es gibt auch nicht nur den ethischen Ansatz, sondern ebenfalls den dialogischen, der hier allerdings mit dem ethischen stark verbunden sein dürfte. Die Dankbarkeit zeigt anthropologi-
186 sche Merkmale auf, deren Phänomenologie in der Tat für die Philosophie des Dialogs von Bedeutung ist. Wir können sie zu einer Beziehung gestalten, die sehr tief in unser Innerstes eingreift.
1. Interesse und Kalkül Bevor wir aber von der dialogischen Beziehung sprechen, wenden wir uns vorerst zwei Denkmodellen zu, von denen jedes auf seine Weise zur Erklärung der Dankbarkeit beiträgt. Dankbarkeit aus Interesse, als Kalkül, und Dankbarkeit aus Sympathie. Zuerst also das Interesse, was auch heißt, der Eigennutz. Als Wegweiser hierfür möge uns Thomas Hobbes dienen. Die egoistische Finalität, nicht nur der Dankbarkeit, sondern des menschlichen Handelns im allgemeinen, entspricht durchaus den Grundprinzipien seiner Philosophie. Wie viele Denker seiner Zeit, also an der Schwelle der Neuzeit, war er ein Gegner der Theologie, hier besonders auf dem Gebiet der Anthropologie und der Ethik. Bekanntlich besteht seine Doktrin grundsätzlich aus einem sensualistischen Empirismus, gemäß dem alles menschliche Benehmen das Maximieren eigener Interessen anstrebt. Was wir im Dienste anderer Menschen tun, also die eigentliche Zielsetzung eines gemeinhin für altruistisch gehaltenen Handelns, wäre demgemäß ebenfalls nur die Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse. Nach Hobbes sind die Sinneseindrücke absolut bestimmend, was auch heißt, daß es keine Willensfreiheit gibt. In seinem der Philosophie der Politik gewidmeten Leviathan, der 1651 veröffentlicht wurde, macht Hobbes die Dankbarkeit zum Gegenstand des vierten natürlichen Gesetzes: „wer eine Wohltat unverdient empfängt, muß danach streben, daß der Wohltäter sich nicht genötigt sehe, seine erwiesene Wohltat zu bereuen.“ (15. Kapitel) Also Dankbarkeit als Antwort auf eine unverdiente Wohltat.
187 Der Autor weist darauf hin, daß es sich nicht um ein Benehmen handeln darf, das von der Gerechtigkeit gefordert wird, also auf das der andere ein Recht hat. Wir denken dabei zuerst an die positive Gesetzgebung, aber auch an ein moralisches Recht. Natürlich ist jedermann verpflichtet, dem Mitmenschen dasjenige zu geben, was ihm von Rechts wegen zukommt, auch auf moralischer Ebene. Dafür bedarf es nach Hobbes keines Dankes, was unseres Erachtens auch heißen will, daß der Autor unter Dank mit Sicherheit mehr versteht als das bloße Aussprechen einiger Höflichkeitsformeln: Die Dankbarkeit muß sich in einem dem Wohltäter zugute kommenden Handeln äußern. Falls wir aber nur das bekommen haben, worauf wir ein Recht hatten, brauchen wir uns demnach nicht durch unser Handeln erkenntlich zu erweisen. Fügen wir hinzu, daß das uns unter dieser Voraussetzung erteilte Gute dann eben nicht den Charakter einer eigentlichen Wohltat haben kann. Anders sieht es aus, wenn wir mehr bekommen als wir zu verlangen das Recht haben. Dann sind wir Gegenstand einer wahren Wohltat, das heißt auch einer freiwilligen, unentgeltlichen Hilfe, und es läßt sich im Anschluß an Thomas Hobbes verstehen, daß wir dem Wohltäter durch eine Gegenleistung Genugtuung verschaffen müssen, damit er die gute Gesinnung uns gegenüber nicht verliere und uns auch in Zukunft sein Wohlwollen bewahre. Undank könnte hier für uns tatsächlich nachteilige Konsequenzen zeitigen. Man darf seinem Wohltäter nicht mißfallen, ihn nicht enttäuschen. Thomas Hobbes erklärt, daß dieser einen persönlichen Vorteil erstrebt, wie das übrigens der Fall sei in all seinen freiwilligen Handlungen. Mit dem Wort „freiwillig“ wird aber nicht ausgesagt, daß es Handlungen sind, die von einem freien Willen herrühren – wie bereits gesagt, gibt es nach Hobbes einen solchen nicht –, sondern nur, daß keine äußeren Zwänge vorliegen. Im Falle, wo jemand im voraus wüßte – dies immer noch laut Leviathan, 15. Kapitel –, daß es keinen Vorteil für ihn zu erlangen gibt, würde er nicht, wie Hobbes sagt, „zuerst [also als er-
188 ster] wohltun wollen“. Die Folgen davon werden von unserem Autor folgendermaßen dargestellt: „es fiele alles gegenseitige Vertrauen, alle Hilfe, ja alle Versöhnung unter Feinden weg. Ein beständiger Krieg würde herrschen, ganz dem ersten natürlichen Gesetz zuwider, welches den Frieden verlangt.“ Der Undank wäre damit abgestempelt als eine Ursache für Unfrieden, und zwar bereits wenn er zu erwarten ist, nicht allein wenn er schon erfolgte. Das hieße einfach folgendes: Falls wir Undank zu erwarten haben, wollen wir uns nicht zugunsten unseres Nächsten einsetzen, wodurch dann die Handlungen ausbleiben, die für ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben nötig sind. Nach Hobbes hat also der Eigennutz stets die Oberhand. Bei diesem Verfechter des absoluten Königtums und der bürgerlichen Handelsfreiheit darf ein derartiges Prinzip nicht überraschen. Die Hobbessche Anthropologie stellt nun eben das menschliche Individuum dar als ein egoistisches Wesen, das stets einem persönlichen Vorteil nachjagt. Was der Wohltäter erwartet, ist schlicht eine Gegenleistung, und der Empfänger, der Nutznießer, erstattet Dank, nur um in Zukunft dessen Gunst nicht einbüßen zu müssen. Die Undankbarkeit wird damit in den Rang eines falschen Kalküls versetzt. Wer sich undankbar erweist, macht ein schlechtes Geschäft. Wie du mir, so ich dir! Man schuftet, nimmt, rafft, erntet auf beiden Seiten: so will es die kommerzialisierte Welt. In ihrem Sinne hat sie recht. Wer wollte auch schon behaupten, eine auf dem Eigennutz basierende Denkweise sei in keinerlei Hinsicht fundiert? Ist doch der egoistische Drang im Einzelmenschen lebenswichtig, lebenserhaltend. Wie sollte man leugnen, daß eine solchermaßen ausgerichtete Dankbarkeit dem Frieden unter den Menschen dient? Sie ist geradezu wünschenswert. Viel Bitterkeit, Haß und Aggression haben tatsächlich ihre Quelle im Undank. Wer diesen aus eigenem Interesse meidet, handelt sicherlich moralisch gut, auch wenn unsere gängige Moral traditionsgemäß den bloßen Egoismus als Beweggrund des Guten nicht anerkennt. Man fragt sich bloß, ob mittels dieser kaufmännischen Logik
189 das Phänomen Dankbarkeit genügend ausgelotet wird. Die Antwort muß ein entschiedenes Nein sein. Schwierigkeiten tauchen schon allein dann auf, wenn wir mit jemandem zu tun haben, der aus eigenem Interesse den Undank dem Dank vorzieht. Geschieht es doch oft aus reiner Habsucht, daß man gerade einem Wohltäter gegenüber auf Distanz geht. Dankbarkeit kann nämlich teuer zu stehen kommen. Es können auch noch andere eigennützige Gründe vorliegen: man schämt sich vielleicht, fühlt sich erniedrigt, was dazu führt, daß man sich undankbar zeigt, nur um des eigenen Selbstvertrauens nicht verlustig zu gehen. Es kann auch geschehen, daß beim Empfänger die Verpflichtung zu danken eine zu große Last bedeutet. Wenn er sich nun ausschließlich an Berechnungen hält und die von ihm empfangene Wohltat eine große ist, dann muß das Gewicht dieser von ihm zu tragenden Last verhältnismäßig schwer sein und ihn entsprechend quälen. Welches Verhalten ist dann das nützlichere? Für so manchen gibt es hier jedenfalls Grund genug, sein Heil in der Flucht, in der Verdrängung zu suchen. Von Diderot stammt die Aussage, die Dankbarkeit sei eine Bürde, und jede Bürde sei dazu da, abgeworfen zu werden (Le Neveu de Rameau). Und Nietzsche behauptet seinerseits in Menschliches, Allzumenschliches (I, 323): „Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last.“ Das ist vermutlich nicht zynisch gemeint. Man glaubt hier, beim zukünftigen Philosophen der „schenkenden Tugend“ (Also sprach Zarathustra I) eher ein gewisses Bedauern herauszuspüren. Falls der Empfänger zu großem Dank verpflichtet ist, ergibt sich bei ihm nicht selten sogar ein aggressives Verhalten gegenüber dem Wohltäter, wie beispielsweise Mißachtung, Mißgunst, üble Nachrede. Es geschieht auch ab und zu, daß gerade jemand, der uns viel verdankt, einen ganz geringfügigen Vorwand ergreift, um uns den Rücken zu kehren. Undank ist nun eben häufig der Welt Lohn. Andererseits kann es vorkommen, daß der Wohltäter eine bescheidene, wenig einflußreiche Person ist, die
190 aller Wahrscheinlichkeit nach kein zweites Mal in die Lage kommen wird, sich behilflich zu erweisen. Hält man sich nun an Thomas Hobbes, dann müßte der Dank in einem solchen Fall so etwas wie reine Verschwendung sein. Wie sollte da die Selbstsucht anders befriedigt werden als durch Undank? Nach Hobbes gibt es allerdings für unser Handeln einen obersten Wert, nämlich die Erhaltung des Friedens. Dankbares Benehmen vermag den Frieden zu stärken, sicher. Aber es ist doch nun einmal so, daß die privaten Interessen sich noch lange nicht immer mit den öffentlichen decken. Somit kann aus rein egoistischen Gründen der Undank durchaus dem allgemeinen Wohl der Gesellschaft vorgezogen werden. Vieles hängt aber auch ausgesprochen ab von der Persönlichkeit des Wohltäters. Sofern dieser aufrichtig ist und für den Empfänger Sympathie, vielleicht sogar Liebe empfindet, kann er nicht die Absicht hegen, ihn in Verlegenheit zu bringen, ihn in eine peinliche Lage zu versetzen. Die Erwartung einer Gegenleistung könnte bei ihm außerdem eine kleinliche Haltung vermuten lassen, was auch heißt, daß er sich eine solche Blöße einfach nicht geben kann, falls er wirklich großzügig sein will. Auch sein Stolz muß ihm dies verbieten. Damit wäre ebenfalls gesagt, daß einer solchen Person gegenüber der Empfänger kaum Nachteile zu befürchten hat, wenn er sich undankbar zeigt. Der auf dem Prinzip des Egoismus basierende Diskurs ist einseitig und erfaßt bloß einen Teil der Realität. Er erlaubt nur eine dürftige und einseitige Erklärung unseres Benehmens. Wichtige Aspekte der Dankbarkeit werden davon nicht berührt. Das merkantile Denkmodell hat eine beschränkte Tragweite. Es gibt Wohltäter, die Dank weder suchen noch verlangen, so wie es andererseits auch Formen der Dankbarkeit gibt, die mit Egoismus nicht das Geringste im Schild führen. Hobbes inspirierte sich eben an bestimmten Formen von Benehmen, und zwar in Politik und Wirtschaft. Auf diese Weise kann aber die Dankbarkeit nicht erschöpfend ergründet werden. Da gibt es noch ganz andere Gebiete und Situationen. Vielleicht
191 sollten wir fürs erste einmal denken an die Dankbarkeit aus Freude. Von dem Schriftsteller und Philosophen Theodor Haekkel, einem Vertreter des christlichen Existentialismus, der von 1879 bis 1945 gelebt hat und für seine mutige Haltung unter dem Nazi-Regime bekannt ist, stammt folgende Aussage: „Mißtraue jeder Freude, die nicht auch Dankbarkeit ist!“ Das hieße, daß Freude nur dann echt ist, wenn sie Dankbarkeit enthält. Wir können hinzufügen, die Freude sei manchmal so stark, daß derjenige, der sie empfindet, geradezu jemanden braucht, dem er dafür Dank abstatten kann.
2. Die „Höflichkeit des Herzens“ Dankbarkeit ist vielfach nur ein unwillkürlicher Reflex. Sie kann ebenfalls ein spontanes Benehmen sein, wobei das Gefühl eine größere Rolle spielt als der Intellekt. Jedenfalls sind es nicht unbedingt Überlegungen, Argumente, die den Ausschlag geben. Bleiben wir aber einstweilen noch bei den Absichten, da wir ja allgemein annehmen, daß diese den Wert unseres Benehmens bestimmen. So begegnen wir denn zweifellos auch einer Form der Dankbarkeit, die an erster Stelle auf das Wohl unseres Mitmenschen ausgerichtet ist. Beginnen wir mit der Höflichkeit! Darunter verstehen wir bekanntlich eine Verhaltensweise, die bestimmten Vorschriften entspricht, deren Befolgung zur Soziabilität gehört. Allerdings handelt es sich dabei größtenteils um reinen Formalismus. Diese Art der Höflichkeit ist für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen unentbehrlich, sicher, doch meistens bleibt sie ohne größere Tragweite. In seinem Buch Le rire en herbe schildert der Autor, Jean-Charles, eine kleine, lustige Begebenheit, die uns auf eine etwas spezielle Weise die Oberflächlichkeit, ja Belanglosigkeit, auch den Mangel an Aufrichtigkeit so mancher höflicher Dankesworte zeigt. Ein kleines Mädchen bekommt von einer geizigen Tante eine offensichtlich als Billigware gekaufte
192 Puppe geschenkt. Es bedankt sich höflich, und die Tante, nicht weniger höflich, erwidert, da gebe es nichts zu danken. Daraufhin meint der Unschuldsengel: „Ich weiß schon, doch Mutti hat mir geboten, trotzdem danke zu sagen.“ (Calmann-Lévy, Paris 1963, S. 50) Nun gibt es aber Gott sei Dank auch eine innigere Höflichkeit, eine auf das Wohl des Mitmenschen ausgerichtete, die stärkt, erfrischt, ermutigt. So erwähnte der französische Philosoph Henri Bergson eine „Höflichkeit des Herzens“ in einer Rede, die er anläßlich einer Preisverteilung hielt, zuerst 1885 im Lyzeum von Clermont-Ferrand, dann 1892 im renommierten Lycée Henri-IV in Paris. (Ecrits et Paroles, Presses Universitaires de France, Paris 1957, Band I, S. 57-68.) Ihm gemäß ist dies die „höchste Höflichkeit“. Er nennt sie eine Tugend, da er der Meinung ist, daß sie als Grundlage „eine große natürliche Güte“ besitzt, die von einer tieferen Erkenntnis des Geistes und besonders des Herzens begleitet sein müsse. Natürlich haben wir hier mit einer ganz anderen Philosophie zu tun, als der des Thomas Hobbes. Der Mensch, so versteht es Bergson, vermag durchaus uneigennützig zu handeln, und zwar dank dem „élan vital“ – der „Lebensschwungkraft“ –, der das gesamte Universum bewegt und in uns die Sympathie erzeugt, die uns zu unserem Mitmenschen hinzieht. Wenngleich Bergson nicht ausdrücklich davon spricht, so muß dennoch angenommen werden, daß seine „Höflichkeit des Herzens“ auch eine ganz spezielle, feine Art umfaßt, sich dankbar zu erweisen. Die Franzosen gebrauchen das Wort „reconnaissance“ neben „gratitude“. „Reconnaissance“ hat den Vorteil, die Rolle des Erkennens – „connaissance“ – herauszustellen. Erkennen kann aber zu Anerkennen führen. Eine aufrichtig auf das Wohl unseres Mitmenschen ausgerichtete Dankbarkeit ist zweifellos Anerkennung, ist eine Würdigung seiner Verdienste. Sie enthält stets auch Achtung. Wir erkennen die Verdienste an, die uns zugute gekommen sind, und achten darob den Wohltäter.
193 Bergson ist ein feinfühliger Psychologe. Seine „Höflichkeit des Herzens“ stellt er in einen präzisen Kontext: „es handelt sich um die Nächstenliebe, die sich auf den Bereich der Eigenliebe auswirkt, dorthin, wo es manchmal genauso schwierig ist, das Übel zu erkennen als es heilen zu wollen.“ Der Ausdruck „Nächstenliebe“ wird hier in einem speziellen Sinn gebraucht: Es geht nicht um Barmherzigkeit oder Almosen, sondern um den vom Herzen kommenden, wohlüberlegten Wunsch, den Mitmenschen zu unterstützen, ihm zu helfen. Hier spielen Sympathie, ja echte Liebe eine wesentliche Rolle. Bergson spricht von der Eigenliebe unseres Mitmenschen. Wir denken an dessen Selbstvertrauen, Selbstbewußtsein. Natürlich sind wir nicht gewillt, die Eitelkeit zu unterstützen. So lesen wir denn auch: „[…] während wir uns abgestoßen fühlen von dem Eingebildeten mit seinem Anspruch, jedermann die gute Meinung, die er von sich selber hat, aufzudrängen, fühlen wir uns eher angesprochen von denjenigen, die, um von ihrem eigenen Verdienst dieselbe gute Meinung zu haben, ängstlich darauf warten, daß wir ihnen diese vermitteln.“ Es handelt sich für Bergson um diejenigen Menschen, die er die „furchtsamen und feinen Seelen“ nennt, doch meint er auch, sie seien nicht die einzigen, die sich nach einer derartigen Aufmunterung sehnen. Er fügt nämlich hinzu, „selbst bei dem robustesten und dem Leben bestens gewachsenen Menschen“ gebe es Stunden, wo er sich „schmerzhaft in seiner Eigenliebe getroffen fühlt und sogleich wie gelähmt ist in dem Aufschwung, den er hätte nehmen können“. Auch ein starker Mensch kann vorübergehend sein Selbstvertrauen verlieren und einige gutgemeinte Worte nötig haben, um mit erneuter Energie wieder ans Werk zu gehen. Diese Erfahrung machen viele von uns. Wegen der in ihr enthaltenen Zustimmung vermag diese Form der Dankbarkeit uns dazu anzuspornen, wirklich unser Bestes herzugeben. Sie verleiht Kraft, wohingegen ihr Gegenteil enttäuscht, demoralisiert, betrübt, zerstört. Das ist es, woran wir denken sollten, wenn jemand uns geholfen hat, anstatt, wie Hobbes es will, das Risiko zu berechnen,
194 das uns erwarten könnte, falls wir uns undankbar erweisen. Nur ein wenig Zustimmung, verbunden mit ein bißchen Freundlichkeit oder gar einem Schuß Sympathie, das kostet sicher nicht viel, kann aber wahre Wunder wirken. Jedenfalls ist Dankbarkeit hier ein Benehmen, mit dem wir nicht gezielt eigene Interessen verfolgen, sondern die Zuwendung zu einem anderen Menschen vollziehen. Folge hiervon müßte sein, daß wir im Falle der Dankbarkeit an einen Austausch denken. Dankbarkeit des Empfängers, ja, doch auch des Wohltäters, und zwar für die ihm erwiesene Dankbarkeit. So meinte Marie von Ebner-Eschenbach einmal, wir seien „für nichts so dankbar wie für die Dankbarkeit“. Das mag übertrieben klingen, ist aber insofern wahr, als echte Dankbarkeit eine Wohltat bedeutet. Hierin klingt das dialogische Motiv der Dankbarkeit mit. Dankbarkeit also gegenüber jemandem, der sich dankbar erweist! Wir erkennen, welch große Rolle die Dankbarkeit bei demjenigen spielen kann, der sie empfängt. Und indirekterweise werden wir darauf hingewiesen, welche Leere, Enttäuschung, ja sogar Trostlosigkeit der Undank zu erzeugen vermag.
3. Dankbarkeit dialogisch Die Dankbarkeit läßt sich sehr wohl auch als Wesensmoment einer dialogischen Beziehung auffassen und gestalten: der Dankende also als das Ich, der Wohltäter dagegen als sein Du, wobei wir, angeregt von dem Gedanken Maries von Ebner-Eschenbach, das Verhältnis auch umgekehrt sehen können, und zwar mit dem Dankenden als dem Du, und dem Wohltäter als dem Ich. Die dialogische Beziehung sollte wenn möglich eine wechselseitige sein. Diese Wechselseitigkeit wird dadurch eingeleitet, daß der Wohltäter den Hilfsbedürftigen als sein Du ansieht. Dankbarkeit wäre dann wesentlich zu betrachten als ein Antworten. Entgegen dem Tier, das seiner Natur gemäß nur reagiert,
195 ist der Mensch imstande zu antworten. In einem seiner Werke, das den Titel Philosophisches Denken trägt, erklärt Rudolph Berlinger, „daß der Mensch ein responsorisches Wesen sei, also ein Wesen, das der Antwort fähig sei“ (Amsterdam/Atlanta GA 1992, S. 227). Diese Antwort sieht unser Autor innerhalb der Seinsstruktur des „Weltsubjektes“ Mensch, beruhend auf Freiheit, Geist und Wort als deren Prinzipien. Martin Buber, seinerseits, betrachtet das Sein-in-der-Begegnung als das einzig wahre Menschsein. Nach ihm ist das Du für das Ich konstitutiv: Nur in einer Ich-Du-Beziehung kann der Mensch sein eigenes Sein vollkommen verwirklichen. Das Antwort-Geben erscheint also auch hier wesentlich. Ich behandele meinen Mitmenschen als mein Du, indem ich mich ihm zuwende, nachdem ich mich von ihm angesprochen fühlte. Das Ich öffnet sich dem Du und gibt ihm Antwort. Es prägt sein Gegenüber mit seiner Gegenwart, und von dieser seiner Gegenwart im anderen Menschen registriert und übernimmt es die Rückwirkung auf seine eigene Person. Falls es dem Du Beistand gewährt, hat dieser an erster Stelle die Bedeutung einer Zustimmung, einer Bejahung, einer Billigung. Das Ich gibt seinem Du die Gewißheit, so angenommen zu werden, wie es ist, mit allen Besonderheiten seiner Persönlichkeit. Daß hierin gerade die Dankbarkeit eine wichtige Rolle zu spielen hat, liegt wohl auf der Hand, besonders nach dem, was wir über die „Höflichkeit des Herzens“ bei Henri Bergson erfahren haben. Das Ich und das Du ziehen für ihre jeweilige Persönlichkeit Nutzen aus dieser Beziehung, jedes auf seine Weise und entsprechend seiner Rolle: das Du wegen der Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wird, das Ich aber schon allein wegen der Anrede, die an es ergeht, dann wegen der möglicherweise stattfindenden Rückwirkung der Fürsorge, die es dem Du zukommen läßt. Die Gegenseitigkeit ist hierin natürlich wünschenswert, jedoch läßt sie sich nicht in allen Fällen verwirklichen. Buber schließt sie in denjenigen Beziehungen aus, wo das Ich von Berufs wegen im Dienste des Du steht, wie das besonders geschieht in der Päd-
196 agogik, der Medizin und der Seelsorge. In seinem kleinen Werk Urdistanz und Beziehung erklärt er, die Menschen gewährten sich gegenseitig die Bestätigung ihres Seins. Er meint, sie hätten das nötig wegen der Wagnisse, die sie einzugehen gezwungen sind, sowie des Chaos, das sie umwittert. Das Tier dagegen brauche nicht bestätigt zu werden: sein Wesen stehe ein für allemal fest und könne nicht in Frage gestellt werden. Der Mensch aber schaute, wie Buber schreibt, „heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann: einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins“ (Heidelberg 1951, S. 44). Unser Selbstsein ist abhängig von unseren Mitmenschen. Diese Abhängigkeit wird durch Eigeninitiative gestaltet. Von einer deterministischen Bestimmung kann nicht die Rede sein. Aus eigenem Willen wenden wir uns unserem Mitmenschen zu und lassen ihn so zu unserem Du werden. Frei geben wir Antwort auf die von ihm ausgegangene Anrede und gestalten als lebendiges Ich die Entgegnung zu der von ihm an uns erteilten Ansprache. Und sofern es sich um eine wahre wechselseitige Beziehung handelt, wird die Hilfe, die Wohltat, das Wohlwollen von dem als Du auserkorenen Mitmenschen nicht passiv hingenommen. Ebenfalls aufgrund innerer Freiheit, die sowohl Willens- als auch Wahlfreiheit ist, wird das anfängliche Du zum Ich, das hilfreich Antwort gibt, weil es die Unterstützung durch Angesprochensein erfährt. In einer solchen Beziehung müßte eigentlich die Dankbarkeit eine bestmögliche Konkretion von Antwort bilden, sowohl seitens des Ich in seinem Angesprochensein, wie auch des Du, dem das Ich entgegenkommt. Die Dankbarkeit derjenigen Person, die somit zum Du eines Ich geworden ist, schildert Buber übrigens folgendermaßen in einer der Schriften aus Nachlese, dem Band, den er noch selber zusammengestellt hat und der 1965, im Jahr seines Todes, erschien: „Sodann aber verlangt es einen Mal um Mal, seinem Mitmenschen zu danken, selbst wenn er nichts Be-
197 sonderes für Einen getan hat. Wofür denn? Dafür, daß er mir, wenn er mir begegnete, wirklich begegnet ist; daß er die Augen auftat und mich mit keinem Andern verwechselte; daß er die Ohren auftat und zuverlässig vernahm, was ich ihm zu sagen hatte; ja, daß er das auftat, was ich recht eigentlich anredete, das wohlverschlossene Herz.“ (Heidelberg 1965, S. 254) Das Ich reagiert auf die Person, die es dank der von ihr ausgegangenen Anrede zu seinem Du gemacht hat, und das Du nimmt mit Genugtuung die Aufmerksamkeit wahr, die ihm geschenkt wird. So verstanden, wird das Zwischenmenschliche zur Quelle von Geistigkeit, von Spiritualität. Wahrer Geist, in seiner menschlichen Kundgebung, ist nach Buber nur in der Beziehung zwischen Ich und Du, ist „Antwort des Menschen an sein Du“ (Ich und Du, München/Heidelberg 1962-1964, Band I, S. 103). Hier wird uns nun die Möglichkeit gewährt, besonders an die Kunst in all ihren Sparten zu denken, und dabei selbstverständlich auch an die Philosophie, die wir ja mit Schopenhauer ebenfalls als Kunst betrachten dürfen, dagegen nicht, sofern wir uns an Buber orientieren, an die Wissenschaften im engeren Sinn, da diese sich ja auf die Eswelt beziehen, was auch heißt, daß der Mitmensch durch sie zum bloßen Gegenstand wird – also nicht zu einem Gegenüber, zum Teilnehmer einer Begegnung.
4. Kunst und Dialog Die Kreativität des Künstlers würde somit eine Begegnung beinhalten. Buber sieht in der Kunst zweierlei dialogische Aspekte: Der Künstler begegnet einem Du in dem Stoff, den er behandelt, und zweitens im Publikum, dem er sich zuwendet. In beiden Fällen hätten wir also zu tun mit derjenigen Beziehung, von der wir gesprochen haben: In seinem Schaffen wird der Künstler angesprochen von einem Du; er öffnet sich diesem Du und gibt ihm Antwort. Nehmen wir den ersten Fall: Das Du wird gebildet durch den
198 zu behandelnden Stoff. Natürlich dürfen wir hier nicht ausschließlich an die Darstellung von Menschen denken, vielleicht sogar an Porträts. Die Beziehung ist allerdings nur verständlich aufgrund von Bubers Gottesbegriff. Buber ist nämlich der Ansicht, das Du sei stets auf die eine oder andere Weise bewohnt von dem „ewigen Du“. Dieses würde uns nicht nur in unseren Mitmenschen begegnen, sondern auch in der Natur und in den Realitäten, die Buber im dritten Teil seiner Schrift Ich und Du die „geistigen Wesenheiten“ nennt. Hierin zeigt sich bei ihm der Einfluß der chassidischen Mystik. Gemäß dem Chassidismus ist die Welt der Ort der „Schechina“, das heißt der glorreichen göttlichen Gegenwart. Der Schöpfer ist in seiner Schöpfung zugegen. Und es kommt auf die Ich-Du-Beziehung an, damit uns die „ewige Mitte“, wie Buber sagt, das Unaussprechbare, das Unnennbare, erschlossen werde. Wer folglich einem Du Antwort gibt, ob es sich dabei handelt um ein menschliches Wesen oder auch nicht, begegnet dem Göttlichen. Was die Ich-Du-Beziehung betrifft, wäre es demnach erlaubt, hier von wahrer Religiosität zu sprechen. Im zweiten Fall geht es um das Publikum, also um den Betrachter, Leser, Hörer. Das Publikum als das Du des schöpferischen Ich! Jeder Autor bildet sich normalerweise eine Idee von der Art, wie seine Werke aufgenommen werden. Kunst ist ein Geben, ein Sich-Weitergeben an andere, da sie ja beim schaffenden Künstler im Grunde nicht nur Selbstbestätigung bedeutet, sondern auch Selbsterkenntnis und Spiegelbild seiner selbst. Folglich tritt das Ich des Autors in dem von ihm geschaffenen Kunstwerk ganz besonders stark hervor. Jeder einzelne künftige Betrachter, Leser oder Hörer wird dabei für den Künstler zu einem virtuellen Du, dessen Rezeptivität seinen Arbeitsdrang stärkt. Sein Werk ist die Antwort auf die Erwartungen eines Publikums, was auch dann noch wahr bliebe, wenn dieses nur aus einer einzigen Person bestände. Und infolge der möglichen Gegenseitigkeit der Beziehung, kann aus jeder einzelnen Person des Publikums das Ich werden, das dem Künstler seinen Dank
199 entrichtet, auch wenn dieser nicht zugegen ist, ja nicht zugegen sein kann, da er bereits verstorben ist. Das Gefühl der Dankbarkeit, das uns so häufig gerade bei der Rezeption eines Kunstwerks ergreift, ja sogar überwältigt, wäre auf diese Weise eingetragen in eine dialogische Beziehung zum Künstler. Der dialogische Vorgang ist schon allein anhand eines einfachen Gedichtes möglich, einer schlichten Zeichnung oder selbst eines philosophischen Aufsatzes. An der Natur der Beziehung ändert sich durch den Vergleich mit großen und berühmten künstlerischen Leistungen prinzipiell nichts. Das Kunstwerk ist ein Geschenk des Künstlers an das Publikum. Ein anderer Mensch, hier also der Künstler, hat uns seine volle Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem er durch uns eine Anregung und damit eine Bereicherung seines eigenen Wesens erfahren hatte, die er für seine Kunst brauchte und die dieser zugute kam. Was wäre ein Kunstwerk, wenn niemand es beachtete? Die Dankbarkeit ist folglich eine gegenseitige: Dank also des Künstlers, und zwar an diejenigen, die sich durch sein Werk bereichern lassen – es können Millionen sein, ja Milliarden; Dank aber auch des Rezipierenden an den Künstler, verbunden mit der Freude an seinem Werk. In der dialogischen Perspektive ist das Kunstwerk die antizipierte Antwort auf unsere geistigen Ansprüche und Sehnsüchte. Der Künstler ist uns zuvorgekommen, er hat im voraus auf unser Begehren Antwort erstattet. Daß er nicht leibhaftig zugegen ist, um die Dankbarkeit entgegenzunehmen, ändert an der dialogischen Beziehung nichts. Für sein Gegenwärtigsein sorgt das Werk.
5. Kunst als Geschenk Nur ein einziges Beispiel sei uns hier gestattet, stellvertretend für sämtliche Kunstobjekte, denen wir die Gelegenheit haben uns zu nähern, bewundernd und fragend zugleich, und voller Dankbarkeit für die Freude, die sie uns gewähren. Es soll sich
200 dabei handeln um die Kirchenfenster der gotischen Kathedrale von Metz in Lothringen. Weshalb gerade diese Wahl? Hier sind bei mir persönliche Gründe maßgebend. Auch noch in der Erinnerung bleibt nämlich der häufige Besuch dieser Kathedrale für mich eingebettet in einen erlebnisreichen Alltag, der meine Dankbarkeit für deren Kunstwerke auf besondere Weise prägt. Betreten wir also diesen Dom! Einlaß gewährt das Marienportal, neben der Chorhaube des früheren Kirchenschiffes von Notre-Dame-la-Ronde. Unser Blick richtet sich speziell auf die steinernen Statuen, geradeaus auf die Jungfrau Maria, dann, an den Seiten, auf die vielen Heiligen. Sie alle heißen gewissermaßen den Besucher willkommen. Die Spitzbögen über den beiden Pforten sind besetzt von einer Menge kleinerer Figuren und ergeben somit ein lebhaftes und lehrreiches Bild. Es heißt allerdings, von den eigentlichen Originalen aus dem 13. Jahrhundert gebe es hier nur noch einige knappe Überbleibsel. So gelangen wir denn ins Innere der Kirche. Wir sind plötzlich umgeben von Dämmerlicht und spüren, ja schmecken die eigenartige Kühle. Wir dringen in einen dieser Wälder aus Stein ein, von denen Chateaubriand in seinem Werk Le Génie du christianisme spricht. „Alles“, so schreibt er, „zeichnet in der gotischen Kirche das Labyrinth der Wälder nach“. In Metz gleicht das Mittelschiff einer riesigen Allee von Pappeln, die zum Chor hinführt. Eine schlanke, leichte, elegante, strebende und geradezu überirdisch schwebende Architektur. Vertikalität beherrscht den Raum; sie läßt alles Horizontale möglichst zurücktreten. Das wunderbare Emporstreben ist wesentlich ein geistiges; es ist ein erbauliches und eindrucksvolles sursum corda! Wir denken auch an Jules Michelet, der im Hinblick auf die gotische Kathedrale schreibt, der Geist habe „sämtliche Teile dieses großen Körpers mit einem gewaltigen und harmonischen Leben durchdrungen […]. Der Geist“, so behauptet er, „ist der Arbeiter seiner Wohnung.“ Die Bewegung nach oben wird verstärkt durch den Umstand,
201 daß die Seitenschiffe niedrig sind, wobei ihre breitausladenden Arkaden auf das Triforium hinzeigen, über dessen gesamter Länge sich Fenster erheben, 18 Meter hoch und angepaßt an die Fächer des Gewölbes. Das Mittelschiff besitzt die stolze Höhe von 42 Metern. Wahrlich eine außergewöhnliche Leistung, bedenkt man, daß beispielsweise die Kathedrale von Chartres hierin nur 37 Meter erreicht und Notre-Dame von Paris sogar nur 32 einhalb Meter. Und dank seiner Fenster, mit einer Gesamtfläche von 6.496 Quadratmetern, ist Saint-Etienne von Metz für eine gotische Kirche ein mit erstaunlich viel Licht erfülltes Bauwerk. Die Weite des Raumes versetzt den Besucher in Staunen und lädt ihn zur Andacht ein. Nun geht es den mittleren Gang hinauf zum Chor. Vielleicht denken wir im Vorbeigehen an den Architekten dieses Prachtbaus, Pierre Perrat, der 1400 gestorben ist und dessen Grabstätte sich einst in der fünften Abteilung des nördlichen Seitenschiffes befand, nahe der Säule des rechten Wandpfeilers. Ihm gegenüber sollten wir voller Bewunderung sein, und natürlich auch mit Dankbarkeit erfüllt. Der Ort befindet sich der Sakramentskapelle gegenüber, deren malerische Fenster, ein von Jacques Villon im Jahre 1957 geschaffenes Werk, Kompositionen aufzeigen, die sich durch ihre scharfen geraden Linien, ihre strengen geometrischen Parzellen sowie ihre äußerst lebhaften, fast aggressiven Farben auszeichnen. Von Perrat erzählt man sich eine packende Legende. Es heißt, er habe Hilfe vom Teufel erhalten, nachdem er ohne vorherige Lektüre ein Pergament unterschrieben hatte, das ein kleiner Mann ihm darbot. Kurz nach seinem Tod sei dann der Fremde zurückgekehrt, um sich seines Leichnams zu bemächtigen. Doch über seiner letzten Ruhestätte wachte der Erzengel Michael. Er erkannte den schlimmen Gesellen und erklärte ihm, er könne nicht in den Besitz der Seele des Verstorbenen gelangen, denn es habe keine Beerdigung stattgefunden. Der Sarg war nämlich an einer Wand innerhalb des Doms befestigt worden. So mußte der Teufel kläglich abziehen, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Eine Erzählung, die an den Doktor Faust erinnert, spannend
202 und sinnvoll zugleich. Wir sollten uns fragen, wieso das Volk in seinen Fantasien gerne die Beihilfe des Teufels dort vermutet, wo im vollsten Sinne des Wortes ein außergewöhnliches, ja übermenschliches Werk entsteht. In bezug auf das Übermaß zeigt sich allerdings das Christentum versöhnlicher als die alten Griechen: Es hält die Maßlosigkeit als solche nicht für schuldig und einer exemplarischen Strafe bedürftig. So wurde denn unser genialer Architekt auch nicht zu ewiger Höllenpein verdammt. Den himmlischen Mächten gegenüber war der Teufel nicht stark genug. Seine List ward vereitelt. Doch es stellt sich immerhin die berechtigte Frage, weshalb es solche Gefährdungen gerade für diejenigen Menschen gibt, deren Begabung die üblichen Normen übersteigt und die somit zu Höchstleistungen fähig sind. Die christliche Gesinnung gewährt ihnen zwar das Heil, aber sie leben an dunklen Abgründen. Schreiten wir aber weiter hinauf, bis zu den Stufen des Chores! So gelangen wir in das Querschiff, das zusammen mit dem Hauptschiff ein Kreuz bildet. Findet unser Besuch an einem schönen sonnigen Morgen statt, dann erleben wir auf unserer rechten Seite das prächtige Schauspiel, das die helle Beleuchtung des im 16. Jahrhundert von Valentin Bousch geschaffenen Glaswerks bei höher steigender Sonne bietet. Das Fenster flammt, von Licht durchflutet, durchtränkt. Die Komposition, mit ihrem Reichtum an kräftigen Farben, zeigt auf drei Ebenen eine Reihe von mehr oder weniger feierlich ausgestatteten Figuren: lauter Heilige, bis auf zwei Ausnahmen. Oben und unten ist es jeweils eine Prozession heiliger Bischöfe; das mittlere Feld enthält dagegen die Darstellung bekannter heiliger Frauen, geschart um Maria, die ihrer Mutter Anna das Jesuskind hinhält. Besonders das feurige Scharlachrot wirkt sehr belebend, ja aufreizend; es ist geschickt über die gesamte Fläche verteilt, ergänzt durch ein helles Gelb, und mit einem Smaragdgrün und verschiedenen blauen Farbtönen kontrastierend. In der krönenden Spitze findet das Kunstwerk seinen Abschluß mittels einer Rose, die eigentlich eine Sonne ist, deren rote und gelbe Strahlen sich
203 in einem einprägsamen Gegensatz von einem teils blassen, teils starken blauen Untergrund abheben. Gegen Abend wird es dann das Pendant von Bouschs Fenster sein, das aufleuchtet, jetzt im milderen Schein der niedergehenden Sonne, ein nicht weniger hervorragendes Kunstwerk auf der Gegenseite, der Abschluß des nördlichen Arms vom Kreuz der Kirchenschiffe. Diese Glasarchitektur wurde 1504 von Thiébaut de Lyxheim geschaffen, allerdings mit Ausnahme der unteren Galerie. Wiederum einer dieser germanisch klingenden Namen, die Zeugnis geben von der früheren historischen Zusammengehörigkeit Lothringens mit den deutschen Ländern. Die Darstellungen enthalten ausschließlich große Heiligenfiguren, doch sind sie deutlich weniger triumphal als dies bei Bousch der Fall ist. Und allgemein betrachtet haben die Farben hier auch nicht die gleiche Lebendigkeit, den gleichen Glanz. Es gibt viele weiße Parzellen, die sich nach oben hin vermehren. Die Figuren aber sind fein gezeichnet, dazu mannigfaltig und mit vielen Details versehen. Bei Einbruch der Dunkelheit wird das Fenster von innen her beleuchtet, was sehr beeindruckend ist für den Betrachter draußen. Über einem Teil der Altstadt, ganz besonders über den Dächern der unten an einem Arm der Mosel liegenden Häuser, entzündet dieses Mosaik aus vielen Farben sich wie eine phantastische Nachtleuchte, eine riesige, wundersame Ampel. Um es zu bewundern, macht der Fußgänger halt auf dem Pont St-Marcel oder, besser noch, auf dem Pont de la Préfecture, es sei denn, er bevorzugt die romantische Atmosphäre der Place de la Comédie mit dem sanften Rauschen ihrer Wasserkunst, der aufsteigenden, sich neigenden und sich in das runde Becken stürzenden Strahlen. Kehren wir aber zurück ins Innere des Domes! Im nördlichen Teil des Bauwerks schauen wir uns die aus den sechziger Jahren stammenden Fenster Marc Chagalls an, davon zuerst, in der linken Wand des Querschiffs, das Werk mit der Schöpfung und der Geschichte des irdischen Paradieses: eine harmonische Kompo-
204 sition, gehalten in einem Zitronengelb mit Übergängen ins Weiß oder in den Ocker. Nachdem unser Blick sich auf den Teil des Triforiums gerichtet hat, der die Bouquets floraux (Blumensträuße) des Künstlers enthält, betreten wir den Chorumgang, wo wir gleich an zwei weitere Fenster des berühmten Malers herankommen: Erneut sind es Illustrationen des Alten Testamentes, besonders auffallend diesmal durch ein kunstvolles Gemenge blauer Farbtöne. Danach wenden wir uns wieder der Mitte des Gotteshauses zu, vor den hoch gelegenen Chor tretend, dessen Fenster ebenfalls Werke von Valentin Bousch sind. Wir werfen auch einen Blick auf den Hauptaltar, das dunkle, kunstvoll geschnitzte Chorgestühl, den Bischofsthron. Letzterer ist aus einem einzigen hellen Marmorblock gehauen und leicht asymmetrisch geformt. Er war schon im dritten Jahrhundert der Sitz des heiligen Clemens, des ersten Bischofs von Metz. 6. Rose – unsterblich Doch jetzt der große Augenblick! Wir drehen uns um, das heißt wir kehren uns der Westseite zu, also dem vorderen Teil der Kirche. Falls wir unseren Besuch an einem von Sonnenlicht durchströmten Nachmittag unternommen haben, dann erleben wir jetzt plötzlich einen wunderschönen, blendenden Anblick, sicher den großartigsten, den die Kathedrale Saint-Etienne de Metz zu bieten hat. Uns gegenüber strahlt das Fenster Hermanns de Munster: 350 Quadratmeter Glaswerk, Ende des 14. Jahrhundert geschaffen, mit seiner monumentalen Fensterrose über dem Hauptportal, die einen Durchmesser von 10,25 Metern aufweist. Getragen von zwei Reihen kleinerer, lanzettenförmiger Fenster, entfaltet sich die Blume in sechzehn großen Petalen, kunstvoll umringt von drei- und vierlappigen Blättern. Ein grandioses Schauspiel, das an ein gewaltiges Feuerwerk erinnert, dessen Raketen beim Explodieren sich in Hunderten glänzender Lichtpetalen ergießen. Das ganze Glaswerk schimmert, funkelt, und
205 die unzähligen weißen Parzellen blitzen im hellen Schein der Sonne wie Kristalle. Das erste Mal, als ich in den Genuß dieses herrlichen Schauspiels kam, fühlte ich mich nicht nur überwältigt, sondern auch von einer Art Glücksgefühl erfaßt. Glück, es kam sicher nicht allein vom ästhetischen Genuß her. Ich empfand auch tiefe Dankbarkeit. Diese konnte sich natürlich nur auf den Schöpfer dieses prachtvollen Werkes richten, Hermann, der von Münster aus Westfalen gekommen war, um dieses Kunstwerk zu schaffen. Ein Vorname, sowie der Name einer Stadt – sie sagen reichlich wenig über die Person aus. Wir wissen nur, er hat noch andere Werke ausgeführt, und es ist im Jahre 1381 gewesen, daß das Kapitel der Metzer Kathedrale mit ihm einen Vertrag zwecks Bau des Fensters an der Westfassade abschloß. Er starb in Metz 1392. Zum Glück hatte er die Rose noch fertigstellen können. Beigesetzt wurde er im Innern der Kathedrale, am Fuße seiner großen Rose. Zeugnis dafür gibt ein Epitaphium im nördlichen Seitenschiff, links neben der Notre-Dame de Bon-Secours, einer weißgekleideten Muttergottesstatue aus dem 16. Jahrhundert. Welch ein ergreifender Kontrast! Vom Körper ist so gut wie nichts mehr übrig, es sei denn ein Rest Staub, vergraben unter einer schweren Granitplatte und erkennbar höchstens noch mittels eines Mikroskops. Und was die alte, kaum lesbare, in Stein gemeißelte Inschrift betrifft, so zeigt sie nur in aller Schlichtheit hin auf den Ort, an dem sich das Grab befand. Doch über uns, in einer Höhe von über dreißig Metern, glänzt, strahlt, blüht die wunderschöne Rose – seine Rose –, mächtig prangend voller Licht und Leben. Sie hört nicht auf, die vielen Besucher zu begeistern. Begeisterung im wahrsten Sinne des Wortes: Erfüllung mit Geist. Solange die Kathedrale steht, kann sie nicht welken. Sie ist da zur Bewunderung des Betrachters, des Beters, des Pilgers, des Reisenden, des Ausflüglers. Einen kurzen Augenblick lang verleiht sie ihm in weitem Ausmaße jene ganz besondere, reine Art der Freude, die ihm allein durch die Ausstrahlung hohen geistigen Könnens geschenkt zu werden vermag.
206 Die Fensterrose ist zum gemeinsamen kulturellen Erbgut geworden, nachdem sie ausschließlich ihrem Schöpfer gehörte. Dialogisch betrachtet ist sie die Antwort auf unser geistiges Verlangen, unser Bedürfnis nach Idealisierung. Daher unsere Dankbarkeit. Eine Begegnung mit dem Künstler findet statt, denn er lebt in seinem Werk. Dieses ist ja seine Leistung, sein Denken, sein Fühlen, sein Können. Er bleibt in ihm gegenwärtig, solange es Menschen gibt, die sich angesprochen fühlen und in ihrer Bewunderung dankend antworten.
Andreas Lischewski ÜBER DIE ERZIEHUNG ZUM PATRIOTISMUS Geschichtlicher Streifzug zu einem aktuellen Thema
Die Aufklärung kannte zwei unterschiedliche Begriffe des Patriotismus: Der eine bezeichnete die Opferbereitschaft der Untertanen und forderte einseitig die persönliche Uneigennützigkeit des Bürgers, während der andere auch die Regenten in die Pflicht nahm und die patriotische Haltung entsprechend in einer wechselseitigen Bezogenheit gründen ließ. – Viele Äußerungen Wolffs heben nun zwar den Gehorsam der Untertanen gegenüber der souveränen Herrschaft der väterlichen Obrigkeit recht einseitig hervor. Im Kontext seiner Gesamtphilosophie scheint jedoch das Modell einer liebenden Gegenseitigkeit zu überwiegen, bei welcher eine Einsicht in die vorauslaufend empfangenen Wohltaten im Gegenüber eine moralische Dankbarkeit erzeugt, die sich ihrerseits wiederum als Patriotismus äußert. Und eben diese Vorstellung dürfte dann auch den aufgeklärten Diskurs um eine „Erziehung zur Vaterlandsliebe“ nicht unerheblich beeinflusst haben.
I. Einleitung Patriotismus als bürgerliche Uneigennützigkeit Es ist wieder Mode geworden, dass die Politiker ihre jeweiligen Forderungen mit dem Hinweis auf die patriotischen Pflichten ihrer bürgerlichen Untertanen zu bekräftigen suchen; und so wetteifern sie schon seit Jahren geradezu darin, die sich verbreitenden unpatriotischen Verhaltensweisen ausfindig zu machen und statt ihrer an die rechte Sorge für das Vaterland zu erinnern: Unpatriotisch sei der gemeine Mann, der seine Steuern nicht pünktlich und ordnungsgemäß entrichte, unpatriotisch auch der Kranke, dem seine persönliche Gesundheit über alles gehe, und noch
208 unpatriotischer natürlich der Unternehmer, der aus bloßen Kosten- und Wettbewerbsgründen seine Arbeitsplätze zunehmend in die nunmehr neu erschlossenen europäischen „Billiglohnländer“ zu verlagern wagt. Nun kann sich eine solche Auffassung freilich auf eine durchaus gewichtige Tradition berufen, denn die persönliche Uneigennützigkeit des Bürgers im Dienste des Allgemeinwohls galt schon in der Aufklärung als ein zentrales Kennzeichen des wahren Patrioten. Nach Carl Friedrich von Moser etwa setzt sich der Patriot für die Wohlfahrt seines Vaterlandes gerade „mit Verläugnung seines eigenen Nutzens oder Schadens“1 ein, und Johann Christoph von Adelung definiert ihn entsprechend als „eine Person, welche das allgemeine Beste auch zum Nachtheile ihres eigenen Besten befördert“2. Die Politiker ihrerseits scheinen sich sodann auf solche Auffassungen entsprechend gerne berufen zu haben, wenn es darum ging, das Arbeitsethos und die Disziplin der Untertanen anzufachen, so dass schließlich der Appell an die Vaterlandsliebe zu einem zentralen Moment der „politischen Pädagogik aufgeklärter Fürsten“3 überhaupt werden konnte.
Die Gegenseitigkeit der patriotischen Haltung Doch geht es augenscheinlich auch anders. Als sich Horst Köhler nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 23. Mai 2004 in einer ersten Ansprache an die Bundesversammlung wandte, da tat er dieses nicht zuletzt mit den eindrucksvollen Worten: „Deutschland hat mir viel gegeben. Davon möchte ich etwas zurückgeben. Ich liebe unser Land.“4 In abendlichen Interviews auf diesen seinen „aufgeklärten Patriotismus“ angesprochen, hat er die dieser Aussage zugrunde liegenden Überzeugungen denn auch weiter ausgeführt: Nach dem Krieg habe er in Deutschland die Möglichkeit eines Studiums erhalten, er habe eine berufliche Karriere machen können und er sei insgesamt vor allen Dingen auch in wesentlich friedlicheren Zeiten aufgewachsen. Diese
209 Tatsachen also waren es nicht zuletzt, die ihn nunmehr, nach einigen Jahren im Ausland, „mit einem Gefühl von Freude und Dankbarkeit“ nach Deutschland zurückkehren ließen, um das Amt des Bundespräsidenten anzutreten. Patriotismus scheint hier nicht zuerst eine Forderung zu sein, die die Politik an ihre Bürger richtet, sondern eine moralische Verpflichtung, die sich als Dankbarkeit interpretiert: Weil sich die Einsicht eingestellt hat, vom Staat gleichsam vorauslaufend etwas Gutes empfangen zu haben, deshalb stellt sich auch das patriotische Gefühl ein, diesem Land in Form von Dank seinerseits etwas geben zu können. Nun zeigt jedoch ein erneuter Blick in die Geschichte, dass auch dieses Verständnis von Patriotismus durchaus nicht unüblich war. Denn Patriotismus wurde ursprünglich nicht nur vom Bürger, sondern auch von den Regenten erwartet, so dass der Patriot in Zedlers Universal-Lexikon geradezu als ein „rechtschaffender Landes=Freund“ beschrieben werden konnte, „der Land und Leuten treu und redlich vorstehet“.5 Und wenn es nun auch durchaus ein späterer Fortschritt war, dass „Patriotismus nicht mehr allein denen zugeschrieben wurde, die ein Gemeinwesen regierten, sondern auch denen, die in ihm zu leben hatten“6, so konnten sich doch erstere niemals schlechthin von einem patriotischen Handeln dispensieren lassen. Im öffentlichpolitischen Sprachgebrauch der Aufklärung scheint der Patriotismus daher wesentlich als „eine Gesinnung nicht der Herrschaft, sondern der Solidarität“ gedacht worden zu sein, da sich eben auch die Regenten ihrerseits „um den Ruf bemühen mußten, patriotisch zu handeln“.7 Patriotismus war also keine Einbahnstraße, sondern gründete in einer wechselseitigen Bezogenheit: Er setzte beim Regenten eine aufgeklärte und wohltätige Absicht voraus, die in einer nicht willkürlichen, sondern auf das allgemeine Beste orientierten Gesetzgebung anschaulich zu werden hatte, und forderte vom Bürger entsprechend seiner sittlichen Einsicht in die vom Staat genossenen Wohltaten sodann ein freiwilliges und uneigennütziges Engagement für die weitere Verbesserung des politischen und sozialen Lebens.8
210 Erziehung zum Patriotismus und die Vorläufigkeit der politischen Wohltaten In die weit verbreitete „Klage über den Mangel der Tugend und des Patriotismus“ stimmten selbstverständlich auch die Pädagogen mit ein, die zugleich vermeinten, dass die „Wiedergeburt der Liebe zum Vaterlande“ und das Wiederaufleben des offensichtlich „erstorbenen Patriotismus“ nirgendwoanders gefunden werden könne als „in dem Schoße der niedrigen und höheren Schulen“.9 Doch eine solche Erziehung zur Vaterlandsliebe sollte nicht einfach nur eine blinde und letztlich irrationale Anhänglichkeit an den Staat zu befördern suchen – wie es spätere Formen einer stark emotionalisierten Nationalerziehung oftmals missverständlich suggerierten; ihre Aufgabe bestand vielmehr in der Beförderung eines Patriotismus, der in der Einsicht gründet, dass Gesetzestreue und Anteilnahme an den öffentlichen Geschäften gerade deshalb Sinn machen, weil die Regierungen ihrerseits die Gesetze weise eingerichtet hatten und alle Staatsgeschäfte mit Umsicht zum Nutzen des gemeinsamen Wohles zu befördern suchten. Angesichts der faktischen Lasten freilich, die den Menschen – nicht nur damals – aufgebürdet wurden und „deren Schwere sie fühlten“, war wohl auch diejenige Frage entsprechend nicht ganz unberechtigt, die heute fast unverändert erneut gestellt werden könnte: „Ist es zu verwundern, daß Patriotismus und Liebe zu den Regenten nirgends groß mehr sind?“10 Unüberhörbar ist denn auch der satirische Unterton in der Forderung, man möge anstelle der Heiligenfeste doch Nationalfeste einrichten, die als Tage der Erinnerung „an vorzüglich große und edle Wohlthäter des Landes“ zugleich in der Lage seien, „patriotische Tugenden hervorzubringen“.11 Die Tendenz ist also eindeutig: Patriotismus lässt sich auch pädagogisch nur befördern, wenn der Zögling einen Begriff von eben den Wohltaten zu erlangen vermag, die Regent und Vaterland ihm gleichsam vorauslaufend erzeiget haben. Und selbst ein so überzeugter Patriot wie Christian Daniel
211 Voß, der so viel von den zu erlernenden Pflichten des Heranwachsenden spricht, kommt daher nicht umhin, vorweg erst einmal die Frage aufzuwerfen, was der „wahrhaft gute Regent“ – etwa mittels der Gesetzgebung – seinen Bürgern Gutes tun müsse, damit er hernach „ihres Vertrauens und ihrer Liebe gewiß“12 sein könne. Denn, so auch die Überzeugung von Voß: nur durch die vorauslaufenden Wohltaten werde der Untertan „erkennen und empfinden“ können, „was der Staat ihm ist, was er dem Staate ist“,13 und nur, wo die Erziehung durch Einsicht in den Zweck und Wert des Staates ein gestärktes Vertrauen in die Gesetzgebungsmaßnahmen des Monarchen weckt, würde sie entsprechend eine Führerin zum „Tempel der ächten politischen Weisheit und Vaterlandsliebe“14. Nun scheint sich diese Auffassung einer patriotischen Erziehung, insofern sie nicht unabhängig von den vorgängigen Wohltaten einer weisen Regierung gedacht werden kann, aber insbesondere auf die Staatsphilosophie Christian Wolffs berufen zu können, der sich also auch unter dieser Rücksicht als die „zentrale Gestalt der Aufklärungsphilosophie“15 erweist. Bei ihm werden bereits die grundlegenden Begriffe geprägt, die auch spätere Deutungsmuster des Patriotismus nicht unwesentlich beeinflusst haben dürften – und dies gilt nicht nur für die Entwürfe einer Erziehungspolizei bei den Kameralisten16, sondern vor allen Dingen auch für die Diskussion um eine patriotische Erziehung, wie sie insbesondere unter Friedrich II.17 und seinem Minister Karl Abraham von Zedlitz18 schließlich geführt wurde.
II. Christian Wolff (1679-1754): „Freundschaftliche Liebe“ als Kontext patriotischer Erziehung? Zu denjenigen, die das staatstheoretische Denken der Aufklärung am nachhaltigsten geprägt haben, gehört zunächst zweifelsfrei der Philosoph Christian Wolff, dessen philosophische Pflichtenlehre sogar als die „eigentliche Staats- und Rechtslehre
212 des aufgeklärten Absolutismus“19 bezeichnet wurde. Geboren in Breslau und durch ein Gelübte seines Vaters zum Theologenstande bestimmt, hatte er in seiner Heimatstadt die schier endund ausweglosen Konfessionspolemiken intensiv durchlebt, die ihn schon früh zu der Auffassung führten, dass allein der Bezug auf die menschliche Vernunft einen Ausweg aus den Streitigkeiten bieten könne.20 Dabei kamen die entsprechend geforderte Orientierung des Denkens an der Strenge des mathematischen Beweises und die Forderung, alles Wissen um Seele, Welt und Gott durch eine streng demonstrierende Methode in ein umfassendes System zu bringen, natürlich auch den Bestrebungen des neuzeitlichen Rationalismus und seines „geometrischen Geistes“21 überhaupt entgegen. Doch barg die Hochschätzung der menschlichen Vernunft auch weitergehende Konsequenzen, die den erhofften Ausgleich der Streitigkeiten dann leider eher pervertierten als beförderten. Denn als Wolff behauptete, dass selbst Nichtchristen wie die alten Chinesen eben aufgrund ihrer natürlichen Vernunftkräfte allein, und also ohne die Form göttlicher Offenbarung, durchaus tugendhaft leben könnten,22 da musste solches den frommen Pietistenkreisen in Halle als Atheisterei erscheinen. Man betrieb eine Kampagne gegen Wolff, der schließlich im November des Jahres 1723 von Friedrich Wilhelm I. bei Androhung des Stranges des Landes verwiesen wurde und binnen 48 Stunden Halle zu verlassen hatte.23 Und doch war es nicht zuletzt dieses Ereignis, welchem die Wolffsche Philosophie nachmals ihre Verbreitung verdankte, hatte es ihn doch gleichsam über Nacht zum „Märtyrer der Aufklärung“24 werden lassen. Über eine weit verzweigte und sehr einflussreiche Anhängerschaft sowie durch die zahlreichen Kontroversen, die nunmehr Wolffianer und Antiwolffianer miteinander ausfochten, begann Wolffs Philosophie das Denken der Aufklärung wie keine andere zu prägen; und über Daniel Nettelbladt und Joachim Georg Darjes in Preußen und Johann Adam von Ickstatt und Karl Anton von Martini im katholischen Süden des Reiches hat er dabei nicht nur das naturrechtliche Denken über-
213 haupt maßgeblich beeinflusst, sondern indirekt auch auf konkrete politische Ereignisse eingewirkt.25 Durch seine deutschen Schriften hatte Wolff schließlich sogar die gebildeten Kreise auch außerhalb des universitären Gelehrtentumes erreicht, und so sind seine Einflüsse bei zahlreichen Aufklärungsgesellschaften, in der reichhaltigen Publizistik des 18. Jahrhunderts und selbst bei den französischen Enzyklopädisten durchweg nachweisbar.26 Selbst zwischen der Wolffschen Naturrechtslehre und der Mentalität des preußischen Beamtentumes ist inzwischen eine „bemerkenswerte Kontinuität“27 festgestellt worden. Und so wird man wohl hinsichtlich der allgemeinen Stellung, die ihm im Rahmen der Aufklärung zukam, durchaus zurecht sagen können: „An Wolff führt kein Weg vorbei.“28 Doch selbst wenn man nunmehr unterstellt, dass durch diesen umfassenden Einfluss auf das Denken der Aufklärung überhaupt der Rekurs auf Wolff auch unter pädagogischer Rücksicht in gewisser Weise legitimiert sein könnte, so ist doch nicht zu verkennen, wie schwer es ist, aus den wenigen Anmerkungen Wolffs über Erziehungsfragen eine auch nur halbwegs vollständige pädagogische Ansicht zu entwickeln;29 und zwar trotz der Selbsteinschätzung Wolffs, „die Auferziehung viel sorgfältiger“ abgehandelt zu haben, „als bisher von andern geschehen“ (Ausführliche Nachricht 10 § 154). So aber scheint das Fehlen pädagogisch bestimmter Darstellungen Wolffs – sieht man einmal von den wenigen Äußerungen über den Einfluss seiner Methode auf den Lehrplan und die Unterrichtsgestaltung des höheren Bildungswesens ab30 –, gerade angesichts seiner ansonsten offenbaren Maßgeblichkeit doch umso schwerer zu wiegen. Lohnend scheint also der Versuch, das Wolffsche Erziehungsverständnis im Kontext seiner Gesamtphilosophie zu skizzieren, und auch die Parallelen zumindest anzudeuten, die Wolff von dort aus zu seiner Interpretation des aufgeklärten Absolutismus zieht. Dementsprechend soll zunächst der metaphysisch wie naturrechtlich bestimmte Begriff der Vollkommenheit (perfectio) als Ausgangspunkt der praktischen Philosophie31 Wolffs
214 überhaupt skizziert werden; denn während die Forderung nach einem logisch-deduktiven Beweisverfahren gleichsam den formalen Zusammenhang der Wolffschen Philosophie konstituiert, so wird er material von eben diesem Begriff der Vollkommenheit her bestimmt.32 Hernach wäre zu fragen, für welche Zusammenhänge er innerhalb des ethischen, pädagogischen und politischen Denkens eine Rolle spielt. Da schließlich ein solcher Versuch immer auch eine Stellungnahme in der andauernden Diskussion herausfordert, ob Wolff und seine Schule nur „Anhänger oder gar Funktionäre des absolutistischen Staatsgedankens“ waren, oder ob sie als „Vorkämpfer der liberalen, freiheitlichen, ja revolutionären Lehren“ betrachtet werden können, „die sich in den Ereignissen um 1789 politisch konkretisierten“33, soll eine kurze Einordnung des pädagogischen Denkens unter dieser Rücksicht die Interpretation beschließen. Das Ergebnis sei jedoch vorweg angedeutet: dass nämlich einerseits die pädagogische Beurteilung Wolffs nicht weniger ambivalent ausfallen wird wie seine staatstheoretische Einschätzung34 oder die Bewertung seiner Philosophie überhaupt35; dass er aber zugleich erste Hinweise zur Konturierung eines möglichen Begriffs der patriotischen Erziehung gegeben hat, die wirkungsgeschichtlich nicht ohne Bedeutung blieben.
Die Vollkommenheit im Rahmen einer Philosophie des Möglichen Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Descartes sucht Wolff zunächst einen unmittelbar gewissen Ausgangspunkt des Philosophierens, und er glaubt diesen zu Beginn seiner Metaphysik in jenem Bewusstsein gefunden zu haben, in welchem dem Menschen nicht nur er selbst, sondern auch die außerhalb seiner befindlichen Dinge gegeben sind: „Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewußt, daran kan niemand zweiffeln“ (Metaphysik 1, § 1). Doch kann sich diese Gewissheit zunächst nur auf das be-
215 ziehen, was bereits wirklich ist, also auf das „Dass“ der Faktizitäten. Weil sich aber der Philosoph nicht mit der Klärung des „Dass“ zufrieden gibt, sondern vielmehr nach dem „Warum“ fragt, welches eben erst den eigentlichen Grund dafür enthält, „dass“ uns überhaupt etwas als wirklich begegnen kann, so muss er das Wirkliche gleichsam aus seiner vorgängigen Möglichkeit herleiten können: Denn es vermag nicht wirklich zu sein, was nicht zuvor auch möglich war (vgl. Metaphysik 2, § 15), während das schlechthin Unmögliche von jeder Verwirklichungsform notwendig ausgeschlossen bleiben müsse. Doch weil auch hier des Fragens noch kein Ende ist, Wolff vielmehr die eigentliche Aufgabe der von ihm so genannten „Welt-Weisheit“ gerade darin erblickt, „alle möglichen Dinge“ zu bedenken –, nämlich unter der Rücksicht, „wie und warum sie möglich sind“ (Logik Vorbericht § 1) –, so muss er schließlich auch einen Grund angeben können, nach welchem sich diese Möglichkeit jeweils bemisst (vgl. Logik Vorbericht § 4 f.). Und eben ein solches Kriterium erblickt Wolff nun schließlich darin, dass das Mögliche vorab widerspruchsfrei gedacht werden können muss (vgl. Metaphysik II, 12 f.): Weil also beispielsweise „Teller seyn“ und „von Holtze seyn“ sich einander nicht widersprechen, so ist es darum auch möglich, dass uns ein „höltzerner Teller“ in Wirklichkeit wird begegnen können; doch der Begriff eines „eisern Holtzes“ beispielsweise enthält eine contradictio in adjecto, weshalb es schlechterdings unmöglich ist, dass uns der so bezeichnete Gegenstand jemals als solcher wirklich begegnen wird. Genau in diesem Versuch aber, die Frage nach der Wirklichkeit auf die sie ermöglichenden Erkenntnisgründe zurückzuführen, um aus diesen allein heraus wiederum die gesamte Ontologie zu entwickeln, liegt sicherlich die „selbständigste Leistung“ Wolffs, für welche er „überhaupt keinen Vorgänger“36 hatte; und doch deutet er zugleich schon auf die Transzendentalphilosophie Kants hin, hatte dieser doch ausgerechnet Wolff als jenen „Urheber des […] Geistes der Gründlichkeit in Deutschland“ bezeichnet, ohne dessen Vorarbeiten auch sein eigenes Bestreben, der
216 Metaphysik „den sicheren Gang einer Wissenschaft“37 anzuweisen, nicht angemessen gewürdigt werden könne. Ist die Philosophie aber auf Grund gestoßen, so muss sie nunmehr gleichsam auch den umgekehrten Weg gehen, und alle unsere Erkenntnisgründe solcherart aus dem unmittelbar gewissen Selbst- und Weltbewusstsein explizieren, dass damit einsichtig werden kann, wie wir alle nur möglichen Dinge notwendig denken, wenn wir sie denken, und zwar zunächst unabhängig davon, ob diese uns auch bereits tatsächlich gegeben sind. So aber ist das Ding eben nicht von seiner Wirklichkeit, sondern von seiner Möglichkeit her definiert, durch welche es „seyn kan, es mag würcklich seyn oder nicht“ (Metaphysik 2, § 16). Wann immer wir also ein solches Ding denken, so denken wir es zunächst als einerlei mit einem anderen Ding oder als von ihm unterschieden, denken es als ein Ganzes, bestehend aus einer Anzahl seiner Teile, oder betrachten es in der Relation des Größer und Kleiner; wir können ferner nach dem Grund und der Ursache eines Dinges fragen, und sein Wesen von den Eigenschaften unterscheiden. Solcherart aber denken wir die Dinge schließlich im Zusammenhang einer umfassenden Ordnung, indem wir sie zunächst im Raum verorten, der die Ordnung derjenigen Dinge darstellt, „die zugleich sind“ (Metaphysik 2, § 46), sie desweiteren jedoch auch unter der Rücksicht ihrer Veränderungen in der Zeit betrachten, die die Ordnung dessen ist, „was auf einander folget“ (Metaphysik 2, § 94). Schließlich aber gehört zur Ordnung auch ihr zureichender Grund, der durch die weitere Untersuchung der Frage bekannt wird, warum die Dinge nunmehr so und nicht anders neben einander stehen, sich ihre Veränderungen eben genau so und nicht anders im Nacheinander der Zeit vollziehen (vgl. Metaphysik 2, 142 ff.). Denn erst dieser Grund ist nunmehr gleichsam der natürliche Zweck, durch welchen das Vielfältige miteinander verbunden ist; und wenn Wolff die Vollkommenheit der Dinge entsprechend dadurch definiert, dass er sie als die „Zusammenstimmung des mannigfaltigen“ fasst38, dann besteht das Mannigfaltige eben in den „vielerley Theilen“,
217 aus denen etwas zusammengesetzt ist, die Zusammenstimmung dagegen in der „allgemeinen Absicht“ (Metaphysik 2, § 152), um derenwillen diese Teile zusammenstimmen sollen. Solcherart aber hat schließlich „jede Vollkommenheit ihren Grund, daraus sie erkannt und beurtheilet wird“ (Metaphysik 2, § 153): Der Grund der Vollkommenheit einer Uhr beispielsweise liegt in dem Zweck der Zeitangabe, so dass ihre Vollkommenheit umso größer ist, je zusammenstimmender ihre einzelnen Teile diesen Zweck realisieren; und auf eine analoge Weise dient der Besuch der Universität dem Zwecke der Gelehrsamkeit, so dass die einzelnen Handlungen des studentischen Lebenswandels umso vollkommener sind, je zusammenstimmender sie eben diesen Zweck befördern. Erst jetzt aber beginnt sich das eigentlich kritische Potential des Vollkommenheitsbegriffes zu entwickeln. Denn weil das Denken der Möglichkeit eines Dinges zugleich bedeutet, dieses Ding in seiner möglichen Vollkommenheit zu denken, so ist das Wissen um eben diese vollkommene Möglichkeit grundsätzlich immer schon umfassender als die Kenntnis des bereits Wirklichen, welches doch nur einen begrenzten Ausschnitt des prinzipiell Möglichen darstellt; weshalb die Philosophie als Möglichkeitswissenschaft immer auch ein Wissen davon besitzt, was eben „noch nicht wirklich ist“39, wohl aber prinzipiell „seyn kan“ (Metaphysik 2, § 16). Bereits in der Metaphysik deutet Wolff daher auf das Verfahren hin, wie die mögliche Vollkommenheit einer Sache erkannt werden könne, wobei das Entscheidende jeweils darin liegt, dass das Mannigfaltige in ein vergleichendes Verhältnis zu seinem eigentlichen Grund gesetzt wird (vgl. Metaphysik 2, § 157). Insbesondere in den späteren Anmerkungen aber hat er denn ausdrücklich auf diesen „Nutzen der Lehre von der Vollkommenheit“ (Anmerkungen § 45, S. 92) hingewiesen. Der Blick auf die Vollkommenheit – eben verstanden als eine mögliche bessere Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem bestimmten Zwecke – mache uns nämlich nicht nur darüber „urtheilen, was für einen Grad der Vollkom-
218 menheit“ ein „würckliches“ Ding bereits besitzt (Anmerkungen § 45, S. 96), sondern könne vielmehr auf die gleiche Weise auch zu einem besseren Verständnis des menschlichen Handelns beitragen: „Wenn man alle Handlungen eines Menschen zusammen nimmet, und also seinen gantzen Wandel, der daraus entstehet, in Betrachtung ziehet; so findet sich auch hierinnen ein gewisser Grad der Vollkommenheit, der an sich möglich ist“ (Anmerkungen § 45, S. 98). Und wie also in der Veränderung eines jeden endlichen Dinges nur „eines nach dem andern“ kommt, was je „in ihm würcklich werden kann“ (Metaphysik 2 § 109), so werde auch die mögliche Vollkommenheit des Menschen erst im Laufe der Zeit zunehmend verwirklicht: Allein der Blick auf die ihnen mögliche Vollkommenheit zeigt den Menschen zugleich ihre faktische Unvollkommenheit, und weist ihnen also inmitten dessen, was sie sind, zugleich ihre Möglichkeiten auf, „darnach sie streben sollen, so viel an ihnen ist“ (Anmerkungen § 45, S. 99).
Die Normativität der Vollkommenheit in der naturrechtlichen Handlungstheorie Die Bestimmungen der Vollkommenheit, wie sie Wolff im Rahmen der Ontologie entwickelt, hinterlassen in der Tat noch einen recht „zwiespältigen Eindruck“, denn gerade das bei Wolff so beliebte Uhren-Beispiel droht mit seinem eher statisch-mechanistischen Gehalt noch ganz den dynamischen Aspekt zu überlagern, der sich aus dem Vergleich des Mannigfaltigen mit seinem Grunde ergeben konnte.40 Doch hat Wolff den Begriff der Vollkommenheit eben nicht nur in der Metaphysik entwickelt, wobei er sich insbesondere auf Leibniz berufen konnte,41 sondern ihn vielmehr auch als erster zum „Grundprinzip eines Naturrechtssystems“42 erhoben. Hier nun entfaltet Wolff den Begriff der Vollkommenheit im Rahmen einer Handlungstheorie, die nicht mehr zuerst nach der Verhältnisbestimmung des Möglichen zum
219 Wirklichen, der Vollkommenheit zum Unvollkommenen fragt, sondern nach der jeweiligen Kraft, die nunmehr auch den Übergang des als möglich Gedachten in die konkrete Wirklichkeit zu leisten vermag: Denn insofern die Kraft die eigentliche „Quelle der Veränderungen“ (Metaphysik 2, § 115) ist, so entspreche ihr auch eine Bemühung, etwas zu tun, und „es erlanget demnach durch die Kraft seine Erfüllung, was nur bloß möglich war, das ist, das Mögliche wird zur Würcklichkeit gebracht“ (Metaphysik 2, § 120). Dabei sind es nun zunächst die „natürlichen Handlungen“, durch die etwas wirklich werden kann, denn für Wolff sind sowohl die menschliche Seele als auch sein Körper schon „an und vor sich selbst […] zu einem gewissen Zweck bestimmt“ (Naturrecht I, 1 § 7), auf welchen hin sie sich gleichsam entwickeln. Dieser Zweck nun aber gilt für Wolff auch als die „Bestimmung“ einer Sache, die das für die Vollkommenheit notwendige Moment der „Uebereinstimmung“ des Mannigfaltigen ausmacht, in welchem also alle Teile als in ihrem einheitlichen Ziel gründen. Das Gesamt derjenigen Bestimmungen aber wiederum, durch welche dieser Zweck beschrieben wird, bezeichnet er sodann als die „wesentliche Vollkommenheit (perfectio essentialis)“ einer Sache, wodurch man sie sich eben „als eine Sache von dieser Art, oder Gattung vorstellet“ (Naturrecht I, 1 § 11). Die wesentliche Vollkommenheit beinhaltet also den Wesensbegriff einer Sache als deren mögliche Vollkommenheit; sie zielt beim Menschen auf die Übereinstimmung seines äußeren Zustandes mit der Gesundheit und Erhaltung seines Körpers und den vernünftigen und willentlichen Fähigkeiten seiner Seele, und bezeichnet damit eben zugleich dessen natürliche Teleologie.43 Und doch gehört es gerade zum Menschen, dass dieser seine Vollkommenheit nicht durch das Handeln der Natur allein zu erlangen vermag, sondern eben durch „freye Handlungen“ (Naturrecht I, 1 § 1) – also ihm zurechenbare, überlegte und daher willentlich vollzogene Taten (vgl. Naturrecht I, 1 § 3 ff.) – an der Verwirklichung der natürlichen Zwecke mitarbeiten kann.
220 Dieses aber geschieht wesentlich dadurch, dass der Mensch seine Handlungen „durch eben dieselben Endursachen“ bestimmt, durch welche auch „die natürlichen Handlungen bestimmt werden“ (Naturrecht I, 1 § 7). Denn nur in diesem Fall werden jene, nicht anders wie schon diese, die „Vollkommenheit des Menschen, oder seines Zustandes […] befördern“, weil nämlich durch die Ausrichtung der Handlung an dem einen, natürlichen Zweck zugleich jeder zufällige Zustand des Menschen mit den Bestimmungen der wesentlichen Vollkommenheit übereinstimmt, eine Übereinstimmung, die Wolff darum nun auch eine „accidentelle (accidentalis) Vollkommenheit“ (Naturrecht I, 1 § 11) heißt; und die Kraft, die diese Vollkommenheit zur Wirklichkeit bringt, ist entsprechend also nicht mehr eine Handlung der Natur, sondern beruht auf der menschlichen Freiheit.44 Nun kann aber bei den freien Handlungen des Menschen unter Rücksicht der zu erreichenden Vollkommenheit durchaus weiterhin unterschieden werden. So fordert Wolff zunächst die „Richtigkeit“ einer einzelnen Handlung und bezeichnet damit „die Uebereinstimmung derselben mit allen wesentlichen Bestimmungen des Menschen, so daß also die Handlung den hinreichenden Grund in ihnen allen zusammen genommen habe“ (Naturrecht I, 1 § 16). Damit ist grundsätzlich ausgesagt, dass in jeder freien Handlung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt getätigt wird, sämtliche Kräfte der Seele mit der körperlichen Kraft der Ausführung zugleich getätigt werden müssen, mithin also weder von Seiten des Verstandes oder des Willens, noch von Seiten der bewegenden Kraft, irgendein Mangel herrschen darf (vgl. Naturrecht I, 1 § 17). Eine vollkommene Handlung lässt sich daher nur als Einheit verständiger, willentlicher und körperlicher Betätigung denken (vgl. Naturrecht I, 2 § 52 f.), die eben graduell an Vollkommenheit gewinnt, je größer die je einzelnen Vollkommenheiten sind – wozu Wolff freilich ausdrücklich auch die durch die Handlung bewirkte Vervollkommnung des äußerlichen Zustandes rechnet: „Was uns und unsern Zustand vollkommener machet, das ist gut. Geld macht unseren äu-
221 ßerlichen Zustand vollkommener, und also ist es auch etwas Gutes“ (Metaphysik 3, § 422). Doch sollen nun derartige Handlungen, so vollkommen sie auch rein als solche betrachtet sein mögen, der Gesamtvervollkommnung des Menschen dienen, mithin also nicht nur als isolierte stehen bleiben, so müssen sie andererseits auch an der vollständigen Vorstellung des Besten überhaupt orientiert werden, welches eben nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als erreicht gelten kann, sondern vielmehr auf die Übereinstimmung aller einzelnen Handlungen in der gesamten Lebensspanne zielt. Als Bedingung der Vollkommenheit tritt also neben die Übereinstimmung der einzelnen Handlungen mit den menschlichen Wesensbestimmungen die Übereinstimmung dieser Handlungen im Verlaufe der Lebenszeit: „Wenn nun der gegenwärtige Zustand mit dem vorhergehenden und dem folgenden und aller zusammen mit dem Wesen und der Natur des Menschen zusammen stimmet; so ist der Zustand des Menschen vollkommen“ (Ethik 1, § 2).45 Alle Handlungen des Menschen sind damit durch die Zeit seines Lebens hindurch verknüpft, so dass für Wolff also „das Beste aus dem Zusammenhange mit seinem gantzen Leben beurteilet werden“ muss (Metaphysik 5, § 908). Doch letztlich kann der Mensch eben „sein gantzes Leben nicht übersehen“; und nicht über das also, „was das Beste ist“, vermag er entsprechend zu urteilen, sondern lediglich darüber, „was das Bessere ist unter dem, so er erkennet“ (Metaphysik 5, § 909). Was ihm somit aber als höchstes Gut oder Seligkeit alleine bleibt, das ist das Fortschreiten „von einer besonderen Vollkommenheit zu einer anderen“ und daher: der „ungehinderte Fortgang zu größeren Vollkommenheiten“ (Ethik 1, § 44).
222 Die Freundesliebe als ein sittliches Grundmodell gegenseitiger Vervollkommnung In Ergänzung zum eher statisch-deskriptiv gedachten Modell der Metaphysik ermöglicht die naturrechtliche Dynamisierung des Vollkommenheitsbegriffes46 zugleich dessen Übernahme in die Ethik, wo ihn Wolff zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu den moralischen Qualitäten derjenigen Handlungen des Menschen macht, durch welche er zu einer „vollkommenen Creatur“ eben nicht „wie die übrigen Creaturen aus Nothwendigkeit“, sondern „aus Freyheit“ (Ethik, Vorbericht § 3; vgl. I, 1 § 1) werden kann.47 Die weitere Deduktion aber zielt entsprechend auf die grundlegende Unterscheidung der guten und der bösen Handlungen: „Was uns und unsern Zustand vollkommener machet, das ist gut. Was uns und unsern Zustand unvollkommener machet, das ist böse“ (Metaphysik 3, § 422. 426). Weil aber „die freyen Handlungen“ des Menschen „entweder die Vollkommenheit, oder Unvollkommenheit ihres innerlichen und äußerlichen Zustandes (befördern)“ (Ethik I, 1 § 2), so sind auch diese entsprechend „entweder gut oder böse“ (Ethik I, 1 § 3; vgl. Naturrecht I, 1 § 12); und da ferner „die Natur des Menschen so beschaffen ist, daß er das Gute begehret, das Böse aber verabscheuet“ (Naturrecht I, 1 § 15; vgl. I, 4 § 118), so werden wir dadurch schließlich verbunden, freiwillig „dasjenige zu thun, was uns und unsern Zustand oder (welches gleichviel ist) unsern innerlichen und aeusserlichen Zustand vollkommener machet, hingegen zu unterlassen, was uns und unsern Zustand unvollkommener machet“ (Ethik I, 1, § 13), worin demnach auch die „Haupt=Absicht“ (Ethik I, 1 § 40) aller freien Handlungen in unserem Leben bestehen solle. Die Pflichten des Menschen gegen sich selbst richten sich entsprechend auf die je einzelnen Vollkommenheiten seiner Seele und seines Leibes, erstrecken sich aber ebenso auf seine äußeren Verhältnisse in Ansehung von Reichtum und Ehre, so dass eben auch diejenigen „wieder das Gesetze der Natur“ handeln, die „wohl auf Leib und
223 Seele sehen, aber ihren äusseren Zustand aus den Augen setzen“ (Ethik II, 1 § 224 f). Das Streben nach Vollkommenheit und Glückseligkeit ist daher identisch mit der naturrechtlich verbindlichen Pflicht einer ontologisch verstandenen Selbstverwirklichung;48 und entsprechend ist auch die „Selbstliebe (amor proprius)“ – verstanden als die „Beschaffenheit des Gemüths, aus seiner eigenen Glückseligkeit ein Vergnügen zu empfinden“ – alles andere als „unerlaubt“, solange sie von der Vernunft regiert wird und im Dienst der eigentlich wahren Glückseligkeit des Menschen steht (Naturrecht I, 4 § 132). Doch trotz dieses „atomistischen Ausgangspunkts“, der durch den neuzeitlichen Rückbezug auf die Selbstgewissheit des denkenden Subjektes auch bei Wolff in gewisser Weise unumgänglich war, geht es in seiner Ethik doch nicht einfach um das „platte Ego des Menschen“.49 Zwar scheint der andere Mensch manchmal lediglich als ein Instrument eigener Glückseligkeit in den Blick zu kommen. Solches geschieht etwa an denjenigen Stellen, an welchen Wolff aus der eigenen Pflicht zur Vervollkommnung zugleich das Recht ableitet, den Mitmenschen zu deren Hilfe verbindlich heranziehen zu können; denn wenn der Mensch vollkommen sein soll, so besitzt er auch ein natürliches Recht auf alles dasjenige, „ohne welches er den Gebrauch seiner Kräfte nicht erlangen, noch den Gebrauch derselben zur Übereinstimmung bringen kann“ (Naturrecht I, 4 § 107).50 Mit anderen Worten: Weil der Mensch „besorgt seyn“ muss, „daß er glückseelig wird, nicht aber unglückseelig“, so hat er folglich auch „ein Recht zu demjenigen, was etwas zu seiner Glückseeligkeit beytragen kann“ (Naturrecht I, 4 § 118), und also auch dazu, den anderen zu verbinden, ihm zu seiner Vollkommenheit zu verhelfen (vgl. Naturrecht I, 3 § 82. 97).51 Andererseits jedoch hat sich Wolff deutlich von dem Vorwurf des Individualismus distanziert. Denn dem Einwand, man könne doch „unmöglich seinen eigenen Nutzen der Ehre GOttes und dem gemeinen Besten vorziehen“, begegnet er mit dem Hinweis, dass beides „mit unter der Vollkommenheit unserer Natur enthalten“ sei,
224 mithin also die Beförderung eigener Vollkommenheit keinesfalls als „Eigen=Nutz“ ausgelegt werden dürfe (Ethik I, 1 § 41 ff.). Vielmehr gelte, dass prinzipiell niemand „sich und seinen Zustand allein vollkommen machen“ kann, sondern dazu immer auch „anderer Hülfe nöthig“ habe, so dass „das Recht der Natur“ die Menschen dazu verbinde, „sich und ihren Zustand mit vereinigten Kräften vollkommener zu machen; und ein jeder ist verbunden, zur Vollkommenheit des andern so viel beyzutragen als er kann“ (Naturrecht I, 2 § 44; vgl. Ethik IV, 1 § 767). Unter dem Vorbehalt eigenen Unvermögens (vgl. Ethik IV, 1 § 769 f.) gründet also das Recht auf Hilfeleistung einerseits in der Pflicht eines jeden Menschen, nach Vollkommenheit zu streben, andererseits aber auch in dem faktischen Unvermögen, dieses alleine zu bewerkstelligen;52 und somit gibt es auch keine individuelle ohne eine allgemeine Vollkommenheit, und keine allgemeine Vollkommenheit ohne die Vollkommenheit des je Einzelnen.53 Damit aber ist nun abschließend nicht nur gesagt, dass die Pflichten gegenüber dem anderen prinzipiell „einerley“ mit den Pflichten gegen uns selbst sind – sich also nicht nur auf seine seelische, sondern auch auf seine leibliche und äußerliche Wohlfahrt richten (vgl. Naturrecht I, 5 § 133 f.; Ethik IV, 1 § 768. 818) –, sondern dass vielmehr auch die bereits erwähnte Selbstliebe keinesfalls ohne die ihr entsprechende Nächstenliebe – nunmehr gedacht als die „Bereitschaft“, auch „aus eines andern Glück ein merckliches Vergnügen zu schöpfen“ (Metaphysik 3, § 449) – statthaben kann: „Und also sehen wir, was es eigentlich heisset, den andern als sich selbst lieben. Nemlich da die Liebe eine Bereitschaft ist aus eines andern Glückseeligkeit Vergnügen zu schöpffen; so lieben wir ihn als uns selbst, wenn wir aus seiner Glückseeligkeit eben ein solches Vergnügen schöpffen, als wir haben würden, wenn es unser eigene wäre“ (Ethik IV, 1 § 775). Und weil allein eine solch aufrichtige Liebe dazu antreiben kann, auch des je andern Wohlfahrt zu befördern, so würden schließlich alle Menschen so viel Vollkommenheit „erreichen, als nur immer möglich ist und darinnen immer weiter fortschreiten“ (Ethik IV, 1 § 777).
225 Nun erstreckt sich also die Verpflichtung zur Nächstenliebe als eine ganz allgemeine Verbindlichkeit zunächst auf prinzipiell alle Menschen, weshalb sie von dem Einzelnen völlig unabhängig davon zu beobachten ist, ob auch sein Gegenüber sich an diese Pflicht hält (vgl. Naturrecht I, 5 § 135 f.). Doch weil Wolff diejenigen Menschen, denen gegenüber die Pflicht zur Nächstenliebe jeweils besteht, in zwei Gruppen einteilt – „Wer uns liebt, heißt unser Freund; wer uns hasset, der Feind“ (Naturrecht I, 5 § 137; vgl. Ethik IV, 1 § 778) –, deshalb werden Freundesliebe und Feindesliebe zu zwei deutlich unterscheidbaren Formen der Nächstenliebe, die nunmehr in der Ethik einen zentralen Einteilungsgrund der Lehre von den Pflichten gegenüber anderen Menschen abgeben. Dabei ist das zentrale Kennzeichen der Feindesliebe, dass wir unser Vergnügen aus der Glückseligkeit eines Menschen ziehen, der sein eigenes Vergnügen wiederum gerade aus unserer Unglückseligkeit zieht (vgl. Ethik IV, 1 § 778; IV, 2 § 845 f. 856 f.), und wir ihm also gleichsam „für das Böse Gutes erweisen“ (Ethik IV, 2 § 860). Und so ist es auch ein nicht unerhebliches Ziel einer solchen Feindesliebe, keinen Anlass zu einer weiteren Verhärtung der Feindschaft zu geben (vgl. Ethik IV, 1 § 783), weder Hoffart und Stolz noch Verachtung zu zeigen (vgl. Ethik IV, 1 § 797 f. 803), sondern vielmehr alle Anstrengungen zu unternehmen, die den Hass mildern können, und somit die Aussicht fördern, der Feind möge schließlich „seine Feindschafft fahren lassen“ (Ethik IV, 2 § 859). Doch für das Folgende ist jene Form der Nächstenliebe eigentlich relevant, welche in der Freundschaft gründet: Denn ein „Freund“ ist nicht nur einfach eine „Person, die bereit ist, aus unserer Glückseligkeit Vergnügen zu schöpfen“ (Ethik IV, 1 § 778), und die daher auch diejenigen „Wohlthaten“ – diese „Werke der Liebe“ – vollbringt (Ethik IV, 2 § 834), die unsere Wohlfahrt und Vollkommenheit zu befördern helfen. Vielmehr besitzt Freundesliebe ein Moment von Gegenseitigkeit, weil sie den Empfänger der Wohltaten moralisch zur „Dankbarkeit“ ver-
226 bindet, die Wolff als die „Liebe eines Wohltäters wegen der uns erzeigten Wohltaten“ definiert (Metaphysik 3, § 469; vgl. Ethik IV, 2 § 834). Daher aber setzt sie nicht zuletzt auch eine Einsicht in die „Grösse der Wohlthaten“ (Ethik IV, 2 § 839) voraus, die daraufhin zu untersuchen sind, welches Gute wir ohne sie nicht hätten erlangen können. Und so ist die Freundesliebe genau deshalb eine ausgezeichnete Form der Liebe, weil sie erhaltene Wohltaten zu erwägen und zu schätzen weiß, ihre Dankbarkeit dem Wohltäter gegenüber auszudrücken vermag und diesen damit zugleich ermutigt, weitere Wohltaten zu vollbringen (Ethik IV, 2 § 841). Die Undankbaren dagegen nennt Wolff „die schlimmsten Leute von der Welt“; und wer daher „den Undank nennet, der nennet alle Laster“ (Ethik IV,2 § 837).54 Ist aber solcherart das Verhältnis von vorauslaufender Liebe in Form austeilender Wohltaten und – nach Erwägung des empfangenen Guten – der ihr wiederum entgegengebrachten Dankbarkeit zum Zwecke gegenseitiger Vervollkommnung ein zentrales Grundmodell der sittlichen Beziehungen der Menschen untereinander,55 so wird nunmehr jedoch auch die Frage virulent, inwieweit dieses Verhältnis auf bestimmtere zwischenmenschliche Beziehungen Anwendung finden kann. Sowohl hinsichtlich der Erziehung, die im Rahmen der häuslichen Ökonomie abgehandelt wird, als auch unter Rücksicht des staatlichen Zusammenlebens, welches den Hauptgegenstand der eigentlichen Politik ausmacht, ist dieser Frage aber nunmehr gesondert nachzugehen.
Häusliche Erziehung als vorauslaufende Vervollkommnung zur Mündigkeit Es spiegelt die älteren zeittypischen Verhältnisse wider, wenn Wolff die Frage nach der rechten Erziehung zunächst im Kontext der häuslichen Ökonomie und der in ihr enthaltenen Gesellschaften abhandelt. Wie aber schon die „Gesellschaft (societas)
227 überhaupt“ als ein „Vertrag“ definiert ist, „mit gemeinschaftlichen Kräften eine gewisse Absicht zu erhalten“ (Naturrecht III I, 1 § 836), so muss auch eine jede konkrete Gesellschaft dieser Bestimmung entsprechen. Die kleinste Gesellschaft des Hauses etwa, die „Eheliche Gesellschaft“, stellt einen Vertrag „zwischen einer Manns= und Weibsperson“ dar, und zwar mit der Absicht der „Erzeugung und Erziehung der Kinder“ (Naturrecht III I, 2 § 856; vgl. Politik I, 2 § 16). Und weil Wolff zugleich alle anderen Absichten aus dem Ehezweck kategorisch ausschließt, so ist die erstgenannte allein das eigentliche Kriterium auch des Ehebestandes: Fehlt die Zeugungsfähigkeit, kann eine Ehe nicht eingegangen werden; solange aber erziehungsbedürftige Kinder im Haus weilen, ist sie nicht auflösbar (vgl. Naturrecht III I, 2 § 871). Das eigentliche Erziehungsverhältnis selbst konstituiert sich jedoch in der „Väterlichen Gesellschaft“. Auch diese stellt zunächst einen Vertrag dar, und zwar einen solchen, der nunmehr „zwischen Eltern und Kindern“ geschlossen wird, „um ihrer Auferziehung willen“ (Politik I, 3 § 80). Freilich wird dabei schnell deutlich, dass es sich hier unter juristischer Perspektive nur um einen „quasi pactum“ handeln kann, da doch „die Zustimmung eines Teiles der Gesellschafter wegen ihrer Handlungsunfähigkeit weder ausdrücklich noch stillschweigend erfolgen, sondern nur als wahrscheinlich angesehen werden kann“.56 Während nämlich bei den Eltern vorauszusetzen ist, dass sie in die Übernahme der Vormundschaft „ausdrücklich“ einwilligen, ist es bei den Kindern lediglich der durch die Erziehung gegebene „offenbare Nutzen“, aufgrund dessen ihre Zustimmung gleichsam stellvertretend „vermuthet“ werden darf (Naturrecht III I, 4 § 908 f.). Zum anderen aber schreibt dieser Vertrag auch eine bestimmte Absicht fest, die es nunmehr durch die Gesellschaft zu erreichen gilt, nämlich die Erziehung, welche daher alle Einzelheiten des Vertrages und insbesondere auch seine Bestandsdauer bestimmbar werden lässt:57 Von ihrem Verständnis aus lässt sich also nicht nur die typische Ausgangssituation zum
228 Zeitpunkt des Vertragschlusses genauer beschreiben; sie beinhaltet vielmehr auch diejenigen Regeln, die zu beachten sind, um den geschlossenen Vertrag wirklich zur Erfüllung zu bringen, wodurch dieser und die mit ihm eingegangenen Rechte und Pflichten dann schließlich enden würden. Rein äußerlich betrachtet, bestimmt sich der Vertragsschluss zunächst durch den Zeitpunkt der Geburt der Kinder, ist doch nicht einzusehen, dass ein anderer die Kinder erziehen solle als diejenigen, die es in die Welt gesetzt haben (Politik I, 2 § 18; vgl. Naturrecht III I, 2 § 855).58 Doch ist der Vertragsbeginn zugleich in einer rechtlich-sachlichen Rücksicht charakterisiert. Denn obwohl die Kinder „wie alle Menschen verbunden“ seien, „ihren inneren und äusseren Zustand so vollkommen zu machen als möglich ist“ (Politik I, 3 § 82), so sind sie dazu faktisch doch kaum in der Lage, diese Vervollkommnung aus eigener Kraft zu erlangen. Weder seien sie nämlich vermögend, sich selbst alle notwendigen Hilfmittel zu verschaffen, die sie zum Lebensunterhalt brauchen, noch wissen sie schon ihre Handlungen dergestalt nach dem Gesetz der Natur einzurichten, um die vorhandenen Mittel sodann auch recht und zweckgemäß gebrauchen zu können, und mithin also auch „wie Menschen zu leben“ (Naturrecht III I, 2 § 855; vgl. III I, 4 § 886 f.): „Die Vorsorge gehet auf das erste; die Regierung auf das andere. Es bestehet demnach die Vorsorge der Eltern in einer Sorgfalt den Kindern alle Mittel zu verschaffen, die sie zu Beförderung der Vollkommenheit ihres inneren und äusseren Zustandes von nöthen haben: Hingegen die Regierung in Einrichtung ihrer Handlungen zu Erhaltung dieser Absicht“ (Politik I, 3 § 82). Und wie also nach dem Naturgesetz galt, dass jeder Mensch ein Recht auf die Mittel habe, die ihm zur Erfüllung seiner Pflichten notwendig sind (vgl. Naturrecht I, 4 § 107), andererseits aber die Kinder sich eben „nicht selbst versorgen und regieren können“, so besitzen sie gleichsam ein natürliches Recht auf Erziehung59 und können diese daher auch „von andern fordern“ (Politik I, 3 § 81); da aber ebenso galt, dass ein jeder verpflichtet ist, demjenigen zu
229 helfen, der wegen eigenen Unvermögens seine Hilfe erbittet (vgl. Ethik IV, 1 § 770), so sind die Eltern prinzipiell in die Erziehungspflicht genommen, sofern diese nämlich „in dem Stande sind“, die Versorgung und Regierung der Kinder so lange zu übernehmen, „biß sie dieses selbst zu thun vermögend werden“ (Politik I, 3 § 81). Gemeinsam also (vgl. Naturrecht III I, 4 § 888) übernehmen die beiden Elternteile die Aufgabe der Erziehung, und haben entsprechend alle Maßnahmen zu ergreifen, die dem doppelten Ziel der Vervollkommnung, der Selbstversorgung und der Selbstregierung, entsprechen. Und solcherart erscheint auch der Hinweis fast selbstverständlich, dass sich die elterliche Liebespflicht im Stadium der kindlichen Unmündigkeit prinzipiell an den allgemein ethischen Pflichten der zwischenmenschlichen Beziehungen orientiert, mithin sich also die Erziehungsaufgaben auf alle diejenigen Bereiche zu erstrecken haben, die die äußeren Umstände, den kindlichen Leib sowie seine Seele betreffen: Die Eltern haben entsprechend für Nahrung und Kleidung zu sorgen, Körper, Sinne, Gedächtnis und Einbildungskraft zu fördern, Begriffsbildung und Wahrheitserkenntnis zu unterstützen und natürlich auch durch eine entsprechende Gewöhnung den Willen der Kinder zu guten Handlungen geneigt zu machen (vgl. Politik I, 3 § 83 ff.). Und immer gilt es dabei, die Ausbildung dieser einzelnen Vollkommenheiten so zu verschränken, dass das übergeordnete Ziel der Selbstversorgung und Selbstregierung erreichbar wird. So ist es etwa um der späteren Selbstversorgung willen notwendig, dass sich die Eltern auch um die „künfftige Lebens=Art“ ihrer Kinder kümmern, mithin also die verständliche Unterweisung durch eine zeitige Gewöhnung zu Fleiß und Arbeitsamkeit unterstützen, wodurch sie in die Lage versetzt werden, später selbst „ihr Brodt erwerben“ zu können (Politik I, 3 § 106 f.). Auch ist darauf zu achten, dass die Kinder, trotz aller möglichen gutwilligen Neigungen, nicht „Sclaven im Guten“ bleiben, sondern zum Zwecke der Selbstregierung auch Gut und Böse deutlich zu unterscheiden lernen, damit sie her-
230 nach alles „aus völliger Freyheit thun“ (Politik I, 3 § 100 f. 103.). Dem Kind seinerseits freilich bleibt wegen seiner festgestellten Unmündigkeit zunächst nichts anderes übrig, als den wohlgemeinten Befehlen der Eltern Gehorsam zu leisten (vgl. Politik I, 3 § 124.), solange diese nicht dem „Gesetze der Natur zuwider“ laufen (Naturrecht III I, 4 § 889; vgl. Politik I,3 § 125). Wenngleich aber dieser kindliche Gehorsam zunächst nur eine natürliche Verbindlichkeit darstellt, die letztlich in der mangelnden Einsichtsfähigkeit der Kinder begründet ist, so ist er doch prinzipiell von dem Zweck der Mündigkeit aus zu beurteilen und auf diese hin auszurichten. Unter der Fragestellung, auf welche Weise die Kinder dazu gebracht werden könnten, den geforderten Gehorsam zunehmend auch freiwillig zu vollziehen, entwickelt Wolff daher ein Modell, welches auffallende Ähnlichkeiten mit den Strukturen sittlicher Freundesliebe aufweist. So empfiehlt Wolff den Eltern zunächst, ihren Kindern „bey Zeiten beyzubringen, daß sie weiter nichts als ihr Bestes suchen“ (Politik I, 3 § 126), zu welchem Zwecke es notwendig sei, „daß den Kindern die Wohlthaten, welche sie von ihren Eltern geniessen, deutlich vor Augen gemahlet werden, damit sie ihre Grösse recht einsehen lernen“ (Politik I, 3 § 128). Schon allein vom psychologischen Standpunkt aus hält es Wolff dabei allerdings für unklug, dass die Eltern selbst ihre Wohltaten preisen. Dienlicher sei es dagegen, wenn die Kinder auf die elterlichen Liebesdienste durch andere Leute hingewiesen werden – „Denn so setzen die Kinder desto weniger darein einen Zweiffel, indem sie es für so viel gewisser halten, weil auch andere dies einsehen“ –, und wenn sich diese darüber hinaus auch der moralisierenden Ermahnung vorläufig erst einmal enthielten – „damit (die Kinder) nicht meinen, als wenn sie es bloß zu der Absicht gesagt hätten“ (Politik I, 3 § 128). Doch besitzt dieses Vorgehen auch eine logisch-sachbezogene Seite. Denn weil es die „Vorstellung der Wohlthaten“ sei, welche die Kinder zur Achtung der Eltern bewogen mache, so müsse man „als einen Bewegungs=Grund zur Liebe gegen die Eltern“ die (vorauslaufende) „Liebe der El-
231 tern gegen sie gebrauchen, welche man aus der Vorsorge für ihre Glückseligkeit und aus der Freude, die sie darüber bezeigen, (zu) erweisen“ (Politik I, 3 § 129) habe. Hier kommt ein rationaler Zug in die Erziehung, der den erziehenden Personen nicht wenig abverlangt: Wenn nämlich alle Rechte und Pflichten der Erziehung letztlich im Naturrecht gründen, welches den Beistand zu gegenseitiger Vervollkommnung fordert, so müssen nicht nur alle diesbezüglichen Handlungen mit dieser allgemeinen Absicht übereinstimmen, sondern sie müssen aus dieser auch hergeleitet und begründet werden können: „Die Vollkommenheit bildet den grundlegenden Begriff zur Beurteilung der einzelnen Handlungen. Für jede naturrechtliche Handlung muß der Beweis möglich sein, daß sie mit der Ordnung der Welt übereinstimmt.“60 Einsicht in die Wohltaten zu gewähren hieße demnach im Idealfall, dass die Eltern (oder andere an der Erziehung beteiligte Personen) prinzipiell zu begründen vermögen, in welchem Zusammenhange die bisher geschehene Erziehung mit der intendierten Vollkommenheit ihrer Kinder steht, denn allein diese bildet eben den zureichenden Grund jeder einzelnen Erziehungshandlung. Vermag das Kind also nachzuvollziehen, warum die vorauslaufende Erziehung der Eltern in Wohltaten bestand – indem sie sie nämlich in den Prozess ihrer eigenen Vervollkommnung und Glückseligkeit einzuordnen wissen –, dann wird es sich, so die Überzeugung Wolffs, nicht nur „zum Gehorsam willig“ finden, sondern auch den Eltern gegenüber „danckbar“ werden und sie nun seinerseits lieben (Politik I, 3 § 126 f.; vgl. § 129). Und während solcherart „die Liebe aus der Betrachtung der Wohlthaten erzeuget wird“, so werden die Kinder freilich umgekehrt „die Hochachtung gegen ihre Eltern verlieren müssen, wenn sie sich übel aufführen und ihre Untugenden für ihnen nicht verheelen“ (Politik I, 3 § 139. 139); denn dann vermag eben die Anteilnahme der Eltern an demjenigen, was der Glückseligkeit und Vollkommenheit ihrer Kinder beförderlich ist, für diese nicht einsichtig zu werden. Als vollbracht aber gilt die Erziehung schließlich dann, wenn
232 das doppelte Ziel der Selbstversorgung und Selbstregierung der Kinder auch wirklich erreicht ist. Sind diese nämlich zum eigenen Broterwerb in der Lage – können sie sich also mithin selbst versorgen – und wissen sie auch ihre Handlungen selbst zum eigenen Besten einzurichten – wodurch sie sich selbst zu regieren vermögen –, so endet auch die Gewalt der Eltern über ihre Kinder: „die Kinder werden ihre eigenen Herren“ (Naturrecht III I, 4 § 911) und somit „nach dem Recht der Natur mündig“ (Politik I, 3 § 123). Mit diesem Mündigwerden aber endet letztlich auch der vertragliche Zusammenschluss, da die Kinder es nicht mehr nötig haben, auch fernerhin Erziehung von den Eltern zu fordern, mithin diese auch von der Verbindlichkeit frei sind, sich dieser weiterhin anzunehmen. Was jedoch auch weiterhin bestehen bleibt, das sind jene moralischen Beziehungen, die sich in und durch die Erziehung auferbaut haben: denn weil Liebe und Dankbarkeit allgemeine Menschenpflichten sind, die jedem Menschen als Menschen zukommen, „so müssen auch Kinder ihre Eltern lieben und gegen sie sich danckbar erzeigen, so lange sie leben“, und diese somit „biß in die Grube ehren“ (Politik I, 3 § 140). Liebende Dankbarkeit also ist es, die die Kinder – gerade auch in Zeiten ihrer sich selbst versorgenden und regierenden Mündigkeit – wiederum dazu antreibt, die Glückseligkeit ihrer Eltern nunmehr gerade auch dort zu befördern und ihr Bestes zu besorgen, wo diese nun ihrerseits – etwa aufgrund des Alters – zu einer Selbstversorgung nicht mehr in der Lage sind, und daher entsprechend auch das Recht auf Unterstützung nunmehr für sich selbst geltend machen können (vgl. Politik I, 3 § 137 f.). Überblickt man nun dieses Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern im Ganzen, so zeigt sich, dass die Wolffschen Erziehungsvorstellungen nicht nur in den allgemein-ethischen Verbindlichkeiten der gegenseitigen Hilfe zur Vollkommenheit überhaupt wurzeln, sondern eine auffallende Nähe zu der Form freundschaftlicher Liebe aufweisen, die sie freilich auf eine besondere Weise spezifizieren, da sie sie zunächst nicht als eine Liebe zwischen zwei (prinzipiell gleichberechtigten) Mündigen,
233 sondern als ein stellvertretendes Verhältnis zwischen den Mündigen und einem Unmündigen bestimmen. Bestand also die Menschenliebe ganz allgemein in dem Bestreben, aus der Glückseligkeit des andern Vergnügen zu schöpfen; und bestand das Wesen der freundschaftlichen Liebe insbesondere in einer die vorhergehenden Wohltaten erwidernden Dankbarkeit; so ist für das Liebesverhältnis zwischen Eltern und Kindern nunmehr der – in der Ethik nur kurz angedeutete (vgl. Ethik IV, 1 § 769 ff.) – Vermögensvorbehalt konstitutiv: Was die kindliche Unmündigkeit nicht vermag, das übernehmen stellvertretend die Eltern, während die einsichtige Dankbarkeit der Kinder sodann ihrerseits ausführt, was nicht im Vermögen der Eltern steht, nämlich zunächst Gehorsam und Ehrehrbietung zu bezeigen, hernach sich aber auch insbesondere der materiellen Versorgung der Altenteiler anzunehmen.
Die Einrichtung des Staates als Mittel gegenseitiger Vervollkommnung Es liegt an der deduktiven Gesamtstruktur der Philosophie Wolffs, dass die Politik erst jetzt in das Blickfeld zu treten vermag, bedarf sie doch zu ihrer Begründung – nicht anders wie die übrigen Teile der praktischen Philosophie auch – der vorausgehenden metaphysischen (und naturrechtlichen) Grundlegung: „Für Wolff ist nicht nur die Moral, sondern auch die Politik von der Metaphysik unmittelbar abhängig. […] Jedenfalls hebt Wolff immer wieder hervor, daß sie in allen Teilen die ‚ganze Metaphysik‘ und die Erkenntnis der ‚metaphysischen Wahrheiten‘ voraussetzt. Die praktische Philosophie steht so zur Metaphysik in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis, und gerade darauf gründet – nicht zu Unrecht – Wolffs Bewußtsein, ihre Prinzipien emendiert zu haben.“61 Die Bezüglichkeit richtet sich dabei freilich wiederum insbesondere auf den nunmehr auch für die Politik maßgeblichen „Schlüsselbegriff“62 der Vollkommen-
234 heit, aufgrund dessen auch die Lehre von der Staatsentstehung entwickelt wird. Wenngleich nämlich auch das je einzelne Haus durch die Ordnung der unterschiedlichen Absichten, welche die einzelnen Gesellschaften – Ehe, Familie und Herrschaft – bestimmen, eine gewisse Vollkommenheit und Wohlfahrt erreichen kann (vgl. Politik I, 5 § 201 f. 206), so erfordert die letzte Glückseligkeit doch einen Zusammenschluss auch der Häuser zu einem noch umfassenderen Gemeinwesen, welches sowohl vermöge arbeitsteiliger Verrichtungen die zur Bequemlichkeit des Lebens erforderlichen Güter in ausreichender Anzahl bereitzustellen in der Lage ist (vgl. Politik II,1 § 210 f.) als auch durch den gegenseitigen Schutz vor Übergriffen die Sicherheit von Leib und Leben zu gewährleisten vermag (vgl. Politik II, 1 § 212): „So ist nöthig, daß so viele sich zusammen begeben und mit vereinigten Kräfften ihr Bestes befördern, biß sie in dem Stande sind sich alle Bequemlichkeiten des Lebens zu verschaffen, der natürlichen Verbindlichkeit gemäß von einer Vollkommenheit zu der andern ungehindert fortzuschreiten und sich wieder alle Beleidigungen sattsam zu vertheidigen. Wenn dieses geschieht, so begeben sie sich in eine Gesellschafft, und der ungehinderte Fortgang in Beförderung des gemeinen Bestens, das sie durch vereinigte Kräffte erhalten können, ist die Wohlfahrt dieser Gesellschafft“ (Politik II, 1 § 213). Die naturrechtliche Verbindlichkeit der Menschen, sich gegenseitig „mit vereinigten Kräfften vollkommener zu machen“ (Naturrecht I, 2 § 44), schließt also eine Verpflichtung zum gesellschaftlichen Zusammenschluss geradezu mit ein, und gelangt daher auch erst in der Staatsbildung zu einer vorläufig höchsten Realisierungsform – die sich folglich nur graduell von den kleineren Gesellschaftsformen unterscheidet.63 Und indem also diese Pflicht der Vervollkommnung in die Bestimmung des Staatszweckes hineingenommen wird (vgl. Politik II, 1 § 224 ff.), so muss Wolff – wegen deren ethischer Bindung an die Tugendübung – die von Thomasius vorgenommene Trennung von Moral und Recht nunmehr wieder rückgängig machen; der Staat fällt in jeder Hinsicht
235 unter die Kategorie der umfassend glückseligmachenden Mittel, und stellt eben darum nicht zuletzt auch „eine moralische Anstalt zur Erfüllung der allen Menschen obliegenden Pflicht zur Vervollkommnung“64 dar. Es kann hier nicht der Ort sein, die gesamte Staatsentstehungslehre Wolffs nachzuzeichnen. Vielmehr muss der knappe Hinweis genügen, dass nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages, mit welchem sich der Staat unter der Zwecksetzung gemeinsamer Vervollkommnung konstituiert hat, dessen konkrete Einrichtung – also insbesondere die Wahl der Regierungsform und die Einsetzung einer Regentenschaft – erfolgt.65 Mit letzterer aber, welche nunmehr die „Obrigkeit“ heißt, schließen die Bürger nun zum zweiten einen Regierungsvertrag, und definieren sich dadurch erst recht eigentlich als „Untertanen“: „Die Obrigkeit verspricht alle ihre Kräffte und ihren Fleiß dahin anzuwenden, daß sie zur Beförderung der gemeinen Wohlfahrt und Sicherheit diensame Mittel erdencke, und zu deren Ausführung nöthige Anstalten mache: […] die Unterthanen versprechen dargegen, daß sie willig seyn wollen alles dasjenige zu thun, was sie für gut befinden wird“ (Politik II, 2 § 220). Um aber eben dieses Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen sodann noch genauer zu fassen, stellt Wolff die diesbezüglichen Ausführungen später ausdrücklich in eine Parallelität mit dem Vater-Kind-Verhältnis: „Regierende Personen verhalten sich zu Unterthanen wie Väter zu ihren Kindern“ (Politik II, 2 § 264),66 da erstere eben die Mittel bereitzustellen haben, die zu der intendierten Vervollkommnung je notwendig sind, letztere jedoch das ihnen so Anbefohlene gehorsam als ihren eigenen Willen betrachten. Die gegenseitigen Pflichten zwischen Eltern und Kindern sollen auf diese Weise also auch das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen bestimmbar werden lassen (vgl. Politik II, 2 § 265). Doch gibt der zitierte Satz damit nicht nur einen Blick auf das Verständnis Wolffs von der absolutistischen Herrschaft überhaupt frei, sondern vermag auch Hinweise darauf zu geben, unter welchen Bedingungen schließlich eine
236 „patriotische Erziehung“ denkbar wäre. Und daher muss nun abschließend eine Auslegung der genannten Analogisierung zumindest in Ansätzen versucht werden. Eine erste in der Analogie enthaltene Gemeinsamkeit stellt das beidseitige Vertragswerk dar, welches im Haus die Beziehung zwischen Eltern und Kind, im Staat jedoch diejenige zwischen der Obrigkeit und ihren Untertanen regelt.67 Genau genommen handelt es sich dabei in beiden Fällen um QuasiPakte, denn die Verträge sind nicht als historische Tatsachen zu nehmen, sondern sollen als Annahme eines stillschweigenden Konsenses bezüglich Absicht und Mittel der gegenseitigen Vervollkommnung eine naturrechtliche Legitimation der Gesellschaftsbildung überhaupt liefern.68 Während jedoch bei dem Erziehungsvertrag deren notwendige Fiktionalität schnell einsichtig ist – kein Neugeborenes kann einen solchen faktisch-willentlich eingehen –, so ist die Bedeutung stillschweigender Staatsverträge in der Politik nicht unumstritten. Betrachtet man den Vertrag nämlich ganz allgemein als eine Verbindlichkeit, durch welche die Gewalt der Obrigkeit sowohl an die naturrechtlichen Vorgaben (vgl. Politik II, 2 § 231; II, 5 § 434) als auch an die Grund- oder Fundamentalgesetze eines Staates (vgl. Politik II, 5 § 438) gebunden wird, so wird sich der damit verbundene Vorzug – die Beschränkung der Herrschaft durch das obrigkeitliche Versprechen, alles an der gemeinen Wohlfahrt auszurichten69 – wohl auch für die stillschweigenden Verträge als nützlich erweisen. Sieht man dagegen wesentlich auf den Aspekt der Freiheitsbeschneidung (vgl. Politik II, 5 § 435), die sich aus der Unterwerfung (capitulatio) unter die Obrigkeit ergibt, dann scheint gerade durch einen nur unterstellten Konsens der Inhalt eines jeden Kontraktes dem Willen der Vertragsschließenden umso mehr entzogen zu werden und zugleich das Einverständnis der Untertanen zu einer „wie auch immer gearteten faktischen Ausübung der Herrschaftsgewalt fingiert“70. Nicht weniger zweideutig scheint die Analogisierung aber auch noch unter dem anderen Aspekt auszufallen, der nunmehr
237 die Möglichkeit des Vaters und der Obrigkeit betrifft, ihre Kinder und Untertanen zu bestimmten Handlungen zu verbinden. Denn für Wolff gilt zwar prinzipiell, dass in beiden Fällen eine Art von Gesetzgebung statthat, welche diejenigen, auf welche sich die Gewaltausübung der Herrschaft jeweils erstreckt, zu grundsätzlichem Gehorsam verpflichtet (vgl. Politik II, 2 § 264 f. 269); und doch bleibt die weitere Frage: Zu einem Gehorsam welcher Art? Wie nun Wolff die bürgerliche Gesetzgebung allgemein damit begründet, dass die natürliche Verbindlichkeit allein oftmals nicht dazu hinreiche, den einzelnen Menschen zu einem dem Naturgesetz gemäßen Handeln zu bringen (vgl. Politik II, 4 § 401), und darüber hinaus beständig von dem Primat der gemeinen Wohlfahrt vor dem nur individuellen Besten redet (vgl. Politik I, 1 § 12; I, 5 § 206; II, 1 § 218; II, 5 § 433), so kann er auch den geforderten Gehorsam insbesondere mit der mangelnden Erkenntnis der Untertanen in Verbindung bringen, denen eben die Einsicht in das, was der Allgemeinheit dienlich sei, zumeist fehle: „Und ist der Gehorsam um so vielmehr nöthig, weil die Unterthanen nicht immer in dem Stande sind zu urtheilen, was zum gemeinen Besten gereichet. […] Sie urtheilen gemeiniglich nur darnach, ob es ihnen vortheilhafft sey, was befohlen wird, oder nicht“ (Politik II, 5 § 433; vgl. II, 2 § 253; II, 6 § 467). Geht man allein von dieser „bequemen Doktrin vom beschränkten Untertanenverstand“71 aus, dann scheint sich die Analogie zum Erziehungsvertrag in der Tat darin zu erschöpfen, „ungeschminkt das Gesicht der Erziehungsdiktatur“ zu zeigen, in welcher das „verstaatlichte Individuum zum Instrument der Gemeinwohlverwirklichung“72 wird. Der von Wolff entworfene Staat soll dann sogar dazu ermächtigt sein, „auch faktisch absolute Gewalt und Herrschaft“ ausüben zu dürfen; er müsste „Freiheit vernichten und Einsicht befehlen“, und seine Vorstellung von der gemeinen Wohlfahrt würde: „terroristisch“.73 Doch fällt das Unbefriedigende dieser Auslegung schnell ins Auge. Ist nämlich schon der behauptete „Absolutheitsanspruch der Erkenntnis“74 als solcher
238 für Wolff zumindest höchst fraglich – denn der Prozeß der Vervollkommnung schließt auch das Werden von Einsicht und Tugend prinzipiell mit ein (vgl. Von den Regenten § 12) –, so ist er für die Begründung einer jeden „terroristischen“ Staatsgewalt völlig untauglich. Der ideale Staat, und zwar gerade weil dessen Herrscher eine begründete philosophische Erkenntnis des gemeinsamen Besten besäße, würde seinem Begriffe nach den Terrorismus notwendig ausschließen müssen, so dass ein terroristischer Idealstaat schon rein begriffslogisch gesehen ein Unwort – und damit: ein schlechthin Unmögliches – ist; jeder konkrete Staat dagegen bleibt gerade wegen seiner Tatsächlichkeit hinter dem naturgesetzlich Geforderten grundsätzlich zurück, und kann sich daher für seine faktische Gewaltausübung keinesfalls auf das ideale Prinzip berufen. Wer in Wolff nicht mehr als einen theoretischen Vordenker des terroristischen Gewaltstaates sieht, und die Darstellung eines faktisch nicht einholbaren Ideals als eine konkrete Faktizität zu beschreiben unternimmt, der wiederholt nur den historisch in der Tat vollzogenen Fehlschluss, mit welchem politisch-faktische Machtansprüche aus einem Ideal gerechtfertigt wurden, und verwechselt ihn zugleich mit den komplexen logischen Schlussbedingungen des Wolffschen Naturrechts selbst.75 Es scheint also sinnvoll zu sein, noch nach anderen Hinweisen Ausschau zu halten, durch welche Wolff die Analogie von väterlicher Erziehung und obrigkeitlicher Herrschaft zu interpretieren hilft. Da ist zum Beispiel – und in besonderer Weise – die Forderung, regierende Personen müssten danach „begierig“ sein, „die Unterthanen glückseelig zu machen“ (Politik II, 2 § 245), und d.h. ihnen gegenüber Liebe zu empfinden: „Derowegen da die Obrigkeiten nach der Unterthanen Glückseeligkeit begierig seyn sollen; so müssen sie auch eine aufrichtige Liebe gegen sie haben. Je grösser nun die Liebe gegen die Unterthanen ist, je besser stehet es um ihre Glückseeligkeit, wenn Verstand dazu kommet“ (Politik II, 2 § 246). Schon hier kann der Eindruck schwerlich abgewiesen werden, dass Wolff mit der Verpflich-
239 tung des Herrschers auf naturrechtlich begründete Liebesdienste die Analogisierung mit der Obrigkeit weit eher an dem Bild des gütigen Hausvaters und seiner vorauslaufend liebenden Erziehung zu orientieren gedachte, als an demjenigen eines Haustyrannen; weit weniger also auch die herrscherliche Macht herausstellen wollte als vielmehr gerade umgekehrt deren Verantwortlichkeit.76 Dieser erste Eindruck lässt sich durchaus bestätigen. So beschreibt Wolff den Regenten etwa desweiteren als denjenigen, der sowohl den „ernsten Vorsatz“ habe, die gemeine Wohlfahrt zu befördern, als auch über ausreichend „Mittel“ verfüge, durch deren Gebrauch dieses Vorhaben verwirklicht werden kann (Politik II, 2 § 241), und der solcherart also Tugend und Verstand in sich vereint, von denen Wolff ausdrücklich sagt, dass sie „nicht können getrennet, sondern stets bey einander müssen erhalten werden“ (Politik II, 2 § 243). Wird von hierher Wolffs parallel laufende Kritik an der faktisch weitverbreiteten Unvernunft und Untugend der Untertanen betrachtet, so drängt sich in gewisser Weise der Gedanke an den Vermögensvorbehalt auf: Was die Untertanen faktisch nicht vermögen, das – und nur das – muss gleichsam stellvertretend die Obrigkeit übernehmen, der gegenüber dann selbstverständlich Gehorsam zu leisten ist. Doch wird dieses Verhältnis gerade nicht fixiert und festgeschrieben, sondern – ähnlich wie bei der Mündigwerdung der Kinder – auf das Ziel einer selbstverantwortlichen, also durch Verstand und Tugend geleiteten Partizipation an der Herrschaft ausgerichtet. So beruht beispielsweise die Unterscheidung zwischen Politie und Demokratie darauf, dass die Demokratie von dem platten Nützlichkeitsdenken des „gemeinen Pöbels“ unter Vernachlässigung des Gemeinwohles regiert wird, während die Politie sich eben „am besten für polite Völcker schicket“, also solche, bei denen man sich bereits allgemein um Verstand und Tugend bekümmert hat (Politik II, 2 § 236. 252 f.); und dass Wolff eben mit dieser Politie zahlreiche Sympathien verbindet, weil in ihr der Mißbrauch der Macht weit weniger möglich sei als in Monarchien und Aristokratien, obwohl zugleich „die Frey-
240 heit nirgends weniger als hier eingeschräncket“ (Politik II, 2 § 262) würde, ist kaum zu übersehen. Und wie wird der Untertan vernünftig, tugendhaft, mündig? Nicht wesentlich anders als in der häuslichen Erziehung auch. Forderte Wolff schon dort die Kinder auf, sie sollten doch – gemäss des Satzes vom zureichenden Grunde – „allezeit nach dem Grunde fragen, warum dieses ist, und warum sie dieses oder jenes thun sollen“ (Politik I, 3 § 93), so wird eben diese Forderung nach Begründung nunmehr in die Politik hinein verlängert. Schon von den Beratern des Regenten, die nicht zuletzt auch häufig die Gesetzestexte für ihn verfassten (vgl. Politik II, 4 § 405 f.), verlangt Wolff eine jeweilige Rechtfertigung dessen, was sie vorschlagen, damit der Regent angemessen darüber urteilen könne (vgl. Politik II, 2 § 247; II, 4 § 408). Und auch die Erziehung des Regenten selbst zielt auf nichts anderes ab als darauf, ihn aus vernünftigen Prinzipien heraus sicher urteilend zu machen, damit er nicht aus Laune und Willkür, sondern aus Einsicht und reifer Überlegung zu handeln vermag (vgl. bes. Von den Regenten § 11). Alle Gesetze also, die der Regent erlässt, müssen prinzipiell aus dem Zusammenhange mit der gemeinen Wohlfahrt begründbar – und damit auch vernünftig zugänglich sein. Und eben in dieser Zugänglichkeit sieht Wolff dann abschließend auch wiederum die Möglichkeit begründet, den Gehorsam der Untertanen durch Einsicht zur freiwilligen Verpflichtung werden zu lassen: „Offters verstehen auch die Unterthanen selbst nicht, was zu ihrem Besten dienet und halten für gut, was ihnen schädlich seyn würde. Und demnach dienet nicht wenig sie zum Gehorsam bereit und willig zu machen, wenn man ihnen deutlich zeiget, daß zu ihrem Besten gereichet, was die Obrigkeit befiehlet“ (Politik II,5 § 433).77 Ausblick: Wolffs erster Ansatz zu einem Begriff „patriotischer Erziehung“ Wolff hat die von ihm aufgeworfene Analogisierung zwischen dem Vater-Kind-Verhältnis und der Beziehung, wie sie
241 zwischen der Obrigkeit und ihren Untertanen besteht, im wesentlichen unter dem Aspekt der gegenseitigen Verpflichtung betrachtet. Dabei kommt den regierenden Personen jeweils die Befehlsgewalt zu, die Verrichtung aller Handlungen der ihnen Untergebenen so vorzuschreiben, dass sie deren Vollkommenheit befördern; von den jeweils noch unmündigen Personen wird jedoch erwartet, diesen Anweisungen in ihrem Tun und Lassen Folge zu leisten (vgl. Politik II, 2 § 264 f. 269). Doch konsequent durchgeführt hat Wolff diese Parallelen offensichtlich nicht, so dass hier – nicht anders wie in seiner Gesamtphilosophie – notwendige Freiräume der Interpretation bleiben. Legt man der Auslegung die wiederholten Hinweise auf das faktische Unvermögen der Kinder sowohl als der Untertanen zugrunde, und kontrastiert man damit die Betonung der Tugendhaftigkeit und Verständigkeit des Vaters und insbesondere der staatlichen Obrigkeit, dann wird man die „Macht und Gewalt“ der souveränen Herrschaft hervorheben – von welcher Wolff gerade in der Politik allerdings so viel spricht (vgl. Politik II, 5 § 433 ff.) –, und der geforderte Gehorsam scheint eher die Form einer blinden Unterwürfigkeit anzunehmen, bei welcher selbst dem schlechten Regenten nicht widerstanden werden darf: „Dies darf keinem hart scheinen, indem es doch besser ist unter einem üblen Regiment, als in dem natürlichen Zustande zu leben“ (Naturrecht III, 2. 6 § 1079; vgl. Politik II, 4 § 408). Eine solche Interpretation ist immer dann nahegelegt, wenn man Wolffs Staatskonzeption überhaupt im wesentlichen von seiner engen Verzahnung mit der faktischen Politik her beurteilt, und in ihr daher zunächst nichts anderes als eine philosophische Legitimation tatsächlicher Unterdrückungszustände sieht. Die Kritik an der obrigkeitlichen „Reglementierwut“78, wie sie bei Wolff theoretisch vorexerziert wurde, verbindet sich daher nicht selten zugleich mit einer Abwertung des verbürokratisierten Wohlfahrtsstaates überhaupt, dessen zahlreiche „Überspannungen“79 für die Ausbildung individueller Freiräume in der Tat kaum noch Möglichkeiten boten: „Der aufgeklärte Wohlfahrtsstaat der Theorie
242 Wolffs, welcher als Instrument zur Selbstvervollkommnung des Menschen eingeführt wurde, kippt in den aufklärenden Vormundschaftsstaat um. […] Der Staat wird vom Instrument zur Vervollkommnung zum Agenten der Vervollkommnung.“80 Die ursprüngliche Moralität des einzelnen Menschen scheint jetzt hinter dem gebietenden Handeln der verantwortlichen Obrigkeit zu verschwinden, der allein es nunmehr obliegt, die Sittlichkeit im Staate zu regeln – und zu überwachen. Doch kann die Interpretation eben auch andere Wege nehmen, und in dem Vergleich der Obrigkeit mit dem Hausvater gerade die durchaus zeitkritische Komponente hervorheben: „Wolff schreibt nicht vorhandene Verhältnisse ab, sondern er will dem Zeitalter des Absolutismus, wo bisweilen die Eigenmächtigkeit der Regierenden keine Grenzen kannte, ein Idealbild vorhalten“, in welchem jenes „wahrhaft patriachalische Verhältnis“ nunmehr neu zur Geltung kommen soll, dass nämlich das Glück des Regenten und das des Volkes nur „wechselseitig voneinander“81 gedacht werden können. Jedes wohlfahrtsstaatliche Handeln erhält daher seinen eigentlichen Sinn auch nur dadurch, dass es eben diesen Zusammenhang des Zweckes gemeinsamer Vervollkommnung wahrt und in allen seinen Maßnahmen befördert – bildungspolitische Vorgaben82 und selbst materielle Fürsorge83 ausdrücklich eingeschlossen. Weil Wahrheit für Wolff entsprechend aber nun genau dort liegt, wo eben dieser Zusammenhang des Ganzen eingesehen ist, und d.h. wo das Einzelne von seiner und aller möglichen Vollkommenheit her gerechtfertigt zu werden vermag: deshalb, und nur deshalb, ist Wahrheit allein die eigentliche Stütze des Gemeinwesens und seiner Gerechtigkeit, jedem das Seine zukommen zu lassen; deshalb, und nur deshalb, kann aber auch das Insistieren auf deduktive Begründung gerade zum kontrafaktischen „Prüfstein der gesellschaftlichen Ordnung“ werden.84 Die Analogie erhält damit ein deutlich kritischeres Potential, weil sie die Befehlsgeber an ihre naturrechtlichen Pflichten bindet und somit ihre Willkür beschränkt, dem Gehorchenden aber die Möglichkeit zuspricht,
243 eine nachträgliche Rechtfertigung zu verlangen, warum dieses Gebot und jenes Verbot den Sinn der Vervollkommnung jeweils erfüllten, durch welche Einsicht schließlich wiederum seine Mündigkeit wachsen würde.85 Dass auch eine solche Auslegung zumindest prinzipiell möglich ist, sollte hier zumindest ansatzweise nachzuweisen versucht werden. Der eigentliche Ertrag dieser Untersuchungen beginnt jetzt deutlich hervorzutreten. Für eine patriotische Erziehung nämlich, deren Ziel doch die Liebe zum Vaterland sein sollte, kann die Auslegung des Verhältnisses von Obrigkeit und Untertan im Sinne einer auf befehlsgebender Gewalt und blindem Gehorsam gründenden „Erziehungsdiktatur“ wohl kaum hilfreich sein; der Appell an das „uneinsichtige“ Volk, die vom Gesetzgeber festgelegten Vorschriften zugunsten einer nur von ihm eingesehenen gemeinen Wohlfahrt zu erfüllen – und zwar unter Zurückstellung aller eigenen Interessen –, kann nämlich die geforderte Wechselseitigkeit, wie sie für Wolff zum Wesen insbesondere der freundschaftlichen Liebe notwendig hinzugehört, wohl kaum erzeugen. Weil vielmehr die Vaterlandsliebe überhaupt nicht zuerst auf den Staat oder den Regenten zielt, sondern auf das jeweilige Volk, dem man sich verbunden weiß (vgl. Naturrecht IV, 2 § 1105); und obwohl daher eine solche patriotische Liebe zum Volk auch ausdrücklich vom Regenten eingefordert werden muss (vgl. Naturrecht III, 2. 6 § 1077): so erfüllt sich der Patriotismus doch recht eigentlich betrachtet nur in jener strengen Gegenseitigkeit, in welcher „der Regent und die Unterthanen sich untereinander lieben“, und daher auch alle „Liebespflichten“ erfüllen, die ihnen untereinander als Menschen zukommen, und zu welchen sie sich in den eingegangenen Verträgen verpflichtet haben (Naturrecht III, 2. 6 § 1085). Als Modell zur Erreichung dieser liebenden Gegenseitigkeit dient aber eben die Analogie zur väterlichen Erziehungsgemeinschaft, bei welcher alle Erziehungsmaßnahmen auf die mögliche Vervollkommnung der Kinder ausgerichtet und entsprechend einer prinzipiellen Begründbarkeit unterworfen werden, mit deren Einsichtigkeit dann so-
244 wohl die Qualität des kindlichen Gehorsams wächst als auch die dadurch empfundene Dankbarkeit. Damit aber würde dann die Erziehung zur Vaterlandsliebe – und zwar zumindest unter moralischer Hinsicht86 – prinzipiell an die Bedingung der vorauslaufenden Wohltaten einer Regierung zur vervollkommnenden Glückseligkeit des Volkes gebunden, weil sie allein es sind, an welche individuelle Einsicht und patriotische Dankbarkeit angeknüpft werden könnten. Genau diese Vorstellung Wolffs aber war es, die auch die späteren Diskussionsbeiträge um eine patriotische Erziehung nicht selten prägte. Diese desweiteren nachzuzeichnen muss jedoch einer eigenen Studie überlassen bleiben. Anmerkungen 1 C.Fr. v. Moser, Beherzigungen, Frankfurt/Main 1771, S. 247; zit. nach R. Vierhaus, „Patriotismus“ – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hrsg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften (= Wolffenbütteler Forschungen 8), München 1980, S. 12. – Zu Moser vgl. auch: K.O. Freiherr v. Aretin, Reichspatriotismus, in: Aufklärung 4/2 Themenheft: „Patriotismus“ (1989), S. 27 ff. 2 Joh.Chr. v. Adelung, Art. „Der Patriot“, in: ders., Grammatisch=kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, rev. von Fr.X. Schönberger, Dritter Theil, von M-Scr, Wien 1811, S. 672. 3 Vierhaus (wie Anm. 1), S. 14 f. 4 Nachzulesen unter: www.bundespraesident.de/reden-und-interviews-, 11057.95138/ansprache-von-horst-koehler-vo.htm?global.back=/-23.05.2004 – Das Wesentliche der Ansprache treffend, titelte daher die WELT am 02. Juni 2004: „Ohne Patriotismus geht es nicht. Weil unser Staat die Vaterlandsliebe nicht einfach setzen kann, muss er sich ihrer würdig erweisen.“ 5 Art. „Patriot“, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Sechs und Zwanzigster Band, P-Pd, Leipzig und Halle 1740, Verlegts Johann Heinrich Zedler, 1393. Abrufbar unter: www. zedler-lexikon.de/blaettern/einzelseite.html?zedlerseite=ze260710&bandnummer =26&seitenzahl=0710&dateiformat=1 6 R. Schlögl, Die patriotisch-gemeinnützigen Gesellschaften: Organisation, Sozialstruktur, Tätigkeitsfelder, in: H. Reinalter (Hrsg.), Aufklärungsgesellschaften (= SIF 10), Frankfurt/Main u.a. 1993, S. 63. 7 Vierhaus (wie Anm. 1), S. 15 f. 8 Vgl. ebd., S. 19 f., S. 21 ff. – Zu dem freiheitlichen und damit zugleich
245 auch kritischen Moment dieses Patriotismus vgl. auch Chr. Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981, bes. S. 34 ff. 9 J.B. Basedow, Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluß in die öffentliche Wohlfahrt (1768), in: Ders., Ausgewählte pädagogische Schriften, hrsg. v. A. Reble, Paderborn 1965, S. 12 f. (= § 9 f.); vgl. auch ebd., S. 38 (= § 37). Im Methodenbuch (vgl. ebd., S. 81) gibt Basedow entsprechend den „Hauptzweck der Erziehung“ als die Vorbereitung der Kinder auf ein „gemeinnütziges, patriotisches und glückseliges Leben“ an. Vgl. dazu auch Th. Gendritzki, Patriotismus und Kosmopolitismus der Philanthropen in der Pädagogik, Königsberg 1924. – Zur patriotischen Erziehung unverzichtbar sind, trotz aller Einseitigkeit, immer noch die einschlägigen Stellen bei H. König, Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (= Monumenta Paedagogica I), Berlin 1960. Ein knapper Überblick findet sich neuerdings auch bei H. Böning, Das Volk im Patriotismus der deutschen Aufklärung, in: O. Dann u.a. (Hrsg.), Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung 9), Köln 2003, S. 63-97. 10 Etwas von Nationalfesten und Volksfreuden, zur Beherzigung für die, welche über das Volk zu gebieten haben, in: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts (1789), 8. Stück, S. 484. 11 Ebd. S. 483. 485. Zu diesen Überlegungen, den patriotischen Geist durch die Pädagogisierung von Volksfesten und Nationalliedern zu befördern, vgl. auch Böning (wie Anm. 9), S. 79 ff. 12 Chr.D. Voß, Versuch über die Erziehung für den Staat als Bedürfnis unserer Zeit, zur Beförderung des Bürgerwohls und der Regenten=Sicherheit, T. 1, Halle 1799, S. 51-56. 13 Ebd., S. 69. 14 Ebd., S. 84 f. 15 Cl. Schwaiger, Christian Wolff. Die zentrale Gestalt der deutschen Aufklärungsphilosophie, in: L. Kreimendahl (Hrsg.), Philosophen des 18. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2000, S. 48-67. 16 Vgl. Joh.Heinr. Gottlob v. Justi, Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesetze, hrsg. v. H.G. Scheidemantel, Mittau 1771 (ND Aalen 1969), § 164; S. 197 f.; S. 260 ff.; dazu auch: H. Dreitzel, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: H.E. Bödeker/U. Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 8), Hamburg 1987, S. 158-177. – Joh.Fr. v. Pfeiffer, Grundsätze der Universal=Cameral= Wissenschaft (Erster Theil), Frankfurt am Mayn 1783 (ND Aalen 1970), (Abschnitt I, 1) Kap. 1 f.; (Abschnitt I, 2) Kap. 7 f. – In gewisser Weise wäre hier freilich auch auf Joseph von Sonnenfels hinzuweisen, der neben seinen kameralistischen Hauptwerken auch mit zwei kleineren patriotischen Schriften her-
246 vortrat. Vgl. dazu H. Klueting, „Bürokratischer Patriotismus“. Aspekte des Patriotentums im theresianisch-josephinischen Österreich, in: Aufklärung 4/2 Themenheft: „Patriotismus“ (1989), S. 41 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. – Zur allg. Entwicklung der „Erziehungspolizey“ überhaupt, die sich seit Seckendorff zu einem zunehmend eigenständigen Kapitel der Kameralistik entwickelte, vgl. auch H. Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 21980, S. 146 ff., S. 187 ff. 17 Friedrich II., Briefe über die Vaterlandsliebe (1779), in: Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 8: Philosophische Schriften, hrsg. v. G.B. Volz, Berlin 1913, S. 279-302. Die herausragende Bedeutung Friedrichs II. für ein Verständnis des aufgeklärten Absolutismus dürfte dabei unbestritten sein. Vgl. dazu G. Birtsch, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers. Friedrich der Große, Karl Friedrich von Baden und Joseph II. im Vergleich, in: Aufklärung 2/1 (1987) S. 46 f.: „Als genuin aufgeklärter Herrscher erweist sich allein Friedrich der Große“. – Zum Patriotismus Josephs II. vgl. aber auch Klueting (wie Anm. 16), S. 47 ff. 18 Carl Abraham Freiherr von Zedlitz, Ueber den Patriotismus als einen Gegenstand der Erziehung in monarchischen Staaten. Eine Vorlesung bey Aufnahme in die königliche Akademie der Wissenschaften, Berlin 1777. 19 R. Lieberwirth, Die staatstheoretischen und verfassungsrechtlichen Anschauungen von Christian Thomasius und Christian Wolff, in: H.-M. Gerlach u.a. (Hrsg.), Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland (= Beiträge zur Universitätsgeschichte), Halle/Wittenberg 1980, S. 80 f. 20 Vgl. dazu Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, S. 120 f.: „Weil ich den Eifer der Lutheraner und Catholicken gegen einander gleich von meiner ersten Kindheit wahrnahm, dabey merckte, daß ein jeder Recht zu haben vermeinete; so lag mir immer im Sinne, ob es dann nicht möglich sey, die Wahrheit der Theologie so deutlich zu zeigen, daß sie keinen Widerspruch leide“. Dieses aber war dann auch der Anlaß, sich als Theologe intensiv der mathematischen Studien zu widmen, durch deren Methode „die Theologie auf unwiedersprechliche Gewisheit“ gebracht werden sollte. Vgl. dazu auch W. Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker (= Historische Studien 171), Berlin 1927, S. 11 f. – Inzwischen ist diese Situation in Breslau gar als der „an Bedeutung kaum zu überschätzende Hintergrund“ für das gesamte weitere Denken Wolffs bezeichnet worden. So Schwaiger (wie Anm. 15), S. 50. 21 Vgl. dazu W. Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchung zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 151, der Wolff sogar als den „‚geometrischsten‘ Vertreter der Staatsphilosophie überhaupt“ bezeichnet. 22 Vgl. dazu Wolffs Prorektoratsrede über die praktische Philosophie der Chinesen von 1721, bes. die Abschnitte S. 24-27. – Ähnlich äußert sich Wolff in der etwa um die gleiche Zeit entstandenen deutschen Ethik, wo er darauf hinweist, dass auch der Atheist vermöge des Naturgesetzes zur Tugend verpflichtet sei, „wenn auch gleich kein GOtt wäre“ (Ethik I, 1 § 20; vgl. I, 1 § 15).
247 23 Zu den Zusammenhängen vgl. Frauendienst (wie Anm. 20), S. 26 ff., sowie ausführlich C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 388-441, bes. S. 397 ff. 24 Schwaiger (wie Anm. 15), S. 48. Vgl. auch G. Mühlpfordt, Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735, in: W. Schneiders (Hrsg.), Christian Wolff [1679-1754] Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4) Hamburg 1983, S. 239 u. 243 f. 25 So waren etwa die maßgeblichen Autoren des Preußischen Landrechtes indirekt von Wolff beeinflusst, dessen Schüler J.G. Darjes zugleich Lehrer von C.G. Svarez war, während E.F. Klein als Schüler D. Nettelbladts gilt. Vgl. dazu W. Dilthey, Das allgemeine Landrecht, in: Ders., Zur preussischen Geschichte (= Gesammelte Schriften XII), Leipzig/Berlin 1936, S. 179. – Zum Einfluss Karl v. Martinis in Österreich vgl. M. Thomann, Christian Wolff, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik – Politik – Naturrecht, Frankfurt/Main 61987, S. 279 ff. – Zu Ickstatts Bedeutung in Bayern vgl. Fr. Kreh, Leben und Werk des Reichsfreiherrn Johann Adam von Ickstatt (1702-1776). Ein Beitrag zur Staatsrechtslehre der Aufklärungszeit (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 12), Paderborn 1974, S. 17 f. u. 67 ff. 26 Vgl. Schwaiger (wie Anm. 15), S. 48. Zur Würdigung der Wirkungsgeschichte bes. hinsichtlich der politischen Praxis vgl. Thomann (wie Anm. 25), S. 272 ff. 27 E. Hellmuth, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 78), Göttingen 1985, S. 279. 28 N. Hinske, Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung, in: Schneiders (wie Anm. 24), S. 316. 29 So schon Frauendienst (wie Anm. 20), S. 164. 30 Maßgeblich immer noch das Urteil von Friedrich Paulsen, der Wolff den „Nachfolger Melanchthons in der philosophischen Schulherrschaft“ nennt, und insbesondere in seiner „Absage an allen Autoritätsglauben“ das neue „Prinzip der freien Forschung“ sich Bahn brechen sieht. Fr. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart 1, Leipzig 31919 (ND Berlin 1960), S. 540 f. – Eine erste bildungstheoretische Würdigung Wolffs findet sich bei H.M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, Bern/München 21963, S. 99 ff. In Absetzung zu dem „im Grunde bildungsfeindlichen (Bildungsideal)“ der Frühaufklärung mit ihrer einseitig berufspraktischen Ausrichtung, erscheint Wolff hier als Protagonist einer „zweiten, bildungsfreundlichen Periode der Aufklärung“.
248 31 Legitimiert ist dieser Ausgangspunkt durch das viel zitierte Bekenntnis Wolffs: „Perfectionis itaque notio est fons philosophiae meae practicae“; zit. nach K.-G. Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht (= FMDA II, 16) Stuttgart/Bad Cannstatt 2002, S. 155. 32 Vgl. ebd., S. 173 mit Anm. 794. 33 So die Frageformulierung bei Thomann (wie Anm. 25), S. 259; vgl. dazu auch Chr. Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, in: Schneiders (wie Anm. 24), S. 171 u. 183. 34 Eine eher liberale Interpretation vertreten etwa H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 27), Berlin 1977, S. 100, der die Wolffsche Pflichtenlehre ausdrücklich „zu den Marksteinen der Geschichte der allgemeinen Menschenrechte“ rechnet, sowie Thomann (wie Anm. 25), S. 259, für den Wolff „der frühe Verfechter des modernen freiheitlichen Rechtsstaats“ ist, der „die freie Entfaltung des Individuums“ zu gewährenleisten habe. Vgl. auch ebd., S. 269 ff. – Dagegen äußert D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 23), Paderborn 1976, S. 78, „ernste Bedenken“ daran, Naturrechtler wie Wolff solcherart „mit der Ideengeschichte der liberalen Freiheitsrechte unmittelbar in Verbindung zu bringen“. Ähnlich neuerdings auch Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 197 ff., der von einer „liberalistischen Mißdeutung“ spricht. 35 Vgl. dazu die etwas provokante Frageformulierung bei H.-M. Gerlach, Eklektizismus oder Fundamentalphilosophie? Die alternativen Wege von Christian Thomasius und Christian Wolff, in: Aufklärung 12/2 (2001) S. 20: „Christian Wolffs Fundamentalphilosophie – pedantischer Dogmatismus oder aufgeklärtes Systemdenken?“ 36 M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (= Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 32), Tübingen 1945, S. 161. – Wolff selbst erklärt entsprechend, er habe die Ontologie im deutschen genau deshalb eine „Grund=Wissenschaft“ – und nicht eine „Dinger=Lehre“ (!) – genannt, „weil man in diesem Theile der Welt=Weisheit die ersten Gründe der Erkäntnis erkläret“ (Ausführliche Nachricht 2 § 17). 37 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (= PhB 37 a), hrsg. v. R. Schmidt, Hamburg 31990, B XXXVI. 38 Wolff rechnet es sich ausdrücklich zu, mit dieser Bestimmung der Vollkommenheit einen umgangssprachlich zwar klaren, jedoch dort noch undeutlichen Begriff, nunmehr auch zur Deutlichkeit gebracht zu haben. Denn gegenüber der (aristotelischen) Definition der Vollkommenheit „daß nichts von demjenigen fehlet, was zu einer Sache gehöret“ sei mit dem Kriterium der „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen“ nunmehr auch angegeben, „was zu einer Sache gehöret, damit ihr nichts fehlet“ (Ausführliche Nachricht 2 § 20). Und eben damit sei die Vollkommenheit erst als ein allgemeiner Begriff bestimmt.
249 Wundt (wie Anm. 36), S. 155. A. Bissinger, Zur metaphysischen Begründung der Wolffschen Ethik, in: Schneiders (wie Anm. 24), S. 150. Eine ähnliche Entgegensetzung von mechanischer und dynamischer Betrachtung auch bei Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 174. – Allerdings hat Chr. Schröer, Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant (= Münchener philosophische Studien NF 3), Stuttgart u.a. 1988, S. 85 f., darauf hingewiesen, dass das Uhrenbeispiel gerade deshalb bei Wolff so beliebt sei, weil sich bei ihm beide Ordnungsparadigmen – die mechanische Proportionalität der Einzelteile sowohl als auch das dynamische Moment der Zielordnung – zugleich anwenden lassen. 41 Vgl. Wundt (wie Anm. 36), S. 155; Schwaiger (wie Anm. 15), S. 63 f. 42 Bachmann (wie Anm. 34), S. 81. 43 Entsprechend nennt Wolff das natürliche Gesetz eine „lex perfectiva“, „ein vollkommenmachendes Gesetz“ (Naturrecht I, 2 § 48), denn es stellt dem Menschen die mögliche Vervollkommnung seiner Wesensverfassung als Aufgabe und Ziel vor Augen, so dass das natürliche Rechtssystem zugleich ein natürliches moralisches System darstellt, der rechtlichen Verbundenheit des Menschen zur Vervollkommnung eine sittliche Verpflichtung entspricht. Zu dieser Identität von Recht und Moral bei Wolff vgl. auch H.-M. Bachmann, Zur Wolffschen Naturrechtslehre, in: Schneiders (wie Anm. 24), S. 161 f. 44 Die wesentliche Vollkommenheit als die „Natur“ einer Sache ist also nicht identisch mit der Wirklichkeit des Menschen. Vielmehr verwirklicht die Natur das Wesen des Menschen nur „teilweise“, so dass es noch Potenzen enthält, die der freien Tätigkeit des Menschen „zur weiteren Ausbildung“ übergeben sind. Vgl. Bachmann (wie Anm. 34), S. 82. 45 Zur Auslegung vgl. auch Schröer (wie Anm. 40), S. 26 f. Schröer konzentriert sich sodann allerdings weitgehend nur auf den (zweiten) Aspekt, also der Übereinstimmung des menschlichen Handelns mit seinem Wesen und seiner Natur (vgl. ebd. S. 100 ff.). 46 Vgl. dazu Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 174 f. u. 184. 47 Bachmann (wie Anm. 34), S. 78 ff.; Bissinger (wie Anm. 40), S. 150 f. 48 Vgl. Bissinger (wie Anm. 40), S. 151: „In (dem) selbstverständlichen Übergang vom Sein zum Sollen (zeigt sich) ein bestimmtes Verständnis des Menschen. Der Mensch ist nicht nur, er muß sich zugleich verwirklichen“. Dabei bleibt freilich immer mitzudenken, dass das Sein der ontologischen Ordnung bei Wolff im wesentlichen eine Ordnung des dem Seienden möglichen ist. Vgl. B. Winiger, Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs. Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs (= Schriften zur Rechtstheorie 152), Berlin 1992, S. 139. 49 Bachmann (wie Anm. 34), S. 83 u. 85. – Den Hinweis darauf, dass die recht verstandene Selbstliebe keinesfalls einen nur utilitaristisch zu interpretierenden Eigennutzen bedeutet, dürfte Wolff insbesondere gegenüber Tho39 40
250 masius geltend gemacht haben, da bei diesem jede Ichbezogenheit sittlich abgewertet, und jede legitime Form der Selbstliebe allein aus der Verpflichtung zur Nächstenliebe abgeleitet wurde: „Der Wille ist [bei Thomasius] sittlich, wenn er sich […] zu reiner Selbstlosigkeit erhebt. […] Indem Thomasius diesen Gedanken konsequent durchführt, kommt er schließlich zu dem Ergebnis, daß jedes Streben nach individuellem Glück der Bestimmung des Menschen zuwiderläuft: Der Mensch soll sich einzig und allein als Mittel zur Förderung des Nächsten betrachten.“ So Wolff (wie Anm. 30), S. 36 f. (Hervorhebung AL). 50 Zu der für Wolff spezifischen Vorgehensweise, aus den natürlichen Pflichten auch die Rechte abzuleiten vgl. Bachmann (wie Anm. 34), S. 98 f. 51 Als „vollkommenes“ Recht bezieht es sich nach Wolff freilich nur darauf, diese Hilfe von dem anderen Menschen jeweils erbitten zu dürfen, während er das Recht auf deren tatsächliche Erfüllung nur als ein „unvollkommenes“ fasst; vgl. dazu Bachmann (wie Anm. 34), S. 117. 52 Vgl. beispielhaft Naturrecht I, 4 § 125, wo Wolff zur Vollkommenheit eben auch die Hochachtung durch den anderen Menschen rechnet. Zwar muss der Einzelne sich darum bemühen, sich einer solchen Hochachtung als „würdig“ zu erweisen, allein es stehen doch solche Formen gegenseitiger Anerkennung grundsätzlich „nicht in unserer Gewalt“. 53 Vgl. Winiger (wie Anm. 48), S. 255; vgl. auch Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 179: „Wolff vertritt also […] weder einen simplen Individualutilitarismus noch eine absolut-anthropozentrische Moralphilosophie, sondern eine ökologisch aufgeklärte Handlungslehre“. 54 Freilich kann sich Dankbarkeit dabei auch in barer Münze geltend machen. So kann Wolff (Von der allgemeinen Liebe, S. 210 ff.) etwa an die Dankbarkeit seiner Studenten appellieren, das ihm zustehende Kolleggeld reichlich zu zahlen, indem er sie auf die vorausgehende Liebe hinweist, mit welcher er bemüht war, ihre Glückseligkeit durch Unterrichtung in der Weisheit zu befördern: „Wohlan nun Hochgebohrne Herren[,] Schüler der Weisheit […]. Es ereignet sich eine Gelegenheit, dabei sie uns ihr Bemühen, andern zu dienen, beweisen, und eine untrügliche Probe von der allgemeinen Liebe, welche […] eine beständige Gefährtin der wachsenden Weisheit ist, an den Tag legen können. Es werden nehmlich die öffentlichen Diener unserer hohen Schule eine Belohnung ihrer Arbeit einfordern, welche sie immerzu ihnen zum besten vornehmen […]. Sie werden sich demnach bemühen, daß dieselbige ihrer Tugend und ihrem Vermögen gemäs seyn möge“. 55 Es gibt freilich noch andere Liebesverhältnisse. Insbesondere ist die Liebe natürlich ein zentrales Modell des Gottesverhältnisses, wie Wolff in der Ethik III, 1 § 678 ff. ausführt, und ihr entsprechend in III, 5 § 738 f. auch die menschliche Dankbarkeit zuordnet. Auch spricht Wolff etwa in Metaphysik 3, § 450 sogar von einer „Liebe gegen leblose Dinge“, die darin bestehe, „sich an ihnen zu vergnügen“. Doch müssen diese Rücksichten in dem hier verfolgten Zusammenhange außer Betracht bleiben.
251 56 G. Namslau, Rechtfertigung des Staates bei Christian Wolff (= Internationalrechtliche Abhandlungen 10), Berlin 1932, S. 40. 57 Dieser deduktive Charakter wird besonders deutlich in der Zusammenfassung, die Wolff in seinen Ausführlichen Nachrichten 10, § 154, gibt: „In der väterlichen Gesellschaft wird alles aus ihrer Absicht, nemlich der Erziehung der Kinder erwiesen“. 58 Vgl. Namslau (wie Anm. 56), S. 40. 59 Auf die Begründung einer prinzipiellen „Pflicht zu intellektueller Bildung […] für alle Menschen“ hat bereits Wolff (wie Anm. 30), S. 116, hingewiesen, der hierin auch „die eigentliche Großtat Wolffs“ (S. 118) erblickt. Bachmann (wie Anm. 34), S. 245 f. bringt diese Pflicht dann in einen Zusammenhang mit dem entsprechenden Recht auf Bildung und Erziehung. 60 Winiger (wie Anm. 48), S. 256. Zu dieser kognitiven Seite naturrechtlich begründeten Handelns vgl. auch ebd., S. 257 ff. 61 M. Riedel, Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt/Main 1975, S. 226. 62 Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 150. 63 Vgl. Röd (wie Anm. 21), S. 144; Bachmann (wie Anm. 34), S. 120. – Zum Problem der „civitas maxima“ vgl. auch Röd (wie Anm. 21), S. 139 ff. 64 Bachmann (wie Anm. 34), S. 126. – Etwas kritischer dazu E. Stipperger, Freiheit und Institution bei Christian Wolff (1679-1754): zum Grundrechtsdenken in der deutschen Hochaufklärung (= Europäische Hochschulschriften 3, 241) Frankfurt/Main 1984, S. 89 f., der in dieser Entwicklung bereits die Gefahr einer Verselbständigung des politischen Imperativs zur Staatsvervollkommnung sieht: „Mit der Herbeiführung der civitas […] verlagert sich der Vollkommenheitsbegriff […]. Neben einen Systemzweck, der in selbstverantwortlich angestrebter Vollkommenheit besteht, tritt […] das Telos des vollkommenen Staates.“ 65 Ausführlich dazu Bachmann (wie Anm. 34), S. 129 ff. 66 Wolff kennt darüber hinaus auch die Parallelisierung des Verhältnisses von Obrigkeit und Untertan mit demjenigen zwischen Hausvater und Hausgenossen; vgl. dazu Politik II, 2 § 266 f. Dabei beschränkt sich diese Analogie allerdings im wesentlichen auf den Hinweis, dass auch die Obrigkeit um der gemeinen Wohlfahrt willen einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen vornehmen müsse. 67 Der Sprachgebrauch, wer genau die Staatsverträge schließt, ist bei Wolff nicht ganz einheitlich, sind es doch einmal die Häuser, andererseits aber die einzelnen Bürger. Zum Problem Bachmann (wie Anm. 34), S. 128 f. 68 Vgl. Röd (wie Anm. 21), S. 146. 69 Vgl. Thomann (wie Anm. 25), S. 267. 70 Klippel (wie Anm. 34), S. 47. 71 Vgl. Dilthey (wie Anm. 25), S. 197, wo er diese Formulierung in einen Zusammenhang mit der allgemeinen „Einschränkung der Denkfreiheit“ bringt, da Wolff letztere z.B. nur den Mitgliedern der Akademien uneinge-
252 schränkt zustehe. Indem Dilthey jedoch zugleich auch die staatliche Verpflichtung zur Schaffung eines Bildungswesens, welches an der Aufklärung der Untertanen orientiert ist, auf die gleiche Weise an das preußische Naturrecht zurückbindet – der naturrechtlichen Verpflichtung auf Erfüllung des natürlichen Gesetzes entspricht demnach das Recht auf eine Persönlichkeitsentwicklung, die den Staat wiederum dazu verpflichtet, die dazu notwendigen Bildungsmittel zur Verfügung zu stellen – (vgl. ebd. S. 192), relativiert er diese Aussage wieder. 72 Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 201 f. 73 Chr. Böhr, Erkenntnisgewissheit und politische Philosophie. Zu Christian Wolffs Postulat des philosophus regnans, in: Zeitschrift für historische Forschung 36 (1982), S. 590. 74 Ebd., S. 588; vgl. ebd., S. 596 f. 75 Selbstverständlich ist damit die Hoffnung des Philosophen nicht ausgeschlossen, es mögen endlich einmal vernünftige Menschen auch die faktischen politischen Regierungsgeschäfte übernehmen. Wolff selbst, hat diese Möglichkeit im Anschluss an Platon denn auch ausdrücklich betont. Weil nämlich die Regenten allein auf Wohlfahrt und Sicherheit zu achten hätten, mithin also für die „Glückseeligkeit des Staats“ verantwortlich seien, so sei es sinnvoll, dass „entweder ein Regente sich der Weltweisheit befleißigen, oder ein Weltweiser regieren“ müsse (Von den Regenten § 4). Nun ist zwar die hier nahegelegte Vorstellung, aus der Philosophie könne eine politische Praxis more geometrico deduziert werden, selbstverständlich durchaus kritisierbar; vgl. dazu etwa Riedel (wie Anm. 61), S. 224 f. oder Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 172 f. Doch muss man hinsichtlich der Implikationen, die die Vorstellung der Deduktion für Wolff besitzt, durchaus unterscheiden. Faktisch zeigen die Wiedereinsetzung Wolffs in Halle durch den roi philosophe und die ungeheure Breitenwirkung, die die Wolffsche Philosophie unter den deutschen Gelehrten erzielte, wie sehr selbst die herrschenden Schichten an einer direkten Umsetzung philosophischer Gedanken in politisches Handeln interessiert waren. Und gerade dieser „innere Gleichklang von Wissenschaft und politischem System“ hat in der Tat auch oftmals dazu verleitet, „das Bestehende zu erklären, in systematische Form zu bringen – und damit letztlich zu rechtfertigen“ (Chr. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre [= Wiener rechtsgeschichtliche Arbeiten XII], Wien/Köln/Graz 1979, S. 54). In diesem Falle käme die geforderte Deduktion lediglich einer nachträglichen Legitimation politischer Praxis gleich. Doch besitzt jede Deduktion auch ein durchaus kritisches Potential, und zwar nicht nur in dem konkreten Sinne, dass z.B. der Hinweis auf die wesenhafte Natur des Menschen einzelne Gesetze vor das „Tribunal der Vernunft“ zu ziehen vermag (Thomann [wie Anm. 25], S. 262). Wolff spricht vielmehr prinzipiell von einer „doppelten Quelle“ möglicher Ungewißheit: nämlich von dem je individuell-konkreten Fall, der sich nicht in einen allgemeingültigen Satz transformieren lässt, einerseits, und der mangelnden Überlegung des
253 Regenten selbst andererseits (Von den Regenten § 10). Der philosophierende Regent zeichnet sich dann aber nicht durch eine „unfehlbare Erkenntnis“ mit einem angeblichen „Endgültigkeitsanspruch“ aus (so die sehr oberflächlich recherchierte Deutung bei Böhr [wie Anm. 73], S. 596), sondern lediglich dadurch, dass er eine der beiden Quellen, so weit es ihm möglich ist, zum versiegen bringt, und zwar dadurch, dass er begründende Rechenschaft abzulegen versucht. So ist sein Unterschied zu dem Nicht-Weltweisen auch kein absoluter, sondern ein relativer, sein Charakteristikum kein Superlativ, sondern ein Komparativ: seine Ungewissheit ist „geringer“ (Von den Regenten § 10), weshalb sodann sein Vorgehen „behutsamer“ (Von den Regenten § 11) verläuft. Und so zielt die eigentliche Stoßrichtung der Forderung nach einer vernünftigen Deduktion der Praxis aus der Philosophie nicht auf eine nachträgliche Legitimation des schon Bestehenden, sondern auf einen behutsam abwägenden, aber vernünftig begründbaren Entwurf des möglichen Besseren. 76 Vgl. Frauendienst (wie Anm. 20), S. 104 f., der die Analogisierung unter dieser Perspektive daher auch ausdrücklich als zeitkritisches Korrektiv empfindet. – Von einer ähnlichen Auslegungsproblematik ist im übrigen auch das Gottesverständnis betroffen. Vgl. etwa Ethik I, 1 § 58-60, wo Wolff das gesetzgeberische Handeln Gottes als ein väterliches darstellt, weil es als eine „Probe seiner Güte“ des Menschen Glückseligkeit befördern (§ 58) und diesen damit umgekehrt wiederum „zu einer inbrünstigen Liebe“ gegen Gott antreiben soll (§ 60); daher denn auch die Vateranalogie den Gott ausdrücklich „nicht unter dem Bilde eines herrschsüchtigen Herren“ erblicken lasse, „sondern vielmehr unter dem Bilde eines gütigen und liebreichen Vaters“ (§ 59). 77 Eigentlich könnte hier die Darstellung der konkreten bildungspolitischen Maßnahmen erfolgen, die Wolff in Politik II, 3 § 284-318 ausführlich entwirft, denn Wolff fährt in dem soeben zitierten Satz fort: „(daß zu ihrem Besten gereichet, was die Obrigkeit befiehlet): welches theils durch öffentliche Schrifften, theils auch durch den Unterricht der öffentlichen Lehrer geschehen kann“. Dabei wäre insbesondere zu fragen, ob und inwieweit sich der Zusammenhang von Gehorsam und Einsichtsfähigkeit verfolgen lässt und d.h., welche Rolle die Forderungen nach rationaler Begründung und vernünftiger Einsicht in dem Wolffschen Schulentwurf überhaupt spielen. Doch würde eine solche Untersuchung zu weit vom hier verfolgten Thema abführen. 78 Vgl. das Urteil bei Frauendienst (wie Anm. 20), S. 148: „Nirgends hat die Reglementierwut so kleinbürgerliche grotesk-lächerliche Formen angenommen, ist die Polizei so oft heranzitiert worden wie bei Wolff“. Ähnlich sieht J. Brückner, Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts (= Münchner Studien zur Politik 27), München 1977, S. 225, diese „staatliche Gesetzgebungshypertrophie“ nicht zuletzt als das Ergebnis einer Aufwertung des positiven durch das natürliche Recht an, durch welches – besonders in der Wolffschen Fassung – alle faktisch-nützlichen staatlichen Vorschriften durch den Hinweis auf die gemeine Wohlfahrt gleichsam ihre nachträgliche „naturrechtliche Rechtfertigung“ er-
254 halten. Vgl. schließlich auch die zusammenfassende Kritik bei J. Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime (= UTB 1426), München 1986, S. 28, der Wolff ebenfalls vorwirft, dem Fürsten mit seiner Philosophie gleichsam ein „ideologisches Instrumentarium“ zugespielt zu haben, „das jede Form der Kontrolle und Reglementierung vor Staat und Öffentlichkeit gerechtfertigt erschienen ließ“, und damit faktisch zu einer „unbegrenzten Ausdehnung staatlicher Wirksamkeit“ führte. 79 Vgl. dazu Hellmuth (wie Anm. 27), S. 57 f. – Solche Überspannungen machten sich insbes. im Straf- und Kriminalrecht bemerkbar, weil die „Elastizität“ des Wohlfahrtsbegriffes nicht nur zu einer Kriminalisierung vieler aus heutiger Sicht relativ harmloser Tatbestände führte, sondern auch ein ausgeklügeltes Überwachungs- und Strafsystem hervorbrachte, mit dessen Hilfe alles menschliche Tun und Lassen in den Bahnen naturrechlich legitimierter – und damit (vermeintlich) „richtiger“ – Handlungen gehalten werden sollte. Vgl. dazu Dilthey (wie Anm. 25), S. 187 f. 80 Lutterbeck (wie Anm. 31), S. 201. Ähnliche Kritik an der Bevormundung des „unmündigen“ Bürgers durch den Staat auch bei Brückner (wie Anm. 78), S. 219: „Die nur noch potentielle Möglichkeit des Individuums zur Perfektionierung bedarf jetzt zu ihrer Realisierung des Staates […] als Leiter und Führer auf einem Weg, den die meisten Menschen nicht allein gehen können“. 81 Frauendienst (wie Anm. 20), S. 104. Frauendienst kann hier deshalb als ein ganz unverdächtiger Zeuge herangezogen werden, weil er in Wolff trotz aller „Proklamierung unveräußerlicher, angeborener Menschenrechte“ letztlich doch einen „typischen Verfechter des aufgeklärten Polizeistaates“ sah, „in dem die Freiheitsrechte kraft höherer Staatsnotwendigkeit arg beschnitten werden konnten und wurden“ (ebd., S. 92), und somit nicht dem Verdacht einer Beschönigung unterliegt. 82 Zur Herleitung der bildungspolitischen Vorschläge Wolff aus dem Zusammenhang von Vollkommenheitsdenken und gemeiner Wohlfahrt vgl. Bachmann (wie Anm. 34), S. 215; 235; 245 ff. 83 Nach Chr. Link, der Wolff ausdrücklich in die lange wohlfahrtsstaatliche Tradition des lutherischen Fürstenstaates stellt (vgl. Link [wie Anm. 33], S. 173), liegt gerade in der Berücksichtigung auch der ökonomischen Bedingtheiten von Vollkommenheit und Glückseligkeit eine wesentliche Leistung des von Wolff entworfenen „Sozial- und Wohlfahrtsstaatsgedankens“ (ebd., S. 181): „Nicht einen richtigen Staat gibt es für Wolff, aber eine Vielzahl von naturrechtlich determinierten Herrschaftsformen, denen allesamt aufgegeben ist, die Menschenwürde auch dort zu achten und zu wahren, wo es um deren materielle Dimension geht. Der Vernunftstaat Wolffs ist darum Rechts- und Sozialstaat in einem, und hierin liegt der Beitrag, den Wolff in besonderer Weise in das moderne Staatsdenken eingebracht hat“ (ebd., S. 186 f.).
255 84 Thomann (wie Anm. 25), S. 265. Aus dieser Perspektive heraus ist Thomann denn auch die Ansicht, dass Wolff „dem Absolutismus eine philosophische Rechtfertigung geliefert“ habe, „gänzlich unverständlich“ (ebd., S. 272). 85 Es wäre eine interessante Aufgabe, diejenigen Hinweise, die Wolff etwa zu seiner eigenen Lehrart (Ausführliche Nachricht 3 § 22 ff.) gibt, auf das mit ihnen implizierte Erziehungsziel hin „abzuklopfen“, und mit dem hier Gesagten zu vergleichen. Auch die Ausführungen über „des Autoris Freyheit zu philosophiren“ (Ausführliche Nachricht 4 § 40 f.) wären in Betracht zu ziehen. Alles dieses kann jedoch hier, wo es sich überhaupt nur um einen sehr anfänglichen Versuch handelt, nicht behandelt werden. 86 Diese Grenze gilt es deutlich anzuerkennen, denn ein institutionalisiertes Recht auf vorauslaufende obrigkeitliche Wohltaten kennt Wolff selbstverständlich nicht. Zwar gilt ihm „das Recht, Liebes=Dienste zu bitten“ als ein „vollkommenes“ Recht, also ein solches, zu dessen Einhaltung der andere gezwungen werden kann – er muss die Bitte anhören –, jedoch „das Recht zu den Liebes=Diensten, die hier und jetzt von diesem geleistet werden“, ist nur „unvollkommen“, also nicht erzwingbar – er darf die Bitte abschlagen; in welchem letzteren Falle er zwar „unbillig“ handelt und unter moralischer Rücksicht sogar „sündiget“, sich jedoch nicht „ungerecht“ verhält (Naturrecht I, 3 § 80; 82 f.). In diesem Sinne sind also alle Leistungen, die an die gegenseitige Liebe geknüpft sind, nur „moralische Postulate, die nicht einklagbar sind“ (so zurecht Klippel [wie Anm. 34], S. 53), sondern insbesondere den Regenten lediglich moralisch verpflichten. – Anders dagegen Thomann (wie Anm. 25), S. 272, der es für eine „kapitale ideologische Verkennung der Lehre Wolffs“ hält, „wenn sein Naturrecht in jene rechtlich unverbindlichen, seit Thomasius fälschlich ‚moralisch‘ genannten Gefilde abgewälzt wird“.
Werke Christian Wolffs: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit (zitiert als Logik), hrsg. u. bearb. v. H.W. Arndt (Ges. Werke I.Abt. 1), Hildesheim 1965. Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (zitiert als Metaphysik), Halle 41751 (ND als Ges. Werke I. Abt. 2, Hildesheim u.a. 1983). Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Anderer Theil / bestehend in ausführlichen Anmerckungen (zitiert als Anmerkungen), Franckfurt am Mayn 41740 (ND als Ges. Werke I. Abt. 3, Hildesheim u.a. 1983). Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (zitiert als Ethik), Franckfurt/Leipzig 41733 (ND als Ges. Werke I.Abt. 4, Hildesheim u.a. 1976).
256 Vernünfftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (zitiert als Politik), Franckfurt/Leipzig 41736 (ND als Ges. Werke I. Abt. 5, Hildesheim u.a. 1975). Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt=Weißheit heraus gegeben (zitiert als Ausführliche Nachricht), Franckfurt am Mayn 21733 (ND als Ges. Werke I. Abt. 9, Hildesheim u.a. 1973). Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, worinn alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden (zitiert als Naturrecht), Halle 1754 (ND als Ges. Werke I. Abt. 19, Hildesheim u.a. 1980). Von der allgemeinen Liebe welche sich bey einem Weisen findet (zitiert als Von der allgemeinen Liebe), in: ders., Gesammlete kleine philosophische Schrifften V, Halle 1740, S. 208-212 (ND als Ges. Werke I. Abt. 21.5, Hildesheim u.a. 1981). Von der Verbindung des Regiments mit der Weltweisheit, oder Von den Regenten, die sich der Weltweisheit befleißigen, und von den Weltweisen, die das Regiment führen (zitiert als Von den Regenten), in: Ders., Gesammlete kleine philosophische Schrifften VI, Halle 1740, S. 529-662 (ND als Ges. Werke I. Abt. 21.6, Hildesheim u.a. 1981). Oratio de Sinarum philosophia practica / Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, lat.-dt., hrsg. v. M. Albrecht (= PhB 374) Hamburg 1985. Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, hrsg. v. H. Wuttke, Leipzig 1841 (ND Königsstein/Ts. 1982).
III Perspektiven des Sinngrundes
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Edgar Früchtel INNERES AUGE UND GÖTTLICHE SCHAU Reflexionen zum antiken Horizont des Begriffs „Vision“ Der Begriff Vision leitet sich von yevría ab und geht zurück auf Platons Schau der Ideen, die sich in der Schau des Göttlichen vollendet. Bei Aristoteles gipfelt die yevría der Wissenschaften als Ermöglichung von Weltinterpretation und geglücktem Lebensentwurf in der Bestimmung des unbewegten Bewegers als Denken des Denkens. In der versuchten jüdischhellenistischen Vermittlung läßt für Philon von Alexandrien die wissenschaftliche Weltbetrachtung zwar den Schluß auf einen Schöpfer zu, der sich als der Seiende aber nur durch Offenbarung zeigt. In der Vollendung der yevría zur unio mystica mit dem Hen schafft Plotin die Vorlage für die christliche Interpretation der mystischen Innenschau und Vereinigung mit dem jetzt personal gedachten Gott.
Wenn man heute von einem Politiker in anerkennender Weise sagt, er habe Visionen, so meint man damit, daß dieser Mann die Zukunft mit den vorhandenen gegenwärtigen Mitteln in ungewöhnlicher Weise gestalten und verbessern will. Dieser Mann – so könnte man sagen – trägt ein Zukunftsbild in sich, das er zwar denkend erarbeitet, aber zunächst intuitiv, vielleicht mit Phantasie „erschaut“. Noch im 19. Jh. rückte man Visionen in die Nähe eines pathologisch beschreibbaren Verhaltens. So definiert Brockhaus’ Conversations-Lexikon von 1887 (Bd. XVI, S. 294) den Begriff „Vision“ noch folgendermaßen: „Vision ist im engeren Sinn gleichbedeutend mit Gesichtshallucination, d.h. einer sinnlich lebhaften (phantastischen) Gesichtswahrnehmung ohne entsprechendes Objekt, insbesondere mit Gesichtshallucinationen, welche auf der Grundlage von Ideen (z.B. religiösen) entstehen, die ihren Träger lebhaft beschäftigen und sein Gemüt intensiv erregen …“ In der Antike dagegen sind Visionen keines-
260 wegs krankhafte Erscheinungen. Sie bilden vielmehr oftmals die Grundlage für Erkenntnisse. Visio leitet sich sprachlich von der Wurzel Ûid ab, wovon videre = sehen, schauen ebenso wie wissen (gr. ÛoÂda) kommt. Diese gemeinsame Wurzel von „SEHEN“ und „WISSEN“ zeigt, daß bereits im Akt des Sehens ein – meist unbewußtes – Element des Denkens mitspielt. Aus dem Überblick und dem Zusammenhang von Bildern und Vorstellungen entsteht die „Theorie“, die sich von yevrów (~ yea[Û]orow)1, also demjenigen herleitet, „der ein Schaubild sieht“, woraus später die visio dei des Mystikers im Mittelalter wird. Im Grunde wurzeln alle diese verschiedenen Bedeutungen im platonischen Denken.
I. Die platonische Sicht des Göttlichen als Ursprung metaphysischen Denkens Im Dialog Phaidon gebraucht Sokrates in seinem autobiographischen Exkurs die Metapher der „Zweiten Seefahrt“, die Giovanni Reale das „großartigste Symbol platonischen Philosophierens“ nennt.2 Die Metapher aus der Seemannssprache bedeutet zunächst die zweite Möglichkeit, mit einem Schiff durch Rudern ans Ziel zu gelangen, wenn dies mangels günstiger Winde beim ersten Versuch nicht möglich war.3 An der näher zu besprechenden Stelle 99 c des Dialogs Phaidon gibt Sokrates einen Einblick in die Entwicklung seiner Erkenntnis, die ihn auf der Suche nach dem Grund der sinnlich erfahrbaren Welt zur Ideenschau führt. Dabei vergleicht er diesen Weg nicht nur mit den beiden Möglichkeiten der Schiffahrt, sondern auch mit den zwei Stufen der Einweihung in die Mysterien. Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist die Beobachtung der Dinge, das Sehen der materiellen Welt, wie er dies von den Naturphilosophen übernommen hatte. Die Sinne und besonders die Augen sind dabei die Organe, die wie der Wind die Segelschiffe zum Ziel führen sollen. Wie die Einweihung in die Mysterien,
261 die múhsiw, ist dieser Weg zwar leicht zu begehen, aber mangelhaft im Ergebnis, weil die Sinne täuschen können. Die Ergebnisse dieses Erkenntnisweges bringen Sokrates nicht das erhoffte Wissen vom Grund der Dinge. Deshalb wandte sich Sokrates von der Betrachtung der Dinge ab und „flüchtete sich zu den Logoi“, um mit ihrer Hilfe das wahre Wesen der Dinge zu erforschen. Sokrates nimmt diesen Weg, um zu vermeiden „an der Seele völlig zu erblinden“4, wie es nämlich denen ergeht, die „die Sonne bei ihrer Verfinsterung beobachten“ und nicht ihr Bild im Wasser anschauen. Diese Aussage bereitete den Platon-Interpreten große Schwierigkeiten, da man lange Zeit die Kantische Unterscheidung von sinnlicher Anschauung und begrifflichem Denken in die Worte hineingetragen hatte. Platon läßt Sokrates die unmittelbare Wahrnehmung der Dinge von der geistigen Anschauung unterscheiden. Sokrates schreitet auf seinem Erkenntnisweg von dem jeweils stärksten Logos bis zu den Ideen des Schönen, des Guten und des Großen an sich weiter, um auf einen hinreichenden Grund und damit auf ein bestimmendes Woher zu kommen.5 Seine „Flucht zu den Logoi“ führt wie die „zweite Seefahrt“ zu den Ideen. Doch auch die Ideenschau entspricht noch nicht dem eigentlichen Ziel. Sokrates sucht nach dem Grund und diese Suche leitet ihn „zum Fest des Apollon, an dem sich die Epiphanie des Gottes ereignet“6. Theorie ist dabei als „Gott gewahren“ yeów, `rân, Gott sehen, zu erklären.7 Damit ist die Schau Gottes als Ziel, wie wir es bei dem obersten Einweihungsgrad, den Epopten, vermuten dürfen, zunächst erreicht.8 Was jedoch die nach einem Jahr in diese Einweihungsstufe der Epopten Aufgenommenen sahen, wissen wir nicht, da darüber zu reden verboten war. „Glückselig“ nennen sie Pindar und Sophokles, weil diese Schau vermutlich die Hoffnung auf Unsterblichkeit zumindest genährt haben dürfte.9 An anderer Stelle ist es die Dialektik, durch die nach Platon die Suche nach dem Grund zum Ziel gelangt. Die Dialektik bedarf dabei des „Auges der Seele“: „sie zieht das Auge der
262 Seele … ruhig hervor und führt es hinauf“10. Dabei entspricht es dem platonischen Gesetz, wonach Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann, daß nur ein geistiges Organ, in unserem Fall „das Auge der Seele“, den eigentlichen Grund dessen, was ist, nämlich die Ideen, zu sehen, und damit zu erkennen vermag. Die sinnliche Wahrnehmung bedarf der geistigen Interpretation, so daß man bei Platon ganz modern sagen könnte, man solle „mit dem Auge denken“11. Denn nur derjenige kennt die oberste Idee, die Idee des Guten, wirklich, der diese „Idee des Guten von allem anderen abzusondern und durch den Logos abzugrenzen“12 versteht. Diese Idee des Guten ist Gott als Ursache der guten Dinge und als Ziel der philosophischen Bemühungen. Denn Schlechtes „umkreist die sterbliche Natur und diese unsere irdische Stätte mit Notwendigkeit. Daher gilt es zu versuchen, von hier so schnell wie möglich dorthin zu entfliehen. Diese Flucht jedoch ist die Angleichung an Gott, soweit uns dies möglich ist. Diese Angleichung heißt aber gerecht und fromm werden auf dem Grunde richtiger Einsicht.“13 Wird dieses Ziel des menschlichen Lebens erreicht, bringt es die Schau des Schönen an sich, die nur dann gelingt, „wenn der Schauende damit schaut, womit man das Schöne schauen muß“14. Gemeint ist wiederum das Auge der Seele und dieser Zustand bedeutet die höchste Erfüllung des menschlichen Lebens, wie Platon es Diotima beschreiben läßt. Diese „göttliche Schau“, die yeîa yevría15 ist als Steigerung der allgemeinen Schau zu interpretieren, die „über alle Zeit und alles Sein“16 geht. Beide Arten von yevría ermöglichen dem Menschen aus der Welt der Veränderungen und der Zeitlichkeit den Blick auf das Unveränderliche und Ewige zu richten. Denn nur das Unveränderliche, das nicht unter dem Gesetz der Zeit steht, kann wahr sein.17 Diese Sicht nimmt selbstverständlich nur das „geistige Auge“ ein. Das körperliche Auge wird daher geschlossen. „Muv heißt die Augen für das äußere Licht, den Mund für die Mitteilung an andere verschließen, damit das innere Licht desto heller erstrah-
263 le. Was wird aber in diesem inneren Lichte gesehen? In dem überhellen Lichte, das kein Schatten des Diesseits mehr gliedert und teilt, verschwinden die Konturen der Dinge“18. Dies ist rational allein nicht zu verstehen, deshalb greift Platon auf die Vorstellungswelt des Mythos zurück. In diesen Zusammenhang ist wohl auch Phaidros 247 b zu stellen, wo in der Sprache des Mythos die Schau der präexistenten Seelen beschrieben wird, die „außerhalb des Himmels“ geschieht. Mit ihren Seelenwagen fahren die unsterblichen Seelen hinaus und „betreten den Rücken des Himmelsgewölbes … und schauen, was außerhalb ist“. Platon beklagt, daß diesen „überhimmlischen Ort“ noch kein irdischer Dichter würdig besungen habe und dies auch nicht geschehen werde. Hier klingt Platons „unsagbare Lehre“19 an, wobei in der mythischen Erzählung durchaus rational dargelegt wird, was und womit die Seele schaut: „Das farblose, gestaltlose und unantastbare Sein, das wirklich ist, läßt sich allein vom Geiste, dem Steuermann der Seele erschauen; dieses Sein, um welches her das Geschlecht des wahren Wissens wohnt, hat diesen Ort inne. Da nun Gottes Denken sich von unvermischtem Geiste und Wissen nährt, wie auch das Denken jeder Seele, der es ein Anliegen ist, aufzunehmen, was ihr zukommt, findet es, wenn sie nach langer Zeit einmal wieder das Sein erschaut, seine Befriedigung und erhält Nahrung und Wonne aus dem Anblick der Wahrheit“20. Diese höchste Erkenntnis wird als reines Schauen beschrieben, wobei die Schau der Seele stets als geistiger Akt, als vom noûw erfolgende nóhsiw oder frónhsiw und oft als „überwältigender Lichteindruck“ geschildert wird.21 Während die Götter dieser Schau über das Himmelsgewölbe hinaus ohne Anstrengung teilhaftig werden, müssen die Seelen der Sterblichen sich anstrengen, um überhaupt zu dieser Betrachtung zu gelangen und dies gelingt nur mit Mühe und nur einzelnen Menschen. Von dem Erfolg dieser Anstrengung, also davon, wieviel die Einzelseele erkennen konnte, hängt die Zuteilung ihres nächsten Lebensschicksals, des Lebensloses ab, ob dieses das eines Menschen oder gar eines Tieres, ob dies das Le-
264 ben eines Philosophen, Dichters, Bauern oder Tyrannen sein wird. Die Schau und ihre Qualität ist somit nicht nur das bestimmende Moment des menschlichen Daseins und in dieser Deutung das tragende Element von Platons „rationaler kosmischer Psychologie“22. Mit der ewigen Selbigkeit der Ideen und des Seins ist jedoch das Problem der Entwicklung und damit das der Bewegung als Prinzip des Lebens nicht gelöst.23 Auf ein weiteres Problem macht Blumenberg aufmerksam. Er sieht die Schwierigkeiten bei den Ideen Platons darin, daß sie „als Urbilder keiner nachbildet, wäre nicht ein williger und geeigneter Demiurg, und als Denkmuster keiner anschaut und bedenkt, wären da nicht Seelen, die sich ihrer gerade noch erinnerten. In beiden Fällen das greifbare Risiko einer Ewigkeit des unbedachten Denkbaren“24. Der Demiurg spielt ohne Frage die Rolle eines deus ex machina und die Idee des Guten übernimmt die Funktion, Ziel und Antrieb von Erkenntnis und Streben zu sein. Somit lassen sich beide Problemfelder als „Urstiftung“ im Husserlschen Sinne fassen.25 Es ist die Vision eines Urgrundes, die Platon mit seiner Einführung der Idee des Guten und den notwendigen Funktionen des Demiurgen und der Seelen in die Sprache und in die Vorstellungswelt der Mysterien bringt. Geistesgeschichtlich betrachtet formuliert er so die Grundlagen der beiden Stufen von Theorie. Gegenüber allen Versuchen, Wahrheit zu relativieren, wird der Platonismus in der europäischen Geistesgeschichte auf diese Weise zum Argumentationsmuster eines göttlichen Urgrundes.
II. Der aristotelische Ansatz einer Theorie der Wissenschaften als Ermöglichung eines geglückten Lebensentwurfes Platon nimmt „Philosophie“ zunächst in der wörtlichen Bedeutung und sieht die Aufgabe des Philosophen im steten Streben nach dem Weise-sein, das jedoch in diesem Leben nicht zu erreichen sei. Deshalb steht bei ihm der Philosoph mit seiner Liebe
265 zur Weisheit in der Mitte zwischen den in Unkenntnis bleibenden Nichtphilosophierenden und den Göttern, die nicht mehr nach Weisheit streben müssen, weil sie diese bereits besitzen.26 Anders sieht dies Aristoteles. Für ihn ist die Weisheit erreichbar, die theoretische Wissenschaft gipfelt geradezu in der Weisheit, weil der Weise nicht nur aus den Prinzipien abzuleiten versucht, sondern auch von diesen ˙rxaí ein sicheres intuitives Wissen hat.27 Seine Wissenschaft ist die erste Philosophie, die man alsbald „Metaphysik“ genannt hat28, denn sie ist die \pist}mh yevrhtik}, also die Wissenschaft, die die ersten Prinzipien und Ursachen in den Blick nimmt.29 Sie ist die Theorie des am höchsten Wißbaren, die man allein um ihrer selbst willen wählt.30 Dieser hierarchischen Struktur der Wissensformen entspricht bei Aristoteles die der Ontologie. So beschreibt er bei seiner Analyse des Kosmos den Strukturaufbau als eine Hierarchie, die von den sinnlichen Substanzen hinaufreicht bis zur ewigen, unbewegten Substanz, dem unbewegten Beweger, der als Gott gedachten ersten Substanz. Daher auch die Prädikate dieses Gottes, der als reine Wirksamkeit, reine Schau (yevría) und Denken seiner selbst, des Höchsten und Besten, gefaßt wird.31 Da dieses Denken und Schauen des Gottes auf das Beste und Höchste und damit auf sich selbst als Denken des Denkens zu verstehen ist, fehlt diesem Gottesbegriff der Bezug zur Welt. Er bleibt deshalb ein kosmologisches Konstrukt ohne personale Struktur.32 Dennoch ist die göttliche Schau für das menschliche Streben nach Einsicht Vorbild und Ziel. Wenn nämlich Glück eine mit der Tüchtigkeit übereinstimmende Tätigkeit ist, sagt Aristoteles33, „muß sie natürlich mit der vorzüglichsten Tüchtigkeit übereinstimmen, das aber kann nur die Tüchtigkeit des Besten in uns sein … – mag diese Kraft göttlich sein oder auch das Göttlichste in uns – die Wirksamkeit dieser Kraft, sofern sie entsprechend der ihr eigenen Trefflichkeit wirkt, ist die vollendete Eudaimonia. Daß diese Wirksamkeit geistiges Schauen ist, ist bereits festgestellt worden.“34 Will also der Mensch vollendetes Glück haben, muß er das Göttliche in ihm, den noûw als die Fä-
266 higkeit zur geistigen Schau betätigen, um sich so – wenn auch nur vorübergehend, da er ja unter dem Gesetz der Zeit lebt – analog zum unbewegten Beweger verhalten zu können. Deshalb ist „der Erwerb natürlicher Güter, seien es körperliche oder finanzielle, Freunde oder sonstige Güter, dann der beste, wenn diese Güter am meisten und besten die geistige Schau des Gottes ermöglichen. Jede andere Form (des Erwerbs), die durch Mangel oder ein Zuviel daran hindert, das Göttliche zu verehren und der Schau zu leben, ist schlecht.“35 Innerhalb der theoretischen Wissenschaften ist freilich die „Theologie“ die ehrwürdigste, aber auch die anderen theoretischen Wissenschaften, wie Mathematik und Physik, die Aristoteles zu den betrachtenden philosophischen Wissenschaften zählt, gehören zu den Tätigkeiten des bíow yevrhtików, der kontemplativen Lebensform. Die aristotelische Unterscheidung von drei den freien Bürgern offenstehenden Lebensweisen kann man nur dann verstehen, wenn man sich vor Augen hält, daß Aristoteles von freien Bürgern in dem Sinne spricht, daß diese unabhängig von jeglicher Sorge um den Lebensunterhalt aus eigener Entscheidung ihre Lebenssituation gestalten können. Für die Beschaffung der für ein solches Dasein nötigen Mittel sind die Sklaven oder Metöken zuständig.36 Alle drei Lebensweisen sind zwar mit dem „Schönen“ befaßt, unterscheiden sich aber in den Zielsetzungen.37 „Und so sehen wir drei Grundformen der Lebensweisen, für die sich alle Menschen entscheiden, denen die Möglichkeit dazu gegeben ist, nämlich das Leben eines Politikers, das Leben eines Philosophen und das eines Genußmenschen. Von diesen Grundformen will das philosophische Leben es mit dem theoretischen Wissen, und damit mit der Betrachtung der Wahrheit zu tun haben, das politische Leben mit dem wertvollen Handeln, das Genußleben mit der körperlichen Lust“38. Aus dem Zerrbild des Philosophen, der als Nichtsnutz der Komödienbühne den Spott der Massen auf sich zieht,39 und aus dem weltfremden Sinnierer, der den Marktplatz, und damit die
267 politische Bühne meidet, wie Kallikles, der Sophist, ihn beschreibt40, ist der wissenschaftliche Betrachter aller Seinsbereiche geworden, der den bíow yevrhtików zur Erforschung der Weltgründe gewählt hat. Wenn dann ein solcher Mann nicht nur diese Arete, die Tüchtigkeit und Fähigkeit besitzt, sondern auch alle Bürger übertrifft und „ihm mehr als allen anderen die Macht zum Handeln zufällt … vermöge derer er seine Tätigkeit zu entfalten vermag, … so wird sowohl für den Staat im ganzen als auch für den Einzelnen das beste Leben dann das tätige (praktików) Leben sein“41. Die platonische Vision, daß der beste Staat dann möglich sei, wenn Könige Philosophen und Philosophen Könige seien42, wird von Aristoteles als Denkmöglichkeit in Erwägung gezogen und von Bedingungen abhängig gemacht. Der bíow praktików wird dabei mit dem bíow yevrhtików verbunden und durch diese Verbindung soll das Wohlgelingen, die e[prajía, die ja das Lebensziel ist, erreicht werden.43 Freilich steht die Lebensform des bíow yevrhtików nur wenigen offen und nur diese können auf e[daimonía, auf „Glückseligkeit“ hoffen, denn nur „Weisheit führt zur Glückseligkeit“44. Die Theorie allein ist „der Bedrohung durch widrige Umstände enthoben“45, da sie eine Tätigkeit ist, die um ihrer selbst willen angestellt wird und wie die vernünftigen Gedanken in sich selbst ihr Ziel hat: „Denn nur wertvolles Handeln ist das Ziel und deshalb als solches Tätigsein; auch bei den nach außen gerichteten Tätigkeiten nennen wir diejenigen, die durch ihre gedankliche Arbeit die Handlungen gestalten, im eigentlichen Sinn die Tätigen … Denn sonst würde kaum der Gott und das Weltall sich wohlbefinden, die beide eben keine nach außen gerichtete Tätigkeiten neben ihren eigenen (inneren) haben.“46 Die Theorie als gedankliche Durchdringung und Planung wird erst dann zur eigentlichen Tätigkeit des Menschen, wenn „wir alles tun, um unser Leben nach dem einzurichten, was das Höchste in uns ist“, und damit, soweit es möglich ist, uns „zur Unsterblichkeit erheben.“47 Dieses Ziel entspricht der aristotelischen Interpretation
268 der platonischen Angleichung an Gott. Damit ist nicht etwa eine Unsterblichkeitslehre verbunden. Aristoteles wehrt sich vielmehr gegen die dichterische Aussage, daß es für den Menschen am besten sei, nicht geboren worden zu sein, das Zweitbeste aber, früh zu sterben.48 Aristoteles verwirft diese These, weil der Mensch – analog zur Glückseligkeit der Götter – als einziges Lebewesen der irdischen Welt die Theorie pflegen kann: „Denn wie umfassend sich also die Theoria, die geistige Schau, entfaltet, so weit auch die Glückseligkeit und je eindringlicher der Akt des Schauens ist, desto tiefer ist der Zustand der Glückseligkeit – ein Zustand, der nicht nur auf zufälliges Hinzutreten beruht – sondern auf der unmittelbaren Schau, denn eine solche Schau trägt ihren Wert und ihre Würde in sich.“49 Diese aristotelische Interpretation der Schau in Verbindung mit der platonischen Ideensystematik ist zur Grundlage des Philosophiebegriffs geworden. Aus der Philosophie als cognitio principiorum entwickelt sich die Philosophie im modernen Sinne, die in ihrem Selbstverständnis zur cognitio ex principiis wird. „Diese (Ex-Struktur) … hält sich durch, sie ist eine Invariante der Wissenschaftsgeschichte, auch wenn die Prinzipien schließlich nicht mehr absolute Einsichten, Evidenzen, Axiomata sind, sondern nur noch hypothetischen Charakter besitzen.“50
III. Die Notwendigkeit von pístiw als Bedingung göttlicher Schau Bezeichnet Aristoteles die menschliche Fähigkeit zur Schau als Möglichkeit, größte Glückseligkeit zu erlangen, so führt er die Tradition des Anaxagoras und Pythagoras fort,51 für die der Mensch das einzige zur Schau befähigte Lebewesen darstellt. Sie glaubten sogar, daß Gott den Menschen geradezu deshalb geschaffen habe, damit er Himmel und Erde, die Sterne und das All betrachte und den Kosmos bestaune.52 Aus dieser Tradition entwickelt sich der Topos von der Ehrfurcht vor dem Objekt der
269 Schau. So heißt es in einem Fragment bei Menander: „Diesen Menschen nenne ich am glücklichsten, der, nachdem er die erhabenen Wesen, die allen gemeinsame Sonne, die Sterne, das Wasser, die Wolken, das Feuer geschaut, ohne Kummer dorthin schnell zurückkehrt, woher er gekommen. Diese Wesen wird er, selbst wenn er hundert Jahre lebte, als gegenwärtige stets im Blick haben. Auch dann, wenn er nur wenige Jahre lebte, wird er keinesfalls erhabenere andere Wesen als diese erblicken. Halte deshalb diese Zeit, von der ich sprach, für eine Zeit festfreudigen Vergnügens, nämlich das Verweilen dort oben.“53 Dieser Lobpreis auf den göttlichen Kosmos findet sich bei vielen antiken Kulturen. Für die abendländische Kultur ist neben der griechischen Prägung die der jüdischen Kultur von größter Bedeutung. Auch dort findet sich der Lobpreis auf die Schöpfung. Aus der Größe und Schönheit des geschaffenen Kosmos und aller seiner Inhalte ist hier die Erkenntnis zu ziehen, „um wieviel mächtiger der sei, der alles dieses geschaffen“ hat. Die Betrachtung der Welt führt zum Lobpreis des Schöpfers,54 der als einziger Gott und als Person verehrt wird. Auf die an sich zwar äußerst interessante aber auch ebenso komplizierte Geschichte des jüdischen Theoriebegriffes kann hier nicht eingegangen werden. Wir begnügen uns daher für unsere Überlegungen mit einem Einblick in den Versuch des Philon von Alexandrien, eine Synthese von hellenistischer Kultur und jüdischem Denken zu unternehmen. Sein Werk macht ihn damit zum Vorläufer der christlichen Patristik. In unserem Zusammenhang sollen nur einige Aspekte seiner Theorie behandelt werden. Seinem System der Weltbetrachtung und ihres Schöpfers legt Philon die allegorische Interpretationsmethode der Thora zugrunde. Als Jude ist er überzeugt, daß Gott selbst in seinem Wesen für den Menschen unerkennbar ist und bleibt. Der Mensch hat aber dennoch die Aufgabe, wie einst Abraham „die sinnlichen Trugbilder einer polytheistischen Meinung“ abzustreifen und nach der Erkenntnis der Wahrheit zu streben. Der Weg da-
270 hin führt über die enkyklischen Wissenschaften zunächst zur Tugend55 und sodann zur Philosophie. In seiner anthropologischen Typenlehre unterscheidet Philon drei Menschentypen, nämlich denjenigen, der nur nach seiner Lustbefriedigung strebt, dann denjenigen, der dem praktischen und politischen Leben zugewandt ist und schließlich denjenigen, der sich der Philosophie und damit „der Betrachtung der Welt und ihrer Teile“56 widmet. Philon berichtet von sich selbst, daß er sich nur mit einiger Mühe dem politischen Geschäfte habe entziehen können. Seiner Sehnsucht nach Bildung habe er es schließlich zu verdanken, daß er „manchmal das Haupt emporhebe und mit den Augen der Seele, zwar nur matt … auf die Dinge im Umkreis habe umherblicken können.“57 Doch, wenn man aus den Dingen der Welt auf den Schöpfer schließen wolle, könne man Gott nur „in seinem Schattenbild“ erfassen.58 Die Betrachtung der Welt und der daraus mögliche Schluß auf einen Schöpfer bedarf einer Präzisierung, die aber den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten nicht gegeben ist. Dennoch kann dies einem Menschen zuteil werden, dann, wenn Gott dies schenkt und der Mensch pístiw, Vertrauen zu Gott hat, wie dies Abraham hatte, als Gott sich ihm im Hain Mamre (Gen. 18,1) offenbarte. „Wenn die Seele durch Gott erleuchtet wird … bekommt sie eine dreifache Vorstellung“ ihres Erkenntnisobjektes. So kann Philon diesen Vorgang beschreiben, wobei er aber ausdrücklich betont, daß er dieses Bild nur zur Erklärung, also in uneigentlicher Bedeutung als Katachrese benützt. In diesem Bildversuch, der „weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt“59, spricht der Alexandriner davon, daß der Vorgang mit einem von zwei Seiten angestrahlten Gegenstand, der durch eine solche Beleuchtung einen doppelten Schatten wirft, vielleicht verdeutlicht werden könnte. Der Gegenstand entspräche dann etwa „dem Vater des Weltalls, der in den heiligen Schriften der Seiende genannt wird“60. Den beiden Schatten aber stünden für die beiden Kräfte, die dunámeiw, die schöpferische nämlich und die regierende Kraft. Gott aber zeige „dem schauenden Menschengeist
271 (t_ `ratik_ dianoíŸ)“ bald alle drei Erscheinungen auf einmal, bald aber die des Einzigen.61 Dabei muß der Schauende sich aber – zumindest im Bewußtsein – vom irdischen Dasein gelöst haben und „in die großen Mysterien eingeweiht sein“62. Dann freilich kann, was unter Menschen selten ist, wie bei Moses im Akt der Offenbarung, Gottes- und Welterkenntnis sich zugleich ereignen, wenn der Nus, der Geist den Logos, die göttliche geistige Kraft begreift, durch die die Weltenschöpfung geschieht.63 Damit erschaut der Nus die Schöpfung aus ihren Prinzipien und erblickt zugleich den eigenen Ort seiner Existenz. Diese Rückbeziehung des Schauenden und damit das Ergreifen seiner Selbst zeigt die Ansätze einer personal geprägten Reflexion, die letztlich ihre Begründung im Theorem „des Abbild-Seins“ eines personal vorgestellten Vatergottes hat.
IV. Plotins Zielsetzung der Theorie und ihre christliche Interpretation als Weg zum homo interior Die Schriften Plotins setzen ein System voraus, das gleichsam als tragendes Gerüst der plotinischen Weltinterpretation die in den Enneaden behandelten Fragen zu einem Kosmos werden läßt. Die Theorie bildet ein durch alle Seinstufen gehendes Prinzip. In der Großschrift, Enn. III, 8-V, 8, V 5-II, 9,64 wird zunächst die Schau als schöpferisches Prinzip der Physis, der Natur vorgestellt, die „selbst Logos“ ist und daher als „rationale Formkraft“ schaffend in sich selbst verharrt, und also „Theorie“, Betrachtung und Schau sein muß, da der Logos jeglicher Handlung vorausliegt. Die geistige Vorstellung, die im Begriff des Logos eingeschlossen ist, wird inhaltlich als Betrachtung bestimmt. Denn bei „jeder rationalen Form, bei jedem Logos, ist ihr unterster Grad das Ergebnis von Betrachtung, und zwar einer Betrachtung im Sinne des Betrachteten“65. Der Natur ist zwar die Betrachtung ihrer selbst zu eigen, doch diese niedrige Stufe in der Seinshierarchie besitzt nur ein un-
272 deutliches, schwaches Gewahren von sich selbst. Das Selbstbewußtsein der Welt-Seele jedoch, die ja als yeQrhma die Natur hervorbringt, ist weitaus deutlicher. Diese beiden Modi des Selbstgewahrens werden daher mit dem Selbstbewußtsein eines Wachen, wie es der Seele zukommt, und dem Selbstgewahren eines Schlafenden, wie es der Natur zu eigen ist, verglichen. Es ergibt sich eine Klimax der Verdeutlichung, die von der Natur über die Seele zum Geiste führt,66 wo die Betrachtung ihre Vollendung findet. Zugleich führt diese Verdeutlichung des Betrachteten im Betrachtenden zu einer immer enger werdenden Verbindung vom betrachtenden Subjekt mit seinem Objekt der Schau. Weil es sich dabei um einen geistigen Akt des Vorstellens des Betrachteten im Inneren der Seele handelt, ist das Vorgestellte zugleich das Gedachte, das Noeton. Wenn dieser Akt zur Einheit oder gar Identität wird, denkt und „betrachtet“ die Seele sich selbst. „Wenn die Selbstanschauung im Noeton zu einem Sich-selbstauslegen des Denkenden im Gedachten wird, dann gibt es für die Seele über die Selbstanschauung ihrer Gehalte im Nous hinaus eine höhere Stufe der Rückwendung in das Innere, eine Erfahrung ihrer selbst, die allem Sichauslegen in eine unterschiedliche Vielheit vorausliegt.“67 An anderer Stelle schildert Plotin diesen Vorgang der Selbstauslegung als Folge der Reinigung der Seele vom Leiblichen. Nach dieser Reinigung wendet sie sich dem Geiste zu, der „ihr dann nicht fremd ist, wenn sie auf ihn schaut“68, denn dann ist sie frei vom Fremden und damit frei für das Eigene und kann mit dem Geiste kommunizieren. Das letzte Ziel ist jedoch erst dann erreicht, wenn aus der Schau des Geistes Identität wird, und damit die Hinwendung zum Hen, zum Einen ermöglicht ist. Dann wird die Hinwendung vollkommen. „Damit wir mit unserem ganzen Selbst Jenes umfassen, und keinen Teil mehr an uns haben, mit dem wir nicht Gott berühren. Da dürfen wir dort oben Jenen und uns selbst schauen, soweit Schauen dort rechtens ist, uns selbst im Strahlenglanz erhellt, erfüllt von geistigem Licht,
273 vielmehr das Licht selbst, rein, unbeschwert, leicht, Gott geworden, vielmehr seiend.“69 Um völlig mit dem Hen einswerden zu können, muß die Seele Wissen, Denken und Schauen hinter sich lassen.70 Zwischen Schaunis und Betrachten darf kein Unterschied mehr sein. Alles muß abgestreift sein, bis auf das Selbst, denn erst mit dieser Einswerdung ist man in sein wahres Inneres gelangt.71 Diese Versuche Plotins zu beschreiben, was sich der sprachlichen Schilderung entzieht, bereiten der christlichen Mystik des Mittelalters den Weg, an deren Beginn das berühmte Wort Augustins stehen könnte: „Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas, et si tuam naturam nutabilem inveneris, transcende et te ipsum“. „Gehe nicht nach draußen, komme auf dich selbst zurück! Im inneren Menschen wohnt Wahrheit, und wenn du deine Natur veränderlich findest, so schreite über dich selbst hinaus!“72 Damit führt das Christentum „das Prinzip der Innerlichkeit in die Welt ein, auf dessen Grundlage die ‚objektive‘ Realität Stück für Stück ihr entscheidendes Gewicht verliert. Nietzsches Feststellung ‚Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen‘ und Heideggers hermeneutische Ontologie ziehen die äußersten Konsequenzen aus diesem Prinzip“73. Anmerkungen Das Verbum yevreîn ist erst später von yevrów abgeleitet. Die ursprüngliche Bedeutung „Zuschauer“ verweist auf die Tragödie, die – was man oft nicht beachtet – Gottesdienst war. Die Definition des Tragischen von Aristoteles (Poetik 1449 b24) ist seit Bernays (Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, Breslau 1857, Repr. ed. K. Gründer, Hildesheim 1970) dahingehend zu interpretieren, daß die Formulierung di& \léou kaì fóbou peraínousa t|n tôn toioútvn payhmátvn káyarsin keineswegs als moralische Besserung der Zuschauer zu verstehen war. Káyarsiw ist aus dem medizinischen Bereich genommen und kann „eine mit Lust verbundene Erleichterung“ (vgl. Lesky, Die Geschichte der Tragödie, Stuttgart 1958, S. 17) von Jammer und Schauer bedeuten. Blumenberg (Arbeit am Mythos, Frankfurt 1979, S. 132) schlägt „Erleichterung mit Genuß“ vor und zeigt, daß mit dieser aristotelischen Formel der ästheti1
274 sche Genuß als Distanzgewinn beschrieben werden kann. Dies wäre also eine Wirkung des Gottesdienstes „Tragödie“. Zur Philosophie des Tragischen ist immer noch grundlegend P. Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt 1961. 2 Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Ein anderer Zugang zu Platon, Paderborn/München/Wien/Zürich 1993, S. 142. Vgl. auch Chr. Schefer, Platons unsagbare Erfahrung (Schweizer Beiträge zur Altertumswissenschaft, Bd. 27), Basel 2001, S. 136; Platon, Phaidon 99 c9. Zum folgenden vgl. auch E. Früchtel, Theorie als Erkenntnis des Göttlichen. Platonische yevría und christliche curiositas, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 28 (2002), S. 85-104. 3 Die Unterscheidung von „erster“ und „zweiter“ Seefahrt ist sprichwörtlich geworden. So heißt es bei Cicero: „Ich fragte nun, ob ich sofort die Segel der Rede aufspannen oder diese vorerst nur ein wenig mit den Rudern der Dialektik vorwärts treiben sollte“ (Tusc. IV, 5). Schefer (wie Anm. 2), S. 142 und Reale (wie Anm. 2), S. 143 zitieren neben dieser Cicerostelle noch Eustathios in: Od. p. 1453. 4 Vgl. auch Reale (wie Anm. 2), S. 144: „Das Spiegelbild im Wasser, durch das man zur verfinsterten Sonne gelangt, steht hingegen für das vernünftige Denken und die hypothetischen Voraussetzungen (Annahmen), die viel sicherer sind als die Sinneswahrnehmungen.“ 5 Wenn Gernot Böhme den hier geschilderten Vorgang dahingehend versteht, daß es Sokrates „dünkte“, er „müsse zu den Reden [seine] Zuflucht nehmen“ (Platons theoretische Philosophie, Stuttgart/Weimar 2000, S. 105; vgl. ders., Der Typ Sokrates, Frankfurt 1988, S. 209), so verkennt er, daß „Logos“ zwar „Rede“ bedeuten kann, in diesem Zusammenhang aber eher, wie der folgende Text zeigt (vgl. Kratyl. 435 a-440 e), mit Schleiermacher als Gedanke auffaßt werden muß, was der Platonkenner Friedrich Ast mit „existimavi ad rationes mihi confugiendum.“ wiedergibt (Platonis quae exstant opera, Lipsiae MDCCCIX, Bd. I, 574/5). 6 Schefer (wie Anm. 2), S. 147. 7 Ebd., Anm. 153. 8 Zum Problem vgl. Walter Burkert, Antike Mysterien, München 1990. Zu den Epopten S. 117, Anm. 17. 9 Pindar, Frg. 137 Bergk = 142 Turyn = 137 Schroeder; Sophokles, Frg. 753 Nauck2. 10 Platon, Resp. 533 c7 f. 11 Vgl. B. Heintz/J. Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich/Wien/ New York 2001; Arbogast Schmitt (Mythos bei Platon, in: Mythos und Mythologie, hrsg. v. R. Brandt u. St. Schmitt, Berlin 2004, S. 68 f.) zeigt, daß die Annahme, durch sinnliche Wahrnehmung Wirklichkeit erfahren zu können, bis in die frühe Neuzeit und darüber hinaus üblich war. Die platonische Forderung nach echter begrifflicher Sachkenntnis dagegen baut auf einer gedanklichen Reinigung der Sinneswahrnehmung auf. Schmitt verweist zu recht auf die Unterscheidung von Begreifen und Sehen, wie sie Resp. 523 a entfaltet wird (vgl. a.a.O., S. 70).
275 Platon, Resp. 534 b8 f. Platon, Theait. 175 a6-b3. Vgl. Reale (wie Anm. 2), S. 397; Schefer (wie Anm. 2), S. 170; ferner R. Ferber (Platons Idee des Guten, Sankt Augustin 1984), der deshalb in der Idee des Guten „die Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit und Sein“ (S. 131) sieht. 14 Platon, Symp. 212 a3. 15 Vgl. Schefer (wie Anm. 2), S. 185. 16 Platon, Resp. 486 a8. 17 Darauf macht bereits Friedrich Ast in seinem Grundriß der Geschichte der Philosophie (Landshut 1825, S. 104) aufmerksam. 18 Julius Stenzel, Der Begriff der Erleuchtung bei Platon, in: ders., Kleine Schriften zur Griechischen Philosophie, Darmstadt 1956, S. 156. 19 Zu den sogenannten „Aussparungsstellen“ als Erweis für die „unsagbare Erfahrung“ vgl. Schefer (wie Anm. 2), S. 78. Zur Frage der Mysteriensprache vgl. E. Krummen, Sokrates und die Götterbilder, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 28 (2002), S. 39, Anm. 16; zur sogenannten „ungeschriebenen Lehre“ vgl. u.a. Th.A. Szlezák, Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 88. 20 Platon, Phaidros 247 c6-247 d5. 21 Die oberste Erkenntnis wird auch als ein „Berühren“ geschildert; Belegstellen dazu bei Schefer (wie Anm. 2), S. 116, Anm. 387. Dieser Topos wirkt über Augustinus, conf. IX, 10, in die christliche Mystik. 22 In einer die gesamte Forschungsgeschichte aufarbeitenden Arbeit konnte W. Schwab zeigen, daß die „geisterfüllte Ideensphäre … für Platon nicht das höchste Göttliche“ ist, und daß die noetische Schau, die dem Urprinzip und dem Ideen-Geist gilt, mit Metaphern der Mysteriensprache geschildert wird (vgl. W. Schwab, Der Geistcharakter des „überhimmlischen Raumes“ [Spudasmata, Bd. 82], Hildesheim/Zürich/New York 2001, S. 181-332). Dabei wird die mythische Vorstellungswelt oft rational gedeutet. Die Übersetzung und der Kommentar von E. Heitsch (Platon, Phaidros, Göttingen 1993) berücksichtigen die moderne Forschung zu wenig. Vgl. H. Benz, Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 24 (1998), S. 65 ff. 23 Vgl. Platon, Soph. 254 f. 24 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt 1986, S. 366. 25 Vgl. Blumenberg (wie Anm. 24), S. 316 ff., wo der Begriff der Urstiftung kritisch untersucht wird. „[…] die bloße Gegenwehr gegen Zumutungen an das theoretische Ethos mußte zur Stiftung von (Bewegung), der statische Ertrag zum dynamischen werden.“ A.a.O., S. 336. 26 Platon, Symp. 204 b5; Lysis 218 a. Vgl. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, S. 14; Schefer (wie Anm. 2), S. 170. Die moderne Forschung ist uneinig darüber, ob Platon ein „unendliches Streben“ nach der Prinzipienschau angenommen habe, oder aber der Seele auf Grund der Ideenschau einen höchstmöglichen Gewißheitsgrad der Prinzipien zuerkannt habe. Vgl. Krummen (wie Anm. 19), S. 38, Anm. 5 und 12 13
276 S. 42, Anm. 31. Dabei ist wohl zu unterscheiden, daß die höchstmögliche Gewißheit der Ideenschau durch die praeexistente Seele gegeben sein mag, daß aber diese Gewißheit in der irdischen Existenz vermindert ist. Denn eine nur durch die Anamnese gegebene Vergegenwärtigung der Ideen verliert an Deutlichkeit. Dies könnte ein Streben nach einer weiteren Möglichkeit, die Ideenschau zu erleben, hervorrufen. Vgl. Kurt Sier, Die Rede der Diotima: Untersuchungen zum platonischen Symposion (Beitr. zur Altertumskunde, Bd. 86), Stuttgart/Leipzig 1997. 27 Arist., E.N. 1141 a17-21; Dirlmeier verweist für die Bedeutung von noûw = intuitiver Verstand auf An. post. II, 19, 100 b5: noûw ist dort \pist}mhw ˙rx}, also das bestimmende Woher der Wissenschaft, wovon der Weise Kenntnis hat. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. u. kommentiert von Franz Dirlmeier, Darmstadt 1991, S. 452, Anm. zu S. 128, 3. 28 Der Begriff „Metaphysik“ stammt nicht von Aristoteles und ist wohl zuerst bei Nikolaus von Damaskus belegt. Vgl. Th. Kobusch, Metaphysik, Hist. Wört. Phil. V, Sp. 188. Andronikus von Rhodos hat diesen Titel erst bei der Ordnung des aristotelischen Schriftennachlasses auf dieses Werk angewandt. Vgl. H. Flashar, Aristoteles, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 3: Die Philosophie der Antike, Basel/Stuttgart 1983, S. 256. Das Adjektiv yevrhtików ist vor Aristoteles nicht belegt. 29 Arist. Met. 982 b9. 30 Ebd., 981 b32; vgl. E.N. 1041 a24 und H.-G. Gadamer, Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg., übers. u. kom. von H.-G. Gadamer, Frankfurt/M. 1998, S. 11 ff. Jacob Burckhardt, Krit. Gesamtausgabe, Griechische Culturgesch. Bd. II, hrsg. v. L. Burckhardt, B. v. Reibnitz u. J. v. Ungern-Sternberg, München 2005, S. 448: „Bei den Griechen war es viel mehr ein Schauen; das Dasein der Götter stand fest, aber ihr ganzes Thun und Leben war ein überaus freies Produkt des schauenden Geistes“. 31 Arist., Met. 1072 b 14 ff. vgl. Flashar (wie Anm. 28), S. 378. Zum Problem des ersten unbewegten und der vielen Beweger vgl. auch W. Schrader, Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen?, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 11 (1985), S. 181 und die Folgerungen aus den Aristotelesinterpretationen, dies., Perspektiven der Philosophie, Bd. 12 (1986); Bd. 13 (1987). 32 Vgl. O. Höffe, Aristoteles, München 1996, S. 157 mit Verweis auf Met. XII 9, 1074 b26. Während H.J. Krämer (Der Ursprung der Geistmetaphysik, Amsterdam 19672 S. 169) im Sichselbstdenken des Gottes auch die dem Gotte immanenten Wesenheiten als nohtá, also als Denkobjekte, annimmt, und damit als die ˙rxaí der Welt, wäre der Weltbezug gegeben, da dies aus dem Kongruieren von Subjekt und Objekt abgeleitet werden kann. Gott denkt dann, „sofern er seine Inhalte denkt, zugleich sich, das Denken selbst und ist infolge dessen Denken des Denkens“. Dagegen wurde eingewendet, daß die 55 Beweger dem ersten Beweger ontologisch untergeordnet seien. Zum Problem vgl. Flashar (wie Anm. 28) S. 379; Arist., Pol. 1325 b28 f. 33 E.N. 1177 a12.
277 E.N. 1177 a18: d& \stìn yevrhtik}. EE 1249 b16. Aber welcher Gott ist gemeint? Vgl. R. Brague, Die Weisheit der Welt, München 2006, S. 156. 36 Zur Sklavenfrage vgl. W. Schrader, Der ewige Kosmos, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 26 (2000), S. 393 und dies., Der Geist der Hellenen, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 29 (2003), S. 331 ff. „Sklaven und Haustiere – Sklaven als nur andere Haustiere – verhelfen dazu, die Bedürfnisse auf der Ebene der Notwendigkeit zu befriedigen. Ein Mitglied der Oberschicht, der Bürgerschaft, arbeitet nicht.“ (a.a.O., S. 337) 37 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1981, S. 19. 38 Arist., EE 1215 a35-1215 b5. 39 Den Vorwurf des Nichtsnutzes, des Untätigseins erhebt Aristophanes (Wolken 316, 334) gegen Sokrates und Euripides, also gegen die „Kritiker“ (vgl. Frösche 1494) „Die Gegenüberstellung des ƒpragmon und drast}rion bei Thukydides ist in der Sache fast schon dasselbe, was in Platons Gorgias die beiden Lebenstypen (dittW tW bív 500 d) des bíow yevrhtików und praktików sind“. W. Nestle, APRAGMOSUNH in: Griechische Studien, Stuttgart 1958, S. 376. 40 Platon, Gorgias 485 d1-e2. 41 Aristoteles, Politik 1325b10 ff. 42 Platon, Politeia 473 d1 f; vgl. 487 c wo über die Brauchbarkeit des Philosophen für das Königsamt gehandelt wird. Es „ist bemerkenswert, daß Aristoteles zwar im allgemeinen die gleichen Gedankengänge bringt wie Platon, aber in ihrer knapperen Formulierung einen angreifbaren Zug tilgt.“ D.J. Allan, Die Philosophie des Aristoteles, Hamburg 1950, S. 190. 43 Arist., Polit. 1325 b21. Vgl. J.L. Ackrill, Aristoteles, Berlin/New York 1985, S. 207 f.: „Aber die Theorie sagt, diese Regeln und Tugenden seien nur deswegen das, was sie sind, könnten nur deswegen gerechtfertigt werden, weil eine Gesellschaft, deren Mitglieder im allgemeinen in Übereinstimmung mit ihnen leben, eine Gesellschaft sein werde, in der die Chancen am besten sind, daß die philosophische Kontemplation gedeihen wird; eine solche Gesellschaft werde den bestmöglichen harmonischen Hintergrund schaffen, vor dem diejenigen, die zur theoria fähig sind, sie ausüben können.“ 44 Arist., E.N. 1144 a4: „Auch bei der ‚Weisheit‘, der theoria, ist es ja nicht so, daß sie das Glück herstellt, sondern in ihrem Vollzug besteht das Glück“. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. und übers. v. H.-G. Gadamer (wie Anm. 30), S. 16. 45 O. Höffe (wie Anm. 32), S. 232. Theorie hat zwar den höchsten Rang, doch Höffe relativiert den bíow yevrhtików, den er „zwar dominantes, aber doch als nur relativ und nicht absolut vorzugswürdiges Ziel“ nennt (S. 234). Philosophie und richtige Lebensführung gehören mit dem politischen Leben zusammen. Vgl. Arist., Prot. Frg. 4 = Jambl., Protr. 6, 37, 22 ff. 46 Arist., Politik 1325 b21 f. 47 Arist., E.N. 1177 b31 f. 48 Diese Stelle zeigt besonders gut, daß Aristoteles „ein Sammelbecken 34 35
278 griechischer Weisheit“ ist (vgl. Dirlmeier [wie Anm. 27], S. 592, Anm. 232, 7, 8 mit vielen Literaturangaben zum Topos ynhtà froneîn xr| ynht|n fúsin). Ähnlich findet sich die Argumentation in Frg. 6 zu Eudemos (= Plut., mor. cons. Apoll 115 b-e), wo jedoch am Ende gesagt wird, daß der Zustand im Tode besser sei als der im Leben. Ist damit Unsterblichkeit oder nur Befreiung von den Alterslasten gemeint? 49 Arist., E.N. 1178 b27 ff. 50 H.M. Baumgartner, Philosophie als cognitio principiorum. Zum Verständnis von Philosophie und Wissenschaften, in: Philosophie und Wissenschaften, hrsg. v. W. Oelmüller, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988, S. 174. 51 Arist., Frg. 11 in Prot. = Jambl., Protr. 9, 49, 3-52. 52 Nach R. Brague (wie Anm. 35), S. 321, Anm. 6 ist der Begriff Kosmotheoros erst von Christian Huygens (1629-1695) gebildet worden. Der aufrechte Gang des Menschen als Voraussetzung für den Blick zum Himmel (sogen. Alexanderblick) ist seit Xen. mem. I, 4, 11 oft zitierter Topos in der antiken Literatur. Platon leitet o[ranów von `rân tà ƒnv ab (Krat. 396 bc) und die contemplatio caeli ist über Cic. (nat. deor. II, 87) und Seneca (ep. 92. 30 u.ö.) und die Hermetische Literatur auch in die Dichtung (Ovid, meta. I, 84) gelangt. Vgl. A. Wlosok, Laktanz und die philosophische Gnosis (AHAW, Nr, 2), Heidelberg 1960, S. 9 ff.). Die Renaissance nimmt den Topos auf: G. Manetti, De dignitate et excellentia hominis, I, 1; Pico della Mirandola, De dignitate hominis (Phil. Bibl. Meiner, Bd. 427), Hamburg 1990, S. 4. 53 Menander, Der Untergeschobene oder der Grobian (Hyperbolimaios oder Agroikos) Frg. 416 (Koerte). 54 Sapientia Salomonis 13, 4/5. Die in hellenistischer Zeit entstandene Schrift ist natürlich bereits vom „griechischen Denken“ beeinflußt. 55 Philon, de congr. erud. 10 (III, 74, 7, CW): ˙retêw prókeitai tà \gkúklia ktl. 56 Philon, de leg. spec. 1 (V,150, 1 f. CW). 57 Ebd.: „toîw têw cuxêw ªmmasin ˙mudrôw“, 4 (= V, 151, 7 CW). 58 Philon, leg. all. III, 99 (I, 135, 11) „dià skiâw“ diá sollte man hier in der spätgriechischen Bedeutung, also als „Stoff des Bildes“, auffassen. Vgl. Kühnert/Gerth, Griech. Gramm., S. 483. Zur Tradition vgl. E. Norden, Agnostos Theos, Leipzig 19967; vielleicht handelt es sich um eine jüdische Interpretation von Platon, legg. 466 d. 59 Philon, de Abrah. § 119 f. (IV, 27, 19 ff. CW). 60 Ebd., § 121 (IV, 28, 4 CW); vgl. mut. nom. § 7 (III, 158, 10 CW). 61 Ebd., § 122 (IV, 28, 9 CW). In den Quaest. in Gen. IV, 30 unterscheidet Philon die Erkenntnis des Vollkommenen vom erst noch auf dem Weg Befindlichen. Ersterer erschaut die Trias, letzterer muß sich mit der Dyas begnügen. Vgl. Chr. Noack, Gottesbewußtsein, WUNT II, 116, Tübingen 2000, S. 126 mit Verweis auf Phil. Suppl. II (Loeb) ed. Marcus, S. 215 = Harris, S. 32. Zum platonischen Ursprung des Problems vgl. Platon, Phaidr. 246 c. 62 Vgl. Suppl. II, S. 215 = Harris, S. 32.
279 63 Philon, leg. all. III, § 100 (I, 135, 13 ff. CW). Inwieweit die philonische Schau nicht nur das Verlangen hat, Gott zu schauen und sich aus dem Wissen heraus, daß dies dem Menschen nicht gegeben ist, mit dem Abbild Gottes im Logos begnügt, scheint aus verschiedenen Stellen hervorzugehen. Vgl. Conf. ling. § 95-96 (II, 247, 7 ff. CN), u.a. opif. mund. § 70-71 (I, 23, 14 ff. CW). Zum Problem vgl. Brian E. Daley S.J., ‚Bright Darkness‘ and Christian Transformation. Gregory of Nyssa on the Dynamics of Mystical Union, in: The Studia Philonica Annual, Vol. VIII (1996), S. 86, bes. Anm. 12. 64 Vgl. zu folgenden Ausführungen u.a. D. Rolof, Plotin. Die Großschrift III, 8-V, 8, – V, 5, II, 9, Berlin 1970. 65 Plotin, III, 8, 3, 7 ff. 66 Plotin, III, 8, 8, 1 f. 67 Karl-H. Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, Frankfurt 19572, S. 79 f. Die einschlägige Literatur ist unüberschaubar. Bereits A. Richter (Darstellung des Lebens und der Philosophie des Plotin, Halle 1864-1867, RP. Aalen 1968, Bd. II, S. 26 ff.) interpretiert die Theorie im Plotinischen System. Zusammenfassend ist heute immer noch weiterführend D. Rolof, Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben, Berlin 1970. 68 Plotin, I, 2, 4, 26 ff. Zum folgenden vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Göttingen 1993, S. 268 ff. 69 Plotin, VI, 8, 9, 55 ff. Vgl. VI, 9, 11, 41 ff.; ferner W. Beierwaltes, Denken des Einen, Frankfurt 1985, S. 1985, S. 108 ff. u. ders., Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, Frankfurt 1991. 70 Plotin, V, 3, 17, 37. 71 Ebd., VI, 9, 11, 38. 72 Augustinus, De vera religione 39, 72; zur Interpretation vgl. Rudolph Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt 1962, S. 145. 73 Gianni Vattimo, Das Zeitalter der Interpretation, in: R. Rorty, G. Vattimo (Hrsg.), Die Zukunft der Religion, Frankfurt/M. 2006, S. 53.
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Helke Panknin-Schappert EIN DENKER ZWISCHEN MITTELALTER UND NEUZEIT Zum Selbstverständnis des Nikolaus von Kues in seiner Spätschrift De apice theoriae In seiner Spätschrift De apice theoriae von 1464 entwickelt Nikolaus von Kues einen Wahrheitsbegriff, der sich fundamental von dem scholastischen Denken des Mittelalters unterscheidet. Indem sich die philosophische Suche der dogmatischen Methoden der Metaphysik entledigt, kann sie aus einer Besinnung auf ihre Möglichkeit neu verstanden werden und markiert den Beginn des neuzeitlichen Denkens. Die originale Leistung des Nikolaus von Kues besteht darin, den theoretischen Anspruch der Vernunft auf Erkenntnis des Übersinnlich-Unbedingten zurückzuweisen, um einen Zugang zu Gott zu finden, der sich im Wissen als Schau ereignet. Er legt dar, daß die an das Begreifen gebundene Suche nach Wahrheit aporetisch ist und durch eine transzendentale Reflexion, die Gott selbst ist und im menschlichen Intellekt zur Selbsterkenntnis gelangt, zu ersetzen ist. Magnae potentiae veritas est, in qua posse ipsum valde lucet. Clamitat enim in plateis … Die Wahrheit ist von großer Kraft, in ihr leuchtet das Können selbst sehr, sie ruft nämlich auf den Gassen …1
Einleitung Die Suche nach der Wahrheit scheint paradox: Setzt sie nicht schon das voraus, was ihr Ziel ist? Nämlich die Wahrheit. Während das antike Denken, etwa bei Platon, dieses Paradox auflöst, indem die Erkenntnis der Wahrheit in einer Wesensontologie gründet und wir also schon in der Wahrheit des Seins denken, bleibt das mittelalterliche Denken pessimistisch. Das menschli-
282 che Erkennen kann sich, so Thomas von Aquin, nicht mehr in der Wahrheit des Seins vollziehen, sondern steht in Distanz dazu.2 Ein Erkennen der Wahrheit an sich, die – nach mittelalterlicher Vorstellung – Gott selbst ist, bleibt dem natürlichen Verstehen verschlossen und ist allein durch Offenbarung als eine Wahrheit des Glaubens möglich. Eine Einsicht in die ursprüngliche Wahrheit kann für das natürliche Erkennen nur durch einen „Sprung“ in den Glauben erfolgen. Am Ende des Mittelalters jedoch führt uns Nikolaus von Kues mit einem Aenigma, einem Rätselbild, die Situation des Menschen vor Augen: Er läßt die Wahrheit rufen, daß sie nicht das Dunkle und Schwere ist, für das man sie hält. „Je deutlicher die Wahrheit ist, desto leichter ist sie zu erfassen.“3 Obgleich die Wahrheit auf den Gassen, also in der alltäglichen Erfahrung anwesend ist, wird sie von uns weder gehört noch gesehen. Nikolaus von Kues zeigt die Unzulänglichkeit des menschlichen Selbstverständnisses: Die Wahrheit ist auf natürliche Weise gegenwärtig, ja sie ist sogar aufdringlich, sie ruft immer wieder, und das Können selbst leuchtet stark in ihr, aber wir wollen sie nicht hören und nicht sehen. Die Vergeblichkeit der Suche nach der Wahrheit ist für ihn also nicht – wie noch für Thomas von Aquin – metaphysisch durch eine Lehre von der doppelten Wahrheit, einer des Glaubens und einer der natürlichen Erkenntnis, begründet. Sie ist ein spezifisch menschliches Drama: die Wahrheit offenbart sich in der gewöhnlichen Erfahrung, aber die Erkenntnis ist nicht in der Lage, ihrem Ruf zu folgen. Die philosophische Reflexion des Nikolaus von Kues gilt somit weniger der Frage nach dem ‚Ob‘ von Metaphysik – die Wahrheit offenbart sich ja selbst –, sondern vielmehr der Frage nach dem ‚Wie‘. Er konfrontiert die philosophische Tradition mit der Frage der Philosophie überhaupt: Wie ist die philosophische Suche nach der Wahrheit möglich und warum scheitern die mittelalterlichen Methoden? Nikolaus von Kues legt dar, daß die Wahrheit in dem natürlichen Erkennen liegt und nicht nach scholastischer Tradition da-
283 von getrennt ist.4 Er nimmt die Suche nach der Wahrheit neu auf und verbindet sie mit einer Reflexion auf das Erkennen selbst. Damit versteht er sich als Überwinder der scholastischen Philosophie, die durch den Gegensatz von platonischem und aristotelischem Denken, von Einheits- und Seinsmetaphysik gekennzeichnet ist.5 Er hebt den bestehenden Dualismus auf, indem er ihn aus einer zugrundeliegenden Wahrheit begreift. Dieser Bruch mit der Tradition kulminiert in der Spätschrift, De apice theoriae, 1464 vier Monate vor seinem Tod verfaßt.6 Sie radikalisiert die schon im Frühwerk aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis. Ob das Spätwerk in Kontinuität, so Jacobi und Copleston, oder in Distanz, so Cassirer und Flasch, zum Frühwerk gesehen wird.7 Unzweifelhaft ist: Die philosophische Reflexion in De apice theoriae legt sich nicht mehr durch ein Begreifen im sinnlich Bedingten aus, sonst bliebe sie aporetisch. Sie ist vielmehr Ausdruck einer transzendentalen Schau, in der das menschliche Erkennen in der Gegenwart der göttlichen Wahrheit steht, so ja unser Eingangsbild, sich ihrer aber inne werden muß.8 Wie ist die philosophische Suche nach der Wahrheit möglich?
I. Die Unzulänglichkeit des rationalen metaphysischen Begreifens in der Gottessuche Alle Schriften des Nikolaus von Kues ringen um die Möglichkeit einer Beziehung des Menschen, des sinnlich erkennenden Wesens, zu Gott, dem Übersinnlich-Unbedingten. Ist ein Zugang des bedingten Menschen zu Gott als seinem absoluten Grund überhaupt möglich und wenn ja, in welcher Weise? De apice theoriae spitzt die schon in den Frühschriften erhobene Kritik zu: Alle bisherigen philosophischen Lehren waren in ihrer Suche nach der unbedingten quiditas, der Wesen- oder Washeit, erfolglos.9 Die von den Philosophen gesuchte quidi-
284 tas, die Gott selbst ist, wird irrtümlich durch das metaphysische Raisonnement für etwas gehalten, das durch den Verstand oder die Vernunft erkannt werden kann. Nikolaus von Kues lehnt einen theoretischen Zugang zu der gesuchten quiditas ab. Unserem Eingangszitat folgend ruft die Wahrheit in den Gassen. Sie findet unmittelbar statt und bedarf keiner Vermittlung durch eine rationalistisch argumentierende Metaphysik. Ein theoretisches Begreifen Gottes, wie es zum Beispiel die Lehre von der ersten Ursache vertritt, ist eine unangemessene Auslegung der metaphysischen Suche. Diese Lehre von der ersten Ursache, einer der Kerngedanken der Metaphysik des Thomas von Aquin, will das Unwissen des Menschen überwinden, indem sie im Ausgang vom Dasein der Dinge in der Welt das Dasein Gottes zu beweisen versucht. Von Gott wissen wir – so Thomas – unmittelbar weder Wesen noch Sein, aber der Mensch kann über sein Nichtwissen hinausgelangen, indem die Dinge in der Welt als Ausdruck eines unbedingten Grundes erkannt werden. Nach Thomas ist menschliches Erkennen durch einen Zweifel an der Existenz Gottes gekennzeichnet. Dieser Zweifel ist möglich, wird jedoch durch die Vernunft in seiner Falschheit entlarvt: Von dem Sein der Dinge schließt die Vernunft auf das Dasein einer ersten Ursache und nennt die erste Ursache Gott. Das Wesen Gottes bleibt dem Begreifen jedoch unbekannt. Die Philosophie beweist somit zwar Gottes Sein, sein Wesen aber ist Gegenstand des Glaubens. Insofern die Wahrheit des Glaubens der menschlichen ratio unzugänglich ist, bleiben Philosophie und Theologie getrennt. Die Philosophie ist Präambel der Theologie.10 Nikolaus von Kues wendet sich gegen einen dogmatischen Beweis des Daseins Gottes, denn das Unbedingte ist nicht rationalen Charakters. Gott ist unmittelbar präsent und kann gerade nicht begriffen werden. Nach Nikolaus von Kues sind die Gottesbeweise des Mittelalters Irrtümer. De apice theoriae geht nicht von einem Dualismus von Gott und Welt aus, um ihn in kühner metaphysischer Spekulation auf
285 eine ursprüngliche Einheit zurückzuführen. Wenn wir die Wahrheit im Ausgang von den Dingen in der Welt suchen, bleibt sie unbegreifbar. Veritas praecisa est incomprehensibilis,11 die genaue Wahrheit ist unbegreifbar, heißt es im ersten Buch der Docta ignorantia, dem Frühwerk des Nikolaus von Kues von 1440. Von der Welt aus kann das Unbedingte nicht durch die Suche nach einer ersten Ursache gefunden werden. Warum sollte – so Nikolaus von Kues – das Denken bei einer ersten Ursache stehen bleiben? „Nihil est nominabile, quo non possit maius aut minus dari, cum nomina his attributa sint rationis motu, quae quadam proportione excedens admittunt aut excessum“12. Das Begreifen der Dinge in der Welt gelangt nicht zu Gott und kann somit die menschliche Suche nach der absoluten Wahrheit nicht erfüllen. Das Zurück zu einer ersten Ursache muß selbst als Weise verstanden werden, wie sich das Unbedingte manifestiert. Das Nichtwissen unseres theoretischen Begreifens ist Ausdruck der Wahrheit. Obgleich wir die genaue Wahrheit also nicht begreifen, vollziehen wir sie in einer Art Unwissenheit wissend.13 Die Lehre der Docta ignorantia hebt die Unterscheidung von Gott und Geschöpf auf: Die Gewißheit des Glaubens und die Wahrheit des natürlichen Erkennens sind einander nicht gegenüberzustellen: der menschliche Intellekt selbst ist die Ausfaltung des Glaubens, darin vollzieht sich die Wahrheit.14 Die philosophische Reflexion von De apice theoriae beginnt dort, wo die Lehre der Docta ignorantia endet: Die Wahrheit ist in unbegreifbarer Weise offenbar, sie ist schon gegenwärtig, wir müssen ihren Ruf jedoch hören und das Leuchten des Könnens selbst sehen. Das Verhältnis unseres Erkenntnisvermögens zur gesuchten quiditas läßt sich demnach – so Nikolaus von Kues – in einer Zwischenzusammenfassung folgendermaßen charakterisieren: Die unbedingte quiditas ist mit den Begriffen des Verstandes nicht zu fassen, sie kann aber auch nicht durch einen Vernunftschluß als erste Ursache bestimmt werden. Die Anwendung von
286 logischen Prinzipien im Bereich der Gottessuche ist radikal zurückzuweisen. Ein metaphysisches Begreifen kann nicht gelingen.15 Wie wird nun aber die unbedingte quiditas zum Gegenstand des Wissens, wenn sie nicht durch den Verstand oder die Vernunft erkannt werden kann? Ist ein Wissen von Wahrheit ohne eine begrifflich-rationale Vermittlung möglich?
II. Die Ablehnung des traditionellen Seinsbegriffes Bei aller Übereinstimmung unterscheidet sich De apice theoriae gegenüber den früheren Schriften des Nikolaus von Kues dadurch, daß die gesuchte quiditas als der unveränderliche Grundbestand aller Substanzen verstanden wird.16 Die Frage nach Gott wird unzulänglich beantwortet, wenn sie einem gegenständlich-stofflichen Begreifen verhaftet bleibt. Gott wird durch die scholastische Metaphysik nicht gefunden: Das abstrakte Denken, wie es sich beispielweise im Universalienstreit manifestiert, geht von einer eigenen Wesenheit der existierenden Dinge aus, um für diese eine Einheit zu suchen. Für die existierenden Dinge gibt es jedoch – nach Nikolaus von Kues – keine je eigene quiditas, so daß auch das Festhalten an ihrem Sein in der Suche nach der unbedingten quiditas nicht möglich ist. Das metaphysische Denken, das von den Einzeldingen zu den Arten und Gattungen schreitet, verstellt den Zugang zu der subsistierenden quiditas, die, so Nikolaus von Kues’ neue Perspektive, den unveränderlichen Grundbestand aller Substanzen bildet und weder vermehrt noch vervielfältigt werden kann. Es gibt zwar Universalien, z.B. „Menschheit“ oder „Pferdheit“, diese bestehen aber nicht für sich, sondern sind Ausdruck des einen Wesensgrundes.17 Die gesuchte quiditas ist ein einziger Gedanke, der als das Bestimmungslose alle Bestimmung und Veränderung erst ermöglicht.18 Bereits die grundsätzliche Trennung des abstrakt allgemeinen Gattungsbegriff vom sinnlich konkreten Einzelding entspringt somit einer Verstellung des Denkens.
287 Nikolaus von Kues radikalisiert die Infragestellung des metaphysischen Begreifens, indem er den Seinsbegriff der scholastischen Tradition ablehnt. Der metaphysische Beweis erscheint ihm nicht nur hinsichtlich der Methode eines rationalen Begreifens unangemessen, sondern wird auch nicht dem Wesen Gottes gerecht, da er bedingt ist durch das Sein der materiellen Dinge. Das Wesen Gottes kann dem Sein indessen nicht untergeordnet werden:19 Gott selbst ist das Prinzip des Seins. Nikolaus von Kues verwirft den Seinsbegriff der scholastischen Tradition und die damit verbundene analogia entis, die Analogie des Seins. Der Dualismus von Gott und Welt wird aufgegeben und aus einem ursprünglicheren Prinzip verstanden. Gott kann – wie ausgeführt – also nicht nur nicht erkannt werden, er ist darüber hinaus auch nicht, sondern er ist das schlechthin Bestimmungslose. Wenn sich die philosophische Reflexion durch ein Begreifen im Bedingten auslegt, bleibt sie aporetisch. Die Suche nach der unbedingten quiditas ist der Lehre der Spätschrift folgend weder durch „Erkennen“ noch durch „Sein“ gekennzeichnet. Die metaphysische Frage nach einer für sich selbst bestehenden quiditas ist abzulehnen, da Sein und Nichtsein Gegensätze des rationalen Denkens sind, die dem Absoluten nicht entsprechen. Ein Beweis der Existenz Gottes ist dem Denken des Unendlichen in gleicher Weise unangemessen wie eine Leugnung seiner Existenz. Gott ist dem Gegensatz von Sein und Nichtsein, aber auch deren Einheit in der Vernunft auf unbegreifbare Weise vorgeordnet. Er ist das schlechthin Voraussetzungslose und Unbezweifelbare, kein Name kann ihm entsprechen. Obgleich sie als das Bestimmungs- und das Namenlose der Sprache vorausgeht, bleibt die unbedingte quiditas bei Nikolaus von Kues nicht das Nichtaussagbare. Er nimmt in De apice theoriae die sein Werk durchziehende Suche nach einem geeigneten Gottesnamen auf und gibt der quiditas einen neuen Namen: posse ipsum, Können selbst. Er korrigiert mit der Spät-
288 schrift seine bisherige Lehre, in der er Gott mit dem Namen des possest, des Können-Ist, bezeichnet, der als Synthese von posse und est noch an das Sein als etwas für sich selbst Bestehendes gebunden bleibt. Die Frage nach dem absoluten Apriori wird radikalisiert. Durch die Sprache wird auf eine transrationale Bedeutung verwiesen, die „Erkennen“ und „Sein“ überhaupt erst ermöglicht.20 Das posse ipsum benennt einen Möglichkeitsgrund, aus dem die Zweiheit von Erkennen und Sein hervorgeht. Gott wird hiermit auf genauere Weise bezeichnet als mit dem possest, das – da es von der Erfahrung aus auf ein Apriori verweist – noch kein absolutes Apriori ist.21 Das posse ipsum geht jedem posse cum addito, dem Können mit Beifügung, als der zeitlose Ermöglichungsgrund voran. Das Begreifen oder Benennen des posse ipsum ist bereits ein posse cum addito, das der Unbezüglichkeit des Absoluten nicht mehr entspricht. Wenn wir das posse ipsum begreifen oder benennen, sind wir beim Uneigentlichen. Nach Nikolaus von Kues ist das posse ipsum das schlechthin Erste, das höchste Apriori.22 Wie aber ist ein Wissen von der unbedingten quiditas möglich, wenn sie Erkennen und Sein vorausgeht und das Sprechen von nachgeordneter Bedeutung ist? Läuft die philosophische Suche nach Wahrheit nicht ins Leere, wenn das Erkennen als etwas dem Sein nach Späteres auf etwas Früheres verweist, das seine eigene Bedingung ist?
III. Die natürliche Anwesenheit des posse ipsum Nikolaus von Kues wendet sich gegen die traditionelle Metaphysik, die in der Auslegung der unbedingten quiditas am materiellen Sein der Dinge orientiert bleibt23 und Gott auf rationale Weise zu begreifen versucht. Wenn das natürliche Erkennen nach aristotelischer Tradition als das dem Sein nach Spätere gegenüber seinem unbedingten Grund verstanden wird, bleibt ihm eine Einsicht in das Sein und das Wesen versagt. Da Wahrheit
289 sich in der Erfahrung unmittelbar offenbart, so ja unser Eingangsbild, aber von uns nicht wahrgenommen wird, muß die Suche nach ihr mit einer Reflexion auf das Erkenntnisvermögen beginnen. Nikolaus von Kues veranschaulicht Gottes natürliche Anwesenheit in der Welt mit einem Bild: Er vergleicht das posse ipsum mit dem posse mentis Aristotelis24, dem Geistesvermögen des Aristoteles. Das Geistesvermögen des Aristoteles manifestiert sich in seinen Büchern, ohne sich selbst vollkommen zu offenbaren. In der Realität des Buches zeigt sich das Können des Geistes, das in dem einen Buch deutlicher hervortreten kann als in einem anderen. Das Buch wird in seiner Wahrheit folglich nicht verstanden, wenn es als ein für sich bestehendes Ding begriffen wird. Obgleich das natürliche Erkennen äußerlich eine Zweiheit wahrnimmt und das Buch ein Späteres gegenüber einem Früheren ist, so liegt seine Wahrheit im intelligiblen Können des Aristoteles. Das Verhältnis von Buch und Geistesvermögen ist also nicht als ein Neben- und Nacheinander zu verstehen, sondern als ein natürliches Sichoffenbaren einer ursprünglichen Einheit, die als Zweiheit geschieht. Die Absicht des Autors, insofern er sich als freier Geist manifestieren will, verwirklicht sich als Sein des Buches. Das zeitlich Spätere, die Realität des Buches, ist in unbegreifbarer Weise die Darstellung der Wahrheit des Geistes. Analog zum Geistesvermögen des Aristoteles in seinen Büchern, manifestiert sich das posse ipsum in allen Dingen. Das posse ipsum ist die Einfaltung, complicatio, von allem, insofern alles in ihm ist, und die Ausfaltung, explicatio, von allem, insofern es in allem ist. Die Dinge bestehen nicht durch sich selbst, sondern sind nur durch das posse ipsum25, in dem sie als ungeschaffenes Sein schon vor der Ausfaltung eingefaltet sind. Wie das Buch nur durch das Geistesvermögen des Aristoteles ist, so sind auch die Dinge nur durch das posse ipsum. Das posse ipsum bringt die Dinge in ihrem bestimmten Sein hervor, es ist jedoch, insofern es ein schöpferisches Prinzip ist, auch etwas
290 anderes als das Sein. Die Wahrheit des posse ipsum offenbart sich in der Welt in einer von dem Sein aus nicht faßbaren Weise.26 Das posse ipsum ist in unbegreifbarer Weise präsent, wenn sich Erkennen und Sein in der Welt vollziehen. In unserer alltäglichen Erfahrung ist eine notwendige und allgemeingültige Wahrheit unbegreifbar anwesend, ohne daß wir uns dieser Bedeutung bewußt sind. Wie aber kann das menschliche Erkennen als das sinnlich bedingte Nach- und Nebeneinander in Raum und Zeit seine eigene Wahrheit verstehen, wenn diese gerade durch ein raum- und zeitloses schöpferisches Prinzip bedingt ist? Lassen sich die Grenzen unseres Wissens überhaupt überschreiten?
IV. Die visio des menschlichen Erkennens als Realisierung des posse ipsum Nikolaus von Kues’ Frage gilt nicht dem ‚Ob‘ von Metaphysik, das Göttliche ist ja schon unmittelbar anwesend, sondern dem ‚Wie‘. Er wendet sich gegen die Lehre der negativen Theologie, die eine Abwendung von der Welt fordert.27 Für ihn läßt sich Gott nicht in einer besonderen Dimension von Erfahrung als das Unbegreifbare schauen und somit vom Wissen trennen. Die gesuchte quiditas ist zwar als das Bestimmungs- und Namenlose jenseits von Erkennen und Sein, sie ist aber nicht das ganz Andere gegenüber der Welt, sondern ist in der natürlichen Erfahrung präsent.28 Wie gelingt es Nikolaus von Kues zwischen einer mystischaffektiven Schau des Göttlichen, die sich jeglicher Mittelbarkeit entzieht,29 und der rationalen Begreifbarkeit des Unbedingten, die Gott zu einem bloßen Ding stilisiert, zu vermitteln? Noch einmal das Eingangsbild: „Magnae potentiae veritas est, in qua posse ipsum valde lucet. Clamitat enim in plateis“. Der Ruf der Wahrheit und das Leuchten des posse ipsum kön-
291 nen durch natürliche Einsicht gehört und gesehen werden, nicht durch mystische Innenschau oder rationale Spekulation. Die gesuchte quiditas, also Gott, wird im Sinne einer visio, einer über das Begreifen hinausführenden Schau, vollzogen. Obgleich die quiditas das intelligible Können übersteigt, so ist sie nicht jenseits unserer Erkenntnis. Quando igitur mens in posse suo videt posse ipsum ob suam excellentiam capi non posse, tunc visu supra suam capacitatem videt … Wenn also der Geist in seinem eigenen Können sieht, daß eben das Können selbst wegen seiner Überragendheit nicht gefaßt werden kann, dann sieht er im Schauen über seine eigene Kapazität hinaus …30
Ohne etwas anderes zu schauen als sich selbst – Gott ist ja nicht – erkennt der Geist die Unzulänglichkeit seines eigenen Begreifens. Die visio ist nicht vom Begreifen unabhängig, sie vollzieht sich als eine Reflexion, in der das Begreifen seiner eigentlichen Bedeutung als das Unzulängliche inne ist. Es findet folglich keine Schau des Wesen Gottes statt, von ihm kann ja gerade nichts Bestimmtes mehr gesagt werden. In der visio wird in unbegreifbarer Weise darum gewußt, daß das menschliche Erkennen ein bloß Bedingtes ist und aus einer ursprünglicheren zeitlosen Einheit vollzogen wird, die es selbst gerade nicht ist. Um etwas Bestimmtes in der sinnlichen Erfahrung zu begreifen, bedarf es der Gegenwart des Übersinnlich-Unbedingten. Der Geist muß folglich nicht die Grenzen des Begreifens überschreiten, sondern die visio weiß vom Begreifen her, daß der menschliche Geist das posse ipsum nicht ist. Obgleich Erkenntnisweisen wie sinnliche Wahrnehmung, rationales Begreifen und vernünftiges Schließen31 in ihrer jeweiligen Bedingtheit unzulänglich sind, um das posse ipsum zu erkennen, werden sie, wenn sie von der Auslegung durch das gegenständlich Bedingte getrennt sind, in der visio als die Realisation des posse ipsum erblickt. Die Wahrheit des posse ipsum wird somit durch unsere Erkenntnisweisen in ihrer jeweiligen Bedingtheit offenbar, wobei das intelligible Können des Geistes ein wahreres Bild des posse ipsum darstellt als das sinnliche Können.
292 Der Aufstieg zur Gottesschau ist nicht im Sinne einer Entrükkung zu verstehen: Das Erkennen wird sich seiner selbst als das bloß Bedingte inne, da es Gottes Schöpfung ist. Die visio ist ein Bewußtmachen, ein Gewahrwerden dessen, was als das Zeitlose das Gegenwärtige ermöglicht. Sie ist Reflexion unserer Erkenntnis, die sich in ihrer Aktivität als Passivität erfährt und Offenbarung Gottes ist.32 Alle unsere Erkenntnisweisen sind kreative Prinzipien, insofern sich durch sie ein ursprünglicher zeitloser Schöpfungsprozeß Gottes ereignet, der erst in seiner Ausfaltung Raum und Zeit hervorbringt. In der visio kann sich der Geist von der Auslegung durch das sinnlich Bedingte befreien und die immer schon präsente Bedeutung des posse ipsum schauen. Indem die visio nicht mehr ein bestimmtes Etwas schaut, erblickt sich der Mensch als Geschöpf Gottes. Gott selbst bleibt unsichtbar, aber wir sehen, daß unser Sehen das Gesehenwerden, unser Hören das Gehörtwerden durch Gott ist. Wenn der Mensch in das Schweigen der Kontemplation eintritt und sich selbst gleich wird, verliert das Äußere seine Geltung und das Wort Gottes kann gehört werden. Sein Wort als das absolute Wort faltet alles menschliche Begreifen aus. Indem der Mensch mittels der Vernunft das Sinnliche liest, offenbart sich ein überindividueller, überzeitlicher Sinn, das Wort Gottes. „Omnia igitur creata signa sunt verbi dei“33. Es ermöglicht Sprachlichkeit, die auch im Schweigen präsent ist. In uns selbst liegt demnach der Wesensgrund der äußeren Dinge.34 Es findet eine Verkündigung der Wahrheit durch das Wort statt, das auf sinnliche Weise das Unaussprechliche ist.35 Indem Nikolaus von Kues die Zugangsweisen zum Leuchten des posse ipsum und zum Ruf der Wahrheit mit den natürlichen Metaphern von Sehen und Hören veranschaulicht, zeigt er, daß keine Grenzen des Begreifens überschritten werden. In der visio werden unsere Erkenntnisweisen, indem sie von der Auslegung durch das bestimmte Sein befreit werden, als Offenbarung der einen quiditas verstanden. Wenn sich das natürliche Begrei-
293 fen in seinem eigentlichen Wesen als Erzeugen des Wortes versteht, kann schon im natürlichen Denken verstanden werden, was in der Wahrheit des Glaubens die Sohnesgeburt bedeutet. Die Wahrheit des Glaubens, daß Gott Mensch und Wort geworden ist, steht somit nicht mehr wie in scholastischer Tradition dem natürlichen Erkennen gegenüber, sondern das natürliche Erkennen ist die Weise, wie Gott sich offenbart. Die philosophische Frage nach dem Wie der menschlichen Erkenntnis ist gleichzeitig eine theologische Frage: Wie kann der Mensch in einen Bezug zu Gott als dem Absoluten treten, wenn das Verhältnis zwischen beiden gerade nicht mehr durch Ähnlichkeit des Seins, wie noch in der scholastischen Philosophie, bestimmt ist?
V. Die Selbsterkenntnis der mens humana als imago Dei In der visio kann das Leuchten des posse ipsum leicht geschaut werden, insofern es das Bedingende des menschliches Geistes ist. Gott ist nicht mehr ein bestimmtes Etwas, so die neue Perspektive von De apice theoriae, sondern die Vollendung der Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnis. Die Wahrheit des menschlichen Erkennens muß aus Gott verstanden werden, der wie ausgeführt, Einfaltung der Ausfaltung ist.36 Einfaltung und Ausfaltung stehen im Verhältnis von Urbild und Abbild.37 In Gott ist also enthalten, daß er Bild und damit Schöpfung wird. Er zeugt aus sich die Gleichheit seiner selbst,38 die, insofern sie Bild ist, auch Ähnlichkeit ist.39 Welche Folgen ergeben sich daraus für das Verhältnis von Mensch und Absolutem? Für Nikolaus von Kues ist das posse intelligere, das Erkennen-Können, ein wahreres Abbild des posse ipsum als alle anderen Manifestationen des Könnens. Hierin zeigt sich eine weitere Originalität seines Denkens: der visus absolutus aktualisiert sich im individuell konkreten Wissen. Gott und Mensch sind, in-
294 dem Gott Bild wird, nicht mehr als Nebeneinander zu denken: Gott entfaltet sich als ein Prozeß im Wissen des Menschen und damit in der sinnlich konkreten Erfahrung. Der Mensch wird in der Suche nach der unbedingten quiditas auf sich selbst verwiesen. Das menschliche Erkennen ist nicht mehr, wie noch im scholastischen Denken, durch eine Wesensdifferenz zur Wahrheit und zum Sein gekennzeichnet. Die mens humana ist Abbild Gottes, sie ist selbst abbildhafte complicatio40, die sich ausfaltet, indem der Mensch die Dinge in der Welt begreift.41 Als Schöpfer seiner Erkenntniswelt ist42 der menschliche Geist ein Abbild des göttlichen Geistes. Das Wissen von den Dingen geschieht zeichenhaft, es bezieht sich nicht auf ihre faktische Materialität. Die Dinge sind Gebilde der mens humana, ihre Erkenntnis besteht nicht mehr in der Angleichung des Verstandes an die zu erkennende Sache wie bei Thomas von Aquin.43 Für Thomas muß sich der Intellekt der Sache angleichen, erst dann findet Erkenntnis und damit Wahrheit statt.44 Während der menschliche Verstand also sein Maß von den Dingen empfängt, kehrt Nikolaus von Kues diese Ordnung um: Die Wahrheit besteht darin, daß die Dinge vom menschlichen Intellekt hervorgebracht werden und nicht für sich stehen.45 Ihr Sein ist also selbst die Weise, wie sich der göttliche Wesensgrund im menschlichen Wissen als Gleichheit in der Ähnlichkeit verwirklicht.46 Darin liegt die Wahrheit und nicht in der Angleichung des Verstandes an ein für sich bestehendes Sein.47 Um die Dinge im Raum zu begreifen, ereignet sich ein Wissen von Identität, das von der Veränderung der sinnlichen Erfahrung unbetroffen ist, und vor dem Verstandesbegriff der Identität und dem der Vernunfteinheit vorhanden ist. Das Wesen der Dinge im Raum wird durch etwas konstituiert, das als das Unveränderliche allem zugrundeliegt und das sich als der eine Gedanke in der Verschiedenheit verwirklicht. Das menschliche Begreifen von Dingen im Raum ist die Bewegung Gottes. Indem Nikolaus von Kues die mens humana als imago Dei, als Bild Gottes, kennzeichnet, steht er in der Tradition des mittelalterli-
295 chen Denkens. Indem er die mens humana zum Maß aller Dinge erhebt, weist er auf das wissenschaftliche Denken der Moderne. Die Wahrheit der Welt, die Offenbarung Gottes als Gleichheit, wird in der visio geschaut. Die Welt existiert also um der Kontemplation willen, der menschliche Geist dagegen um des posse ipsum willen. Die visio ist Akt der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes als imago Dei. Der Mensch erkennt sich als Schöpfung Gottes, als seine Erscheinung. Erst im einzelnen Menschen wird das absolute Wissen für sich, indem der Intellekt in der visio zur Selbsterkenntnis gelangt und sich als Bild des posse ipsum erblickt, als Gleichheit und Ähnlichkeit. Im Bild wird also die Wahrheit geschaut, nämlich daß die Welt die Manifestation Gottes ist.48 Die Spannung von individuellem Erkennen und absoluter quiditas wird nicht endgültig aufgelöst, der Mensch muß jedoch seine eigene Wahrheit als imago Dei erblicken, um zu sehen, daß nur eine quiditas Wirklichkeit ist.49 Der Ruf der Wahrheit weist den Weg zur visio, in der der Mensch sich seiner als Offenbarung Gottes50 gewahr wird. Dabei bleibt die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit aporetisch, das Leuchten des posse ipsum muß geschaut werden, um den Ruf der Wahrheit zu hören. Die visio ist Ausdruck der Freiheit des Menschen, also kein Sprung in den Glauben, der durch Gnade bedingt ist. Sie ereignet sich, ohne daß wir darüber verfügen können. Der Mensch ist schon aus der Gnade, insofern er durch Gott ist. Das Neue von De apice theoriae besteht also darin, die Welt und den Menschen als Weise Gottes zu verstehen. „Apex theoriae est posse ipsum“. Die höchste Stufe der Schau ist das Können selbst.51 Wenn der Geist über sich selbst hinaus blickt und nichts mehr sieht, dann manifestiert sich das posse ipsum in besonderer Weise. Die höchste Stufe der Betrachtung wird zum Ort der ursprünglichen zeitlosen Wahrheit im Menschen, die sich in der Stille als das Wort Gottes ereignet. Sie ist Erscheinung der Wahrheit als Gleichheit und damit der Augenblick des
296 Glücks und der Freiheit. Indem wir die Dinge in der Welt als Ausdruck des Wortes in uns erkennen, ruft die Wahrheit von überall auf den Gassen. Die mens humana wird zum Ort der Wahrheit, indem der menschliche Intellekt seiner selbst als Bild Gottes gewahr wird.52 Das Begreifen in der sinnlichen Erfahrung wird in seinem Bildcharakter nicht mehr als bloßes Meinen der wahren Welt gegenübergestellt. Das Bild wird nicht entwertet, sondern zum Ort der Wahrheit, die nicht nur eine metaphysische, sondern auch eine erkenntnistheoretische ist. Wir vollziehen die göttliche Wahrheit durch unser natürliches Erkennen als Bild. Über die Wahrheit an sich kann nichts gesagt werden. Deshalb entspringt die Erkenntnis der Wahrheit einer Schau, der Theorie, in der die Aktivität des Geistes sich selbst als Passivität, als Tatlosigkeit, ereignet. Das menschliche Wissen ist somit kein autonomes Bewußtsein. Gott faltet sich in die Vielheit aus, sein Blick erblickt sich selbst in der visio des Menschen, so daß das Absolute an das Endliche gebunden wird, das menschliche Erkennen wiederum die Ausfaltung der göttlichen Einfaltung ist. Das posse ipsum ist für die Theorie anwesend, kann durch sie aber nicht verstanden werden.
Schluß Nikolaus von Kues ist ein Denker an der Nahtstelle von Mittelalter und Neuzeit. Mit ihm werden noch einmal die zentralen Themen der mittelalterlichen Philosophie aufgenommen.53 Die scholastische Philosophie wird radikal neu verstanden, indem die Frage nach dem absoluten Apriori von Sein und Erkennen gestellt wird. Die originale Leistung Nikolaus von Kues – und hierin liegt auch seine vorausweisende Bedeutung – besteht darin, den theoretischen Anspruch der Vernunft auf Erkenntnis des Übersinnlich-Unbedingten zurückzuweisen und einen neuen Zugang zu Gott zu finden, der sich im Wissen als Schau er-
297 eignet. De apice theoriae versteht die Suche nach Wahrheit aus einer Reflexion auf die Möglichkeit der philosophischen Suche selbst. Die von allen Philosophen gesuchte quiditas, die absolute Washeit, bleibt nicht mehr unbekannt, sondern erscheint in der Welt als die jeder Frage vorausgesetzte Bedingung. Die quiditas wird nicht ontologisch als vorliegende Sache verstanden, die dem Erkennen unbekannt bleibt – sie ist die transzendentale Bedingung des Begreifens in der Erfahrung. Gott ist das absolute Apriori, das die Bedingung unseres Suchens nach Wahrheit ist. Er liegt unseren Fragen zugrunde und ermöglicht das Licht, das sich in jeder Suche manifestiert. Wenn die philosophische Reflexion zu sich gelangt ist, erkennt sie, daß die gesuchte quiditas nicht, wie bislang in der Philosophie angenommen, verborgen, sondern, durch ihr Leuchten und ihr Rufen leicht erkennbar ist.54 Nikolaus von Kues bleibt also nicht auf der Ebene eines bloßen Skeptizismus gegenüber den dogmatischen Verfahren der Metaphysik, sondern überwindet ihn, indem er die bisherigen philosophischen Methoden nach ihrem Grund befragt.55 Die Analyse der metaphysischen Methode dient dazu, das Erkenntnisvermögen in seinem Verhältnis zum Unendlichen selbst zu beleuchten. Durch den Gebrauch der Logik in der Erkenntnis Gottes verwickelt sich die Vernunft in Widersprüche, wie dies später auch Kant zeigen wird. Die Begriffe des Verstandes und der Vernunft sind unzulänglich, um das posse ipsum zu fassen, sie sind jedoch nicht gänzlich abzulehnen, da sie Ausfaltung der Einfaltung, also Weisen des Unbedingten sind. Es findet erstmals eine Besinnung auf die Möglichkeit der philosophischen Suche nach Wahrheit überhaupt statt. In der Vorstellung, das Wissen von der Welt werde durch die mens humana realisiert, nimmt Nikolaus neuzeitliches Denken vorweg: Im visus contractus gelangt der visus absolutus zur absoluten Identität, die sich im sinnlich konkreten Wissen auch als Differenz zeigt. Der Grundgedanke der Transzendentalphilosophie, daß sich Wissen im sinnlich konkreten Menschen konstituiert, von René Descar-
298 tes, Immanuel Kant und dem Deutschen Idealismus entfaltet, ist bei Nikolaus von Kues vorgeformt. Bei ihm wird jedoch kein absolut autonomes Subjekt begründet; das konkrete Wissen erfährt sich in seiner Bedingtheit. Die philosophiegeschichtliche Bedeutung Nikolaus von Kues besteht also darin, die auf ihn folgenden Denker vor die Aufgabe zu stellen, eine neue Art von Metaphysik zu entwickeln, die die Erkenntnis des Unbedingten nicht mehr im Bereich des Bedingten sucht, Gott nicht mehr als ein Objekt unter Objekten begreift, sondern als das Bedingende unserer Erkenntnis: Als Vollzug des Denkens, das sich in der Schau seiner selbst inne wird. Die philosophische Suche nach Wahrheit muß sich der dogmatischen Methoden der mittelalterlichen Metaphysik entledigen, um einen neuen Halt zu finden, der die unbegreifbare Offenbarung Gottes ist. Die Lehre von De apice theoriae kennt keinen Zweifel mehr, da die Wahrheit Grund des Zweifels ist. Die unbedingte quiditas bleibt der philosophischen Suche nicht verschlossen, sondern offenbart sich in der Welt durch den menschlichen Geist, der die Dinge in der Welt begreift. Die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit des natürlichen Erkennens werden aus einer ursprünglichen Einheit verstanden.56 Das posse ipsum ist die transzendentale Bedeutung der philosophischen Suche nach Wahrheit. Das mit Nikolaus von Kues anhebende neuzeitliche Bewußtsein ist im metaphysischen Denken verwurzelt. Es ist also unangemessen, die Konstituierung des modernen Bewußtseins im Sinne einer absoluten Autonomie auszulegen, wie wiederholt in der Forschung geschehen.57 Die visio wird dadurch möglich, daß der Mensch sich von der Auslegung durch das Bedingte befreit und zum eigentlichen Verständnis seiner selbst als Offenbarung Gottes gelangt. Die Wahrheit ist, um das Eingangsbild aufzugreifen, nicht in der Dunkelheit ausfindig zu machen, sie erweist sich als überall leicht auffindbar. Sie ist nichts Außergewöhnliches und keine abstrakte Wahrheit, die unserer alltäglichen Erfahrung gegenübersteht. Die Wahrheit wird in jeder Re-
299 de ausgesprochen: Sie ist nicht verborgen, sondern liegt vor dem Gegensatz von Sagbarem und Unsagbarem. Daß die Wahrheit ruft, darüber können wir nicht verfügen. Der Ermöglichungsgrund der Wahrheit liegt außerhalb des Menschen, er aber kann die Wahrheit hören und das Licht des posse ipsum sehen. Nikolaus von Kues zeigt, was für das moderne Bewußtsein gilt: Die Autonomie des Menschen ist gleichzeitig seine Ohnmacht. Damit komme ich wieder zum Eingangsbild zurück: „Magnae potentiae veritas est, in qua posse ipsum valde lucet. Clamitat enim in plateis …“ Anmerkungen Nikolaus von Kues, De apice theoriae, (Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 4), Hamburg 2002, S. 9. Im folgenden abgekürzt: D.a.t. 2 Vgl. Norbert Hinske, Teilhabe und Distanz als Grundvoraussetzung der Gottesbeweise des Thomas von Aquin, in: Philosophisches Jahrbuch 75 (1967/8), S. 278 ff. 3 D.a.t., S. 9. 4 Er lehnt damit die Lehre von der doppelten Wahrheit, einer Wahrheit des Glaubens und einer Wahrheit der menschlichen Vernunft, wie sie Thomas von Aquin vertritt, ab. Thomas von Aquin unterscheidet eine Wahrheit des Glaubens, die durch Offenbarung vollzogen wird und für die menschliche ratio unerreichbar ist, von der Wahrheit für den menschlichen Verstand. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae. Turin/Rom 1952, pars I, qu. 85, art. I und qu. 84, art. 7. 5 Josef Stallmach, Sein und Können-selbst bei Nikolaus von Kues, in: Parusia 1965, S. 407-421. 6 Sowohl Ernst Cassirer als auch Kurt Flasch gehen von der These aus, daß die kusanische Philosophie in Epochen unterschieden werden könne, eine „metaphysische Epoche“ der Unwißbarkeit und Transzendenz des Absoluten und eine Epoche der Immanenz, in der Nikolaus von Kues seine bisherige Philosophie korrigiere. Vgl. Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, (Studien der Bibliothek Warburg 10), Darmstadt 1963, S. 29 f. und Kurt Flasch, Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt 1989, S. 36 f. 7 Vgl. F.C. Copleston, Geschichte der Philosophie im Mittelalter, München 1972, S. 298 f. und Klaus Jacobi, Die Methode der Cusanischen Philosophie, (Symposion, Bd. 31), Freiburg/München 1969, S. 22. 8 Vgl. Stallmach (wie Anm. 5), S. 407 f. 1
300 9 Vgl. Hans Gerhard Senger, Einleitung, Nikolaus von Kues, Hamburg 1986, S. 46. 10 Vgl. Thomas von Aquin (wie Anm. 4) qu. 2, art. 2. 11 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, (Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke, lat.-dt., Bd. 1) Hamburg 2002, S. 12. Im folgenden abgekürzt: D.d.i. 12 D.d.i. I, S. 20. 13 D.d.i. I, S. 2. 14 „Fides igitur est in se complicans omne intelligibile. Intellectus autem est fidei explicatio“ (D.d.i. III, 74). Alles Erkennbare schließt also der Glaube ein. Vernunfterkenntnis aber ist Ausfaltung des Glaubens. 15 Nikolaus von Kues charakterisiert die unbedingte quiditas als „ultra omnem potentiam cognitivam“ also „jenseits aller Erkenntniskraft“ (D.a.t., S. 6). 16 D.a.t., S. 6. 17 Nikolaus von Kues kennzeichnet die gesuchte quiditas als Hypostase „hypostasim“, als Grundbestand für alle angenommenen Wesenheiten (vgl. D.a.t., S. 6). 18 Nikolaus von Kues nimmt in De apice theoriae auf, was er in vorangehenden Schriften wie De possest (dt. Vom Sein-Können 1460) oder De venatione sapientiae (dt. Die Jagd nach Weisheit 1463) geäußert hat: Die Washeit wurde bislang nicht auf richtige Weise gesucht. Nikolaus von Kues, De venantione sapientiae, (Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke, lat.-dt., Bd. 4), Hamburg 2002. Im folgenden abgekürzt: D.v.s. Die „philosophischen Jäger“ bemühten sich vergeblich, das Wesen Gottes zum Gegenstand des Verstandes- oder des Vernunftwissens zu machen: Sie betraten das Feld der belehrten Unwissenheit nicht (D.v.s., S. 49-51). Die bisherigen Philosophen erkannten nicht, daß Gott vor dem kontradiktorischen Gegensatz, beispielsweise von Wirklichkeit und Möglichkeit, von Licht und Finsternis, von Sein und Nichtsein gesucht werden müsse (D.v.s., S. 53). 19 Vgl. hierzu auch die Nähe zu Meister Eckhart, der Gott als Vernunft und Erkennen bestimmt, nicht aber als Sein oder Seiendes. Vgl. Quaest. Par. I n. 4: LW V, 41, 14: „est intellectus et intelligere et non ens vel esse“. 20 Der Kardinal nimmt eine Einsicht auf, die Nikolaus von Kues bereits in De coniecturis geäußert hat: Die absolute Einheit ist weder Entgegensetzung noch Verknüpfung von Entgegensetzung: Sie ist „nicht: ist und nicht ist“ und auch „nicht: ist oder nicht ist“. Die absolute Einheit ist gegensatzlos, ihre Identität liegt in ihrer Prinzipialität. Der Geist selbst umfaßt alle seine Einheiten „Wahrnehmung“, „Verstand“, „Vernunft“, „absolute Einheit“, die er ist. Vgl. Burkhard Mojsisch, Zum Disput über die Unsterblichkeit der Seele in Mittelalter und Renaissance, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 29 (1982), S. 341-359. 21 Durch die Sprache wird auf etwas verwiesen, das dem Begreifen des Verstandes und der Vernunft nicht mehr als bestimmter Gegenstand vorliegt. Der Gottesnamen des posse ipsum verweist auf eine Bedeutung, die Begreifen und Sprechen erst bedingt.
301 22 „Nihil potest esse prius ipso posse. Quomodo enim sine posse posset?“(D.a.t., S. 30). Nikolaus von Kues greift hiermit Gedanken Plotins auf, für den das Eine der Sagbarkeit entzogen ist. Auch für Pseudo Dionysios Areopagita gibt es kein Wort, keinen Namen und keine Erkenntnis Gottes. Das Schweigen der Stille ist überunaussprechlich. 23 Kurt Flasch zufolge hat Meister Eckhart zwar den Bruch des Denkens mit der imaginatio, mit dem vorstellungsgebundenen Denken gefordert, aber das Verhältnis des gewöhnlichen Denkens zu dem philosophischen nicht eigens thematisiert. Dies habe erst Nikolaus von Kues getan. Vgl . Kurt Flasch, Die Intention Meister Eckharts, in: Festschrift für Bruno Liebrucks, hrsg. v. H. Röttges u.a., Meisenheim/Glan 1974, S. 292-318. 24 D.a.t., S. 32. 25 „Nam ita se habet esse simplex sola mente visibile ad mentem, sicut esse coloris ad sensum visus“ (D.a.t., S. 17). Das einfache Sein gibt das posse ipsum in der Weise an wie das Sein der Farbe das Licht. 26 In der Erscheinung ist das Unendliche zum Endlichen kontrahiert. Das endliche Seiende ist das Zusammengezogene, das, wenn es in seiner eigentlichen für uns unbegreifbaren Bedeutung verstanden wird, durch sich angibt, daß es das Absolute ist. Die Rose, die während des Winters im Rosenstock der Möglichkeit nach enthalten ist und im Sommer in der Wirklichkeit erscheint, ist von der einen Seinsweise der Möglichkeit zu der Wirklichkeit übergegangen (vgl. D.d. i. II, S. 55). 27 Wenn Nikolaus von Kues in der Spätschrift vorgibt, seine frühere Überzeugung, die Wahrheit sei eher in der verbergenden Dunkelheit als im Hellen ausfindig zu machen nun zu korrigieren (D.a.t., S. 9), so ist dies eher als Kunstgriff zu verstehen, nicht aber im Sinne einer Verwerfung seiner bisherigen Lehre. 28 Für Nikolaus von Kues ist das Sprechen von Einheit, sei dies die göttliche Einheit, die Einheit der Vernunft oder des Verstandes Ausdruck des Geistes selbst. In der Spätschrift ist die göttliche Einheit somit nicht mehr reine Negation wie noch beispielsweise in De coniecturis, sondern das contractum ist selbst Manifestation des absolutum. 29 Wenn Gott verstanden wird als das ineffabile, das Unsagbare, das der Welt als das unbegreifbare Dunkle gegenübersteht, wird er immer noch nach Art des Satzes vom Widerspruchs gedacht als das Andere gegenüber der Welt. 30 D.a.t., S. 18. 31 Die in De coniecturis voneinander abgegrenzten Einheiten, die göttliche Einheit (in ihr koinzidieren nicht nur konträr, sondern auch kontradiktorisch Entgegengesetzte), die intellektuale Einheit (in ihr sind die kontradiktorisch Entgegengesetzten enthalten), die mentale Einheit, die ratio (in ihr ist Kontradiktorisches einander entgegengesetzt) und die Einheit der sinnlichen Wahrnehmung (sie ist reine Affirmation) werden in der visio als Realisation einer Wesenheit erblickt. 32 In der visio kann die sichtbare und die denkbare Welt als Realisation
302 eines göttlichen Prinzips verstanden werden. Wenn wir etwas sinnlich wahrnehmen oder geistig erkennen, ist das nur möglich durch das posse ipsum, das sich manifestiert. 33 D.d.i. III, S. 78. Wenn der Mensch liest, vollzieht sich das Göttliche im Menschen. Die Vernunft steigt vom sensiblen Buchstaben zum intelligiblen Sinn, ohne das sinnlich Bedingte hinter sich zu lassen. 34 Nikolaus von Kues kommentiert die Auslegung des Johannesevangeliums von Meister Eckhart „Der Wesengrund der Dinge – ganz innen und ganz außen“. Vgl. Kurt Flasch, Meister Eckhart, Hauptwerke der Philosophie, Stuttgart 1994, S. 395. 35 Nikolaus von Kues geht von einer Vorgeordnetheit des Wortes gegenüber dem Licht aus (D.v.s. IX, S. 36). 36 Er ist die nicht-zählbare und unbegrenzte Einheit, die sich selbst zählend in die Vielheit ausfaltet wie diese, die Vielheit, auch wieder in seine Einheit einfaltet. Sofern Gott Einfaltung ist, ist „alles in ihm er selbst und, sofern er Ausfaltung ist, ist er in allem das, was es ist, wie die Wahrheit im Bilde“ (D.d.i. II, S. 29). 37 Das posse ipsum enthält in sich das Geschehen von Identität durch das posse cum addito. 38 Vgl. Nikolaus von Kues, Compendium (Nikolaus von Kues: Philosophisch-theologische Werke, lat.-dt., Bd. 4), Hamburg 2002, S. 41. 39 In gleicher Weise, wie sich das Geistesvermögen des Aristoteles in seinen Büchern manifestiert, offenbart sich das posse ipsum in den Dingen. Die visio kann die Bücher als Ausdruck der Absicht des Autors erblicken, die Dinge in der Welt als Ausdruck der Absicht Gottes. 40 Die sinnliche Natur besteht nicht für sich, sie ist akzidentell. Im Compendium schreibt Nikolaus von Kues, daß der Mensch sein Wissen von den Dingen aus Zeichen und Wörtern bildet, so wie Gott die Welt aus den Dingen aufbaut. Vgl. Compendium, S. 36: „Facit igitur homo sua considerationes circa talia et scientiam rerum facit ex signis et vocabulis, sicut deus mundum ex rebus, et ultra de ornatu et concordantia et pulchritudine atque vigorositate et virtute orationis artes addit vocabulis naturam imitando“. 41 Auch hier greift Nikolaus von Kues eine Metapher auf, um die Situation des menschlichen Erkennens zu veranschaulichen: Er vergleicht den menschlichen Geist mit einem Kosmographen, der eine Karte von der Welt verfertigt in der Weise wie es ihm von seinen Boten berichtet wird. Die Welt wird begriffen nach dem Maß der mens humana, ohne jedoch die Realität als solche zu kennen. Auch in den Zeichen, durch die die sinnliche Erfahrung vollzogen wird, leuchtet das Licht Gottes. 42 De coniecturis, S. 6. 43 „Veritas est adaequatio rei et intellectus“. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestio de Veritate (= Quaestiones disputatae de Veritate, Bd. I, Turin/ Rom 1964, qu. I, art. 1, 9. 44 Die Wahrheit wird nicht durch den menschlichen Intellekt hervorgebracht. Er gleicht sich den Dingen an, die wiederum vom göttlichen Verstand
303 geschaffen werden. Dann ereignet sich Wahrheit, die ihren Möglichkeitsgrund im Sein der Dinge hat und nur in unangemessener Weise ihrer selbst inne wird. Die Dinge sind auf Gott als ihren Grund bezogen, dieser Bezug ist jedoch negativen Charakters, da die Dinge auf nichtangemessene Weise Wirkungen Gottes sind. 45 Die Erkenntnis der Dinge bezieht sich nicht auf ihre Realität, diese ist allein im göttlichen Geist, der menschliche Geist kann sich nur annähern. 46 Vgl. Compendium, S. 45. 47 „Posse cum addito imago est ipsius posse, quo nihil simplicius“ (D.a.t., S. 32). 48 In der visio kann die Absicht Gottes in der Welt erblickt werden, wie beim Lesen eines Buches. Die Schöpfung ist wie ein Buch, das für den Menschen Zeichen enthält, die die Absicht des Autors spiegeln. 49 Die Offenbarungslehren, wie die Dreifaltigkeit, sind nicht mehr übervernünftig, sondern sie sind Ausdruck der Vernunft. 50 Jacobi weist darauf hin, daß nie zuvor der Sinn des Menschen so hoch gesehen wurde: „der Mensch ist der Schauende, für den Gott sich offenbart, ist also der ontologische Ort der Offenbarkeit“ Jacobi (wie Anm. 7, S. 101). Der Geist ist apparitio und Offenbarwerdung dieser apparitio zugleich. 51 D.a.t., S. 30. 52 Für Aristoteles ist die yevría Tätigkeit des Nus, die der Mensch mit den Göttern teilt. Ein Leben in reiner Theorie ist dem Menschen unmöglich, aber er kann danach streben, „so weit wie möglich unsterblich zu werden“. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. X 7, 1177 b 33. 53 Er lehnt die Ontologie des Thomas von Aquin ab, die noch in der Erkenntnis des Seins der Dinge ihren Halt findet, um von hier aus das Dasein Gottes zu beweisen. Die Existenz Gottes kann nicht mehr rational bewiesen werden, da das an das Bedingte gebundene Denken unzulänglich ist. Das begründende Denken ist im Bereich der Gotteserkenntnis unangebracht. Die Erkenntnis Gottes vollzieht sich aber auch nicht in einer mystischen Schau als Negation des Vielen. Die Unzulänglichkeit der bisherigen metaphysischen Verfahren führen zur Notwendigkeit einer Besinnung der philosophischen Reflexion auf sich selbst. In ihrer Infragestellung verweisen sie aber bereits auf das neuzeitliche Denken: Nikolaus von Kues versteht seine eigene Philosophie als Überwindung der dogmatischen Metaphysik. Nikolaus von Kues ersetzt die Substanzenontologie durch eine Ontologie, in der es nur noch Relationen gibt. Vgl. Jacobi (wie Anm. 7), S. 299. 54 D.a.t., S. 9. 55 Aus der Ablehnung der aristotelischen Logik für die Gotteserkenntnis ergibt sich ein neuer Typ der mathematischen Logik, der die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften beeinflußt hat. Vgl. Cassirer (wie Anm. 6), S. 29 f. 56 „Die christliche Glaubensgewißheit vom unendlichen Schöpfergott wird bei Nikolaus von Kues zur leitenden Hinsicht der Metaphysik“. Vgl. Jacobi (wie Anm. 7), S. 103.
304 57 Für Hubert Benz, (Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues, [Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, hrsg. Klaus Kremer u.a. Bd. XIII], Münster 1999, S. 19) hat sich in der Forschung die Tendenz durchgesetzt, „in Cusanus den am Beginn der Neuzeit stehenden, den autonomen Geist-Begriff im modernen Verständnis vorbereitenden Denker der Individualität und Subjektivität zu sehen“. Die Reflexion auf die Spätschrift hat gezeigt, daß die „interpretatorische Alternative“, die Benz (S. 17) stellt, ob für Nikolaus von Kues das Sein an das Subjekt, das Absolute an das Endliche gebunden ist oder ob umgekehrt eine „Abhängigkeit des menschlichen Erkennens […] von der göttlichen Wesensverfaßtheit“ besteht, für Nikolaus von Kues keine Alternative darstellt.
Peter Böhm VOM WESEN DES MENSCHSEINS Überlegungen zur politischen Ästhetik bei Karl Philipp Moritz
Die nachfolgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der Frage, wie Karl Philipp Moritz’ Rede von jener „Art eines höheren Daseins“ zu verstehen ist, welches der Mensch über den Genuß eines Kunstwerks erreicht und in dem er seines „wahren und vollen Daseins“ ansichtig wird. Es stellt sich heraus, daß dieses ‚höhere Dasein‘ zwar als ein ästhetisches Vergnügen bezeichnet werden kann, daß es in recht eigentlicher Weise jedoch als jener Ort zu beschreiben ist, an dem Freiheit, Würde und Autonomie des Menschen grundgelegt sind. Damit mündet die vermeintlich nur ästhetische Betrachtung eines Kunstwerks ein in das Wissen um die allgemeine politische Freiheit des Individuums.
In der im Jahr 1785 entstandenen Schrift „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“1 notiert Karl Philipp Moritz: „Wir bedürfen des Schönen nicht so sehr, um dadurch ergötzt zu werden, als das Schöne unsrer bedarf, um erkannt zu werden. Wir können sehr gut ohne die Betrachtung schöner Kunstwerke bestehen, diese aber können, als solche, nicht wohl ohne unsre Betrachtung bestehen. Je mehr wir sie also entbehren können, desto mehr betrachten wir sie um ihrer selbst willen, um ihnen durch unsre Betrachtung gleichsam erst ihr wahres volles Dasein zu geben.“2 Moritz’ Hinweis, wir könnten „sehr gut ohne […] Kunstwerke bestehen“, kommt keineswegs überraschend – da Kunstwerke, wie Moritz erklärt, anders als etwa „Messer“3 oder „Uhr“4 keine Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind, und ihnen somit kein unmittelbarer Nutzen zukommt: Kunstwerke dienen ihrer Natur nach nicht der Befriedigung irgendwelcher Bedürf-
306 nisse, und sie weisen daher nicht auf ein Anderes, ihnen Äußeres – das Messer hingegen dient dem Zerteilen eines von ihm verschiedenen Gegenstands, die Uhr dem Anzeigen der Zeit, beider Wesen findet Bestimmung und Erfüllung zugleich in der noch zu tätigenden Handlung, beider Wesen liegt in einem ihnen je äußerlichen Zweck verborgen. Kunstwerke hingegen sind, wie Moritz erklärt, keine nützlichen Gegenstände und daher frei von allen äußeren Zwecken. Als von allen nützlichen, mithin äußeren Zwecken unabhängige Wirklichkeiten sind Kunstwerke ihrem Wesen nach autonom.5 Allerdings bleiben Kunstwerke – wie alle anderen Gegenstände auch – so lange im Stadium der Indifferenz – und bleiben daher in recht eigentlicher Weise ein Nichts –, als sie nicht in der einen oder anderen Form „genutzt“ werden. „Die Uhr und das Messer“6, zum Beispiel, verlangen nach Gebrauch und aktualisieren im Augenblick ihres Gebraucht-Werdens das ihnen eigentümliche Wesen. Gegenstände des täglichen Gebrauchs dienen unserer körperlichen „Bequemlichkeit“7, und ihr wahres und vollständiges Wesen – „ihr wahres volles Dasein“8 – kommt erst im Akt dieses sich An-Dienens zum Vorschein. Kunstwerke andererseits taugen zu keinem Zweck; ihr eigentümliches Wesen aktualisiert sich daher nicht im Erreichen eines ihnen äußerlichen, d.h. eines von ihnen geschiedenen Ziels. Jene dem Kunstwerk eigentümliche „Bequemlichkeit“, die sich im ‚Gebrauch‘ des Kunstwerks einstellt, hat – da sie eben keine körperliche ‚Bequemlichkeit‘ meinen kann – von grundsätzlich anderer Art zu sein; und damit auch der Gebrauch, den wir von einem Kunstwerk machen: Während Gegenstände des täglichen Gebrauchs in eben diesem Gebrauch ihr ‚volles Dasein‘ aktualisieren, erfährt das Kunstwerk sein wahres und vollständiges Wesen in dem Augenblick, als es zum Mittelpunkt unserer Betrachtung wird. Dieses Betrachten, das seinen Anfang im bloßen Anschauen der äußeren Schönheit des Kunstwerks nimmt, ist seinem eigentlichen Wesen nach jedoch ein Erkenntnisakt, an dessen Ende das Verstehen der inneren Struktur und des Wesens des Kunstwerks steht.
307 Dieser Erkenntnisakt führt aber nicht nur das Kunstwerk zu seinem wahren und vollständigen Wesen; in ihm findet auch der Betrachtende sein „wahres und volles Dasein“. Dieser Akt, der sich auslegt als das Wissen um die Natur des Kunstwerks selbst, führt den Betrachter zu einer „Art von höherem Dasein“9, in dem er sich seines eigenen Menschseins und seiner Würde bewußt wird. Während also nutzvolle Gegenstände es dem Menschen erlauben, seine individuelle körperliche, d.h. „eingeschränkte“ Existenz zu vervollständigen und allererst zu erhalten, läßt die Betrachtung des Kunstwerks – und damit auch: die Betrachtung (der Idee) des Schönen – den Menschen augenblicklich über seine Körperlichkeit und Alltäglichkeit triumphieren. Ohne Blick für die Erhaltung seiner physischen Existenz kann der Mensch sich im „höchste[n] Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens“10 verlieren und dabei sein „individuelles eingeschränktes Dasein einer Art von höherem Dasein [aufopfern]“11. Das „wahre und vollständige Wesen“ des Kunstwerks und jene „Art des höheren Daseins“ des Menschen erweisen sich zuletzt als durcheinander konstituiert. Der Begründungsakt des Wesens des Kunstwerks und der des Wesens des Menschen sind Manifestationen des einen und selben, des identischen Akts, der sich auslegt als der Akt der Einheit der Idee des Schönen und der Idee des Menschen. „Auch das süße Staunen, das angenehme Vergessen unsrer selbst bei Betrachtung eines schönen Kunstwerks“, schreibt Moritz , „ist ein Beweis, daß unser Vergnügen hier etwas Untergeordnetes ist, das wir freiwillig erst durch das Schöne bestimmt werden lassen, welchem wir eine Zeitlang eine Art von Obergewalt über alle unsre Empfindungen einräumen. Während das Schöne unsre Betrachtung ganz auf sich zieht, zieht es sie eine Weile von uns selber ab, und macht, daß wir uns in dem schönen Gegenstande zu verlieren scheinen; und eben dies Verlieren, dies Vergessen unsrer selbst, ist der höchste Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens, welches uns das Schöne gewährt. Wir opfern in dem Augenblick unser individuelles eingeschränktes Dasein einer Art von höherem Dasein auf.“12
308 In dieser ‚Art eines höheren Daseins‘13 scheint daher nicht nur das ‚wahre und vollständige Wesen‘ des Menschen auf, sondern auch das des Kunstwerks selbst – und zusammen mit diesem: ‚das wahre und vollständige Wesen‘ des Kunstschönen, bzw. der Idee des Schönen. Moritz beschreibt das Wesen des Schönen als das, was in sich ruht und vollständig ist. Da das Kunstwerk nun gleichermaßen ‚wahr‘ ist und ‚vollständig‘, kann es nicht nur als eine Erscheinung des Schönen, sondern muß als das Schöne selbst bestimmt werden. Denn: Wäre das Schöne nicht mehr als eine Idee, die, sollte sie erkannt werden wollen, dies nur in einem ihr in eigentlicher Weise äußeren Etwas vermöchte, so könnte ‚das Schöne‘ schlechterdings nicht als ein ‚in sich‘ Vollkommenes beschrieben werden. Wenn ‚das Schöne‘ in der Tat eines Anderen bedürfte, um sich zu zeigen, so könnte ‚das Schöne‘ allein und als nichts weiter denn als ‚Teil eines größeren Ganzen‘ (des Kunstwerks nämlich) gelten. Es wäre nicht das postulierte ‚Vollkommene‘, da es eines Anderen – des Kunstwerks – immer schon bedürfte. Deshalb ist das Kunstwerk mehr als eine bloße Erscheinung des Schönen: Obwohl es ‚das Schöne‘ sichtbar macht, ist das Kunstwerk nichtsdestoweniger immer schon ‚das Schöne‘ selbst – denn nur wenn beide, Kunstwerk und Schönes, in ihrem Wesen identisch sind, können sie zu Recht von sich behaupten, ‚wahr und vollkommen‘ zu sein. Indem Moritz aber ‚das Schöne‘ und das Kunstwerk als an ihrem Grunde identische Wesenheiten bestimmt, beschreibt er ‚das Schöne‘ zugleich als ein Etwas und als eine Idee.14 Wie aber, wenn die Identität von Kunstschönem und Kunstwerk als der Manifestation dieser Idee doch nur behauptet wäre – wenn das Kunstschöne sich eben nicht als Existenzform erweisen ließe, und wenn damit das erst noch zu findende Prinzip ‚Geist‘ als die Einheit von sinnlichem und rationalem Erkenntnis- und Begründungsvermögen von allem Anfang an nichts weiter wäre, als ein nur Behauptetes; welches es zwar vermöchte, jedwedem Erkenntnisakt eine innere Kohärenz und Konsistenz zu leihen, aber nicht zureichte zu einer wahren und vollständigen Begründung des Behaupteten?
309 Lenken wir, um einer ersten Antwort auf die Spur zu kommen, den Blick auf den Gestaltungsakt, an dessen Ende das Kunstwerk als vollendetes Ganzes erscheinen soll. Denn: Ist es nicht in der Tat so, daß der zeitliche Akt der Hervorbringung des Kunstwerks und das gleichsam zeitübergreifende Wesen des Kunstschönen, das ja nicht das eine Mal als das eine und das andere Mal als das andere ‚Kunstschöne‘ auftreten darf; daß also zeitlicher Akt und zeitübergreifendes Wesen einander gegenseitig ausschließen, ja: sich widersprechen; daß also ihrer beider Identität in der Tat nichts weiter ist als eine behauptete und somit nur vermeintliche? Nun ist es tatsächlich so, daß der Akt jedweder Hervorbringung eines Etwas unter den Bedingungen der Zeit abzulaufen hat. Und jedes Moment des Hervorbringungsakts ist als Stück dieses im Werden begriffenen Etwas anzusehen. Wäre der Akt der Hervorbringung aber nichts weiter als die Aneinanderreihung disparater Versatzstücke oder vieler Etwas, dann käme der Hervorbringungsakt eines Etwas nie hinaus über eine Aggregation von Unfertigkeiten, deren endgültige Erscheinung nun in der Tat nichts weiter wäre als eine Aneinanderreihung partikularer Andersheiten – die, um als ein ‚Eines‘ erkannt werden zu können, bestenfalls unter eine – freilich zufällige – Interpretation oder Gesamtschau gezwungen würden. Der Akt der Hervorbringung eines Kunstwerks ist aber, trotz seines unter den Bedingungen der Zeit zu erfolgen habenden Ablaufs, nicht Produktion, sondern Gestaltung – und daher von allem Anbeginn an ein ganzheitlicher Akt: Der Gestaltungsakt nämlich begründet den Hervorbringungsakt als einen einheitlich-ganzheitlichen. Das heißt, daß der Hervorbringungsakt nicht nur in jedem Augenblick seines Verlaufs mit sich selbst identisch ist, sondern daß in diesem Hervorbringungsakt qua Gestaltungsakt begründet ist die Identität zwischen dem Akt der Hervorbringung und dem erst noch Hervorzubringenden einerseits und dem endlich Hervorgebrachten als eines immer schon Hervorgebracht-werden-Sollenden andererseits. Das Kunstwerk ist daher von allem Anfang an „in sich vollendet“: Es ist ein Ganzes
310 und ein Vollständiges in jedem Stadium seines HervorgebrachtWerdens, und dies trotz der faktischen Bruchstückhaftigkeit seines momentanen Äußeren. Dem Künstler, der dem Kunstwerk Stück für Stück die ihm eigene Form verleiht, steht die vollendete Gestalt seines Werkes bereits von allem Anfang vor dem geistigen Auge. Es ist seine Vision, seine ‚Einbildungskraft‘15, die seinen kreativen Akt anstößt und trägt. Obwohl sich das Kunstwerk vor dem endgültigen Vollzug des eigenen Hervorgebrachtseins nie als das eine und identische Dasein zu zeigen weiß, „ist“16 es immer schon dieses „wahre und vollständige Dasein“, als das es sich schließlich darbieten soll – als Einheit und Ganzheit in jedem seiner Momente. Im Akt der Hervorbringung gewinnt aber nicht nur das Kunstwerk seine ihm vom Künstler zugewiesene Gestalt, sondern auch das mit ihm identische Kunstschöne. Die Idee des Schönen, deren Sinnfälligkeit und Möglichkeit erkannt zu werden in dem Maße wachsen, als das Kunstwerk sich seiner empirischen Gestalt annähert; die Idee des Schönen und das Kunstwerk werden im Akt des Hervorgebracht-Werdens zu Momenten der Wirklichkeit und zu Aspekten des Wirklich-Seins. Jenes Vermögen, erkannt werden zu können, meint ein empirisches Vermögen. Dies ist hinsichtlich des Kunstwerks selbst nicht nur einem ersten Anscheine nach unzweifelhaft – denn als Moment der Wirklichkeit, mithin empirischer Wirklichkeit, vermag es sich empirischer Untersuchung nicht zu entziehen. Hinsichtlich des Kunstschönen jedoch, bzw. hinsichtlich der Idee des Kunstschönen, scheint eine empirische Untersuchung ihrer Natur nach dem, dessen eine solche Untersuchung auf die Spur zu kommen trachtet, nicht adäquat, nicht gewachsen zu sein. Vor allem auch deshalb nicht, weil dasjenige Vermögen, dem Moritz einem ersten Dafürhalten nach empirische Erkenntniskraft zumißt, bereits an der Aufgabe, das Kunstwerk zu bestimmen und zu beurteilen, scheitert. Die ‚Denkkraft‘ nämlich, die sich nach Moritz vor allen anderen rationalen Vermögen mit den Konstituentien der Wirklichkeit beschäftigt, ist für ein solches
311 Unterfangen mehr als ungeeignet, da sie jeden Erkenntnisgegenstand nur auf diejenige Weise zu untersuchen vermag, die ihr nach ihrem eigenen Wesen zu Gebote steht. Die ‚Denkkraft‘17 ist von Moritz ihrem Wesen nach als diejenige Kraft bestimmt, die jedwedem Etwas nur auf indirekte Weise auf die Spur zu kommen vermag. Und das heißt: Ihm unter den Bedingungen eines progressiven Verstehens hinterherfragen zu müssen. Das Kunstwerk allerdings als ein immer schon Ganzes zeigt sich in jedem Augenblick unmittelbar und vollständig. Es sukzessive einholen zu wollen, wie dies der ‚Denkkraft‘ allein zu Gebote stünde, läßt das Unterfangen, das Kunstwerk verstehen und erkennen zu wollen, von allem Anbeginn zum Scheitern verurteilt sein. Und so mißlingt der Versuch, den „wahren Gesichtspunkt“18, also dasjenige Prinzip aufzufinden, welches Kunstwerk und Kunstschönes begründet und strukturiert, und aus dem heraus es als jenes ‚Ganze und Vollständige‘ allein erkannt werden kann. Wenn die ‚Denkkraft‘ jedoch ungeeignet ist, den Weg zu einer umfassenden Erkenntnis des Kunstwerks wie des Kunstschönen zu weisen, seines es durchgreifenden Prinzips und seiner Manifestation; dann ist die Erfüllung dieser Aufgabe von einem anderen Vermögen zu fordern: Einem Vermögen, das zugleich allgemein und umfassend ist und befähigt, sich dem Gegenstand seiner Erkenntnis in unmittelbarer und direkter Weise zu nähern. Moritz sieht nun in der Tat ein solches Vermögen und gibt ihm den Namen „Geist“19. ‚Geist‘20 teilt mit dem Gegenstand seines Fragens Wesen und Verfaßtheit, und legt sich vor allem aus als ein „in sich selbst vollendetes Ganze[s]“21. Bevor jedoch Moritz ‚Geist‘ als dasjenige Vermögen ausweist, das eine gleichwohl als empirisch zu verstehende Suche nach dem seinem eigenen ästhetischen System zu Grunde liegenden Prinzip zu einem begründeten Ergebnis führen kann, überlegt er zunächst, ob er die Suche nach dem ‚wahren Gesichtspunkt‘, also nach dem Prinzip von Etwas und Idee, nicht eher auf dem Weg über ein methodisches Fragen, das er als
312 ‚Versuch und Irrtum‘ bestimmt, zu einem erfolgreichen Ende zu bringen vermag. Er legt dar, daß uns in der Tat keine bessere Methode zur Hand wäre, jenes gesuchte Prinzip jedweder Wirklichkeit aufzufinden, als uns auf unser „gut Glück“22 zu verlassen. Mit einem ‚Glücksgriff‘ zu rechnen oder darauf vertrauen zu müssen, stellt sich für Moritz in keiner Weise als eine für die gestellte Aufgabe unzureichende Methode dar. Im Gegenteil: „Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen können, und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen müssen – dieß giebt unserm Denken Freiheit, und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Instinktmäßige – daß wir irren können, ist daher einer unsrer edelsten Vorzüge.“23 Die Notwendigkeit, die Suche auf Grund eines momentanen, d.h. vorläufigen Scheiterns wieder und wieder von vorne zu beginnen, ja beginnen zu müssen, begründet in eigentlicher Weise die Selbst-Bestimmung des Menschen und unterscheidet es von demjenigen, was Moritz „das Instinktmäßige“24 nennt. Das gesuchte Prinzip nicht ‚instinktmäßig‘ zu wissen, d.h. nicht durch irrationale Schau immer schon zu haben, sondern sich seines rationalen Vermögens ein ums andere Mal mühevoll bedienen zu müssen, begründet vor allem anderen die Freiheit des Menschen. Diese Freiheit jedoch legt sich aus als eine Freiheit der Wahl: Denn der Mensch „kann sich seinen Gegenstand [d.h. den ‚wahren Gesichtspunkt‘ – Vf.] selber wählen“25, um sogleich das Gesamt der Wirklichkeit um diesen wenn auch vorläufigen und vermeintlichen ‚wahren Gesichtspunkt‘ herum zu strukturieren. Falls sich jedoch – trotz seines besten Bemühens – weder Maß noch Proportion und Harmonie in dem so strukturierten Systemaufbau finden lassen, wird der Mensch und muß er immer wieder aufs neue versuchen „diesen Mittelpunkt ausfündig zu machen“26. Den vermeintlich ‚wahren Gesichtspunkt‘ aus der Vielzahl der möglichen Gesichtspunkte auszuwählen, ist aber alles andere als zufällig und beliebig, oder gar: gefühlsmäßig und daher irrational. Denn obwohl die Entdeckung des ‚wahren Gesichtspunkts‘ (letztendlich auch: das Entdecken der Wahr-
313 heit) streng genommen dem Zufall überlassen bleibt, ist die Suche selbst keine zufällige, sondern erwächst einem systematischen Vorgehen und hat einen rationalen Grund: „Diese Tendenz nach Wahrheit, nach Beziehung und Ordnung in unsern Gedanken und Vorstellungen ist […] das Wesen unsrer Seele“27. Das Ziel trotz aller methodischer Unzulänglichkeiten und allen Versagens gerade nicht aus den Augen zu verlieren, begründet und bezeugt die Freiheit, derer sich der Mensch zu erfreuen vermag. Eine Freiheit, die Moritz, nicht ohne Grund als „Selbstthätigkeit“28 beschreibt: Diese ‚Selbstthätigkeit‘, die nichts anderes ist als Selbst-Begründung und Selbst-Bestimmung der Wesensnatur des Menschen, ist das grundlegende Bestimmungsmoment der Freiheit des Menschen – und damit zugleich seiner Würde. Unterbrechen wir den Gedankengang für einen kurzen Moment und lenken den Blick auf den Künstler, den Moritz mit einem bestimmten Talent ausgestattet sieht, das ihn von allen anderen Individuen unterscheidet. In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1785 „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ schreibt er: „Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im grossen Ganzen der Natur; welche doch nur mittelbar durch die bildende Hand des Künstlers nacherschafft, was unmittelbar nicht in ihren grossen Plan gehörte.“29 Moritz mißt dem Künstler mithin eine besondere Kraft zu, nämlich den Schöpfungsakt der Natur allererst zu einem Ende zu bringen und damit das zuvor noch Unfertige zu vervollkommnen. Obwohl die Natur am kreativen Akt des Künstlers teilhat – denn sie bedient sich seiner „bildenden Hand“ – ist ihre Teilhabe eine „mittelbare“. Sich der Hand des Künstlers zu bedienen, bedeutet für die Natur nicht, sich der eigenen Souveränität zu versichern. Die Teilhabe der Natur am kreativen Akt des Künstlers konstituiert keineswegs die Rolle des Künstlers (etwa im Sinn einer Begrenzung dieser Rolle) als eine nur dienende, als sei er ein bloßes Instrument, das eine irgend geartete Funktion passiv ausführte – blind für das Ziel und das Procedere des eigenen Handelns.
314 Stattdessen erweist sich der Künstler seiner eigenen ursprünglichen Kraft mächtig, indem er etwas, das zuvor nicht war, hervorbringt – welches Etwas zudem (zuvor) nicht zum allgemeinen Plan der Natur gehört hatte. Der Künstler ist daher der alleinige Auctor eines Neuen, d.h. der ausschließliche, und damit: der zureichende Grund und die Bedingung des Kunstwerks selbst und dessen, welches sich im und am Kunstwerk zeitigt und zeigt: nämlich die dem Künstler und ihm allein eignende Kraft kreativer Freiheit. Da der Künstler aber der auctoriale Gestalter seines Kunstwerks ist, ist das Kunstwerk nicht ein bloßes Etwas unter vielen. Denn: Während die Vielen einander dienen und das Eine dem Anderen zu Nutzen wird, vermag sich das Kunstwerk, weil es in einem einen, ganzen und freiheitlich-kreativen Akt hervorgebracht ist, seiner Freiheit und somit: seiner Würde gewiß zu sein. Und ebenso wie der Künstler sich seiner Souveränität innerhalb des „großen Plans“ der Natur sicher sein kann, ist auch das Kunstwerk sich seiner Autonomie innerhalb der Ordnung der (nützlichen) Dinge gewiß. Sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, trotz allen augenblicklichen Scheiterns und trotz des Wissens um die unhintergehbare Zufälligkeit des Ausgangs der Suche nach dem ‚wahren Gesichtspunkt‘, dem Prinzip, in dem nicht nur das Dasein des Kunstwerks und des Kunstschönen, sondern mehr noch: das Wesen des Künstlers – und damit des Menschen selbst – begründet liegen, dies weist hin auf die umfassende Freiheit des Menschen: Der Mensch vermag zu wählen, und ist daher nicht einem unerforschlichen Dafürhalten eines in ihm waltenden ‚Instinkts‘ ausgeliefert. Frei zu sein in seiner Wahl, d.h. selbst-bestimmt zu urteilen, bedeutet zugleich, sich seines eigenen Geistesvermögens zu bedienen und die Erkenntnis der Wirklichkeit als diejenige zu wissen, die der Mensch durch sich selbst hervorgebracht hat. Wie der Künstler, der in der ‚Einbildung‘ und ‚Bildung‘ des Kunstwerks eins ist mit sich und dem Hervorzubringenden, und der in diesem Wissen jene ‚Art höheren Daseins‘ erwirbt, welche ihm Würde und Menschlichkeit zumißt, wird der Mensch in
315 der Betrachtung und der Erkenntnis der Wirklichkeit eins mit ihr. ‚Den wahren Gesichtspunkt‘, auf Grund dessen er die ihn umgebende Wirklichkeit ordnet und mißt, wählt der Mensch sich in Freiheit. Im Moment der Wahl verläßt er den Zusammenhang dynamischer Prozesse und immer weiter treibender Progression, und bemächtigt sich seines eigentlichen Wesens: Auctor zu sein und Souverän des Wissens der ihn umgebenden Wirklichkeit und seiner selbst. Freilich: Diese Aneignung der Wirklichkeit müßte augenblicklich scheitern, das dann nur vermeintliche Wissen um das in der Wirklichkeit herrschende Maß, ihre Proportion und innere Harmonie wäre nur eitles Wissen, wäre die Aneignung von Wirklichkeit, d.h. der Erkenntnisakt von Welt, nicht mehr als eine Bemächtigung, ungegründet und unbegründet. Wenn, mit anderen Worten, diese Aneignung nichts weiter wäre als ein Konstrukt anstatt eines freien und authentischen Akts; d.h. wenn das Vermögen der Kreativität sich nicht in der Natur des Menschen selbst fände, und er sich stattdessen dieses Vermögens nur bemächtigte. Denn nur wenn der Mensch das Vermögen der Erkenntnis als ein Moment seiner inneren Natur weiß, wird auch die Ordnung, unter der er die Wirklichkeit schließlich geordnet findet, eine begründete sein, und in der sich der Grund selbst zu erkennen gibt. Nur wenn der Mensch selbst autonom ist, kann die Ordnung der Wirklichkeit seine eigene sein – und damit auch authentisch. Und in der Tat versichert Moritz den Menschen seiner eigenen Würde, seiner Autonomie und seiner ihm eigenen Authentizität, wenn er erklärt: „Die gütige Natur schuf und bildete den menschlichen Geist, und brachte das mittelbar durch ihn hervor, was sie selbst unmittelbar nicht würde hervorgebracht haben.“30 Obwohl sich der Mensch als Teil der Natur vorfindet und auch als solchen begreift, weiß er sich dennoch als ihre Krone. Denn der Mensch ist es, der die schöpferische Tat der Natur weiterführt, sie ergänzt und zu einem Ende bringt. Er sieht sich befugt, es der Natur nachzutun; er ahmt der Natur nach
316 und tritt in Wettstreit mit der ihr eigenen Kreativität. Es ist aber sein ‚Geist‘, das Vermögen seiner Vernunft, das ihn in diesen Wettstreit zu treten ermächtigt. Gleichwohl: Sein ‚Geist‘ ist kein Vermögen, welches ohne jede eigene Grenze wäre; sein Geist ist nicht absolut. Obwohl der Mensch ein Ganzes ist, findet er sich doch nicht außerhalb der Natur oder ihrer enthoben. Seine Ermächtigung, anderes – und damit sich selbst – immer wieder hervorzubringen, ist eine geborgte, d.h. er ist nicht in einem immerwährenden Besitz von Erkenntnis und Wahrheit. Seine Freiheit und Würde, seine Autonomie und seine Authentizität, gründen in der ihm eigenen Unzulänglichkeit, welche sich auslegt als die Aufgabe, den Begründungsakt von Wahrheit und Wirklichkeit immer wieder aufs Neue beginnen zu müssen. In seiner nie zu einem Ende zu bringenden Verfolgung jener ‚Art des höheren Daseins‘, die er über die Suche nach dem ‚wahren Gesichtspunkt‘ aller Wirklichkeit vorantreibt und welche von allem Anbeginn mit dem Makel des Scheiternkönnens behaftet ist, versichert er sich wieder und wieder seiner Wesensnatur – und muß dies tun, um sich seiner Freiheit und Würde immer wieder von neuem zu vergewissern. Mensch und Künstler zeichnen sich aus durch analoge Begabungen: Während die Natur den Künstler mit jenem Talent der auctorialen ‚Hand‘ ausgestattet hat, hat sie den Menschen mit jenem Vermögen ausgezeichnet, welches wir ‚Geist‘ nennen. Der kreative Akt des Künstlers, der sich auslegt als die Hervorbringung des Kunstschönen, beginnt im und durch den Gebrauch seiner ‚Hand‘; das, was der Kreativität des Menschen entspringt, nämlich Systemstruktur von Wirklichkeit und deren Wahrheit immer wieder zu erproben, nimmt seinen Anfang im Erkenntnisvermögen des ‚Geistes‘. Der Künstler reproduziert die Natur, indem er ein Kunstwerk hervorbringt; der Mensch bildet sie nach, indem er zu einem Verstehen von Welt vordringt. Während der Akt des Künstlers hinführt zu einem Kunstwerk, welches zugleich eine Spiegelung der Natur ist und ein Moment des kreativen Vermögens des Künstlers, führen die Bemühungen des
317 Menschen zur Hervorbringung eines Wissens und Verstehens, die sich zugleich als die strukturelle Verfaßtheit der Natur und der Wesensverfaßtheit des Menschen auslegen. Während das kreative Vermögen des Künstlers, seine ‚Einbildungskraft‘ und seine ‚Bildungskraft‘, allein ihm zu Gebote stehen, haben am Vermögen des Menschen, dem ‚Geist‘, alle Menschen unterschiedslos teil: „Ohne selbst daran zu denken, übt der Mensch stündlich und augenblicklich [seinen Geist]; und vom Könige, der sein Volk beherrscht, bis zum Hirten, der seine Heerde weidet, ist von dieser immerwährenden Wohlthat der Natur niemand ausgeschlossen […] ob nun gleich der Mensch so oft seinen Werth verkennt, und über die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse, unter Arbeit und Sorgen, sein geistiges Wesen ganz vergißt.“31 Dieser letzte Hinweis Moritz’ verwundert nicht. Denn ‚Geist‘ ist dasjenige Vermögen, welches – als allgemeines Prinzip – nicht allein die innere Wesensverfaßtheit des Menschen auf den Begriff bringt, sondern – dem Aufeinander-Bezogensein von Kunstwerk und Kunstschönem analog und dieses wiederholend – auch das existentielle Dasein des Menschen in den Begründungszusammenhang von Wesen und Existenz hebt. ‚Geist‘ ist der Ausdruck der inneren Wesensverfaßtheit des Menschen und meint daher nicht die einer jedweden Person eigentümliche und damit quantifizierbare Begabung. Als Ausdruck der inneren Wesensverfaßtheit, und als Analogon der Entsprechung von innerem Vermögen und äußerem Können, gründet im Moment der Wesensverfaßtheit ‚Geist‘ auch und gerade jene natürliche Souveränität des Menschen, welche durch sein existentielles Dasein verschüttet sein mag: Das Vermögen des ‚Geistes‘ hebt alle tatsächlichen, oder: gesellschaftsrelevanten Unterschiede in sich auf. Im Vermögen ‚Geist‘ legt Moritz den Grund, von dem aus die (unterdrückten und ausgebeuteten) Mitglieder der zeitgenössischen Gesellschaft Achtung und Würde einfordern können. Allerdings: Da Moritz dieses Vermögen als ein allgemeines Prinzip ausweist, setzt er nicht nur jene unterdrückten und ausgebeu-
318 teten Mitglieder der zeitgenössischen Gesellschaft in ihr souveränes Recht, sondern sieht in diesem ‚Recht auf Achtung‘ auch das Recht des Königs selbst eingeschlossen. Nicht allerdings das ‚Recht‘ des Königs als jenes politischen Souveräns zeitgenössischer (oder zukünftiger) politischer Verhältnisse, sondern das Recht des Königs als Mensch und Person: Nur als Mensch hat der König ein ‚Recht auf Achtung‘ – und schuldet dieses seinen Untertanen. Gegenseitiger Respekt muß deshalb zu (politischer) Gerechtigkeit führen.32 Der Aufgabe, die Bestimmung des Kunstschönen immer wieder je neu entdecken und abgrenzen zu müssen, anstatt sie instinktiv immer schon zu haben, ähnelt daher diejenige, politische Macht und deren Legitimierung immer wieder auf die Probe zu stellen – anstatt sie knechtisch zu billigen. Es ist gerade Ausdruck seiner allgemeinen Souveränität, wenn der Mensch an den politischen Prozessen aktiv teilnimmt und sich seiner Rolle (und Aufgabe) als desjenigen bewußt wird, in welchem dieses Vermögen seinen Anfang nimmt, und ohne den die politischen Prozesse überhaupt nicht zu sein vermöchten. „Daß nun jeder einzelne Mensch, wenn er seinen Antheil von Kräften zur Erhaltung des Ganzen aufgewandt hat, sich auch als den Zweck dieses Ganzen betrachten lerne, und auch von jedem andern so betrachtet werde – darin besteht eigentlich die wahre Aufklärung, welche notwendig allgemein verbreitet sein muß, wenn sie nicht als bloße Täuschung und Blendwerk betrachtet werden soll.“33 Sich dieser Souveränität bewußt zu sein, heißt zunächst, sich nicht vom Ganzen des politischen Umfelds unterwerfen und gefangen nehmen zu lassen; es heißt, sich in einem Akt der Freiheit und aus freien Stücken dem Ganzen des politischen Wesens zu unterwerfen und dadurch die dem Menschen eigene Macht auszuüben, nämlich wählen zu können. Dieser Freiheitsakt, der in seiner natürlichen Souveränität gründet, ermächtigt den Menschen, sich seinen (politischen) Führer selbst zu bestimmen, oder sich, einen früheren Entschluß widerrufend, seines politischen Herren zu entledigen. „Hier findet also nichts Gewaltsames, keine Be-
319 raubung der natürlichen Freiheit, kein Zerreissen der Verbindung zwischen Gedanken und Bewegung statt – niemand ist hier ganz Maschine – Jeder bewegt Hand und Fuß, weil er will – das Warum steht in seiner eigenen Seele, und nicht in der Denkkraft eines andern – Nur die Art und Weise wie, und die Richtung nach welcher er Hand und Fuß, zur Errichtung des gesellschaftlichen Endzwecks, bewegt, läßt er sich freiwillig durch die Gedanken eines andern vorschreiben – Denn er hat diese Gedanken eines andern gleichsam zu seinen eigenen Gedanken gewählt.“34 Nun ist jedoch die Frage zu stellen, wie es möglich sein kann, daß die Wesensnatur des Menschen als eine von Freiheit untergriffene bestimmt ist. Denn es kann schlechterdings nicht die ‚Aussicht auf ein Scheitern‘ sein, welche seiner Freiheit Grund gibt; und es kann nicht die ‚Möglichkeit des Irrtums‘ sein, auf die er seine Autonomie gründet. Denn wenn der Mensch in Wahrheit Herr seiner eigenen Autonomie zu sein begehrt (auch wenn er diese Autonomie in eigentlicher Weise nur jenseits seines Alltagsgeschäfts in jener „Art eines höheren Daseins“ finden kann), dann muß sich eben diese Autonomie als der Grund seiner Freiheit aufweisen lassen. Nur wenn die behauptete Autonomie sich als eine auch begründete erweist, tönt in seinen Handlungen, vor allem aber in seinen politischen Handlungen, wahre Freiheit wider. Es sind aber gerade die Handlungen des Menschen, die sich auf Grund ihrer inneren Wesensverfaßtheit und ihrer äußeren Natur, d.h. hinsichtlich ihrer Beweggründe und hinsichtlich ihres angestrebten Ausgangs, einem Urteil erschließen. Das heißt: Handlungen stehen immer schon innerhalb eines kategorialen Bestimmungsgeflechts, und sind daher als ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Handlungen bestimmbar, als ‚edle‘ oder ‚unedle‘, als ‚nützliche‘ oder ‚unnütze‘.35 Lassen wir die für den Fortgang unserer Überlegungen unerhebliche Erörterung des Begriffspaars ‚nützlich‘ und ‚unnütz‘ außer Betracht, und ebenso die Frage, was eine Handlung zu einer ‚schlechten‘ macht oder zu einer
320 ‚unedlen‘; und stellen stattdessen die Frage, wie sich eine ‚edle Handlung‘ von einer ‚guten‘ unterscheidet (und wie sich die beiden Begriffe des ‚Edlen‘ und des ‚Guten‘ in das Systemgefüge ordnen, dem auch und gerade jener Begriff angehört, dem wir zuvörderst unsere Aufmerksamkeit gewidmet haben), so werden wir dem Problem der Freiheit und dem der Autonomie, aber auch jenem von Künstler und Mensch unschwer auf die Spur kommen: Im bisherigen Verlauf der Untersuchung schien es, als ob sich das Individuum seiner Wesensnatur nur durch eine zumal künstlerische Introspektion habhaft werden könnte; als würde sich allein der Künstler als fähig erweisen, sich seines Menschseins überhaupt bewußt zu werden; als sei der Künstler die wahre „Krone“36 der Natur und „ihres Werks“37, ausgezeichnet mit einer Gabe, die ihn von jedwedem Anderen unterscheidet und ihn in besonderer Weise befähigt. Dieses Talent jedoch, wiewohl es ihn vor allen anderen auszeichnet, ist ein ästhetisches Vermögen – welches ihn befähigt, „die große Natur im Kleinen [nachzuahmen]; bestrebt […], durch die Kunst ihre Schönheiten im verjüngten Maßstabe darzustellen“38. Dieses ästhetische Vermögen sagt aber zunächst nichts aus über seine ethische Kraft und seine ethische Einsicht – welche ihm beide wie jedem anderen Individuum zukommen. Denn während ihm jenes ästhetische Vermögen qua Person zukommt, eignet ihm ethische Einsicht qua Mensch. Seine künstlerische Gabe ist eine partikulare Fertigkeit, sein ethisches Einsichtsvermögen eine allgemeine Fähigkeit. Jenes ‚höhere Dasein‘, zu dem sich der Künstler im Akt der Reflexion des noch zu gestaltenden Kunstwerks hinbewegt, ist – recht verstanden – keines, welches sich nur dem tätigen Gestaltungsakt darböte; jenes ‚höhere Dasein‘ steht am Ausgang eines Reflexionsakts, mithin eines intellektuellen Tuns, und ist daher – da der Mensch ausnahmslos mit dem Vermögen des Geistes ausgezeichnet ist – universaler Natur. Dieses ‚höhere Dasein‘ ist mithin nicht zu verstehen als ästhetische Überhöhung einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit; es ist im Gegenteil
321 der Ort, an dem sich jene zunächst nur postulierte Autonomie des Menschen als die Autonomie seiner ethischen Wesensnatur herausstellt. Mithin ist es nicht der Begriff des Kunstschönen selbst, der sich in jenem ‚höheren Dasein, bzw. in der Reflexion des Menschen auf das Kunstwerk zeigt; vielmehr sind es die Begriffe des Guten und des Edlen, derer der Mensch qua Person auf dem Weg über eine ästhetische Betrachtung im Moment der ästhetischen Reflexion ansichtig wird. Moritz erklärt, daß der ‚Begriff des Schönen‘, der vom Menschen nicht unmittelbar gewußt39 wird, nur über die Reflexion der beiden Begriffe des ‚Edlen‘ und des ‚Guten‘ einsehbar sei, über jene beiden Begriffe also, die „wir haben“.40 Das ‚Schöne‘ decke sich gerade dort mit dem ‚Edlen‘, wo sich eine edle „Handlung“41 unserer „Betrachtung“42 erschließt: „Betrachten wir [nämlich eine] Handlung nach ihrer Oberfläche, von der sie einen sanften Schein in unsre Seele wirft, oder nach der angenehmen Empfindung, die ihre blosse Betrachtung in uns weckt; so nennen wir sie eine schöne Handlung: wollen wir aber ihren innern Werth ausdrücken, so nennen wir sie edel.“43 Wenn es aber richtig ist, daß jenes ‚höhere Dasein‘ ein bloß ästhetisches Empfinden übersteigt, nämlich hin zu einer zutiefst ethischen Einsicht, dann mündet die anfänglich ästhetische Betrachtung des Kunstwerks in einen Akt ethischen Wissens. Das heißt: Was seinen Ausgang in einer sinnlichen Betrachtung nahm, ja nehmen mußte, kommt in einer Tätigkeit des Geistes zu stehen. Da dem Menschen jedoch das Wissen um die Begriffe des ‚Edlen‘ und des ‚Guten‘ zukommt, freilich nicht in einem immer schon getätigten Akt, sondern in einem Reflexionsgang, der immer wieder aufs neue zu gehen ist; so ist dieses Wissen immer schon prinzipielles Wissen, bzw. Wissen um Prinzipien. Als Prinzipien jedoch untergreifen ‚das Edle‘ und ‚das Gute‘ immer schon jedwede Handlung, ordnen und bestimmen sie. Als ethische Prinzipienbegriffe sind die Begriffe des Guten und Edlen Bestimmungsgrund von Vortrefflichkeit und Größe
322 einer Handlung und zugleich Bestimmungsgrund ihres Werdens. Moritz erklärt, daß eine Handlung nämlich dann eine ‚gute Handlung‘ ist, wenn sie „nicht allein um ihrer Folgen, sondern zugleich um ihrer Beweggründe willen, unsere Aufmerksamkeit [erregt]“44. Eine ‚edle Tat‘ andererseits „scheinet uns allein schon um ihrer Beweggründe, das ist, um ihrer selbst willen, unsrer Bewundrung werth“45. Damit aber können wir nun sagen, daß das Gute und das Edle als ethische Begriffe den gesellschaftlichen Zusammenhang transzendieren – und konstituieren. Das ‚Edle‘, das unserer Bewunderung und unserer Achtung wert ist, allein deshalb, weil es edel ist, hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, an Hand dessen sie sich selbst zu beurteilen und zu richten vermag. Das ‚Gute‘, das seine Bestimmtheit sowohl aus dem Handlungsmotiv als auch aus dem Handlungszweck erfährt, übt gerade durch die ihm einwohnende Zielgerichtetheit Einfluß aus auf das Werden der Gesellschaft: Als gute Tat verändert jede Handlung das gesellschaftliche Umfeld und konstituiert es dadurch jeweils aufs neue. Während mithin das ‚Edle‘ als das transzendente Kriterion des Vortrefflichen und des Großen bestimmt ist, an Hand dessen jedwedes (moralische und auch andere) Urteil gefällt wird, formt und bestimmt das ‚Gute‘, dem auf Grund seiner Zielgerichtetheit ein Moment des Übergangs und des Werdens innewohnt, die Gesellschaft. Wenn es aber richtig ist, daß die Begriffe des ‚Guten‘ und ‚Edlen‘ Prinzipienbegriffe sind, d.h. allgemeiner Wesensnatur, dann leitet das Wissen des Guten und Edlen zugleich das je besondere Verstehen des politisch Guten und politisch Edlen und gibt ihm seine je besondere Bestimmtheit. Und: Wenn die Prinzipienbegriffe des ‚Edlen‘ und ‚Guten‘ auch politische Handlungen bestimmbar machen, dann geben sie auch denjenigen Begriffen Grund und Bestimmung, die die Wesensnatur des Menschen von allem Anfang sichern: Autonomie und Freiheit. Freilich: Können wir mit Recht behaupten, daß das Gute und Edle Autonomie und Freiheit des Menschen in Wahrheit begründen? Schließt des Menschen Erkenntnis der inneren Struktur des
323 Guten und des Edlen, schließt dieses ‚Haben‘ auch ein den zureichenden Grund seiner eigenen Souveränität? Was, wenn dieser Anspruch auf Autonomie sich als bloße Anmaßung herausstellte, und damit das Gute und Edle in keiner Weise als das Prinzip der Selbst-Begründung und der Selbst-Bestimmung des Individuums zureichten? Denn noch müssen sich das Gute und Edle als an ihrem Grunde allgemein beweisen, andernfalls das gesamte Systemgebäude, das in Autonomie und Freiheit des Menschen seinen Kulminationspunkt hat, in sich zusammenstürzen müßte. Mithin dürfen das Gute und Edle also nicht nur als ‚universales Prinzip‘ behauptet werden (d.h. als dem raum-zeitlichen Kontinuum überhoben), sondern sie müssen in der Lage sein, sich innerhalb dieses Kontinuums zu manifestieren, d.h. innerhalb dieses Kontinuums und auf es zu wirken. Nur wenn das Gute und Edle sich innerhalb des Kontinuums als das Kriterium dessen erweisen, was als das Gute und das Edle bezeichnet wird (also Prinzip eines als ‚gut‘ und ‚edel‘ Erschei-nenden) und zugleich als Prinzip des Werdens von etwas, kann auch der Mensch, der sich eins weiß mit dem Guten und Edlen, mit Recht von sich behaupten, zwar innerhalb des raum-zeitlichen Kontinuums stehen zu müssen (und damit dessen Bedingungen zu unterstehen), jedoch auch wahrhaft eins zu sein mit jenem allgemeinen Prinzip, kann er mit Recht Anspruch erheben darauf, am Schnittpunkt von Prozeß und Transzendenz zu stehen. Nun sehen wir, daß der Mensch in der Tat derjenige ist, der im Besitz von Autonomie ist – sein Anspruch darauf ist weder Anmaßung noch Einbildung. Die ‚Schönheit seiner inneren Seele‘ ist seine eigene: Er versteht sich als die gute und edle Person, sowohl als Möglichkeit als auch als Wirklichkeit. Im Besitz zu sein des Wissens von ‚Gutem‘ und ‚Edlem‘ ermöglicht es ihm, in den Verlauf der Zeit selbst einzugreifen: Seine guten Handlungen geben der sich entwickelnden Gesellschaft Grund und Begründung.46 Und es ist der ‚Geist‘, der das Ganze der menschlichen Natur informiert und durchdringt, und daher den Autonomieanspruch des Menschen substantiiert und begründet. Der
324 ‚Geist‘ schließt in sich und steigt hinaus über all jene Vermögen, mit denen die einzelnen Individuen je nach ihrer eigenen, endlichen Wesensnatur begabt sind. ‚Geist‘ ist ein dem Wesen des Menschen zugehöriges und damit allgemeines Vermögen, das sich in je anderen und besonderen Graden aktualisiert und manifestiert. ‚Geist‘ umschließt nicht nur all jene besonderen, sondern auch jene Fähigkeiten, an denen alle Menschen ohne Unterschied teilhaben: ‚Geist‘ ist nicht nur rationales Vermögen, sondern zugleich Sinnesvermögen. Damit aber gründet ‚Geist‘ jedwedes Vermögen, das je unterschiedlich und ungleich unter den Menschen verteilt ist. ‚Geist‘ dient aber nicht nur der Substantiierung und der Gründung der unterschiedenen und doch: gleichermaßen begabten Person, sondern auch als Begründung seiner Würde, die – nun nicht mehr bloße Behauptung, sondern wahres Wesensmoment – den Menschen in den Stand setzt, für sich Achtung erwarten zu können und daher auch fordern zu dürfen. Als der Urgrund der Wesensnatur des Menschen bestimmt der ‚Geist‘ die Person zugleich, nichts anderes zu sein als ein Zweck an sich. Unterbrechen wir den Gedankengang ein letztes Mal und überlegen nochmals die ästhetische Frage. Denn wenn es in der Tat so wäre, daß der Mensch als Mensch allein auf Grund seiner Erkenntnisvermögen, d.h. der rationalen und der sinnlichen Erkenntnis, als den Bestimmungsmomenten von ‚Geist‘ verstanden wird, und daß das Wesen seiner Humanität definiert werden kann als die Einheit, Möglichkeit und Tätigkeit dieser Wesensmomente, dann müssen die vereinten Vermögensmomente rationaler und sinnlicher Anschauung als Subjekte ihres eigenen Handelns imstande sein, sich einen Gegenstand ihrer bewundernden Anschauung zu wählen. Dieser Gegenstand ihrer Bewunderung, dieses Erkenntnisobjekt müßte in seinem Wesen ein Eines sein, ebenso wie die beiden Erkenntnisvermögen es sind. Der in Frage stehende Gegenstand, der sich auslegt als der Komplementärbegriff des Erkenntnisakts, ist jedoch das Kunstwerk. Wenn wir Moritz folgen und zusammen mit ihm das Kunst-
325 werk als die Erscheinung des Begriffs des Kunstschönen bestimmen, dann dürfen wir sagen, daß die Idee (das heißt: das Schöne selbst) sich nur dem Vermögen erschließt, das für eine solche Art der Erkenntnis sich eignet. Dies aber ist die Vernunft. Die Erscheinung der Idee allerdings, das heißt: die Tatsache Kunstwerk, erschließt sich dem Auge. Auf Grund seiner Wesensverfaßtheit überschreitet das Kunstschöne jedoch die Ebene der Tatsachen. Es ist daher seiner eigenen Manifestation überlegen – und kann dennoch nicht ohne die Unmittelbarkeit des Kunstwerks gewußt werden. Da dem Kunstschönen selbst aber jene Unmittelbarkeit mangelt, so wie sie sich im Kunstwerk zeigt, ist es nicht möglich, die Idee des Kunstschönen auf unmittelbare Weise zu wissen (darin ist die Idee des Kunstschönen also der Idee des Guten und der des Edlen, die unmittelbar gewußt sind, unähnlich). Die fehlende Unmittelbarkeit bedingt nun unser nie zu einem Ende zu bringendes Suchen nach der Erkenntnis des Kunstschönen. Und doch: Die Idee des Kunstschönen ist nicht ‚Gegenstand‘ (oder ‚Objekt‘) der Erkenntnis. Obwohl das Kunstschöne danach drängt, erkannt zu werden, verliert es im Zuge des Erkenntnisakts nie seinen Status als Subjekt des Erkennens. Denn es ist die Idee des Schönen selbst, die dem Akt der Erkenntnis den Anstoß gibt und ihn erhält. Idee und Erkennen bedingen sich gegenseitig. Das Kunstschöne genießt den Augenblick, in dem es sich dem Auge des Betrachters entdeckt. Der Betrachter erfreut sich jenes ‚höheren Daseins‘ in dem Augenblick, während dessen er die Idee des Schönen reflektiert. Allerdings: Wenn das Schöne je erkannt werden will, muß es erkennbar sein und sich auch dem Erkennen öffnen. Und es tut dies durch das Kunstwerk. Die Idee des Schönen jedoch hat eine einheitliche Gestalt und muß sich deshalb auch als eine einheitliche zeigen. Da das Schöne sich nun im Kunstwerk zeigt, zeigt sich auch das Kunstwerk als jenes Eine, welches vom Schönen durchflossen ist. Deshalb muß auch das Vermögen, das sich als kompetent erweisen will, jene faktische Gestalt des Einen zu rezipieren, von derselben Wesensnatur sein wie die Idee
326 des Schönen und jenes ihr angemessene Kunstwerk: Es muß dieses Eine als ein einheitlich-ganzheitliches denken können, trotz der faktischen Bedingungen, unter denen es diesen Akt der Annäherung an die Erkenntnis des Schönen und des Erkennens des Kunstwerks zu leisten hat. Diese Bedingungen sind aber die des transitorischen und dissoziativen Aneignens eines Außen. Nur wenn das Auge als das Zentrum der sinnlichen Erfahrung die Wesensnatur von Schönem und Kunstwerk zu spiegeln vermag, ist es jener Kraft Herr, die notwendig ist, das Ganze des Kunstwerks und – auf dem Weg einer intellektuellen Annäherung – das Ganze der Schönheitsidee zu ergreifen. Das Kunstwerk allerdings widersteht in der Tat dem Vergehen der Zeit. „Die Folge der Dinge wäre also bloß ein Verhältnis gegen uns, und eigentlich nichts Wirkliches.“47 Das Kunstwerk ist dem Gang der Zeit gegenüber gleichgültig, d.h. es ist etwas, innerhalb dessen es kein ‚früher‘ und ‚später‘ gibt, ein Etwas, dessen Gegenwart unmittelbar ist; deshalb vermag es die Abwesenheit von Verknüpfungen der äußeren Welt zu ihm darzulegen; und es vermag zu guter Letzt den Anspruch, ein Zweck an sich zu sein, zu illustrieren und zu begründen. Das Auge, das sich dem Kunstwerk zuwendet, betrachtet und mustert das Kunstwerk ‚in Ruhe‘.48 Das Auge streift nicht über das Kunstwerk, um in jedem Augenblick von einem anderen Teil gefesselt zu werden: Es unterteilt das Kunstwerk nicht in Bruchstücke – denn das hieße, ihm seine Wesenseinheit zu nehmen. Stattdessen betrachtet das Auge das Kunstwerk als Ganzes, als ein Eines. So wie das Kunstwerk frei ist von den Bedingungen der Zeit, ist auch das Auge von der Notwendigkeit befreit, eine Abstufung des Wichtigen innerhalb des Kunstwerks ausmachen zu wollen.49 Und: Ebenso wie die Vernunft die Idee des Schönen denkt, ergötzt sich das Auge an der ästhetischen Struktur des Kunstwerks, in dem sich und durch das sich diejenige Harmonie zeigt, von der die Idee des Schönen selbst durchdrungen ist. Vernunfterkenntnis und sinnliche Erkenntnis, mithin ‚Geist‘, sind aber nicht nur die Grundlagen der ästhetischen Kraft des
327 Menschen, sondern auch seiner gesellschaftlichen Würde: Denn so wie das Kunstwerk die Erscheinung einer Idee ist, so ist dies auch ‚die Gesellschaft‘ – und dies in recht eigentlichem Sinne. Das Kunstwerk findet sein Ziel innerhalb seiner eigenen Grenze – denn es ist ein ‚in sich Vollendetes‘; und auch die Gesellschaft hat ihr Ziel innerhalb ihrer selbst. Und ebenso wie es keine Hierarchie der inneren Momente des Kunstwerks geben kann, darf es innerhalb der Gesellschaft keine Rangordnung nach Wichtigkeit oder Trivialität geben. ‚Geist‘ ist jene Eigenschaft, die den Menschen dazu ermächtigt, sich von jeder sozialen oder politischen Stufung frei zu wissen: „Das kann man aber durch den tröstenden Gedanken, daß es keinen Stand in der Welt giebt, der Menschen die Macht rauben könnte, die wahren Vorzüge seines Geistes zu empfinden, über die Verhältnisse der Dinge und ihren Zusammenhang Betrachtungen anzustellen, und sich mit einem einzigen Schwunge seiner Denkkraft über alles das hinwegzusetzen, was ihn hienieden einengt, quält und drückt.“50 Indem der Mensch sich der Kraft seines ‚Geistes‘ bedient, und sich dabei seines eigentlichen Wesens gewahr wird und sich als ein Ganzes gegenübertritt, ähnelt er wiederum dem Künstler: Der Künstler ahmt der Natur nach und macht sich dabei ihre kreative Kraft dienstbar. Kraft dieser Aneignung übertrifft der Künstler die Möglichkeiten der Natur. Denn er vollendet sie, indem er das aus sich hervorbringt, was nicht zu ihrem ursprünglichen Plan gehörte: „Der schöpferische Geist des [Künstlers] ahmt die große Natur im Kleinen nach; bestrebt sich, durch die Kunst ihre Schönheiten im verjüngten Maßstabe darzustellen.“51 Der Mensch ist aufgerufen, die Natur in ihrer Struktur zu verstehen und allererst zu begründen, d.h. ihr selbst das Maß an die Hand zu geben, nach welchem sie sich zu verstehen vermag: „Alles, was sie hervorbringt, erreicht erst dann den höchsten Gipfel seiner Vollkommenheit, wenn es sich irgend einem menschlichen Geiste darstellt, der im Stande ist, diese Vollkommenheit zu begreifen.“52 Während sich der Künstler der eigentlichen Natur nähert, um ein ‚in sich vollendetes Ganzes‘ zu gestalten, und sich
328 dabei seiner inneren Freiheit gewiß wird, bemächtigt sich der Mensch Zug um Zug seiner äußeren Freiheit oder Autonomie, während er die Natur als ein nicht-hierarchisch geordnetes Ganzes begreift: „Das Einzige wahre in sich Vollendete, ist nur die ganze Natur als ein Werk des Schöpfers, der allein mit seinem Blick das Ganze umfaßt, und den Zweck dieses großen Gegenstandes in ihn selbst zurückwälzt. In so fern also hier Zweck und Mittel zusammengedrängt eins ausmachen, stellt sich das allerhöchste Schöne nur dem Auge Gottes dar.“53 Und obwohl sich dem ‚Geist‘ nichts auf eine nicht-temporale und unmittelbare Weise zeigt, ist ‚Geist‘ das wesentliche Merkmal, das den Menschen zu einem einheitlichen Verständnis der Ganzheit der Natur zu führen vermag. In dem Augenblick, da der Mensch sich seines Verstehens gewiß ist, erschließt sich ihm Natur als eine Unmittelbarkeit, d.h. als ein Ganzes. ‚Geist‘ ist diejenige Kraft, welche die Wesensnatur des Menschen als eine ‚in sich vollendete‘ ausweist und begründet, und ihm damit das Recht zuspricht, sich seiner Autonomie und Freiheit zu bemächtigen. Sich seiner eigenen Autonomie zu bemächtigen, heißt jedoch, sich von allen hierarchischen Klassifikationen zu befreien, heißt, sich einer ‚Individualität‘ zu entledigen, die bestimmt ist durch und zurückführbar auf gesellschaftliche Strukturen; heißt, die Gesellschaft selbst zu übersteigen hin zu jener ‚Art eines höheren Daseins‘, wo es keinen Raum gibt für die unterdrückte Individualität. Dort, über und jenseits der Gesellschaft, gewinnt der Mensch seine eigentliche Individualität zurück, indem er sich seiner selbst als einer Person gewiß wird, die ein ‚in sich selbst Vollendetes‘ ist: Er ist nicht länger gezwungen, sich in der Distanz zu sich selbst zu suchen, welche Distanz nichts anderes bedeutet, als den Zielen und Zwecken eines anderen unterlegen und ausgeliefert zu sein. Denn, wenn „uns die Dinge in der Welt [nur] aufeinander zu folgen scheinen“54, dann kann die Einheit ihres Zusammenhangs nicht länger als ‚linear‘ oder ‚kausal‘ bestimmt werden: Keine der ‚weltseitigen Tatsachen‘ (und mithin: auch keine Person) darf daher als einer anderen unterworfen
329 gelten oder als Zweck zu einem ihr selbst äußerlichen Ziel. Da „die Dinge in der Welt [nur] aufeinander zu folgen scheinen“55, und doch nicht aufeinander folgen, so beanspruchen sie mit Recht ihre je eigene, nur ihnen zukommende Würde: Ein jedes dieser ‚Dinge in der Welt‘ ist daher als Zentrum des großen Ganzen der Natur zu nehmen, die sie umgibt, und die sie spiegelt; durch jedes einzelne dieser ‚Dinge in der Welt‘ versichert sich das große Ganze seiner eigenen Bedeutung, und es ist durch sie allein, daß das große Ganze allererst eine Einheit wird. In jeder ‚weltseitigen Tatsache‘ und in jeder Person findet das große Ganze seine unmittelbare Gegenwart, und findet in dieser Gegenwart seine Aktualität und Wirklichkeit. Der Mensch jedoch vermag es nicht, das große Ganze (sei es jenes der Natur oder der Gesellschaft) als ein Ganzes zu überschauen oder es als solches unmittelbar zu verstehen. Den Kräften einer zeitlich-linearen Progression unterworfen, sieht er sich genötigt, sich den in Wahrheit nicht-linearen Momenten von Natur und Gesellschaft in indirekter Weise zu nähern. Bevor er sich also des wunderbaren Könnens, Natur und Wirklichkeit zu wissen, sicher sein kann, muß er sich erst seiner selbst als eines wahren Seins gewiß werden. Dies allerdings tut er exemplarisch auf dem Weg über die Hervorbringung und Prüfung eines Kunstwerks. Denn es ist gerade hier, daß er sich als derjenige erkennt, der er ist: Obwohl er Teil der Kontinua von Gesellschaft und Natur ist, und damit diese Kontinua durch seine Teilnahme gründet, ist er das autonome Individuum, das dem Gesamt der Gesellschaft ebenso dient, wie dieses Gesamt der Gesellschaft ihm zu dienen hat. Und es ist hier, daß er Gesellschaft und Natur spiegelt und – versteht. Subjekt seiner ihm eigenen Autonomie fungiert der Mensch nicht länger als Teil eines größeren Ganzen und dient nicht Zwecken, die nicht seine eigenen sind. Nur so lange als er seiner eigenen Freiheit und Autonomie uneingedenk ist, und deshalb nicht in der Lage, sich als ein Ganzes zu begreifen, findet er sich in Ketten der Willkür, Intoleranz und Unterdrückung. Um sich
330 von diesem Elend zu befreien, muß „der Mensch [wieder] lernen, daß er um sein selbst willen da ist. […] Der einzelne Mensch muß schlechterdings niemals als ein bloß nützliches sondern zugleich als ein edles Wesen betrachtet werden, das seinen eigenthümlichen Werth in sich selbst hat, wenn auch das ganze Gebäude der Staatsverfassung, wovon er ein Theil ist, um ihn her wegfiele. Der Staat kann eine Weile seine Arme, seine Hände brauchen, daß sie wie ein untergeordnetes Rad in diese Maschine eingreifen – aber der Geist des Menschen kann durch nichts untergeordnet werden, er ist ein in sich selbst vollendetes Ganzes.“56 – Anmerkungen 1 Alle Texte, auf die ich mich im folgenden beziehe, finden sich in: Karl Philipp Moritz. Schriften zur Asthetik und Poetik, hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, Tübingen: Max Niemeyer 1962. Ich zitiere sie nach dem Ort, an dem sie bei Schrimpf aufgefunden werden, und bediene mich dabei sowohl des üblichen Kürzels für Schrimpf (SAP) und der jeweiligen Kurzform von Moritz’ Titelwahl, z.B.: „Versuch“, SAP 4. Diese Kurztitel führe ich unten auf. Alle Hervorhebungen sind bis auf wenige, die besonders gekennzeichnet sind, von Moritz selbst gesetzt. „Edelste“ Das Edelste in der Natur „Einfachheit“ Einfachheit und Klarheit „Einheit“ Einheit – Mehrheit – Menschliche Kraft „Gegenwart“ Gegenwart und Vergangenheit. Sonderbare Zweifel und Trostgründe eines hypochondrischen Metaphysikers „Grundlinien“ Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der Künste „Nachahmung“ Über die bildende Nachahmung des Schönen „Schönheitslinie“ Die metaphysische Schönheitslinie „Signatur“ Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können „Versuch“ Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten „Zweck“ Der letzte Zweck des menschlichen Denkens 2 „Versuch“, SAP 4. 3 „Versuch“, SAP 4.
331 „Versuch“, SAP 4. Für Karl Philipp Moritz ist das Kunstwerk von jedwedem anderen, Sache Gewordenen, seinem Wesen nach verschieden. Obwohl das Kunstwerk am Gesamt der Wirklichkeit teilhat und sie als deren Teil konstituiert, ist es nicht ein Ding unter vielen, da es sich als Gewordenes auf Grund seines (von Moritz so bestimmten) intransitiven Charakters der Vereinnahmung durch die dynamische und immer vorwärts schreitende Wirklichkeit sperrt. Während jeder andere konstitutionelle Teil der Wirklichkeit sich unmittelbar auf diese Wirklichkeit bezieht (und sie damit auch prägt), entzieht sich das Kunstwerk dem Beziehungsgeflecht von Wirklichkeit. Es ist, wie Moritz erklärt, dem Zusammenhang von Wirklichkeit weder nützlich, noch dient es den allgemeinen Zielen dieses Zusammenhangs oder den partikularen Zwecken des unmittelbaren Kontexts. Moritz beschreibt das Kunstwerk als seinem Wesen nach einheitlich-ganzheitlich, das als ein (bereits immer schon) „in sich Vollendetes“ außerhalb des Wirklichkeitszusammenhangs zu stehen kommt, und damit diesen weder prägt noch auch von ihm geprägt wird. Als ein „in sich Vollendetes“ verfolgt das Kunstwerk kein Ziel, das außerhalb seiner selbst läge – das Verfolgen eines Zieles nämlich bedeutete nichts anderes als das Verlustiggehen des eigenen Vollendetseins. Das Kunstwerk ist keineswegs ein nur flüchtiger (und damit beliebiger) Augenblick innerhalb des Verlaufs eines größeren Kontexts – denn da das Kunstwerk keinen Zweck verfolgt, der ihm äußerlich ist; da es also nicht Mittel ist auf einen größeren, ihm äußerlichen Zweck hin, geht der Verlauf der Wirklichkeit weder durch es hindurch, noch schreitet er über es hinweg: Weder vermag es die Wirklichkeit, dem Kunstwerk auf Grund ihres eigenen Zusammenhanggeflechts Gestalt zu verleihen, noch vermag sie es, das Kunstwerk augenblicklich vergessen zu machen. Das Kunstwerk als „in sich Vollendetes“ muß sich nicht, als Vergessenes, immer erst wieder in Erinnerung bringen, sondern „es ist“ d.h. es ist von allem Anfang an ein immer schon Gewußtes und nie Vergessenes. Das Kunstwerk ist insofern ein „in sich Vollendetes“, als „es ist“; und insofern als es außerhalb des Wirklichkeitszusammenhangs zu stehen kommt, der sich einerseits als dynamischer Prozeß und andererseits als ein Geflecht gegenseitiger Relationen und Abhängigkeiten erweist. Da Kunstwerke keine Gegenstände des (all)täglichen Gebrauchs sind, kann der Mensch – als im Zentrum des Wirklichkeitszusammenhangs stehender – „ohne die Betrachtung schöner Kunstwerke bestehen“. Während Messer und Uhr dem „[Über-]Leben“ und seiner „Bequemlichkeit“ dienen, weist die Wirklichkeitsexistenz Kunstwerk auf jenes hin, das den Zusammenhang von Zeit und Ort übersteigt und transzendiert: nämlich auf die Dimension des ideellen Seins. Das Kunstwerk als das „in sich Vollendete“ legt sich aus als ein intransitives und autonomes Eines. Als dem „in sich Vollendeten“ aber kann es dem Kunstwerk in beispielhafter Weise gelingen, die Perfektibilität auch und gerade politischer und sozialer Angelegenheiten zu illustrieren: Denn, dies zeigt Moritz eindringlich, auch wenn der Mensch aufgerufen ist, sich aktiv an den Vorgängen und dem Fortschreiten der Gesellschaft zu beteiligen, so ist sein Entschluß, sich dem ge4 5
332 sellschaftlichen Werden und dem politischen Geschehen nicht zu entziehen, ein freiwilliger Akt. Diese Freiwilligkeit der Entscheidung aber, die sich auslegt als eine nicht-erzwungene Teilnahme am politischen Leben, liegt in der Autonomie des Individuums begründet, in ihr erhält sich das Individuum Freiheit und Würde. 6 „Versuch“, SAP 4. 7 „Versuch“, SAP 4. 8 „Versuch“, SAP 4. 9 „Versuch“, SAP 5. 10 „Versuch“, SAP 5. 11 „Versuch“, SAP 5. 12 „Versuch“, SAP 5. 13 In jenem Akt des „süßen Staunens“ und des „Vergessens unserer selbst“ erfährt sich daher sowohl der Betrachter als seiner empirischen Alltäglichkeit enthoben als auch das Kunstwerk als seiner empirischen Verfangenheit und Relationalität entledigt. In diesem Akt, in dem Betrachter, Betrachtetes und Betrachten eins sind, entfaltet sich im Nu des transzendenten Augenblicks die Idee des Menschen – als eines „höheren Daseins“ – und die Idee des Schönen – als eines „reinen Vergnügens“. 14 ‚Die Idee des Schönen‘ hat sich also als Existenz herausgestellt, identisch mit dem Kunstwerk, in dem sie sich manifestiert. Ihrer beider Einssein gründet in dem Umstand, daß weder das ‚Schöne‘ noch das Kunstwerk als Teil des jeweils anderen angesehen werden können. Denn als Teile des jeweils anderen hätten sie, im Vergleich zu diesem Anderen, nur geringere Bedeutung; denn jenes andere wäre das ‚größere Ganze‘. Als Teile würden sie einem Ziel dienen, das ihnen äußerlich, wenn nicht gar fremd wäre; und: als Teil müßten sie ihre eigene Vervollständigung erst noch suchen und könnten sie nur in einem Etwas finden, das jenseits ihres eigenen Wesens läge. Zugleich würde dasjenige, das zunächst noch als das ‚größere Ganze‘ zu gelten vorgäbe, sich letztendlich als ebenso insignifikant herausstellen wie jenes, welches es als sein Teil einschließt. Denn es wäre ohne dieses Teil in seiner Vollständigkeit beeinträchtigt und es bedürfte in recht eigentlicher Weise dieses Teils, um seine eigene Vollständigkeit allererst sicherzustellen. Als ‚Ganzes‘ nämlich bedarf es seiner Teile; und sollte nur einer dieser Teile fehlen, so wäre es nicht länger dasselbe ‚Ganze‘, sondern ein anderes. 15 Es scheint an dieser Stelle nicht unangebracht, die grundlegenden Begrifflichkeiten von Moritz’ ästhetischer Theorie kurz vorzustellen: Moritz unterscheidet zwischen ‚Tatkraft‘, ‚Erscheinung‘, ‚Bildungskraft‘, ‚Empfindungskraft‘, ‚Einbildungskraft‘, und ‚Denkkraft‘. ‚Tatkraft‘ ist dasjenige Moment, das das Ganze der Natur durchgreift; sie stößt alle Prozesse in der Natur, aber auch alle menschlichen Prozesse an und erhält sie. Obwohl die ‚Tatkraft‘ ihrem Wesen nach abstrakt ist, führt ihr Wirken immer zu einer Konkretion. Im kreativen Akt des Künstlers beispielsweise ist dieses Konkret-Werden von allem Anfang an in der Intention des Künstlers, aber auch in seiner Freiheit und in seiner Urteilskraft grundgelegt. In allen natürlichen
333 Prozessen jedoch scheint die ‚Erscheinung‘, in der sich die ‚Tatkraft‘ konkretisiert zufällig. Allerdings ist auch der Gestaltungswille der Natur nicht von Zufälligkeit durchgriffen, denn jedwede Konkretion ist Teil, d.h. gewollter Teil ihres „großen Plans“ und daher zweckvoll innerhalb ihrer eigenen, von ihr selbst gesetzten Grenzen. Die Konkretion, in die ‚Tatkraft‘ mündet, nennt Moritz ‚Erscheinung‘. Sie ist jedoch nicht ein Phänomen im allgemeinen Verstand, sie ist nicht ein Ding oder eine Tatsache. Eine ‚Erscheinung‘ tut nichts weiter als dem Prozeß der ‚Tatkraft‘ Ausdruck zu verleihen. Als solcher Ausdruck ist eine ‚Erscheinung‘ Qualifikation und Explikation des Tatkraftprozesses. ‚Bildungskraft‘, ‚Empfindungskraft‘ und ‚Einbildungskraft‘ sind Akzidentien der ‚Tatkraft‘. Sie nehmen ihren Anfang im Tun der ‚Tatkraft‘ und werden von ihr erhalten. In ihnen verändert sich die ‚Tatkraft‘ von einer formlosen Mächtigkeit zu einer gegliederten Bestimmtheit. In ihren drei Akzidentien erfährt die ‚Tatkraft‘ auch ihre ästhetische Bedeutung: Sowohl der Künstler als auch der Betrachter von Kunst haben Teil an der ‚Empfindungskraft‘; aber nur der Künstler vermag sich auch in der ‚Bildungskraft‘ und der ‚Einbildungskraft‘ zu üben. Der Begriff der ‚Bildungskraft‘ steht dabei in Beziehung zum tatsächlichen Prozeß der künstlerischen Kreativität, innerhalb derer sich der Künstler an die Stelle der Natur und ihr Bestreben setzt, ein harmonisches und einheitliches Ganzes hervorzubringen. Die ‚Einbildungskraft‘ andererseits meint des Künstlers Begabung, das fertige Kunstwerk vor seinem geistigen Auge zu haben und dessen Hervorbringung zu verfolgen. ‚Bildungskraft‘ und ‚Empfindungskraft‘ sind Vermögen der Vernunft. Sie führen und bestimmen das ästhetische Gestalten und die ästhetische Erfahrung. Während jedoch der Künstler am Vermögen der ‚Bildungskraft‘ teilhat, fehlt dem Kunstbetrachter dieses Vermögen. Er findet in sich nicht mehr als das bloß rezeptive Vermögen der ‚Empfindungskraft‘. Der Künstler, der zugleich begabt ist mit kreativem Vermögen und rezeptiver Anschauung, vermag sich auch der ‚Einbildungskraft‘ zu bedienen. Dieses Vermögen nun verbindet nicht nur die beiden anderen, ‚Bildungskraft‘ und ‚Empfindungskraft‘; es übersteigt sie auch: Denn dieses Vermögen ermächtigt den Künstler nicht nur, das Kunstwerk vor sich zu sehen, lange bevor es zu einer Wirklichkeit geworden ist; ‚Einbildungskraft‘ erlaubt es dem Künstler auch, sich das Ganze der Natur, ihrer Struktur und inneren Harmonie vorzustellen und zu reflektieren. Indem er sich der ‚Einbildungskraft‘ zuwendet, erkennt der Künstler die Analogizität von Natur als dem vollständigen Urbild von Sein und Wirklichkeit und seinem (zukünftigen) Kunstwerk als dem Abbild, der Spiegelung und der Erscheinung jener Vollständigkeit der Natur. Zwar nur Abbild ist das Kunstwerk dennoch ein Vollständiges, das in sich selbst ruht und frei ist von aller ihm äußerlichen Zweckgebundenheit. Der Begriff und die phänomenale Wirklichkeit des Kunstwerks hinwiederum haben als die ‚Erscheinung‘ der ursprünglichen ‚Tatkraft‘ zu gelten. Während sie an ihrem Grunde selbst unbestimmt sind, gewinnen ‚Tatkraft‘ und ‚Erscheinung‘ ihre (auch ästhetische) Bestimmtheit im Begriff und in der phänomenalen Wirklichkeit des Kunstwerks.
334 16 „Signatur“, SAP 100; vergleiche auch: „Nachahmung“, SAP 93: „Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist!“ 17 Die ‚Denkkraft‘ andererseits ist außerstande, diesen Erkenntnis- und Hervorbringungsakt selbst durchzuführen. Sie ist nämlich, obwohl selbst rationales Vermögen, in ihrer Macht einer nicht unwesentlichen Einschränkung unterworfen: Sie ist das Vermögen des Diskurses, der empirischen Beobachtung und des direkten und pragmatischen Urteils. Als solches reicht die ‚Denkkraft‘ zu, innerhalb der Grenzen des Alltäglichen zu fungieren. Sie ist allerdings nicht geeignet, die ästhetische, politische oder gar ontologische Autonomie des Menschen zu begründen oder auch nur zu postulieren. Das Vermögen der ‚Denkkraft‘ reicht zu, jedweden Teilnehmer am Diskurs des Alltäglichen mit dem Material auszustatten, das es ihm ermöglicht, eben dieses Alltägliche zu verstehen und sich am Geschehen des Lebens zu beteiligen; sie gibt dem Menschen jenes Talent an die Hand, mit dessen Hilfe er die elementare Struktur der Lebensprozesse zu entdecken und zu strukturieren vermag. Andererseits: Die ‚Empfindungskraft‘ ist ihrem Wesen nach ein rezeptiver Akt, die ‚Bildungskraft‘ legt sich aus als ein kreativer Akt, und die ‚Einbildungskraft‘ äußert sich als reflexiver Akt. Alle drei Vermögen jedoch betreffen den Menschen in seiner ganzen Natur, sein rationales Vermögen ebenso wie sein sinnliches. ‚Empfindungskraft‘, ‚Bildungskraft‘ und ‚Einbildungskraft‘ sind der Grund der Möglichkeit des Kunstschaffenden ebenso wie des Kunstbetrachters, sich über die Alltäglichkeit des eigenen Lebens zu erheben, bzw. überhaupt erheben zu können. Jedes einzelne dieser Vermögen ist zugleich unentbehrlich für den autonomen Akt des Hervorbringens eines Kunstwerks und seines Erkennens. Es sind ‚Empfindungskraft‘, ‚Bildungskraft‘ und ‚Einbildungskraft‘, die die Autonomie des Menschen gewährleisten und begründen. 18 „Zweck“, SAP 9. 19 „Edelste“, SAP 13. 20 ‚Geist‘ umfaßt das rationale Vermögen des Menschen und sein Sinnesvermögen gleichermaßen. In ihm finden sich die Wesensmerkmale von Vernunfterkenntnis und Sinneserkenntnis systematisch gefaßt und nach ihrem partikularen Vermögen geordnet. ‚Geist‘ ist jedoch nicht nur dasjenige, in dem rationale und sinnliche Erkenntnis ihren Anfang nehmen und sich ihres Grundes versichern; ‚Geist‘ ist zugleich dasjenige, in dem der Mensch sich seiner selbst als eines freien und autonomen Subjekts seiner selbst ansichtig wird. Weil aber ‚Geist‘ als Prinzip dasjenige Vermögen ist, in das sich der Mensch als Subjekt und als Person teilen, gewährleistet ‚Geist‘ auch und konstituiert des Menschen Würde – als Mensch ebenso wie als Person innerhalb eines politischen Kontexts. 21 „Edelste“, SAP 15 f. 22 „Zweck“, SAP 10 (meine Hervorhebung). 23 „Zweck“, SAP 10. 24 „Zweck“, SAP 10.
335 „Zweck“, SAP 11. „Zweck“, SAP 10. 27 „Zweck“, SAP 10. 28 „Zweck“, SAP 10. 29 „Nachahmung“, SAP 73 – Moritz’ Gedanke repräsentiert – wie es scheinen mag – nicht mehr als eine der vorherrschenden Nachahmungstheorien des späten 18. Jahrhunderts, wo das Kunstwerk allgemein als ein Mikrokosmos betrachtet wird, der das größere Ganze der Natur, den Makrokosmos, verdoppelt und darstellt. In diesen Theorien wird der Künstler als jener beschrieben, der, eingedenk der systematischen Struktur der Natur, die Rolle eines Handelnden übernimmt, dessen Kraft derjenigen des Schöpfers der Natur ähnlich ist und diese nachahmt. 30 „Edelste“, SAP 13. 31 „Edelste“, SAP 15. 32 „Edelste“, SAP 17: „Eins der größten Übel, woran das Menschengeschlecht krank liegt, ist die schädliche Absonderung desselben, wodurch es in zwei Theile zerfällt, von welchen man den einen, der sich erstaunliche Vorzüge vor dem anderen anmaßt, den gesitteten Theil nennt. Dieser Theil scheint sich für den Zweck der Schöpfung, und alle übrige Menschen für untergeordnete Wesen zu halten, die deswegen im Schweiß ihres Angesichts die Erde bauen, damit es Rechtsgelehrte, Staatsmänner, Priester, Künstler, Dichter und Geschichtsschreiber geben könne, von deren geistigen Beschäftigungen, und verfeinerten Vergnügungen, jene Bebauer des Feldes nicht einmal den Namen wissen […] So denkt man sich immer einen Theil von Menschen, als ob er bloß um des anderen willen da wäre […]. Die herrschende Idee des Nützlichen hat nach und nach das Edle und Schöne verdrängt.“ 33 „Edelste“, SAP 18. 34 „Einheit“, SAP 31. 35 „Nachahmung“, SAP 66 ff. 36 „Edelste“, SAP 15. 37 „Edelste“, SAP 15. 38 „Edelste“, SAP 14. 39 Zu Moritz’ Versuch, dem Schönheitsbegriff empirisch auf die Spur zu kommen und ihn in Besitz zu bringen, siehe meine Studie „Ob das ächte Schöne erkannt werden könne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz ästhetischer Theorie“; in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 14 (1988), S. 31-49. 40 „Nachahmung“, SAP 67. 41 „Nachahmung“, SAP 67. 42 „Nachahmung“, SAP 67. 43 „Nachahmung“, SAP 67. 44 „Nachahmung“, SAP 67. 45 „Nachahmung“, SAP 67. 46 Es scheint klar, daß dem Edlen der Vorrang vor dem Guten gebührt, auch wenn beide Konstitutionsmoment des einen und selben Prinzips sind: Denn während das Edle in sich selbst ruht, und damit kein Ziel jenseits seiner 25 26
336 selbst denkt, sucht (und findet) das Gute seine Erfüllung in einem anderen – obwohl es dieses andere allererst gründet. Und während das Gute sich in dem anderen erfüllt, gibt es diesem Grund. Und doch ist das Gute eines anderen bedürftig, um sich aus sich selbst hervorzubringen, um die eigene SelbstErfüllung zu erreichen. Als Seinsmomente des einen und selben Prinzips erfreuen sich beide einer einzigen Wesensnatur, wobei das eine, das Edle, in sich ruht und damit dem Wechsel die Ordnung gibt, und das andere, das Gute nämlich, diesen Wechsel auf den Weg bringt und ihn zuletzt substantiiert. 47 „Gegenwart“, SAP 58. 48 „Grundlinien“, SAP 121: „Ruhige Betrachtung der […] Kunst, als eines einzigen großen Ganzen.“ 49 „Gegenwart“, SAP 58: „Ist es wohl möglich, daß man sich das, was aufeinander folgt, als nebeneinander denken könne? Daß uns die Dinge in der Welt aufeinander zu folgen scheinen, ist das Resultat unsrer Unvollkommenheit. Weil wir uns nicht mehrere Dinge auf einmal vorstellen können, so müssen wir warten, bis das eine erst vorüber ist, ehe wir das andre betrachten können. Die Folge der Dinge wäre also bloß ein Verhältnis gegen uns, und eigentlich nichts Wirkliches.“ Vergleiche in diesem Zusammenhang auch: „Schönheitslinie“, SAP 153: „Dann sehen wir ein Ganzes, wo wir sonst nichts als abzweckende Theile erblicken.“ „Einfachheit“, SAP 148: „Jeder einzelne Zug in dem Gemählde tritt mit lebendigen Farben, im frischen Glanze hervor; und die Folge der Worte selber hat eine Art von Zauberkraft, weil der folgende Eindruck den vorhergehenden niemals stört oder verdrängt, sondern vielmehr mit ihm eins wird, so daß zuletzt alles ineinandersteht, und der Eindruck eines Gemähldes wirklich in der Seele hervorgebracht wird.“; und „Nachahmung“, SAP 95: „Denn darinn besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Theil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt – […] denn die erste Erforderniß des Schönen ist ja eben seine Klarheit, wodurch es sich dem Auge entfaltet.“ 50 „Edelste“, SAP 19. 51 „Edelste“, SAP 14. 52 „Edelste“, SAP 16. 53 „Schönheitslinie“, SAP 154. 54 „Gegenwart“, SAP 58. 55 „Gegenwart“, SAP 58. 56 „Edelste“, SAP 15 f.
Harald Holz ALL-WESEN UND UNENDLICHKEIT: CHINESISCHE UND EUROPÄISCHE LANDSCHAFTSMALEREI IM VERGLEICH1
Die Frage nach gewissen Bauprinzipien des Kosmos der chinesischen Malerei wird zunächst unter der Maßgabe gestellt, insbesondere die philosophische Grundstimmung für ihr Verhältnis zur Landschaft als einem der Hauptthemen ostasiatischer Kunst überhaupt, offen zu legen. In erster Linie kommt dafür ein hochreflektierter Daoismus in Frage. – Aus Europa wird dem vor allem die Malerei Turners als ihrem Gehalt nach gleichwertig gegenübergestellt, dann auch auf Maler der sog. Donauschule und auf Feininger verwiesen. Hinter dem Gegensatz von eher graphischer Tuschierung dort und farbmalerischer Abstimmung hier scheint eine sinngehaltliche Gemeinsamkeit auf, die z.B. bei Turner ihren theoretischen Fixpunkt in Goethes Farbenlehre gefunden hat. Diese wie auch der Daoismus erweisen sich so aus heutiger Sicht als Markstein polarer Einheit innerhalb eines global werdenden Kunstverständnisses.
I. Einige allgemeine Vorüberlegungen Die Malerei emanzipiert sich im Lauf der Geschichte sowohl in Europa wie in Ostasien, und da ursprünglich in China, zu einer autonomen Kunstgattung, d.h. zu einer Kunstgattung, die nicht (mehr) im Dienst anderer Zwecke steht, wie z.B. die religiöse Kunst oder auch die Reliefmalerei in Bauwerken.2 Die Malerei Ostasiens zeichnet sich gerade durch die Vielfalt ihrer thematischen Bereiche aus. Neben der Landschaft steht das Genre-Bild, das Stilleben, das Porträt, aber auch das religiöse Thema: hier vor allem im buddhistischen Kontext. Sie zeichnet sich jedoch auch durch die Verschiedenheit der dabei eingesetzten Techniken aus. Neben dem Aquarell erlangt vor allem die Tusche eine
338 Mannigfaltigkeit, die wir in Europa nicht erreicht haben. Was in Ostasien dagegen fehlt, ist z.B. das Aktbild und weithin die Öltechnik. Die Landschaft als eigenes Thema ist in beiden Malereien Ergebnis einer längeren Entwicklungsgeschichte. In der europäischen Spätantike, soweit wir wissen,3 entstanden, gewinnt sie für die Neuzeit doch erst seit der Spätgotik und italienischen Renaissance ihren bis heute unbestrittenen Eigenwert. Nach verheißungsvollen ersten Anklängen bei den altdeutschen Malern und den frühen Niederländern tritt in der sog. Donauschule erstmalig die Natur im Großen als malerisches Thema auf, wenn auch mit einer gewissen Naivität, so z.B. bei A. Altdorfer. Nach den Niederländern gewinnt das Landschaftsthema dann bei Leonardo da Vinci, Mathis gen. Grünewald, als Bildhintergrund eine z.B. an weit spätere hochromantische Werke vorausgemahnende Technik. A. Dürer lernt sowohl in den Niederlanden wie in Italien und perfektioniert, wenn auch mit einer gewissen sachlichen Nüchternheit, das Thema. Aber es dauert noch bis zum Barock und den verschiedenen ,,goldenen Zeitaltern“ der nationalen Kulturen, bis mit Ruisdael, Rembrandt, Lorrain, Elsheimer u.a. die Landschaft auch als Anlaß und Gegenstand eines sog. kosmischen Gefühlserlebnisses innerhalb der Malerei selbst zu einem eigenen, autonomen Thema sich wandelt. Stellvertretend für diese Richtung der europäischen Malerei soll der Engländer J.M.W. Turner als Vergleichspunkt für die entsprechenden chinesischen Strömungen stehen. Und in der Tat mag es in der langen Geschichte der europäischen Landschaftsmalerei keinen geben, der auf diesem Felde an Turner heranreicht. Schaut man sodann nach China, so stellt man fest, daß auch hier die Landschaft erst nach einer gewissen Entwicklungsspanne der Malerei als eigenes thematisches Gebiet erschient. Auch hier geht, nach der Tang-Zeit, der Weg von ihrer Aufgabe, als Hintergrund für Genre-Szenen des Vordergrundes zu fungieren, langsam hin zu einer Rolle, in der sie, rein um ihrer selbst willen dargestellt und bewertet wird.4 Der sozio-kulturelle Kontext
339 wird treffend von L. Ledderose skizziert: ,,Diesem intimen, konzentrierten Akt der Kunstbetrachtung läßt sich im Westen am ehesten das Anschauen von Graphik im kleinen Kreise von Kennern vergleichen, und auch zur abendländischen Kammermusikpraxis bestehen einige bemerkenswerte Parallelen.“5 Ich möchte auf einen Gesichtspunkt hinweisen, der schon für die ,Entstehung‘ dieser Art von Malerei wichtig und auch später ein maßgebendes Kriterium für die Einschätzung der jeweiligen Landschaftsmaler in China geblieben ist: Es ist der Daoismus. Im folgenden soll also zunächst ein knappes Panorama der chinesischen Landschaftsmalerei, und zwar unter der Rücksicht des in ihr zu findenden Einflusses der daoistischen Weltsicht, entfaltet werden. Erst im Anschluß daran wird auf Turner als Vergleichspunkt eingegangen, wobei schon jetzt gesagt sei, daß ein solcher Vergleich nur darin bestehen kann, das Ähnliche oder sogar Gleiche im Verschiedenen aufzusuchen.
II. Zur chinesischen Landschaftsmalerei Somit also zunächst zum daoistischen Einfluß auf vor allem die ältere Landschaftsmalerei in China. H. Lützeler nennt als die bezeichnendsten Züge der ostasiatischen Kunst insgesamt vier Momente: Stille, reine Form, Schönheit, Natur.6 Die ostasiatische Kunst zeigt nach Lützeler lieber ,,zu wenig als zuviel“. An die Stelle des gegenständlichen Prunks in Europa setzt Ostasien die Noblesse der Zurückhaltung. Diese ,,Kunst der Dämpfung“ erwächst aus einer ursprünglichen Liebe zur reinen, einfachen Linie. Dies entdeckt Lützeler auch in der Literatur, so z.B. in dem berühmten Haiku des Japaners Baschô (1644-1694): Fúru íke ya Káwazu tobíkomu Mízo no óto
(Ein Platschen vom Teich Froschsprung ins Wasser (?)-, Kräuselnde Wellenstille.)7
340 Das Schönheitsempfinden Ostasiens, und hier vielleicht noch mehr in Japan als in China, ist in seinem Enthusiasmus empfindsam und zugleich von einer vornehmen Gehaltenheit. Das hier mögliche Höchste zu leisten, ist Sache einer nach außen gedämpften Konzentration. ,,Alle ostasiatische Kunst kommt“ aus der Natur „und mündet bei ihr“. Ihr Thema sei das ungrenzbar Grenzenlose, nicht die Dinge, sondern die Elemente. Und so faßt Lützeler zusammen:,,Das große Thema der ostasiatischen Kunst: der Lebensodem der Natur.“8 Der Begriff des Dao selbst kann dann ungefähr wie folgt erläutert werden: Wörtlich übersetzt heißt es zunächst: ‚Weg‘, und zwar in der Bedeutung von: ‚Wegstrecke‘, von: ‚Einen-Weg-Gehen‘, dann ist damit auch das ‚Ziel‘ bzw. der ‚Sinn‘ eines Weges oder des ‚Einen-Weg-Gehens‘ vermeint. Weiter wird die gesamte uns umgebende Natur als Manifestation eines derartigen ‚Weges‘ bzw. eines solchen ‚Ganges‘ gedeutet; aber auch der Mensch in seiner Geschichte, als Einzelwesen wie als Gemeinschafts- und Gattungswesen wird als Subjekt wie Objekt eines solchen Weges bzw. Ganges interpretiert. Schließlich wird auch der sich in einer derartigen Weg-Wesenheit erzeigende innere (letzte?) Sinn mit dem gleichen Wort bezeichnet. Nicht übersehen werden darf die Herkunft der ostasiatischen Malerei aus der Kunst des Schönschreibens. Die gerade diese Spielart der Malerei, insbesondere der Landschaftsmalerei auszeichnenden Merkmale der Betonung der Linearität, der Schatten- und Perspektivlosigkeit ebenso wie der nur sparsame Gebrauch der Farbe, dafür eine sehr differenzierte Entwicklung des Tuscheauftrags: all dies findet im Blick auf die Kalligraphie (z.B. u.a. von Kaiser Hui-Tsung oder auch: Chao-Chi: 10821132); Su-Shih (1036-1101) als Mutterboden dieser Malerei seine Erklärung.9 Unbestritten ist wohl, daß die Sung-Malerei einen, vielleicht sogar den Höhepunkt überhaupt chinesischer Landschaftsmalerei darstellt, wobei wahrscheinlich den südlichen Schulen oder Stilrichtungen ein gewisser Vorrang gegenüber entsprechenden
341 Schulen im Norden zukommt.10 Natürlich kann hier nur ausschnittweise auf das eine oder andere Bild des einen oder anderen Malers hingewiesen werden, so etwa auf die Maler Li Cheng (Buddhistischer Tempel in den Bergen), Fan Guan (ca. 9801050) (Reise zwischen Strömen und Bergen)11, und Guo Shi (1020-1090) mit seinem wohl berühmtesten Bild Vorfrühling im Gebirge12, Li Di (Heimkehrende Hirten in einem Gewitter)13, Hsia Guei (Eine reine und ferne Ansicht von Flüssen und Bergen)14, Ma Yüan (Gelehrter mit Diener auf einer Terrasse)15. Die Szenerie in den genannten Gemälden ist unterschiedlich: Guo Hsi und Fan Guan brillieren in der Darstellung von gewaltigen Gebirgslandschaften, die sich in wild geschwungenen Umrissen oder aber als ungeheurer Gebirgsstock darbieten. Alles von Menschen Gemachte, wie Häuser, Wege, Brücken und die Menschengestalten selbst sind von geradezu buchstäblicher Kleinheit und Geringfügigkeit: Sie verschwinden, wenn man nicht sehr genau hinschaut, im Ganzen des überwältigenden Natureindrucks. Alles Menschliche ist der Übermacht der Natur eingeordnet. In der Technik sind klare Tuschemalereien, wenn auch mit Farbunterlegungen, vorherrschend. Beeindruckend ist die Kleinarbeit in den Details, die dennoch den Gesamteindruck nicht beeinträchtigen, ja ihn sogar noch erhöhen. Hsia Gueis (ca. 1190-1230) Eine reine und ferne Ansicht von Bergen und Flüssen und Ma Yüans (ebenfalls ca. 1190-1230) Gelehrter mit Diener auf einer Terrasse hingegen zeigen eine Thematik, die eher unter den Stichwörtern von Weite, Tiefe und zugleich Leere einzufangen ist. Auch hier freilich schwingt gleichsam als Unterton die urtümliche Gewalt der Natur in Gestalt von Felsen, Gebirgshängen u.ä. mit, jedoch im Vergleich zu den beiden Vorgenannten (Fan Guan, Guo Hsi) ungemein gemäßigt und zurückgehalten. Der freie Raum mit einer ihm eigenen ,Tendenz‘ ins Grenzenlose beherrscht den Bildgehalt. Soweit Menschen vorkommen, sind sie Teil des Naturganzen geworden oder bilden, obwohl als Figur noch mit einer bilddynamischen Eigenrolle ausgezeichnet, doch einen zum Ganzen gehörigen Ausschnitt:
342 Sie stellen den anschaubaren Ansatz der Meditation, der Versenkung in den dargestellten Bildgehalt dar. Darüber hinaus kommt ihnen kein Eigengewicht zu. Gerade die höchst verfeinerte Tuschetechnik eignet sich aber zur Darstellung solcher Bildgehalte ganz hervorragend. Läßt man derartige Bilder länger auf sich wirken, so stellt sich ein Eindruck her, der dem von abendländischer Naturmalerei Herkommenden zunächst zwiespältig erscheinen mag: Einerseits ist die übermenschliche Gewalt der sich in solchen Gebirgsmassiven ausgestaltenden Natur überwältigend; versetzte man sich in Fan Guans Bild Reise zwischen Strömen und Bergen hinein, so würde man förmlich selber ebenso winzig wie die dargestellten Figuren. Andererseits haben diese Naturerscheinungen dennoch nichts Vergewaltigendes an sich. Sie zeigen nicht die eintretende Katastrophe wie beispielsweise bei Turner die Lawine, den Seesturm, einen Vulkanausbruch, sondern begnügen sich, ein entsprechendes Potenzial bemerkbar zu machen. Aber insofern eben dies Potenzial sich gewissermaßen ,bei sich hält‘, verliert es den unmittelbar bedrohlichen, vernichten könnenden Charakter. So entsteht beim Betrachter angesichts des dargestellten Themas zwar das Gefühl eines Übermächtigen, aber dann – wie es die Intention des Bildes ja ist – scheint sich eine Art von Einverständnis, eine Einverständigung, um es einmal so zu formulieren, zwischen ihm selber und diesem Übermächtigen einzustellen. Das Bild verliert letztendlich die Differenz, Bild zu sein und verwandelt sich im Akt des Schauens bzw. Angeschautwerdens, besser: Erschautwerdens, gewissermaßen in die dargestellte Thematik selbst, die den Betrachter in sich einbezieht.16 Diese ist somit – jedenfalls in den hier aufgezählten Gemälden – mehrfältig: Einesteils ist es eine Naturvorstellung, die von sich her alles Menschliche zu einer winzigen Randerscheinung herabstuft; und insofern ist der Mensch dieser Natur einfachhin untertan: Er ist ihr, ob er will oder nicht, unterworfen.17 Anderenteils aber wirkt die Natur keineswegs nur bedrohend
343 und übermächtigend, sondern als Weg in eine viel wesentlichere Freiheit, als es das jeweilig kleine menschliche Alltagsleben bieten kann. Gerade an dem Bild Eine reine und ferne Ansicht von Bergen und Flüssen von Hsia Guei wie auch an Buddhistischer Tempel in den Bergen von Li Cheng zeigt sich die schon angedeutete Tendenz, ein Grenzenloses mit endlichen, begrenzten Mitteln, hier also der Malerei, zu versinnbilden, zu veranschaulichen. Beide Maler verwenden in den genannten Bildern den gleichen Kunstgriff18: – freilich dergestalt, daß es gewissermaßen Fluchtlinien des Gegenständlichen gibt in die – bei Li Cheng sich gleichsam nach oben auflösende – Leere des Bildraumes, sodaß sich für das Bildganze eine eigenartige Wechseldynamik ergibt: Dieser gegenständliche, anschaulich ausgefüllte Vordergrund scheint als eine Art von Fundament das Bildganze zu stützen; schaut man aber genauer hin, so könnte auch das Gegenteil der Fall sein, nämlich daß der leere Raum, der von oben gleichsam wie ein Wasserfall herabstürzt, vermöge einer unbekannten, unsichtbaren Kraft in das Gegenständliche hineinzudrängen, ja es wie von innen zu durchdringen scheint. In Ma Yüans Bild Auf einem Gebirgspfad im Frühling erscheint dieser wechselnd-lebendige Gegen- und Ineinander-Bezug dramatisch gesteigert. Die leere Räumlichkeit überwiegt scheinbar. Erst bei genauerem, längerem Hinsehen erkennt man, daß das Gegenständliche, wenn auch in der Malweise sehr zurückgenommen, ungefähr die Hälfte des Bildes einnimmt.19 Ähnliches gilt auch für Hsia-Gueis Eine reine und ferne Ansicht von Flüssen und Bergen20, obgleich der Raum hier, wie gesagt, dem Menschen seine eigene Ordnung, freilich ganz ohne Gewalt, aufprägt. Bei einigem Nachdenken nun erscheint ein bestimmtes Weltbild, und sogleich sei hinzugefügt, ein damit verbundenes Weltgefühl, das hier gleichsam geistig zeugend im Hintergrund steht. Zu Zeiten der Hochblüte der chinesischen Landschaftsdarstellung, vom 9. und 10. Jh. an, findet sich nach Cahill in diesen Bildern ,,jenes Allgefühl [...], das den taoistischen Kosmos in je-
344 dem einzelnen Organismus erlebt“21. Dies zeigt sich in herausragender Weise in den auch im Westen mittlerweile gut bekannten Gemälden der soeben genannten Maler; allerdings ist damit die Liste der erstrangigen Künstler noch lange nicht erschöpft, so wird man z.B. nur einer sehr unvollkommenen Vollständigkeit halber wenigstens noch die Namen, aus der Zeit der späteren Song nennen wollen, so von Li Dang (ca. 1050 bis ca. 1130), dem kaiserlichen Maler Hui Zong (1082-1135), sodann Li Zai (frühes 13. Jh.)22; zu nennen wären außerdem noch der Chan(Zen-) Maler Mu Shi (ca. Mitte des 13. Jh.’s), sodann die vier großen Meister der Yüan-Zeit Wu Chen (1280-1354), Huang Gung-wang (1259-1354), Ni Zan (1301-1374) und Wang Meng (1308-l385)23, Dai Chin (frühes 15. Jh.), Dang Yin (1470-1523), ferner noch Shen Chou (1427-1509), Gun Zan (1675-1674) und Dao Chi (1641 bis ca. 1717)24, schließlich aus der Zeit der Ching-Dynastie die ,vier Wang‘, bes. Wang Duo (1592-1652)25 sowie noch Wang Shi-min (1592-1680) u.a. Ganz allgemein gesprochen, muß man hier allerdings vorsichtig sein, denn der Daoismus hat auch eine andere Seite, die auf sozialen und politischen Anarchismus hinausläuft.26 Es mag u.a. auch dieser Zug einer gewissen allgemeinen Opposition gegen größere, umfassendere Staatlichkeit und den Dienst an dieser gewesen sein, was in striktem Gegensatz zu allen Idealen des Konfuzianismus im Lauf der chinesischen Geschichte immer wieder Einzelne dazu bewogen hat, sich aus dem Getriebe und der Verantwortung des öffentlichen Lebens zurückzuziehen in die abgeschiedene, unberührte Reinheit der großen Natur und ihres All-Lebens. Die nicht selten turbulenten, ja gelegentlich überbordend zerstörerischen Tendenzen der politischen Geschichte mögen hier den jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund abgegeben haben. Je später, umso stärker wuchs freilich auch Gefahr wie Chance, sich mit Ideen und Vorstellungen des Buddhismus zu vermischen.27 Faßt man einmal unter Absehen zahlloser jeweils zeitbedingter geschichtlicher Besonderheiten zusammen, so läßt sich der
345 Einfluß des Daoismus auf die Malerei, d.h. also im strengen Sinne die Landschaftsmalerei unter drei Rücksichten feststellen: 1. Auf einer relativ vordergründigen Ebene zeigen sich so etwas wie Spuren sehr viel älterer Vorstellungen aus dem schamanischen Zeitalter, so vor allem die Vorstellung, es sei möglich mittels bestimmter Praktiken und Naturheilmittel Unsterblichkeit zu erlangen wie z.B. in dem relativ frühen (8. Jh.) Bild Meditation der Königin Vaidehi.28 2. Eine tiefere Hinsicht, auf welche sich allerdings die schon genannte rückbezieht, ist die von der Natur als eines allumfassenden Organismus, der sich sowohl im jeweiligen größeren Ganzen wie auch im kleineren Rahmen in je spezifischer Weise als lebendige Kraft äußert, der sich einzufügen und mit ihr möglichst weitgehend eins zu werden, höchstes menschliches Sinnziel wäre.29 Dies zeigt sich sehr schön z.B. in den beiden schon gezeigten Gemälden Buddhistischer Tempel in den Bergen von Li Cheng und Reise zwischen Strömen und Bergen von Fan Guan. Man hat darauf hingewiesen, daß gerade in solchen Zusammenhängen die Technik des Tuschepinsels in der Hand chinesischer Maler fast unübertrefflich das Gemeinte auszudrücken imstande ist. Wie es in einem Gedicht von Su Dong-po heißt: ,,Wenn Wang Dong den Bambus malt, sieht er nur noch den Bambus und keine Menschen mehr, ja er vergißt sogar seinen eigenen Körper. Sein Selbst wird eins mit dem Bambus und kommt mit ihm in unerschöpflicher Weise frisch und neu immer wieder hervor.“30 Ähnlich erklärt Dao Chi über die Malerei, sie vermöge, wofern man nur ihren höchsten Sinngrund erfaßt habe, das Weltall in einem kleinen Ausschnitt zu vergegenwärtigen.31 Weiter kommt es nicht auf ,schöne‘ oder naturnahe Formen in der Naturdarstellung an, sondern auf die „Vergegenwärtigung ihres ursprünglichen Wesens“32. Das Gleiche läßt sich auch von den Bildern Hsia Gueis sagen, obwohl die Natur in ihnen ganz licht und weit aufgefaßt ist. 3. Darüber hinaus stößt eine dritte Sicht zur letzten und ursprünglichen Sinnsphäre des daoistischen Gesamtentwurfs der
346 Weltdeutung hindurch. Hier kommt der berühmte Abschnitt des Dao-de-Djing ins Spiel: ,,Die Schlichtheit des Namenlosen [...] wird in Stille münden. Und das Reich wird von selbst zur Ordnung finden.“33 Das nunmehr Besondere läßt sich vielleicht am besten in der Gegenüberstellung zu gewissen Idealen der indischen Kunst verdeutlichen: Der chinesische ,Weise‘ ist nicht der große ,Heilige‘, nicht der spirituelle Asket, der eine weltjenseitige Vergöttlichung anstrebt; er ist nicht der immer wiedergeborene Pilger auf dieser Erde, der im konsequentesten Fall des Buddhismus das existenziale Erlöschen im Nirvana anstrebt. Vielmehr ist er in seinem Daseinssinn welthaft und ganz und gar irdisch orientiert. Und deshalb bedeutete der Buddhismus für die chinesische Kultur niemals eine radikale Alternative zum Althergebrachten, sondern stellte einfach eine Art von tiefsinnigem Zusatz dar.34 Es war daher aus einer solchen Einstellung heraus im Grundsatz keine Schwierigkeit, zumindest auf der Ebene der Malerei das buddhistische Ideal des Nirwana mit dem daoistischen Ideal einer grenzenlosen Absolutheit des Alls zu verschmelzen. Zwar gibt es natürlich eine buddhistische Malerei im engeren Sinne, doch hinsichtlich unserer Thematik ist ein besonderer Typus von Landschaftsmalerei von größerer Bedeutsamkeit, wie sie sich etwa ausprägt in den Werken von Ying YüChien (1. Hälfte des 13. Jh.’s) oder Mu Hsi. Diese besondere Form der Malerei ist in keiner Weise inhaltlich religiös; dennoch ist sie gleichsam metaphysisch in dem Sinne, daß das ,Hier und Jetzt‘, in dem wir Menschen leben und sind, von seinem eigenen ,Innen‘ her eine besondere Qualität des sozusagen ungewollt Werthaften, Sinnhaften, überhaupt Erfüllenden gewinnt.35 Am deutlichsten und eindrucksvollsten zeigt sich diese Art und Weise bei den soeben genannten Malern; insbesondere Mu Shi. Hier interessieren vor allem seine eigentlichen Landschaften, so z.B. die ,acht Landschaften‘ der sog. ,großen‘, aber auch der ,kleinen‘ Rolle der Yoshimitsu- und Yoshimasa-Sammlung. Mu Shi genießt in Japan seit alters höchste Achtung, z.B. mit dem Bild Abendschnee über dem Fluß (W. Speiser [s.
347 Anm. 36], Bild Nr. 55), wobei dies vielleicht auf einer gewissen leichten Überschätzung beruht, in China hingegen wurde er mit Sicherheit unterschätzt.36 Von seinen ‚acht Landschaften‘ meint ein Kenner wie Speiser, sie seien ,,eins der schönsten Werke der Landschaftsmalerei sowie der Sung-Malerei überhaupt“37. In der Tat prägt sich dem Betrachter angesichts der dargestellten Bildthemen wie Segel am Ufer (Bild 51), Wildgänse und Sandbänke (Bild 54), Abendsonne über Fischerdorf (Bild 53), sowie Abendglocken eines fernen Tempels (Bild 52) – man beachte schon die Titelwahl! – eine gewisse Stimmung des gleichsam lautlosen Einbezogenwerdens in ein kosmisches Ganzes ein, das sich zwar andeutungsweise in diesen und jenen irdisch-gegenständlichen Formen zeigt, sein Eigentliches jedoch gleichsam wie ,hinter‘ – jedoch zugleich auch ,in‘ – allem Gegenständlichen und dessen Begrenztheit unsichtbar anwesend sein läßt. Es ist gerade der alles beherrschende oder besser: durchdringende Eindruck eines ständigen stetigen, jedoch unmittelbar auch in sich ruhenden, Übergangs zwischen Endlichem und Unendlichem, Begrenztem und Unbegrenztem, ja Uneingrenzbarem, das all diesen Bildern ihren inneren Bewegungssinn auf eben besagtes Unsichtbare erwachsen läßt. Wollte man die Art und Weise der Bewältigung der hier relevanten Thematik in engeren buddhistischen Kategorien auszudrücken versuchen, so müßte man wohl zur im Mahayana entwickelten Idee der Boddhisattvas greifen und sie einer entsprechend transformativen Interpretation unterwerfen. Das meint, daß die Malerei in Form ihrer Gemälde selbst wie erfüllt wäre von der Gewißheit, des unaussprechlichen Letzten, Absoluten teilhaft geworden zu sein; doch meint dies auch, daß sie sich in solchem ,Wissen‘ voll und ganz der Welt zuwendet, und zwar nun nicht aus einem transzendieren wollenden, sie zum Transzendieren anregenden Erlöserimpuls heraus; vielmehr ist es die Vergegenwärtigung des Transzendenten genau und exakt im Hier und Jetzt einer gänzlich welthaften Erfahrung, die jene Transzendenz aus ihrer eigensten Immanenz sich vergegenwärti-
348 gen läßt. Lützeler spricht hier zu Recht von einem ,,Innenbild“, nicht einem Abbild, des in einem ,Ding‘ sich erwirkenden eigentlichen Wesens, gleichgültig, ob nun solche Dinghaftigkeit sich in Gestalt von Pflanzen-, Tier- oder Landschaftsensembles dem Auge darbietet.38 Das Gesagte spiegelt sich schließlich auch in der Art und Weise des Malaktes selbst wieder. Der Maler, der den Kern der Lehre bzw. der Lebensauffassung des Daoismus bzw. Buddhismus ganz verinnerlicht hat, ist dadurch in die Lage versetzt, einen beliebigen Gegenstand oder Sachverhalt der ihn umgebenden Welt in dessen eigentlichem Innen-Wesen zu erschauen und sodann diesem Innenbild des Geschauten im Malakt sinnenhaften Ausdruck, anschauliche Gestalt zu geben. Dies setzt zum einen eine lange und tiefdringende Betrachtung des jeweiligen ,Sachthemas‘ voraus, ein regelrechtes Sich-hinein-Meditieren in das Weltmoment, in den Weltaspekt, von dem man sich in seiner Aufmerksamkeit gefangen nehmen ließ. Zum anderen aber entspricht dem, sobald eine solche Kontemplation zum Ziel gelangt ist, m.a.W. sobald die Wesenstotalität von Innen und Außen, Gehalt und Form, Wesen und Erscheinung zu ihrem ,sachlichen‘ Ende und Abschluß gekommen ist, ein ebenso ganzheitliches Objektivieren, ,Hinwerfen‘, ein möglichst ,Alles-auf-einmal-bewirken-Wollen‘ des malenden Aktes selbst. In der Praxis bedeutete dies für gewöhnlich, daß der Maler nach langem Betrachten und Sinnen sehr plötzlich, und dann mit einer Geschwindigkeit wie im Fieber das Gemälde zustande brachte, so z.B. Liang Zai mit dem Bild Der Patriach Hui Neng. Nicht umsonst sprach man in diesem Zusammenhang wiederholt von der künstlerischen Trance, in der das Gemälde entstanden sei.39 Rückschauend könnte man also zusammenfassen, daß wir es mit einem spezifisch chinesischen Stil zu tun haben, einem Stil, der die vielen verschiedenen ,Unter-Stile‘ im fachspezifisch engeren Sinne hintergreift und sie in mannigfaltigster Weise durchdringt. Der Daoismus, das Dao-Werken oder -meditieren, wie es hier den ermöglichenden Grund, den Wachstums- und Er-
349 zeugungsboden abgibt, zeigt sich freilich im wesentlichen als ein Gedankengebilde, das vor allem auf diejenigen Partien des Daode-Djing Wert legt, die ein quasi-metaphysisches Dao an sich selbst zu thematisieren suchen.40 Das große ,Dao‘, das hier überall das Zentrum bildet, kann an sich selbst als ,Leere‘, jedoch nicht als Nirvana, gefaßt werden, d.h. also als das Absolute, das in seinem ,Immer-schon-Über-hinaus-Gegangensein‘ über alles Eingegrenzte doch zugleich auch immer schon in diesem Begrenzten urwirksam anwesend ist, sofern dies sich jenem gänzlich konform überläßt, so z.B. Yao Shous Bambuszweige.41 Zum Bereich des Eingegrenzten, Endlichen ist aber nicht nur das Ruhige und Stille, sondern auch das Wilde und Explosive zu zählen, wie es z.B. in Bergwildnissen oder Gewittern anschaulich wird.
III. Josef Mallord William Turner als Vertreter der europäischen Landschaftsmalerei Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, ob zu dem bisher Dargestellten sich in Europa irgendein Gegenstück finden läßt. Auf den ersten Blick fällt auf, daß die Landschaft als eigenständiges, autonomes Thema im Gegensatz zu Ostasien in Europa erst recht spät in der Malerei erscheint. Und insbesondere was die Eigenart der chinesischen Landschaftsmalerei ausmacht, kommt in Europa, wenn überhaupt, nur sehr selten und wie am Rande vor. Wie schon genannt, ist vielleicht eine der wenigen Stellen die sog. ,Donauschule‘, wo mit A. Altdorfer (1480-1538), Wolf Huber (ca. 1485-1553), dem jungen Lukas Cranach (15151586), Konrad Witz u.a. ein vergleichbares Naturverständnis in der Malerei aufscheint.42 Vielleicht kündigen sich in der einen oder anderen der Sepia-Zeichnungen A. Elsheimers (15781610), der Landschaft mit den drei Bäumen von Rembrand, der einen oder anderen Garten-Skizze J. Fragonards (1732-1806), in C.D. Friedrichs (1774-1840) Mönch am Meer, den besten Land-
350 schaftsskizzen Lorrains (1600-1682) Vorläufer dessen an, was erst im Spätwerk Turners (1775-1851) zur wahren Blüte findet und dann tatsächlich innerhalb der europäischen Malerei als voll gleichwertig mit der ostasiatischen Landschaftsmalerei gelten darf. Für Turner allerdings war die Farbe, waren die Farbwerte, ob Sepia, Öl, Aquarell das, was für die Ostasiaten der Tuschestrich war. Und so kann man mit Fug und Recht seine künstlerische Entwicklung als eine Entfaltung des Ausdruckspotenzials der Farbe auffassen bis hin zur zunehmenden Entgegenständlichung und Befreiung der Farbe zu Gestaltungsbereichen und -möglichkeiten, welche die auf Dinglichkeitsdarstellung fixierte bisherige Tradition, wie er sie kannte, überstieg. Zugleich führte er damit eine für Europa gänzlich neue Sichtweise herauf hinsichtlich dessen, wessen die Malerei überhaupt fähig war. Dabei entspricht Turner keineswegs der romantizistischen Vorstellung des genialen Künstlers, der sozusagen rein instinktiv, aus dem unaufhörlich umherwallenden Gefühlschaos einer übermäßigen Seele, womöglich ständig unter Gefährdung seines inneren Gleichgewichts und der äußeren Lebensumstände, seine Schöpfungen gleichsam vulkanartig hervorschleudert.43 Er war im Gegenteil ein Maler, der sich schon von Anbeginn an die kanonischen Festsetzungen des Akademiebetriebs gleichsam spielerisch zu eigen gemacht hatte und darüber hinaus die für seine Kunst wichtigen großen Meister der Vergangenheit sehr bewußt studierte. Da er außerdem schon ziemlich bald zu Vorlesungen an der Königlichen Akademie berufen wurde, war es unumgänglich, sich auch einigermaßen mit dem wesentlichsten theoretischen Rüstzeug seines Berufs vertraut zu machen.44 Darüber hinaus war Turner durchaus kein armer Künstler, vielmehr nach ersten Erfolgen bis ins hohe Alter reich genug, um einen nicht geringen Teil seiner eigenen Arbeiten von früher zurückzukaufen. Im Wissen um seinen kunstgeschichtlich unbestreitbaren Rang hat er sie dann der Nation nach seinem Tod vermacht.45 Schließlich studierte er im Alter die englische Übersetzung von
351 Goethes Farbenlehre und benutzte sie als Anregung, z.T. experimentierenderweise, für seine Malweise.46 – Auf Goethes Farbenlehre wird später noch zurückzukommen sein. Da es hier wesentlich um denjenigen Abschnitt von Turners Schaffen geht, der sich mit der zuvor erörterten Malweise ostasiatischer Künstler vergleichen läßt, kann und muß ich mich auf sein Alterswerk beschränken, d.h. genauer auf ausgewählte Arbeiten, die etwa nach 1818/19 und von da ab bis zu seinem Tode entstanden sind; von besonderer Bedeutung ist dabei das Thema ‚Venedig‘, so z.B. mit dem repräsentativen Bild Sta. Maria della Salute (1840). Die hier belangvollen Gesichtspunkte sind m.E.: 1. Turners Verhältnis zur Tradition, 2. sein Verhältnis zur Farbe als künstlerischem Ausdrucksmittel in der Gegensatzspannung von Inhalt und Form, 3. die Art und Weise seiner künstlerischen Produktion selbst. Zu 1) Es ist allgemein anerkannt, daß Turner mannigfachsten anderen Anregungen zum Trotz die stärksten Eindrücke von C. Lorrain (nach 1799) empfangen hat. Er selbst bestimmte ja testamentarisch, daß z.B. sein eigenes Gemälde Dido erbaut Carthago in der neu eröffneten National Gallery neben Lorrains Einschiffung der Königin von Saba gehängt würde. Ein bekannter Kunsthistoriker hat es wohl treffend formuliert, wenn er sagt: ,,Die frühe Begegnung mit dieser Malerei muß etwas in Turner angeregt haben, was in ihm veranlagt war, wonach er suchte, was ihm den Blick öffnete auf das später zu Gestaltende.47 Die beiden erwähnten Bilder unterscheiden sich in ihrer Komposition, Farbigkeit und ihrem Stimmungsgehalt kaum voneinander, es sei denn, daß bei Turner das Licht noch stärker, aber zugleich auch wärmer leuchtet, die Hafenszenerie umfänglich lebendiger und gleichsam flüssig bewegter sowie das Verhältnis von Wasser und Land strukturierter und zugleich raffinierter erscheint: So ist bei Turner z.B. die offene See nur ,auf dem Wege‘ über die überwältigende Lichtflut – wo man die See vermutet – gleichsam indirekt zu erschließen, und dennoch ist das Meer in der Bildmitte seltsam gegenwärtig.48 Einen Übergangsstil zur
352 nächsten Entwicklungsphase scheint Turner danach ausgearbeitet zu haben, wie z.B. in dem Aquarell Whitby, Yorkshire (ca. 1825-30).49 Doch führt dies schon zur Erörterung seiner Farbigkeit. Zu 2 a) In Erinnerung an das im I. Hauptabschnitt zur chinesischen Landschaftsmalerei Dargelegte könnte man den Gegensatz zwischen ostasiatischer und europäischer Malerei auch dahingehend zu bestimmen suchen, daß man im Anschluß an Lützeler sagt, daß jene ein Inbild, diese ein Abbild von Themen schaffe.50 Turners Landschaften bieten allerdings schon in seiner mittleren Periode Ansätze zu einer Überschreitung der üblichen abendländisch-europäischen Sichtweise, dies insbesondere was den eigentlichen ,Stimmungsgehalt‘ seiner Gemälde angeht; und umso deutlicher wird dies in seiner Alterskunst bzw. in der Übergangsperiode dazu hin: Als Beispiel unter vielen möglichen ließe sich die Farbstudie Rouen (?) Sonnenuntergang von 182951 anführen.52 Dabei darf man niemals vergessen, daß im Gegensatz zur ostasiatischen ,Tusche-Linie‘ sein Material eben die Farbe ist. Um also die gleiche Wirkung einer sich ins Unendliche verflüchtigenden, wie wesenlosen Räumlichkeit zu erzielen, werden andere Mittel eingesetzt werden müssen: Ist es dort eine in ihrem Ausdruckswert aufs Äußerste verfeinerte Strich- und Punkt- bzw. Tüpfeltechnik, so ist es hier die malerische Behandlung unmittelbar der Fläche als solcher. Sehr deutlich wird dies auf Turners Venedig-Bild von 1840 Blick auf einen Seitenkanal nahe dem Arsenal. Trotz der sehr fein behandelten Gebäudeumrisse bleiben diese doch nur wie angedeutet, die verschiedenen Farbwerte – beinahe wie monochrom – komponieren in ihrer mehrfach gebrochenen Spiegelhaftigkeit eine wie schwebend sich ins Unendliche fortstufende Atmosphärik: „Der Raum, in welchem die Dinge erscheinen, bildet sich mit den in Erscheinung tretenden Dingen. Jegliche perspektivische Systematik erübrigt sich.“53 b) Eine nur auf den ersten Blick andere Auffassung von Natur zeigt sich in den ebenfalls späten Bildern, die eine ungeheure
353 innere, von der dargestellten Sache selbst her ausgehende und ausstrahlende Bewegung darstellen, so in Sich der Küste nähernde Yacht54, besonders aber Schneesturm – ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale in der Untiefe (1842), was Turner übrigens beinahe das Leben gekostet hätte,55 sowie Das Sklavenschiff, ein Taifun kommt auf (1840)56, ferner Schatten und Dunkelheit, der Abend der Sintflut (1843) und endlich, hinsichtlich der dynamischen Farbbehandlung, Innenraum in Petworth (1838).57 Man hat dazu bemerkt, daß Turner sich in seiner zweiten Lebenshälfte stets mehr von den ,,überwältigenden Kräften der Natur“ (dt. v. Verf.) beeindruckt gezeigt habe, und der genannte Kunsthistoriker spricht in einem sehr verwandten Zusammenhang von Turners innerer Affinität zu dem, was man, philosophisch genommen, ,natura naturans‘ nennen könnte (in Übereinstimmung mit J. Ruskin, der in Turners Bildern die „Unergründlichkeit der Welt“ ausgedrückt sieht). In eine verwandte Kategorie gehören m.E. aber auch so berühmte Gemälde wie Frieden, Bestattung zur See (1842)58 und Mondschein (1840)59. Bei diesen letztgenannten Gemälden ist zwar die äußere Szenerie vom dargestellten Inhalt her ,in Ruhe‘, im Blick auf die Art der Farbgestaltung jedoch wird man eine sehr nahe innere Verwandtschaft mit dem eben angeführten Bild Schneesturm feststellen können. c) Zwei Gemälde um 1840: Schiffe auf dem Meer60 – und von 1845 – (Blatt 9) aus dem Folkstone-Skizzenbuch61 zeigen in ihrer Ausführung allerdings einen derart ,authentisch ostasiatisch-chinesischen‘ Stil, daß man, wüßte man nicht, Turner war der Maler, sie in einem anderen Fundzusammenhang unbedenklich einem chinesischen Künstler zuschreiben könnte; auch das wohl nicht zu Ende gemalte: Brennende Schiff (1826-30)62 gehört in diesen Kontext. Endlich noch das geheimnisvolle Bild Lagoon Scene, Moonlight (1840).63 Es ist interessant, daß in der chinesischen Landschaftsmalerei das Thema der Mondnacht zwar durchaus verschiedentlich behandelt wird, aber aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Tusche und des ihr verpflich-
354 teten Pinselstriches erscheint dort niemals jene eigentümliche, durch flächige Farbigkeit bestimmte Dunkelheit, wie sie auf europäischen Bildern desselben Themas üblich, d.h. ,normal‘ ist: Man denke außer an Turner beispielsweise an den schon genannten Elsheimer mit der Flucht nach Ägypten sowie kurze Zeit nach Turner an die Nachtstücke (Nocturnes) von J. Whistler. Das Besondere an diesen Gemälden ist, daß die abendländische Zentralperspektive hier außer Kraft gesetzt erscheint und mit allersparsamsten Mitteln der Farbgebung – auch alle Umrisse resultieren allein aus Farbgrenzen bzw. -valeurs – eine gleichsam vom Bildvordergrund nach allen Richtungen sich dehnende naturhafte Unendlichkeit vergegenwärtigt wird, die den Betrachter wie ,ohne alle Umstände‘ in die Weite des sich dehnenden Raumes hereinnimmt. Als weitere Beispiele dieser Turner allein eigentümlichen Auffassung lassen sich anführen: Norham Castle, Sonnenaufgang (1835-40), Festliche Lagunenszene, Venedig (1845), Das Kriegsschiff ,Temeraire‘ wird zu seinem letzten Ankerplatz geschleppt (1838); San Giorgio from the Dogana, Sonnenaufgang (1819)64 sowie: The Dogana, San Giorgio, Citella, from ... the ‚Europe‘ (1842)65, um nur diese wenigen zu nennen. Schon einige Zeit zuvor freilich hatte ein englischer Kritiker Turners Aquarelle in einer seine spätere Sichtweise vorwegnehmenden Kritik so beschrieben: ,,Dies sind Bilder der Elemente von Luft, Erde und Wasser [...]. Alles ist formlos und leer. Jemand bemerkte zu diesen Landschaften, sie seien Bilder von nichts und dergleichen.“66 Nicht ohne Grund stießen diese und alle ähnlichen späten Gemälde Turners zu seinen Lebzeiten auf blankes Unverständnis, z.T. sogar seiner engsten Freunde: Es war tatsächlich eine fundamental andere Auffassung von Malerei, die hier den Europäern von einem aus ihrer Mitte vor Augen gestellt wurde. d) Worin besteht nun der bei den sog. ,sinisierenden‘ Bildern Turners festzustellende Aspekt, oder das Moment von besagter Unendlichkeit, und zwar als einer Grundeigenschaft von Natur,
355 und dies auf eine Weise, daß wir selbst als Betrachter darin aufgehen und gleichsam zu einem Bestandteil der dargestellten inneren Bewegtheit werden? Die Antwort muß wohl lauten: Es ist einerseits eine sich wie aus dem Wesen der jeweiligen Farbkomposition selbst ergebende Dynamik, die das Bildganze in eine alle scheinbaren Divergenzen schließlich in sich einbeziehende (wie) geheime, durch die unterschiedlichen Farbwerte versinnlichte, Rhythmik versetzt. Dies aber geschieht zugleich so, daß in so gut wie allen diesen Gemälden sich an rhythmisch zentraler Stelle – (für gewöhnlich am ,Himmel‘, soweit man der Komposition gegenständliche Bezüge zusprechen kann) – eine Perspektivik eröffnet auf ein Unendliches, das aus dem Bild hinauszuführen scheint. Dies trifft aber nun ebenfalls zu für das am meisten bewegte Bild, den vorgenannten Dampfer im Schneesturm vor der Hafeneinfahrt, denn man wird im rhythmischen Zentrum, der Stelle über dem Schiffsmast, immerhin noch eine Andeutung einer, wenn auch sehr ,zusammengequetschten‘ Perspektive gleichsam in eine andere Dimension hinaus wahrnehmen oder ‚imaginieren‘ können. Zwar ist es richtig, daß Turner im allgemeinen auch in dieser seiner Spätperiode die Kenntnis seiner ehemals streng zentralperspektivischen Bilder immer noch durch seine neue Auffassung, und die ihr entsprechende Technik, hindurchscheinen läßt, doch treten mehr und mehr andere Mal-Momente in den Vordergrund, welche die geometrische Perspektive zugunsten einer reinen Farbperspektive in den Hintergrund drängen, ja zuweilen geradezu dafür ausgewechselt erscheinen.67 e) Dies führt nun auf ein neues sehr wichtiges Moment in Turners Auffassung dessen, was Malerei zu leisten vermag und was ihr eigentliches letztes Ziel wäre. Es ist eine Auffassung von Farbigkeit, die der von den aufkommenden Naturwissenschaften geprägten Anschauung seiner Zeitgenossen je länger, umso tiefer widersprach: Farbe ist etwas, was in einem tiefen, wesentlichen Innenverhältnis zu den Kräften des Universums zu stehen scheint: Sie sind Teil eines gewaltigen, übergreifenden Zusam-
356 menhangs, in welchem Natur insgesamt und als solche als organisch erscheint, ja wirkend auftritt. Den für ihn fachverständigsten, kompetentesten Vertreter dieser Anschauung fand Turner in J.W. v. Goethe und es war ein ungemeines Glück für ihn, daß Goethe seine eigene Auffassung schon früh genug so weit ausformuliert und veröffentlicht hatte, daß sie von einem englischen Zeitgenossen, d.h. genauer von einem Malerkollegen 1843 übersetzt und ihm so zugänglich werden konnte.68 Der späte Turner hat sich ausgiebig, wie wir wissen, mit Goethes Farbenlehre beschäftigt und viel von seiner eigenen Auffassung dort in Gestalt einer ausgearbeiteten Theorie wiedergefunden. Doch muß beachtet werden: „Turner hat im Laufe seines Schaffens die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinung sowie der Ausdruckswerte der Farbe selbst gefunden: vgl. den Farbenkreis von Goethe-Turner. Insofern steht er Goethes Text [...] vollkommen souverän und sachlich-kritisch gegenüber. Die meisten Phänomene, die Goethe beschreibt, [...] sind für Turner nichts Neues [...]. Nur einige grundsätzliche Aspekte ergänzten sein eigenes Denken über die Farbe.“ Mit Recht weist man aber auch auf Goethes Entwurf als den einzigen Versuch der damaligen Zeit hin, die physikalischen, psychologischen und ästhetischen Beschaffenheiten der Farbe und des Lichtes zusammen zu sehen, – und insofern war dies theoretische Konzept dem praktischen Schaffen Turners kongenial.69 Der Bezug auf Goethe kommt in zweien der spätesten Bilder ausdrücklich zur Sprache Light and Colour (Goethe’s theory), – the Morning after the Deluge – und komplementär dazu: Schatten und Dunkelheit – der Abend der Sintflut (1843).70 Wesentlich ist, daß in solcher Weise eine anschaulich-ideelle Synthesis in Gestalt einer unmittelbar (!) verleiblichten Idee auf die Weise eines Gemäldes entsteht, dem ein entsprechender Seh- oder Schauensvorgang vorausgegangen ist, der sich in dem betreffenden Gemälde gleichsam ,inkarniert‘. Denn man darf auch nicht vergessen, daß derartige Gemälde ja nicht die Natur als solche und an sich sind; sie können es auch niemals sein, sondern resultieren immer und grundsätzlich aus
357 dem sich durchdringenden Zusammenspiel einer Wirkenseinheit von Subjekt-im-Objekt und Objekt-im-Subjekt.71 An dieser Stelle sei ganz knapp exkursartig auf Goethes Konzept einer Farbenlehre eingegangen. Für Goethe gibt es zwei polare Erst-Prinzipien, Licht und Finsternis, die sich jedoch miteinander mischen können. Ergebnis solcher Mischung ist das (oder die) Trübe. Diese umfaßt (A) alle erdenklichen Graustufen zwischen Weiß und Schwarz, aber (B) auch die Buntheit der Farben: diese sind keineswegs beliebig oder zufällig, sondern prinzipiell sich ordnend: so zunächst die Grundfarben Gelb, Blau, Purpur (ein besonders intensives Rot), sodann als sekundäre Mischfarben Grün, Orange, Blauviolett. Daraus ergeben sich durch weitere Mischungen alle anderen. Wichtig ist ferner zu unterscheiden zwischen einer Farbskala des Lichts einerseits und einer solchen der eigentlichen Farben im engeren Sinn, nämlich mit Weiß an der ,Spitze‘ andererseits. Goethe bezog sich mit seiner Theorie freilich vornehmlich auf den erstgenannten Aspekt.72 Für Goethe vermeint Farbe ein Urphänomen, d.h. sie ist als je konkrete eine sinnenhafte Erscheinung, welche die ihr zugrundeliegende Formbeschaffenheit sowohl als ruhend als sich verändernd aus einem ihr gänzlich innerlichen Grund erwirkt. Darin liegt auch sein (des Urphänomens) Vermögen, mit anderen seinesgleichen oder ihm mehr oder weniger ähnlichen in einer Verbindung zu stehen oder in sie einzutreten. Auf dem Grunde des Urphänomens fungiert als die Ingestalt wie zugleich der Inbegriff aller betreffenden Phänomenalität, alles Erscheinens die ,Idee‘ – so z.B. Turner in Lagunenszene-Sonnenuntergang und Norham Castle, Sonnenaufgang. Eine Erscheinung, insofern und insoweit in ihr besagtes Urphänomen sich zu manifestieren fähig ist, kann dann auch als Realsymbol einer umfassenderen Gestaltwirklichkeit angesehen werden. Anders gesagt, ,inkarniert‘ sich gewissermaßen eine solche Idee, indem sie in der ihr angemessenen Darleibung an-‚west‘.73 Goethes Natursicht steht damit vom Problembewußtsein her wie auch methodologisch zwischen rein idealistischer Sicht, z.B. einer platoni-
358 sierenden Fragestellung einerseits und einer materialistischer Auffassung, z.B. des historischen Atomismus andererseits. Mit anderen Worten läßt sich als die Mitte seiner Problemdisposition, unter der er Natur überhaupt als fragenswert betrachten konnte, eine in der Sache sich stark an aristotelische Frageweisen annähernde Sicht diagnostizieren, auch wenn Goethe als Philosoph sicherlich Eklektiker ist: Er nimmt sich seine philosophiegeschichtlichen Versatzstücke von Plotin, G. Bruno, Leibniz, Spinoza, Shaftesbury, Herder, Kant und Schelling sowie natürlich (auch) in der Sache: Platon und Aristoteles. Wesentlich ist, daß für Goethe Natur im ganzen wie im einzelnen durchgängig als organisch, organologisch, d.h. als ein Gesamtorganismus sui generis (eigener Art) verstanden ist. Von da her sind auch die Farben etwas sich im Gesamtorganismus der Natur, den Menschen als integralen Teil miteinbegriffen, lebendig Vollziehendes, sie sind „Taten und Leiden des Lichts“74 wie z.B. bei Turners Schiff in 3 Farben. Zu 3) Für Turner charakteristisch ist schließlich die Art und Weise seines Schaffens. Die Berichte sind zahlreich, er habe ,,oft und lang scheinbar untätig eine Naturszene angeschaut, um seine Zeichnung dann mit umso größerer Geschwindigkeit hinzuwerfen,“75 oder: „Der Künstler [...] saß im Heck und beobachtete konzentriert das Meer, nicht im geringsten erregt durch seine Aufgewühltheit. [...] Die ganze Zeit über war Turner schweigsam und beobachtete die tumultuöse Szene [...] in Nachdenken versunken äußerte er nicht eine Silbe.“ Dann gelandet, „mit einem Bleistift [...] schien er mehr zu schreiben als zu zeichnen“. (Vergleiche z. B. Grafik eines Schiffes). Interessant ist auch die zu beobachtende, im Lauf seines Lebens zunehmende Tendenz, Menschen nur Teil der jeweiligen Szene sein zu lassen. Weniger als auf das menschlich Individuelle kam es ihm auf die Darstellung des Typischen an. Im Spätwerk treten Menschen nur noch in Gruppen als Teilrepräsentanten des übergreifenden Naturgeschehens auf.76 Sie erscheinen vollständig Teil geworden eines sich u.a. (!) auch ihrer
359 bedienenden selbstgenügsamen Naturlebens. Und so mutet es fast wie eine Paraphrasierung eines sinnenhaft gewordenen Neuplatonismus an, wenn man sagt, daß im Spätwerk das Licht wie an sich selbst, so auch in den Farbwelten, die Turners schöpferisches Auge entdeckt, erscheinende Gestalt wird, sodaß ,,im Bild das Prinzip des Erscheinenden [...] das Prinzip des Erscheinens selbst“ wird. ,,Die Farbe wird zum reinen Innenerlebnis“77 (Turner: Sonnenuntergang). Freilich ist dies kein beliebiger Subjektivismus, der an der rein empirischen Oberfläche bliebe, sondern ein subjektives Schauen, das unmittelbar im Anschaulichen eben dessen Tiefengrund erschaut. Von den Zeitgewohnheiten kam eine diesem Trend Turners entgegen:78 Es war nämlich in der Royal Academy üblich, bei Ausstellungen eine Reihe von Bildern durch den ausstellenden Künstler vor dem Publikum zu Ende malen zu lassen. Turner hat seinen Schaffensvorgang im Lauf seines Lebens derart verdichtet, daß er dem staunenden Publikum einen ,,rapiden Malvorgang“ darbot. Zuletzt reicht er Gemälde ein, die kaum über die Grundierung hinaus bearbeitet waren, um sie dann „in einem Zuge und in wenigen Stunden“ zu vollenden. Der Malakt an sich selbst wurde dem Maler wichtiger und interessanter.79 Einer der ganz wenigen, der nach Turner in der europäischen Malerei in seinem Werk einen Grundzug der ostasiatischen Malerei, so wie sie hier behandelt wurde, widerspiegelt, dürfte L. Feininger (1871-1956) sein, z.B. in Dünen am Abend II (1948)80, jedenfalls in seinen Landschaften, insoweit sie Seestücke sind. Fast nur bei ihm unter den Modernen finden sich die verschiedenen Merkmale jener ostasiatischen Kunst: das Selbstleben bzw. -weben von Natur, die Stille, die ausgewogene Schönheit des jeweiligen Themas in vornehmster Zurückhaltung, zuweilen in makelloser Vollkommenheit beisammen, so z.B. in dem Bild Northwest (1944)81: und dies ähnlich wie bei Turner in einer ganz durch Farbigkeit bestimmten Malwelt. Freilich ist es bei Feininger ein kristalliner Kubismus (Prismatismus), als dessen scheinbar ,unbeweglicher‘ Werdegrund sich ei-
360 ne geheimnisvolle Tiefenperspektive von Natur als solcher erweist, mit seinen grenzwertartigen und zugleich wie oszillierend abgesetzten Übergängen der Farbfelder, was diese Wirkung hervorruft, vielleicht am bedeutendsten in Regenklarheit (1927).82
IV. Zusammenfassung Versucht man rückschauend anhand der hier vorgestellten großen Maler einen Vergleich zwischen ostasiatischer und europäischer Landschaftsmalerei anzustellen, so läßt sich dies unter dem Blickwinkel der Ähnlichkeit, d.h. genauer: der Gleichheit im Verschiedenartigen bewerkstelligen. Die Verschiedenheit betrifft die technischen Mittel, genauer: die Malweise als solche und das zentrale Ausdrucksmedium: dort die Tuschezeichnung, hier die Farbe. Die Gemeinsamkeit läßt sich hingegen nicht nur allgemein in der Landschafts-Thematik, sondern insbesondere in der eigentümlichen Art und Weise, wie sowohl in China als auch in Europa diese Thematik behandelt wird, aufzeigen. Bei sehr entgegengesetzten technischen Malmitteln und einem im allgemeinen grundverschiedenen Hinblick auf die Natur zeigt sich dennoch bei wenigen einzelnen Genies eine tiefgehende Übereinstimmung hinsichtlich des Ausdruckswertes der je betreffenden Gemälde; dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, daß für Ostasien relativ viele Maler, in Europa hingegen in der Hauptsache nur ein einziger bzw. sehr wenige Maler herangezogen wurden. Dieser Ausdruckswert der Gemälde aber weist besagte Übereinstimmung aus in der Gestaltung des Raumes, des Verhältnisses von gegenständlichen Bildinhalten zum räumlich-ungegenständlichen Hintergrund, der gänzlich integrativen Einordnung menschlicher Figuren in das Bildgesamt und vor allem in einer sich darin zeigenden eigentümlichen, zuweilen ans Visionäre grenzenden ,Stimmung‘, wie etwa bei Chang Fang Yu (Landschaft)83 und Mu-Shi (Landschaft)84. Es war wohl nicht fehlge-
361 griffen, wenn man als schöpferische Mitte, um welche sich alles Übrige konzentriert, bei der genannten Richtung der Ostasiaten das Konzept einer Leere ansetzt, die für Gegenständlichkeit als Grenzwert-Ingestalt fungiert und als solchermaßen fungierend eben diese Gegenständlichkeit ,wie von innen‘ her (mit-)bestimmt. Und es ist eigentlich nur folgerichtig, wenn und sofern man als technisches Hauptmittel für eine derartige grenzwertliche Artikulation des Bildes zur genannten ,Leere‘ hin die Linie (und damit den Tuschepinsel) verwendet hat.85 Beim europäischen Gegenstück würde man als entsprechenden real-ideellen Brennpunkt das Licht anzusetzen haben, was aber hinsichtlich seiner funktionalen Prinzipienleistung innerhalb des Gemäldes das Gleiche wie bei den Ostasiaten die besagte ,Leere‘ erwirkt, so beispielshalber bei dem schon mehrfach genannten Hsia-Guei86. Bei Turner – und in geringerem Maße wohl bei Feininger – bildet das Licht auch eine Art von Grenzwert, auf den sich der Kosmos der Farbe innerlich hinordnet und der umgekehrt in aller Farbigkeit seine immanente Wirkung manifest werden läßt.87 Fragt man weiter nach dem weltbildhaften Hintergrund, der die jeweilige schöpferische Leistung gerade in eben dieser geschichtlichen Gestalt ermöglichte, so wurde ja schon auf der einen Seite der Daoismus, auf der anderen Seite Goethes Farbenlehre – freilich als exemplarischer Ausdruck einer zugrundeliegenden ,Metaphysik‘ – diagnostiziert. Man kann ferner sagen, daß beide Male natürlich weniger der streng rationale philosophische Lehrkern einflußreich war, als vielmehr ein ganzheitliches, Rationales wie Emotionales existenziell zusammenbindendes Syndrom bestand, das aus mancherlei Quellen und Spielarten zehrte – hier von Daoismus, dort in der Sache von Goethes Natur-Auffassung88, so Turner in der Graphik Venedig. Was das erste Glied dieser Polarität anbelangt, so wurde schon auf eine bestimmte Position gegenüber dem Dao-de-Djing hingewiesen. Danach war von Belang eine irenische, d.h. Frieden zwischen Mensch und Natur stiftende, zugleich aber auf die metaphysi-
362 sche Qualität des Dao als letzten Bezugspunkt sich hinorientierende Sichtweise für die große Zahl der hier wichtigen Maler.89 Das ‚Dao‘ ist hier immer verstanden als ‚Weg des Alls‘ und nicht auf etwas Jenseitiges hinorientiert: Das Ziel des Ganges ist immer schon in jedem einzelnen Schritt und Wegabschnitt immanent, als sein innerer Sinn anwesend. Hinsichtlich des zweiten Gliedes jedoch muß ideengeschichtlich noch ein wenig weiter ausgeholt werden: Die nicht erst von mir vertretene These ist, daß die Farbenlehre eher eine Art verkappter „Lebenslehre“ darstellt.90 Wie bekannt, war Goethe in seiner ,Philosophie‘ Eklektiker. Hier aber scheint an erster Stelle ein gewisser, auf ,Anschaulichkeit‘ hin transformierter Neuplatonismus oder besser: Plotinismus Pate gestanden zu haben, für den Goethe in seinem langen Leben dann immer neue Sekundärmanifestationen gefunden zu haben glaubte. Umdichtungen aus Plotins Enneaden91 sind auch die bekannten Verse: Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnt’ es je die Sonn erblicken? Wes’te nicht in uns die eigne Gotteskraft, Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?
Goethes Selbsteinschätzung in dieser Angelegenheit ist bezeichnend: „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein [...]. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute“92. Mag nun die Goethesche Polemik gegen Newton einseitig, auf wissenschaftlichem Niveau gänzlich an der von Newton ins Auge gefaßten Sache vorbeigehen und im übrigen sogar demagogisch gewesen sein, wie auch immer, man wird hier so etwas wie eine in Form einer Epitheorie sich larvierende Kernphilosophie sehen können. Damit aber hätte man als Hintergrund einen Zusammenhang, der sich von Platons Sonnengleichnis bis hin zur Deutung des gesamten Kosmos als eines quasi-lebendigen Organismus im Dialog ,Timaios‘ desselben Denkers erstreckt.93 – Ein nicht immer dieser seiner philosophischen Bezüglichkeit bewußtes Echo
363 haben wir an zwei sehr verschiedenen Geschichtsorten der Malerei auf diesem Planeten zu lokalisieren versucht: in Ostasien z.B. neben vielen anderen besonders bei Hsia-Guei, aber auch in Europa in Gestalt von Turners Spätwerk, z.B. Ehrenbreitstein, wie zum Teil auch bei Feininger. Nun will ich mich hier nicht weiter in philosophische Einzelheiten verlieren. Wichtig für die Malauffassung Turners sowie die sich darin erweisende Weltauffassung erscheint aber, daß auch auf der Ebene des begriffs- und problemgeschichtlich erschlossenen Weltbildes, das eine solche Malerei wie die Turners, und in geringerem Maße Feiningers, möglich werden ließ: daß sich darin also eine Weltsicht erschlossen hat, die mit der des malereigeschichtlich relevant gewordenen Daoismus strukturell sehr viele ähnliche Züge aufweist: Seascape with two ships (1954).94 Das Entscheidende war hierbei gewiß der Entwurf unserer Welt, uns selbst eingeschlossen, als eines lebenden Gesamtorganismus, der sich uns in seinem Leben und Wesen am genauesten und tiefsten als ästhetisch aufschließt. Ganz zum Schluß aber sei mir eine persönliche Äußerung gestattet: Ich bin der festen Überzeugung, daß: Wenn sich an so verschiedenen Stellen in der Menschheitsgeschichte und hinter äußerlich so verschiedenen Gestaltungen doch so etwas wie dieselbe Tiefensicht, derselbe ‚Geist‘, dasselbe Tiefen-Verständnis der Wirklichkeit zeigt – derjenigen, die uns umgibt wie unserer eigenen –: Dann ist dies ein Zeugnis sowohl für den Tiefenreichtum der menschlichen Natur, ihres wahren Schöpfertums wie auch für eine in all solcher Verschiedenheit sich Bahn brechenden Gemeinsamkeit und Einheit menschlichen Wesens in seinem Besten und Tiefsten überhaupt. Anmerkungen 1 Es handelt sich um einen philosophischen Vortrag über ein Thema aus der vergleichenden Geschichte der Malerei. Die Bilder, obwohl sicher dabei nicht zu ersetzen, spielen sozusagen nur eine erläuternde Rolle. Im übrigen bin ich kein Kunsthistoriker vom Fach, wenn auch seit langem an dieser The-
364 matik sehr interessiert: Vgl. H. Holz, Ost und West als Frage strukturologischer Hermeneutik. Zur Frage einer ‚Brücke‘ zwischen abendländisch-europäischer und chinesischer Philosophie, Essen (Die Blaue Eule) 1998. Dem Text liegt ein Vortrag bei der Adam-Schall-Gesellschaft in Essen (am 12.12. 2002) zugrunde, der zum Zweck der Drucklegung etwas überarbeitet und mit Anmerkungen versehen wurde. Zur Verifizierung der zahlreichen Gemälde-Hinweise verweise ich auf die Möglichkeiten des Internet. Der Bestandteil ,,Wesen“ im Terminus „All-Wesen“ innerhalb des Titels meint nicht in erster Linie „Wesen“ im Sinne von essentia, sondern bedeutet ein substantiviertes Verb, ein unmittelbares Wirkenswort, das seine onomatopoietische wie auch semantische Relevanz z.B. von dem familienverwandten „All-Weben“ am ehesten hernimmt. 2 Der ermöglichende geistesgeschichtliche Hintergrund dürfte in beiden Fällen in etwa ähnlich sein: eine zu einem gewissen kulturellen Pluralismus vorgedrungene Denk- und Gefühlseinstellung, die sich von einem allumfassenden bestimmenden weltanschaulichen Interpretationszwang in der Sicht auf Welt und Mensch gelöst hat und nunmehr fähig geworden ist, sich dem Genuß eines Teilausschnitts der Wirklichkeit ungeschmälert von irgendwelchen anderen Rücksichten, also ,rein um seiner selbst willen‘ zu widmen. Träger solcher Anschauung war in beiden Fällen eine entsprechend emanzipierte gesellschaftliche Schicht, die sich einen derartigen Luxus des Seelenhaushalts leisten konnte. 3 Man denke z.B. an Wandmalereien aus Pompeji bzw. an die WandHintergrundmalerei römischer Villen. 4 Man wird als Beginn das Zeitalter der sog. ,Sechs Dynastien‘ (3.5. Jh.) ansetzen können. Ihre volle emanzipierte Gestalt gewinnt die Landschaftsmalerei dann wohl erst in der frühen Sung-Zeit (10. Jh.), obwohl auch schon beispielsweise im 5. Jh. eine Einstellung angetroffen wird, welcher die Natur als Gegenstand der Malerei vollauf genügt: Vgl. dazu I. Cahill, in: (Dt.) Die Kunstschätze Asiens. Die chinesische Malerei, Génève 1979, 2. Kapitel, S. 25 ff. 5 So L. Ledderose in Im Schatten hoher Bäume (Malerei der Ming- und Ching-Dynastien [1368-1911] aus der Volksrepublik China. Katalog der Ausstellungen in Baden-Baden 13.01.-10.03.1985, Köln 23.03.-19.05.1985, Hamburg 07.06.-04.08.1985, Stuttgart 1985: Die Malerei der Literaten, 15. Der betreffende Stich stammt zwar von 1909, richtet sich aber nach alten Vorlagen: vgl. L. Ledderose a.a.O., S. 16. 6 H. Lützeler, Weltgeschichte der Kunst, Gütersloh (Die große Bertelsmann-Bibliothek) 1964, S. 639-700, hier bes. S. 641-645; ferner vgl. Cahill (wie Anm. 4), S. 25 f. 7 Eine angemessene Übersetzung, gerade der HAIKUs Baschôs, ist anerkanntermaßen schwierig, gelegentlich vielleicht kaum möglich. Dennoch sollte man die Kraft und die Möglichkeiten einer – heute wohl gerade noch – so ausgebildeten Sprache wie der deutschen nicht unterschätzen. Dabei hat das Japanische nur einen sehr schwachen, das Deutsche hingegen im allge-
365 meinen einen sehr starken Druckton. Meine Übersetzung kann freilich nur als Versuch gewertet werden: So habe ich dem japanischen Silbenzahl-Schema 5-7-5 das Drucktonschema 2-2-3 entgegengestellt; daß dabei außerdem das Silbenzahl-Schema 5-5-7 noch mit resultierte, ist Zufall. 8 Lützeler (wie Anm. 6),S. 642-645. 9 Vgl. G. Tolzien in: Kindlers Malereilexikon, München 1985, Bd. 14, S. 130-132, bes. S. 130. 10 Vgl. Tolzien (wie Anm. 9), S. 130 f. und S. 186-192, bes. S. 189. 11 Vgl. Cahill (wie Anm. 4) S. 30-33; Li Cheng wirkte im 10. Jh. 12 Zu Guo Shi vgl. ferner: N. Vandier-Nicolas, Chinesische Malerei und Tradition der Gelehrten, (dt.) Würzburg 1983, S. 105, sowie: Great National Treasures of China. Masterworks in the National Palace Museum, 3. Aufl. Taipei 1986, S. 234. 13 Li Di lebte ca. 1100-1197; vgl. Vandier-Nicolas (wie Anm. 12), S. 134, 138. 14 Vgl. Cahill (wie Anm. 4), S. 85. 15 Cahill (wie Anm. 4), S. 83. Zu Ma Yuan vgl. noch das Gemälde Weiße Reiher am Flußufer, in: Great Nat. Treas. (wie Anm. 12), S. 246 f., sowie von demselben Gelehrter unter einem Pflaumenbaum den Mond betrachtend, in: China, A History in Art, ed. by BradIey Smith/Wan-go Weng, (Gemini Smith Inc., ISBN 0-385-11630-6, Libr. of Congress Catal. Card 7276978), Washington DC. o. Jahr, S. 179. 16 Optimaler- oder idealerweise ist dies dargestellt in der Erzählung vom Künstler, der die Wirklichkeit selber, einschließlich der eigenen Existenz, durch sein Schaffen gleichsam wie vermittels einer existenzialen Magie des Symbolhaften verwandelt bzw. die eigentliche, wahre Wirklichkeit, die hinter den Erscheinungen verborgen ist, sich gegenüber diesen als ,Schein‘ durchsetzen läßt: vgl. dazu z.B. Vandier-Nicolas (wie Anm. 12), S. 80. 17 Über diese kosmozentrisch-anthropologische Magie informiert sehr gut nach wie vor M. Granet, (Dt.) Das chinesische Denken, München 1963. 18 Cahill (wie Anm. 4), S. 82. 19 A.a.O., S. 85. Übrigens trug diese Sicht- und Malweise Ma Yüan den Beinamen ,,Einecken-Ma“ ein: Alles Gegenständliche ist „in eine Ecke“ bzw. den Vordergrund der Bildkomposition zusammengedrängt. 20 Siehe hier nochmals Cahill a.a.O., S. 82. 21 A. a. O., S. 26. 22 A. a. O., S. 61. 23 Vgl. Br. Smith/Wan-go Weng (wie Anm. 15), S. 200-203. 24 Vgl. Die entsprechenden Abschnitte sowohl in: Tolzien (wie Anm. 9) sowie noch bei Cahill (wie Anm. 4), S. 42 (Ii Dang), S. 58 (Chao Gan, 10. Jh.), S. 93 (Mu Shi), S. 122 (Chai Chin), S. 142 (Dang Yin), S. 183 (Dao Chi); Vandier-Nicolas (wie Anm. 12), S. 103 (Hsü Dao-ning, gest. 1066), S. 116 f. (Mi Yuren, 1036-1065), S. 118 (Wang Hsin, spätes 11. Jh.), S. 124 (Hsiao Chong-chang, 1. Hälfte d. 12. Jh.’s), S. 135 (Hui Zong), S. 139 (Li Dang), S. 141 (Li Di, ca. 1100 - ca. 1197), und noch einmal Ma Yüan
366 (S. 145 f.) sowie Hsia Guei (S. 147); zum Chan-Maler Mu Shi vgl. a.a.O., S. 153-155; – außerdem habe ich noch benutzt: Ledderose (wie Anm. 5), S. 61 (Li Zai), S. 92 f. (Hsie Shi-chen 1487 - nach 1567), S. 167 (Dao Chi). 25 Ledderose (wie Anm. 5), S. 128 ff. 26 So z.B. Vandier-Nicolas (wie Anm. 12); Ledderose (wie Anm. 5), S. 17. 27 Dies mag insbesondere Anstöße für die Malerei durch die NeoDaoisten – „die sieben Weisen vom Bambushain“ – meinen: vgl. Br. Smith/ Wan-go Weng (wie Anm. 15), S. 98; ferner mag diese Geistesströmung z.Z. der mongolischen Yüan-Dynastie den Ausweg für einen Teil der chinesischen lntelligentia geboten haben. 28 Cahill (wie Anm. 4), S. 138 f.; Vandier-Nicolas (wie Anm. 12), S. 23; Ledderose (wie Anm. 5), S. 61. 29 Vgl. Cahill (wie Anm. 4), S. 26: er spricht (dt.) von ,,Einfühlung“, S. 43, 161; mit Bezug auf Li Cheng S. 32. – In frappierender Anschaulichkeit wird dies übrigens von Chou Chien (1500-1525) in einem Gemälde dargestellt, wo in einer fernhin im Dunst verschwimmenden hinreißenden Hochgebirgslandschaft dies daoistische Ideal figurativ versinnbildlicht wird, freilich nicht ohne die Distanz einzuführen, es handle sich (nur) um den Traum eines Gelehrten in seiner Gebirgsklause. 30 Nach Ledderose (wie Anm. 5), S. 66; Su Dong-po lebte von 10361101. 31 Cahill (wie Anm. 4), S. 166: „Die Malerei enthält ein höchstes Prinzip. Dies manifestiert sich nicht in der äußeren Hülle. Sie vermag Himmel und Wolken in einem Zimmer [...], den langen Fluß in ein Flüßchen von einem Zoll zu bannen“. 32 Vgl. Cahill (wie Anm. 4), S. 170 f. und S. 194. 33 Lao-Ze, Daudedsching (Dao-d-Djing, in älterer Schreibweise: Tao-teKing), Kap. 37 (übers. u. hrsg. v. E. Schwarz, Leipzig 1978, S. 70). Die Übersetzung von Vandier-Nicolas überzeugt weit mehr als die sich vordergründig um ,Wörtlichkeit‘ bemühende, aber sprachlich holperige und sinngehaltlich unklare Übersetzung von Schwarz. 34 So B. Smith/Wan-go Weng (wie Anm. 15), S. 13-16, bes. S. 15. 35 A.a.O., S. 16. Die Kennzeichnung als ,,metaphysisch“ ist meine eigene Deutung. 36 So W. Speiser, Meisterwerke chinesischer Malerei. Aus der Sammlung der japanischen Reichsmarschälle Yoshimitsu (1358-1408) und Yoshimasa (1435-1490), Berlin 1947, S. 31 f. 37 A.a.O., S. 36 ff. 38 Lützeler (wie Anm. 6), S. 690 f. 39 Vgl. dazu etwa Vandier-Nicolas (wie Anm. 12), S. 8, 80, 102, 106 u.ö. 40 Wenn hier, wie ja auch kurz zuvor, von Metaphysischem die Rede ist, so ist damit nicht die universitätsgeschichtliche philosophische Disziplin im engen Sinne gemeint. Vielmehr betrifft dies eine Sichtweise, die das empirisch Vordergründige als von einem darin (!) sich erwirkenden hintergründi-
367 gen Sinngrund her verstehen läßt, und eben dies auf die unmittelbare Weise eines (Hin-)Schauens, das sich dem Bild und dem, was es meint, gänzlich hingibt. 41 Vgl. Ledderose (wie Anm. 5), S. 66, Nr. 5. 42 So Lützeler (wie Anm. 6), S. 754-756, bes. S. 756; ähnlich G. Tolzien in: Kindlers Malerei-Lexikon, München 1985, Bd. 13, S. 243-245. 43 Das Vor- und Urbild dieses Typus bildet hochwahrscheinlich der unglückliche Dichter Jakob R. Lenz (1751-1792). Zur Zeit der deutschen Romantik schien dieser Existenztypus eine merkwürdige Art von Allgemeinverbindlichkeit für den Typus des Genies überhaupt gewonnen zu haben. Die Nachwirkungen dieser unsinnigen Konzeption machten sich bekanntlich, jedenfalls in Deutschland, bemerkbar bis in den Beginn des 20. Jh.’s hinein. 44 Zur Biographie Turners vgl. die verschiedenen, wenn auch jeweils relativ kurzen Einführungsabschnitte in den folgenden Schriften: M. Butlin, Turner, Watercolours, London (5. rev. Ed.) 1975, S. 5-15; Katalog, Turner 1775-1851, London 1974, passim: M. Butlin, Turner at the Tate, (Tate Gallery Press) London 1980, S. 5-18; Katalog, J.M. William Turner, Köln und der Rhein, Köln 1980, S. 5-10, 13, 16, 19, 23 f., 26, 32-34 u. 42-44; M. Bockemühl, J.M.W. Turner, 1775-1851. Die Welt des Lichtes und der Farbe, Köln 1991, passim; D. Hill, Turner in the Alps. The Journey through France and Switzerland in 1802, London 1992, passim. 45 Bei seinem Tod hinterließ Turner ein Vermögen von 140 000 Pfund Sterling und rund 20 000 Arbeiten. Vgl. A. Starkamann, Zur Ausstellung in der Royal Academy 1974, in: Die WELT vom 5.11.1974; M. Butlin, in: Turner 1775-1851, London (Sec. Ed.) 1975, S. 9; Bockemühl (wie Anm. 44), S. 9-25, bes. S. 9 ff. u. 14 ff.: mit Bezug auf Turners ,Liber studiorum‘; insbesondere zum Nachlaß vgl.: M. Butlin, Turner at the Tate (wie Anm. 44), S. 18. 46 Vgl. M. Bott in: J.M.William Turner, Köln und der Rhein (wie Anm. 43), S. 5- 7. 47 Bockemühl (wie Anm. 44), S. 14. 48 Vgl. a.a.O., S. 22 f. und S. 54: Regulus von 1828. 49 Butlin, Turner, Watercolours (wie Anm. 44), S. 46 f. 50 So Lützeler (wie Anm. 6) S. 690 f., Bildteil: S. 264 f. 51 Bockemühl (wie Anm. 44), S. 47 f. u. Katal. Turner 1775-1851, London Tate-Gallery 1975, Nr. 396. – Vgl. hierzu auch noch die Bilder zu Anm. 59 u. 60. 52 A.a.O., S. 37. 53 A.a.O., S. 60 f. 54 A.a.O., S. 69. 55 A.a.O., S. 70 f.: Turner äußert sich selbst (nach der Übers. v. Bockemühl): ,,Ich habe es nicht gemalt, damit es verstanden würde, sondern weil ich zeigen wollte, wie solch ein Schauspiel aussieht; ich ließ mich durch die Matrosen am Mast festbinden, um es zu beobachten. Vier Stunden lang war
368 ich angebunden; ich glaubte es nicht zu überleben; aber ich wollte es festhalten, falls ich davonkäme.“ 56 A.a.O., S. 90 f. Butlin in: Turner, Watercolours (wie Anm. 44), S. 11; Bockemühl (wie Anm. 44), S. 58, 72 ff. (dort auch der Hinweis auf J. Ruskin) S. 83-93. 57 A.a.O., S. 79. 58 A.a.O., S. 72. 59 A.a.O., S. 66. 60 A.a.O., S. 62. 61 A.a.O., S. 68. 62 A.a.O., S. 75. 63 Butlin, Watercolours (wie Anm. 44), S. 68 f. 64 Bockemühl (wie Anm. 44), M. Butlin, Watercolours (wie Anm. 44), S. 38 f. (Nr. 9). 65 Butlin, Katalog (wie Anm. 44), S. 147 (Nr. 532). 66 Hazlitt, 1816 im Examiner, nach A.v.d. Borch in: Bott (wie Anm. 44), S. 26. 67 Bockemühl (wie Anm. 44), S. 14, mit Bezug auf Leonardo da Vincis Traktat über die Malerei. Bockemühl geht so weit zu sagen, daß Turner schon vor Cezanne die geometrische durch eine reine Farbperspektive ersetzt habe. Vgl. a.a.O., S. 15. 68 Vgl. dazu am ausführlichsten Bockemühl (wie Anm. 44), S. 84, ferner schon S. 64 f. und sodann S. 83-92. 69 A.a.O., S. 84; sehr bezeichnend auch die Kommentierung einer Goethe-Passage (Farbenlehre, § 802): ,,Wird nun die Farbentotalität von außen dem Auge als Objekt gebracht, so ist sie ihm erfreulich, weil ihm die Summe seiner eigenen Tätigkeit als Realität entgegenkommt“, durch Turner in einer der nicht wenigen Randbemerkungen: ,,this is the object of paint(in)g.“ So in Turners eigenem Exemplar der Farbenlehre, in: J. Cage, Colour in Turner, Poetry and Truth, London 1969, S. 34-52. Vgl. auch Turners Farbstudien von 1819 (Bockemühl [wie Anm. 44], S. 37) und 1834 (a.a.O., S. 41 u. 44) und 1840 (a.a.O., S. 45) oder die Farbkreise (a.a.O., S. 89). 70 A.a.O., S. 86-87. 71 A.a.O., S. 88. 72 Vgl. dazu Goethe, Farbenlehre, in: Schriften zur Naturwissenschaft, Bd. 3-7 (Weimar 1951), S. 58; kommentierend dazu G. Eichholz, Das Abendmahl Leonardo da Vincis. Eine systematische Bildmonographie, München 1998, S. 291 ff., 295, 401 ff., 405; vor allem aber H. Schönherr, Einheit und Werden. Goethes Newton-Polemik als systematische Konsequenz seiner Naturkonzeption, Würzburg 1993; ergänzend noch R. Welter, Goethe, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. J. Mittelstraß, Bd. 1 (1980), S. 788-790, Lit. 73 D.h. also: ,sind‘ Dinge und Sachverhalte nicht einfach ,da‘, ,gegeben‘ oder ,vorhanden‘; vielmehr sind sie sich Wesen, d.h. erwirken ihr unmittelbares Gesamt von Dasein, Was-Sein und Sosein, und dies im ständigen dynamischen Selbstvollzug.
369 74 Goethe, Farbenlehre, §§ 145-177. Grundlegend hierfür wiederum der Text: Studie nach Spinoza, in: Goethes Werke, Bd. XIII., hrsg. v. D. Kuhn u. R. Wandmüller, 4. Aufl. Hamburg l962, (Naturwissenschaftliche Schriften 720); vgl. aber ferner auch noch Goethe, a.a.O., §§ 706-708 sowie § 739. 75 Nach Bockemühl (wie Anm. 44), S. 31. 76 A.a.O., S. 33. 77 A.a.O., S. 49, 52. 78 A.a.O., S. 63, 65. 79 A.a.O., S. 49, 52. 80 Katalog Lyonel Feininger, 21.3.-5.7.1997, Galerie Gmurzynska, Köln, S. 91. 81 A.a.O., S. 85. 82 So Speiser (wie Anm. 36), Nr. 57. 83 A.a.O., Nr. 56. 84 A.a.O., Nr. 56. 85 Was natürlich auch die Technik feinst abgestufter Farbvaleurs keineswegs ausschließt: Aber es sollte hier ein gewisser Schwerpunkt aufgezeigt werden. 86 Speiser (wie Anm. 36), S. 16. 87 Man sieht übrigens, wie die beiden Farbschemata, Lichtkomplement hier – Weißkomplement dort, im schöpferischen Akt Turners unvermerkt ineinander überzugehen scheinen (vgl. hier zuvor Anm. 69). 88 Man vgl. aber zum tieferen Verständnis des hier Gemeinten die Stichworte ,Licht‘ und ,Lichtmetaphysik‘, in: Histor. Wb. der Philosophie, Bd. 5 (1980), S. 282-290 (W. Beierwaltes). 89 Zum Daoismus vgl. R. Moritz, Die Philosophie im alten China, Berlin 1990, S. 98-132; H.J. Röllicke, ,,Selbst-Erweisung“. Der Ursprung des Ziran-Gedankens in der chinesischen Philosophie des 3. und 4. Jh.’s v. Chr., Bern/Frankfurt(M)/New York/Paris/Wien 1996. 90 So beispielsweise R. Friedenthal, Goethe, sein Leben und seine Zeit, Stuttgart/Hamburg 1963, S. 485-502, bes. S. 485 u. 499 ff.; über Goethe und sein Verhältnis zur (eigenen) Farbenlehre (S. 500): „weil er nun das, was er gefunden hat, als Rechtfertigung seines ganzen langen Lebens empfindet, erscheint ihm jeder Widerspruch als Angriff auf seine Existenz.“ 91 A.a.O., S. 487 (Plotin, Enead. VI. 4. [PhB 211 a], Hamburg 1956, übers. v. R. Harder, Nr. 1, 43, S. 24 f.
). 92 R. Friedenthal, Goethe, sein Leben und seine Zeit, Stuttgart/Hamburg 1963, S. 486, (Zahme Xenien, dtv-Gesamtausg. 1961, Bd. 2, 254). 93 Eine sehr wertvolle Bestätigung erhielt ich vonseiten des Buches v. A. Schöne, Goethes Farbentheologie, München 1987, worin sehr geistvoll die These belegt wird, Goethe habe mit seiner Farbenlehre eine Art von ‚verkappter‘ Religion begründet, übrigens durchaus einerseits in Absetzung, was alle negativen Dogmen betrifft, andererseits in Übereinstimmung mit einer im humanistischen Sinne positiv verstandenen ‚philosophischen‘ Religiosität, wie sie für ihn in einem ,gereinigten‘ Christentum sich wohl hätte finden lassen. 94 Katalog Gal. Gmurzynska (wie Anm. 80), S. 94.
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IV Buchbesprechung
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Christoph Glimpel Reinhard Hiltscher: Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Traktat. Acht Vorlesungen mit Anhang zu einem systematischen Problem der Philosophie (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Band 71), Hildesheim/Zürich/New York 2006.
Der mit dem Namen des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury verbundene „ontologische Gottesbeweis“ hat im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte das traurige Schicksal erlitten, aus der Rolle des Verteidigers in die des Angeklagten gedrängt worden zu sein. Was ihm zur Last gelegt wird, ist freilich nicht die faktische Erfolglosigkeit seines Versuchs, den gegen Gott erhobenen Vorwurf der Nichtexistenz zu entkräften, sondern dessen vermeintliche argumentative Trivialität, welche erstmals der berühmte Einwand des Mönchs Gaunilo suggeriert: Wenn Gott als „aliquid quo nihil maius cogitari possit“1 allein aufgrund dieser Nominaldefinition nicht nur in intellectu, sondern ebenso in re angenommen werden müsse, dann könne ebenso gut vom Gedanken der vollkommensten Insel auf deren Realexistenz geschlossen werden.2 Der durch solche Kritik generierte Geruch, kraft einer simplen Logelei die Existenz Gottes aus seinem Begriff hervorzuzaubern, hängt dem ontologischen Gottesbeweis bis heute an – zumal ihn neben seinen Gegnern auch seine wenigen Freunde in der Regel als schlichten logischen Beweis explizieren. Mit Reinhard Hiltschers tiefgründiger Monographie Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Traktat3 ist nun eine „Verteidigungsschrift“ dieses klassischen Denkstücks erschienen, welche einen anderen Weg beschreitet. Hiltscher
374 sucht den „ontologischen Gottesbeweis“ vom Vorwurf gedanklicher Trivialität zu befreien, indem er seinen denkerischen Gehalt im Kontext der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis begreift. Bereits bei Anselm sei der ontologische Gottesbeweis „nicht nur ein isoliertes, rein logisches Lehrstück“, sondern „in eine Theorie der Intentionalität eingebunden“ und habe „innerhalb dieser Theorie eine Begründungsfunktion zu übernehmen“ (23).4 Träfe dies zu – wofür Hiltscher m.E. gute Gründe zu nennen vermag –, dann dürfte eine Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises sich nicht darauf beschränken, den Realitätsanspruch des „aliquid quo nihil maius cogitari possit“ in seiner scheinbaren Dreistigkeit zu kritisieren, sondern müßte vor allem eine alternative Theorie der Intentionalität entwickeln, die zum Zwecke ihrer durchgängigen Begründetheit nicht mehr auf den Gottesgedanken angewiesen wäre. Diese Leistung wird laut Hiltscher weder durch Gaunilo (60-80), noch durch Thomas von Aquin (80-85), sondern erst durch den kritischen Kant (192-222) erbracht, dessen transzendentalphilosophischer Ansatz damit das Ende der Ontotheognoseologie (d.h. einer Gnoseologie, die zum Zwecke der Begründung von Intentionalität auf theologische und ontologische Größen rekurrieren muß) markiert (192 ff.). Kant kann Anselms unum argumentum erstmals gültig widerlegen, weil er im Unterschied zu Gaunilo und Thomas, aber auch zu Anselms Epigonen Descartes (86124) und Leibniz (125-164), das – Anselm selbst freilich nicht als solches bewußte – intentionalitätstheoretische Niveau des Abtes von Canterbury wieder erreicht. Umgekehrt formuliert: In Anselms Überlegungen verbirgt sich bereits der Kern jener erkenntnistheoretischen Grundkonzeption, zu deren konsequenter, rein (d.h. nicht ontotheo-)gnoseologischer Explikation erst Kant die technischen Mittel haben, und die vom Neukantianismus ausgebaut werden wird. Wie Hiltscher herausarbeitet, unterscheidet Anselm in seiner Schrift De veritate nämlich „die unveränderliche Sphäre der Geltungsbestimmtheit und Geltungsvalenz des Wissens von der
375 Sphäre der faktischen Geltungsdifferenz“ (39). M.a.W.: Im Unterschied zu Descartes, Leibniz und der gegenwärtig dominanten „analytischen Erkenntnistheorie“ weiß der Abt von Canterbury, daß unsere Urteile einer ganz bestimmten „a priorischen“ Form genügen müssen, bevor und damit sie dann noch materialiter wahr oder falsch sein können. Erst Kant wird diese Form in der transzendentalen Deduktion seiner Kritik der reinen Vernunft auf philosophiegeschichtlich nachhaltige Weise thematisieren, weil er die Notwendigkeit ihrer Geltung (nicht ihres Seins) allein auf die endliche ratio zu gründen vermag. Zwar löst sich bereits in Anselms Monologion die kognitive Relation aus ihren faktisch-zeitlichen Einzelvollzügen, womit der Abt methodisch den Weg der „transzendentalen Deduktion“ betritt. Anselm vermag aber keinen denkinternen Konstitutionsgrund des gnoseologischen Fundamentalbezugs aufzuweisen, sondern lediglich die Bedingungen zu formulieren, die ein solcher Konstitutionsgrund zu erfüllen hätte (44). Um die Einheit des Denkens in Abhebung von seinen zeitlich-vereinzelten Vollzügen zu gewährleisten (eine Einheit, ohne die keine Geltungsvalenz und in der Folge keine materialiter wahren oder falschen Urteile möglich wären), müßte der Grund des wertenden Denkens einer sein. Um ferner die Gültigkeit des geltungsvalenten Urteils für das extramentale Sein durchzusetzen, müßte der Grund des wertenden Denkens zugleich der Grund des bewerteten extramentalen Seins sein. Diese, von Anselm dem summum bonum zugeschriebene gnoseologische Grundfunktion wird Kant der transzendentalen Apperzeption übertragen. Indem die transzendentale Apperzeption das geltungsvalente Urteil und damit die Alternative von materialiter wahren und materialiter falschen Urteilen begründet, kann erstens sie selbst dieser Alternative nicht unterliegen und liefe zweitens ihre Bestreitung auf die Bestreitung der Möglichkeit des wertenden (affirmierenden oder negierenden) Denkens selbst hinaus. Übertragen auf Anselms ontognoseotheologisches Koordinatensystem: Wenn das „aliquid, quo nihil maius cogitari possit“ nur in intellectu (oder auch nur in re!5) wäre,
376 ließe sich – weil der Alternative in intellectu / in re ja die Ebene der prinzipiellen Geltungsvalenz vorgeschaltet ist – nicht nur etwas „Größeres“ denken, vielmehr würde bereits „der Gedanke, ‚das aliquid, quo nihil maius cogitari possit ist nur im Verstande‘, sofern er gültig wäre, das Denken selbst aufheben“ (57). Von fadenscheiniger begriffslogischer Zauberei dürfte diese intentionalitätstheoretische Pointe weit entfernt sein! In Anlehnung an Aristoteles charakterisiert Hiltscher die skizzierte Argumentation als das elenktische Moment der Anselmianischen Ausführungen. Voraussetzung dieser Charakterisierung ist die transzendentalphilosophische Enttheologisierung des Anselmianischen summum bonum. Denn Elenktik ist nur legitim, „solange das Denken ausschließlich bei sich bleibt“ (26), d.h. auf elenktischem Wege können zwar in intentione obliqua gnoseologische, nicht aber in intentione recta ontologische Begründungen geliefert werden. Ob ein vom Denken angenommener Grund als „wirklicher Grund“ gelten kann, muß laut Hiltscher regressiv ermittelt werden. Zu prüfen ist in diesem Falle 1. ob der behauptete wirkliche Grund „die Möglichkeit des Begründeten hinreichend erklären“ kann und 2. „in einem nachweislich logisch korrekten Verfahren ermittelt worden“ ist. Ferner muß 3. das zu Begründende wirklich als eines externen Grundes bedürftig und 4. der behauptete Grund als einzig möglicher behauptbar sein (28). Obwohl Anselm im Rahmen seiner elenktischen Begründung der Intentionalität gnoseologischen und ontologischen Grund begrifflich nicht auseinanderhält, attestiert Hiltscher ihm eine Differenzierung zwischen elenktischer und regressiver Argumentation: Anselm weiß nämlich, daß Gott nicht nur (als gnoseologischer Grund) der Alternative in intellectu / in re enthoben ist – er weiß darüber hinaus, daß Gott (als ontologischer Grund) gar nicht „in die endliche Struktur der auch (!) wechselseitigen Bedingtheit von Grund und Begründetem eingebunden“ (55) sein darf: „Ergo, Domine, non solum es quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius quam cogitari possit.“6
377 Wie ist es nun zu verstehen, daß der ontologisch unverfügbare Gott in seiner gnoseologischen Grundfunktion elenktisch ausweisbar, also mit den begründungstechnischen Mitteln der endlichen ratio erschließbar ist? An dieser Stelle greift Anselm auf den theologischen imago-Gedanken zurück: Nur weil die endliche ratio Abbild der absoluten Notwendigkeit ist, vermag sie sich in der endlichen (weil nur gnoseologischen) Notwendigkeit der Eigenbestimmtheit des Denkens zusammenzunehmen und in ihr jene Bedingung der Möglichkeit von Intentionalität zu entdecken, ohne die Denken nicht möglich ist, und deren Bestreitung den Gottesleugner in den Selbstwiderspruch führt. Der imago-Gedanke macht den absoluten Grund also zugänglich, ohne ihn damit im Bedingungsgefüge endlichen Begründens zu verwickeln (56). Damit ist „Raum“ geschaffen für die fides, welche die inhaltliche Bestimmtheit der nur regressiv zugänglichen Wirklichkeit des absoluten Grundes liefert (29 f.) und denselben in seiner Alternativlosigkeit affirmiert (68). Die fides „übernimmt“ also den regressiven Begründungsgang, der rein denkerisch beschritten nicht in der Lage ist, den absoluten Grund hinreichend zu erschließen. Mit diesem Ergebnis kann Hiltscher in der Debatte um das Verhältnis zwischen ratio und fides bei Anselm eindeutig Position beziehen: „Die fides ist Konsequenz eines rationalen Begründungsprozesses – jedoch nicht dessen rational unausgewiesener Ausgangspunkt.“ (30) Theologisch bewahrt die fides dem Gottesbegriff seine – rational geforderte! – Unverfügbarkeit, philosophisch garantiert sie die Differenzierung zwischen elenktischer und regressiver Argumentation und schützt so die gnoseologische Notwendigkeit davor, in kurzschlüssiger Linearität auf die ontologische zurückgeführt zu werden. Neben der Rehabilitation des Angeklagten muß eine gute „Verteidigungsschrift“ auch darüber Auskunft geben, wie dieser trotz nachgewiesener Unschuld überhaupt in zweifelhaftes Licht hatte geraten können. Im Falle des ontologischen Gottesbeweises erfüllt Hiltscher diese Erwartung nicht nur, indem er die Irr-
378 tümer der expliziten Kritiker des ontologischen Gottesbeweises (Gaunilo und Thomas) und die Schwächen der Anselmianischen Replik (auf Gaunilo) benennt (60-85), sondern vor allem durch seine These, mit Descartes sei ein Anwalt des ontologischen Gottesbeweises aufgetreten, der seinem Mandanten mehr geschadet als genützt habe: „Erst die Umdeutung ‚Anselms‘ durch Descartes macht den Gedanken möglich, man könne vom Begriff einer vollkommenen Wesenheit aus auf deren Realexistenz schließen.“ (114) Dabei hatte der philosophische Werdegang des Franzosen überaus hoffnungsvoll begonnen, setzten doch seine Regulae ad directionem ingenii dazu an, die Eigenbestimmtheit des Wissens unter Absehung von einzelnen Gegenstandsbereichen und partikulären Wissensformen qua Selbstthematisierung des Denkens (also in intentione obliqua) zu ermitteln, weshalb Hiltscher jene Frühschrift als „Vorform der Kritik der reinen Vernunft“ (89) bezeichnen kann. Doch fördert die cartesische Abkehr von der intentio recta keine a priorische, der Differenz von inhaltlich wahrem und falschem Wissen logisch vorausliegende Fundamentalbestimmtheit von Wissen überhaupt zutage, sondern lediglich eine fundamentale Methode, kraft derer die Vernunft anderweitig gegebenes Wissen organisiert und strukturiert, nicht aber Wissen überhaupt konstituiert (90). War Anselms Argumentation „an die semantische Ursprungsverfaßtheit des Urteils und nicht an das faktische ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ des Urteils“ (87) gebunden gewesen, so kann Descartes unter Wissen und Erkennen „nur noch das positiv gültige, gelungene wahre inhaltliche Wissen und Erkennen“ (86) verstehen, das als solches nur der Gewißheit des individuellen Subjekts zugänglich ist. Die dem faktischen Subjekt zugängliche unbezweifelbare Gewißheit ist nun aber allenfalls die in jedem cogitativen Akt implizierte „punktuelle Existenzgewißheit“ (105; Kursivsetzung C.G.), auf der unmöglich ein System des Wissens gegründet werden kann. Hierzu müßte die punktuelle Existenzgewißheit zurückgeführt werden auf die prinzipielle Reflexivität jedes denkerischen Aktes, so daß die Gewißheit nicht mehr die
379 Existenz eines faktischen Subjektes, sondern die wesenhafte Reflexivität des Denkens anzeigte, die als Konstitutivum von geltungsdifferentem Wissen ihrerseits nicht geltungsbetroffen wäre. Hiltschers Formulierung, die Existenzgewißheit beträfe „den Umstand, daß es Reflexivität gibt“ (104) verschleiert freilich seine eigenen Intentionen insofern, als sie den Anschein erwekken könnte, das Vorkommen von Reflexivität spiele für die Wissensbegründung irgendeine Rolle. Entscheidend ist aber nicht das Vorkommen von Reflexivität, sondern daß Reflexivität notwendig zum Denken gehört, wenn Denken sich vollzieht. Schließlich geht es Hiltscher weder um eine ontologische noch um eine logische, sondern um „die transzendentale Notwendigkeit im Sinne Kants“ (51). Statt des (aufgrund seiner nur punktuellen Existenzgewißheit als endlich ausgewiesenen) faktischen ego übernimmt in den Meditationes bekanntlich der Gottesgedanke die Aufgabe der Wissensbegründung. Da Descartes in diesem Gedanken kein reflexgemachtes Formmoment des Denkens selbst zu erkennen vermag, interpretiert er ihn erstens als inhaltliche Wahrheit (d.h. als geltungsbetroffen) und vermag zweitens den Grund der das faktische ego übersteigenden Gottesvorstellung nur jenseits des (ja auf die faktischen gnoseologischen Subjekte reduzierten!) Denkens zu verorten. Der Schluß auf Gott selbst als Grund der Gottesvorstellung kann daher nicht elenktisch, sondern nur regressiv vollzogen werden. Hatte das regressive Moment der Anselmianischen Argumentation dem Gottesgedanken seine Unverfügbarkeit gesichert, so involviert die cartesische Regression Gott also qua Kausalrückschluß „in die endliche Begründungsrelation der wechselseitigen Bedingtheit von Grund und Begründetem“ (111). Die Unverfügbarkeit Gottes versucht Descartes durch den in der 5. Meditation geführten Nachweis zu sichern, daß Gott nicht erst qua Rückschluß von der endlichen mens humana, sondern schon aus seiner eigenen Wesenheit heraus als realseiend bewiesen werden könne (113). Damit taucht neben dem regressiven auch das ehemals elenktische Moment der Ar-
380 gumentation Anselms in transformierter Form (126, Anm. 149) bei Descartes wieder auf. Entbunden von seinem intentionalitätstheoretischen Kontext ist es nunmehr allerdings wirklich zu einer fadenscheinigen „Ontologelei“ verkommen und qualifiziert damit den ontologischen Gottesbeweis als das, was er in seiner Anselmianischen Komplexität wahrlich nicht war – als „philosophischen Taschenspielertrick“ (114). Bei aller Kritik gesteht Hiltscher Descartes immerhin dies zu, daß der Franzose „noch ein Wissen um die Zweiteilung des unum argumentums (nämlich in einen elenktischen und einen regressiven Teil)“ (161) besessen habe – ein Wissen, das sich bei Leibniz insofern verliere, als dieser „das elenktische Element und das regressive Moment … zugunsten des elenktischen Moments“ (155; im Original kursiv) konfundiere. Leibniz verhandelt nämlich die wissenschaftstheoretisch grundlegende (131 f.) Frage nach der Möglichkeit gelingender Einzelreferenz, indem er „die Fremdbestimmtheit des Wissens sub specie aeternitatis auch zur Eigenbestimmtheit“ (153) des Wissens erklärt. Diese Entdeckung der „Eigenbestimmtheit der Subjektivität gegenüber dem Sein“ stellt laut Hiltscher eine unverzichtbare „Vorarbeit“ (ebd.) zu Kants Transzendentalphilosophie dar – aber eben nur eine Vorarbeit. Denn Kant wird aus der Eigenbestimmtheit des (nicht auf das individuelle gnoseologische Subjekt reduzierbaren) Denkens Bedingungen für jeden Gegenstand ableiten, die jedes individuelle Subjekt, indem es als Erfüllung der Funktionalität „Denken“ fungiert, (aus noch zu benennenden Gründen) am Gegenstand durchzusetzen vermag, womit erstens sowohl die Möglichkeit der Zuwendung des individuellen gnoseologischen Subjekts zum Gegenstand als auch die Integrationsfähigkeit des Gegenstandes in die transsubjektiv gültige (und daher intersubjektiv verbindliche) wissenschaftliche Theoriebildung grundgelegt und zweitens a priori zwischen dem Sinn des Gegenstandes der individuellen Erstzuwendung und dem Sinn des Gegenstandes der darauf aufbauenden wissenschaftlichen Erkenntnis differenziert ist (161).7 Da Leibniz das Denken
381 noch nicht als eigenbestimmtes wie überindividuelles Prinzip versteht, versucht er die unmittelbare Wissenschaftstauglichkeit der Einzelreferenzen des individuellen gnoseologischen Subjekts zu erweisen (132) und führt zu diesem Zwecke in seiner Monadologie „den Gedanken eines Gesetzes für ein Individuum“ (142) ein. Nun weisen individuelle Einzelreferenzen qua Anschauungsvermitteltheit aber ein irreduzibles „Privatheitsmoment“ auf, weshalb jenes Gesetz ein Gesetz des absolut „Privaten“ sein müßte, das als solches freilich wissenschaftstheoretisch inakzeptabel ist. Zur Lösung des Dilemmas führt Leibniz das Konstrukt „einer alle Perspektiven koordinierenden absoluten Subjektivität“ (143) ein, deren Bestreitung die Möglichkeit wissenschaftlichen Wissens und damit (da für Leibniz Wissen nur als wissenschaftliches Wissen denkbar ist) die Weltintentionalität des Denkens aufheben würde (155). Im Unterschied zu Descartes integriert Leibniz den Gottesbeweis also wieder „einer Fundierung der Intentionalität des Denkens“ (164). Der Wegfall des regressiven Teils der ursprünglichen Anselmianischen Argumentation führt freilich zur Verwicklung Gottes in die von ihm begründete Welt: Gott wird zu einem Namen „für den Gedanken einer durchgängigen gleichsinnigen Rationalität allen Seins“ (162). Leibniz’ Gottesbegriff ist aber nicht nur theologisch fragwürdig, sondern zugleich Signum des philosophischen Unvermögens, „eine wirklich autonome, nichtontotheologische Gnoseologie aufzubauen“ (164). Den entscheidenden systematischen Beitrag zur Überwindung jenes Unvermögens leistet der frühe Kant (165-191) mit folgender intentionalitätstheoretischer Differenzierung, die Hiltscher aus der „Beweisgrundschrift“8 herausfiltert: Da die Existenz eines Dinges dessen Sinn nichts hinzufügt, muß das Gemeint-Sein als reiner Sinn vom letztlich sinnlosen Sein unterschieden werden, und diese Unterschiedenheit spiegelt sich insofern im Existenzbegriff, als dieser zwar prätendiert, das Sein lasse ein bestimmtes Gemeint-Sein als Beschreibung zu, nicht aber, das Gemeint-Sein sei das Sein (169 f.). Kants Einsicht in die konstante
382 intentionalitätstheoretische Sinnlosigkeit des Seins macht nun verstehbar, wie endliches Denken die Eindeutigkeit seiner Referenz selbst garantieren kann: Wenn (wie Hiltscher über den frühen Kant hinausgehend argumentiert) das Sein für das Denken den unveränderlichen „Sinn“ der Sinnlosigkeit hat, dann intendiert jeder Gedanke denkender Wesen, sofern er „Sein“ intendiert, notwendigerweise „denselben unveränderlichen Sinn“ (182). Intentionalitätstheoretisch betrachtet, bleibt das Sein also nicht jenseits des Denkens als unzugängliches „An sich“ stehen, sondern sichert „denkintern“ das Gelingen jeglicher Zuwendung zum Erkenntnisobjekt: Wessen Sein auch immer prätendiert wird – die Prätention seines Seins gelingt garantiert, auch wenn das jeweilige Gemeint-Sein in seiner konkreten Sinnbestimmtheit sich vielleicht als nichtexistent herausstellt. Indem derart die notwendig gelingende Seinsprätention der Differenz materialiter wahrer und falscher Urteile logisch vorausliegt, ist die kognitive Relation als autark konstituiert nachgewiesen und der auf materialiter wahres Wissen eingeschränkte cartesische Wissensbegriff überwunden. Den Durchbruch zu einer wirklich autonomen, nichtontotheologischen Gnoseologie sieht Hiltscher freilich erst durch den kritischen Kant (192-222) vollbracht. Denn der frühe Kant macht als letzten Grund für die beständig zutreffende fundamentale Beschreibbarkeit des Seins noch nicht das Denken, sondern das (nicht intentionalitätstheoretisch, sondern ontologisch begriffene) Sein selbst aus: Dieses müsse es notwendigerweise geben, wenn eine fundamentale, stets gelingende Perspektive auf „Sein“ möglich sein soll (177 f.). Da diese gelingende Perspektive Voraussetzung von Intentionalität ist, liefe die Bestreitung des notwendigen Etwas auf die Bestreitung der Möglichkeit von Intentionalität hinaus. Doch die hier angewandte elenktische Beweisfigur operiert jenseits des Bereichs ihrer Legitimität und täuscht vor, begründen zu können, was sich nur regressiv – und damit nur hypothetisch – begründen läßt. Kants auf dieser Argumentation aufbauende Version des ontologischen Gottesbewei-
383 ses muß von daher als erschlichen (183) beurteilt werden. Sie verdeckt zudem, daß Kants „Beweisgrundschrift“ bereits jene systematischen Innovationen liefert, die bei konsequenter Aufrechterhaltung der Differenz zwischen den (elenktisch ausweisbaren) notwendigen Sinnbedingungen der Intentionalität des Denkens und der (bloß regressiv, also gar nicht begründbaren) ontologischen Notwendigkeit des Denkens einen Sinnbegriff der Gegenständlichkeit überhaupt ermöglichen, auf den sich das Denken „aus sich selbst heraus“ (194) in und – logisch betrachtet – vor jedem konkreten Gegenstandsbezug immer schon bezieht. Damit ist laut Hiltscher „das Fundament der sogenannten kopernikanischen Wende erreicht“ (199). Sofern nämlich das kategorial strukturierte Gemeint-Sein die sinntheoretische Kehrseite der durch den Existenzbegriff nachgewiesenen konstanten Sinnlosigkeit des (vermeintlich) denkunabhängigen Seins ist, wird klar, wie und warum das Denken „in der Gegenständlichkeit diejenigen Bedingungen der Gegenständlichkeit“ durchsetzen kann, „die Gegenständlichkeit aufweisen muß, um vom Denken geltungsdifferent erkannt werden zu können“ (199). Wenn „alle Gedanken kraft ihrer Bezogenheit auf den identischen Nichtsinn des „Seins an ihm selbst“ stets das (sinn)identische Gemeint-Sein prätendieren müssen“ und „wenn diese Zuwendung vom Denken selbst gestiftet ist“, dann muß andererseits „das Denken einen durchgängigen identischen Sinn an ihm selbst“ (195) – eine a priorische Eigenbestimmtheit aufweisen. Spätestens hier wird vollends klar, wie der Übergang vom sinneutralen „Sein“ zum Sinnbegriff des Gemeint-Seins zu denken ist: „Ontisch“ fügt die Existenzprätention einem Gehalt nichts hinzu, gnoseologisch ist sie jedoch Ausdruck der transzendentallogischen Konstitution des Gehalts zu einem Fall von Gemeint-Sein, das als notwendige Fundamentalstruktur aller Gegenständlichkeit in aller Gegenständlichkeit zwar identisch und insofern sinneutral, an ihm selbst (in intentione obliqua) betrachtet aber reiner Sinnbegriff ist, der vor der Unterscheidung zwischen inhaltlich wahrem und falschem Wissen festlegt,
384 was Wissen überhaupt ist und seine eigene Durchsetzbarkeit am „Objekt“ zu verbürgen vermag. Er vermag dies, weil zur a priorischen Form des Denkens Reflexivität gehört, weshalb jedes „denkende Wesen“ garantiert Zugang hat zu den transzendentalen Konstitutionsbedingungen von Wissen und zu den Gründen ihrer Durchsetzbarkeit. Der Gottesgedanke verliert damit seine gnoseologische Funktion, „die Geschichte der ontotheognoseologischen Intentionalitätsdebatte“ (192) geht zu Ende. Diese Bemerkung ist freilich eine der wenigen Aussagen Hiltschers, die das Erscheinen seiner Monographie in der Reihe „Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie“ rechtfertigen. Seine Ausführungen sind durch und durch von dem systematischen Interesse geprägt, die Leistungsfähigkeit der Kantischen Gnoseologie zu erweisen, und zwar nicht nur in Auseinandersetzung mit den Vorgängern des Königsberger Philosophen. Hiltschers Diskussion des ontologischen Gottesbeweises vollzieht sich vielmehr von Anfang an vor dem Hintergrund des Disputs zwischen einer Wissenskonzeption, die (wie Anselm und Kant) „Wissen als geltungsdifferente Intentionalität“ und einer solchen, die (wie Descartes und Leibniz) Wissen „als positiv inhaltlich gelingende Intentionalität“ (223) begreift. Da die letztgenannte Position einerseits für die Trivialisierung des ontologischen Gottesbeweises verantwortlich ist (vgl. Descartes) und andererseits von der gegenwärtig dominanten „analytischen Erkenntnistheorie“ alternativlos vertreten wird, läuft Hiltschers Apologie des intellektuellen Niveaus des ontologischen Gottesbeweises auf eine Kritik des Wissensbegriffs der analytischen Erkenntnistheorie hinaus. Da der Aufweis jenes intellektuellen Niveaus und der Nachweis der systematischen Fehlentwicklungen, die dem ontologischen Gottesbeweis den Geruch der Trivialität eingebracht haben, mit den Mitteln der Kantischen Philosophie geschieht, ist Hiltschers Buch überdies eine „Apologie des kantischen Erkenntnis- und Prinzipienbegriffs“ (223; Kursivsetzung C.G.), deren Aktualität aus dem von Hiltscher nicht
385 ohne Polemik9 geführten Nachweis hervorgeht, daß zentrale Probleme der analytischen Erkenntnistheorie sich auf dem Boden des Kantischen Wissensbegriffs ganz zwanglos lösen lassen – wenn akzeptiert wird, daß es bei Kant um geltungsdifferentes Wissen und nicht erst um materialiter wahres Wissen qua gerechtfertigter Überzeugung geht. Unter dieser Prämisse interpretiert Hiltscher Kants Gnoseologie als Modell für die (im Rahmen der analytischen Debatte selbst als notwendig erkannte) konsistente Vereinbarkeit des internalistischen und des externalistischen Moments bei der Erkenntnisbegründung: Da „die Formbestimmtheit des gültigen Erkenntnisurteils“ (und damit die Garantie für das prinzipielle Gelingenkönnen von Erkenntnis) „nicht im konkreten Subjekt begründet“ ist, „sondern im transzendentalen Subjekt“ (226), würden die „erkenntniskonstitutiven Formprinzipien … auch dann gelten, wenn sie reflexiv nicht vom konkreten Subjekt gewußt würden“ (239), womit der externalistischen Forderung nach „objektiven“ Kriterien eines sicheren Meinungsbildungsprozesses Rechnung getragen wäre (240). Das transzendentale Subjekt ist laut Hiltscher dezidiert nicht als quasiontologisches Übersubjekt zu verstehen (228), sondern als „Forminbegriff ‚der kognitiven Relation (überhaupt)‘, deren Relate die Funktionsvariablen des ‚Subjekts überhaupt‘ und des ‚Gegenstands überhaupt‘ sind“ (226). Da nun in „diese Formeigenbestimmtheit des Denkens selbst … die reflexive Fähigkeit des Denkens“ gehört, „sich selbst zum Thema zu machen und sich seine Prinzipien entfalten zu können“ (242), hat das als Erfüllungsfall der Variable „Subjekt überhaupt“ fungierende reale Subjekt qua Reflexivität garantiert potentiellen kognitiven Zugang zu den rechtfertigenden Gründen seines Wissens, womit der entsprechenden internalistischen Forderung Rechnung getragen wäre. Die potentielle Zugänglichkeit der geltungsbegründenden Prinzipiensphäre des Denkens eröffnet überdies die Perspektive eines reflexionstheoretischen Kontextualismus: Während das reale Subjekt in seinem Wissen implizit gerechtfertigt ist, muß die
386 Reflexionswissenschaft in der Lage sein, die Prinzipiensphäre des Denkens zu explizieren. Die vom analytischen Lager gewonnene Einsicht, daß unterschiedliche Kontexte „unterschiedliche Rechtfertigungskriterien mit sich bringen“ (236), erfährt so eine Begründung, die über bloßes Konstatieren von Fakten hinausgeht. Doch läßt sich zum Thema „Kontextualismus der theoretischen Wissensformen“ aus der Kantischen Philosophie noch mehr „Honig saugen“, wie Hiltscher in einem überaus innovativen Anhang10 zur Monographie (255-285) zeigt. Es versteht sich, daß die Spezifikation der Wissensformen ohne Rückgriff auf Empirie vonstatten geht: Die Begründung eines speziellen Wissensbereiches erfolgt für Kant dadurch, daß ein reflexiver „substantialer“ Begriff vom Zusammenfungieren bestimmter konstitutiver Teilprinzipien der geltungsdifferenten Gegenstandsreferenz überhaupt gebildet wird. Dieser reflexiv „konstruierte Begriff“ stiftet die Grundstruktur eines speziellen Gegenstandsbereichs, die dann durch alle Kategorien bestimmt gedacht werden kann. (257)
Hiltschers folgende Differenzierung zwischen verschiedenen Urteilstypen stellt dementsprechend ein Spezifizieren des (a priorischen) geltungsdifferenten Urteils überhaupt dar. Herzstück der diesbezüglichen Überlegungen ist die kritische Rekonstruktion11 einer Lehre Kants vom Alltagsurteil (259 ff.), ohne welches die Disjunktion zwischen dem „Wahrnehmungsurteil mit nur privater Bedeutung und dem Erfahrungsurteil mit objektiver Geltung“ (259) unvollständig sei. Wenn nämlich das Wahrnehmungsurteil die subjektive Wahrnehmungsfolge erfaßt, dann ist zwar die kategoriale Vergegenständlichung des außersinnlichen Mannigfaltigen durch das Denken vorauszusetzen (268), dies besagt aber noch nicht die Abkünftigkeit des Wahrnehmungsurteils vom wissenschaftstauglichen Erfahrungsurteil – eine solche Konzeption würde wohl Leibniz’ Monadologie wiederbeleben müssen! Die dem Wahrnehmungsurteil vorausgesetzte kategoriale Gegenstandskonstitution geschieht vielmehr unter dem Primat des inneren Sinns und ist damit an die raumzeitliche (leibliche) Perspektive des konkreten Subjekts gebunden (273 f.). Die
387 aus dieser Perspektive statthabende geltungsdifferente Gegenstandsreferenz bezeichnet Hiltscher als Alltagsurteil, bei dem „die konkrete Leibperspektive die Variable DES erkennenden Subjektes“ bestimmt, „die dem konkreten Subjekt zugeordnet ist“ (284). Beim invariante Weltstrukturen intendierenden Erfahrungsurteil hingegen wird das als das erkennende Subjekt fungierende konkrete Subjekt zu einer unbestimmten Variablen (283) – obwohl es für die Genese des Erfahrungsurteils unverzichtbar ist, denn „nur die Referenz zu einer einzelnen, sozusagen individuellen anschaulich-gegenständlichen Struktur kann wissenskorrigierend bzw. wissenserweiternd wirken“ (284). Im Anhang seiner Monographie entwirft Hiltscher damit eine Konzeption, welche die Wissenschaftstauglichkeit der Einzelreferenzen des konkreten Subjekts erweist ohne das zugehörige Privatheitsmoment à la Leibniz sub specie aeternitatis wegargumentieren zu müssen. Sie liefert ferner eine Rechtfertigung der intuitiven Überzeugung, daß unser individueller Zugang zur Wirklichkeit „realitätsgesättigter“ ist als die wissenschaftliche Weltbeschreibung. Sie tut dies bestechenderweise nicht qua Sprung auf die Ebene von Selbsterfahrung und Selbsterleben (die allenfalls quaestiones facti beantworten) und erspart dem Leser damit die Enttäuschung, in einem philosophischen Buch Appelle statt Argumente zu finden. Vor allem aber regt sie zum Mit- und Weiterdenken an und markiert damit den angemessenen Abschluß eines Buches, das aufgrund seines großen denkerischen Engagements durchweg zu fesseln vermag.12 Anmerkungen 1 Anselm von Canterbury: Proslogion (Lateinisch/Deutsch). Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Theis, Stuttgart 2005, S. 22. 2 Vgl. ebd., S. 84 ff. 3 Das Buch ist durch eine vom Verfasser im WS 1999/2000 an der TU Dresden gehaltene Vorlesung zum ontologischen Gottesbeweis motiviert und daher in acht „Vorlesungen“ (und einen Anhang) untergliedert. 4 Alle Seitenangaben in Klammern (in Text und Anmerkungen) beziehen sich auf das zu rezensierende Werk.
388 5 „Ein bloß intramentales Sein ist nicht weniger vollkommen, weil ihm bloßes SiV [= Sein im Verstande] zukommt, sondern ihm kommt bloßes SiV zu, weil es ontologisch defizitär ‚von sich her‘ ist.“ (33) 6 Anselm von Canterbury (wie Anm. 1), S. 48. 7 Die letztgenannte Differenzierung nimmt Hiltscher im Anhang der Monographie mit der Unterscheidung zwischen Alltags- und Erfahrungsurteil wieder auf. 8 Gemeint ist die Schrift „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“. 9 „Kants Gnoseologie ist ohne größere Anstrengung auch in der oftmals schauderhaften Wissenschaftssprache der ‚Deutschanalytiker‘ zu verteidigen.“ (237) 10 Dieser Anhang ist nicht zu verwechseln mit dem eher historisch ausgerichteten Nachtrag von Thomas Ludolf Meyer zu Augustinus (309-315)! 11 „Unsere Rekonstruktion wird unvollständige Ansätze Kants sozusagen zu Ende zu denken versuchen – sie wird an einigen Stellen sogar gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Kantischen Texte operieren müssen.“ (259; im Original kursiv.) 12 Was den religionsphilosophischen Ertrag des Buches angeht, so liefert es gewiß keine Antworten auf die Frage nach Gott (und will dies auch nicht; vgl. 11), bietet aber im Blick auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie die interessante Einsicht, daß denkerische Kurzschlüsse in der Regel zu Lasten sowohl des Gottesbegriffs als auch des philosophischen Denkens gehen: Wird – sei es aus theologisch-apologetischem Interesse, sei es mangels besserer Argumente – zur Klärung philosophischer Fragen auf den Gottesgedanken zurückgegriffen, so kommt es zur Verendlichung Gottes und zur Theonomisierung der Philosophie. Zur Vermeidung dieses doppelspurigen Irrwegs kann Anselms (implizite) Differenzierung zwischen elenktischer und regressiver Argumentation m.E. auch im chronologischen Diesseits der mittelalterlichen Ontotheognoseologie etwas beitragen: Ist einerseits Denken elenktisch ganz bei sich, so verweist es regressiv aus sich selbst heraus auf vernunftexterne Gründe, die es nicht erschließen kann, aber auch nicht zu erschließen braucht, weil es seine geltungstheoretische Selbstbegründung rein elenktisch leisten kann (womit die Autonomie der Philosophie gesichert ist). Kraft jenes Verweises auf vernunftexterne Gründe gerät andererseits „Gott“ als rational unverfügbare Größe in den Horizont der Vernunft, so daß „Gott“ weder qua Integration in das Begründungsgefüge der endlichen ratio verendlicht wird noch auf eine rein fideistische Introduktion in den allgemeinen Diskurs festgelegt ist. Unterstrichen wird die bleibende religionsphilosophische Relevanz der Differenzierung zwischen elenktischer und regressiver Argumentation im übrigen durch Hiltschers bemerkenswerten Nachweis, diese Differenzierung kehre in Kants moralischem Argument für das Dasein Gottes wieder (221).
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PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger † (Würzburg); herausgegeben von Wiebke Schrader (Würzburg); Georges Goedert (Luxemburg) und Martina Scherbel (Würzburg). Das „Neue Jahrbuch“ nimmt die Intentionen des ehemaligen Jahrbuchs „Philosophische Perspektiven“ (1969 – 1973) auf.
Band 1 enthält Beiträge zum Thema „Vernunft in Wissen, Beschreiben und Handeln“ (Rudolph Berlinger, Friedrich Kaulbach, Fred Kersten, Hans Lenk, Hermann Lübbe, Wiebke Schrader); sowie Abhandlungen zum Ödipus-Problem bei Nietzsche (Eric Blondel); zu Spiel und Feier (Eugen Fink); zur phänomenologischen Ästhetik, Teil I (Gerhard Funke); zum Buddhismus (Masako Odagawa) und zu Solons Staatselegie (Ernst Siegmann). In diesem Band werden zum ersten Mal die Reden zum Tode Edmund Husserls (Eugen Fink, Ludwig Landgrebe, Jan Patoãka) der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine Würdigung der Philosophen Wolfgang Cramer (Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda) und Aron Gurwitsch (Fred Kersten) schließt diese Rubrik ab. – Buchanzeigen und Rezensionen. Amsterdam 1975 Band 2 mit Beiträgen zum Thema „Ende oder Zukunft der Metaphysik“ (Franco Chiereghin, Wilhelm Ettelt, Jacques d’Hondt, Dieter Lang, Martin Oesch, Josef Stallmach, Xavier Tilliette); sowie Abhandlungen zur phänomenologischen Ästhetik, Teil II (Gerhard Funke); zur Rechtsphilosophie Hegels (Klaus Hartmann); zur klassischen Ästhetik (Walter Hirsch); zur Struktur geschichtsphilosophischer Aussagen (Paul Janssen); zum Bildnis des Sokrates (Thuri Lorenz); zu Comte und d’Eichthal (Magda Felice-Oschwald) und zum Drama des bürgerlichen Humanismus (Jean Servier). Dem Andenken an Heinz Heimsoeth (Wolfgang Janke) und Eugen Fink (Gerhard Schmidt) gelten zwei Beiträge. – Buchanzeigen und Rezensionen. Amsterdam 1976 Band 3 mit Beiträgen zum Thema „Zur systematischen und praktischen Philosophie“ (Rudolph Berlinger, Roderick M. Chisholm, Gerhard Frey, Friedrich Kaulbach, Manfred Riedel, Julius Jakob Schaaf, Wiebke Schrader) und Abhandlungen zur Problemgeschichte der Neuzeit: Aristoteles’ Lehre vom Guten (Franz Brentano); Généalogie des valeurs et vérité dans la philosophie de Nietzsche (Jean Granier); Vollendeter Humanismus (Wolfgang Janke); Schopenhauers „Kritik der Kantischen Philosophie“ (Johann-Heinrich Königshausen); Montesquieu und die „gesellschaftliche Funktion“ der Religion (Hugo Laitenberger); Das Prinzip der phänomenologischen Intelligibilität bei Aron Gurwitsch (Guiseppina Moneta); Das principium identitatis indiscernibilium des Leibniz (Hans Radermacher); Die psychoanalytische Kritik Freuds am Philosophieren (Alfred Schöpf); Das Land der Wahrheit ist eine Insel (Wilhelm Teichner). Dem Andenken von Jan Patoãka ist ein Beitrag von Ludwig Landgrebe gewidmet. – Buchanzeigen und Rezensionen. Hildesheim 1977
Band 4 enthält den ersten Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach „Das Experiment der Vernunft“ mit Beiträgen von Friedrich Kambartel, Yvon Belaval, Rudolph Berlinger, Josef Derbolav, Gerhard Funke, Erich Heintel, Ulrich Hoyer, Friedrich Kambartel, Stephan Körner, Hans Lenk, Klaus Mainzer, Jürgen Mittelstraß, Manfred Riedel, Wiebke Schrader und Oswald Schwemmer. Außerdem folgende Abhandlungen: Der Ansatz einer Dialektik der Natur bei Marx (Mihailo Djuriã); Die Beherrschung der Wirtschaft durch schöpferisches Denken (Eugen Fink); Mystische Erfahrung und Sprache (Alois M. Haas); Der metaphysische Sinn topologischer Ausdrücke bei Augustin (Shinro Kato); Anthropologie als Grundwissenschaft (Erich Christian Schröder); Der Gott des Monadenalls. Gedanken zum Gottesproblem in der Spätphilosophie Husserls (Stephan Strasser); Der Ausbruch aus der Universitätsphilosophie. Eine Erinnerung an die Grundintention des Gesamtwerkes von Wilhelm Dilthey (Carl Ulmer); Das Vorurteil des Hierarchismus (Jörg Willer). – Buchanzeigen von Enrico Berti, Wilhelm Ettelt, Georges Goedert, Helmut Kuhn, Yoitiro Kumada, Wilhelm Teichner und Alfred Schöpf. Hildesheim 1978 Band 5 enthält den zweiten Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach „Das Experiment der Vernunft“ mit Beiträgen von Ralf Dreier, Volker Gerhardt, Joachim Kopper, Norbert Herold, Wolfgang Ritzel, Helmut Schelsky und Wiebke Schrader. Außerdem folgende Abhandlungen: Die Frage nach dem Ende der Geschichte (Mihailo Djuriã); Das transzendentale Ich als Seiendes in der Welt (Robert Welsh Jordan); Axel Hägerström. Über die Wahrheit moralischer Vorstellungen (Dieter Lang); Über die Wahrheit moralischer Vorstellungen (Axel Hägerström); Transzendentale Fundamente der Moral in der Person (Wolfgang Marx); Anthropologie – Pro und Contra (Julius Jakob Schaaf); Gebildete Sinne – Bedingung glückenden Daseins (Hubertus Tellenbach); Der Satz vom Grund als transzendentales Prinzip der Seinserschließung (Beda Thum); Das empirische Denken Carl Braigs (1853-1923) (Franz Träger). – Buchanzeigen und Rezensionen von G.A. Rauche und Dieter Wyss. Hildesheim 1979 Band 6 enthält Beiträge zum Thema „Aneignung und Vermittlung“: Zum „künftigen Denken“ aus der Ferne (Yoshiaki Yamashita); Die Struktur des ästhetischen Bewußtseins bei K.W.F. Solger. Die Bedeutung der dialektischen Ironie (Kiyokazu Nishimura). Außerdem „Vermischte Abhandlungen“: Vom Grund der Conditionalität. Ein Problem der spekulativen Grammatik (Rudolph Berlinger); „Wohin?“, „Wozu?“: Ein Kulturproblem. Wahrheit und Leben bei Hume und Nietzsche (Eric Blondel); Die Abhängigkeit der Methoden von den Zielen der Wissenschaft. Überlegungen zum Problem der „Letztbegründung“ (Matthias Gatzemaier); Platons Phaidon als bewußtseinstheoretischer Dialog (Karen Gloy); Die Idee der Humanität. Zur Geschichte und Problematik der Menschenrechte (Walter Hirsch); Ist der Marxismus ein Existenzialismus? Eine Umkehrung (Wolfgang Janke); Das perspektivische Wirklichkeitsprinzip in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ (Friedrich Kaulbach); Alexander Pfänder: Welche Probleme stellt die heutige Zeit der Philosophie? Zwei Rundfunkvorträge aus dem Jahre 1927 (Eberhard AvéLallement); Die Erprobung der Mitte. Abbreviatur zu einem augustinischen Topos (Anm. u. Exkurse II) (Wiebke Schrader); Extralinguistische Prozessualität und Verbalsemantik (Klaus Trost); Die Aufnahme der Philosophie Spinozas im Denken Schillers (Winfried Weier). – Buchanzeigen und Rezensionen. „Zur Erinnerung an Willi Lautemann“ (Ein Gedenken der Schüler). Hildesheim 1980 Band 7 enthält Beiträge unter dem Titel „Friedrich Nietzsche: Interpretation und Kritik“: Nietzsches Erschließung der europäischen Moralistik (Hans Peter Balmer); Nietzsches arkadische Landschaft (Rudolph Berlinger); ‚Götzen Aushorchen‘: Versuch einer Genealogie der Genealo-
gie (Eric Blondel); Zum Begriff der Macht bei Friedrich Nietzsche (Volker Gerhardt); Zur Notwendigkeit des Bösen in Nietzsches Projekt vom Übermenschlichen (Georges Goedert); Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen (Friedrich Kaulbach); Fichte und Nietzsche (Oswaldo Market); Die metaphysische Rescendenz im Denken Nietzsches (KarlHeinz Volkmann-Schluck). „Vermischte Abhandlungen“: Konkretisierte Existenzstrukturen in Sartres Tragödie „Die schmutzigen Hände“ (Margot Fleischer); Platons Phaidon als bewußtseinstheoretischer Dialog (Karen Gloy); Phänomenologie der Zeit nach Husserl (Klaus Held); Theorie der Leiblichkeit. Eine Skizze (Shinro Kato); Lavelles philosophische Selbstbezeugung (eingel. v. Karl Albert – übers. v. Konrad Jacobs); Das Recht der spekulativen Erkenntnis (Gerhart Schmidt); Die Erprobung der Mitte. Eine Abbreviatur zu einem augustinischen Topos (Anm. u. Exkurse III) (Wiebke Schrader); Denkt die Wissenschaft nicht? (Josef Stallmach); Die absolute Idee als begreifendes Anschauen. Bemerkungen zu Hegels Begriff der spekulativen Idee (Günter Wohlfart). „Buchbesprechungen und Diskussionsbeiträge“: Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum (Edgar Früchtel); Eugen Fink: Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung (Paul Janssen); Heinrich Beck. Kulturphilosophie der Technik. Perspektiven zu Technik – Menschheit – Zukunft (Günther Pöltner). Hildesheim 1981 Band 8 enthält Beiträge unter dem Titel „Individuum und Daseinsbedingung“: Bildnisse griechischer Philosophen – Die Kyniker (Thuri Lorenz); Die Dringlichkeit der Frage nach dem Individuum (Wiebke Schrader); Das Individuum in Gestalt der Person (Rudolph Berlinger); Das Problem des Menschen und der Natur bei Dogen (Kogaku Arifuku); Philosophische Aspekte von Wagners »Tristan und Isolde« (Margot Fleischer); Das Individuum in der japanischen Ästhetik (Kazuyoshi Fujita); Gerechtigkeit in der Gesellschaft und die Freiheitsrechte des Individuums (Fritz-Peter Hager); Das Individuum in der Philosophie John Lockes (Norbert Herold); Herrschaft und Nähe (Pierre Pénisson); Der Prozess im Subjekt – Das Subjekt im Prozess (Wiebrecht Ries); Relationstheoretische Analyse des gesellschaftlichen Seins (Julius Schaaf); unter dem Titel „Philosophie und Praxis der Erziehung“: Erziehungsnormen und das geltende Recht (Heinrich Kanz); Die taxonomischen Stufen als Bildungsproblem (Wolfgang von der Weppen). „Vermischte Abhandlungen“: Kant und Husserl. Vom Primat der praktischen Vernunft. 1. Teil (Gerhard Funke); Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen (Kurt Ruh); L’existence injustifiée. Überlegungen zu Jean-Paul Sartres Roman La Nausée (Dieter Lang). Unter dem Titel „In Memoriam“: Ansprache zur Bestattung von Karl Ulmer (Rudolph Berlinger); Philosophieren im Zeitalter der metaphysischen Reszendenz. Zum Tode von Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Wolfgang Janke). „Buchanzeigen und Diskussionen“: Dieter Lang. Wertung und Erkenntnis (Thomas Mautner) sowie eine Notiz zur Gesamtausgabe der Schriften Karl Bühlers. Amsterdam 1982 Band 9 enthält Beiträge unter dem Titel „Zur frühen Heidegger-Kritik“: Grenzen und bleibende Bedeutung von Heideggers „Sein und Zeit“ (Hansgeorg Hoppe); Das Sein Heideggers als Beziehung (Julius Schaaf); Kritik und Rezeption von „Sein und Zeit“ in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen (Claudius Strube); Kant und das Problem der Sprache bei Heidegger (Günter Wohlfart); „Philosophie der Erziehung“: Bildungsphilosophisch-theoretische Ansätze der Erziehungswissenschaft (Josef Derbolav); Bildung im technischen Zeitalter (Walter Hirsch); Herr der Welt. Mit J.A. Comenius unterwegs zu einer Pädagogik der Rationalität und Intersubjektivität (Klaus Schaller). „Vermischte Abhandlungen“: Vom Grund der Phänomene (Rudolph Berlinger); Das Mathematische als Daseinsbedingung (Wilhelm Ettelt); Kant und Husserl. Vom Primat der praktischen Vernunft. 2. Teil (Gerhard Funke); Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises. Anselm und Parmenides (Klaus Held); Zweifel und Überzeugung. Peirces Kritik an
der Cartesischen Zweifelsargumentation (Jochem Hennigfeld); Das Wahrheitsproblem des Aristoteles. Zum Ansatz der Problematik (Johann-Heinrich Königshausen); Sittliche Einsicht und Normenethik. Das Aristotelische Grundlegungsproblem (Jürgen-Eckardt Pleines); Fichtes Wissenschaftslehre in der zeitgenössischen Kritik (Martin Oesch). „Nachruf“: Nachruf auf Alois Dempf (Rainer Specht). „Zur Diskussion“: Zur Erneuerung der Frage nach der „Ersten Wissenschaft“ (Wiebke Schrader); Zum Gegenstandsbereich der Hermeneutik (Hans Köchler); Anaximander – eine Studie (Christian Többicke). „Rezensionen“: Hans-Dieter Voigtländer: Der Philosoph und die Vielen (C. Joachim Classen); James P. Lowry: The Logical Principles of Proclus’ Stoicheiosis Theologike as Systematic Ground of the Cosmos (Edgar Früchtel); W. Helleman-Elgersma: Soul Sisters. A Commentary on Enneads IV 3 (27), 1-8 of Plotinus (Edgar Früchtel). Buchanzeige: J.-E. Pleines. Praktische Wissenschaft. Erziehungswissenschaftliche Kategorien im Lichte sozialphilosophischer Kritik (Jürgen-Eckardt Pleines); Josef Derbolav. Abriß europäischer Ethik. Die Frage nach dem Guten und ihr Gestaltwandel (Lothar Wigger). Amsterdam – Würzburg 1983 Band 10 enthält unter dem Titel „Philosophie der Politik“: Handlungstheorien im Politischen (Klaus Hartmann); Hegel on International Law (Michael H. Mitias); Praktische Philosophie als Philosophie des Politischen (Ernst Vollrath); unter dem Titel „Philosophie der Erziehung“: Über Bildung und ihr Maß (Theodor Ballauff); Die pädagogischen Schriften Ernst Blochs (Ernst Hojer); Der Schulbegriff in Hegels Gymnasialreden (Lothar Wigger); unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Philosophie und Religion bei Louis Lavelle (Karl Albert); Transzendentalphilosophie und Psychologie. Zum Begriff der „Phänomenologischen Psychologie“ bei Husserl (Gerhard Arlt); Vom Sprachgrund der Welt. Ein Problemaufriß (Rudolph Berlinger); Portrait im Gegenlicht – G.W.F. Hegel (Johann Ludwig Döderlein); Zur Motivation des Handelns bei Homer (Hartmut Erbse); Aristoteles’ Zenon-Kritik (Karen Gloy); Wie ist Monadologie möglich? (Klaus Erich Kaehler); Apriorität des Denkens bei Kant (Johann-Heinrich Königshausen); Raphael und das antike Rom. Bemerkungen zu seinem Brief an Leo X (Thuri Lorenz); Meister Eckharts Pariser Quaestionen 1-3 und eine deutsche Predigtsammlung (Kurt Ruh); Aristoteles’ „Erste Wissenschaft“ als Relationstheorie betrachtet (Julius Schaaf); Wie kommt der Gott in das Denken? Ein Problemaufriß (Wiebke Schrader); unter dem Titel „Rezensionen und Buchanzeigen“: Dieter Wyss. Zwischen Logos und Antilogos. Untersuchungen zur Vermittlung von Hermeneutik und Naturwissenschaft (Lothar Eley); Platonismus und Christentum. Festschrift für Heinrich Dörrie (Edgar Früchtel). Amsterdam – Würzburg 1984 Band 11 enthält unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Von der Sinnlichkeit des Geistes. Eine morphopoietische Reflexion zur Sprache (Rudolph Berlinger); Phänomenologie des Gewissens im Zusammenhang von „Sein und Zeit“ (Heinrich Hüni); Sprachverlorenheit und Winke der Götter (Wolfgang Janke); Zeit und Zeitlichkeit. Zeit als Realisierungsbedingung der Erkenntnis und die Zeitlichkeit des Erkennens (Paul Janssen); Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie. I. Teil (Bernulf Kanitscheider); Sartres Begriff der menschlichen Freiheit. Übersetzt von Gerhart Schmidt (Guy Planty-Bonjour); Selbstnegation und Vermittlung (Julius Schaaf); Fragen philosophischer Propädeutik (Leonhard G. Richter); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? I. Teil (Wiebke Schrader); Der Naturbegriff in John Lockes „Essay“ (Rainer Specht); Geschichte und ihre Zeit. Erörterung einer offenen philosophischen Frage (Elisabeth Ströker); Die Verantwortung der Philosophie als Wissenschaft oder die Verwechslung des Einfältigen mit dem Einfachen (Karl Ulmer †); unter dem Titel „Philosophie der Politik“: Handlungstheorien im Politischen. II. Teil (Klaus Hartmann); Die Idee bei Platon und Kant und das Staatsideal (Walter Hirsch); unter dem Titel „Philosophie der Erziehung“: Platons Ideen zur
Kulturkritik und zur Neubegründung der Kultur und Bildung (Fritz-Peter Hager); Giovanni Gentile: Pädagogik zwischen Idealismus und Faschismus (Ernst Hojer); Das Problem der Normenbegründung und die Pädagogik (Herbert Zdarzil); unter dem Titel „Buchbesprechungen“: Einige Bemerkungen zu Fritz-Peter Hagers Platonforschung (Edgar Früchtel). Amsterdam – Würzburg 1985 Band 12 enthält unter dem Titel „Griechische Philosophie im Manichäismus. Zum Problem von Gnostik und Mystik“: Denkformen hellenischer Philosophie im Manichäismus (Alexander Böhlig); Syzygos und Eikon. Manis himmlischer Doppelgänger vor dem Hintergrund der platonischen Urbild-Abbild-Theorie (Wolfgang Fauth); Weltflucht und Weltentfremdung. Zur Interpretation von Plotin II,9,13 (33,13) (Edgar Früchtel); Gnostik, Urform christlicher Mystik (Carl-A. Keller); unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Metaphysik der Weltgestaltung. Das morphopoietische Problem (Rudolph Berlinger); Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie. II. Teil (Bernulf Kanitscheider); Vorüberlegungen zur Bedeutung der aristotelischen Problemformel „tò ºn " ªn“ – zu Met. G 2,1003 b 6-10 (Johann-Heinrich Königshausen); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? II. Teil (Wiebke Schrader); Bemerkungen zu G.W.F. Hegels Interpretation von Aristoteles’ „De anima“ III 4-5 und ‚Metaphysica‘ XII 7 u. 9 (Horst Seidl); unter dem Titel: „Philosophie der Erziehung“: Humanität als Prinzip des Staates bei Wilhelm von Humboldt (Clemens Menze); Die Wissenschaft als Orientierungspunkt der Universitätsreform (Hermann Röhrs); unter dem Titel: „Diskussionsteil“: Moralisches Sollen, Autonomie und gutes Leben. Zur neueren Ethik-Diskussion (Hans Krämer); unter dem Titel: „Buchbesprechungen“: Christoph von Wolzogen: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps (Jürgen-Eckardt Pleines); Rudolf Löbl: Die Relation in der Philosophie der Stoiker (Julius Schaaf); und unter dem Titel „Nachruf“: Homo absconditus. Zum Gedenken an Helmuth Plessner (Elisabeth Ströker). Amsterdam – Würzburg 1986 Band 13 Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Enthält neben Geleit (Wiebke Schrader) unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“: War am Anfang der Mythos? Auseinandersetzung mit Schellings Rezeption des Johanneischen Logos-Begriffes (Albert Franz); Einige Bemerkungen zu Zeit und Zeitlichkeit in der Platonica Theologia des Marsilius Ficinus (Edgar Früchtel); Über den erkenntnistheoretischen Horizont des Freiheitsbegriffs bei Henri Bergson (Georges Goedert); Monismus und das Problem des Dualismus in der metaphysischen Deutung des Bösen bei Platon und Plotin (Fritz-Peter Hager); Existenziale Ontologie. Ein Problemaufriß (Wolfgang Janke); Freiheit und Wissen. Von der Relevanz eines handlungsirrelevanten philosophischen Wissens für Politik und Pädagogik (Paul Janssen); Die Ursprungsfrage der Ersten Wissenschaft bei Aristoteles und deren „sicherstes Prinzip“ (Johann-Heinrich Königshausen); Tradition und Kritik. Zur Geschichtsphilosophie von Herder und Spengler (Kurt Mager); Dionysius Areopagita im deutschen Predigtwerk Meister Eckharts (Kurt Ruh); Schole als Grundbegriff der Philosophie des Aristoteles (Julius Jakob Schaaf); Nihil veritate antiquius (Gerhart Schmidt); Die Wissensform des Unbewußten im 19. Jahrhundert (Alfred Schöpf); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? III. Teil (Wiebke Schrader); Forschen und Helfen als Normenkonflikt in der Medizin. Möglichkeiten und Grenzen einer ethischen Lösung (Elisabeth Ströker); unter dem Titel „Beiträge zur Klassischen Philologie“: Maledicta, contumeliae, tum iracundiae … indignae philosophia (C. Joachim Classen); Zwei Fragen zur Geschichtsbetrachtung des Thukydides (Hartmut Erbse); Platons ‚undemokratische‘ Gespräche (Thomas Alexander Szlezák); unter dem Titel „Beiträge zur Archäologie“: Ein Bildnis des Platon in Basel (Ernst Berger); Agora (Thuri Lorenz); Theseus und Hekale (Erika Simon); unter dem Titel „Vermischte Beiträge“: Tschernobyl, Zukünfte und Orientierung (Wolf Häfele); Zur philosophischen Implikation der Predigt
(Odilo Lechner); Die Wissenschaft von dem Lebendigen. Gedanken zu der Frage nach dem „Inneren der Natur“ (Thure von Uexküll). Amsterdam – Würzburg 1987 Band 14 Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Enthält neben dem Geleit (Wiebke Schrader) unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“: Ist das Lachen philosophisch? Bruchstücke einer Metaphysik des Lachens (Eric Blondel); Zur Frage der Prädestination in Manichäismus und Christentum (Alexander Böhlig); Ob das ächte Schöne erkannt werden könne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz’ ästhetischer Theorie (Peter Böhm); Heideggers Kehren (Walter Bröcker); Homo conscius sui (Gerhard Funke); Ähnlichkeit – falscher Schein – Unähnlichkeit von Platon zu Pseudo-Dionysios Areopagites (Maurice de Gandillac); Grundsätzliches der platonischen skéciw von guter Rede und guter Schrift im Phaidros (Johann-Heinrich Königshausen); Über philosophische Ethik. Probleme angelsächsischer und skandinavischer Positionen (Dieter Lang); Neues über das Systemprogramm? Johann Erich von Berger und Friedrich von Schlegel als dessen Urheber? (Martin Oesch); Europa und sein Erbe. Skizze zu einer Geschichtsphilosophie (Jan Patoãka †); Krugs Begriff einer philosophischen Propädeutik. Überlegungen zu einem Sachproblem (Leonhard G. Richter); Friedrich Nietzsche und Theodor Trajanov: Das Hohelied (Pessen na pesnite) (Heinrich Stammler); Auf dem Weg zu Fichtes Urparadoxie. Eine Überlegung zum Beginn der Wissenschaftslehre 1794 (Franz Träger); Die Problematik des Einen und Vielen in der geschichtlichen Entwicklung des buddhistischen Denkens (Alfonso Verdu); Existenz zwischen Unbedingtheit und Endlichkeit. Die Grundfrage des neuzeitlichen Autonomiegedankens im Problemhorizont der klassischen Metaphysik (Winfried Weier); unter dem Titel „Beiträge zum Recht“: Zur Philosophie des Zivilprozeßrechts, insbesondere zum Prinzip der Fairness (Walther J. Habscheid); Das Versprechen – problemgeschichtliche Aspekte eines rechtsphänomenologischen Paradigmas (Dietmar und Hildegard Willoweit); unter dem Titel „Beiträge zur Slawistik“: Literatur und Religion zu Dostojewskijs Erzählkunst (Wilhelm Lettenbauer †); Entfremdung und Verfremdung in der russischen Literatur und Literaturtheorie (Klaus Trost); Zu Herkunft und Gebrauch der grammatischen Termini Odusevlennyj und Neodusevlennyj im Russischen (Eckhard Weiher); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Thomas Alexander Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen (Hans Krämer). Amsterdam – Würzburg 1988 Band 15 enthält unter dem Titel „Beiträge zur Systematik der Philosophie“: Der Mensch als Philosoph und Arzt (Rudolph Berlinger); Sapphos Ode an Aphrodite (Georg Siegmann); Die Architektur der Sprachspiele – zum Konstruktionsprinzip von Wittgensteins Spätphilosophie (HeinzGerd Schmitz); Der Wahrheitscharakter der Metaphysik in Kants Kritik der Urteilskraft (Ingeborg Schüßler); Poiesis und Praxis in der Gliederung der Fundamentalontologie M. Heideggers (Jacques Taminiaux); Problematik des Einen und des Vielen: die Madhaymika-Schule (Alfonso Verdu); unter dem Titel „Kultur und Politik“: Über die Beziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen bei H. Arendt und E. Weil (Patrice Canivez); Metapolis und Apolitie. Defizite der Wahrnehmung des Politischen in der Kritischen Theorie und bei Jürgen Habermas (Ernst Vollrath); unter dem Titel „Beiträge zur Pädagogik“: Richard Hönigswalds Beitrag zur Kritik der pädagogischen Vernunft (Erwin Hufnagel); Glück versus Moral (Wolfgang Ritzel); unter dem Titel „Beiträge zur Diskussion“: Die Philosophie Nietzsches in China (Jie Li); Philosophie in Schweden (Dieter Lang); unter dem Titel „Nachruf“: Philosophie von der Sprache her. Zum Gedenken an Bruno Liebrucks (Josef Simon). Amsterdam – Würzburg 1989
Band 16 Akropolis. Zu Ehren von Wiebke Schrader. Enthält: Die Akropolis der Philosophie. Zum Geleit in die Zukunft einer Philosophin (Teil I) (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Systematische Philosophie“: Im Menschen wohnt Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug um und durch den Dom von Siena (Mit Bildern) (Rudolph Berlinger); Bemerkungen zur Metaphysik in Gnosis und Philosophie (Alexander Böhlig); Materie – Möglichkeit – Wirklichkeit. Überlegungen zum hypostasierenden Charakter des Denkens Schellings anhand seines „Begriffes einer eigentlichen Geisterwelt“ (Albert Franz); Das Werdenkönnen der Welt und die absolute Wirklichkeit Gottes (Rudolf Haubst); Zur aktuellen Diskussion um den Philosophiebegriff Platons (Hans Krämer); Die Konsequenz von Erkenntnis. Eine metaphysische Marginalie zum Wahrheitsproblem (Leonhard G. Richter); Humanität und Transzendenz (Gerhart Schmidt); Die Bedeutung der Ethik bei Adam Smith (Alfred Schöpf); Die Selbstgewissheit der Alltagssprache. Gedanken zum 100. Geburtstag von Ludwig Wittgenstein und Hans Lipps (Wolfgang von der Weppen); Gerechtigkeit oder Fair Play? Über Schwierigkeiten, mit Idealen zurechtzukommen (Franz Wiedmann); unter dem Titel „Philosophie und Geschichte“: Einige Bemerkungen zum Bild des Seelenwagenlenkers (Edgar Früchtel); Grundfragen einer Philosophie der Geschichte (Kurt Mager); unter dem Titel „Philosophie und Naturwissenschaften“: Atomism, the Theory of Acquaintance, and the Hegelian Dialectic (Katharina Dulckeit); Risiko, Unsicherheit, Undeutlichkeit. Eine Arbeit am Begriff (Wolf Häfele); Goethes Farbenlehre in ophthalmologischer Sicht (Fritz Hollwich); Beziehungen zwischen physikalischem und methodisch-metaphysischem Denken in den Anfängen menschlichen Geistes (Erster Teil) (Gerd Pohlenz); Steigt die Lebenserwartung? (Norbert Rietbrock); unter dem Titel „Nachtrag“: Bibliographie Rudolph Berlinger, Nachtrag zu AGORA I und II = Perspektiven der Philosophie, Bde. 13 (1987) und 14 (1988). Amsterdam 1990 Band 17 Akropolis. Zu Ehren von Wiebke Schrader. Enthält: Die Akropolis der Philosophie. Zum Geleit in die Zukunft einer Philosophin (Teil II) (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Metaphysik“: Psychologie – Ontologie – Metaphysik. Zur Tragweite des deskriptiv-phänomenologischen Verfahrens bei Franz Brentano (Wilhelm Baumgartner); Energie – Kreativität – Gott. Anmerkungen zur Metaphysik Alfred North Whiteheads (Peter Böhm); Zeitlichkeit und Ewigkeit. Schellings Theorie der Zeit (Jochem Hennigfeld); Zukunft und Aufgabe der Weltwissenschaft Metaphysik (Tomonobu Imamichi); Hölderlins Zeichen (Wolfgang Janke); Beziehungen zwischen physikalischem und methodisch-metaphysischem Denken. Die vorsokratische Bewegung des Denkens. Heraklit (Fortsetzung) (Gerd Pohlenz); Das Einteilungsproblem in Hegels Wissenschaft der Logik (Leonhard G. Richter); Grundpositionen der Neuzeit im Gegensatz zu ihrem metaphysischen Fragehorizont (Winfried Weier); Von der Unumgänglichkeit des Nicht-Anderen für alle Arten des Anderen (Richard Wisser); unter dem Titel „Ethik“: Henri Bergson oder die beiden Quellen der Gerechtigkeit (Georges Goedert); Der „Skeptizismus“ des platonischen Sokrates und der problematische Charakter des Wissens in Rousseaus Kulturkritik (FritzPeter Hager); Georg Henrik von Wright über die Verschiedenheit des Guten und den begrifflichen Rahmen moralischer Urteile (Dieter Lang); Husserls Gedanken zur praktischen Vernunft in Auseinandersetzung mit Kant (Peter Prechtl); Wissenschaftsethik in philosophiegeschichtlicher Sicht (Elisabeth Ströker); unter dem Titel „Anthropologie“: Die Anfälligkeit des Prinzipiellen. Existenzphilosophie und philosophische Anthropologie vor und nach 1933 (Hermann Braun); Mit Jan Patoãka über Philosophie und die Philosophen (Josef Zumr); unter dem Titel „Archäologie“: Tanz und Komos beim Brygosmaler (mit Abbildungen) (Thuri Lorenz); unter dem Titel „Edith Stein“: Philosophin und Heilige. Zu einer Bronzestatue Edith Steins (Odilo Lechner); Ein Husserl-Brief (Faksimile, Transkription) mit einer Anmerkung (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Zeitläufte“: Signal und Chance. Die Krisis des Autoritätsbewußtseins. Eine Rede (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Bibliographie Wiebke Schrader“: Philosophische Publikationen Wiebke Schraders. Amsterdam 1991
Band 18 Zu Ehren von Tomonobu Imamichi. Enthält: Philosophische Geisteshaltung, Memorabilien für Tomonobu Imamichi 19.11.1992 (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Metaphysik“: Das Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie am Beispiel des „Peri Hermaneias“ von Aristoteles (Pierre Aubenque); Différences culturelles et visé d’universalité en philosophie (Venant Cauchy); Geschichte der abendländischen Mystik. Eine Veröffentlichung von Kurt Ruh (Alois Haas); Über den Sinn des Schattens in der Metaphysik (Noriko Hashimoto); Die ontologische Differenz. Grundriß einer Metaphysik der Erfahrung (Vittorio Mathieu); Abwesenheit als Weise der Gegenwart: Vom „Wir“ zur gesellschaftlichen „dritten“ Person (Marco Olivetti); Der Weltweisheit fünfter Teil. Zum Metaphysikbegriff Christian Wolffs (Leonhard G. Richter); Sur un autoportrait de Rembrandt (Paul Ricoeur); Propädeutik der Philosophie – „Vorhof“ dieser Wissenschaft? [1. Teil] (Wiebke Schrader); Hannah Arendt’s Deconstruction of Metaphysics (Jacques Taminiaux); Rudolph Berlingers Metaphysik. – Erste Phase (Jiro Watanabe); Die philosophische Sicht der Dinge (Franz Wiedmann); Ladislav Klímas Revolte gegen die Absurdität der Welt (Josef Zumr); unter dem Titel „Ethik“: Grundlegungsfragen ärztlicher Ethik (Rudolph Berlinger); Le retour de l’éthique (Peter Kemp); „Das Recht, ein Mensch zu sein“ oder Forderungen der Bedingungen ethischen Handelns (Ioanna Kuçuradi); unter dem Titel „Recht“: Locke’s Almost Random Talk of Man: The Double Use of Words in the Natural Law Justification of Slavery (Robert Bernasconi); unter dem Titel „In Memoriam“: Zum Tode von Wilhelm Krampf (Ulrich Weiß); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Die Dihairesen in Platons Sophistes (Peter Kolb); Parallelen zwischen Platons Sophistes und Aristoteles’ Met. G? (Johann-Heinrich Königshausen); Ein Rückblick (Edgar Früchtel); unter dem Titel „Bibliographien“: Philosophische Publikationen Tomonobu Imamichis; Philosophische Publikationen Rudolph Berlingers. Amsterdam 1992 Band 19 enthält unter dem Titel „Systematik“: Warum ist Denken überhaupt möglich? Zur Seinswissenschaft der Logik. Problemaufriß (Rudolph Berlinger); Das Wesen der Frage und das Problem der Wahrheit im Horizont von Dialektik und Hermeneutik (Franco Chiereghin); Überlegungen zum Augustinischen Memoria-Begriff im Anschluß an einen Beitrag von R. Enskat (Dorothea Günther); Deskription und transzendentale Weltsicht. Zum Problem der Einleitung in die transzendentale Phänomenologie mittels der Deskription einer natürlichen Erfahrungswelt (Paul Janssen); Specimina humana (Wolfgang Ritzel); Propädeutik der Philosophie – „Vorhof“ dieser Wissenschaft? (II) (Wiebke Schrader); Die transzendentale Reduktion als die Leistung eines unbeteiligten Zuschauers (Martina Scherbel); unter dem Titel „Problemgeschichte“: Zur philosophischen Mystik Meister Eckharts (Karl Albert); Leonardo Bruni Aretinos Studienprogramm: „De studiis et litteris liber“ (August Buck); Augenblick des Geistes. Heideggers Vorlesung „Die Grundfrage der Philosophie“ von 1933 (Andreas Großmann); Fürwahrhalten der Vernunft? Glauben und Wissen; Aspekte einer Sachfrage mit Blick auf Kant und Anselm von Canterbury (Lutz Herrschaft); Über den natürlichen Vorrang des Ortes vor jeder Art Raum bei Aristoteles (Heinrich Hüni); Die Frage der e[daimonía in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Ingeborg Schüßler); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Ist der Dekonstruktivismus ein Interpretationismus? (Hans Lenk); Wann verfällt die deutsche Sprache endgültig? Einige Anmerkungen zu Fragen der Sprachskepsis, der Sprachkritik und der Sprachnormen (Norbert Richard Wolf); unter dem Titel „In Memoriam“: Klaus Hartmann zum Gedächtnis (Klaus Brinkmann); Grenzüberschreitungen der Vernunft. Zum Tode von Friedrich Kaulbach (Friedrich Kambartel); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Albrecht Dürers Cherubinischer Hymnus: „Die vier Apostel“ (Egil A. Wyller). Amsterdam 1993
Band 20 enthält unter dem Titel „Systematik“: Philosophie der Kunst. Zum Homo-Creator-Motiv des Nikolaus von Kues (Rudolph Berlinger); Transzendentale Begründung der Existenz? Überlegungen zum Problemansatz Heinrich Barths (Dorothea Grund); Das Leib-Seele-Problem in der Philosophie Donald Davidsons (Marion Heinz); Heuristische Skepsis (Leonhard G. Richter); unter dem Titel „Problemgeschichte“: Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Teil I) (Emil Angehrn); Ontotheologie? Hegel gegen Derrida – oder Repristination des Logos (Uwe Jochum); Das Gesetz der Freiheit. Zu Kants Theorie ethischer Verbindlichkeit (Georg Römpp); Die Frage der e[daimonía in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Teil I) – Fortsetzung (Ingeborg Schüßler); Die Dialektik des Einen und Vielen. Hegels Logik von 1804/05 im Vergleich zu Platons ‚Parmenides‘; unter dem Titel „Phänomenologie“: Jan Patoãka: Der Philosoph als Gewissen seines Volkes (Walter Biemel); Konstanten und Wandlungen der Philosophie Patoãkas (Jaroslav Kohout); Die Selbstbesinnung Europas (Übersetzung von Josef Zumr) (Jan Patoãka †); Deskription oder Postulat? Zur Intersubjektivitätstheorie in der V. Cartesianischen Meditation Edmund Husserls (Martina Scherbel); unter dem Titel „Nietzsche kontrovers“: Nietzsches Selbstsucht in Ecce homo (Eric Blondel); Nietzsches Kritik des Subjektbegriffs (Georges Goedert); Musils Nietzsche-Rezeption (Klaus Mackowiak); Italienische Interpretationen zum Übermenschen Nietzsches. Von D’Annunzio bis heute – im Horizont der Differenz (Giorgio Penzo); Ontologische Fragen zum Spätwerk Nietzsches (Gerhart Schmidt); unter dem Titel „Brief“: Martin Heidegger schreibt an Jean-Paul Sartre (Hugo Ott). Amsterdam 1994 Band 21 enthält unter dem Titel „Problemgeschichte“: Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Fortsetzung) Teil 2 (Emil Angehrn); Die platonisch-akademische Prinzipienlehre in der hellenistischen Philosophie (Hans Krämer); Vom Gewinn des Wirklichkeitsverlustes (Erwin Sonderegger); Kosmos als Klangfigur. Platons Naturvision im „Timaios“ (Egil A. Wyller); unter dem Titel „Ethik“: Mónon tò kalòn ˙gayón – Oder von der Gleichgültigkeit des Wertvollen in der Stoischen Ethik (Maximilian Forschner); Über den vermeintlichen Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik (Walter Hirsch); Man rechne nicht mit Herakles. Aristoteles über soziale und politische Freundschaft (Heinz-Gerd Schmitz); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Realismusproblem (Peter Prechtl); Das Nichts und die Kunst. Schritte vom Nihilismus zum Neoidealismus in der Denkbewegung Gottfried Benns (Winfried Weier); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Die aufgegebene Tradition. Kritische Reflexionen zum Bildungsauftrag der Universität (Winfried Böhm); Das Multiversum der Kulturen. Einstellungen der zeitgenössischen europäisch-westlichen Philosophie zu den Philosophien anderer Kulturen (Heinz Kimmerle); „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“: Ein Fragment Friedrich Schlegels? (Martin Oesch); unter dem Titel „Buchbesprechungen“: Innere Probleme dualer Weltbetrachtung. Besprechung von Hans Michael Baumgartner: Endliche Vernunft. Zur Verständigung der Philosophie über sich selbst. Bonn/Berlin 1991 (Bernd Burkhardt); Wolfgang Janke. Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes. Berlin/New York 1993 (Marco Ivaldo); Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995 (Wolfgang von der Weppen). Amsterdam 1995 Band 22 enthält unter dem Titel „Fink und Heidegger“: Heraklit – Eine Herausforderung. In freundschaftlichem Gedenken an Eugen Fink (Rudolph Berlinger); Die Auseinandersetzung Fink – Heidegger: Das Denken des letzten Ursprungs (Ronald Bruzina); Nietzsche bei Heidegger und Fink (Hans Ebeling); Finks politisches Vermächtnis. Vortrag Freiburg 1995 (Walter Biemel); Die Heimat Welt. Zur Deutung der Denkspur Martin Heideggers in Eugen Finks Frühwerk (Guy van Kerckhoven); Eugen Finks Phänomenologie des Todes (Gerhart Schmidt); unter dem
Titel „Fichte“: Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807 (Marco Ivaldo); „Das Wissen ist an sich die absolute Existenz“. Der oberste Grundsatz in Fichtes 4. Vortrag der Wissenschaftslehre. Erlangen im Sommer 1805 (Wolfgang Janke); Fichte und die Metaphysik des deutschen Idealismus (Manuel Jiménez-Redondo); Offene Intersubjektivität – nach Johann Gottlieb Fichte (Dominik Schmidig); unter dem Titel „Vermischtes“: Die Idee der Einheit in Platons Timaios (Hans Krämer); Kant oder Berkely? Zum aktuellen Streit um den korrekten Realismus (Wilhelm Lütterfelds); unter dem Titel „In memoriam“: Nachruf auf Alexander Böhlig (Christoph Markschies). Amsterdam 1996 Band 23 enthält als Vorwort: „Die ausgestandene Endlichkeit“ (Wiebke Schrader); unter dem Titel „Philosophie“: Innerer und äußerer Mensch – eine tragende Unterscheidung der mittelalterlichen Seelenlehre (Alois M. Haas); Zur Frage der Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger (Ingeborg Schüßler); Husserl und Descartes (Friedrich-Wilhelm von Herrmann); Nachtrag zur Verabschiedung der philosophischen Anthropologie – am Beispiel Schelers (Paul Janssen); Gibt es eine Gebung des Unendlichen? (Natalie Depraz); Eugen Finks Begriffsbildung einer absoluten Wissenschaft in der VI. Cartesianischen Meditation (Martina Scherbel); Rudolf Stammlers Abhandlung „Recht und Willkür“ und ihre Konsequenzen für den Rechtsbegriff (Dietmar Willoweit); Antworten und Verantworten. Eine dialogische Studie (Georges Goedert); Konstruieren und Konstruktivismus (Wilhelm Ettelt); Das Bild des Menschen in der Kommunikationswelt von morgen (Bernulf Kanitscheider); Selbst oder Von-Selbst-So? Konjekturen zu einer daoistischen Quelle des Zen (Günter Wohlfart); unter dem Titel „Sprache“: Das Problem des Monologs (Theo Meyer); „Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding“. Beobachtungen zu Zeit und Zeiterleben in Sprache und Literatur (Norbert Richard Wolf); Das magische Wort (Dieter Harmening); „Gesundheit des Moments“ oder Winckelmann und Faust (Hans-Jürgen Schings); unter dem Titel „Kunst“: Bildnisse griechischer Philosophen – ihre Funktion und Interpretabilität (Thuri Lorenz); ‚...in cuius facie deitatis imago splendet‘ Die Prägung des Physionomischen in der gotischen Skulptur Frankreichs (Wilhelm Schlink). Amsterdam 1997 Band 24 enthält unter dem Titel „Metaphysik“: Dürers Weltethik. Eine philosophische Deutung der „Melencolia § I“ (Leonhard G. Richter); Einige Bemerkungen zum Platonismus in den sogenannten Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus (Edgar Früchtel); Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar: Darstellung und Kritik (Hubert Benz); Denken – Erkennen – Metaphysik nach Thomas von Aquin (Dominik Schmidig); Das methodologische Problem der Metaphysik (Winfried Weier); unter dem Titel „Existenzphilosophie“: Philosophie in theologischer Absicht – Zur Instrumentalisierung der Philosophie bei Heinrich Barth (Dorothea Grund); Die universalgeschichtliche Einheitsidee bei Karl Jaspers (Georges Goedert); Die Einleitung zu „Sein und Zeit“ und die Frage nach der phänomenologischen Methode: Versuch einer Erklärung (Michael Baur); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Zur wissenschaftsgeschichtlichen Priorität in der Urheberschaft der Sprechakttheorie (Klaus Trost); Zeichenrede. Überlegungen zu Fundierung und Reichweite von Nietzsches skeptischem Perspektivismus (Heinz-Gerd Schmitz); Repräsentation und Realität (Peter Prechtl); unter dem Titel „Ethik“: Zu Jonas’ Problem einer genauen Grenzlinie zwischen Leben und Tod (Reinhard Platzek); Responsibility for Responsibility (Marco M. Olivetti); unter dem Titel „Ein philosophisches Reisebild“: Am wilden Strom. Das Fremde und das Eigene (Dieter Harmening); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Jan Patoãka – Ästhetik, Phänomenologie, Pädagogik, Geschichts- und Politiktheorie hrsg. v. Matthias Gatzemeier (Christian Rabanus); unter dem Titel „Bibliographie“: Rudolph Berlinger: Philosophische Publikationen. Amsterdam/Atlanta 1998
Band 25 enthält unter dem Titel „Metaphysik und Zeit“: Der ewige Kosmos. Zum antiken Hintergrund Augustins [Erster Teil] (Wiebke Schrader); Erinnerung, Zeit und Geschichte: Augustin und die Anfänge der mittelalterlichen Philosophie (Johann Kreuzer); V-Zeit. Endzeit oder letzte Chance? Metaphysische Reflexionen zu Dürers „Melencolia § I“ (Leonhard G. Richter); Hat die phänomenale Objektwelt in den Qualia einen metaphysischen Aspekt? (Gerd Pohlenz); unter dem Titel „Platon und seine Spuren“: Über die philosophische Mystik des Dionysius Areopagita (Karl Albert); Platonisches Denken als Modell christlicher Dogmenentfaltung in den ersten Jahrhunderten (Edgar Früchtel); Platons „Theologie“: Der Gott, die Götter und das Gute (Markus Enders); Hegel über Platon. Zum Platon-Kapitel der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (Thomas Alexander Szlezák); unter dem Titel „Gesellschaft und Ethik“: Die demokratische Gleichheit und das Ressentiment (Georges Goedert); Artistik und Engagement. Zur Ästhetik des modernen Gedichts (Theo Meyer); Ethik und Wirklichkeit bei Aristoteles (Gilbert Romeyer-Dherbey); Bioethik und bioethics (Johannes Gottfried Mayer); Contextual Bioethics (Christoph Rehmann-Sutter); Psychosomatik und der metaphysische Aspekt des Todes. Eine ärztliche Standortbestimmung (Reinhard Platzek); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Herbert Kessler: Philosophie als Lebenskunst. Academia-Verlag Sankt Augustin 1998 (Wolfgang von der Weppen). Amsterdam/Atlanta 1999 Band 26 enthält unter dem Titel „Maßstäbe ethischen Handelns“: Zur ethischen Bewertung des Mitleids (Georges Goedert); Lust und Tugend bzw. Lust und Gut-Sein. Zur ethischen Relevanz des Begriffs der =don} im Denken Platon (Hubert Benz); Die deutsche Wertphilosophie – eine zu Unrecht vergessene Tradition? (Christoph Horn); Handelnd wissen oder wissend handeln? Die handlungstheoretische Diskussion im Neokonfuzianismus des 16. Jh.s und seine Bedeutung für die Neuausrichtung des Konfuzianismus (Michael Leibold); Wozu dient der Nihilismus? Gedanken zur Paradoxstruktur des Nihilismus bei Nietzsche (Oliver Dier); Utopie und Apokalypse. Unter besonderer Berücksichtigung des literarischen Expressionismus (Theo Meyer); unter dem Titel „Aspekte kommunikativer Systeme“:„Necessarius fuit usus scripturae“. Thomas von Aquin über Schriftlichkeit und Schreiben (Detlef Thiel); Bewußtsein als Umwelt der Kommunikation. Anmerkungen zum Grundansatz Luhmanns (Sigbert Gebert); unter dem Titel „Wirkungshorizonte metaphysischen Denkens“: Voraussetzungs- und Bestimmungslosigkeit. Bemerkungen zum Problem des Anfangs in Hegels Wissenschaft der Logik (Chong-Fuk Lau); Zum Platonbild Lavelles (Karl Albert); Mystische Geometrie und Hermetismus in der Renaissance: Ficinus und Cusanus (Stéphane Toussaint); Das Problem des „peccatum originale“. Zu Herkunft und Wirkung der augustinischen Erbsündenlehre (Edgar Früchtel); Der ewige Kosmos. Zum antiken Hintergrund Augustins [Zweiter Teil] (Wiebke Schrader). Amsterdam/Atlanta 2000 Band 27 enthält unter dem Titel „Schöpferischer Geist und Sprachreflexion“: Das Vernunftopfer des Herzens oder Pascals „ordre du cœur“ (Wiebke Schrader); Philosophie und Initiationserlebnis in Platons Politeia (Salvatore Lavecchia); Auf dem Weg zur Prozeßmetaphysik: Die Funktion der Monaden in Giordano Brunos Philosophie (Paul Richard Blum); Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie in Idiota de Mente (Hubert Benz); Zeichen und Symbole. Überlegungen im Ausgang von der Hegelschen Semiotik (Heinz-Gerd Schmitz); unter dem Titel „Nietzsche und die Sinnfrage“: Wie das ‚Ich‘ zur Fabel ward – Nietzsches Destruktion des idealistischen Subjektbegriffs (Edith Düsing); Nietzsches Antichrist als Überwindung der moralischen Weltordnung (Georges Goedert); Nietzsche und Goethe. Goethes Wirkung auf Nietzsches Lebens-, Kunst- und Kulturbegriff (Theo Meyer); unter dem Titel „Geschichte und Ethik“: Ahistorische Kontinuität und Geschichte. Zum geschichtsphilosophischen Ansatz von Jacob Burckhardt (Kurt Mager); Das Subjekt der praktischen Vernunft (Peter Prechtl); Ärztliche Sterbehilfe zum
Nutzen der Gesellschaft? Eine Überlegung zum Einfluß Adolf Josts auf Binding und Hoche (Reinhard Platzek); unter dem Titel „Seinserfahrung und Kulturkritik“: Karl Albert zum 80. Geburtstag. Der Verlust des Seins im technologischen Zeitalter (Elenore Jain); Dekreation und Bedeutungsreduktion. Zur ontologisch-metaphysischen Epochéproblematik bei Simone Weil (Rolf Kühn); „Pense pour être“. Zu Lavelles Deutung des Cartesischen Cogito (Rolf Schönberger); Der Schwan von Pesaro. Vom Absoluten und vom Tragischen in der Musik Rossinis (Claus Artur Scheier). Amsterdam/New York 2001 Band 28 enthält unter dem Titel „Anfangsgründe: Wege und Abwege“: Sokrates und die Götterbilder. Zur Erkenntnis der höchsten Ideen in Platons Symposion (215 ab) (Eveline Krummen); Das Gute im Horizont der Seinsfrage: Zur Bedeutungsmannigfaltigkeit des Guten bei Aristoteles (Jorge Uscatescu Barrón); Theorie als Erkenntnis des Göttlichen. Platonische yevría und christliche curiositas (Edgar Früchtel); Sturz der Engel, Sündenfall und Frauenzauber (Dieter Harmening); Die perfekte Tochter der Mutter Natur. Zur „homo-homo-homo“-Formel im Liber de Sapiente des Carolus Bovillus (Wiebke Schrader); Die transzendentale Subjektivität – eine „spekulative Niete“? Eugen Finks Interpretation des transzendentalen Scheins (Martina Scherbel); unter dem Titel „Verstehenshorizonte und Wertewandel“: Die Menschheit zum Scheusal machen. Zu Kants Auffassung der Todesstrafe (Heinz-Gerd Schmitz); Vom Absurden zur Humanität. Albert Camus’ Weg in die Revolte (Georges Goedert); Nietzsche-Rezeption bei Thomas Mann und Gottfried Benn (Theo Meyer); Ist es notwendig, die Vergangenheit zu verstehen? Friedrich Nietzsche und Hans-Georg Gadamer über das „Rätsel der Wertsetzung“ (Mirko Wischke); unter dem Titel „Zwischen den Kulturen“: Taiji: ein transzendentaler Begriff der konfuzianischen Philosophie? (Michael Leibold); Rückzug und Freiheit im Zhuangzi. Ansätze zu einer komparativen Ethik (Mathias Obert). Amsterdam/New York 2002 Band 29 enthält unter dem Titel „Sinn und Perspektive“: Glückseligkeit – Eudämonie. Philosophiegeschichtliche Perspektiven (Wolfgang Janke); Das Übel des Todes und das Interesse am Weiterleben. Eine Antwort auf das epikureische Paradox (Achim Lohmar); Ontologische Kapriolen zwischen Sein, Nichts und Sinn (Paul Janssen); unter dem Titel „Wissen und Hoffnung“: Wissen und Universalität. Zur Struktur der scientia universalis in der Frühen Neuzeit (Thomas Leinkauf); Pansophischer Universalismus und pädagogischer Mechanismus. Comenius und die Überwindung der Hoffnung durch Erziehung (Andreas Lischewski); De apice litteraturae. Schrift und Buch bei Nikolaus von Kues (Detlef Thiel); Hoffnung und Jenseitserwartung in der griechisch-christlichen Deutung des Clemens Alexandrinus (Edgar Früchtel); Die philosophische Religion (Karl Albert); unter dem Titel „Erkenntnis und Chance“: Das Ende der Geschichte bei Francis Fukuyama. Zur Problematik seines philosophischen Ansatzes (Kurt Mager); Die ‚Tod-Gottes‘-Problematik bei Nietzsche und Hegel (Edith Düsing); Das Problem des Spiels bei Nietzsche (Theo Meyer); Herakleitos. Zeugnis eines ursprünglichen Denkens (JürgenEckardt Pleines); Der Geist der Hellenen. Eine Problemskizze zur griechischen Sklavenfrage am Leitfaden des ersten Buches der Politik des Aristoteles (Wiebke Schrader); Der Reiter von Albrecht Dürer. Eine philosophische Betrachtung (Leonhard G. Richter). Amsterdam/New York 2003
Band 30 enthält unter dem Titel „Sein und Wirklichkeit“: Die innermonadische Zeitlichkeit in der Monadologie (Friedrich-Wilhelm von Herrmann); Überlegungen zum Metaphysik-Begriff Kants (Murray Miles); Sein-Können, Tat, Existenz: Aspekte von Schellings Hegel-Kritik in der Weltalter-Philosophie (Thomas Leinkauf); Die Heisenbergsche Unschärferelation im Kontext philosophischer Gedankengänge (Damir Barbariç); unter dem Titel „Seinswert und Seinsmangel“: Das Wesen des Schlechten als privatio boni. Zur Frage seiner Bestimmung (Jorge Uscatescu Barrón); Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen (Bernd Irlenborn); „Für die Wenigen – Für die Seltenen“. Heideggers Zeitdiagnose, Technikkritik und der „andere Anfang“; unter dem Titel „Person und Gemeinschaft: Personalität und Sprache bei Homer (Thomas Berres); Subjekt und Person als Ermöglichung von Weltzuwendung in Wissenschaft und Technik. Einige Bemerkungen zu diesem Problemfeld (Edgar Früchtel); Leo Tolstois Darlegung des Evangelium und seine theologisch-philosophische Ethik (Nikolay Milkov); Der ‚permanente Staatencongress‘ – die internationalen Beziehungen im rechtsphilosophischen Denken Kants (Heinz-Gerd Schmitz); Die Institutionen der Freiheit und die Sprache der Politik. Über mögliche Reaktualisierungspotentiale von Hegels Rechtsphilosophie (Mirko Wischke). Amsterdam/New York 2004 Band 31 enthält unter dem Titel „Von der Sinnlichkeit der Vernunft“: Sentimentalität. Über eine Kategorie ästhetischer und moralischer Abwertung (Andreas Dorschel); Die Mystifikation ästhetischer Erfahrung (Achim Lohmar); Philosophie als „scientia affectiva“? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit (Peter Nickl); „In dieser Skepsis kann niemand leben“. Über Nüchternheit und Enthusiasmus in der Philosophie (Paola-Ludovika Coriando); unter dem Titel „Über den schöpferischen Willen“: Kreative Subjektivität bei Nietzsche (Theo Meyer); Subjekt und Geschichte bei Arthur Schopenhauer und Theodor Lessing (Kurt Mager); Einige Überlegungen zum Schicksalsbegriff in der Antike (Edgar Früchtel); Tugend zwischen Sittlichkeit und Moral (Jürgen-Eckardt Pleines); unter dem Titel „Zur wahren Schau“: Zur Geschichte der Entgegensetzung des Guten und des Schlechten (Jorge Uscatescu Barrón); Platonische Dialektik: Der Weg und das Ziel (Thomas Alexander Szlezák); Die `moívsiw ye! in Platons Philosophie (Salvatore Lavecchia); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Erwin Schadel (Hrsg.): Johann Amos Comenius – Vordenker eines kreativen Friedens (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 24), Frankfurt/Main u.a. 2005, 610 S. (Andreas Lischewski). Amsterdam/New York 2005
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ELEMENTA Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte Herausgegeben von Rudolph Berlinger † und Wiebke Schrader Band 1: Sold out Schrader, Wiebke: Die Auflösung der Warumfrage. 2. unveränderte Auflage. Amsterdam 1975. 60 pp. Band 2: Euro 30,Berlinger, Rudolph: Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften. Band I, 2. korrigierte Aufl. Amsterdam/Hildesheim 1982. 240 pp. Band 3: Euro 33,Scheler, Max: Logik I. Mit einem Nachwort von Jörg Willer. Amsterdam 1975. 295 pp. Band 4: Sold out Farandos, Georgios D.: Kosmos und Logos nach Philon von Alexandria. Amsterdam 1976. III, 319 pp. Band 5: Euro 24,Sauer, Friedrich Otto: Physikalische Begriffsbildung und mathematisches Denken. Das philosophische Problem. Amsterdam 1977. 217 pp. Band 6: Euro 24,Königshausen, Johann-Heinrich: Kants Theorie des Denkens. Amsterdam 1977. II, 207 pp. Band 7: Euro 24,Schrader, Wiebke: Das Experiment der Autonomie. Studien zu einer Comte- und Marx-Kritik. Amsterdam 1977. III, 196 pp. Band 8: Euro 24,Schrader, Wiebke: Die Selbstkritik der Theorie. Philosophische Untersuchungen zur ersten innermarxistischen Grundlagendiskussion. Amsterdam 1978. 177 pp.
Band 9: Euro 24,Neumann, Thomas. Gewissheit und Skepsis. Untersuchungen zur Philosophie Johannes Volkelts. Amsterdam 1978. VII, 175 pp. Band 10: Euro 24,Bailey, George W.S.: Privacy and the Mental. Amsterdam 1979. 175 pp. Band 11: Euro 27,Djuriã, Mihailo: Mythos, Wissenschaft, Ideologie. Ein Problemaufriß. Amsterdam 1979. 219 pp. Band 12: Sold out Ettelt, Wilhelm: Die Erkenntniskritik des Positivismus und die Möglichkeit der Metaphysik. Amsterdam 1979. 171 pp. Band 13: Sold out Lowry, James M.P.: The Logical Principles of Proclus’ STOIXEIVSIS YEOLOGIKH as Systematic Ground of the Cosmos. Amsterdam 1980. XIV, 118 pp. Band 14: Sold out Berlinger, R.: Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften. Band II. Amsterdam/Hildesheim 1980. X, 240 pp. Band 15: Euro 53,Helleman-Elgersma, W.: Soul-Sisters. A Commentary on Enneads IV 3 (27), 1-8 of Plotinus. Amsterdam/Hildesheim 1980. 485 pp. Band 16: Euro 18,Polakow, Avron: Tense and Performance. An Essay on the Uses of Tensed and Tenseless Language. Amsterdam 1981. 153 pp. Band 17: Euro 17,Lang, Dieter: Wertung und Erkenntnis. Untersuchungen zu Axel Hägerströms Moraltheorie. Amsterdam 1981. 113 pp. Band 18: Euro 18,Kang, Yung-Kye: Prinzip und Methode in der Philosophie Wonhyos. Amsterdam/Hildesheim 1981. 143 pp. Band 19: Euro 24,Oesch, Martin: Das Handlungsproblem. Ein systemgeschichtlicher Beitrag zur ersten Wissenschaftslehre Fichtes. Amsterdam/Hildesheim 1981. 203 pp. Band 20: Euro 36,Echeverria, Edward J.: Criticism and Commitment. Major Themes in Contemporary ‘Post-critical’ Philosophy. Amsterdam/Hildesheim 1981. 274 pp.
Band 21: Sold out Thomas Hobbes: His View of Man. Proceedings of the Hobbes Symposium at the International School of Philosophy in the Netherlands (Leusden, september 1979). Edited by J.G. van der Bend. Amsterdam 1982. 155 pp. Band 22: Euro 18,Träger, Franz: Herbarts Realistisches Denken. Ein Aufriß. Amsterdam/Würzburg 1982. X, 139 pp. Band 23: Euro 24,Takeda, Sueo: Die subjektive Wahrheit und die Ausnahme-Existenz. Ein Problem zwischen Philosophie und Theologie. Amsterdam/Würzburg 1982. 190 pp. Band 24: Euro 21,Mager, Kurt: Philosophie als Funktion. Studien zu Diltheys Schrift „Das Wesen der Philosophie“. Amsterdam/Würzburg 1982. 179 pp. Band 25: Sold out Heinz, Marion: Zeitlichkeit und Temporalität. Die Konstitution der Existenz und die Grundlegung einer temporalen Ontologie im Frühwerk Martin Heideggers. Amsterdam/Würzburg 1982. 225 pp. Band 26: Sold out Punter, David: Blake, Hegel and Dialectic. Amsterdam/Würzburg 1982. 268 pp. Band 27: Sold out McAlister, Linda: The Development of Franz Brentano’s Ethics. Amsterdam/Würzburg 1982. 171 pp. Band 28: Euro 36,Pleines, Jürgen-Eckardt: Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft. Amsterdam/Würzburg 1983. 275 pp. Band 29: Euro 30,Shusterman, Richard: The Object of Literary Criticism. Amsterdam/Würzburg 1984. 237 pp. Band 30: Sold out Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Von der Wahrheit der Dichtung. Interpretationen: Plato; Aristoteles; Shakespeare; Schiller; Novalis; Wagner; Nietzsche; Kafka. Hrsg. von Wolfgang Janke und Raymund Weyers. Amsterdam/Würzburg 1984. 206 pp. Band 31: Sold out Decher, Friedhelm: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Amsterdam/Würzburg 1984. 195 pp.
Band 32: Euro 18,Weppen, Wolfgang von der: Die existentielle Situation und die Rede. Untersuchungen zu Logik und Sprache in der existentiellen Hermeneutik von Hans Lipps. Amsterdam/Würzburg 1984. 146 pp. Band 33: Euro 24,Wolzogen, Christoph von: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps. Ein Beitrag zur Geschichte der Theorien der Relation. Amsterdam/Würzburg 1984. 182 pp. Band 34: Euro 30,Mitias, Michael H.: Moral Foundation of the State in Hegel’s “Philosophy of Right”: Anatomy of an Argument. Amsterdam/Würzburg 1984. 197 pp. Band 35: Sold out Seidl, Horst: Beiträge zu Aristoteles’ Erkenntnislehre und Metaphysik. Amsterdam/Würzburg 1984. 214 pp. Band 36: Euro 18,Richter, Leonhard G.: Hegels begreifende Naturbetrachtung als Versöhnung der Spekulation mit der Erfahrung. Amsterdam/Würzburg 1985. 127 pp. Band 37: Euro 21,Löbl, Rudolf: Die Relation in der Philosophie der Stoiker. Amsterdam/Würzburg 1986. 150 pp. Band 38: Euro 42,Dempf, Alois: Metaphysik. Versuch einer problemgeschichtlichen Synthese. In Zusammenarbeit mit Christa Dempf-Dulckeit. Amsterdam/Würzburg 1986. 332 pp. Band 39: Sold out Classen, Carl Joachim: Ansätze. Beiträge zum Verständnis der frühgriechischen Philosophie. Amsterdam 1986. 288 pp Band 40: Euro 15,Middendorf, Heinrich: Phänomenologie der Hoffnung. Amsterdam/Würzburg 1985. 99 pp. Band 41: Euro 47,Glouberman, M.: Descartes: The Probable and the Certain. Amsterdam/Würzburg 1986. 374 pp. Band 42: Euro 18,Creativity in Art, Religion, and Culture. Edited by Michael H. Mitias. Amsterdam/Würzburg 1985. 134 pp. Band 43: Euro 24,Böhm, Peter: Theodor Lessings Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung von Welt. Ein kritischer Beitrag zur Aporetik der Lebensphilosophie. Amsterdam/Würzburg 1986. 127 pp.
Band 44: Euro 51,Weier, Winfried: Phänomene und Bilder des Menschseins. Grundlegung einer dimensionalen Anthropologie. Amsterdam 1986. 337 pp. Band 45: Euro 30,Text, Literature, and Aesthetics in Honor of Monroe C. Beardsley. Edited by Lars Aagaard-Mogensen & Luk De Vos. Amsterdam 1986. 229 pp. Band 46: Sold out Hager, Fritz-Peter: Gott und das Böse im antiken Platonismus. Amsterdam/Würzburg 1987. 165 pp. Band 47: Sold out Hartmann, Klaus: Studies in Foundational Philosophy. Amsterdam/Würzburg 1988. 434 pp. Band 48: Broschiert Euro 22,Gebunden Euro 89,Berlinger, Rudolph: Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen. Amsterdam/Würzburg 1988. 398 pp. Band 49: Sold out Goedert, Georges: Nietzsche der Überwinder Schopenhauers und des Mitleids. Amsterdam/Würzburg 1988. 168 pp. Band 50: Euro 36,Aesthetic Quality and Aesthetic Experience. Edited by Michael H. Mitias. Amsterdam 1988. 176 pp. Band 51: Euro 28,Mitias, Michael H.: What Makes an Experience Aesthetic? Amsterdam/Würzburg 1988. 154 pp. Band 52: Euro 16,Platzek, Reinhard: Zum Problem der Zeit und Zeitbestimmtheit im musikalischen Tempo. Amsterdam/Würzburg 1989. 94 pp. Band 53: Euro 36,Bourgeois, Patrick L. / Schalow, Frank: Traces of Understanding: A Profile of Heidegger’s and Ricoeur’s Hermeneutics. Amsterdam/Atlanta, GA 1990. VI, 186 pp. Band 54: Euro 45,Meyer, Thomas Ludolf: Das Problem eines höchsten Grundsatzes der Philosophie bei Jacob Sigismund Beck. Amsterdam/Atlanta, GA 1991. 257 pp. Band 55: Euro 45,Richter, Leonhard G.: Propädeutik der Philosophie. Amsterdam/ Atlanta, GA 1991. 312 pp.
Band 56: Euro 53,Franz, Albert: Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F.W.J. Schellings. Amsterdam/Atlanta, GA 1992. 372 pp. Band 57: Euro 30,Berlinger, Rudolph: Philosophisches Denken. Einübungen. Hrsg. von Franz Träger in Zusammenarbeit mit Dorothea Günther. Amsterdam/Atlanta, GA 1992. 252 pp. (ISBN: 90-5183-4089-X) Band 58: Euro 24,Günther, Dorothea: Schöpfung und Geist. Studien zum Zeitverständnis Augustins im XI. Buch der Confessiones. Amsterdam/Atlanta, GA 1993. 96 pp. (ISBN 90-5183-453-5) Band 59: Euro 53,Gnosis und Philosophie: Miscellanea. Mit einem Vorwort von Alexander Böhlig. Hrsg. von R. Berlinger und W. Schrader. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 269 pp. (ISBN: 90-5183-406-3) Band 60: Euro 118,Girard, Louis: L’Argument ontologique chez Saint Anselme et chez Hegel. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 666 pp. Bound. (ISBN: 905183-620-1) Band 61: Euro 33,Stratmann, Nicole: Leiden – im Lichte einer existenzialontologischen Kategorialanalyse. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 175 pp. (ISBN: 90-5183-619-8) Band 62: Euro 42,Kunst und Ontologie: Für Roman Ingarden zum 100. Geburtstag. Hrsg. von W∏odzimierz Galewicz, Elisabeth Ströker, W∏adys∏aw Strozewski. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 235 pp. (ISBN: 90-5183479-9) Band 63: Euro 130,Wyller, Egil A.: Henologische Perspektiven I/I–II. Platon – Johannes – Cusanus. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 599 pp. Bound (ISBN: 90-5183-849-2) Band 64: Euro 45,El Mossadeq, Ismail: Kritik der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Phänomenologie in der Alternative zwischen Husserl und Heidegger. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 281 pp. (ISBN: 90-5183-858-1) Band 65: Euro 24,Seidl, Horst: Beiträge zu Aristoteles’ Naturphilosophie. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. XVI, 151 pp. (ISBN: 90-5183-854-9)
Band 66: Euro 27,Vergote, Antoine: In Search of a Philosophical Anthropologie. A Compilation of Essays. Leuven/Amsterdam/Atlanta, GA 1996. 287 pp. (ISBN: 90-420-0014-7) Band 67: Euro 42,Kimmerle, Heinz (Hrsg.): Das Multiversum der Kulturen. Beiträge zu einer Vorlesung im Fach ‚Interkulturelle Philosophie‘ an der Erasmus Universität Rotterdam. Amsterdam/Atlanta, GA 1996. 239 pp. (ISBN: 90-420-0108-9) Band 68: Euro 65,Eugen Fink. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle 23–30 juillet 1994. Organisé et édité par Natalie Depraz et Marc Richir. Amsterdam/Atlanta, GA 1997. 367 pp. (ISBN: 90-420-0243-3) Band 69: Euro 30,Henologische Perspektiven II zu Ehren Egil A. Wyllers. Internationales Henologie-Symposium an der Norwegischen Akademie der Wissenschaften in Oslo. Hrsg. v. Tore Frost. Amsterdam/Atlanta, GA 1997. 143 pp. (ISBN: 90-420-0357-X) Band 70: Euro 83,Lischewski, Andreas: Person und Bildung. Überlegungen im Grenzgebiet von philosophischer Anthropologie und Bildungstheorie im Anschluß an Paul Ludwig Landsberg. Dettelbach/Amsterdam 1998. 656 pp. (ISBN: 90-420-0612-9) Band 71: Euro 47,Schalow, Frank: Language and Deed. Rediscovering Politics through Heidegger’s Encounter with German Idealism. Amsterdam/Atlanta, GA 1998. XVIII, 235 pp. (ISBN: 90-420-0412-2) Band 72: Euro 47,John Duns Scotus (1265/6–1308). Renewal of Philosophy. Acts of the Third Symposium Organized by the Dutch Society for Medieval Philosophy Medium Aevum. Ed. by E.P. Bos. Amsterdam/Atlanta GA 1998. XIV, 237 pp. (ISBN: 90-420-0081-3) Band 73: Euro 45,Grund, Dorothea: Erscheinung und Existenz. Die Bedeutung der Erscheinung für die Ansatzproblematik der transzendental begründeten Existenzphilosophie Heinrich Barths. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. 237 pp. (ISBN: 90-420-0646-3) Band 74: Euro 45,Architecture and Civilization. Ed. by Michael H. Mitias. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. IX, 208 pp. incl. 28 illustrations. (ISBN: 90420-0786-9)
Band 75: Euro 42,Scherbel, Martina: Phänomenologie als absolute Wissenschaft. Die systembildende Funktion des Zuschauers in Eugen Finks VI. Cartesianischer Meditation. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. 223 pp. (ISBN: 90-420-0538-6) Band 76: Euro 55,Transzendenz und Existenz: Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Manfred Baum und Klaus Hammacher. Amsterdam/Atlanta, GA 2001. X, 280 pp. (ISBN: 90-420-1246-3) Band 77: Euro 63,Park, In-Choel: Die Wissenschaft von der Lebenswelt. Zur Methodik von Husserls später Phänomenologie. Amsterdam/New York, NY 2001, XIV, 335 pp. (ISBN: 90-420-1457-1) Band 78: Euro 70,Jeng, Jyh-Jong: Natur und Freiheit. Eine Untersuchung zu Kants Theorie der Urteilskraft. Amsterdam/New York, NY 2004, IX, 337 pp. (ISBN: 90-420-1059-2) Band 79: Euro 44,Heidegger und die Logik. Hrsg. v. Alfred Denker und Holger Zaborowski. Amsterdam/New York, NY 2006, 221 pp. (ISBN: 10: 90-4202063-6)