»Was ist denn passiert?« Eltons Antwort wurde von einer Alarmsirene laut übertönt. Dann kam Abbigens in den Aufenthalts...
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»Was ist denn passiert?« Eltons Antwort wurde von einer Alarmsirene laut übertönt. Dann kam Abbigens in den Aufenthaltsraum. Er sah sich triumphierend um und nickte jemandem zu. Wem? Glystra warf den Kopf herum. Zu spät; er sah nur noch Gesichter und offene Münder. Und jetzt – ein Bild, das er niemals vergessen würde: die Tür schwang auf, der Maat taumelte herein, die Hand am Hals, als würde er sich die Kehle reiben. Er deutete mit einem zitternden Finger auf Abbigens. Aus seinem Mund quoll Blut; seine Knie gaben nach, und er fiel zu Boden. Glystra starrte auf den untersetzten Mann mit den blonden Haaren. Dunkle Schatten zogen an den Sichtluken vorbei. Ein furchtbares Krachen; der Boden des Aufenthaltsraums wölbte sich nach oben ...
PLANET DER AUSGESTOSSENEN von Jack Vance, ein packendes Weltraumabenteuer.
Ullstein Buch Nr. 3256 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: BIG PLANET Aus dem Amerikanischen von Michael Pross
Umschlagillustration: ACE Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1957 by Jack Vance Übersetzung © 1976 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1976 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03256 7
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Vance, Jack Planet der Ausgestoßenen: Science-Fiction-Roman / hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein, 1976. (Ullstein-Bücher; Nr. 3256: Ullstein 2000) Einheitssacht.: Big planet (dt.). ISBN 3-548-03256-7
Jack Vance
Planet der Ausgestoßenen SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1 Er nannte sich Arthur Hidders. Seine Kleidung war irdischen Zuschnitts, und wenn man von der Länge seiner Haare und seinem Backenbart absah, unterschied er sich nicht im geringsten von einem Erdenbürger. Er war gut einen Meter achtzig groß und hellhäutig; seinen großen, rundlichen Kopf schmückte ein durchaus sensibles Gesicht, dessen Züge aber etwas zu dicht beieinander lagen. Er wandte sich von der Raumsichtluke ab und sah den alten Eli Pianza mit einem Ausdruck fast kindlicher Durchtriebenheit an. »Das ist alles sehr interessant – aber muß es nicht, nun ja, vergeblich erscheinen?« »Vergeblich?« echote Pianza würdevoll. »Ich fürchte, das verstehe ich nicht.« Hidders machte eine achtlose Geste. »Die Erdzentrale hat in den letzten fünfhundert Jahren ungefähr während jeder Generation einmal eine Kommission ausgesandt. Einigen Kommissionen gelang es, wieder lebend zurückzukehren, den meisten aber nicht. Auf jeden Fall ist nie etwas dabei herausgekommen. Ein paar Erkunder haben ihr Leben verloren, eine Menge Geld ist weg, man flucht – Verzeihung – über die schrecklichen Zustände auf dem Großen Planeten, und im übrigen geht alles weiter wie zuvor.«
»Was Sie sagen, ist wahr«, antwortete Pianza, ohne seinen Gleichmut zu verlieren, »aber diesmal werden sich die Dinge vollkommen anders entwickeln.« Hidders zog die Augenbrauen hoch und breitete zugleich die Arme aus. »Hat sich der Große Planet verändert? Oder etwa die Erdzentrale?« Pianza sah sich unbehaglich in dem Aufenthaltsraum um, in dem sich außer ihnen nur eine Hilfreiche Schwester aufhielt, die unbeweglich wie eine Statue dasaß, der sichtbare Teil ihres Gesichts meditativ entrückt. »Die Bedingungen haben sich geändert«, gab er zu. »Sehr geändert. Die früheren Kommissionen wurden ausgesandt, um – nun ja, sagen wir, um das irdische Gewissen zu beruhigen. Wir wußten, daß auf dem Großen Planeten Mord, Folterung und Terror Wirklichkeit waren; wir wußten, daß etwas getan werden mußte.« Er lächelte bedauernd. »Jetzt gibt es etwas Neues auf dem Großen Planeten: den Bajarnum von Beaujolais.« »Ach ja – ich bin oft durch seine Länder gereist.« »Nun, auf dem Großen Planeten gibt es vermutlich Hunderte von Herrschern, die nicht weniger grausam, arrogant und willkürlich regieren – aber der Bajarnum dehnt sein Reich, wie Sie sicher wissen, ständig weiter aus, und er beschränkt seine Aktivitäten dabei nicht einmal mehr auf den Großen Planeten.«
»Hm«, meinte Hidders. »Sie sind also gekommen, um sich um Charley Lysidder zu kümmern.« »Ja, so könnte man das sagen. Und diesmal haben wir die Befugnis, selbst einzugreifen.« Ein dunkelhäutiger Mann von mittlerer Größe betrat den Aufenthaltsraum. Seine Muskeln lagen dicht unter seiner Haut, er bewegte sich schnell und mit scharfen, bestimmten Bewegungen. Es war Claude Glystra, der Leiter der Kommission. Glystra sah sich mit eisigen, suchenden, fast mißtrauischen Blicken im Aufenthaltsraum um. Er trat zu Hidders und Pianza an die Sichtluke und deutete auf eine flammendgelbe Sonne, von der sie nicht mehr weit entfernt waren. »Das ist Phaedra. Wir werden uns in wenigen Stunden auf dem Großen Planeten befinden.« Ein Gong ertönte. »Essenszeit«, sagte Pianza und erhob sich sichtlich erleichtert. Glystra ging den anderen voraus, verhielt aber nahe der Tür, um die Hilfreiche Schwester in einer Wolke von Schwarz voranschweben zu lassen. »Ein merkwürdiges Geschöpf«, murmelte Pianza. Glystra lachte. »Auf dem Großen Planeten gibt es nur merkwürdige Leute; deshalb sind sie dort. Wenn sie sie missionieren oder auch nur nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden will, so ist das ihr gutes Recht. Und abgesehen von ihrer Art, sich zu kleiden, würde sie einem jeden Planeten zur Ehre gereichen.«
Hidders nickte lebhaft. Die Hilfreichen Schwestern genossen, ähnlich wie die Barmherzigen Schwestern der Alten Zeit, eine ausgesprochen hohe Wertschätzung auf allen zivilisierten Welten. »Vollkommene Demokratie auf dem Großen Planeten, wie, Mr. Glystra?« Pianza sah erwartungsvoll drein; Glystra pflegte stets in aller Deutlichkeit zu sagen, was er dachte. Claude Glystra enttäuschte ihn nicht. »Perfekte Anarchie, Mr. Hidders.« Schweigend gingen sie die spiralförmige Treppe zur Kantine hinab und nahmen ihre Plätze ein. Einer nach dem anderen kamen die übrigen Mitglieder der Kommission hinzu. Zuerst Roger Fayne, groß, blühend, lebhaft; dann Moss Ketch, dunkel, mürrisch, melancholisch, gleich dem »Vorher«-Typ in der Werbung für ein Stärkungsmittel. Danach kam Steve Bishop, das jüngste Kommissionsmitglied; hinter seinem Schafsgesicht und seiner aalglatten Art verbargen sich ein Kopf voll von Gelehrsamkeit und starke hypochondrische Tendenzen. Er befriedigte das eine mit einer tragbaren Mikrofilmbibliothek und das andere mit einem Koffer voll von Medikamenten und Instrumenten. Zuletzt kam Bruce Carrot, aufrecht, mit ausgesprochen militärischer Haltung und karottenfarbenen Haaren. Seine Lippen waren aufeinandergepreßt, als müßten
sie einen beständigen Temperamentsausbruch verhindern. Die Mahlzeit verlief ruhig, war aber von einer Spannung belastet, die den ganzen Nachmittag über anhielt und immer stärker wurde, während sich der Große Planet in ihren Sichtbereich schob und diesen schon bald vollkommen ausfüllte. Ein scharfer Ruck, ein Schlingern, ein spürbarer Richtungswechsel. Glystra wich von der Sichtluke zurück. Das Licht flackerte, erstarb, glomm dann schwach weiter. Glystra lief die Spirale zur Brücke hinauf. Auf dem höchsten Absatz stand ein untersetzter Mann in einer Schiffsuniform – Abbigens, Funker und Zahlmeister. »Was ist los?« verlangte Glystra scharf. »Was ist passiert?« »Keine Ahnung, Mr. Glystra. Ich wollte selbst da hinein; aber die Tür ist verschlossen.« »Sieht so aus, als wäre das Schiff außer Kontrolle geraten, als stünde uns eine Bruchlandung bevor.« »Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mr. Glystra. Wir haben eine Notlandeausrüstung, die uns sicher zu Boden bringen wird – alles automatisch. Die Landung wird vielleicht ein bißchen hart, aber wenn wir ruhig im Aufenthaltsraum sitzen bleiben, kann uns eigentlich nichts passieren.« Behutsam ergriff er Glystras Arm. Glystra schüttel-
te ihn ab und kehrte zu der Tür zurück; sie war so fest wie die übrigen Wandungen. Er rannte die Stufen hinunter, während er sich selbst vorwarf, nichts gegen eine solche Möglichkeit unternommen zu haben. Irgendwo auf dem Großen Planeten außerhalb der Erdenklave zu landen, bedeutete nichts weniger als eine Katastrophe. Er stand am Eingang des Aufenthaltsraums; da war ein Durcheinander von Stimmen, bleiche Gesichter wandten sich ihm zu. Fayne, Darrot, Pianza, Bishop, Ketch, Hidders und die Schwester – sie waren alle da. Er lief zum Maschinenraum; die Tür gab nach. Asa Elton, der durch nichts zu erschütternde Chefingenieur, schob ihn zurück. »Wir brauchen die Rettungsboote«, bellte Glystra. »Keine Rettungsboote mehr.« »Keine Rettungsboote mehr! Was ist mit ihnen geschehen?« »Sind ausgeschleust worden. Wir müssen beim Schiff bleiben, etwas anderes bleibt uns nicht zu tun.« »Aber der Kapitän, der Maat –« »Sie antworten nicht.« »Aber was ist passiert?« Eltons Antwort wurde von einer Alarmsirene unhörbar gemacht. Abbigens kam in den Aufenthaltsraum. Er sah sich triumphierend um und nickte jemandem zu. Wem?
Glystra warf den Kopf herum. Zu spät; er sah nur noch Gesichter und offene Münder. Und jetzt – ein Bild, das er niemals vergessen würde: die Tür schwang auf; der Maat taumelte herein, die Hand am Hals, als würde er sich die Kehle reiben. Er deutete mit einem zitternden Finger auf Abbigens. Aus seinem Mund quoll Blut; seine Knie gaben nach, und er fiel zu Boden. Glystra starrte auf den untersetzten Mann mit den blonden Haaren. Dunkle Schatten zogen an den Sichtluken vorbei. Ein furchtbares Krachen; der Boden des Aufenthaltsraums wölbte sich nach oben. Claude Glystra gewann sein Bewußtsein allmählich wieder wie ein Stück Holz, das sich im Wasser vollsog. Er öffnete seine Augen; die Sicht kehrte zurück. Er lag auf einer niedrigen Bettstelle in einer aus Brettern gezimmerten Hütte. Mit einer fiebrigen Bewegung stützte er sich auf einen Ellbogen und sah zu der offenen Tür hinaus; und was er sah, wirkte auf ihn wie der wundervollste Anblick seines Lebens. Er sah auf einen grünen Hügel hinaus, mit gelben und roten Blumen besprenkelt, der zu einem Wald hinaufführte. Durch das Blätterwerk hindurch waren die Giebel eines Dorfes zu erkennen – schmale Giebel aus geschnitztem, dunkelbraunem Holz. Die ganze
Landschaft war wie in ein helles, goldenes Licht getaucht; jede Farbe erstrahlte mit juwelengleicher Klarheit. Drei Mädchen in bäuerlicher Kleidung bewegten sich durch sein Gesichtsfeld; sie tanzten im Kreise. Glystra hörte die Musik – Ziehharmonika, Mandoline und Gitarre. Schritte näherten sich. Aus nur halb geöffneten Augen nahm er wahr, wie Pianza und Roger Fayne die Hütte betraten. Hinter ihnen kam ein junges Mädchen mit blonden Pferdeschwänzen; sie trug ein Tablett. Glystra kämpfte sich erneut auf seine Ellbogen, und Pianza sagte beruhigend: »Entspanne dich, Claude. Du bist ein kranker Mann.« »Ist jemand getötet worden?« verlangte Glystra zu wissen. »Die Stewards. Sie haben sich im äußeren Bereich des Schiffs aufgehalten. Und die Schwester ebenfalls. Offenbar ist sie kurz vor dem Aufprall in ihre Kabine gegangen. Die befindet sich jetzt sechs bis acht Meter unter der Erde. Und dann natürlich der Kapitän und der Maat, denen die Kehle durchgeschnitten wurde.« Glystra schloß die Augen. »Wie lange ist das jetzt her?« »Etwa vier Tage.« »Was ist passiert?«
»Das Schiff ist völlig hin«, sagte Fayne. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Es ist in drei Teile zerbrochen. Ein Wunder, daß wir überhaupt lebend herauskamen.« Das Mädchen stellte das Tablett auf das Bett, kniete sich hin und breitete sich darauf vor, Glystra zu füttern. Er sah etwas kläglich hoch. »Und das geht schon seit vier Tagen so?« »Du hast Pflege gebraucht«, sagte Pianza. Er strich dem Mädchen über die Haare. »Das ist NatilienThilssa, oder kürzer Nancy. Sie ist eine gute Schwester.« Fayne blinzelte mit den Augen. »Du hast vielleicht ein Glück.« Glystra wich vor dem Löffel zurück. »Ich kann selbst essen.« Er sah zu Pianza hoch. »Wo sind wir, Eli?« Pianza runzelte die Stirn. »Die Ortschaft heißt Jubilith – irgendwo nahöstlich von Beaujolais.« Glystra preßte die Lippen zusammen. »Es könnte kaum schlimmer sein. Ich wundere mich, daß sie uns noch nicht aufgegriffen haben.« Pianza sah zur Tür hinaus. »Wir sind hier ziemlich isoliert, und es gibt praktisch keine Kommunikationsmittel ... Aber es hat uns trotzdem ziemlich nervös gemacht, wie ich zugeben muß.« Die Szene im Aufenthaltsraum trat vor Glystras inneres Auge. »Wo ist Abbigens?«
»Abbigens? Verschwunden.« Glystra stöhnte und atmete schwer. Pianza sah unsicher zu Fayne. »Warum habt ihr ihn nicht umgebracht?« Pianza vermochte nur den Kopf zu schütteln. »Er ist uns entkommen«, sagte Fayne. »Da war noch jemand anders«, sagte Glystra schwach. Eli Pianza lehnte sich nach vorn, seine grauen Augen blickten scharf. »Jemand anders? Wer?« »Ich weiß nicht. Abbigens hat den Kapitän und den Maat umgebracht. Der andere hat den Antrieb sabotiert und die Rettungsboote ins All geschickt.« Er wälzte sich ruhelos auf der Liege hin und her, und das Mädchen legte eine kühle Hand auf seine Stirn. »Ich war also vier Tage bewußtlos. Ist das nicht ungewöhnlich lange?« »Du hast unter dem Einfluß von Beruhigungsmitteln gestanden«, erklärte Pianza. »Du hast dringend Ruhe gebraucht. Eine Zeitlang warst du wie wahnsinnig.«
2 Glystra setzte sich auf, obwohl Nancy ihn zurückzuhalten versuchte, und befühlte seinen Kopf. Er versuchte, auf die Füße zu kommen. Fayne sprang auf. »Um Himmels willen, Claude, mach mal langsam!« Glystra schüttelte den Kopf. »Wir müssen hier raus. Und zwar schnell. Überleg doch mal. Wo ist Abbigens? Er ist abgehauen, um Charley Lysidder Bericht zu erstatten, dem Bajarnum.« Er ging zur Tür und badete sich in den weiß-goldenen Sonnenstrahlen, nahm den Anblick der Landschaft des Großen Planeten in sich auf. Pianza schaffte einen Stuhl herbei; Glystra ließ sich darauf nieder. Die Hütte, das Dorf und der Wald befanden sich in halber Höhe einer Hügelformation, deren Größe sich irdischen Vorstellungen entzog. Oberhalb vermochte Glystra keine scharfe oder kammartige Begrenzung zu erkennen; das Land floß in die blaßblaue Ferne hinein. Fayne hielt seine schweren Arme in die wärmende Sonne. »Hierher werde ich ziehen, wenn ich alt bin. Wir hätten den Großen Planeten niemals diesen Verrückten überlassen sollen.« Nancy ging mit etwas steifen Bewegungen ins Haus zurück.
Roger Fayne kicherte. »Vermutlich hat sie angenommen, daß ich sie auch zu den Verrückten zähle.« »Du wirst niemals alt werden, Roger«, sagte Glystra, »wenn wir hier nicht bald herauskommen. Wo ist das Schiff?« »Ein Stück weit in dem Wald da oben.« »Wie weit sind wir von Beaujolais entfernt?« Fayne blickte in Richtung Südwesten den Abhang hinauf. »Die Grenzen von Beaujolais lassen sich nicht so genau bestimmen. Jenseits dieser Erhebung befindet sich ein weites Tal offenbar vulkanischen Ursprungs. Es soll voll von heißen Quellen, Geysiren, sein – das Tal der Glasbläser. Letztes Jahr ist der Bajarnum mit seinen Truppen eingerückt, und seither gehört das Tal zu Beaujolais. Bis heute hat er noch keinen Statthalter oder Steuereintreiber nach Jubilith gesandt, aber sie werden jeden Tag erwartet – zusammen mit einer Garnison.« »Wozu eine Garnison? Um die vielzitierte Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten?« Fayne deutete hangabwärts. »Zum Schutz vor den wilden Nomaden, die sich gern als Sklavenjäger betätigen – sie werden Zigeuner genannt.« Glystra blickte zu der Stadt hinauf. »Sieht nicht so aus, als ob sie darunter sehr gelitten hätten ... Wie weit ist Grosgarth entfernt?« »Es liegt schätzungsweise etwa zweihundert Mei-
len südlich. Eine Garnisonsstadt – sie wird Montmarchy genannt – befindet sich etwa fünfzig Meilen südöstlich am Rand der Hügelformation entlang.« »Fünfzig Meilen«, überlegte Glystra. »In diese Richtung hat sich vermutlich Abbigens auf den Weg gemacht, um ...« Ein dumpfes, metallisches Geräusch war vom Wald her zu vernehmen. Glystra sah Pianza fragend an. »Sie schneiden das Schiff auseinander. Es ist mehr Metall, als sie in ihrem ganzen Leben gesehen haben. Wir haben sie alle zu Millionären gemacht.« »Bis der Bajarnum das ganze Ding beschlagnahmt«, ergänzte Fayne. »Wir müssen hier raus«, murmelte Glystra und bewegte sich in seinem Stuhl. »Wir müssen es bis zur Enklave schaffen – irgendwie ...« Pianza preßte die Lippen aufeinander. »Der nächste Weg dahin geht um den ganzen Planeten, und das sind vierzigtausend Meilen.« Glystra erhob sich mühsam. »Wir müssen hier raus. Wir sitzen hier wie Tontauben zum Abschießen. Wenn sie uns kriegen, dann wird Lysidder ein Exempel an uns statuieren ... Wo sind eigentlich die anderen aus dem Schiff?« Pianza nickte in Richtung auf das Dorf. »Sie haben uns ein großes Haus überlassen. Hidders ist weg.« »Weg? Wohin?«
»Grosgarth. Er sagte, er will zum Golf von Marwan übersetzen und sich einer der Strandkarawanen nach Wale anschließen.« »Hmm. Die Stewards tot, der Kapitän und der Maat tot, die Schwester tot, Abbigens weg, Hidders weg«, – Glystra zählte sie an seinen Fingern ab – »bleiben also noch acht; die Kommission und zwei Offiziere aus dem Maschinendeck. Bringt sie am besten hier runter, und dann werden wir Kriegsrat halten.« Sorgenvoll sah Glystra Pianza und Fayne nach, wie sie zum Dorf hinaufstiegen, ließ seinen Blick sodann hangabwärts schweifen. Wenn sich Truppen von Beaujolais bei Tage näherten, dann waren sie auf viele Meilen auszumachen. Glystra dachte dankbar daran, daß die Kruste des Planeten keine Metalle enthielt; ohne Metalle keine Maschinen, ohne Maschinen keine Elektrizität – daher auch keine Kommunikation über weite Entfernungen hinweg. Nancy kam aus der Hütte heraus; sie hatte ihr abgetragenes blaues Kleid durch eine Art von Hosenanzug ersetzt, einen in Rot und Blau gemusterten Harlekinanzug. Eine enganliegende Kappe bedeckte ihre Haare. Claude Glystra starrte sie einen Augenblick lang an. Nancy wirbelte vor ihm herum und zog eine Pirouette – auf einer Zehenspitze balancierend, den an-
deren Fuß am Knie angelegt. »Sind alle Mädchen von Jubilith so liebreizend wie du?« Sie lächelte und ließ ihr Gesicht von der Sonne bescheinen. »Ich bin nicht von Jubilith ... Ich komme aus dem Ausland.« »Tatsächlich. Von woher?« Sie wies in Richtung Norden. »Von Veillevaux im Walde. Mein Vater hatte die Gabe der Prophetie, und die Leute kamen von weither, um nach ihrer Zukunft zu fragen.« »Mein Vater wurde reich«, fuhr Nancy fort. »Er bildete mich in den Künsten aus. Ich reiste nach Grosgarth und Calliope und Wale, und durch die Stemvelt-Kanäle ging ich ins Ausland als Sängerin. Ich war bei den besten Spielgesellschaften, und zusammen kamen wir durch viele Städte und Burgen und wundervolle Landschaften.« Sie erbebte sichtlich. »Und wir haben auch Schlimmes gesehen. Viel Schlimmes in Claythree ...« Tränen traten in ihre Augen. Mit ausdrucksloser Stimme fuhr sie fort: »Bei meiner Rückkehr in die Heimat fand ich nur noch Niedergang und Verzweiflung. Die Zigeuner aus der Nordheide hatten das Dorf überfallen und das Haus meines Vaters, in dem sich meine ganze Familie befand, niedergebrannt. Und ich ging nach Jubilith, um tanzen zu lernen und meine Trauer hinwegzutanzen ...«
Glystra musterte sie genauer. Sie hatte einen ausgesprochen lebhaften Ausdruck – ihre Augen blitzten, ihre Stimme trällerte geradezu, wenn sie von etwas Freudigem sprach – ihre Lippen bewegten sich fließend. Und wenn sie von Trauer sprach, dann wurden ihre Augen ganz groß und nachdenklich. »Und warum wurdest du damit betraut, mich zu pflegen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin eine Fremde hier; ich kenne die Lehren von Grosgarth – die teilweise aus irdischen Büchern abgeleitet wurden. Naisuka.« Glystra sah erstaunt hoch und wiederholte das Wort. »Was bedeutet das?« »Es ist ein Wort, das in Beaujolais gebraucht wird. Es bedeutet – nun ja, was immer einen Menschen dazu bringt, Dinge zu tun, die keinen besonderen Grund haben.« Er deutete den Abhang hinab. »Wie heißt das Land dort unten?« Sie wandte sich um. »Das Gebiet von Jubilith endet bei den Wäldern von Tsalombar.« Sie wies auf die ferne Silhouette einer Waldregion. »Dort wohnen die Baumleute.« Beim Dorf oben wurden jetzt die Erdbewohner sichtbar. Claude Glystra sah zu, wie sie näherkamen. Keiner wirkte auch nur im entferntesten schuldbe-
wußt; aber jemand hatte Abbigens geholfen, und jemand anders hatte den Antrieb außer Funktion gesetzt. Das konnte natürlich Arthur Hidders gewesen sein, und der war jetzt weg. »Setzt euch«, sagte Glystra. Sie setzten sich ins Gras. Glystra zögerte, bevor er sich den anderen zuwandte. »Wir sind ziemlich übel in der Klemme, aber ich glaube ja nicht, daß ich das näher ausführen muß.« Keiner sagte etwas. »Unser Schiff ist ein Wrack, und auf Hilfe von der Erde können wir nicht hoffen. Was die technische Überlegenheit angeht, so sind wir nicht besser dran, als die Leute aus dem Dorf. Vielleicht schlechter. Sie sind den Umgang mit ihren Werkzeugen und Materialien gewohnt; wir nicht. Wenn wir unbegrenzt Zeit hätten, dann könnten wir vielleicht eine Art von Sender zusammenbasteln und damit die Enklave zu erreichen versuchen. Diese Zeit haben wir nicht. Wir müssen in jeder Minute damit rechnen, von Soldaten überrascht und nach Grosgarth gebracht zu werden ... Wir haben nur eine Chance, und die besteht darin, aus Beaujolais herauszukommen, soviele Meilen wie möglich hinter uns zu bringen.« Er hielt inne und sah einen nach dem anderen an. Pianza ließ sich wenig anmerken; Faynes breite Stirn war in tiefe Falten gelegt; Ketch hörte nicht auf, mit einem kantigen Stein Furchen in den Boden zu zie-
hen. Bishops Gesicht wirkte sorgenumwölkt; über seinen Augen hatten sich kleine Runzeln ähnlich umgekehrten V gebildet. Darrot fuhr sich mit der Hand durch seine spärlichen roten Haare und murmelte etwas zu Ketch, der dazu nickte. Elton, der Chefingenieur, saß still da, als ginge ihn das alles nichts an. Vallusser, der zweite Ingenieur, starrte Glystra an, als wäre er der Grund all seiner Schwierigkeiten. Er fragte mit belegter Stimme: »Was machen wir dann? Wohin sollen wir flüchten? Da draußen« – er wies den Hang hinunter – »sind doch nur Wilde. Sie werden uns umbringen. Einige von ihnen halten Sklaven, aber das ist wenig besser.« Glystra zuckte mit den Schultern. »Jeder kann natürlich machen, was er will, um seine eigene Haut zu retten. Was mich angeht, ich sehe einen Ausweg. Es ist ein harter, langer und gefährlicher Weg. Vielleicht unmöglich. Es ist fast sicher, daß nicht alle von uns es schaffen werden. Aber wir wollen mit unserem Leben davonkommen; wir wollen nach Hause. Das ist« – er betonte diese Worte besonders – »ein ganz bestimmter Ort auf dem Großen Planeten. Die Enklave. Wir müssen die Enklave erreichen.« »Klingt gut«, meinte Fayne. »Ich bin dafür. Aber wie machen wir das?« Glystra grinste. »Mit dem einzigen Fortbewegungsmittel, das wir haben – nämlich unsere Füße.«
»Füße?« Faynes Stimme geriet in eine höhere Tonlage. »Hört sich nach einem ziemlich langen Marsch an«, sagte Darrot. Glystra zuckte die Schultern. »Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Wir haben nur eine Chance, zur Erde zurückzugelangen – und die besteht darin, die Erdenklave zu erreichen.« »Aber vierzigtausend Meilen?« klagte Fayne. »Ich bin ja nicht gerade leicht und auch nicht so gut auf den Füßen.« »Wir werden uns Packtiere zulegen«, sagte Glystra. »Indem wir sie kaufen, stehlen oder wie auch immer.« »Aber vierzigtausend Meilen.« Glystra nickte. »Es ist ein weiter Weg. Aber wenn wir einen entsprechenden Fluß finden, werden wir eine Floßfahrt machen. Oder vielleicht können wir uns zum Schwarzen Ozean durchschlagen, dort ein Schiff auftreiben und um die Küste herumsegeln.« »Unmöglich«, sagte Bishop. »Die australische Halbinsel können wir nicht umschiffen, zumal sie noch einen scharfen östlichen Ausläufer hat. Wir müßten also zunächst bis Henderland und dann zum Meer – um die Blackstone-Kordilleren herum bis zum Parmarbo. Und nach dem Almanach des Großen Planeten ist der Parmarbo praktisch nicht schiffbar auf-
grund von Riffen, Piraten, fleischfressenden Seeanemonen und wöchentlichen Hurrikanen.« Roger Fayne stöhnte wiederholt auf. Auch Nancy gab einen Laut von sich; ihr bebender Mund verriet Glystra, daß sie ein Kichern zu unterdrücken versuchte. Er erhob sich, und Pianza sah ihn zweifelnd an. »Wie fühlst du dich, Claude?« »Schwach. Aber morgen bin ich bestimmt wieder wie neu. Mir fehlt nichts, was nicht mit ein bißchen Übung behoben werden könnte. Wir haben eines, wofür wir dankbar sein können –« »Was ist das?« fragte Fayne. Glystra wies auf seine Füße. »Gute Stiefel. Wasserdicht und dauerhaft. Die werden wir auch brauchen.« Fayne musterte seinen eigenen Körper. »Ich glaube, meinen Bauch werde ich loswerden.« Glystra sah sich im Kreise um. »Hat noch jemand eine Idee? Vallusser?« »Ich bleibe bei euch.« »Gut. Hier also das Programm. Wir müssen unser Gepäck herrichten. Wir nehmen soviel Metall mit, als wir ohne Schwierigkeiten tragen können; es ist äußerst wertvoll auf dem Großen Planeten. Jeder von uns sollte etwa sechs bis sieben Kilo nehmen können. Messer und Werkzeuge wären am besten, aber wir werden nehmen müssen, was geht ... Dann brauchen wir Kleider, und zwar jeweils ein Stück zum Wech-
seln. Eine Schiffahrtskarte des Großen Planeten, wenn eine aufzutreiben ist. Einen Kompaß. Jeder sollte sich ein gutes Messer, eine Decke und – das ist am wichtigsten – Handwaffen aussuchen. Hat sich schon jemand im Schiff umgesehen?« Elton langte in seine Jackentasche und ließ den schwarzen Lauf einer Ionenpistole sichtbar werden. »Hat dem Kapitän gehört. Ich habe mir erlaubt, das Ding an mich zu nehmen.« »Ich habe bereits zwei solche Dinger«, fügte Fayne hinzu. »In meiner Schiffskabine sollte sich noch ein Ionenentlader befinden«, sagte Pianza. »Gestern war der Zugang noch versperrt, aber vielleicht komme ich doch noch irgendwie hinein.« »In meiner Kabine ist noch eine Waffe«, erklärte Glystra. Die sieben Männer strebten hangauf, in den seidenblauen bis grünen Wald hinein. Glystra sah ihnen von der Tür aus nach. Nancy erhob sich. »Du solltest jetzt am besten schlafen.« Er ging hinein und ließ sich auf die Liegestatt nieder. Nancy stand daneben und sah ihn sinnend an. »Claude Glystra.« »Was willst du?«
»Kann ich mitgehen?« Er wandte den Kopf und sah sie erstaunt an. »Mitgehen – wohin?« »Wohin immer du gehst.« »Um den ganzen Planeten?« »Ja.« Er schüttelte entschieden Kopf. »Du würdest mit uns zusammen den Tod finden. Unsere Chance steht nur tausend zu eins.« »Das ist mir egal ... ich sterbe nur einmal. Und ich möchte einmal die Erde sehen. Ich bin weit gereist, und ich weiß von vielen Dingen ...« Glystra versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es gelang ihm nicht, er war zu erschöpft. Irgend etwas stimmte nicht. Er musterte ihr Gesicht; war sie vielleicht in ihn vernarrt? Sie errötete. »Du errötest leicht«, bemerkte Glystra. »Ich bin stark. Ich kann die gleiche Arbeit verrichten wie Ketch oder Bishop.« »Ein hübsches Mädchen kann auch eine Menge Ärger machen.« Sie zuckte die Schultern. »Frauen werdet ihr überall auf dem Großen Planeten finden.« Glystra ließ sich auf die Liege zurücksinken und schüttelte erneut den Kopf. »Du kannst nicht mit uns kommen, Nancy.« Sie beugte sich nach vorn. »Sag ihnen, daß ich euch
den Weg zeigen werde. Kann ich nicht bis zum Waldrand mitkommen?« »Gut. Bis zum Waldrand.«
3 Glystra schlief eine Stunde, zwei Stunden, sein Körper saugte die erholsame Ruhe in sich auf. Als er wieder erwachte, fiel die Nachmittagssonne wie eine Flut von Safran durch die Tür herein. Hangaufwärts sah er, wie die Dörfler ihren abendlichen Reigen vollführten. Reihen von Mädchen und jungen Männern in buntgesprenkelten Anzügen, ähnlich dem von Nancy, bewegten sich tanzend und springend hin und her. Glystras Ohren vernahmen eine lebhafte Tanzmusik, die mit Fiedeln, Ziehharmonikas und Gitarren gespielt wurde. Mit weitausholenden Schritten liefen und sprangen die Tänzer innerhalb seines Gesichtsfeldes hin und her. Pianza und Darrot sahen durch die Tür zu ihm herein. »Aufgewacht, Claude?« fragte Pianza. Glystra schwang sich über den Rand der Liegestatt hinweg und auf die Füße, setzte sich auf. »Bin so gut wie neu.« Er stand auf, streckte sich und strich sich über den Hinterkopf; die Spuren seiner Verwundung waren fast völlig vergangen. »Alles bereit?« Pianza nickte. »Wir können gehen. Wir haben deinen Ionenstrahler gefunden und außerdem noch ein Hitzegewehr, das dem Maat gehörte.« Er sah Glystra nicht direkt an. »Wenn ich es richtig mitbekommen
habe, dann wird Nancy an der Expedition teilnehmen.« »Nein«, sagte Glystra. »Ich habe ihr gesagt, daß sie bis zum Wald mitkommen kann – das ist nur zwei oder drei Stunden von hier entfernt.« Eli Pianza blickte skeptisch drein. »Sie hat bereits ihr Tragegepäck zusammengestellt. Sie sagte, sie will mit uns gehen.« Darrot bewegte verneinend den Kopf hin und her. »Ich mag das nicht, Claude. In unserer Marschgruppe ist kein Platz für ein Mädchen. Das führt nur zu Reibungen und Unzufriedenheiten.« »Ich stimme da voll mit dir überein, Bruce«, sagte Glystra. »Ich habe ihr Ansinnen rundweg abgelehnt.« »Aber sie hat schon alles zusammengepackt«, sagte Pianza. »Wenn sie uns mit dreißig Metern Abstand folgt, dann wüßte ich nicht, wie wir sie aufhalten sollten, ohne körperlichen Zwang anzuwenden.« Pianza blinzelte mit den Augen. »Nun ja, natürlich ...« Seine Stimme verlor sich. Darrot war noch immer nicht überzeugt. »Sie ist weit gereist; sie war in Grosgarth. Sie könnte eine Geheimagentin des Bajarnum sein. Wie ich gehört habe, sind seine Spione überall – selbst auf der anderen Seite des Planeten; selbst auf der Erde.« »Möglich. Es könnte aber auch sein, daß du für den
Bajarnum arbeitest. Einer von uns steht auf jeden Fall in seinen Diensten.« Darrot schnaufte verächtlich und wandte sich ab. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Glystra und klopfte ihm auf die Schultern. »Wenn wir den Wald erreicht haben, dann schicken wir sie zurück.« Er ging zur Tür und trat durch sie hindurch ins Freie. »Bishop hat den Ersten-Hilfe-Kasten aus dem Schiff gerettet«, berichtete Pianza, »mit all den Nahrungskonzentraten und Vitaminpillen. Wir werden es brauchen können; was wir zu Essen bekommen, wird nicht immer das Beste sein.« »Gut.« »Fayne hat seine Campingausrüstung gefunden, und wir werden den Kocher und den Wasserbereiter mitnehmen.« »Und wie steht es mit Energiereserven für die Ionenstrahler?« »Nichts.« Glystra kaute auf seinen Lippen herum. »Das ist schlecht ... Habt ihr die Leiche der Schwester gefunden?« Pianza schüttelte den Kopf. »Schade«, meinte Glystra, obwohl er es nur wenig bedauerte. Die Frau war kaum als menschliches Wesen existent gewesen, was ihn anging; er erinnerte sich nur an ein schmales weißes Gesicht, einen
schwarzen Umhang und eine schwarze Kapuze, und an ein Flair der Weltabgewandtheit; davon war jetzt nichts mehr da. Vom Dorf her näherten sich die Erdenmänner, während die Tänzer mit fröhlichen und theatralischen Bewegungen um sie herumsprangen, nur auf ihre eigenen Bewegungen und auf die Musik achtend. Da waren Ketch, Elton, Vallusser, Fayne, Bishop – und Nancy. Sie stand ein wenig abseits, verfolgte die Tänze mit gelöster Distanz, als wäre sie bereits aller Bänder ledig, die sie zu Jubilith unterhalten hatte. Glystra sah über den Großen Planeten hinweg, der jetzt bereits in dunkles Gold getaucht zu sein schien. Während er den weiten Abhang hinabsah, fühlte er sich seiner Sache plötzlich nicht mehr so sicher. Jubilith erschien ihm warm und behaglich und sicher, fast wie ein Zuhause. Vor ihm lag nur eines – die Weite. Vierzigtausend Meilen, dachte er; einmal um die Erde herum, und dann noch einmal halb so weit ... Wenn er dorthin sah, wo sich der Horizont der Erde befunden hätte, dann konnte er den Blick anheben und über die Lande hinwegsehen, die viel weiter reichten; Bleistiftlinien in subtilen Schattierungen, jede Linie eine Ebene oder ein Wald, ein See, eine Wüste, eine Bergkette ... Er ging einen Schritt, sah über die Schulter zurück. »Laßt uns gehen.« Noch lange hörten sie die Musik der Dörfler hinter
sich. Erst als die hellviolette Dämmerung über sie hereinfiel, lösten sich die Geräusche in der Stille der Entfernung. Der Weg führte gleichmäßig abwärts, daher machte ihnen auch die langsam einsetzende Dunkelheit kaum zu schaffen. Fayne und Darrot gingen der Gruppe voran; es folgte Glystra, mit Nancy auf der einen und Pianza auf der anderen Seite. Ein wenig links von ihnen ging Ketch; hinter ihnen folgte Bishop, die Augen auf den Boden gerichtet. In weiteren zwanzig Schritten Abstand folgten Elton, der leichten Schrittes voranging, und Vallusser, der vorsichtig seinen Weg suchte, als hätte er einen verletzten Fuß. Das Zwielicht löste sich auf, und die Sterne erschienen. Jetzt gab es nur noch die Dunkelheit, den Himmel, den Planeten – und sie selbst. Nancy hatte die ganze Zeit kaum ein Wort gesagt, aber jetzt, da es dunkel geworden war, hielt sie sich dichter bei Glystra. Mit tiefer und weicher Stimme bat sie ihn: »Sag mir, welcher dieser Sterne ist die Alte Sonne?« Glystra suchte den Himmel ab. Die Konstellationen waren ihm fremd, und er konnte kein bestimmtes Muster erkennen. Er versuchte sich an ihren Flug und die Flugrichtung zu erinnern. »Ich glaube, das dort ist die Sonne – direkt über dem hellen weißen Stern, in Richtung auf diesen Spiralnebel.«
Sie starrte mit geweiteten Augen gegen den Himmel. »Erzähl mir von der Erde.« »Es ist unser Zuhause«, sagte Glystra. Er sah ein paar Sekunden lang zu dem weißen Stern auf. »Was gäbe ich dafür, wenn ich jetzt dort wäre ...« »Ist die Erde schöner als der Große Planet?« »Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, nein. Der große Planet ist ... groß. Und eindrucksvoll. Die Himalaya-Berge auf der Erde sind kleine Hügel im Vergleich zur Sklaemon-Kette hier oder zu den Blackstone-Kordilleren.« »Wo befinden sie sich?« Glystras Gedanken waren abgewandert. »Was?« »Die Bergketten.« »Die Sklaemon-Kette liegt etwa dreißigtausend Meilen nordwestlich in einem Gebiet des Großen Planeten, das Matador genannt wird. Dort leben die sogenannten Ski-Menschen, glaube ich. Die Blackstone-Kordilleren sind etwa fünftausend Meilen südöstlich gelegen, in Henderland oberhalb der australischen Halbinsel.« »Es gibt so viel zu lernen ... so viele Orte zu sehen ...« Ihre Stimme wurde ein wenig brüchig. »Die Erdenmenschen wissen mehr über uns, als wir selbst wissen. Das ist nicht fair.« Glystra lachte. »Der Große Planet ist ein Kompromiß aus den
Ideen der verschiedensten Leute. Niemand kann das für richtig halten.« »Wir wachsen als Barbaren auf«, erklärte sie mit nachdrücklichcher Betonung. »Mein Vater ...« Glystra sah sie überrascht an. »Ein Barbar kann sich dessen nicht bewußt sein, daß er ein Barbar ist.« »... wurde umgebracht. Überall ist Mord und Totschlag ...« Glystra tat sein bestes, um seiner Stimme nichts anmerken zu lassen. »Es ist nicht eure Schuld, daß das so ist – aber es ist auch nicht die Schuld der Erdenmenschen. Wir haben es niemals angestrebt, unsere Regierungsautorität hier anzuwenden. Jeder, der nach hier kommt, ist in jeder Hinsicht auf sich selbst gestellt – und seine Kinder bezahlen den Preis dafür.« Nancy verneinte mit einem Kopfschütteln. Glystra versuchte die Sache noch einmal zu durchdenken. Er verabscheute es nicht weniger als sie, wenn Menschen Schmerzen zugefügt und sie ins Elend gestoßen wurden. Aber er war gleichermaßen davon überzeugt, daß die Erdregierung ihre Autorität nur innerhalb eines begrenzten Raums aufrechterhalten konnte. Ebenso war es unmöglich, die Leute zurückzuhalten, die die Grenzen passieren und sich als frei erklären wollten. Er mußte sich zugeben, daß möglicherweise viele unter den Fehlern einiger weniger zu leiden hatten.
Nancy hatte die Ungerechtigkeit kennengelernt – den kaltblütigen Mord, die Trauer, den Zorn, die Fehlentwicklungen, die sich im Verlauf der Generationen verstärkt und nach und nach alle Stämme, Völker, Rassen, Kontinente, eine ganze Welt angegriffen hatten. Diese Dinge beherrschten natürlich ihre Gedanken, und es war nicht leicht, ihr die Zusammenhänge verständlich zu machen. »Die irdische Bevölkerung, Nancy, hat sich seit unseren ersten archaischen Geschichtsepochen auf verschiedenen Ebenen entwickelt. Einigen Leuten gelang es, in vollkommener Harmonie mit ihrer Zeit zu leben, andere tragen einen Kern nonkonformistischer Unabhängigkeit in sich – eine offenbar angeborene Eigenschaft, ein grundlegender Instinkt wie Hunger, Furcht, Zuneigung. Diese Leute fühlen sich unglücklich und unsicher in einer starren Gesellschaft; durch alle Zeiten hindurch waren sie diejenigen, die sich nicht einordnen ließen. Sie waren die Pioniere, die Forscher, die Eroberer; die Philosophen, die Kriminellen, die Propheten des Untergangs und die Vorläufer neuer kultureller Entwicklungen.« Sie schritten durch die Dunkelheit voran. Der Boden unter ihren Füßen knirschte. Vor und hinter ihnen waren unterdrückte Stimmen zu vernehmen. Nancy, die noch immer zur Alten Sonne hochsah,
erwiderte: »Aber was haben diese Leute denn mit dem Großen Planeten zu tun?« »Jubilith«, erklärte Glystra, »wurde von einer Ballettgruppe gegründet, die es offenbar nach Einsamkeit, Ruhe und Frieden verlangte, um ihre Kunst zur Vollendung bringen zu können. Vielleicht wollten sie nur für ein oder zwei Jahre nach hier kommen, aber sie blieben. Die ersten Siedler, die vor fast sechshundert Jahren nach hier kamen, waren Primitivisten – Leute, die Maschinen verabscheuten, von einfachen Karren vielleicht abgesehen. Primitivisten sind auf der Erde zwar nicht verboten, aber sie wurden wie Halbverrückte behandelt. Also kauften sie sich ein Schiff und unternahmen einen Erkundungsflug über die Grenzen des Systems hinaus. Sie fanden den Großen Planeten. Zuerst dachten sie, er wäre zu groß, um bewohnbar zu sein ...« »Warum das?« »Schwerkraft«, erklärte Glystra. »Je größer ein Planet ist, desto stärker die Gravitation. Aber der Große Planet besteht aus leichteren Materialien, deren spezifische Schwerkraft nur etwa ein Viertel von der der Erde beträgt. Die Erde ist ein sehr dichter Planet, der mit ziemlichen Mengen von Metall und schweren Elementen gesegnet ist, daher beträgt die Schwerkraft hier etwa gleichviel – obwohl diese Welt etwa das dreißigfache Volumen hat ... Die Primitivisten moch-
ten den Großen Planeten. Es war ein Paradies – sonnig, hell, ein mildes Klima – und vor allem mit organischen Verbindungen, die denen der Erde ähnlich waren. Mit anderen Worten, die auf dem Großen Planeten vorkommenden Proteine waren nicht unverträglich mit irdischem Protoplasma. Sie konnten die Pflanzen und die Tiere essen. Sie ließen sich hier nieder, während ein paar von ihnen zur Erde zurückkehrten, um Freunde nachzuholen. Es war Platz genug für Minderheiten – endlos viel Platz. Und so zogen sie los – all die Kulte, misanthropische Gesellschaften, Leute überhaupt. Manchmal errichteten sie Siedlungen, manchmal lebten sie für sich selbst – tausend, zweitausend oder fünftausend Meilen vom nächsten Nachbarn entfernt. Verwertbare Erzvorräte gab es auf dem Großen Planeten nicht; die technische Zivilisation bekam nie eine Chance, und die Erde weigerte sich, moderne Waffen auf den Großen Planeten zu exportieren. So entwickelte sich der Große Planet zu einer Ansammlung von kleinen Staaten und Städten, zwischen denen sich weite, leere Landstriche dahinziehen.« Nancy wollte etwas sagen, aber Glystra kam ihr zuvor. »Ja, wir hätten eine einheitliche Regierung für den Großen Planeten organisieren und ein einheitliches Gesetz als gültig erklären können. Aber erst einmal befindet sich diese Welt außerhalb der anerkannten Gren-
zen des Systems. Zweitens würden wir dabei über die Absicht jener Leute hinweggehen, die ihren Platz in einer der zivilisierten Welten aufgegeben haben, um ihre Unabhängigkeit zu gewinnen – was durchaus zu respektieren ist. Drittens würden wir damit weiteren ruhelosen Seelen diese Zuflucht verweigern, was nur zur Folge hätte, daß sie noch weiter draußen nach anderen Welten suchen würden, die ihnen wahrscheinlich weit schlechtere Voraussetzungen böten. Also haben wir den Großen Planeten quasi zur Rubrik ›Verschiedenes‹ innerhalb des Systems werden lassen. Wir haben die Erdenklave mit ihrer Universität und Handelsschule für diejenigen eingerichtet, die zur Erde zurückkehren wollen. Aber es bewerben sich nur wenige.« »Natürlich nicht«, ereiferte sich Nancy. »Es ist ein Ort des Wahnsinns.« »Warum sagst du das?« »Das ist bekannt. Ein Bajarnum von Beaujolais ist einmal in die Enklave gegangen. Er hat dort die Schule besucht und ist völlig verändert wieder zurückgekommen. Er hat die Sklaven befreit und alle körperlichen Strafen abgeschafft. Als er das Landeignersystem aufheben wollte, stellte sich der Rat der Herzöge gegen ihn. Sie brachten ihn um, weil er offensichtlich verrückt war.« Claude Glystra lächelte dünn. »Er war der vernünftigste Mensch auf dieser ganzen Welt ...«
Sie schnaufte verächtlich. »Ja«, sagte Glystra. »Nur wenige kommen zur Enklave. Der Große Planet ist ihre Heimat. Er bedeutet Freiheit – offenes Land – keine Grenzen. Ein Mensch kann sich die Art von Leben wählen, die er vorzieht, obwohl er in jeder Minute Gefahr läuft, getötet zu werden. Auf der Erde und den anderen Planeten des Systems haben wir eine straff regierte Gesellschaft mit starren Konventionen. Es läuft alles glatt und reibungslos jetzt; die meisten Außenseiter sind mittlerweile auf dem Großen Planeten gelandet.« »Ich stelle mir das langweilig vor«, sagte Nancy. »Stupide und langweilig.« »Das stimmt nicht ganz«, sagte Glystra. »Schließlich leben fünf Milliarden Menschen auf der Erde, und nicht zwei von ihnen sind völlig identisch.« Nancy schwieg einen Augenblick lang, dann fragte sie fast ebenso vorwurfsvoll weiter: »Und was ist mit dem Bajarnum von Beaujolais? Er hat vor, den Planeten zu erobern. Es ist ihm bereits gelungen, das Territorium von Beaujolais um das Dreifache auszuweiten.« Glystra sah geradeaus nach unten, in die grenzenlose Nacht des Großen Planeten. »Wenn der Bajarnum von Beaujolais, der Nomarch von Skene, der Baron von Gaypride, die Neun Zauberer oder sonst irgend jemand den Großen Planeten dominiert, dann
haben die Bewohner des Großen Planeten ihre Freiheit und Beweglichkeit mit noch größerer Sicherheit verloren, als wenn das System eine Bundesregierung organisierte. Weil sie dann gezwungen würden, ihr Leben an abweichende Vorstellungen anzupassen, die nicht ihre eigenen sind, und nicht nur an ein paar Gesetze und Regelungen, die im wesentlichen aus vernünftigen Gründen aufgestellt wurden.« Sie war damit noch nicht überzeugt. »Ich bin überrascht, daß das System den Bajarnum für wichtig genug befand, sich um ihn zu kümmern.« »Schon die Tatsache, daß wir hier sind, sagt dir etwas über den Bajarnum. Er hat Spione und Agenten überall – auch auf der Erde. Er übertritt regelmäßig unser Gesetz Nummer eins: das Waffen- und Metallembargo für den Großen Planeten.« »Ein Mann kann mit einem Birkenholzschwert ebenso getötet werden wie mit einem Lichtstrahl.« Glystra schüttelte den Kopf. »Dabei berücksichtigst du nur einen Aspekt der Sache. Woher kommen diese Waffen? Das System verbietet die nichtlizensierte Herstellung von Waffen. Es ist sehr schwierig, im geheimen eine moderne Herstellungsanlage zu errichten, daher sind die Waffen entweder gestohlen oder durch Piraterie aufgebracht worden. Schiffe und Depots werden aufgesprengt, Männer getötet oder zu Sklaven gemacht und in die Ein-Mann-Königreiche verfrachtet.«
»Ein-Mann-Königreiche? Was heißt das?« »Unter den fünf Milliarden Bewohnern der Erde, die ich vorhin erwähnte, gibt es ein paar recht seltsame Typen«, erklärte Glystra gedankenvoll. »Nicht alle seltsamen Käuze sind zum Großen Piraten abgewandert. Wir haben überreiche und überreife Kreaturen auf der Erde, von denen viele eine kleine Welt irgendwo außerhalb des Systems gefunden haben, wo selbst sie sich zum Monarchen erkürt haben. Die Piraten verkaufen ihnen Sklaven, und in ihren kleinen Königreichen ist ihr Wille Gesetz. Nach zwei oder drei Monaten kehren sie ins System zurück und führen sich eine Zeitlang als gute Bürger auf. Wenn sie der Kosmopolis überdrüssig sind, dann geht es zurück in ihr Ein-Mann-Königreich, draußen zwischen den Sternen.«
4 Nancy schwieg. »Was hat das mit Charley Lysidder zu tun?« fragte sie dann. Glystra sah sie von der Seite her an; er konnte ihr Gesicht nur als weiße Maske in der Dunkelheit erkennen. »Wie kann der Bajarnum für seine von der Erde nach hier geschmuggelten Waffen bezahlen? Sie sind teuer. Eine Menge Blut wird vergossen für jeden Ionenstrahler.« »Ich weiß nicht ... daran habe ich nie gedacht.« »Es gibt kein Metall auf dem Großen Planeten, aber es gibt Handelsgüter, die weit kostbarer sind.« Nancy sagte nichts. »Menschen.« »Oh ...« »Charley Lysidder ist wie der Überträger einer Seuche, und er infiziert das halbe Universum.« »Aber – was ist dagegen schon zu unternehmen? Ihr seid nur acht Männer. Ihr habt keine Waffen, keine Pläne, keine Dokumente ...« »Nur unsere Gehirne.« Nancy verfiel in ein Schweigen, das Glystra veranlaßte, ihr einen irritierten Blick zuzuwerfen. »Das scheint dich nicht zu beeindrucken?« »Ich ... ich bin sehr unerfahren.«
Claude Glystra versuchte erneut, ihr Gesicht durch die Dunkelheit hindurch zu mustern; diesmal, um festzustellen, ob sie tatsächlich ernst meinte, was sie sagte. »Wir bilden ein Team. Jeder von uns ist ein Spezialist. Pianza hier« – er nickte in Richtung auf den grauen Schatten zu seiner Linken – »ist ein Organisator und Verwalter. Moss Ketch zeichnet unsere Erkundungen mit Kamera und Sonographen auf. Bruce Darrot ist ein Ökologe –« »Was ist das?« Glystra sah nach vorn, wo Fayne und Darrot gingen, und lauschte auf ihre dumpfen Schritte. Sie kamen jetzt in ein Gebiet, das mit vereinzelten großen Bäumen bestanden war; vor ihnen ragten die Wälder von Tsalombar auf, deren Silhouette noch dunkler war als der nachtschwarze Himmel. »Ökologie«, setzte Glystra an, »beschäftigt sich letztlich damit, wie man die Leute satt macht. Hungrige Menschen sind oft zornig und gefährlich.« Mit unterdrückter Stimme sagte Nancy: »Die Zigeuner sind immer hungrig ... Sie haben meinen Vater umgebracht ...« »Sie haben ihn nicht getötet, weil sie hungrig waren – ein toter Mann nützt Sklavenhaltern wenig. Sie haben vielmehr versucht, ihn lebendig zu bekommen ...« »Nun, um fortzufahren, Fayne ist unser Mineralo-
ge. Ich bin der Koordinator und Propagandist.« Bevor sie dazukam, fragte er: »Warum kann der Bajarnum seine Nachbarn besiegen?« »Weil er die stärkere Armee hat ... Er ist sehr gerissen.« »Angenommen, seine Armee verweigerte ihm den Gehorsam. Angenommen, niemand kümmerte sich um seine Befehle. Was könnte er dann noch unternehmen?« »Nichts. Er wäre machtlos.« »Propaganda, die im höchsten Maße wirksam ist, erreicht genau das. Ich arbeite mit Bishop zusammen. Bishops Gebiet ist die Kultur – die menschliche Gesellschaft. Wenn man ihm eine Pfeilspitze zeigt, dann kann er dir sagen, ob der Mann, der sie gemacht hat, seinen Namen von seinem Vater oder von seiner Mutter bekommen hat. Aus dem kulturellen Hintergrund eines Volkes kann er dessen Besonderheiten, dessen kollektive Motivationen entnehmen – die Vorstellungen, aufgrund derer sie reagieren wie eine Herde von« – er wollte eben ›Schafen‹ sagen, aber er dachte noch rechtzeitig daran, daß der Große Planet eine solche Tierart nicht beherbergte – »wie eine Herde von Pelikanesen.« Sie sah ihn mit einem leichten Lächeln an. »Und du kannst die Leute dazu bringen, daß sie sich wie Pelikanesen verhalten?«
Glystra schüttelte den Kopf. »Ganz so ist es nicht. Jedenfalls nicht immer.« Sie gingen weiter hangabwärts. Die Bäume standen zunehmend dichter; sie hatten die Wälder von Tsalombar erreicht. Vor, hinter und neben ihm marschierten acht dunkle Schatten. Schwer atmend sagte er zu Nancy: »Einer von ihnen – ich weiß nicht, wer – ist mein Feind. Ich muß irgendwie herausfinden, wer es ist ...« Sie hatte zu atmen aufgehört. »Bist du sicher?« fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Ja.« »Was wird er unternehmen?« »Wenn ich das wüßte, dann würde ich darauf achten.« »Der Zauberbrunnen am Myrtensee könnte es dir sagen. Er weiß alles.« Glystra kramte in seinen Erinnerungen. »Wo ist der Myrtensee?« Sie gestikulierte. »Weit im Osten. Ich war noch nie dort; es ist eine gefährliche Reise, wenn man nicht die Monobahn benützt, und die kostet viel Metall. Mein Vater hat mir von dem Orakel beim Brunnen erzählt. Das Orakel spricht wie im Fieber und beantwortet alle Fragen. Schließlich stirbt es, und die Dongmänner erwählen ein neues Orakel.« Fayne und Darrot, die vor ihnen gingen, hielten
abrupt inne. »Still!« wisperte Darrot. »Vor uns ist ein Lager mit Feuerstellen.« Die ächzenden und sich wiegenden Äste der Tsalombar-Wälder bedeckten den Himmel, und die Dunkelheit war fast vollkommen. Vor ihnen flickerten ein paar rote Funken durch die Baumstämme zu ihnen durch. »Sollten das die Baummenschen sein?« wandte sich Glystra an Nancy. Sie gab skeptisch zurück: »Nein ... Sie kommen niemals von den Bäumen herab. Und sie fürchten sich vor dem Feuer wie vor dem Tod ...« »Eng aufschließen«, sagte Glystra. Dunkle Schatten traten heran. »Ich werde vorausgehen, um die Lage zu erkunden«, sagte Glystra mit tiefer, gepreßter Stimme. »Bleibt alle dicht beisammen. Das ist sehr wichtig. Niemand soll sich von der Gruppe wegbewegen oder einen Ton von sich geben, bevor ich wieder zurückkehre. Nancy, du stehst in der Mitte; die anderen stehen so um sie herum, daß sie sich mit den Ellbogen berühren. Achtet darauf, wer sich neben euch befindet und daß er sich nicht bewegt.« Er ging um die Gruppe herum. »Ist jeder mit zwei anderen in Berührung? Gut. Abzählen.« Einer nach dem anderen sagte tonlos seinen Namen. »Ich komme so schnell wie möglich wieder zu-
rück«, versprach Glystra. »Wenn ich Hilfe brauche – dann werde ich schreien. Also haltet die Ohren offen.« Das Farnkraut raschelte unter seinen Füßen, während er sich langsam weiter abwärts bewegte. Es war ein großes Feuer, das von Holzblöcken genährt wurde und inmitten einer Lichtung hoch aufflammte. Fünfzig oder sechzig Männer hatten sich darum herum niedergelassen. Ihre blauen Uniformen bestanden aus weiten Hosen, die unterhalb der Knie aufgewunden waren, und Kitteln, die an der Hüfte von einer schwarzen Schärpe zusammengefaßt wurden. Auf der Brust trugen sie ein rotes Insignium, ein auf der Spitze stehendes Dreieck. Sie trugen Messer und Schleudern in ihren Schärpen; mit Pfeilen gefüllte Köcher waren am Rücken befestigt. Es war ein rauher Haufen – sie waren kurz und untersetzt, mit gleichförmigen, dunklen Gesichtern, kleinen Spitzbärten, engen Augenschlitzen und gekrümmten Nasen. Sie tranken aus schwarzen, nierenförmigen Lederbeuteln. Die Disziplin war im Augenblick ziemlich nachlässig. Ein wenig entfernt, der lärmenden Szenerie seinen Rücken zugewandt, stand ein Mann in einer schwarzen Uniform. Glystra sah, daß es Abbigens war. Abbigens unterhielt sich mit einem Mann, der offenbar der befehlshabende Offizier war. Der Offizier hörte
ihm zu und nickte; es sah aus, als erhielte er Anweisungen von Abbigens. Unweit von Glystra verharrte ruhelos ein Zug von äußerst merkwürdigen Tieren. Sie schwangen ihre langen Hälse hin und her, schnappten in die Luft, murrten und krächzten. Sie waren schmal in den Schultern und hatten einen hohen Rücken; außerdem verfügten sie über sechs mächtige Beine und einen schmalen, wenig vertrauenseinflößenden Kopf – ein Mischung aus Kamel, Pferd, Ziege, Hund und Echse. Der Gepäckträger hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihnen das Gepäck abzunehmen. Glystras Interesse war erwacht; vorsichtig untersuchte er die Lasten, die sie trugen. Eines der drei Tiere trug drei Metallzylinder, ein anderes einen flachen Lauf und ein Bündel von Metallstäben. Glystra erkannte, worum es sich handelte: eine Ionenkanone von einem Kaliber, mit dem sich eine Ortschaft wie Jubilith dem Erdboden gleichmachen ließ. Das Gerät war eindeutig irdischer Herkunft. Glystra sah sich unbehaglich um. Es war eigentlich seltsam, daß keine Wachen postiert worden waren. Eine ungewohnte Geschäftigkeit am anderen Ende der Lichtung erregte seine Aufmerksamkeit. Etwa ein Dutzend Soldaten starrten, den Kopf in den Nacken gelegt, nach oben, deuteten auf etwas, sprachen erregt miteinander. Glystra folgte ihren Blicken. Etwa
dreißig Meter über ihnen war ein Dorf – ein Netz aus einfachen Brücken, begehbares Geflecht, an Lianen festgespannt, und entsprechende Hütten, freischwingend wie Goldamselnester. Kein Licht war zu sehen, die Baumhütten lagen im Dunkeln, aber seitlich über die Brücken hinweg starrten einige Dutzend weiße Gesichter, umrahmt von einem Gewirr brauner Haare. Sie machten keine Geräusche, bewegten sich kaum, und wenn, dann so abrupt und schnell wie Eichhörnchen. Die Soldaten von Beaujolais hatten das Dorf offenbar zuvor noch nicht bemerkt. Glystra sah erneut hoch. Sie hatten ein Mädchen entdeckt – käsegesichtig und triefäugig, aber immerhin ein Mädchen. Glystra sah interessiert zu den Packtieren hin, versuchte die Chancen abzuschätzen, sie in den Wald zu entführen, während die allgemeine Aufmerksamkeit durch das Mädchen im Baumdorf abgelenkt war. Er befand, daß die Chancen zu gering waren. Am anderen Ende der Lichtung entstand erneute Aktivität. Ein junger Großtuer mit einem gezwirbelten Bart kletterte eine grobe Leiter hoch, die zu der Hütte führte, aus der der Mädchenkopf herausragte. Der Weg nach oben war leicht; zwischen den Ästen, an denen man sich hochziehen konnte, waren Stufen in das Holz geschlagen. Der Soldat, von den Zurufen seiner Kameraden angefeuert, kletterte den Stamm entlang hoch und hielt auf einer groben Plattform in-
ne. Er war hier bereits teilweise von Gezweig und Blattwerk verdeckt. Eine Bewegung, ein Geräusch wie beim Abrutschen eines Körpers, das Aufschlagen von Holz auf Holz, raschelndes Blattwerk, knackendes Gezweig. Ein um sich schlagender, sich drehender Körper fiel aus den Schatten heraus und landete mit einem schweren Aufschlag auf dem Boden. Glystra sprang erschrocken zurück. Er sah in die Höhe; im Baumdorf bewegte sich nichts. Der Soldat war offenbar in eine Falle geraten. Ein schräg darüberhängendes Gewicht war herabgefallen und hatte ihn von der Plattform gefegt. Jetzt lag er jammernd auf dem Boden. Seine Kameraden standen um ihn herum und sahen ihn an, ohne sichtlich bewegt zu sein. Sie sahen ab und zu zu den Baummenschen hinauf, aber ohne erkennbare Feindseligkeit. Abbigens und der Offizier gingen hinüber und sahen auf den gestürzten Mann hinab. Er hielt seine Seufzer zurück, lag reglos da und sah mit bleichem Gesicht hinauf. Der Offizier sagte etwas; Glystra konnte seine Stimme hören, aber nicht die Worte unterscheiden. Der auf dem Boden liegende Soldat gab eine Antwort; er versuchte sich zu erheben, doch das war eine vergebliche Anstrengung. Eines seiner Beine stand in einem merkwürdigen Winkel von ihm weg; mit verzerrtem Gesicht, die Zähne aufeinandergebissen, fiel er wieder zurück.
Der Offizier sagte etwas zu Abbigens; Abbigens antwortete, während er zugleich in Richtung auf das Baumdorf gestikulierte. Der Offizier gab einem der Soldaten etwas durch eine Bewegung zu verstehen, wandte sich dann ab. Der Soldat sah auf seinen am Boden liegenden Kameraden hinab, gab murmelnd seinem Bedauern Ausdruck. Dann zog er sein Schwert aus der Scheide und erschlug den Gestürzten. Glystra, hinter einem Baum in Deckung, schluckte den Kloß hinunter, der in seinem Hals gesteckt hatte. Der Offizier ging kreuz und quer durch das Lager und bellte Befehle. Diesmal waren die Worte deutlich genug, daß Glystra sie verstehen konnte: »Los, los, auf die Füße. Reihen bilden, aber noch mal so schnell, wir sind schon zu lange hier. Gepäckführer, die Tiere bereithalten –« Abbigens kam heran und sprach kurz mit dem Offizier. Der Offizier nickte, ging quer über die Lichtung. Glystra konnte seine Befehle nicht hören, aber der Soldat, der für die Gepäcktiere zuständig war, führte die zwei Tiere mit der Ionenkanone zur Seite. Claude Glystra beobachtete es mit schmalen Augen. Sollte die Ionenkanone gegen das Baumdorf eingesetzt werden? Die Ionenkanone wurde zusammengebaut und auf ihrem Dreifuß befestigt. Das Licht des Feuers wurde
widergespiegelt durch den glatten metallenen Lauf. Der Richtschütze zog den Lauf vor und zurück, bewegte ihn auf und ab, um die Balance zu prüfen. Er entsicherte, justierte die Mündung und betätigte den Abzug. Ein Strahl violetten Lichtes entfloh der Mündung, Energien zuckten die schmale Bahn ionisierter Luft entlang und fraßen sich in den Boden hinein. Test abgeschlossen. Die Waffe war bereit. Der Richtschütze legte die Sicherung wieder an, ging zu den Gepäcktieren zurück und wählte das stärkste von ihnen aus. Er zog an den Gurten, die das Gepäck auf dem Rücken des Tieres hielten. Der Gepäckführer kam wütend heran, und die beiden Männer gerieten in einen Disput. Glystra setzte sich in Bewegung, zögerte, nahm erneut Anlauf, fiel wieder zurück. Wütend sammelte er seinen Mut. Dies war die Zeit der Tapferkeit, in der alles auf eine Kappe gesetzt werden mußte. Er trat vor und wagte sich in das Licht des Feuers. Er schwang die Waffe herum, justierte die Mündung zu einem schmalen Strahl, entsicherte. Es war geradezu lächerlich einfach. Einer der Soldaten stieß einen Schrei aus, deutete auf ihn. »Keine Bewegung!« rief Glystra mit lauter Stimme.
5 Die Umrisse auf der Lichtung erstarrten, überraschte Gesichter wandten sich in seine Richtung. Der Kanonier sprang mit einem wütenden Aufschrei nach vom. Claude Glystra betätigte den Abzug, der Leitstrahl violetten Lichts flammte auf, Energien zuckten durch die ionisierte Luft. Der Kanonier wurde voll getroffen, und mit ihm gingen fünf weitere Männer im Kanonenstrahl dahin. Glystra rief mit erhobener Stimme: »Pianza! Fayne!« Keiner der Soldaten bewegte sich mehr. Abbigens starrte ihn mit ausdruckslosem, bleichem Gesicht an. Hinter ihm kamen Schritte auf. »Wer ist es?« fragte Glystra. »Eli Pianza – und die anderen von uns.« »Gut. Geht um mich herum zur Seite, wo ihr außer Reichweite seid.« Er hob seine Stimme. »Jetzt kommt ihr dran, Schergen von Beaujolais. Ihr geht zur Mitte hin, auf dieser Seite des Feuers. Schnell!« Mürrisch folgten die Soldaten von Beaujolais seiner Anweisung. Abbigens ging drei schnelle Schritte mit ihnen mit, aber Glystras Stimme brachte ihn zum Innehalten. »Abbigens – leg deine Hände auf deinen Kopf und bewege dich rückwärts auf mich zu. Ein bißchen schneller ...«
Zu Pianza gewandt, sagte er: »Nimm seine Waffe.« Er wies auf den Offizier, der sich in der Gruppe seiner Soldaten langsam in den Hintergrund schob. »Sie – treten Sie vor, die Hände auf dem Kopf.« Und aus dem Mundwinkel heraus: »Einer von euch soll ihn untersuchen – Elton!« Elton trat vor: Vallusser schien ihm folgen zu wollen. Glystra schnappte: »Ihr anderen bleibt, wo ihr seid ... die Sache ist kitzlig.« Abbigens trug einen Ionenstrahler; der Offizier hatte eine Raketenpistole bei sich. »Legt die Waffen auf den Boden«, befahl Glystra, »und fesselt sie mit den Gepäckgurten.« Abbigens und der Offizier lagen hilflos da. Die Soldaten standen mürrisch und leise miteinander murmelnd im Mittelpunkt der Lichtung. »Nancy!« rief Glystra. »Ja.« »Tu genau, was ich dir sage. Nimm diese beiden Waffen – an ihren Läufen. Bring sie zu mir her. Begib dich nicht in die Schußlinie zwischen mir und den Soldaten.« Nancy ging auf die Stelle in der Lichtung zu, an der die Waffen am Boden aufblitzten. »Am Lauf!« sagte Glystra schneidend. Sie zögerte, sah ihn mit großen Augen an, die Haut unterhalb der Wangenknochen angespannt und bleich.
Glystra sah ihr mit steinerner Miene zu. In diesem Augenblick konnte er niemandem vertrauen. Sie beugte sich hinab, nahm die Waffen vorsichtig auf und brachte sie ihm. Er steckte sie ein, sah kühl beobachtend in die Gesichter seiner Begleiter. Hinter einem dieser Gesichter wurden wilde und verzweifelte Pläne gewälzt ... Hinter welchem Gesicht? Jetzt war der kritische Augenblick gekommen. Wer immer es war, würde versuchen, hinter ihn zu gelangen. Er gestikulierte. »Ich möchte, daß ihr euch alle da drüben seitlich hinstellt.« Er wartete, bis seine Begleiter dieser Aufforderung nachgekommen waren. »Und jetzt«, rief er den Soldaten zu, »kommt einer von euch nach dem anderen über die Lichtung ...« Eine halbe Stunde später hockten die Soldaten in einem engen Kreis zusammen, alle nach innen gewandt, mit ausdruckslosen, leeren Gesichtern. Abbigens und der Offizier lagen dort, wo sie gefesselt worden waren. Abbigens sah Glystra an, ohne etwas von seinen Gedanken zu verraten. Claude Glystra wiederum beobachtete Abbigens, um festzustellen, wem seine Blikke galten. Eli Pianza sah skeptisch zu der Ansammlung von Gefangenen hin. »Die werden uns noch Schwierigkeiten bereiten ... was hast du mit ihnen vor?« Glystra, der hinter der Kanone stand, entspannte
sich ein wenig, streckte sich. »Nun – freilassen können wir sie nicht. Wenn die Nachricht von diesem Vorfall nicht zum Bajarnum gelangt, dann haben wir einen ziemlichen Vorsprung.« Sie sahen zu den Gefangenen hinüber; über den zerknitterten blauen Uniformen spiegelten furchtsame Augen den Schein des Feuers wider. »Wir haben also zu wählen, ob wir sie umbringen oder sie mitnehmen.« »Sie mitnehmen?« »Ein paar Meilen weiter abwärts beginnt die Steppe. Das Land der Nomaden. Wenn es da etwas zu kämpfen gibt, dann können wir sie vielleicht dazu überreden, es für uns zu tun.« »Aber – wir haben die Kanone. Wir brauchen keine Schwerter und keine Pfeile.« »Was nützt uns eine Ionenwaffe, wenn wir in einen Hinterhalt geraten? Wenn wir von zwei oder drei Seiten gleichzeitig angesprungen werden? Die Ionenkanone ist eine vorzügliche Waffe, wenn man sein Ziel sehen kann.« »Es dürfte etwas schwierig sein, mit ihnen zurechtzukommen.« »Daran habe ich gedacht. Solange wir uns im Wald befinden, bleiben sie zusammengebunden. Wenn wir in die Steppe hinauskommen, können sie vor der Kanone herlaufen. Wir werden natürlich sehr aufpassen müssen.«
Er sicherte die Ionenkanone, senkte den Lauf in Richtung auf den Boden, ging dann zu der Stelle hinüber, an der Abbigens lag. »Mir scheint, die Zeit des Redens ist gekommen.« Abbigens zog eine Grimasse. »Natürlich werde ich reden. Aber was?« Glystra setzte ein dünnes Lächeln auf. »Wer hat dir an Bord der Vittorio geholfen?« Abbigens Augen schweiften über die Gesichter hinweg. »Pianza«, sagte er. Eli Pianza hob überrascht seine weißen Augenbrauen an. In irgendeinem der anderen Gesichter kam etwas zum Ausdruck – wie ein kurzes Aufflakkern. Glystra wandte sich abrupt ab. Im Augenblick gab es nur eine Person, deren er sicher sein konnte – er selbst. Er deutete auf Darrot und Elton. »Ihr beide geht an die Kanone. Keiner vertraut dem anderen. Ein Feind ist unter uns. Wir wissen nicht, wer es ist, und wir dürfen ihm nicht die Gelegenheit geben, uns alle zu vernichten.« Er ging einen Schritt zurück, hielt seinen Ionenstrahler bereit. »Ich werde alle Waffen an mich nehmen. Pianza, du hast einen Ionenstrahler?« »Ja.« »Dreh mir den Rücken zu und leg ihn auf den Boden.«
Pianza führte das ohne Widerrede aus. Claude Glystra trat vor, tastete mit einer Hand Pianzas Körper ab und faßte in seine Taschen. Er fand keine weitere Waffe. In ähnlicher Weise nahm er Faynes Ionenstrahler und das Hitzegewehr von Ketch an sich. Vallusser und Bishop trugen lediglich Messer bei sich. Nancy verfügte über keinerlei Waffe. Er steckte die Waffen ein, trat hinter die Kanone und nahm auch noch Eltons Waffe an sich. Das machte nun fünf Ionenstrahler, den von Abbigens und den Hitzestrahler des Maates mitgezählt. »Jetzt sind wir so waffenlos wie möglich, und ich glaube, wir sollten jetzt schlafen. Ketch, du und Vallusser, ihr nehmt Schwerter und stellt euch jeweils auf eine Seite der Lichtung; ungefähr so, daß ihr mit der Kanone zusammen ein Dreieck bildet. Ihr solltet auf keinen Fall zwischen die Kanone und die Soldaten geraten – denn wenn etwas geschieht, ist es um euch geschehen.« Er wandte sich an Darrot und Elton. »Habt ihr das gehört? Benützt die Kanone, wenn ihr auch nur die kleinste Entschuldigung dafür habt.« »In Ordnung«, sagte Elton. Darrot nickte. Er sah Nancy, Pianza und Bishop an. »Wir werden die zweite Wache übernehmen ... dort beim Feuer ist ein guter Platz, der außerhalb der Reichweite der Kanone ist.«
Der farnbewachsene Boden, von der Feuerstelle erwärmt, erwies sich als weich und angenehm. Glystra ließ sich nieder, und die lange entbehrte Entspannung hätte ihn fast augenblicklich eindösen lassen. Seine Gedanken schweiften ab, während er entspannt dalag, die Hände unter den Kopf gelegt. Von den Hängebrücken über ihm schauten noch immer die weißen Flecken herab; und er hatte den sicheren Eindruck, daß sie sich noch nicht einmal bewegt hatten, seit er sie zum erstenmal gesehen hatte. Steve Bishop ließ sich nahe ihm nieder und seufzte. Glystra sah mit einem leichten Bedauern zu ihm hinüber. Bishop war Student und etwas heikel, auch ohne das Bedürfnis, sich eine etwas rauhere Außenhaut zuzulegen ... Nancy kehrte aus dem Wald zurück. Glystra hatte augenblicklichen Verdacht geschöpft, wie er sie hatte gehen sehen, sich dann aber gesagt, daß es einfach unmöglich war, jeden Augenblick des Wachseins einen jeden zu überwachen. Und am nächsten Morgen würde er sie ohnehin nach Jubilith zurückschicken. Es gab keine Geräusche auf der Lichtung, abgesehen von dem tiefen Gemurmel, das von den zusammen am Boden kauernden Soldaten her kam. Darrot und Elton standen steif hinter dem Ionengeschütz. Ketch ging langsam die eine Seite der Lichtung auf
und ab, Vallusser die andere. Hinter ihm lag Nancy, ruhig und warm; Bishop schlief wie ein Baby, während sich Pianza unruhig hin- und herwarf. Die Spannung wuchs, und Glystra versuchte, die objektive Ursache dafür zu ergründen. Lag es an Eltons angespannter Wachsamkeit, an Darrots unbeugsamer Haltung? Oder daran, daß er Nancy in seinem Rücken spürte? Eine kleine Unregelmäßigkeit in den Atemzügen von Bishop oder Pianza? ... Er versuchte zu erkennen, wen Abbigens beobachtete, doch vergebens. Die Minuten gingen vorbei, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Die Luft war spröde wie Eis. Moss Ketch ging ein paar Schritte in Richtung auf das Geschütz; er gestikulierte, murmelte ein paar Worte und zog sich dann in den Wald zurück. In die Reihen der Soldaten kam ein wenig Bewegung. Ein kurzer Anruf von Darrot ließ sie zur Bewegungslosigkeit erstarren. Ketch kehrte zurück, und Vallusser ging in den Wald. Wieder die Unruhe unter den Soldaten, ein einsilbiger Laut von Darrot, und erneute Bewegungslosigkeit. Da war ein plötzlicher schattenhafter Umriß hinter der Kanone, das Singen eines zustoßenden Schwertes, ein überraschter Schrei, der unsagbare Schmerzen verriet ... Dann ein Aufschlagen von Füßen, Klirren von Metall.
Die Zähne aufeinandergepreßt, sprang Claude Glystra auf seine Füße. Gleichzeitig riß er den Ionenstrahler hoch. Am Geschütz stand jetzt nur noch ein Mann, der sich damit mühte, den Lauf auf Glystra zu richten. Glystra sah, wie die Mündung auf ihn zuschwenkte, wie sich die Ellbogen anspannten ... Er drückte den Abzug seines Ionenstrahlers durch. Knisternde Energien zuckten an einem violetten Strahl entlang. Der Kopf des Mannes wurde verkohlt und schrumpfte zusammen; die Kanone wurde zerschmolzen und zur Seite geschleudert. Glystra sprang herum, stellte sich den Soldaten entgegen. Sie hatten sich erhoben und standen wie erstarrt, unentschieden, ob sie angreifen oder fliehen sollten. »Setzen!« sagte Glystra mit schneidender, tödlicher Stimme. Die Soldaten gingen augenblicklich wieder zu Boden. Glystra langte in den Tragbeutel, den er umgehängt hatte, und warf Pianza und Bishop Waffen zu. »Paßt von hier aus auf sie auf; wir haben kein Geschütz mehr.« Er ging zu dem zerstörten Feldgeschütz hinüber und erkannte drei Körper. Elton lebte noch. Bruce Darrot lag daneben, das leblose Gesicht nach oben gerichtet, in verkrampfter Abwehr über den Tod hinaus. Vallussers Körper lag quer über Darrots Füßen.
Glystra sah auf ihn hinab. »Also war es Vallusser. Ich frage mich nur, womit sie ihn gekauft haben.« Moss Ketch hatte den Erste-Hilfe-Behälter ausgepackt, und sie knieten neben Elton. Ein Schwerthieb hatte seitlich neben seinem Nacken eine stark blutende Schnittwunde hinterlassen. Glystra wandte ein Gerinnungsmittel an, dann ein Antiseptikum, und sprühte einen elastischen Film über die Wunde. Er erhob sich und sah auf Abbigens hinab. »Jetzt kannst du uns nicht mehr von Nutzen sein. Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte.« Abbigens schüttelte das dichte blonde Haar aus seinem Gesicht. »Ihr werdet mich doch nicht etwa – umbringen?« »Warte ab, und du wirst es sehen«, erklärte Glystra und wandte sich ab. Er sah auf seine Uhr. »Zwölf Uhr.« Er warf Eltons Ionenstrahler Ketch zu und wandte sich an Pianza und Bishop. »Ihr beide schlaft jetzt; wir halten Wache bis um drei.«
6 Darrot und Vallusser wurden zusammen mit den Toten aus Beaujolais in einem Grab begraben: dem jungen Angeber, der vom Baum gefallen war, und den sechs Soldaten, die getötet worden waren, als Glystra das Geschütz im Handstreich erobert hatte. Abbigens seufzte vernehmbar auf, als Erde auf die Körper zu fallen begann. Glystra grinste; Abbigens hatte offensichtlich erwartet, mit den anderen Sieben das Grab teilen zu müssen. Glystra sah sich in der Lichtung um. Wo war Nancy? Sie stand bei den Gepäcktieren und sah so unschuldig drein, wie sie nur konnte. Die Baumstämme hinter ihr ragten empor wie die Säulen eines großen Tempels, und zwischen ihnen schimmerte der sonnenbeschienene Abhang durch. Nancy spürte Glystras Blick, und sie sah ihn mit offenen Augen an, ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihren Lippen. Glystra spürte, wie sein Herz klopfte. Er sah weg. Elton sah ihn mit einem undeutbaren Ausdruck an. Er preßte die Lippen aufeinander und ging nach vorn. »Du solltest dich jetzt besser auf den Weg machen – zurück nach Jubilith.« Ihr Lächeln löste sich langsam auf; ihr Kinn sank herab, ihre Augen wurden feucht. Offenbar die Sinn-
losigkeit irgendwelcher Einwände begreifend, wandte sie sich wortlos ab und überquerte die Lichtung. Am Rand der Lichtung hielt sie inne und sah über ihre Schulter zurück. Claude Glystra sah schweigend zu. Sie wandte sich endgültig ab. Er sah ihr ein paar Augenblicke lang nach, wie sie zwischen den Bäumen verschwand. Eine halbe Stunde später setzte sich die Marschtruppe in Bewegung. Die Soldaten von Beaujolais gingen in einer Reihe voraus, jeder an den Mann vor und hinter sich durch Handgelenkfesseln gebunden. Ihre Schwerte und Katapulte waren ihnen belassen worden, aber die Pfeile befanden sich in Tragebehältern auf einem der Packtiere. Der Offizier führte die Reihe an; Abbigens war der letzte. Dann kamen die Packtiere; Elton wurde auf einer Bahre getragen, die zwischen den beiden ersten Tieren aufgehängt war. Er war wach und ganz bei der Sache; ihm oblag es, das hintere Ende der Marschreihe mit dem großen Hitzegewehr zu überwachen. Das Dorf über ihnen war ebenfalls wach und sah ihnen zu. Während sich die Reihe durch den Wald bewegte, waren Schritte über ihnen zu vernehmen, und die Hängebrücken ächzten in ihren Aufhängungen. Manchmal waren auch unterdrückte Stimmen zu hören, oder ein schreiendes Kind. Im Augenblick
schnitt ihnen eine Decke aus ineinander verwobenen, zerfetzten Vegetationsstücken, gestützt durch ein Flickwerk aus Ästen, Lianen und getrockneten gelben Farnwedeln, das Sonnenlicht ab. Dieser zweite Waldboden dehnte sich überraschend weit aus, war an der Unterseite feucht und verlor ständig kleine Stückchen und Fetzen verrottender Vegetation. »Was haltet ihr davon?« fragte Pianza. »Für mich sieht das wie ein hängender Garten aus«, gab Glystra zurück. »Wir haben leider keinen Ökologen mehr zur Verfügung. Bruce hätte uns sicherlich etwas mehr darüber sagen können ...« Helligkeit vor ihnen zeigte an, daß der hängende Garten dort zu Ende war. Glystra ging nach vorn bis zum Anfang der Reihe, wo der Offizier ging, den Blick stur geradeaus gerichtet. »Wie ist Ihr Name?« »Morwatz. Infanterieführer Zoriander Morwatz, Hundertzwölfter an der Champs-Mars-Akademie.« »Wie lauteten Ihre Befehle?« Der Offizier zögerte, schien im Zweifel zu sein, ob es richtig war, die Fragen zu beantworten. Er war untersetzt, hatte ein rundliches Gesicht und vorstehende dunkle Augen. Seine Aussprache unterschied sich ein wenig von der seiner Soldaten, und er konnte auch nicht verbergen, welche Wichtigkeit er sich selbst zumaß. »Wie lauteten Ihre Befehle?«
»Wir wurden dem Kommando des Erdenmannes unterstellt.« Er wies mit dem Kopf nach hinten, wo Abbigens ging. »Er hatte einen versiegelten Brief von Charley Lysidder, ein Instrument großer Autorität.« Glystra mußte das einen Augenblick lang verdauen, fragte dann: »Einen Befehl, der direkt an Sie adressiert war?« »An den kommandierenden Offizier der Montmarchy-Garnison.« »Hmmm.« Woher hatte Abbigens diesen Befehl erhalten, der vom Bajarnum von Beaujolais unterzeichnet war? Es gab da ein Muster, das Claude Glystra noch nicht als Ganzes wahrzunehmen vermochte. Es stand für ihn fest, daß die Tatsachen von Vallussers Schuld nicht all die Ereignisse der letzten paar Wochen erklärte. Er stellte weitere Fragen und erfuhr, daß Morwatz in die Guerdons hineingeboren worden war – eine Kaste des niedrigen Adels – und darauf auch noch stolz war. Er stammte aus der Ortschaft Pellisade, ein paar Meilen südlich von Grosgarth gelegen, und er glaubte fest daran, daß die Erde die Heimat einer hirnlosen Roboterrasse war, die maschinengleich auf Gongschläge und Klingelsignale reagierte. »Wir hier in Beaujolais würden lieber sterben, als uns so erniedrigen zu lassen«, erklärte Morwatz mit einem leuchtenden Feuer in den Augen.
Hier war die genaue Entsprechung, überlegte Glystra, zu dem auf der Erde verbreiteten Stereotyp der halbverrückten, rücksichtslosen Geschöpfe, die den Großen Planeten unsicher machten. Grinsend fragte er: »Sehen wir vielleicht so aus, als ob wir des freien Willens entbehrten?« »Ihr seid die Elite. Hier in Beaujolais gibt es keine solche Tyrannei, wie ihr sie auf der Erde erfahrt. Wir wissen alles darüber, und zwar von Leuten, die es am besten wissen.« Er sah Glystra von der Seite an. »Warum lächeln Sie darüber?« Glystra lachte laut auf. »Naisuka. Der Grund, der überhaupt kein Grund ist.« »Sie benützen ein Wort aus den höchsten Kreisen«, sagte Morwatz unsicher. »Selbst ich würde nicht wagen, es auszusprechen.« »Nun denn.« Claude Glystra zog seine Augenbrauen zusammen. »Es ist euch nicht erlaubt, gewisse Worte zu benützen – aber ihr lebt auch nicht unter einer Tyrannei.« »Genauso ist es. Wie es sein sollte.« Und dann nahm Morwatz allen Mut zusammen, um selbst eine Frage zu stellen. »Und was werdet ihr mit uns tun?« »Wenn ihr unsere Befehle befolgt, dann habt ihr die gleichen Chancen wie wir. Ich zähle auf Sie und Ihre Männer, damit Sie uns während unseres Marsches
beschützen. Wenn wir unser Ziel erreicht haben, könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.« »Wohin soll unser Marsch gehen?« »Zur Erd-Enklave.« Morwatz legte die Stirn in Falten. »Ich kenne diesen Ort nicht. Wieviele Ligen ist das von hier entfernt?« »Vierzigtausend Meilen. Dreizehntausend Ligen.« Morwatz' Schritt kam ins Stocken. »Sie sind verrückt!« Glystra lachte. »Wir alle haben unseren Ärger dem gleichen Mann zu verdanken.« Er wies mit dem Daumen nach hinten. »Abbigens.« Morwatz fiel es schwer, seine Gedanken zu ordnen. »Zuerst kommt das Nomadenland und die Zigeuner. Wenn sie uns gefangennehmen, dann werden sie uns wie Zipangoten vor ihre Wagen spannen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung auf die Packtiere. »Es sind Menschen einer anderen Rasse, und sie verachten alles, was aus Beaujolais kommt.« »Sie werden fünfzig Männer vielleicht nicht so leicht angreifen, wie es bei nur acht Männern der Fall wäre.« Morwatz schüttelte heftig verneinend den Kopf. »Beim letzten Sechs-Mond ist Atman der Gnadenlose tief nach Beaujolais eingefallen, und er hat sich seinen Weg mit Schrecken und Pein geebnet.« Glystra spähte durch die Baumstämme hindurch,
die jetzt schon weniger dicht beisammenstanden, auf den offenen, vor ihnen flach auslaufenden Hang. »Vor uns also liegt das Land der Nomaden. Was kommt danach?« »Nach dem Land der Nomaden?« Morwatz legte die Stirn in Falten. »Zunächst der Fluß Oust. Dann die Sümpfe, und die Seilmacher der Sumpfinsel. Und nach den Sümpfen ...« »Ja?« »Was direkt östlich liegt, weiß ich nicht. Wilde Menschen, wilde Tiere. Südlich liegt ein Land, das Felissima genannt wird, und Kirstendale, und die Monobahn zum Brunnen am Myrtensee und dem Orakel. Nach dem Myrtensee kommt das Land der Steine, aber davon habe ich keine nähere Kenntnis mehr, weil es zu weit östlich liegt.« »Wieviele Ligen?« »Ein paar hundert. Aber es ist schwierig, das genau zu bestimmen. Von hier bis zum Fluß – sagen wir fünf Tage. Um ihn zu überqueren, müßt ihr die Edelweiß-Hochbahn zur Sumpfinsel benützen, oder ihr müßt dem Fluß Oust in südwestlicher Richtung zurück nach Beaujolais folgen.« »Warum können wir den Fluß nicht in Booten überqueren?« »Die Griamobots«, verriet Morwatz mit wissender Miene.
»Und was ist das?« »Wilde Flußungeheuer. Schrecklich.« »Hm. Und nach dem Fluß? Was dann? Wie kommen wir durch die Sümpfe?« Morwatz rechnete. »Wenn ihr eure Reise östlich fortsetzt, braucht ihr vier Tage – vorausgesetzt, ihr findet einen guten Sumpfwagen. Wenn ihr euch in Richtung Süden halten wollt, dann könnt ihr die Monobahn nehmen, die am Marschland vorbeiführt – dem Hibernianischen Marschland – bis nach Kirstendale. Das wäre in sechs Tagen oder einer Woche zu schaffen. Wenn es euch gelingen sollte, Kirstendale wieder zu verlassen –« »Warum sollten wir das nicht?« »Einigen gelingt es«, sagte Morwatz und blinzelte wiederholt mit den Augen. »Einigen nicht ... Von Kirstendale aus führt die Monobahn weiter westlich nach Grosgarth, südlich durch die Handelsdörfer von Felissima, östlich zum Myrtenseebrunnen.« »Wie weit ist es von Kirstendale zum Myrtensee?« Morwatz machte eine ausladende Geste. »Vielleicht zwei oder drei Tage mit der Monobahn. Ansonsten eine sehr gefährliche Reise, wegen der Stämme, die von Eyrie herabkommen.« »Und jenseits des Myrtensees?« »Wüste.« »Und jenseits der Wüste?«
Morwatz zuckte die Schultern. »Das wäre eine Frage für den Zauberbrunnen. Wenn Sie wohlhabend sind und genug Metall zahlen, dann wird er Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen.« Es war offensichtlich, daß Morwatz mit voller Überzeugung sprach. Das Blätterwerk über ihnen verdünnte sich, und die Marschreihe trat in das grelle Tageslicht des Großen Planeten hinauf. Der Hang vor ihnen rollte allmählich aus. Es war keine menschliche Behausung, nicht einmal eine Ruine in Sicht, aber in Richtung Norden konnten sie eine dichte Rauchsäule ausmachen, die vom Wind ostwärts gedreht wurde. Glystra hielt die Reihe an und gruppierte die Soldaten zu einer rechteckigen Formation um die Gepäcktiere herum – Zipangoten, wie Morwatz sie nannte. Das Tier, das die Pfeile trug, wurde von Elton bewacht, der auf einer Tragbahre direkt dahinter saß. Er hatte ein Katapult und Pfeile bei der Hand, während sich das Hitzegewehr – vor überraschendem Zugriff sicher – in seiner Jacke befand. Abbigens ging am äußersten Ende rechts vorne, Morwatz links hinten. Pianza und Fayne flankierten links und rechts als Aufpasser mit Ionenstrahlern; dahinter kamen Bishop und Ketch. Zwei Stunden vor Mittag befanden sie sich inmitten des Ödlands, und während sie dahinmarschierten, verlor die gewaltige Erhebung hinter ihnen zusehends von ihrer eindrucksvollen Größe. Die höheren
Bereiche verschwanden im Dunst, und der Wald wurde zu einem dunklen Streifen. Der Hang wirkte aus dieser Entfernung weniger steil. Von den Soldaten her drang gedämpftes Murmeln an sein Ohr. Sie stockten im Schritt, und das Weiße in ihren Augen leuchtete hervor. Claude Glystra folgte ihrer Blickrichtung und sah entlang des Horizonts ein Dutzend großer Zipangoten, die etwas auf dem Rücken trugen und sich ohne besondere Eile zu nähern schienen. »Was ist das? Zigeuner?« Morwatz blickte mit angespannter Miene zu der Reihe hinüber. »Es sind Zigeuner, aber keine. Kosaken. Sie gehören einer höheren Kriegerkaste an, vielleicht sind es sogar Politboros. Nur die Politboros reiten Zipangoten. Kosaken sind leicht abzuwehren – sie haben wenig Kampfgeist, keine Disziplin, keine Strategie, kein Hirn. Sobald sie ein paar Gefangene haben, die sie verkaufen oder vor ihre Wagen spannen können, sind sie zufrieden. Aber die Politboros ...« Seine Stimme erstarb, und er schüttelte den Kopf. »Was ist mit den Politboros?« drängte Glystra. »Sie sind die großen Krieger, die Anführer. Die Kosaken allein sind bloße Räuber. Wenn ein Politboro sie anführt – werden sie zu Dämonen!« Glystra sah zu Bishop hinüber. »Was wissen wir über diese Zigeuner, Steve?«
»Es gibt da ein kurzes Kapitel in Vendomes Buch vom Großen Planeten, das von den Zigeunern handelt, aber das Schwergewicht liegt mehr auf ihrem rassischen Hintergrund denn auf ihrer Kultur. Sie sollen von einem kirgisischen Hirtenvolk von der Erde abstammen. Kurdestan, glaube ich. Als die Wetterkontrolle die Regenfälle jenseits des Kaukasus verstärkte, wanderten sie zum Großen Planeten aus, wo die Steppen voraussichtlich Steppen bleiben würden. Sie schifften sich in der dritten Klasse aus, und im gleichen Schiff befand sich ein Stamm traditionsbewußter Zigeuner und eine Bruderschaft von Polynesiern. Während der Reise brachte der Chef der Zigeuner, der Panvilsap genannt wurde, den kirgisischen Hauptmann um und heiratete die polynesische Matriarchin. Als sie auf dem Großen Planeten ankamen, hatte er die ganze Gruppe unter Kontrolle. Die sich daraus ergebende Kultur war ein Gemisch aus Kirgisisch, Polynesisch und Romanisch, und wurde dominiert von der Persönlichkeit Panvilsaps.« Die heranreitende Reihe war jetzt bereits weniger als eine Meile entfernt, näherte sich ohne besondere Eile. »Wieso beschäftigen Sie sich mit den Besonderheiten ihrer Kultur?« fragte Morwatz erregt. »Noch heute abend werden wir gleich Zipangoten ihre Wagen ziehen.«
7 Die Sonne stand im Zenit, und die angesengte graugrüne Vegetation der Steppe verbreitete ein rauchiges Aroma. Während sich die berittenen Zipangoten näherten, wurden dahinter allmählich Gruppen von Kosaken sichtbar, die sich hinter den langsam dahinstapfenden Tieren hielten. »Ist das ihre übliche Angriffsmethode?« wollte Glystra von Morwatz wissen. »Sie halten sich nicht an bestimmte Methoden.« »Befehlen Sie Ihren Leuten, jeweils fünf Pfeile an sich zu nehmen und sich bereitzuhalten.« Morwatz straffte sich, schien von einem Augenblick zum andern an Statur zu gewinnen. Er ging vor den Soldaten hin und her, bellte Befehle. Sie nahmen Haltung an, bildeten dichtere Reihen. In Fünfergruppen schritten sie zu dem Packtier, das die Pfeile trug, und traten dann wieder in ihre Reihen zurück. »Fürchtest du nicht –« setzte Bishop skeptisch an. »Wir müssen uns davor hüten, so zu wirken, als fürchteten wir etwas«, sagte Glystra. »Dann wären sie nämlich weg in Richtung Wald wie wilde Kaninchen. Es ist eine Frage der Moral. Wir müssen uns so verhalten, als wären diese Zigeuner Staub unter unseren Füßen.«
»Ich glaube, du hast recht – theoretisch.« Die berittene Reihe kam etwa dreißig bis vierzig Meter vor ihnen zum Halten, gerade noch außerhalb der Reichweite ihrer Katapulte. Die Tiere waren schwerer als die in ihrem Gepäckzug. Sie wurden von abgewetzten Lederzügeln gehalten, die mit kruden Symbolen verziert waren, und ein jedes trug ein rhinozerosähnliches Horn, das an seiner Schnauze befestigt war. Ein großer, stämmiger Mann saß auf dem ersten der Zipangoten. Er trug blaue Seidenhosen, einen kurzen schwarzen Umhang, eine schirmmützenähnliche Kopfbedeckung aus Leder. An seinen Ohren hingen Messingringe von fast zehn Zentimetern Durchmesser, und auf beiden Brustseiten glänzte eine Medaille. Er hatte ein rundliches, muskulöses Gesicht, aus dem dichte Augenbrauen hervorstachen. Glystra vernahm, wie Morwatz entgeistert murmelte: »Atman der Gnadenlose!« Claude Glystra betrachtete den Mann erneut und konnte an ihm nicht das geringste Anzeichen einer Anspannung ausmachen. Es war ein gleichgültiges Selbstvertrauen, das alarmierender wirkte als jede Form von Arroganz. Hinter ihm ritt ein Dutzend Männer, die eine ähnliche Kluft trugen wie er. Dahinter lauerten etwa hundert Männer und Frauen in weiten Hosen, geschmückt mit Bändern und Quasten, schweren Barchentjacken und Ledermützen.
Glystra wandte sich ab, um die Formation der eigenen Soldaten zu überprüfen – in diesem Augenblick fegte etwas dicht an seiner Kehle vorbei, bösartig summend wie eine Hornisse. Er wich zurück, duckte sich und sah voll in das flache Gesicht von Abbigens, der sein Katapult mit einem seltsam leeren Ausdruck senkte. »Morwatz«, sagte Glystra, »lassen Sie Abbigens das Katapult abnehmen und an Händen und Füßen fesseln.« Morwatz zögerte kaum merklich, gab dann die Anweisung an zwei Soldaten weiter. Das Schlurfen von Füßen war zu vernehmen, was Glystra jedoch zunächst ignorierte – denn Atman und seine Politboros waren abgestiegen und näherten sich ihnen. Atman hielt ein paar Schritte vor ihnen an und lächelte dünn. »Was denkt ihr euch, da ihr in das Land der Zigeuner eindringt?« Er sprach weich und fließend. »Wir sind nach Kirstendale unterwegs, am Marschland vorbei«, sagte Glystra. »Der Weg führt durch das Nomadenland.« Atman zog seine Lippen zurück und ließ seine Zähne sichtbar werden, in die auf kunstvolle Weise kleinste Stückchen farbigen Gesteins eingelassen waren. »Ihr gebt eure Freiheit auf, indem ihr dieses Land betretet.«
»Das Risiko liegt bei denen, die uns versklaven wollen.« »Sollen diese Soldaten vielleicht ein Hindernis für uns bedeuten?« Atman machte eine verächtliche Geste. Glystra vernahm ein Wimmern, einen Schrei. »Claude – Claude –« Ein heißer Blutschwall drang in sein Gehirn. Er stand leicht schwankend da, wurde sich dann dessen bewußt, daß Atman ihn amüsiert beobachtete. »Wer ruft meinen Namen?« Atman sah nachlässig über seine Schulter zurück. »Eine Frau, die wir heute morgen nahe dem Wald gefunden haben. Sie wird uns einen guten Preis bringen.« »Laß sie vorbringen«, sagte Glystra. »Ich werde sie euch abkaufen.« »Ihr seid also reich?« bemerkte Atman. »Fürwahr, dies ist ein glücklicher Tag für die Zigeuner.« Glystra versuchte, seine Stimme ruhig zu halten. »Bringt diese Frau her, oder ich werde einen Mann schicken, der sie holt.« »Einen Mann? Einen Mann?« Atmans Augen verengten sich. »Was für einer Rasse von Menschen gehört ihr an? Ihr seid nicht aus Beaujolais wie die anderen, aber ihr seid dunkler als die Maquir ...« Glystra zog wie beiläufig seinen Ionenstrahler her-
vor. »Ich bin Elektriker.« Er grinste über seinen eigenen Witz. Atman rieb sich sein schweres Kinn. »Elektriker ... in welchen Gebieten leben sie?« »Es ist keine Rasse; es ist ein Beruf.« »Aha! Wir haben keine solchen unter uns; wir gehen unseren eigenen Tätigkeiten nach. Wir sind Krieger und Sklavenjäger.« Glystra hatte eine ernste Entscheidung getroffen. Er wandte den Kopf. »Bringt Abbigens vor.« Und zu Atman gewandt: »Elektriker tragen den Tod in jeder ihrer Bewegungen.« Abbigens wurde nach vorn gestoßen. Glystra erklärte ihm: »Wenn es keinen praktischen Zweck erfüllen würde, dich zu töten, dann würde ich dich vermutlich zur Buße noch bis zur Erdenklave laufen lassen.« Er hob den Ionenstrahler. Abbigens' Gesicht war wie aufgegangener Teig; er begann wie wahnsinnig zu lachen. »Was für ein Witz! Was für ein Witz auf deine Kosten, Glystra!« Der violette Strahl kam auf, Energie zuckte durch den konduktiven Bereich. Abbigens war tot. Atman machte einen etwas gelangweilten Eindruck. »Gib mir die Frau«, sagte Glystra, »oder ich werde diesen gleichen Tod über euch alle bringen.« Er hatte diesen herrischen Ton angeschlagen, der keinen Widerspruch duldete. »Schnell!«
Atman sah leicht überrascht hoch, zögerte, machte dann eine Bewegung zu seinen Männern hin. »Laßt sie ihn haben.« Nancy kam humpelnd vorwärts, fiel zitternd und aufschluchzend vor Glystras Füße. Er ignorierte sie; statt dessen sagte er zu Atman: »Geht ihr euren Weg, und wir werden den unseren gehen.« Atman hatte seine Fassung wiedergewonnen, wenn er überhaupt etwas davon verloren hatte. »Ich habe diese elektrischen Keulen bereits gesehen. Aber sie töten auch nicht sicherer als unsere Lanzen. Insbesondere im Dunkeln, wenn Lanzen aus vielen Richtungen kommen und die Keule nur in eine Richtung weist.« Glystra wandte sich an Morwatz. »Wir marschieren los.« Morwatz riß seinen Arm hoch und nieder und bellte: »Vorwärts!« Atman nickte mit einem zweideutigen Lächeln. »Vielleicht werden wir uns wieder begegnen.« Der große Hügel war nur noch ein Schatten hinter den Dunstwolken im Westen; die Steppe dehnte sich gleich einem Ozean. Und hinter ihnen waren die Zigeuner, wobei sich die Kosaken um die Politobros drängten, die, auf ihren Zipangoten reitend, deutlich herausragten. Am späten Nachmittag erschien ein dunkler Schat-
ten in der Ferne. »Sieht nach Bäumen aus«, sagte Fayne, »vermutlich eine Wasserstelle.« Claude Glystra suchte den Horizont in allen Richtungen ab. »Es scheint die einzige Zuflucht zu sein, die wir von hier erreichen können. Das wird also unser Nachtlager werden.« Er sah sich nach den schwachen Umrissen in der Ferne hinter ihnen um. »Ich fürchte, uns steht noch weit mehr Ärger bevor.« Die Schatten gewannen an Dichte, wurden zu einer Ansammlung von etwa einem Dutzend Bäumen. Um sie herum lagen Teppiche blau-weißen Mooses und üppigen Grases. Inmitten dieser blühenden Vegetation befand sich ein kleiner Teich, umstanden von rostfarbenem Schilfrohr. Glystra betrachtete das Wasser mißtrauisch. Es wirkte brackig, aber die Leute aus Beaujolais tranken es mit Begeisterung. Neben dem Teich stand ein mittelgroßer Schuppen, gefüllt mit Zweigen, an denen Früchte ähnlich irdischen Eicheln hingen; neben dem Schuppen standen Fässer mit überreifem Bier sowie eine primitive Destillieranlage. Die Soldaten näherten sich neugierig der Destillierapparatur. Morwatz lief ihnen schreiend hinterher, um sie aufzuhalten; zögernd zogen sie sich wieder zurück. Glystra nahm einen kleinen Becher aus einem der Gepäckstücke und reichte ihn Morwatz. »Jeder eurer
Männer soll eine etwas gleiche Menge davon erhalten.« Lautstarke Zustimmung wurde ihm zuteil, und Glystra sagte zu Pianza: »Wenn wir ihnen jeden Abend Grog verabreichen könnten, dann brauchten wir überhaupt nicht mehr auf sie aufzupassen.« Pianza schüttelte den Kopf. »Sie sind wie Kinder. Sehr wenig emotionale Kontrolle. Ich hoffe nur, daß sie uns nicht auch noch eine Menge Ärger machen.« »Alkohol oder nicht, wir können uns nicht entspannen. Du und Fayne, ihr nehmt die ersten vier Stunden, Bishop, Ketch und ich werden die nächsten vier nehmen. Paßt gut auf das Tier mit den Pfeilen auf.« Er ging, um den Verband um Eltons Nacken zu wechseln, aber Nancy war ihm dabei schon zuvorgekommen. Die Soldaten hatten zu singen begonnen und errichteten ein Feuer, auf das sie eine ziemliche Menge von Zweigen aus dem Schuppen schichteten, um deren aromatischen Rauch einzuatmen. Pianza wandte sich besorgt an Glystra: »Sie sind sturzbetrunken. Ich hoffe, sie werden nicht noch schlimmer.« Glystra sah mit wachsendem Verständnis zu. Die Soldaten versuchten, schreiend und stoßend näher an das Feuer zu kommen, kämpften sich in die dichtesten Rauchwolken vor, blieben darin stehen mit närrisch verzogenen Gesichtern. Wurden sie zur Seite
gedrängt, so kämpften sie sich schreiend sogleich wieder nach vorn, in den dichten Rauch hinein. »Muß wohl ein Narkotikum sein«, stellte Glystra fest. »Das Marihuana des Großen Planeten.« Er trat vor. »Morwatz!« Morwatz hatte entzündete Augen und ein stark errötetes Gesicht, da er sich selbst im dichten Rauch aufgehalten hatte. Er wandte sich zögernd Glystra zu. »Ihre Männer sollen essen und sich niederlegen, aber nicht mehr von diesem Rauch einatmen.« Morwatz gab gedehnt seine Zustimmung kund. Er wandte sich seinen Männern zu, und nach längerem und lautstarkem Fluchen gelang es ihm, wieder so etwas wie Ordnung in das Lager zu bringen. In einer Terrine wurde eine breiartige Mahlzeit zubereitet – zerkleinertes Getreide, abgeschmeckt mit einigen Handvoll trockener Fleischstücke und Pilze. Glystra ließ sich neben Morwatz nieder, der sich unweit seiner Leute zum Essen niedergesetzt hatte. »Was ist das für ein Zeug?« Er deutete auf den Schuppen. »Es wird Zygage genannt – eine sehr starke Droge, sehr nützlich.« Er richtete sich auf. »Im allgemeinen inhalieren nur die niedrigsten Kasten diesen Rauch – es ist vulgär, verursacht die krudesten Empfindungen –« »In welcher Form nehmen Sie es dann gewöhnlich ein?«
Morwatz atmete schwer. »Ich pflege so etwas eigentlich überhaupt nicht zu nehmen. Zygage nimmt zuviel Vitalität; ob Rauch, Tinktur oder Nasensalbe, der Benützer zahlt teuer für sein Vergnügen ... Aber sehen Sie dort, was für eine Art von Droge nimmt Ihr Mann denn?« Steve Bishop schluckte soeben seine unerläßlichen Vitaminpillen. Claude Glystra grinste. »Das ist eine ganz andere Art von Droge. Es läßt Bishop glauben, daß er gesund ist. Er würde niemals den Unterschied merken, wenn ihm jemand Kreidekügelchen unterschöbe.« Morwatz war sichtlich überrascht. »Wieder einer dieser seltsamen und sinnlosen irdischen Gebräuche.« Glystra kehrte zu seinen Begleitern zurück. Nancy kümmerte sich um Elton, setzte sich dann so unauffällig wie möglich irgendwo zwischen die Zipangoten. Vom Feuer her kam ein plötzlicher Tumult. Ein Soldat hatte unbemerkt eine erneute Ladung von Zygagenzweigen in die Flammen geworfen, und Morwatz ging wütend auf ihn los. Der Soldat, taumelnd und mit rotunterlaufenen Augen, schrie ihn heiser an. Glystra seufzte. »Das nenne ich Disziplin. Nun, ich glaube, wir müssen ein Exempel statuieren.« Damit erhob er sich.
Morwatz zog soeben die rauchenden Zweige aus dem lodernden Feuer; der Soldat schlich heran und trat ihn von hinten. Morwatz fiel mit dem Gesicht nach unten auf die Kohlen. Roger Fayne lief los, um den schreienden Morwatz herauszuziehen; drei Soldaten sprangen ihn von hinten an und drückten ihn nieder. Pianza zielte mit dem Ionenstrahler, feuerte aber nicht, da er fürchtete, Fayne treffen zu können. Soldaten kamen aus allen Richtungen auf ihn zu. Er zielte, feuerte: Klick – klick – klick. Drei Soldaten fielen flach hin, eingeschrumpftes Fleisch. Die anderen fielen über ihn her. Die Lichtung war plötzlich von schreienden, wildgewordenen Männern bevölkert. Einer sprang Ketch an, warf ihn um. Glystra tötete ihn mit seinem Ionenstrahler, spürte dann plötzlich, wie kräftige Arme von hinten an ihm rissen, ihn zu Boden zogen. Die Erdenmänner lagen wehrlos da, die Arme hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Unweit von ihnen lag Morwatz, entrang seiner Brust ein tiefes, gequältes Seufzen. Der Mann, der ihn zuerst getreten hatte, zog sein Schwert und durchbohrte ihn. Er wandte sich um und sah seine Gefangenen an, tippte mit seinem Schwert an Glystras Kinn. »Du wirst deinen Tod nicht von meiner Hand finden. Ihr kommt mit zurück nach Grosgarth, und der Bajarnum wird uns belohnen, indem er uns zu
Edelleuten macht ... Soll Charley Lysidder seinen Willen mit euch haben ...« »Die Zigeuner!« sagte Glystra mit rauchiger Stimme. »Sie werden uns alle bekommen!« »Pah. Sie sind nur schmutzige Tiere!« Er schwang sein Schwert in einem wilden Bogen um sich herum. »Wir werden sie umbringen, wie sie kommen!« Er stieß einen wilden Schrei aus, der verriet, wie wenig die Drogen von seiner Selbstbeherrschung übriggelassen hatten. Er lief zu dem Schuppen und warf einen Arm voll Zweige nach dem anderen in die Flammen. Dichter Rauch bildete sich, und die Soldaten inhalierten ihn begierig. Glystra zog an seinen Fesseln, aber sie waren gut gebunden und so fest verknotet, daß ihm die Hände abzusterben drohten. Er wandte mühsam den Kopf. Wo war Nancy? Da war ein entferntes Geräusch, das er auf einmal vernahm, ein entferntes Singen von der Steppe her, das manchmal unterbrochen schien durch den Klang eines tiefen Horns. Die Windrichtung verlagerte sich. Rauch von den glimmenden Zygagenzweigen wehte über die gefesselten Erdenmänner hinweg. So sehr sie sich auch drehen und wenden mochten, sie konnten den Rauch nicht vermeiden. Stehend und süß stieg er in ihre Nasen.
Die erste Empfindung war die einer vielfachen Stärke, einer vertausendfachten Wahrnehmungsfähigkeit, ein Sehen, Hören, Fühlen und Riechen, das bis in die kleinsten Einzelheiten ging und zugleich umfassend war. Jedes Blatt am Baum wurde zu einer eigenen Wesenheit, jeder Pulsschlag zu einer einmaligen und einzigartigen Erfahrung. Schwärme von angenehmen Erfahrungen füllten das Bewußtsein aus. Zugleich war ein anderer Teil des Bewußtseins außergewöhnlich aktiv; Probleme wurden zu Bagatellen; Beschwernisse – wie etwa die Fesseln und die Aussicht, durch Charley Lysidders Hände zu sterben – waren nur Details am Rande, kaum der Beachtung wert. Und währenddessen wurde das Singen in der Ferne lauter. Glystra hörte es; gewiß mußten es die Soldaten ebenso hören ... Das Singen war laut, kam aus nächster Nähe. Endlich reagierten die Männer aus Beaujolais. Sie taumelten vom Feuer weg, die schwarzen Hüte saßen fast durchweg schräg auf ihren Köpfen, ihre Augen traten hervor, waren blutunterlaufen, die Gesichter waren verzerrt, die Münder standen offen und schnappten nach Luft. Der Anführer hob seinen Kopf wie ein Wolf und stieß einen Schrei aus. Dieser Schrei gefiel den Männern aus Beaujolais. Sie alle warfen die Köpfe zurück und stimmten in ihn
ein. Lachend und schreiend beluden sie sich jetzt mit Pfeilen und liefen aus der Oase hinaus, der Zigeunerhorde entgegen. Der Anführer bellte etwas; die Soldaten ordneten sich zu einer lockeren Formation, ohne innezuhalten, und verloren sich im entfernten Widerschein des Feuers. Die Oase war jetzt ruhig. Glystra rollte sich auf seine Knie, kämpfte sich hoch, suchte nach irgend etwas, um seine Fesseln zu lösen. »Bleib so!« rief Pianza mit unterdrückter Stimme. »Ich werde sehen, ob ich die Lederriemen lösen kann.« Er erhob sich ebenfalls auf seine Knie und kämpfte sich auf die Füße hoch. Mit dem Rücken zu Glystra, versuchte er an dessen Fesseln zu hantieren. Er keuchte verzweifelt. »Meine Finger sind ganz lahm ... ich kann meine Hände nicht bewegen ...« Die Soldaten von Beaujolais befanden sich jetzt inmitten der zwielichtigen Steppe; die Zigeuner hatten zu singen aufgehört, und nur der tiefe Klang des Horns war noch zu vernehmen. Die Einzelheiten verloren sich in der abendlichen Dämmerung; Glystra konnte sehen, wie Männer fielen; es folgte ein wilder Gegenangriff von seiten der Soldaten aus Beaujolais. Die Schlacht verlor sich in der Dämmerung.
8 Glystra versuchte die Knoten an Pianzas Handgelenken zu lösen, doch ohne Erfolg. Seine Finger fühlten sich wie Würste an, ohne jede Empfindung. Er spürte plötzlich seine Schwäche; sein Denken war träge. Die Nachwirkungen der Droge. Das eine Augenlid zuckte immer noch auf und zu. Nancy tauchte unerwartet darin auf – bleichgesichtig und mit weit aufgerissenen Augen. »Nancy! Komm her, schnell!« Sie sah Glystra wie benommen an, bewegte sich unsicher vorwärts, hielt inne, sah zurück in Richtung auf das Durcheinander in der Steppe. Die Ausrufe der Soldaten aus Beaujolais wurden immer schriller, wilder, triumphierender. »Nancy!« rief Glystra. »Schneide uns los – bevor sie zurückkommen und uns umbringen!« Nancy sah ihn mit einem seltsam nachdenklichen Ausdruck an. Hornstöße klangen gleich Glocken durch die Luft. Das Schreien der Leute aus Beaujolais ließ nach. Eine Stimme erhob sich über all die anderen: Atman der Gnadenlose. »Nancy!« schrie Glystra. »Komm her! Binde uns los! Sie können jede Minute hier sein.«
Sie sprang vorwärts, riß ein Messer heraus. Ein paar gezielte Schnitte. Die Erdenmänner standen da, rieben sich ihre Handgelenke, zogen Grimassen ob der Schmerzen, die ihnen die wiederhergestellte Blutzirkulation verursachte, apathisch durch die nachlassende Wirkung des Zygagenrauchs. »Zumindest sind wir die Sorge los, wie wir die Soldaten unter Kontrolle behalten«, murmelte Glystra. »Die Zigeuner werden heute nacht feiern«, sagte Bishop. Er wirkte als einziger in der Gruppe voll wachsam. Tatsächlich war er mehr als wachsam; er hatte offenbar die geistige Schärfe und die körperliche Entspanntheit behalten, die die anderen unter dem Einfluß der Zygage verspürt hatten. Glystra sah ihm zu, wie er mit kraftvollen Schritten auf und ab ging. Ihm selbst war zumute, als müsse sein Körper wie ein nasser Wäschesack nachgeben. Moss Ketch beugte sich mit der Anstrengung eines alten Mannes nieder und nahm ein glänzendes Stück Metall auf. »Ein Ionenstrahler, der einem von uns abhanden gekommen ist.« Glystra suchte die Umgebung ab und fand seine eigene Waffe dort wieder, wo sie achtlos hingeworfen worden war. »Hier ist meine ... Sie waren zu aufgeheizt, um sich noch um irgend etwas zu kümmern.« Der Wind blies ihm ein wenig Rauch in das Gesicht;
neue Finger des Entzückens schossen in sein Gehirn. »Verdammt! Dieses Zeug ist stark ...« Steve Bishop hatte sich ins Gras geworfen und machte Liegestützen. Da er die Blicke der anderen auf sich spürte, sprang er wieder auf die Füße. »Ich fühle mich einfach phantastisch«, sagte er grinsend. »Dieser Rauch hat mir offenbar gut getan.« Auf der Steppe draußen war jetzt Stille eingekehrt. Am Himmel über ihnen blinkten die Sterne. Der Kriegsgesang der Zigeuner hob erneut an, laut, diesmal sehr nahe. Etwas zischte von oben heran, brach durch die Blätter hindurch. »Nieder!« fauchte Glystra. »Pfeile ... Bewegt euch vom Feuer weg.« Der laute Gesang drang bis unter die Haut; er bestand aus monotonen Silben, die keinen Sinn ergaben. Ähnlich laut drang die Stimme Atmans zu ihnen herüber. »Kommt heraus, ihr seltsamen Geschöpfe, ihr armseligen Eindringlinge, kommt heraus ... Ich bin Atman der Gnadenlose, Atman, der Herr der Sklaven. Euer Leben ist nur eine Bürde für euch, eure Gedanken sind schwer. Kommt, ich werde euch vor meine Wagen spannen, und ihr werdet Gras essen, und da werden keine lästigen Gedanken mehr sein. Kommt zu Atman ...« Sie konnten seinen Umriß erkennen, und hinter ihm einige Zipangoten. Glystra sah über seinen Io-
nenstrahler hinweg, zögerte dann. Es war, als wollte man einen uralten Baum fällen. »Ihr solltet uns besser in Ruhe lassen, Atman«, rief er. Atman stieß einen verachtungsvollen Laut aus. »Ihr werdet es nicht wagen, mir höher denn auf Knien entgegenzutreten. Ich werde jetzt kommen, um euch zu holen; ihr werdet diese elektrischen Spielereien weglegen und euch vor mir verneigen.« Glystra setzte benommen dazu an, den Strahler beiseitezulegen, blinzelte dann, warf den unverständlichen Einfluß Atmans von sich ab. Er drückte den Anschlag durch. Purpurfarbene Funken sprangen zu Atman über und fraßen sich in seine Brust hinein, wurden darin aufgenommen, absorbiert. Er leitet zur Erde hin ab! dachte Glystra mit plötzlichem Entsetzen. Atman erstrahlte in einer Art von Nachglühen, eine heldenhafte Gestalt, mehr als lebensgroß ... Bishop rannte los, erreichte ihn. Atman stieß eine lautstarke Verwünschung aus. Er beugte sich vor; Bishop drehte sich, kam von unten wieder hoch. Atman vollführte eine majestätische Umdrehung, prallte mit einem hörbaren Aufschlag auf die Erde. Bishop ließ sich wie beiläufig auf ihm nieder, spielte an seinen Händen herum, stand wieder auf. Glystra kam heran, noch immer ganz benommen. »Was hast du nur gemacht?« »Ein paar Judotricks ausprobiert«, erklärte Bishop bescheiden. »Ich habe mir gedacht, daß dieser Kerl
seine Schlachten mit seiner Stimme gewinnt, mit hypnotischer Suggestion. Ich habe ihn totgemacht wie eine Sardine, mit einem kleinen Schlag auf die richtige Stelle.« »Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein Judoexperte bist.« »Das bin ich nicht ... Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch über dieses Thema gelesen, und es ist plötzlich alles über mich gekommen – mein Wort, bei all diesen Zipangoten!« »Hm – die müssen den anderen Politboros gehört haben, die von den Soldaten umgebracht wurden. Die nehmen wir uns jetzt.« »Wo sind die anderen Zigeuner?« Glystra lauschte. Von der Steppe her war kein Laut mehr zu hören. »Sie sind weg. Haben sich verdünnisiert.« Sie führten die Zipangoten mit sich in die Oase zurück. »Wir sollten uns besser auf den Weg machen«, erklärte Glystra. Fayne sah ihn an. »Jetzt?« »Jetzt!« schnappte Glystra. »Mir gefällt das auch nicht besser als dir, aber wir können jetzt wenigstens reiten.« Er wies auf die Zipangoten. Morgen, Mittag, Nachmittag – die Erdenmänner hingen gekrümmt auf den gewundenen Rücken der Zipangoten, vor Erschöpfung halb dösend. Die Tiere
gingen ziemlich schwankend, was nicht gerade zum Einschlafen verführte. Der Abend kam mit einer langsamen Verdunkelung des Himmels. Sie erreichten ein Feuer in einer Mulde, kochten einen Topf voll Getreidebrei und aßen ihn. Sie teilten Wachen im zweistündlichen Wechsel ein und ließen sich nieder. Am nächsten Morgen öffnete Glystra seine Augen und mußte überrascht mit ansehen, wie Bishop nahe ihrer Lagerstätte mühelos hin- und hersprintete. Glystra rieb sich die Augen, gähnte, mühte sich auf die Füße. Er selbst fühlte sich matt und erschlagen, und irritiert fragte er Bishop: »Was in aller Welt ist nur über dich gekommen? Du hast doch noch nie frühmorgendliche Übungen gemacht!« Bishops langes Schafgesicht überzog eine leichte Röte. »Ich verstehe das selbst nicht. Ich fühle mich einfach so gut. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so wohlgefühlt. Vielleicht entfalten meine Vitamine jetzt ihre Wirkung.« »Sie haben nie etwas bewirkt, bevor wir alle mit dem Rauch dieser Zygagenzweige berauscht wurden. Dann aber wirkten sie plötzlich wie Wunderpillen, und du bist losgerast und hast es mit Atman aufgenommen.« »Glaubst du, daß diese Droge eine fortdauernde Wirkung auf mich hat?«
Glystra rieb sich das Kinn. »Wenn ja, dann wäre das eine gute Sache – aber warum wirkt es sich bei uns anderen ganz gegenteilig aus? Wir haben dasselbe gegessen, dasselbe getrunken ... Außer – ja, außer, daß du dich mit Vitaminen vollgestopft hast, und zwar kurz bevor wir mit dem Rauch zu tun bekamen.« »Nun ja, das stimmt. Das habe ich getan. Ich frage mich, ob es da wirklich eine Verbindung geben kann ... ein interessanter Gedanke ...« »Wenn mir jemals wieder ein Zygagenzweig in die Hände kommt«, murmelte Glystra, »dann werde ich es herausfinden.« Vier Tage lang waren sie von der Dämmerung bis zum Sonnenuntergang ununterbrochen unterwegs. Sie bekamen kein menschliches Wesen zu Gesicht, bis sie am Nachmittag des vierten Tages auf ein paar junge Zigeunermädchen stießen. Sie waren vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und führten ein paar träge Tiere, etwa schafsgroß und mit gelblichem Fell, mit sich – Pelikanesen. Sie trugen zerknitterte graue Blusen, und ihre Füße waren mit Riemen umschnürt. Sie ließen ihre Tiere im Stich und liefen auf sie zu. »Seid ihr ausländische Sklavenhalter?« fragte die erste glücklich. »Wir wollen Sklaven sein.« »Tut mir leid«, sagte Glystra trocken. »Wir sind nur Reisende. Und außerdem sind doch eure eigenen
Leute Sklavenhalter. Warum wollt ihr dann unbedingt zu Ausländern?« Die Mädchen kicherten und sahen Claude Glystra dabei an, als ob ihnen seine Frage völlig unverständlich sei. »Sklaven erhalten öfters Mahlzeiten und essen von Tellern. Sklaven können unter ein Dach treten, wenn der Regen kommt. Zigeuner verkaufen ihre eigenen Leute nicht, und wir haben es schwerer als Sklaven.« Glystra sah sie entschieden an. Wenn er darangehen wollte, alles in Ordnung zu bringen, was er in Unordnung vorfand, dann würden sie niemals die Erdenklave erreichen. Er sah über seine Schulter zurück. Elton fing seinen Blick auf. »Ich könnte eine gute Dienerin gebrauchen«, sagte er leichthin. »Du – wie ist dein Name?« »Ich bin Motta. Sie ist Wailie.« »Noch jemand?« erkundigte sich Glystra schwach. Pianza schüttelte den Kopf. Roger Fayne schnaubte und wandte sich ab. Steve Bishop sammelte Mut und sagte: »Ich nehme sie.« Drei weitere Tage ritten sie durch die Steppe, und ein Tag war wie der andere. Am vierten Tag veränderte sich das Land. Die Gräser wurden dunkler, und es wurde schwieriger, was das Reiten anging. Gelegent-
lich tauchten Büsche auf, die bis zu einem Meter achtzig groß wurden und deren Blätter wie Pfauenfedern aussahen. Vor ihnen erschien ein niedriges schwarzes Band, das die Zigeunermädchen als das Ufer des Flusses Oust identifizierten. Gegen Nachmittag erreichten sie Edelweiß, eine fortartig befestigte Siedlung, an jeder Ecke von einem drei Stockwerke hohen Blockhaus begrenzt. »Manchmal überfallen die Kosaken aus dem Süden die Magicker«, erklärte Motta. »Es ist ihnen nicht erlaubt, am hier stattfindenden Ramschmarkt teilzunehmen, da der Anblick bloßer Knie sie wahnsinnig werden und in mörderischem Amok herumlaufen läßt. Aber sie begehren das graue Pulversalz, das von Gammerei den Fluß heraufkommt, und die Magicker haben davon an Lager, und das ist der Grund, warum Edelweiß einem befestigten Fort gleichkommt.« Die Siedlung lag direkt in der Nachmittagssonne, und aus der Ferne wirkte sie wie eine Ansammlung von Spielzeughäusern, wie Miniaturen aus dunkelbraun und hellbraun, mit schwarzen Fenstern, hellgrünen und schwarzen Dächern. Im Mittelpunkt der Siedlung erhob sich ein gewaltiger Holzmast, an dessen Spitze eine kleine Holzkanzel ähnlich einem Schiffsausguck befestigt war. Motta erklärte den Zweck des Mastes. »Das Tragseil, an dem die Seilbahnkabinen zur Sumpfinsel hin-
übergleiten, ist an der Mastenspitze befestigt. Und außerdem pflegen die Magicker stets in die Ferne zu sehen; sie erkennen darin, wie die Wolken treiben, besondere Zeichen, und die Weisen unter ihnen können daraus die Zukunft ersehen.« »Indem sie Wolken beobachten?« »So habe ich es gehört. Aber wir wissen wenig von solchen Dingen, da wir Frauen sind.« Sie setzten ihren Weg zum Fluß dort, und dann sahen sie über den breiten Oust hinweg, die Nachmittagssonne im Rücken. Der Fluß führte vom Norden, wo er aus dem Dunst der Entfernung hervortrat, her an ihnen vorbei und verlief weiter in südlicher Richtung, sich dabei ein wenig nach Westen zurückwindend. Das Wasser war sehr unruhig, und manchmal brachen Fontänen hoch, als zuckte und wütete ein Ungeheuer unter der Oberfläche des Wassers. Das gegenüberliegende Ufer, zwei oder drei Meilen entfernt, verlief flach und war mit einem dichten Wald von Masten bestanden, die gute sechzig Meter hoch sein mochten. Eine längliche, exotisch bewachsene Insel ragte ziemlich genau inmitten des dahinströmenden Flusses aus dem Wasser. »Seht!« rief Fayne mit rauher Stimme – unnötigerweise, denn alle Augen waren bereits gleichermaßen auf das gerichtet, was jetzt in der Flußmitte geschah. Von der Insel löste sich ein schwarzes Ungeheuer.
Sein Körper war abgerundet und schlank, sein Kopf froschähnlich und von einem breiten Maul durchzogen. Der Kopf schnellte vorwärts, während sie zusahen, kaute und mampfte auf etwas herum, was sich im Wasser befand. Schließlich ging es mit dem Kopf tiefer und ließ sich faul dahintreiben. Das Geschöpf drehte ab und verschwand wieder hinter der Insel. Fayne stieß den Atem aus. »Junge! Das ist vielleicht ein unangenehmer Nachbar!« Pianza suchte die Wasseroberfläche ab. »Ich frage mich, ob es überhaupt jemand wagt, über ...« »Sie werden die Seilbahn benützen«, erklärte Elton. Es war ein dünnes weißgraues Seil, das von dem Masten in der Siedlung zu einem der Pfosten am gegenüberliegenden flachen Ufer führte. Der niedrigste Punkt des hängenden Seils befand sich nur etwas fünfzehn Meter über der Wasseroberfläche. Glystra schnaufte verächtlich. »Es gibt offenbar nur diese eine Art, den Fluß zu überqueren ... ich glaube, wir müssen uns an der Kasse anstellen ...« »Auf diese Weise gelangen die Magicker zu ihrem Reichtum«, sagte Motta. »Sie werden uns gewiß das letzte Hemd abnehmen«, murmelte Gayne. »Uns bleibt nichts anderes übrig«, entschied Glystra. Sie gingen am Felsufer entlang auf das Dorf zu.
Über ihnen ragten die Palisaden von Edelweiß empor, aus Baumstämmen von einem guten halben Meter Durchmesser zusammengezimmert, die wie Pfeiler in den Boden gerammt und gut miteinander verbunden waren. Das Holz wirkte ziemlich nachgiebig. Glystra überlegte, daß eigentlich jeder, der dazu entschlossen war, sich mit einem Beil seinen Weg ins Innere kämpfen konnte. Sie hielten vor dem Tor an, das noch etwas besser befestigt war. Es stand offen und ließ einen kurzen Durchgang frei, der an einer weiteren Palisadenwand endete. »Seltsam«, sagte Glystra. »Keine Wachen, kein Torhüter ... überhaupt niemand.« »Sie haben Angst«, sagte Wailie. Sie hob die Stimme. »Magicker! Kommt heraus und führt uns zur Seilbahn!« Sie bekam keine direkte Antwort. Nur ein verstohlenes Scharren von jenseits der Holzwand. »Kommt heraus!« rief Motta. »Oder wir werden euren Gartenzaun niederbrennen!« »Guter Gott!« murmelte Pianza. Bishop sah entsetzt drein. Wailie suchte ihre Begleiterin noch zu übertreffen. »Kommt heraus und heißt uns willkommen – oder ihr alle werdet das Schwert zu spüren bekommen!« Steve Bishop legte seine Hand über ihren Mund.
»Bist du wahnsinnig?« »Wir werden die Magicker umbringen«, schrillte Motta, »und das ganze Dorf in den Fluß werfen!« Im Durchgang entstand Bewegung. Drei alte Männer, glatzköpfig und schwach, traten hervor. Ihre bloßen Füße waren knochig und von blauen Venen überzogen. Sie trugen lediglich zerfetzte Leinenkleider. »Wer seid ihr?« verlangte der erste zu wissen. »Geht eures Wegs und stört uns nicht; wir haben nichts, was von Wert wäre.« »Wir wollen den Fluß überqueren«, sagte Glystra. »Helft uns dabei, und wir werden euch nicht länger belästigen.« Die alten Männer steckten die Köpfe zusammen und flüsterten, wobei sie immer wieder mißtrauische Blicke auf Glystra warfen. Schließlich sagte einer von ihnen: »Es ist schon spät im Jahr. Ihr müßt warten.« »Warten?« echote Glystra. »Hier draußen?« »Wir sind die friedlichen Magicker, unschuldige Zauberer und Handeltreibende. Ihr seid Männer aus den Wilden Ländern, und zweifellos wollt ihr uns unserer Waren berauben.« »Wir acht? Unsinn. Wir wollen den Fluß überqueren.« »Es ist unmöglich«, sagte der alte Mann mit einem bebenden Tonfall. »Warum?«
»Es ist verboten.« Der alte Mann zog sich zurück. Das Tor fiel zu. Glystra kaute auf seinen Lippen herum. »Warum zum Teufel –« Asa Elton wies zum Turm hoch. »Dort oben ist ein Heliograph. Er hat Signale in Richtung Westen gesandt. Ich vermute, daß sie Anweisungen aus Beaujolais erhalten haben.« Glystra knurrte unwillig. »In diesem Fall ist es noch dringender, den Fluß zu überqueren. Hier sind wir in der Falle.« Fayne ging in Richtung auf die Uferbank. »Keine Boote zu sehen.« »Nicht einmal etwas, woraus sich ein Floß bauen ließe«, ergänzte Pianza. »Ein Floß würde uns kaum helfen«, erklärte Fayne. »Wie sollten wir es bewegen – ohne Segel, ohne Ruder?« Glystra sah die Palisaden von Edelweiß hoch. Elton grinste. »Denkst du das gleiche, was ich denke?« »Ich denke an diesen Teil der Palisadenwand – genau dieses Stück da, das parallel zum Fluß verläuft, würde ein feines Floß ergeben.« »Aber wie sollen wir damit den Fluß überqueren?« verlangte Fayne zu wissen. »Die Strömung ist offenbar ziemlich stark; wir würden alle bis zum Golf von Marwan abgetrieben werden.«
»Es gibt eine Möglichkeit, die auch du kaum übersehen kannst.« Glystra formte ein Lasso aus einem Stück Seil, das zur Gepäckbefestigung gedient hatte. »Ich werde diese Palisadenwand hinaufklettern; deckt mich von unten.« Er warf die Schlinge um einen der breiten Stämme, zog sich hoch, spähte vorsichtig darüber, kletterte schließlich ganz darüber hinweg. Er wandte sich um und sah hinab. »Hier oben ist niemand. Es ist eine Art von Dach. Einer von euch soll noch hochkommen – Elton.« Elton folgte ihm. Vor ihnen waren glatte, noch höher aufragende Wände mit gesicherten Fenstern. Nichts rührte sich.
9 Ein Geräusch hinter ihnen; Moss Ketch zog sich über die äußeren Palisaden. »Wollte mal nachsehen, wie es hier aussieht.« Er sah über die flachen Dächer hinweg. »Niedlich hier.« »Seht euch die Wand an«, sagte Glystra. »Die Stämme sind oben mit Seilen verbunden und in mittlerer Höhe mit Holzdübeln gesichert. Wenn wir das Seil durchtrennen und die Dübel brechen – zum Beispiel hier, hier und hier – und wenn jeder sich an einer Seite kräftig dagegenwirft, dann sollte es möglich sein, diesen Teil der Wand regelrecht in den Fluß zu kippen.« »Wie steht es mit diesen Seeschlangen – den Griamobots?« fragte Ketch. »Das ist ein unbekannter Faktor. Wir müssen unser Glück versuchen.« »Sie könnten das Floß umwerfen, wenn sie darunter auftauchen.« Glystra nickte. »Möglich. Willst du lieber hierbleiben?« »Nein.« Elton streckte seine langen Arme vor sich aus. »Fangen wir an.« Glystra sah zum Himmel auf. »Noch eine Stunde
Tageslicht. Bis dahin sollten wir drüben sein, wenn alles gut geht. Ketch, du gehst wieder hinunter und führst die ganze Gruppe mit den Zipangoten und allem zum Strand hinab, unterhalb des Felsufers. Ihr solltet euch möglichst etwas abseits halten, wenn die Dinge ins Rollen kommen. Wir werden die ganze Wand hinabwerfen; wenn sie im Fluß landet, dann befestigt sie irgendwie am Ufer, damit sie nicht abtreibt.« Ketch schwang sich hinab. Claude Glystra wandte sich wieder der Wand zu. »Wir müssen es hinter uns bringen, bevor sie merken, was wir vorhaben.« Er sah seitlich hinab. Etwa sechs Meter unterhalb war der Rand des Felsufers; dann waren es noch einmal etwa fünfzehn Meter bis zum eigentlichen Strand hinab. Den Strand entlang zogen die Zipangoten mit Ketch, Pianza, Bishop, Fayne und den drei Mädchen. Glystra nickte Elton zu, zog sein Messer und schnitt an den Seilen herum, die die Palisaden oben zusammenhielten. Plötzlich brach ein wütendes Geheul hinter ihnen los. Vier alte Frauen, zeternd und gestikulierend, waren offenbar aus dem Nichts erschienen. Hinter ihnen traten einige Magicker hervor, hager, bleich, und um die Schultern herum mit grüner Farbe beschmiert. Das Seil gab nach. »Jetzt!« sagte Glystra. Er zielte
mit seinem Ionenstrahler und drückte durch. Einmal, zweimal, dreimal. Sie setzten mit den Schultern an den Spitzen der Palisaden an und drückten dagegen. Die Wand gab ein wenig nach, knirschte, bewegte sich nicht weiter. »Unten«, keuchte Glystra. »Weiter unten sind noch weitere Befestigungen.« Er versuchte ins dämmrige Dunkel unterhalb des Daches zu spähen. »Wir müssen blind schießen ... Brich du die Wand auf deiner Seite los, ich auf meiner.« Zwei Kegel purpurfarbenen Lichts gaben zuckende Energien frei. Eine kleine Feuerzunge leckte an einem der Stämme, erstarb wieder. Die Wand gab knirschend nach. »Jetzt – bevor sie ihre ganze Armee hier heraufrufen können ...« Die Wand bot ihrem Druck jetzt keinen Widerstand mehr, sie kippte um und fiel; sie drehte sich im Flug und landete auf dem Strand, stand eine Sekunde lang da, fiel endlich klatschend ins Wasser. Glystra sah noch, wie Ketch mit einem Seil ins Wasser hechtete, wandte sich dann um und stand einer ganzen Anzahl von Magickern gegenüber – alle vom gleichen hageren, finster dreinblickenden Typ. Sie schimpften lauthals, tänzelten aber wie nervöse Preiskämpfer zurück, wenn sie ihm ins Auge sahen. Die Frauen kreischten, zeterten und heulten, aber die Männer machten nur einige zögernde Schritte
vorwärts. Glystra warf einen Blick zum Fluß hinab. Die Palisadenwand – jetzt ein Floß – trieb frei dahin, zerrte an dem Seil, mit dem Ketch es befestigt hatte. Fayne und Pianza standen am Strand und sahen hoch. Glystra rief ihnen zu: »Bringt die Tiere auf das Floß und bindet sie in der Mitte fest!« Bishop rief etwas, was Glystra nicht verstand; er wandte sich ab. Die Magicker kamen langsam, aber doch unaufhaltsam näher. »Geht zurück!« sagte er tonlos. »Zurück! Oder ich werde euch die Beine unter dem Leib abtrennen.« Doch seine Worte taten keine Wirkung. Die Magikker kamen mit verzerrten Gesichtern Schritt um Schritt näher; ihre angezogenen Lippen ließen ihre langen Zähne sichtbar werden. Plötzlich schwangen sie alle über einen Meter lange Stoßpiken mit kleinen schwarzen Widerhaken. »Sieht so aus, als ob wir einige von ihnen töten müßten«, sagte Glystra, »wenn sie es nicht doch noch mit der Angst bekommen ...« Er zielte mit dem Ionenstrahler auf das Dach, um dicht vor den Füßen des nächsten Magickers ein Loch in das Dach zu brennen. Doch der Magicker sah es nicht einmal; seine Augen waren starr auf einen Punkt gerichtet. »Sie sind verrückt ... Hysteriker«, murmelte Glystra. »Arme Teufel, ich mag das nicht ...« Er drückte durch. Hagere Umrisse verzerrten sich und gingen zu
Boden, andere tanzten zurück über das Dach zur Treppe hin, unheimliche schwarze Schattenrisse, hinter denen Kleiderfetzen herflogen. »Haltet ein Seil bereit!« rief Glystra hinab. »Und bindet es mit dem zusammen, was als nächstes kommt ...« Asa Elton sah zu dem Masten hinauf. »Wir sollten besser das ganze Gestell zum Umstürzen bringen, den Masten und alles. Andernfalls würde das Seil so rasch an ihnen vorbeischnellen, daß sie es nicht einmal sehen könnten. Sieh es dir an – drei dieser Haltekabel laufen zur Spitze hoch, drei zu einem Punkt in mittlerer Höhe. Wenn wir die drei an der Spitze abschneiden, dann sollte der Masten leicht und sauber herunterkommen.« Glystra untersuchte das Magazin seines Ionenstrahlers. Er vermochte es in dem nachlassenden Tageslicht nur schwer zu erkennen. »Ich muß jetzt vorsichtig mit der Energie umgehen. Habe nicht mehr viel davon übrig.« Er zielte und drückte den Abzug durch. Die drei grauen Halteseile gaben nach, fielen in schlangengleichen Zuckungen über die Dächer von Edelweiß. Der Masten gab mit knackenden Geräuschen nach, das an eine auseinandergebrochene Karotte erinnerte, und ging fast vor ihren Füßen nieder. »Aufgepaßt!« rief Elton nach unten. »Hier kommt es ...«
Die Spannung des Seils, das zum anderen Ufer hinüberführte, zog den Masten über das Dach und schließlich über den Rand des Felsufers. »Kümmert euch um das Seil«, rief Glystra. »Befestigt das Floß irgendwie daran!« Er begann die Wand hinunterzuklettern, gefolgt von Elton. Sie liefen am Rand des Felsufers entlang, bis sie eine Stelle fanden, von der aus sie zum Strand hinabgelangen konnten. »Beeilt euch!« rief ihnen Pianza zu. »Unser Strandseil hält nicht mehr lange, es kann jede Minute reißen –« Glystra und Elton wateten in den Fluß hinaus und erkletterten das hölzerne Floß. »Los dann!« Das Floß trieb hinaus. Die Strömung trug es flußabwärts, aber durch das Tragseil der einstigen Seilbahn von Edelweiß war es mit dem gegenüberliegenden Ufer verbunden. »Ah«, seufzte Fayne und ließ sich schwer auf die Stämme fallen, die das Floß ausmachten. »Endlich Frieden – Ruhe, ist es nicht wundervoll?« »Warte mit diesen Jubeltönen lieber, bis wir auf der anderen Seite sind«, sagte Ketch. »Da sind immer noch die Griamobots.« Fayne machte, daß er wieder auf die Füße kam. »Die hatte ich glatt vergessen. Mein Gott! Wo sind sie? Wenn die eine Sache vorbei ist, dann kommt gleich der nächste Ärger.«
»Seht!« sagte Bishop tonlos. Alle Köpfe wandten sich gleichzeitig dem Ding zu, das sich langsam über den Floßrand schob – es war flach, glänzend, fest und muskulös. Es bebte, zuckte um weitere zwanzig Zentimeter auf das Floß hinauf. Weitere zwanzig Zentimeter ... Eli Pianza lachte. Bishop ging darauf zu. »Ich dachte, es wäre das Ende eines Tentakels.« »Das ist ein größerer Wurm, aber kein Seeungeheuer.« »Ekelhaftes Ding.« Bishop kickte es in den Fluß zurück. Das Floß ging plötzlich hoch, schwenkte hin und her. Hohe Wasserfontänen gingen um sie herum hoch. »Aber jetzt ist etwas unter uns«, hauchte Glystra. Motta und Wailie begannen zu schluchzen. »Ruhig!« schnappte Glystra. Die Bewegungen ließen wieder nach; das Wasser beruhigte sich. Steve Bishop berührte Glystra am Arm. »Sieh mal zum Felsufer hoch – dort, wo sich Edelweiß befindet.« Eine Fackel war entzündet worden. Sie flammte auf, ging aus, flammte erneut auf, ging aus – wieder und wieder, in wechselnden Abständen. »Ein Code. Sie geben eine Botschaft durch. Vermutlich über den Fluß hinweg zur Sumpfinsel. Wir kön-
nen nur hoffen, daß niemand das Seil am anderen Ende abtrennt.« »Fayne könnte mit einer Botschaft ans Ufer schwimmen«, schlug Elton vor. Fayne schnaufte verächtlich, und Elton kicherte. Von jenseits der Insel näherte sich der Griamobot, den Kopf suchend erhoben. Die Dunkelheit verhüllte sein Äußeres; es traten nur die großen Facettenaugen hervor. Wasser zischte und brodelte an seiner dunklen Körpermasse vorbei, aus deren Innerem ein tiefes, unmenschliches Brüllen hervorkam. Der Kopf schwenkte hin und her, schnellte plötzlich nach vorn. »Es hat uns gesehen«, murmelte Glystra. Er zog seinen Ionenstrahler. »Vielleicht kann ich es verletzen und davonjagen ... Im Magazin ist nicht mehr genug Energie, um wirklich etwas auszurichten, wenn sich das Ungeheuer nicht abhalten läßt ...« »Halte voll auf den Kopf«, sagte Eli Pianza bebend. »Damit es uns nicht mehr sehen kann.« Glystra nickte. Der violette Strahl berührte den Kopf. Er tat seine volle Wirkung, doch der Nacken schwenkte weiterhin vor und zurück, vor und zurück – und das Geschöpf verlangsamte weder noch veränderte es seine Richtung. Glystra zielte auf den Körper, feuerte. Ein reißendes Geräusch, und in der dunklen Außenhaut er-
schien eine gezackte Öffnung. Weiße Gegenstände schienen sich dahinter zu bewegen. Glystra sah es verblüfft und feuerte erneut in die Höhe der Wasserlinie. Das Ungeheuer schrie auf – in einem Durcheinander menschlicher Stimmen. Die Hülle geriet ins Wanken, schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Weiße Umrisse kletterten aus der Öffnung heraus. »Deckung!« rief Glystra. »Sie werfen mit etwas nach uns!« Eine Pike schlug in das Holz neben ihm ein. Noch eine – noch eine – und dann ein Geräusch, das anders war als zuvor: ein weicher Aufschlag und ein langes, kehliges Nach-Luft-Schnappen. Glystra erhob sich. »Ketch!« Moss Ketch zog schwach an der Pike, die in seiner Brust steckte, fiel nach vorn auf die Knie, neigte den Kopf, während er mit beiden Händen den Schaft der Pike umfaßte; und in dieser Position erstarrte er. »Sie versuchen uns zu entern!« schrie Fayne. »Beiseite!« rief Pianza. Fayne bekam seine Ellbogen zu spüren. Organgefarbenes Feuer trat aus seinem Hitzegewehr und ergriff die schmalen Umrisse, die ihre Arme hochwarfen und in den Fluß zurückfielen. Die Hülle des Griamobots befand sich schon fast vollständig unter Wasser, trieb flußabwärts am Floß vorbei und davon.
Claude Glystra legte Ketch vorsichtig auf die Seite. Seine Hände hatten sich um den Schaft verkrampft. Glystra stand auf, sah durch die Dämmernis zu Edelweiß hinüber; einen Augenblick lang stand er so da, wandte sich dann wieder zu Ketch zurück. »Fayne – hilf mir.« Er griff nach den Füßen des Toten. Roger Fayne beugte sich hinab und nahm die Schultern, zögerte. »Was hast du mit ihm vor?« »Ihn in den Fluß werfen. Tut mir leid. Wir können uns keine Gefühle leisten.« Fayne öffnete den Mund, stammelte etwas. Glystra wartete. »Glaubst du nicht«, meinte Fayne schließlich mit gesenkter Stimme, »daß wir – nun, sind wir ihm nicht ein ordentliches Begräbnis schuldig?« »Wo? In den Sümpfen?« Fayne beugte sich zu dem Körper hinab. Glystra sah zurück nach Edelweiß. »Der Griamobot war ein Schwindel. Ein kommerzielles Unternehmen, um die Leute vom Fluß fernzuhalten und zur Benützung der Edelweiß-Seilbahn zu zwingen.« Die Nacht lag schwer über dem Großen Planeten, und auch die Ufer lagen im völligen Dunkel. Auf dem Floß war völlige Stille eingekehrt. Kleine dunkle Wellen schlugen gegen die Stämme. Die Strömung
trieb sie flußabwärts; festgehalten durch das am gegenüberliegenden Ufer befestigte Seil schob sich das Floß allmählich in Richtung auf die Sumpfinsel. Die Masten der Sumpfinsel ragten bereits über ihnen hoch. Das Zirpen und Surren von Myriaden winziger Insekten drang an ihre Ohren. Es waren keine Lichter sichtbar. Das Floß lief weich auf einem sumpfigen Uferstreifen auf, kam zum Stillstand. »Wir müssen warten, bis es hell wird«, sagte Glystra. »Versuchen wir etwas zu schlafen ...« Aber sie saßen alle da und starrten über die dunklen Wasser, spürten den Verlust von Ketch, wie eine Zunge die Lücke spürt, die ein gezogener Zahn hinterlassen hat. Die Dämmerung kam über das Wasser zu ihnen, schien aus dem Nirgendwo zu kommen. Im Osten flammte der Himmel gelb und orange auf, jenseits der etwa sechzig Meter hohen Bäume, die den Wald der Sumpfinsel ausmachten. Motta schrie auf. Glystra schwang herum; das Blut jagte durch seinen Körper. Eine gewaltige schwarze Körpermasse hob sich aus dem Fluß; darüber drehte sich ein Kopf von der Größe eines Fasses. Der Kopf schwang herab, die Augen starrten auf einen Punkt im Wasser, der Hals bog sich; der Kopf stieß ins Wasser und kehrte zurück, beladen mit einem schwam-
migen gelben Zeug, das offenbar pflanzlicher Art war. Das Geschöpf verschlang das gelbe Zeug und versank wieder im Fluß. Leben kehrte auf das Floß zurück. Hysterische Frauen ... Glystra seufzte tief auf. »Die Griamobots existieren offensichtlich.« »Was ich jederzeit beschwören werde«, erklärte Roger Fayne. »Aber – sie sind Vegetarier. Außer Gemüse rühren sie nichts an. Die Magicker haben dafür gesorgt, daß man sie für fleischfressend hält; und damit konnten sie sicher sein, daß jeder, der über den Fluß wollte, ihre Seilbahn benützte und dafür bezahlte ... Nun, wir müssen weiter.« Das Floß trieb ohne Mann und Fracht dicht am Ufer. Die Zipangoten standen reisefertig und voll bepackt auf dem schwammigen schwarzen Humusboden. Glystra ging ein Stück weit in den Sumpf hinein, um die Festigkeit des Bodens zu untersuchen. Soweit Glystra sehen konnte, war es überall die gleiche schwarze Torfmasse, durchzogen von flachen Wassertümpeln. Er kehrte zum Fluß zurück. Die Zipangoten waren in einer Reihe aufgestellt worden. »Gehen wir«, sagte er.
Der Fluß fiel zurück und entzog sich verhältnismäßig schnell ihrer Sicht. Die Karawane wand sich wie eine Schlange im hohen Gras – jetzt zur Linken, jetzt nach rechts, eine Wendung zurück, ein Stück seitwärts. Das war notwendig, um die Wassertümpel und die morastigsten Stellen zu umgehen. Die Sonne stieg, und sie ritten durch Kegel und Streifen des grellen Tageslichts hindurch, soweit es nicht von den dichtstehenden Mammutbäumen der Sumpfinsel aufgefangen wurde.
10 Gegen Mittag tat sich eine helle Stelle vor ihnen auf – ein See. Kleine Wellen warfen glitzernde Reflexe zurück; Wolken bildeten sich zwischen tiefem Blau auf der Wasserfläche ab. In der Ferne kreuzten ein paar flache Boote mit sackartig aufgeblasenen, orangefarbenen Segeln; und jenseits des Sees befand sich die Sumpfstadt. Sie befand sich mitten in der Luft, war auf den dichtstehenden Bäumen eines Waldes befestigt; sie erinnerte Glystra an ein Fischerdorf der Alten Welt. Ein paar Augenblicke lang starrten sie stumm auf die Stadt, die auf Stelzen ging ... Ein heiseres Krächzen riß sie aus ihrer Versunkenheit; ein blau-gelbes fliegendes Ding rauschte mit langsamen Flügelschlägen an ihnen vorbei. »Ich habe doch tatsächlich einen Augenblick lang gedacht, die Magicker hätten uns eingeholt«, sagte Fayne. Zurück in den Wald – wieder der beschwerliche Weg, der sie nur in schlangenförmigen Windungen weiterbrachte; gelegentlich mußten sie sogar Stücke des Wegs wieder zurückgehen. Die Sonne bewegte sich über den Himmel; am späten Nachmittag endlich sah Glystra die Mauern und
Häuser der Stadt über sich. Fünf Minuten später bewegte sich die Karawane in den Schatten unterhalb der Hochstadt. »Einen Augenblick, bitte«, sagte eine gelangweilte Stimme. Eine Gruppe von Kriegern war neben ihnen aufgetaucht, untersetzte Männer mit maulbeerenfarbenen Umhängen. Der Offizier ging auf Glystra zu. »Welcher Art sind eure Geschäfte?« »Keine Geschäfte. Wir sind Reisende.« »Reisende?« Der Offizier starrte auf die Zipangoten. »Von woher?« »Von Jubilith, nördlich von Beaujolais.« »Wie seid ihr mit diesen Tieren über den Fluß gekommen? Gewiß nicht mit der Seilbahn; unser Agent hätte euch angekündigt.« »Wir haben sie mit einem Floß über den Fluß gebracht. Letzte Nacht.« Der Offizier strich sich über seinen Oberlippenbart. »Aber haben die Griamobots –« Claude Glystra lächelte. »Die Magicker haben einen großen Schwindel aufgezogen. Die Griamobots sind harmlose Pflanzenfresser. Der einzig gefährliche Griamobot war einer, den die Magicker gebaut und mit Soldaten bemannt haben.« Der Offizier zog hörbar seinen Atem ein. »Lord Wittelhatch wird sich dafür interessieren. Die will-
kürlichen Bedingungen und die Tarife der Magicker haben ihn schon lange irritiert, zumal er ihnen das Seil geliefert hat, das sie für ihre Hochbahn brauchten.« »Das Seil interessiert mich«, bemerkte Glystra. »Ist es aus Draht?« »Aber nein.« Der Offizier lachte erheitert auf – ein umgänglicher junger Mann mit einem ausdrucksvollen Gesicht und einem wildwuchernden, strohigen Schnauzbart. »Kommt, ich werde euch an einen Ort führen, wo ihr und die Tiere euch ausruhen könnt, und entlang des Wegs werdet ihr unsere Manufakturen sehen. Wir sind die Seilmacher der Welt; nirgendwo gibt es Seile, die den unseren gleichkommen.« Glystra zögerte. »Wir wollten unseren Weg so weit wie möglich fortsetzen, bevor die Nacht hereinbricht. Wenn wir die Richtung erfahren könnten –« »Ein begüterter Mann, der es eilig hat«, erklärte der Offizier, »sollte die Monobahn benützen. Es dürfte ihn eine Menge Metall kosten, sehr viel Metall ... Am besten, ihr unterhaltet euch mit Wittelhatch.« »Schön.« Glystra ging zur Karawane zurück; sie folgten dem Offizier und kamen alsbald an einer Anlage vorbei, die offenbar der Seilherstellung diente. Ein etwa rechteckiger Platz mit einer Seitenlänge von etwa hundertfünfzig Metern war soweit von
Bäumen befreit worden, wie es nur eben möglich war, ohne die Abstützung der Stadt oberhalb zu beeinträchtigen. Auf dieser Fläche waren Bahnen angelegt, die aus einer Aufeinanderfolge von Rahmengestellen bestanden. Im Verlauf seiner Entstehung lief das Seil jeweils durch eine Öffnung in einem Rahmen und unmittelbar danach durch ein Rad hindurch, das sich um das Seil als Achse herumdrehte. Das Rad war in regelmäßigen Abständen mit Düsen versehen, von denen aus weiße Fäden auf das Seil zuliefen. Während sich das Seil durch den Rahmen bewegte, rotierte das Rad und führte dem Seil fünf neue Fäden zu. Glystra sah über die Produktionsbahnen hinweg. Zu jedem Rahmen gehörte ein Rad, und jedes Rad trug dem Seil fünf weitere Fäden zu. »Raffiniert«, sagte Glystra. »Wirklich erstaunlich.« »Unser Seil ist unübertroffen«, erklärte der Offizier mit unverhohlenem Stolz. »Dehnbar, wetterfest, stark. Wir liefern die Seile für die Monobahnen von Felissima, Bogover, Thelme, für die lange Bahn nach Grosgarth in Beaujolais und für die Bahn zum Brunnen am Myrtensee.« »Hm ... und was ist eigentlich eine Monobahn?« Der Offizier lachte. »Das sollte wohl ein Scherz sein. Kommt, ich werde euch zu Wittelhatch bringen, und er wird euch sicher an seinem abendlichen Gelage teilnehmen lassen. Wenn ich es richtig gehört ha-
be, dann brät ein exzellenter Meeraal in seinem Herd.« »Aber was wird aus unserem Gepäck? Und die Zipangoten, sie haben noch nichts zu Fressen bekommen; im Sumpf gibt es keine Nahrung für sie!« Der Offizier gestikulierte; vier Männer traten vor. »Füttert die Tiere gut, behandelt ihre Wunden, wascht sie und verbindet ihre Füße.« Er wandte sich an Glystra. »Euer Gepäck ist in sicheren Händen; die Sumpfinsel kennt keine Diebe. Wir sind Händler und Seilhersteller, aber keine Räuber.« Wittelhatch war ein dicklicher Mann mit einem runden, geröteten Gesicht. Er trug erlesene Kleider aus den teuersten Stoffen. An jedem seiner Ohren hing ein goldener Ring, und seine Finger waren ausnahmslos mit Ringen aus den verschiedensten Metallen bestückt. Er saß in einem thronartigen Sessel, in dem er sich offenbar eben erst niedergelassen hatte, denn er mühte sich noch immer darum, daß die Falten seiner Kleidung richtig zu liegen kamen. Der Offizier verneigte sich ehrerbietig und wies auf Claude Glystra. »Ein Reisender aus dem Westen, mein Lord.« »Aus dem Westen?« Die Augen des Lords verengten sich, und er strich sich gedankenvoll über sein Doppelkinn. »Wie mir gesagt wurde, ist das Kabel der Seilbahn abgeschnitten worden, die über den
Fluß führte. Man wird es wieder befestigen müssen. Wie habt ihr dann eigentlich den Fluß überquert?« Glystra erklärte den Schwindel mit den Griamobots. Wittelhatch gab seiner Wut über die Magicker mit schrillen Tönen Ausdruck. »Diese alten Halunken – wenn ich an all die Geschäfte denke, die ich ihnen aus Mitgefühl vermittelt habe! Fast könnte es eine ehrliche Gemeinschaft entmutigen, wenn sie sich in der Nähe einer solchen Bande von Betrügern befindet!« »Unser Wunsch ist es, so bald wie möglich unseren Weg fortzusetzen«, erklärte Glystra, ohne seine Ungeduld deutlich werden zu lassen. »Ihr Offizier hat uns vorgeschlagen, daß wir die Monobahn benützen.« Wittelhatch wurde augenblicklich geschäftsmäßig. »Wie groß ist eure Gruppe?« »Wir sind acht Personen, und dazu kommt das Gepäck.« Wittelhatch wandte sich an den Offizier. »Was schlagen Sie vor, Osrik? Fünf einfache Gondeln und eine für das Gepäck?« Der Offizier überlegte. »Sie haben eine Menge Gepäck. Besser wären vielleicht zwei Gepäckgondeln und zwei einfache. Und einen Führer, da sie die Monobahn nicht kennen.« »Welches ist euer Ziel?« erkundigte sich Wittelhatch.
»Soweit östlich wie möglich.« »Das ist der Myrtensee ... Nun ja, es macht mir wenig aus, meine Gondeln auf eine so weite Reise zu schicken; ihr müßt ordentlich dafür bezahlen. Wenn ihr die Gondeln kaufen wollt – neunzig Unzen gutes Eisen. Wollt ihr sie aber leihweise haben – sechzig Unzen, dazu kommt das Honorar für den Führer und eine angemessene Gebühr für das Zurückholen der Gondeln – sagen wir, weitere zehn Unzen.« Glystra feilschte, bis die Leihgebühr nur noch fünfzig Unzen zuzüglich der Zipangoten betrug, und Wittelhatch sich außerdem zur Bezahlung des Führers bereiterklärte. »Osrik, würden Sie es vielleicht übernehmen wollen, diese Gruppe zu führen?« Osrik zwirbelte an seinem blonden Schnauzer herum. »Es wird mir ein Vergnügen sein.« »Gut«, sagte Glystra. »Wir brechen sofort auf.« Der Wind blies in die Segel, und die Räder der Gondeln bewegten sich flüsternd am Kabel der Monobahn entlang – einem auf der Sumpfinsel hergestellten Seil, das einen Durchmesser von etwa anderthalb Zentimetern hatte. Von der Sumpfstadt aus führte die Bahn von Stützpfeiler zu Stützpfeiler über drei Meilen Sumpfgelände auf ein zerklüftetes Vorgebirge zu; das Kabel hing nur knapp zwei Meter über dem Basaltgestein und schwang dann in einer weiten Kurve
in südöstlicher Richtung. In Abständen von etwa fünfzehn Metern wurde das Kabel von L-förmigen Winkelstützen getragen, die auf die Pfeiler montiert waren. Sie waren so konstruiert, daß in den Gondeln das Passieren der Stützen kaum zu spüren war. Osrik reiste in der ersten Gondel, Glystra folgte als nächster, und dann kamen die beiden dreirädrigen Frachtgondeln, die schwer beladen waren mit Nahrungsmitteln, Kleidung, dem Metall, das ihren ganzen Reichtum darstellte, Bishopfs Vitaminpräparaten, Faynes Campingausrüstung und allen möglichen Dingen aus dem Gepäck der Soldaten von Beaujolais. In der ersten Frachtgondel befanden sich Elton, Motta und Wailie, in der zweiten Nancy, Pianza und Bishop. Fayne bildete mit einer Ein-Mann-Gondel den Schluß der Reisegesellschaft. Während er sein eigenes Gefährt näher untersuchte, begann Claude Glystra zu verstehen, warum Wittelhatch es so offensichtlich schwerfiel, sich auch nur vorübergehend von den Gondeln zu trennen. Das Holz war so präzise bearbeitet und zusammengefügt worden, daß das Gefährt mit jeder aus Metall hergestellten Maschine zu vergleichen war, die man in einem Laden auf der Erde kaufen konnte. Das große Rad war aus zehn verschiedenen Holzstreifen zusammengefügt, geleimt, genutet und abgeschliffen. Speichen aus gehärteten Weidenruten stüt-
zen die Nabe im Mittelpunkt, deren Lager aus einem öligen, dunklen Hartholz gearbeitet waren. Angetrieben wurden die Gondeln durch Segel, die vom Sitz der Gondel aus gehandhabt werden konnten. Außerdem befand sich noch eine doppelte Handkurbel in Reichweite, deren Handgriffe wie die Pedale eines Fahrrads entgegengesetzt angebracht waren; mit Hilfe dieser Kurbel konnte bei leichten Steigungen nachgeholfen werden, wenn der Schwung und der Andruck der Segel nicht mehr ausreichten. Gegen Mittag veränderte sich die Landschaft unter ihnen. Hügel und Berge machten immer wieder ein »Umsteigen« notwendig, wobei sie die Gondeln und das ganze Gepäck zu einem höhergelegenen neuen Streckenbeginn transportieren mußten. Die Nacht verbrachten sie in einer leerstehenden Hütte nahe einer der Umsteigestellen, und am nächsten Morgen setzten sie ihren Weg quer durch die Berge fort – nach Osrik war es die Bergkette von Wicksill. Das Kabel schwang sich über Täler hinweg, von Gipfel zu Gipfel, und manchmal befanden sie sich mehr als fünfhundert Meter über dem Erdboden. Das Kabel hing über einem solchen Tal natürlich durch, und so rasten die Gondeln zunächst abwärts, fast wie im freien Fall; zur Mitte hin nahm die Geschwindigkeit ab, und der Schwung trug die Gondeln noch weiter, bis sie verlangsamten und fast zu einem
Stillstand kamen. Zu diesem Zeitpunkt mußten die Segel voll genutzt werden und die Handkurbeln betätigt werden, und so gelang es allmählich, die Gondeln bis zum höchsten Punkt zu bewegen, von dem aus das Spiel von neuem beginnen konnte. Am Abend des dritten Tages erklärte Osrik: »Morgen zu dieser Zeit werden wir in Kirstendale sein, und ihr solltet euch durch nichts überraschen lassen, was ihr seht.« Glystra wollte mehr darüber in Erfahrung bringen, aber Osrik gab außer einigen ironischen Andeutungen nicht viel von sich. »Ihr werdet es schon selbst sehen. Vielleicht werdet ihr sogar eure phantastische Reise aufgeben und euch in Kirstendale niederlassen.« »Sind die Leute etwa unfreundlich?« »Nicht im geringsten.« »Wer herrscht über sie? Was für eine Art von Regierung haben sie?« Osrik hob gedankenvoll die Augenbrauen. »Ich habe niemals etwas von einem Herrscher in Kristendale gehört. Ich glaube, man könnte sagen, daß sie sich selbst regieren.« »Wieviele Tage sind es von Kirstendale zum Brunnen am Myrtensee?« »Ich habe diese Strecke noch nie bereist. Es soll nicht sehr angenehm sein. Zu gewissen Zeiten kom-
men die Rebbirs aus den Eyriebergen herab, um die Reisenden der Monobahn zu berauben, obwohl die Dongmänner vom Myrtensee von den Rebbirs abstammen und diesen Verbindungsweg aufrechtzuerhalten versuchen.« »Was liegt jenseits des Brunnens am Myrtensee?« Osrik machte eine verachtungsvolle Geste. »Die Wüste. Das Land der feuerfressenden Derwische und der Vampire, wie ich gehört habe.« »Und danach?« »Dann kommen die Berge von Palo Malo Se und der Blarengorran-See. Vom See aus verläuft der Fluß Monchevior in Richtung Osten, und ihr könntet eine beträchtliche Entfernung mit einem der Flußboote zurücklegen – ich kann aber nicht sagen, wie weit, da mir der weitere Verlauf des Flusses nicht bekannt ist.« Glystra stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn der Fluß Monchevior sie aus dem Gesichtskreis von Osrik tragen würde, dann blieben immer noch neununddreißigtausend Meilen bis zur Erdenklave. Während der Nacht brach ein Regensturm los, und es gab kein Entkommen vor dem peitschenden Wind. Die Reisenden kämpfen sich in den Windschatten eines Felsblockes und hüllten sich in ihre Decken ein, während die Unwetterfront in Richtung Norden trieb.
Durchnäßt und frierend sahen sie eine graue Dämmerung heraufkommen; eine Zeitlang hörte der Regen auf, obwohl die Wolken dicht über sie hinwegtrieben. Sie bestiegen ihre Gondeln und setzten nur handtuchgroße Segel; dennoch rasten sie mit surrenden Rädern das Kabel entlang. Zwei Stunden lang führte die Bahn an einem Gebirgskamm entlang. Der Wind ließ nicht nach, und das unter ihnen befindliche Buschwerk wurde hinund hergepeitscht. Zur Linken lag ein dunkles Tal, von grauen Nebeln erfüllt; nach rechts verhinderten die Wolken den Ausblick, aber als sie sich hoben, wurde eine abwechslungsreiche Landschaft sichtbar – Berge, Wälder, kleine Seen, und ein paarmal erspähten sie größere, aus Stein erbaute Burgen. Osrik sah zu Glystra zurück, wies mit seiner Hand auf die Landschaft zur Rechten. »Das Tal von Galatudanian, und unterhalb davon das Hibernianische Marschland. Ein Land der Grafen, Herzöge, Ritter und Barone, die sich gegenseitig berauben ... ein gefährliches Land, wenn man zu Fuß unterwegs ist.« Der Wind nahm wieder zu. Weit zur Seite hängend, rasten die Gondeln mit gut hundert Stundenkilometern in südöstlicher Richtung, und sie wären noch schneller geworden, wenn Osrik nicht ständig Luft aus seinen Segeln abgelassen hätte. Eine Stunde lang rollten sie an dem Kabel entlang,
hin- und herschwingend, immer wieder von kleinen Windböen erfaßt; dann erhob sich Osrik von seinem Sitz und bedeutete den anderen, die Segel einzuholen. Die Gondeln rollten auf eine Plattform, von der aus ein Kabel im rechten Winkel zu ihrem bisherigen Kurs in das Tal hinabführte. Der Zielpunkt war nicht zu sehen; sichtbar war der steil abwärts geschwungene Verlauf des Kabels. Nancy spähte hinab und wandte sich erschrocken zurück. Osrik lachte. »Abwärts ist es am einfachsten. Auf dem Rückweg muß man zwei beschwerliche Tage in Kauf nehmen, um mit dem gesamten Gepäck und den Gondeln bis nach hier oben zu gelangen – zu Fuß.« »Sollen wir etwa an diesem Kabel hinabgleiten?« fragte Nancy tonlos. Osrik nickte. »Wir werden in den Tod rasen; es ist so – steil!« »Der Wind drückt dagegen, bremst den Fall der Gondeln. Es ist nichts dabei. Folgt mir ...« Er stieß seine Gondel ab, und einen Augenblick später war da nur noch ein ferner, dahinschwindender Umriß, hin- und hergerissen im Wind. Claude Glystra richtete sich auf. »Ich glaube, ich bin als nächster dran ...«
Es war wie ein Schritt ins Nichts, als würde man mit dem Kopf voraus von einem Felsenvorsprung springen ... Die erste Meile legte er in fast völlig freiem Fall zurück. Der Wind rüttelte an der Gondel, Wolkenfetzen fegten vorbei, und die Landschaft unterhalb war nur ein verschwommenes Durcheinander. Das Rad über ihm sang in den höchsten Tönen, obwohl es fast kein Gewicht trug. Das weiße Seil führte steil abwärts ins Ungewisse. Glystra wurde sich dessen bewußt, daß das Singen des Rades allmählich an Tonhöhe verlor; das Seil kurvte allmählich aus, und der Boden unter ihm kam näher. Er rollte über einen grün-gelben Wald hinweg, und unterhalb erspähte er eine Siedlung aus Blockhütten, zwischen denen Kinder in weißen Hemden herumsprangen und zu ihm hochsahen ... Dann waren sie weg, und vor sich sah er eine Plattform, die im Gipfel eines gigantischen Baumes hing. Osrik hatte diese Plattform bereits erreicht und wartete auf ihn. Glystra zog sich mit steifen Gliedern auf die Plattform. Osrik sah ihm lächelnd zu. »Wie war der Flug?« »Ich würde am liebsten drei volle Wochen lang mit einer solchen Geschwindigkeit reisen. Dann wären wir in der Erdenklave.«
Das Seil begann zu vibrieren und zu singen. Glystra sah zurück und sah die Frachtgondel mit Sa Elton, Motta und Wailie auf sich zukommen. »Wir sollten uns wieder auf den Weg machen«, sagte Osrik. »Die Plattform wird sonst noch überfüllt.« Die Bahn führte von Baumspitze zu Baumspitze weiter, und manchmal streifte schwarz-grünes Blattwerk Glystras Füße ... Osrik hatte sein Segel eingezogen, winkte ihm heftig zu. »Was ist los?« Osrik bedeutete ihm, sich ruhig zu halten. Er wies nach vorn. Glystra ließ seine Gondel langsam weitergleiten, bis er Osrik erreicht hatte. »Stimmt etwas nicht?« Osrik spähte durch einen Spalt im Blattwerk hindurch auf einen bestimmten Punkt auf dem Boden unterhalb. »Dies ist ein gefährlicher Teil der Ban... Banden von Soldaten, hungernde Waldbewohner, Räuber ... Manchmal lauern sie darauf, daß sich eine Gondel ziemlich hoch über dem Boden befindet, schneiden das Seil durch und töten dadurch den Reisenden ...« Glystra sah durch die Blätter hindurch Bewegung, ein Sichverschieben von Weiß und Grau. Osrik kletterte von seiner Gondel aus in das Geäst des Baums und ließ sich vorsichtig etwa einen Meter weit hinab.
Glystra beobachtete ihn schweigend. Das vibrierende Seil verriet ihm, daß sich die nächste Gondel näherte. Er gab das Signal zum Anhalten. Osrik machte eine Geste. Glystra verließ seine Gondel und kletterte zu der Astgabelung hinab, auf der Osrik stand. Durch eine Lücke im Blattwerk konnte er bis auf den Waldboden hinabsehen. Er sah drei Jugendliche, die in geduckter Haltung hinter einem orangefarbenen Gebüsch lauerten. Sie hielten Pfeile und Bogen bereit, und sie starrten zum Seil der Monobahn hinauf, wie eine Katze ein Mausloch beäugte. »Hier bekommen sie ihr erstes Training«, wisperte Osrik. »Wenn sie älter sind, werden sie die Dörfer des Marschlandes und des galatudanianischen Tals überfallen und plündern.« Mit ruhiger Hand legte er einen Pfeil in seine Armbrust ein. »Was hast du vor?« »Ich werde den Größten von ihnen umbringen ... und damit vielen unschuldigen Menschen das Leben retten.« Glystra riß seinen Arm hoch; der Pfeil traf nur einen Zweig über den potentiellen Attentätern. Glystra sah ihre weißen Gesichter; dann waren sie weg, rasten wie Kaninchen im Zickzack davon. »Warum hast du das getan?« fragte Osrik aufgebracht. »Die gleichen Kerle werden mich auf dem Rückweg zur Sumpfstadt vielleicht umbringen.«
Glystra fand zunächst keine Worte. Dann murmelte er: »Tut mir leid ... ich glaube, du hast recht. Aber wenn dies die Erde wäre, dann wären diese Burschen noch auf der Schule.« Die Monobahn führte aus dem Wald heraus und abwärts, dehnte sich über ein Flußtal, über einen schnellfließenden Fluß hinweg, den Osrik Thelma nannte. Am entgegengesetzten Ufer wartete eine 15Meter-Umsteigetour auf sie, und dann setzten sie ihren Weg fort durch ein Land friedlicher Farmen und aus Stein erbauter Häusern, an denen nichts weiter auffiel, als die Tatsache, daß sich auf dem Giebel eines jeden Hauses ein verwirrendes Durcheinander von dornenbewehrten Zweigen und Blättern befand. Glystra rief Osrik zu: »Was soll denn dieses dornige Zeug überall?« »Es sind Geisterfänger!« rief Osrik zurück. »In diesem Teil des Landes wimmelt es nur so von Geistern; auf jedes Haus kommt ein Geist, manchmal sogar mehr; und da sie sich in schnellen Sprüngen fortbewegen und immer auf einem Dach landen, auf dem sie sich vor und zurück bewegen können, sind diese Fallen aufgestellt worden, die sie fernhalten sollten ...« Die Monobahn verlief parallel zu einem bescheidenen Feldweg; und dreimal passierten sie große rote Farmkarren mit hölzernen Rädern von fast zwei Me-
tern Durchmesser, die lautstark quietschten und ächzten. Sie waren mit einer reichen Ernte an verschiedenen Früchten beladen. Die Kerle, die barfuß daneben hergingen und die Zipangoten führten, trugen große, spitz zulaufende Hüte mit Schleiern aus weißem Leinen vor dem Gesicht. »Um die Geister zu täuschen?« erkundigte sich Glystra bei Osrik. »Um die Geister zu täuschen.« Der Nachmittag verging; das Land färbte sich allmählich grün, und der Boden brachte vielerlei ansehnliche Gewächse hervor. Das Farmland schien in eine große Parkfläche überzugehen. Osrik wies in die Ferne. »Wir nähern uns Kirstendale, der schönsten Stadt des galatudanianischen Tals ...«
11 Zunächst war nur wenig von Kirstendale zu sehen: weiße Schemen zwischen den Bäumen, steinerne Mauern. Die Gondeln glitten über einem Weideland mit rot-grünen Gräsern dahin; und endlich gaben die Bäume den Blick frei auf die Stadt, die sich vor dem Hintergrund blauer Berge aus einer grünen Ebene erhob. Es war die größte und beeindruckendste Siedlung, die die Männer von der Erde auf dem Großen Planeten zu sehen bekamen, aber sie war mit nichts auf der Erde zu vergleichen. Sie erinnerte Glystra an die wolkengeborenen Schlösser in Märchenbuchillustrationen. Die Monobahn nahm eine plötzliche Wendung, und sie schwebten in eine Szene fröhlicher Aktivitäten und karnevalesker Farben hinein. Ein Spiel war im Gange. Fünfzig Männer und Frauen in elegantester Kleidung hatten sich auf dem Feld aufgestellt. Das Feld war in Quadrate unterteilt durch Linien verschiedenfarbigen Grases, das mit großer Sorgfalt geschnitten und gepflegt war. Jeder Spieler hatte eines dieser Quadrate besetzt. Von Ballons, die mit Schnüren am Boden festgemacht waren, hingen Seidenbanner herab, und jedes dieser Banner leuchtete in einer anderen Farbe: seegrün, blau, pfir-
sichfarben, orange. Eine Unzahl von kleinen farbigen Bällen flogen hin und her. Die Bälle schienen so leicht zu sein, daß sie mühelos durch die Luft schwebten. Das Auffangen der Bälle schien nach bestimmten Regeln zu erfolgen, die von der Farbe des Balles, des Feldes und des Kopfbandes des jeweiligen Spielers abhingen. Es wimmelte nur so von Bällen über dem Spielfeld. Gelegentlich fing ein Spieler mehrere Bälle gleichzeitig auf und gab sie geschickt weiter. Traf ein Ball eines der Banner, so brachen die Zuschauer in lautstarken Jubel aus. Es waren einige hundert Personen, die dem Spiel zusahen; und ein jeder von ihnen trug eine extravagante Garderobe, auf deren Zusammenstellung offenbar größte Fantasie verwandt worden war. Die Monobahn umlief das Feld. Spieler und Zuschauer sahen nur kurz auf und wandten sich wieder ihrem Spiel zu. Glystra erspähte einen Diener, der einen kleinen Wagen mit Süßigkeiten vor sich herschob. Der Diener trug einen klassischen Frack. Glystras Gondel glitt langsam am Kabel entlang. Die Frachtgondel mit Pianza und Bishop folgte dicht dahinter. »Steve!« rief Glystra nach hinten. »Was steht in deinem Almanach über Kirstendale?« »Ich bringe es nicht mehr ganz zusammen. Es gibt da also einen Begriff, das Paradoxon von Kirstendale.
Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein. Die Stadt wurde von einem Syndikat von Millionären begründet, die zum Großen Planeten auswanderten, um den Steuersätzen der Erde zu entgehen. Ursprünglich waren es zwanzig oder dreißig Familien, die sich mitsamt ihrer Dienerschaft hier ansiedelten. Nun – das hier scheint das Ergebnis davon zu sein.« Die Gondeln folgten einer weiteren Biegung und glitten unter einem Torbogen hindurch in die Stadt hinein. Am Endpunkt der Bahn wurden sie von drei schweigsamen, livrierten Dienern empfangen, die ihr Gepäck übernahmen und auf mehrere hochrädrige Karren luden. »Was soll das?« wandte sich Glystra an Osrik. »Sie gehen davon aus, daß wir reich sind.« »Dann wollen sie womöglich auch noch Trinkgeld haben?« »Sie hätten sicher nichts dagegen.« Der Chefdiener trat auf sie zu. Er trug einen sorgfältig gepflegten Backenbart und die seiner Stellung entsprechende gewichtige Miene. Glystra gab ihm drei kleine Eisenmuttern. »Für Sie und Ihre Leute.« »Ich danke Ihnen sehr. Wohin darf ich Ihr Gepäck senden lassen?« »Was können Sie uns empfehlen?« »Da gibt es zunächst das Grand Savoyard, das Ho-
tel Metropol und das Ritz-Carlton – alle in der gleichen Preislage, alle sehr zu empfehlen.« »In welcher Preislage?« »Eine Unze pro Woche. Das Traveller's Inn und das Fairmont sind gleich teuer, aber ruhiger.« »Können Sie mir eine gute Unterkunft in mäßiger Preislage nennen?« »Ich empfehle den Hunt Club. Wenn Sie bitte die Kutsche benutzen wollen, Sir ...« Er führte sie zu einer Kutsche, die reichlich mit Gold verziert war. Es waren jedoch keine Tiere davorgespannt, und es waren auch weit und breit keine Zipangoten zu sehen. Zögernd nahmen sie in der Kutsche Platz. Der Chefdiener schloß die Tür und gab ein Zeichen. Vier Männer in engen schwarzen Uniformen erschienen. Jeder von ihnen nahm ein Zugseil über die Schulter, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Kirstendale war eine helle, saubere und geradezu glänzende Stadt. Überall erhoben sich Türme, an denen sich spiralenförmige Treppen hochrankten, die zum zwiebelförmigen Wohnteil auf der Turmspitze führten. Sie näherten sich einem merkwürdigen Rundbau in der Mitte der Stadt, einem schwerfälligen Gebäude, dem Reihen von großen Fenstern den Eindruck von Licht und Eleganz verliehen. Sie fuhren unter einer Überdachung aus bunten
Glasfenstern hindurch, in denen sich die Nachmittagssonne kaleidoskopartig spiegelte. Große Lettern an der Überdachung besagten: »Hotel Metropol«. Der Wagen setzte seinen Weg um das Gebäude herum fort und fuhr unter einer weiteren Überdachung hindurch, die diesmal mit dunkelrotem Satin und goldenen Quasten drapiert war. Ein Schild verriet, daß es sich um das Grand Savoyard handelte. Als nächstes kamen sie an einer fast klassisch anmutenden Pforte vorüber, die durch große, eingemeißelte Buchstaben als Pforte des »Ritz-Carlton« ausgewiesen wurde. Sie passierten die orientalisch wirkende Fassade des Traveller's Inn und erreichten endlich den Hunt Club. Ein Portier kam ihnen entgegen, öffnete den Schlag der Kutsche und eilte ihnen voraus, um die Eingangstür für sie aufzuhalten. Ein kurzer Korridor führte zum Empfangsraum. Glystra sah sich um und bemerkte, daß Flure aus verschiedenen Richtungen in diesem zentral gelegenen Empfangsraum wie die Speichen eines Rades zusammenliefen. Er tauschte einen Blick mit Pianza und grinste. »Hotel Metropol, Grand Savoyard, RitzCharlton, Traveller's Inn, Hunt Club – das ist alles ein und dasselbe, es sind nur verschiedene Eingänge ins gleiche Haus.« Osrik bedeutete Glystra, diese Erkenntnis nun für
sich zu behalten. »Leise. Für die Leute von Kirstendale ist das hier Wirklichkeit, sie nehmen es sehr ernst. Sie würden sich sehr verletzt fühlen, wenn sie so etwas zu hören bekommen.« »Aber ...« Osrik sprach leise und schnell. »Ich hätte es euch doch sagen sollen. Der Eingang, den man benützt, bestimmt den Rang, den man in der Gesellschaft von Kirstendale einnimmt. Geboten wird zwar das gleiche, aber es ist im allgemeinen vorteilhafter, durch das Metropol zu kommen.« Glystra nickte. »Jetzt verstehe ich. Wir werden in Zukunft aufpassen, daß wir es besser machen.« Der Portier führte sie durch die Halle hindurch zu einem halbrunden Empfang. Ein genau abgegrenzter Teil des Empfangstisches war mit den Farben des Hunt Club geschmückt. »Sie sind Mr. Claude Glystra vom Planeten Erde?« erkundigte sich der Empfangsangestellte. Glystra wandte sich erstaunt um. »Warum fragen Sie?« »Ich darf Ihnen ausrichten, daß Sir Walden Marchion Sie aufs herzlichste grüßen läßt und an Sie und Ihre Gesellschaft die Bitte richtet, während Ihres Aufenthaltes mit seiner Villa vorlieb zu nehmen. Er hat bereits eine Kutsche bereitstellen lassen für den Fall, daß Sie seine Einladung annehmen.«
Glystra wandte sich ungerührt an Osrik. »Wie kann dieser Sir Walden Marchion von unserer Ankunft erfahren haben?« »Der Chefdiener an der Monobahnstation hat sich nach unserer Herkunft erkundigt. Ich habe keinen Grund gesehen, sie zu verschweigen.« »Neuigkeiten scheinen sich hier ja schnell herumzusprechen. Was ist von dieser Einladung zu halten?« Osrik wandte sich an den Empfangsangestellten. »Können Sie uns bitte sagen, wer Sir Walden Marchion ist?« »Es ist einer der wohlhabendsten und bedeutendsten Männer von Kirstendale. Ein großzügiger Herr, an dessen Tafel sogar häufig Fleisch gereicht wird.« »Dann sehe ich keinen Grund, die Einladung abzulehnen«, wandte sich Osrik an Glystra. »Wir nehmen die Einladung an.« Der Empfangsangestellte nickte. »Ich bin überzeugt, daß Sie einen angenehmen Aufenthalt haben werden. Die Kutsche wartet auf Sie.« Sie verließen den Empfangsraum, wobei sie darauf achteten, daß sie auch wirklich den Ausgang des Hunt Club und keinen anderen benutzten, und stiegen draußen in die wartende Kutsche. »Ihr Gepäck wird Ihnen umgehend nachgesandt werden«, verabschiedete sich der Empfangsangestellte.
»Diese Leute hier sind wirklich sehr reizend und zuvorkommend«, erklärte Pianza. Fayne ließ sich mit einem tiefen Seufzer in die Polster fallen. »Ein feudalistisches System hat durchaus seine Annehmlichkeiten, jedenfalls solange man zu den Bedienten gehört.« »Ich frage mich«, setzt Glystra an, während er aus den Fenster blickte, »was es mit dieser Äußerung des Empfangsangestellten auf sich hat, daß bei Sir Walden häufig Fleisch gereicht wird.« »Das ist leicht zu erklären«, sagte Osrik. »Es gibt im ganzen galatudanianischen Tal kein Fleisch außer dem der Zipangoten, welches jedoch ungenießbar ist. Daran ist ein Insekt schuld, das alle Tiere außer den Zipangoten zum Aussterben gebracht hat. Die Leute hier ernähren sich daher nur von Gemüse und Früchten; nur selten und zu besonderen Anlässen wird aus Coelanvilli Fleisch eingeführt.« Die Kutsche, von fünf Bediensteten Sir Waldens gezogen, bewegte sich durch eine Art von Ladenstraße, deren bunte Auslagen von scheinbar großem Wohlstand zeugten. »Ich frage mich nur«, begann Fayne, »was ist das für eine Wirtschaft, die das alles hier möglich macht? Irgendwo müssen doch all diese Güter hergestellt werden. Aber wo? Und von wem? Von Sklaven?« »Das kann ich mir auch nicht recht vorstellen«,
meinte Glystra. »Sie müssen eine beträchtliche eigene Produktion haben. Sicher werden sie nicht von der Erde aus versorgt.« »Die Leute von Kirstendale haben ein Geheimnis«, stellte Pianza fest. »Was immer es auch sein mag«, bemerkte Fayne mit einer abschließenden Bewegung, »es scheint einem jeden zuzusagen. Alle sind glücklich hier.« »Alle, die wir zu sehen bekommen«, schränkte Elton ein.
12 Die Kutsche hielt an, und ein grünlivrierter Diener öffnete den Schlag. »Das Kastell von Sir Walden Marchion!« Sie verließen die Kutsche und gingen die Stufen hinauf, die spiralförmig zu Sir Waldens Wohnung führten. Als sie oben angelangt waren, stieß der Diener die breite Eingangstür auf und trat beiseite. Die Gäste Sir Waldens betraten das Luftschloß. Sie befanden sich in einem weiten Raum, dessen Boden nicht eben war, sondern sich zur Mitte hin senkte, wo ein kleiner Teich mit blauschimmerndem Wasser angelegt worden war. »Sie mögen es sich bequem machen«, erklärte der Diener. »Sir Walden ist nach hier unterwegs, um Sie zu begrüßen. Es stehen Erfrischungen zu Ihrer Verfügung.« Fünf Minuten später erschien Sir Walden – hochgewachsen, mit ernstem Blick, aber durchaus sympathisch. Er bat um Entschuldigung, da Geschäfte ihn abgehalten hätten, sie eher zu begrüßen. Sowie Glystra eine Gelegenheit dazu fand, wandte er sich verstohlen an Pianza und fragte flüsternd: »Haben wir den nicht schon einmal gesehen?« »Ich kann mich nicht daran erinnern«, gab Pianza mit einem Kopfschütteln zurück.
Zwei Jungen im Alter von vierzehn und sechzehn Jahren traten ein. »Meine Söhne Thane und Halmon«, stellte Sir Walden vor. Glystra ergriff das Wort. »Wir freuen uns aufrichtig über Ihre Gastfreundschaft, Sir Walden, aber darf ich mir die Frage gestatten, wie wir zu dieser Ehre kommen, da wir Ihnen doch völlig unbekannt sind?« Sir Walden wich mit einer graziösen Geste aus. »Aber ich bitte Sie. Wir werden gewiß noch genug Zeit haben, um uns eingehend zu unterhalten. Sie haben eine beschwerliche Reise hinter sich, und Sie werden sich erfrischen wollen.« Er klatschte in die Hände. Ein gutes Dutzend Bedienstete erschienen, Männer und Frauen. »Bäder für die Herrschaften, angereichert mit ... hm, mit Nigali neunundzwanzig ... ja, das wird das beste sein. Und dann bitte neue Kleider für unsere Gäste.« »Wir danken Ihnen«, erklärte Glystra. Sir Waldens Gastfreundschaft war ihm noch immer ein Rätsel. Er wurde in einen höhergelegenen Raum geführt. Ein junger Mann in schwarzer Livree nahm seine Kleider entgegen. »Durch diese Tür bitte, Lord Glystra.« Er trat in einen kleinen Raum mit perlmuttbesetzten Wänden. Wasser stieg langsam höher, bis zu seinen Knien, zur Hüfte und zur Brust. Schaum und Sei-
fenblasen bildeten sich auf der Wasseroberfläche. Glystra dehnte und reckte sich, und ein Gefühl von Entspannung überkam ihn. Der Wasserspiegel sank schnell wieder ab, und warme Luft hüllte seinen Körper ein. Er öffnete die Tür. Anstelle des livrierten Dieners erwartete ihn jetzt ein Mädchen, das ihm mit ausgestreckten Armen ein Handtuch entgegenhielt. »Ich bin Ihre Kammerdienerin. Wenn Sie es allerdings wünschen sollten, werde ich das Zimmer verlassen.« Sie machte kehrt und kam mit einer Kollektion der landesüblichen Kleidung zurück. Glystra mußte sich von ihr helfen lassen, um sich in die vollkommen ungewohnten Kleidungsstücke hineinzuzwängen. Schließlich trat sie ein paar Schritte zurück und erklärte: »Jetzt ist mein Lord ein Lord unter seinesgleichen.« Glystra kam sich eher lächerlich vor. Er trug Kleidung aus grünem und blauem Satin und ein schwarzes Barett als Kopfbedeckung. Er begab sich in die Empfangshalle hinab, in der ein Tisch hergerichtet worden war – mit Gedecken für vierzehn Personen. Das Geschirr war aus dünnem, geschliffenem Marmor; das Besteck war aus einem harten Holz geschnitzt.
Einer nach dem anderen erschien. Die Männer von der Erde kamen sich offenbar alle etwas komisch vor, während sich die Mädchen in ihrem neuen Glanz durchaus wohlzufühlen schienen. Nancy betrat den Raum, ohne Glystra auch nur eines Blickes zu würdigen. Sir Walden erschien in Begleitung einer hochgewachsenen Dame, die er als seine Frau vorstellte. Mit ihnen traten seine beiden Söhne und eine Tochter ein. Das Essen war ein wirklicher Genuß, und ein Gang folgte dem anderen. Es waren Leckerbissen einer fremdartigen Geschmacksrichtung, aber sie mundeten durchwegs gut und waren appetitlich serviert. Obwohl es vegetarisch war, war es erstaunlich vielseitig auch im Geschmack. Feine Liköre rundeten die Mahlzeit ab, und allmählich kam das Gespräch in Gang. »Sir, Sie haben uns immer noch nicht gesagt, warum Ihr Interesse an uns so groß ist, da wir doch nur zufällig durchreisen.« »Aber das liegt doch auf der Hand«, meinte Sir Walden lächelnd. »Sie kommen von der Erde. Seit fünfzig Jahren ist kein Erdenbewohner mehr durch Kirstendale gekommen. Ihre Anwesenheit in meinem Haus ist mir nicht nur eine angenehme Abwechslung, sondern trägt auch zu meinem Einfluß in der Stadt bei. Wie Sie sehen, bin ich ganz offen zu Ihnen, obwohl das vielleicht zu meinem Nachteil sein könnte.«
»Ich verstehe«, sagte Glystra. »Ich war mit meiner Einladung besonders schnell«, fuhr Sir Walden fort. »Zweifellos hätten Sie innerhalb von einer Stunde noch eine ganze Anzahl weiterer Einladungen bekommen. Aber ich habe eben die besten Verbindungen zur Dienerschaft an der Monobahnstation. Vielleicht erklärt sich dadurch manches.« Der Abend ging langsam dahin. Glystra zog sich frühzeitig auf sein Zimmer zurück – mit einem schweren Kopf, was offenbar von den unbekannten Weinen herrührte. Am nächsten Morgen half Glystra ein hagerer junger Mann beim Ankleiden, der seiner Tätigkeit ziemlich schweigsam nachging. In der Halle traf er wieder die anderen, nur Nancy und Fayne fehlten noch. Kurz darauf kam Nancy, und sie erschien Glystra schöner als je zuvor. Zugleich wirkte sie in einem gewissen Maße kühl und unnahbar. »Wo ist Roger?« fragte Pianza. »Ob der heute überhaupt nicht aufstehen will?« Er wandte sich an einen Diener. »Würden Sie bitte Mr. Fayne wecken?« Der Diener kam zurück. »Mr. Fayne hält sich nicht in seinem Zimmer auf.« Sie bekamen Fayne den ganzen Tag über nicht mehr zu Gesicht.
»Vielleicht hat er sich zu Fuß aufgemacht, die Stadt näher in Augenschein zu nehmen«, mutmaßte Sir Walden, und Glystra stimmte ihm wider Willen zu, da er keine andere Antwort zu geben wußte. Hatte Fayne sich aus eigenem Antrieb für ein paar Stunden abgesetzt, dann würden sie ihn bald wieder zu sehen bekommen. War er aber gezwungen worden, dann ließ sich im Augenblick nichts unternehmen. Am besten war es vielleicht, Kirstendale so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Wailie und Motta waren da anderer Ansicht. »Wir würden so gerne hierbleiben«, erklärte Wailie. »Hier sind alle froh und zufrieden; niemand schlägt seine Frau, und es gibt genug zu essen für alle.« »Es gibt zwar kein Fleisch hier«, ergänzte Motta, »aber ist das so wichtig? Dafür gibt es andere Dinge, zum Beispiel all die schönen Kleider, das parfümierte Wasser und –« Sie brach ab, sah Wailie an und kicherte. Dann sahen die Mädchen Elton und Bishop an, und sie kicherten beide. Steve Bishopf errötete und beschäftigte sich mit dem grünen Fruchtsaft, der vor ihm stand. Elton zog die Augenbrauen hoch. »Ich darf Ihnen eine angenehme Überraschung ankündigen«, vermeldete Sir Walden. »Heute abend wird Fleisch serviert werden – eine Mahlzeit, die Ihnen zu Ehren zubereitet wird.«
Lächelnd sah er sie nacheinander an, suchte in ihren Gesichtern nach der erwarteten Begeisterung. »Aber vielleicht bedeutet Ihnen das nicht soviel wie uns hier in Kirstendale. Im übrigen darf ich Ihnen noch eine Einladung von Lord Sir Clarence Attlewee übermitteln, der sich überglücklich schätzen würde, wenn er Sie bei einer Abendgesellschaft zu Ihren Ehren begrüßen dürfte. Er hofft auf Ihre Zusage.« »Ich danke Ihnen«, erklärte Glystra. »Ich freue mich über diese Einladung.« Er sah seine Begleiter an. »Und ich glaube, das schließt uns alle hier ein, auch Fayne, wenn er bis dahin wieder zurück sein sollte.«
13 Sie unternahmen einen ausgedehnten Nachmittagsspaziergang. Als sie wieder in Sir Waldens Kastell zurückkehrten, war Fayne noch immer nicht wieder aufgetaucht. Sir Walden selbst war noch aufmerksamer und zuvorkommender als zuvor. Er servierte das Fleisch selbst. Es waren Scheiben eines sehr hellen Bratens in brauner Soße. Glystra, der bereits von den anderen Gängen reichlich zu sich genommen hatte, aß davon nur, um dem Gastgeber gegenüber nicht unhöflich zu sein. »Von was für einem Tier stammt dieses Fleisch eigentlich?« Sir Walden wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Ein großes Tier, das auch in der ganzen Umgegend selten vorkommt. Es scheint vereinzelt vom Norden her einzuwandern; wir konnten das Fleisch nur durch einen großen Glückszufall bekommen.« »Es schmeckt wirklich ausgezeichnet.« Glystra sah sich in der Runde um und stellte fest, daß sich die anderen mit großem Appetit über das Essen hergemacht hatten. Der Nachtisch wurde serviert. »Ich glaube, wir werden Kirstendale morgen wieder verlassen«, sagte Glystra.
»So früh schon?« »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, und die Monobahn kann uns nur noch ein verhältnismäßig kleines Stück weiterbringen.« »Aber Ihr Freund Fayne? Was wird aus ihm?« »Er wird uns leichthin einholen können, wenn er wieder auftaucht.« »Wir werden hier in Hinsicht auf die schwere Reise, die uns bevorsteht, zu sehr verwöhnt«, erklärte Pianza. »Noch eine Woche, und ich könnte mich vielleicht schon nicht mehr zur Weiterreise aufraffen.« Sir Walden erklärte sein Bedauern. »Ich habe Sie gewissermaßen aus Neugier eingeladen. Inzwischen betrachte ich Sie aber als Freunde.« Eine Kutsche fuhr vor, um sie zur Abendgesellschaft bei Sir Attlewee abzuholen. Sir Walden blieb zurück. »Wollen Sie uns nicht begleiten?« »Bedaure sehr, meine Herrschaften, aber ich bin heute abend anderweitig verpflichtet.« Glystra ließ sich in die Polster sinken. Er fühlte nach seiner Seite, aber dann fiel ihm ein, daß er die Waffe in seinem Zimmer gelassen hatte. »Wir sollten heute abend nicht zuviel trinken«, flüsterte er Elton zu. »Ich weiß nicht, warum, aber ich habe so ein komisches Gefühl. Es ist vielleicht besser, wenn wir klare Köpfe behalten.«
»In Ordnung.« Die Kutsche hielt, und sie wurden eine Spiraltreppe hinaufgeführt. Auf der obersten Treppenstufe erwartete sie Sir Clarence. Glystra starrte ihn an. Er war sich dessen sicher, daß er Sir Clarence schon einmal gesehen hatte. »Entschuldigen Sie, aber sind wir nicht schon einmal zusammengetroffen, Sir Clarence? Vielleicht heute nachmittag, während unseres Spaziergangs?« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Sir Clarence bestimmt. »Ich war anderweitig beschäftigt.« Er führte sie ins Haus hinein. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine Frau vorstelle. Und das ist Valery, meine Tochter.« Glystra brachte vor Erstaunen den Mund nicht mehr zu. Es war das Mädchen, das seine Kammerdienerin gespielt hatte. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, brachte er schließlich hervor. Bishop wandte sich ihm unauffällig zu. »Das ist merkwürdig ...« »Was?« »Ich bin sicher, daß ich diesen Sir Clarence schon einmal gesehen habe.« »Ich ebenfalls.« Steve Bishop schnippte mit den Fingern. »Ja, ich hab's.« »Wer ist es?«
»Sir Clarence ist oder war der Eingangsportier des Hunt Club.« Glystra starrte erst Bishop und dann Sir Clarence an, der sich gerade mit Nancy unterhielt. Bishop hatte recht. Hinter sich vernahm er ein lautes Auflachen. »Seht euch das mal an!« Es war Elton, und er gehörte zu den Leuten, die selten genug lachten. Glystra wandte sich um und sah sich Roger Fayne gegenüber. Fayne trug eine schwarze Livree mit kleinen Goldpauletten an den Schultern. Er schob einen kleinen Wagen vor sich her. Glystra, Pianza und Bishopf brachen zusammen in lautes Gelächter aus. Faynes Gesicht überzog sich mit einer feinen Röte. Er warf Sir Clarence einen flehenden Blick zu, während dieser ungehalten herübersah. »Nun, Fayne«, sagte Glystra, »ich glaube doch, daß du uns eine Erklärung schuldig bist. Du hast dir offenbar während unseres Aufenthaltes hier eine kleine Nebenbeschäftigung gesucht?« »Wünschen Sie Erfrischungen, meine Herren?« fragte Fayne mit tonloser Stimme. »Keine Erfrischungen! Eine Erklärung wollen wir.« »Danke sehr, der Herr.« Er schob seinen Wagen weiter. Glystra ging hinter Fayne her, der offenbar den
Wagen aus dem Zimmer hinausrollen wollte. »Roger, du sagst mir jetzt endlich, was hier gespielt wird!« »Nicht so laut!« flüsterte Fayne. »Es ist ungehörig, einen solchen Auftritt zu inszenieren.« »Ich bin eben kein geborener Aristokrat.« »Aber ich bin es, und Sie verletzen meine Grundsätze.« Glystra mußte sich beherrschen, um nicht wieder in lautes Lachen auszubrechen. »Aristokrat? Grundsätze? Du bist doch bloß ein Schuhputzer, der einen Karren durch die Gegend schiebt!« »Hier ist jeder nicht mehr und nicht weniger«, gab Fayne zurück. »Jeder ist jedermanns Diener. Wie sonst sollten sie sonst den Schein aufrechterhalten?« »Aber ...« Glystra setzte sich. »Ich habe mich entschieden. Mir gefällt es hier. Und ich habe genug von deiner VierzigtausendKilometer-Reise, bei der doch keiner lebend ans Ziel kommt. Ich habe Sir Walden gefragt, ob ich bleiben könnte. Er hat zugesagt, mich aber darauf hingewiesen, daß ich wie jeder andere hier auch zu arbeiten hätte. Es gibt vermutlich nirgendwo arbeitsarmere Menschen als die Leute von Kirstendale. Sie wissen, was sie wollen, und dafür arbeiten sie. Für jede Stunde sorglosen Lebens als Aristokrat arbeiten sie zwei Stunden anderweitig – in Verkaufsläden, Fabriken oder zu Hause. Meist in allen drei Bereichen. Statt nur
ein Leben zu leben, leben sie drei. Es geht ihnen gut dabei, und sie lieben es. Ich liebe es ebenfalls. Und wenn du mich einen Snob nennst.« Und mit wütender Stimme setzte er hinzu: »Aber während ihr draußen im Dreck kampiert, lebe ich hier wie ein König!« »Das ist schon in Ordnung«, erklärte Glystra ruhig. »Oder sollte ich vielleicht Sir Roger sagen? Nur, warum hast du uns nichts von deinen Absichten erzählt?« »Ich habe befürchtet, es gäbe eine Auseinandersetzung mit dir.« »Aber ich bitte dich. Du bist ein freier Mensch.« Er wandte sich ab. »Ich wünsche dir alles Gute.« Damit kehrte er in die Halle zurück. Am nächsten Morgen holte sie eine Kutsche von Sir Waldens Kastell ab. Unter den Männern, die das Gefährt zogen, befand sich einer der Söhne von Sir Clarence. Wailie und Motta waren nicht zu sehen. Glystra wandte sich an Elton und Bishop. »Wo sind denn eure liebreizenden Dienerinnen?« Bishop zuckte mit den Schultern. »Sie wissen doch, daß wir jetzt abfahren wollen?« »Natürlich.« »Es ist besser, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen«, erklärte Elton grinsend. »Wir können mit Kirstendale nicht konkurrieren.« »Gehen wir«, sagte Bishop.
»Hier sind sie auf jeden Fall besser aufgehoben«, fügte Elton hinzu. An der Monobahnstation öffnete der Portier den Wagenschlag und kümmerte sich um ihr Gepäck. Claude Glystra gab seinen Begleitern ein Zeichen. Der Portier war niemand anders als Sir Walden. Mit unbewegter Miene überreichte Glystra ihrem vormaligen Gastgeber drei Eisenschrauben als Trinkgeld. Sir Walden Marchion verbeugte sich tief. »Ich danke Ihnen sehr, mein Herr.« Kirstendale verschwand im Westen. Osrik hatte wieder die Spitze inne, Glystra folgte in der zweiten Gondel. Dann kam eine Frachtgondel mit Nancy und Elton, den Schluß bildeten Bishop und Pianza. Glystra dachte an die vergangenen Wochen zurück. Ketch, Darrot und Vallusser waren tot. Fayne hatte sie verlassen. Wer würde der nächste sein? Ihre Fahrt ging zunächst an einem ruhig dahinfließenden Fluß entlang. Als der Fluß sich nach Norden wandte, während die Monobahn in östlicher Richtung weiterführte, breitete sich unvermittelt die trokkene Savanne unter ihnen aus. Am Abend des dritten Tages erreichten sie den Pellitante-See. Am späten Abend fuhren sie noch immer am Ufer entlang. Zu ihrer Rechten erstreckte sich der weite See. Am Horizont waren die Segel von einigen
Booten zu erkennen. Ihre Insassen, erklärte Osrik, setzten während ihres ganzen Lebens nie einen Fuß an Land und ernährten sich ausschließlich vom Fischfang. Es dämmerte bereits, als ihnen Gondeln aus der entgegengesetzten Richtung entgegenkamen, die mit einer größeren Gruppe von Händlern besetzt war. Osrik brachte seine Gondel zum Stehen und tauschte mit dem Sprecher der sich nähernden Gruppe Begrüßungen aus. Die Händler stammten aus Miramar in Coelanvilli, südlich von Kirstendale gelegen, und kehrten vom Myrtensee zurück. Sie waren in helle Leinenanzüge gekleidet, und rote Tücher um den Kopf verliehen ihnen ein piratenähnliches Aussehen. Osrik schien jedoch völlig unbesorgt zu sein, so daß auch Glystra seine Befürchtungen beiseiteschob. Die Kolonne bestand aus zehn Frachtgondeln, mit Kristallzucker beladen. Nach einem ungeschriebenen Gesetz mußten die Männer von der Erde, da sie in der Minderzahl waren, ihre Gondeln vom Kabel abhängen und der anderen Gruppe das Vorrecht lassen. Da es bereits dunkel wurde, entschied sich Glystra zum Lagern. Die Händler wollten ebenfalls nicht mehr weiterfahren. »Wir leben in schlechten Zeiten«, erklärte der Anführer der Händler. »Alles ist gegen die Händler. Es
ist gut, wenn sich viele ehrliche Hände zum gegenseitigen Schutze verbinden.«
14 Es war noch zu früh zum Schlafen. Die Händler gruppierten sich um ein Feuer herum und widmeten sich einem Spiel. Osrik schmierte, leise durch die Zähne pfeifend, die Lager der Wagen ab, und die anderen waren mit sich selbst beschäftigt. Glystra ging zum See hinab und sah dem Sonnenuntergang zu. Nancy folgte ihm. »Warum bist du hierhergegangen?« fragte sie. »Ach, ich bin gegangen und war dabei ganz in Gedanken versunken. Tut es dir leid, daß wir Kirstendale verlassen haben?« Ihre Antwort erstaunte ihn. »Natürlich nicht.« Und nach einer Weile setzte sie hinzu: »Du hast es vermieden, mir auch nur ein Wort zu schenken.« »Wie kommst du darauf?« Glystra hatte das unangenehme Gefühl, daß er in die Verteidigung getrieben wurde. »Vielleicht fandest du die Frauen von Kirstendale begehrenswerter als mich.« Eine Spur von Bitterkeit schwang in ihren Worten mit. »Aber ich habe doch mit kaum einer gesprochen«, lachte Glystra. »Wie haben dir denn die Männer in Kirstendale gefallen?« Sie näherte sich ihm. »Ich hätte niemals an einen
anderen als dich denken können. Wenn du nur wüßtest, wie mich die Eifersucht gequält hat.« Sie ließen sich auf einem Baumstamm nieder. Glystra mußte sich eingestehen, daß er doch ungemein erleichtert war. »Nach dem Myrtensee werden wir nicht mehr so leicht vorankommen.« »Ich weiß.« »Ich habe schon überlegt, ob wir nicht nach Kirstendale zurückgehen sollten, um ein Segelflugzeug zu bauen. Eines, das groß genug wäre, um uns alle zu befördern. Aber dann ist mir eingefallen, daß wir ja nicht unbegrenzt in der Luft bleiben können. Schließlich habe ich an Raketen gedacht.« Ihre Hände strichen über sein Gesicht. »Du machst dir zuviel Gedanken.« »Es gibt nur eines, was Erfolg haben könnte – ein Ballon. Unser Pech ist nur, daß die Hauptwindrichtung Südost ist, und das heißt, daß wir früher oder später nach der See hin abgetrieben würden.« Er seufzte. Nancy zog ihn hoch. »Komm, laß uns ein wenig am Strand entlanggehen.« Als sie schließlich wieder ins Lager zurückkehrten, waren die Händler gerade mit einer großen Flasche grünen Weines beschäftigt. Glystra und Nancy tranken jeweils einen kleinen Schluck.
Am nächsten Morgen erwachte Glystra mit einem üblen Geschmack im Mund. Das Lager war bereits von hellem Sonnenlicht überflutet. Warum hatte ihn die letzte Wache nicht geweckt? Er sah sich um. Die Händler waren weg ... Unter der Monobahn lag Pianza, das Gesicht nach unten. Die Gondeln waren ebenfalls weg. Vier Fahrzeuge, beladen mit Metall, Kleidung, Werkzeugen ... Und Eli Pianza war tot ... Sie begruben ihn schweigend. »Es hat keinen Zweck, uns etwas vorzumachen«, sagte Glystra schließlich. »Dies ist ein schwerer Schlag.« »Der Wein«, bemerkte Osrik verlegen. »Wir hätten nicht davon trinken sollen. Sie haben ihn offenbar mit einem Schlafmittel versehen. Man darf diesen Händlern nie trauen.« Glystra schüttelte benommen den Kopf und sah zu Pianzas Grab hinüber. Er war immer ein guter Freund gewesen. »Osrik, du brauchst uns nicht weiter zu begleiten. Die Wagen sind fort und mit ihnen auch unser Metall. Wenn du es bis nach Kirstendale schaffst, kannst du Faynes Wagen nehmen und damit zur Sumpfstadt zurückkehren.« Damit blieben nur noch Asa Elton, Steve Bishop,
Nancy und er selbst übrig. »Noch kann sich jeder von euch Osrik anschließen. Entbehrungen und vielleicht sogar der Tod liegen vor uns. Meine besten Wünsche begleiten jeden, der nach Kirstendale zurückkehren will.« Keiner von ihnen wollte. Osrik verabschiedete sich von ihnen. »Ich wünsche euch allen viel Glück. Hoffentlich erreicht ihr euer Ziel.« Glystra sah ihm nach, wie er sich durch die Bäume entfernte. »Also, machen wir eine Bestandsaufnahme. Was ist uns noch übriggeblieben?« »Die Gepäckbündel mit den Nahrungskonzentraten, meine Vitaminpillen, Decken, der Wasserzubereiter und vier Pistolen«, stellte Bishop fest. »Da haben wir wenigstens nicht viel zu tragen«, bemerkte Elton. Das Ufer zog sich noch vierzig Kilometer dahin. Am dritten Tag mußten sie einen Fluß überqueren, der in den See mündete. Sie schlugen zunächst ihr Lager am Fluß auf und bastelten am nächsten Morgen mit viel Mühe ein Floß zusammen. Als sie die Böschung am gegenüberliegenden Ufer erklommen hatten, sahen sie sich erst einmal um. Im Norden erstreckte sich der Eyrie, ein Gebirgswall, der von Norden nach Süden verlief. »Noch drei Tage bis dorthin«, schätzte Bishop.
»Zu Fuß sind wir jetzt vielleicht ebensogut dran wie mit der Monobahn«, bemerkte Elton. »Stellt euch die Mühe vor, dort hinaufzukommen.« Claude Glystra wandte sich um und blickte am Flußufer entlang in Richtung auf den See. Er sah noch einmal hin, blinzelte, wandte sich dann an die anderen. »Seht ihr auch, was ich sehe?« »Ich sehe ein rundes Dutzend Männer auf Zipangoten«, bestätigte Elton. »Die Händler haben eine Gruppe von Rebbirs erwähnt. Das könnten sie sein.« »Wie schön es wäre, auf den Tieren zu reiten«, seufzte Nancy, »statt durch den Sand zu laufen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Glystra. »Vor drei Monaten war ich noch ein zivilisiertes, menschliches Wesen«, sagte Bishopf gedankenvoll. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal als Pferdedieb enden würde.« Glystra grinste. »Du würdest dich weniger über dich wundern, wenn du dir vor Augen hieltest, daß die Rebbirs noch vor fünf- oder sechshundert Jahren zivilisierte Erdbewohner waren.« »Wie machen wir es also?« fragte Elton. »Gehen wir hin und bringen sie einfach um?« »Wir sollten es mit möglichst geringem Kraftaufwand erledigen«, gab Glystra zurück. »Wir haben nur noch geringe Reserven in unseren Pistolen.«
»Bei mir reicht es höchstens noch für ein oder zwei schwache Strahlschüsse«, bestätigte Elton. »Sie haben uns gesehen«, rief Nancy. »Sie kommen näher!« Die Rebbirs jagten in wilder Jagd über die Dünen hinweg auf sie zu. Es waren größere und schnellere Tiere als die, die sie in der Sumpfstadt eingetauscht hatten. »Sie sehen wie Dämonen aus!« stieß Nancy hervor. »Den Abhang hinauf!« wies Glystra die anderen an. »Wir müssen sie möglichst alle zugleich in Schußweite bekommen.« Die Rebbirs näherten sich mit wilden, gellenden Schreien. »Ich zähle insgesamt dreizehn«, sagte Glystra. »Bishop nimmt die vier zur Linken, Elton die vier zur Rechten, und ich werde mich um die in der Mitte kümmern.« Die Reiter näherten sich in vollem Galopp der Anhöhe, auf der die Männer von der Erde standen. Drei violette Strahlenbündel – und dreizehn Rebbirs hauchten ihr Leben aus. Sie suchten sich die vier kräftigsten Tiere aus und ließen die anderen frei. Die Schwerter der Rebbirs, Messer und anderes Metall verstauten sie unter den Sätteln. Sie legten schwarze Überwürfe und weiße Turbane an, und dann machte sich die kleine berittene Gruppe nach den fernen Bergen auf den Weg.
Nancy war von ihrer Verkleidung nicht gerade begeistert. »Die Rebbirs stinken wie die Ziegenböcke. Mein Turban ist ölig und fettig.« »Das läßt sich nicht ändern«, sagte Glystra. »Hauptsache, wir kommen auf diese Weise unbehelligt zum Myrtensee ...« Das Land vor ihnen stieg allmählich an, wurde zusehends steinig und öde. Nachdem sie vier Tage geritten waren, ragten die Grate in scheinbar greifbarer Nähe vor ihnen auf. Das Kabel der Monobahn schwang sich in einem schwindelerregenden Bogen in die Höhe. »So kommt man offenbar vom Myrtensee herunter«, bemerkte Glystra. »Erinnert ihr euch an die Fahrt ins GalatudanianTal?« Nancy folgte mit ihren Blicken dem Kabel, das in schwindelerregender Höhe verschwand. »Das sieht ja noch schlimmer aus!« Von einer Plattform der Monobahn aus führte ein schmaler Pfad im Zickzack in die Höhe. Da sich die Zipangoten eng an der Felswand entlangschieben mußten, mußten sich die Reiter im Damensitz auf dem Rücken der Tiere halten. Die Oberfläche des Großen Planeten fiel unter ihnen zurück und dehnte sich zu einem immer weiteren Panorama. Es ging immer weiter aufwärts. Der Wind trieb Wolkenfetzen gegen die Felswände; der schmale Pfad
war unvermittelt in milchigweiße Nebel gehüllt. Dann wieder blies der Wind von unten herauf heftig gegen die Gratspitzen. Kurz bevor sie den höchsten Punkt erreicht hatten, hielten sie an. Der Wind wehte sie fast über die letzte Anhöhe hinweg. Als sie den Grat überschritten hatten, erstreckte sich vor ihnen ein Hochplateau mit einer Ausdehnung von guten zwanzig Meilen. Es war ein steiniges Felsplateau, das dem Auge keinerlei Abwechslung bot, wenn man einmal von der in der Ferne verschwindenden Reihe von Stützpfeilern absah, die das Kabel der Monobahn trugen. »Nichts zu sehen«, sagte Glystra. »Also laßt uns –« »Dort!« Elton wies in Richtung Norden. Claude Glystra ließ sich in seinen Sattel zurücksinken. »Rebbirs!« Sie bewegten sich wie eine Ameisenkolonne am Rande des Plateaus. Glystra schätzte sie auf an die zweihundert Mann. »Wir machen uns wohl besser aus dem Staub«, murmelte er mit belegter Stimme. »Vielleicht lassen sie uns in Ruhe dahinreiten, wenn wir uns entlang der Kabelbahn halten.« Sie machten sich auf den Weg. Glystra ließ die herankommenden Reiter nicht aus dem Auge. »Sieht nicht so aus, als ob sie uns folgen würden.« »Doch, jetzt kommen sie«, sagte Elton.
Ein gutes Dutzend Reiter löste sich aus der Kolonne und schlug eine andere Richtung ein. Eine Richtung, die ihren Weg schnitt. Glystra biß die Zähne zusammen. »Die Jagd ist eröffnet!« Er stieß seine Knie tief in die Seiten seines Reittieres. Das Tier gab unwillige Laute von sich, bequemte sich dann aber zu einem schnelleren Trab. Vierundzwanzig Hufe trommelten auf dem felsigen Boden. Die Rebbirs hatten die Verfolgung aufgenommen.
15 Glystra sah sich nach der Meute der Verfolger um. Sie hatten sich ihnen noch nicht stärker genähert. Fast zärtlich streichelte er den Kopf seines Zipangoten. »Schneller, alter Junge!« Die Jagd ging Kilometer um Kilometer über das trostlose Plateau hinweg, nur vom Donnern der Hufe begleitet. Die Rebbirs begannen sich zu nähern. Glystra sah sich erneut um, und der Anblick, der sich ihm bot, hätte einem phantastischen Gemälde entnommen sein können. Die Rebbirs hatten sich in ihren Steigbügeln erhoben und hielten sich dennoch im Gleichgewicht auf den galoppierenden Tieren. Die wehenden Kaftane zurückgeworfen, spannten sie Pfeile in ihre großen, schwarzen Bogen. »Ducken!« rief Glystra. »Sie schießen mit Pfeilen!« Gleichzeitig versuchte er sich an der Seite des Tieres hinabzulassen. Ein Pfeil pfiff dicht an seinem Kopf vorbei. Vor ihnen erhoben sich unvermittelt helle Sanddünen, die ihren Reittieren das Vorwärtskommen erschwerten. Lange würden auch diese kräftigen Tiere der Belastung nicht mehr standhalten. Endlich waren sie durch den Sand hindurch, und vor ihnen erhob sich
eine Felswand, von etlichen schluchtähnlichen Spalten durchzogen. Sie mußten zunächst durch ein lavaverkrustetes Flußbett hindurch, das vielleicht einoder zweimal im Jahr Wasser führen mochte; dann ritt Glystra auf eine Schlucht zur Linken zu. »Dort hinein!« Er atmete stoßweise. »Schnell! Wir müssen sie uns für kurze Zeit vom Leibe halten, dann haben wir noch eine Chance!« Die Schlucht war schmal, eigentlich nur ein Bachbett, das aber keinen Tropfen Wasser führte. Hinter sich vernahmen sie donnernden Hufschlag. Erst laut und gellend, dann allmählich leiser klang der Schlachtruf der Rebbirs an ihre Ohren. Unvermittelt schien der Lärm wieder abzubrechen, Rufe flatterten hin und her. Die Rebbirs waren offenbar in eine breitere Schlucht dicht neben der ihren geraten und bemerkten jetzt ihren Irrtum. Die enge Schlucht wandte sich vor ihnen in steilen Windungen zu einem Grat empor. Glystra verständigte sich mit den anderen durch Zeichen. »Dort hinauf.« Sie hatten erhebliche Mühe damit, ihre Tiere zu der Klettertour zu bewegen. »Schnell, sie können jeden Augenblick da sein.« Das Schreien kam wieder näher. Glystra trieb sein Tier als letztes das Bachbett hinauf. Die Rebbirs setzten ihm nach, Schwerter in der Hand. Die enge Schlucht hinter ihm war schon bald
von einer brodelnden Masse schwarzer Kaftane und Tierleibern erfüllt. Nancy überwand gerade den höchsten Punkt, Bishop und Elton folgten ihr dichtauf. Elton wußte, was zu tun war. Sein breites Lachen ließ seine Zähne aufblitzen, der Ionenstrahler lag schußbereit in seiner Hand. Er zielte auf das erste Reittier der Rebbirs und betätigte den Abzug. Der Zipangote warf die Vorderläufe in die Höhe und fiel gegen die nachfolgenden Reiter. Glystra riß sein eigenes Tier bis zur letzten Anhöhe hinauf. Hastig liefen sie den Grat entlang, bis sie endlich in einem engen Tal auf der rückwärtigen Seite der Felswand Zuflucht fanden. Sie waren mit ihren Kräften am Ende. »Sie werden uns hier nicht so schnell finden. Wenn sie sich überhaupt die Mühe machen, noch nach uns zu suchen. Auf jeden Fall dürften wir sicher sein, bis die Dunkelheit hereinbricht.« Er sah zu dem sich langsam beruhigenden Zipangoten hinüber, der ihn bis nach hier gebracht hatte. »Du bist ein braves Tier, wenn auch nicht gerade eine Schönheit.« Nach Einbruch der Dunkelheit kehrten sie so lautlos wie möglich wieder auf den Grat zurück und folgten ihm in östlicher Richtung. Weit hinter sich vernahmen sie heiseres Geschrei. Glystra hielt sein Reittier an und lauschte. Inzwischen war tiefe Stille eingekehrt.
Der Zipangote scharrte unruhig mit den Hufen, schnaubte leise. Wieder tönte das heisere Schreien aus der Dunkelheit zu ihnen herüber. Glystra führte das Tier weiter. »Wir müssen versuchen, während der Nacht einen möglichst großen Abstand zu diesen Dämonen zu gewinnen, oder wenigstens irgendein Versteck zu suchen.« Langsam zog die kleine Karawane dahin. Aus der Ferne klang ihnen nochmals das heisere Geschrei der enttäuschten Rebbirs hinterher. Glystra warf noch einen Blick zurück. Leuchtende Meteoritenbahnen zogen sich über den nächtlichen Himmel. Als der Morgen heraufdämmerte, konnten sich selbst die Zipangoten kaum noch auf den Beinen halten. Die Köpfe an den überlangen Hälsen hingen manchmal fast bis auf den Boden herab. Im Schein der aufgehenden Sonne konnten sie in östlicher Richtung die Umrisse von Gebüsch und Bäumen ausmachen. Vor ihnen erstreckte sich eine Insel der Vegetation, die nahezu zehn Meilen lang sein mochte, und um die sich ein heller, glitzernder See herumzog. In ihrer Mitte erhob sich eine metallen glänzende Kuppel, wie eine auf den Boden aufgesetzte Halbkugel. »Das scheint der Myrtensee zu sein«, sagte Glystra. »Der Brunnen am Myrtensee.« Als sie den Schatten der Bäume erreichten, war es wie der Einzug in das Paradies. Glystra glitt von sei-
nem Tier, band es an einer Wurzel fest, und half Nancy beim Absteigen. Ihr Gesicht war blaß und schmerzverzogen, aber auch Bishop und Elton war die Erschöpfung anzumerken. Die Zipangoten schnüffelten im grünen Moos, legten sich nieder und wälzten sich auf dem Boden. Glystra beeilte sich, ihnen das Gepäck abzunehmen, bevor es Schaden nehmen konnte. Nancy lag ausgestreckt im Schatten. Bishop hatte es sich neben ihr bequem gemacht. »Hunger?« fragte Glystra. Nancy verneinte mit einem Kopfschütteln. »Nur schrecklich müde. Es ist so friedlich hier. Ich glaube, da singt sogar ein Vogel.« Glystra lauschte. »Hört sich tatsächlich so an.« Asa Elton öffnete sein Gepäck, vermengte sein Vitaminkonzentrat mit pulverisierten Nahrungsmitteln, feuchtete das Ganze an und verrührte es zu einem zähflüssigen Brei. Diesen gab er in Faynes Kocher, verschloß den Deckel, um ein paar Augenblicke später ein heißes Gebäck zu entnehmen. Glystra ließ sich ebenfalls in das weiche Moos fallen. »Wir müssen Kriegsrat halten.« »Du willst Probleme wälzen?« fragte Elton. Glystra sah in das grüne Laub hinauf. »Ohne Nancy waren wir acht, als wir von Jubilith aus loszogen. Du, Bishop und ich. Außerdem Pianza, Ketch, Darrot,
Fayne und Vallusser. Wir haben tausend Meilen hinter uns gebracht, und mittlerweile sind nur noch vier von uns übrig.« »Willst du uns bange machen?« Glystra zog es vor, diesen Einwand zu überhören. »Als wir von Jubilith aufbrachen, hielt ich die Aussichten noch für gut. Ich hoffte, wir würden die Erdenklave erreichen, erschöpft und mit zerschundenen Füßen zwar, aber lebendig. Ich war zu optimistisch. Jetzt müssen wir uns alles noch einmal überlegen. Wer von euch mit der Monobahn nach Kirstendale zurückkehren will, den werden meine besten Wünsche begleiten. Die Schwerter der Rebbirs enthalten genug Metall, um uns alle zu reichen Leuten zu machen. Wer also lieber ein lebender Kirstendaler denn ein toter Erdenbürger sein will, der sollte sich jetzt endgültig entschließen. Niemand wird ihm Vorwürfe bereiten.« Keiner gab eine Antwort. Glystra sah noch immer zu den Blättern hinauf. »Wir werden uns hier am Myrtensee ein oder zwei Tage ausruhen.« Er bewegte sich leise über das Moos und sah auf seine Begleiter hinab. Elton schlief wie ein unschuldiges Kind. Bishop schnarchte lautstark. Nancys Hände bewegten sich unruhig im Schlaf. Ihm fiel ein, daß die Händler Pianza getötet hatten, während dieser Wache
stand. Warum hatten sie sich damit zufrieden gegeben? Von ihrem Standpunkt aus wäre es doch konsequent gewesen, sie alle zu töten. Daß sie Skrupel nicht kannten, hatten sie ohnehin schon bewiesen. Zudem waren die Männer von der Erde mit wertvollen Kleidungsstücken angetan gewesen und hatten zahlreiche Metallgegenstände mit sich geführt. Allein die Ionenstrahler stellten für ihre Begriffe einen unschätzbaren Wert dar. Warum also waren sie nicht alle im Schlaf ermordet worden? Waren die Händler vielleicht von jemandem daran gehindert worden, dessen Autorität – vielleicht durch einen Ionenstrahler begründet – sie davon überzeugt hatte, daß seinen Anweisungen zu gehorchen war? Er wandte sich ab. Schmerz und eine nagende Ungewißheit erfüllten ihn. Ein seitliches Geräusch erschreckte ihn. Es war Nancy. Er atmete erleichtert auf. »Du hast mich tatsächlich erschreckt.« »Claude«, flüsterte sie. »Laß uns zurückgehen.« Sie war sichtlich außer Atem. »Ich weiß, mir steht es nicht zu, so etwas zu sagen, da ich nur ein ungeladener Gast bin. Aber du wirst mit Sicherheit den Tod finden, wenn du weitergehst. Ich will nicht, daß du stirbst. Warum sollen wir nicht leben, du und ich? Wenn wir nach Kirstendale zurückkehren, können wir uns ein gemeinsames Leben einrichten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es hat kei-
nen Zweck, wenn du mich zu überzeugen versuchst. Aber ich glaube, du solltest umkehren.« Sie trat zurück und sah ihn mit großen Augen an. »Du magst mich nicht mehr?« Er antwortete mit einem müden Lächeln. »Aber ja doch. Ich brauche dich. Aber ich weiß auch, daß es einem Wunder gleichkommt, daß wir überhaupt so weit gekommen sind. Unser Glück kann nicht ewig andauern.« »Und darum will ich, daß du zurückgehst!« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Claude, warum willst du nicht aufgeben? Ist es nicht wirklich hoffnungslos?« »Nein.« Tränen liefen über ihre Wangen. Er suchte nach Worten des Trostes, aber sie blieben ihm in der Kehle stecken. »Du solltest dich ausruhen, Nancy«, brachte er schließlich heraus. Sie wandte sich um und ging bis zum äußersten Rand der grünen Oase. Reglos stand sie da und blickte über die Wüste hinweg. Glystra setzte seine Wanderung über das weiche, grüne Moos fort. Als er eine Stunde später wieder zurückkam, lag Nancy schlafend im Moos, den Kopf auf die Arme gelegt. Irgend etwas an ihrer steifen Haltung, vielleicht in der Art, wie sie den anderen den Rücken zuwand-
te, ließ ihn erkennen, daß seine Beziehung zu ihr nie wieder so sein würde wie zuvor. Er ging zu dem Ort, an dem Asa Elton schlief und tippte leicht gegen seine Schulter. Elton öffnete die Augen. »Deine Wache. Wecke Steve in einer Stunde.« Elton gähnte und raffte sich auf. »Ist in Ordnung.« Ein Geräusch – vage, hämmernd. Es versuchte in die Welt hinter seinen Augenlidern einzudringen und stritt mit aller Macht gegen Glystras Müdigkeit. Es war ein ferner Laut. Gefahr! Glystra sprang hellwach auf, riß den Ionenstrahler aus der Tasche. Elton lag noch immer schlafend neben ihm. Von Steve Bishop und von Nancy war nichts zu sehen. Harte Stimmen klangen auf. Ein Schlag. Noch ein Schlag. Dann war wieder Stille. Glystra lief durch das Gebüsch und stürzte fast über eine am Boden liegende Gestalt. Entsetzen lähmte seine Glieder. Steve Bishop. Jemand ergriff seinen Arm. »Claude!« Es war Elton, der inzwischen ebenfalls zu sich gekommen war. »Steve ist tot. Sie haben ihn umgebracht.« »Aber wo ist Nancy?« »Ja. Wo ist sie?«
Er blickte sich um und sah dann wieder auf den toten Körper zu seinen Füßen. »Die Mörder Steves haben sie entführt«, sagte Elton. »Sieh dir die Fußspuren hier im Moos an.« Glystra sah den Spuren nach. Seine Wut und seine Verzweiflung erreichten einen Höhepunkt. Er lief in Richtung auf die domartige Kuppel los. Durch Zypressensträucher hindurch, mit goldenen Früchten beladen, geriet er auf einen gepflasterten Weg, der unmittelbar auf das große Gebäude zuführte. Von Nancy und ihren Entführern war nichts zu sehen. Unschlüssig verhielt er einen Augenblick lang, dann lief er weiter, durch einen gepflegten Garten mit Springbrunnen und Spazierwegen hindurch. Er entdeckte einen alten Mann in grauer Mönchskleidung, der mit den Blumen beschäftigt war. »Wohin sind sie verschwunden? Die Männer, die das Mädchen mit sich führten?« Der Alte sah ihn mit verständnislosem Ausdruck an. »Antworte mir, sonst –« Elton holte ihn ein. »Laß ihn, Claude. Er ist taub.« Claude Glystra starrte den Mönch an, wandte sich ab. Ihm fiel jetzt auf, daß am Ende des Weges eine Tür durch eine Mauer führte. Sicher hatten sie diesen Weg genommen. Er rannte los und versuchte vergeblich, die Tür zu öffnen. Sie widerstand seinen Bemühungen, als wäre sie ein Teil der Mauer selbst.
Schreiend trommelte er auf der Tür herum. »Öffnet die Tür! Aufmachen! Macht die Tür auf, sage ich!« »Das bringt dir höchstens einen Messerstich ein«, meinte Elton. Glystra setzte ein paar Schritte zurück und starrte das Steingebäude an. »Noch habe ich den Ionenstrahler. Es wird viel Blut fließen, bis Bishop gerächt ist.« »Ich glaube, du solltest mit etwas mehr Überlegung an die Sache herangehen. Erst einmal sollten wir nach den Tieren sehen, bevor die auch noch weg sind.« Erhebliche Ungeduld klang in Eltons Stimme mit. Glystra sah noch einmal zu der Mauer hoch. »Du hast recht. Armer Bishop.« »Wir werden ihn vielleicht nicht länger denn einen Tag überleben«, erklärte Elton ruhig. Die Zipangoten grasten noch an der gleichen Stelle, an der sie sie zurückgelassen hatten. Schweigend machten sie sich daran, sie mit ihrem Gepäck zu beladen. Elton unterbrach seine Tätigkeit plötzlich. »Willst du wissen, was ich machen würde, wenn ich das Sagen hätte?« »Was?« »Ich würde sagen, wir reiten von hier aus in Richtung Osten, so weit wir es schaffen!« Glystra schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Asa.« »Hier stimmt etwas nicht. Ich spüre es.«
»Das ist mir auch klar. Aber ich muß in Erfahrung bringen, was es ist. Ich kämpfe einen Kampf, der schon verloren ist. Du kannst immer noch nach Kirstendale zurück.« Elton gab einen unwilligen Laut von sich. Sie bestiegen die Tiere und ritten auf die Kuppel zu.
16 Sommerliche Geräusche erfüllten die Luft: Vögel zwitscherten, zahllose kleine Insekten summten, und Blätter rauschten im sanften Wind. Sie kamen an einer Wiese vorbei, auf der ein kleines Kind spielte. Bei ihrem Anblick vergaß es seine Spielsachen und starrte sie mit weitgeöffnetem Mund an. Sie erreichten eine breite Allee, an deren rechter Seite sich künstlich angelegte Bäche dahinzogen, während sich auf der linken Seite ein kleiner Laden an den anderen reihte. Es war ein Basar, wie Glystra bereits viele auf seinen Reisen gesehen hatte. Es wurden Teppiche angeboten, Schals, Früchte, allerlei Gebrauchsgegenstände, wie man es eben bei einem solchen Markt gewohnt war. Der Unterschied war nur der, daß über all diesen Dingen eine dicke Staubschicht lag. Niemand stellte sich ihnen in den Weg, als sie auf ihren Zipangoten vorüberritten. Ein Laden, der etwas größer war als die anderen, führte als Handelszeichen ein hölzernes Schwert. Glystra brachte sein Tier zum Stehen. »Mir ist so eine Idee gekommen. Ich werde es mal versuchen.« Er nahm zwei von den Schwertern, die sie den Rebbirs abgenommen hatten, und trat in die Dunkelheit des Ladens hinein.
Ein kleiner, dicklicher Mann, der sich über einen der Ladentische gebeugt hatte, sah zu ihm auf. Glystra warf die Schwerter auf den Tisch. »Was wären sie dir wert?« Der Ladeninhaber sah sie an, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich. Er machte gar nicht erst den Versuch, sein Interesse zu verbergen. »Woher haben Sie diese Schwerter?« Seine Finger glitten über das Metall. »Sie sind aus dem feinsten Stahl gefertigt. Nur die Anführer der südlichen Rebbirs besitzen solche Schwerter.« »Ich könnte sie dir billig geben.« Die Augen des Händlers leuchteten auf. »Was wollen Sie dafür haben? Einen Sack voll Peraldinen? Einen Helm aus Perlmutt, mit einem Opal von der Magischen Quelle gekrönt?« »Viel weniger als das«, erklärte Glystra. »Vor einer Stunde etwa wurde eine Frau in diesen Dom entführt. Ich möchte sie zurückhaben.« »Sie erlauben sich wohl einen Scherz mit mir? Zwei Stahlschwerter für eine Frau? Für diese beiden Schwerter werde ich Ihnen vierzehn Jungfrauen besorgen, alle so schön wie die Morgensonne.« »Nein«, sagte Glystra. »Ich will nur diese eine Frau haben.« Der Händler legte wie abwesend die Hand an seinen Hals. »Um ehrlich zu sein, ich will die Schwerter
haben. Aber ich habe nur einen Kopf.« Er wog eines der beiden Schwerter in der Hand. »Die Dongmänner sind unberechenbar; manchmal könnte man sie für verrückte alte Greise halten, dann wieder hört man von Taten und Grausamkeiten, die man sich kaum vorstellen kann. Es ist schwer zu entscheiden, was man glauben soll.« »Nun?« »Was also wollen Sie?« »Wie ich bereits sagte, ich will diese Frau zurück haben. Sie ist jung und hübsch. Vermutlich wurde sie in irgendeinen Harem gebracht.« Der Händler schüttelte den Kopf, schien über Glystras Vermutung eher erstaunt zu sein. »Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich ist sie zu den Sklavinnen gebracht worden.« »Ich weiß nicht, was in diesem Dom – oder ist es ein Tempel? – los ist. Deshalb brauche ich die Hilfe von jemandem, der damit vertraut ist.« »Ich verstehe. Sie sind also bereit, Ihren eigenen Kopf aufs Spiel zu setzen?« Glystra sah den Händler wütend an. »Ja. Aber glaube nur nicht, daß du das nicht ebenfalls mußt.« »Nein«, entgegnete der Händler kühl. »Aber es gibt jemand anderen, der es für mich tun wird.« Er stampfte kräftig mit dem Fuß auf den Boden. Einen Augenblick später trat ein junger Mann ein. Er gab
einen Laut der Überraschung von sich, als er die Schwerter erblickte. »Das ist mein Sohn Nymaster«, stellte der Händler vor. Er wandte sich an den jungen Mann. »Eines dieser Schwerter ist für dich. Zuerst führst du diesen Herrn durch Zellos Eingang in den Tempel. Ihr verkleidet euch und nehmt weitere Kleider mit. Dieser Herr wird dir die Frau zeigen, die er zurückhaben will. Sie befindet sich sehr wahrscheinlich unter den Sklavinnen. Du wirst Koromutin bestechen müssen; versprich ihm einen Porphyr-Dolch. Und dann bringe die Frau zurück.« »Das ist alles? Dann gehört mir das Schwert?« »So ist es.« Nymaster wandte sich Glystra zu. »Kommen Sie.« »Augenblick.« Er ging zur Tür und rief Elton herbei. Elton betrat den Laden und sah sich darin um, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Glystra deutete auf die beiden Schwerter auf der Tischplatte. »Er bekommt diese beiden Schwerter, wenn ich mit Nancy zusammen zurückkehre. Sollten wir nicht wiederkommen, dann töte ihn.« Der Händler wollte protestieren. Glystra sah ihn an. »Glaubst du vielleicht, daß ich Vertrauen zu dir habe?« »Vertrauen?« Der Händler starrte ihn verwundert an. »Was ist das – Vertrauen?«
Glystra grinste Elton an. »Sollten wir uns nicht wiedersehen – viel Glück. Nütze unsere Reichtümer, vielleicht kannst du es hier irgendwo zum Herrscher bringen.« Nymaster verbeugte sich vor Glystra, und sie verließen den Laden. Sie gingen um das Gebäude herum und betraten einen schmalen Gang, der zwischen zwei Zäunen hindurchführte. Sie erreichten eine kleine Hütte, deren Tür unverschlossen war. Nymaster ging hinein und kehrte wenig später mit einem Bündel Kleider zurück, das er Glystra reichte. »Ziehen Sie das an.« Es war ein wallendes Gewand mit einer spitzen Haube, alles ganz in Weiß. Er zog es über den Kopf. »Und jetzt noch das hier«, sagte Nymaster und reichte ihm einen ärmellosen Überwurf, der ein wenig kürzer war als das weiße Gewand. »Und das.« Er gab ihm dazu noch eine lose, schwarze Jacke, die noch kürzer war, dazu eine zweite Kopfbedeckung. Nymaster kleidete sich in der gleichen Weise ein. »Es ist die Kleidung der Dongmänner. Kein Mensch wird nach unserem Woher und Wohin fragen, wenn wir erst einmal innerhalb der Tempelhallen sind.« Er trug noch ein weiteres Paket mit Kleidern unter dem Arm, und er sah ungeduldig auf den Gang hinaus. »Schnell jetzt, hier entlang.« Sie gingen etwa hundert Meter bis zu einer Pforte
im Zaun und kamen in einen mit Farnen überwucherten kleinen Garten. Nymaster hob hin und wieder seine Hand, um Glystra zu äußerster Vorsicht zu mahnen. Durch das Blättergerank erspähte Glystra einen äußerst hageren alten Mann, der im Schein der Sonne umherspazierte. Ein wenig weiter spielten sechs Kinder. »Wenn wir die Mauer erreichen wollen«, wisperte Nymaster, »dann müssen wir unbemerkt an Zello vorbeikommen. Wenn er uns nämlich sieht, wird er mit seinem Geschrei die anderen warnen.« Er nahm einen kleinen Erdklumpen auf und warf ihn nach einem der Kinder, einem kleinen Jungen. Der schrie auf, um sich aber rasch wieder zu beruhigen und erneut dem Spiel mit seinen Gefährten zuzuwenden. Zellos Aufmerksamkeit aber wurde dadurch einen Augenblick lang abgelenkt, und diesen Augenblick benützten Nymaster und Glystra, um hinter einer halbverfallenen Mauer Deckung zu suchen, nachdem sie über die offene Rasenfläche gelaufen waren. Aus ihrer Deckung heraus sahen sie zum Turm des Tempelgebäudes hinauf. »Dort oben ist manchmal eine Wache postiert, die nach ankommenden Gästen Ausschau hält. Werden wichtige Gäste erwartet, gewinnen sie auf diese Weise Zeit, um das Orakel vorzubereiten.«
»Ja, da ist einer – er sucht die Wüste ab.« Die dunkle Gestalt stand bewegungslos hinter den Turmzinnen. »Er wird uns nicht entdecken«, erklärte Nymaster. »Er sieht in eine ganz andere Richtung.« Er kletterte die Mauer hinauf, wobei ihm Spalten und Risse als Halt für Hände und Füße dienten. Glystra folgte ihm. In halber Höhe verschwand Nymaster vor Glystras Augen in einer Spalte im Mauerwerk, die von unten her nicht zu sehen gewesen war. »Die Mauer ist hohl«, kam Nymasters Stimme aus dem Inneren heraus. »Sie wurde nur zum Schein so massiv gebaut. Hier drinnen ist ein Gang, in dem man sich frei bewegen kann.« Mit Hilfe eines Feuersteins entzündete Nymaster eine Lunte, die nach kräftigem Blasen aufflammte und ihre neue Umgebung erhellte. Mit sicheren Schritten ging der junge Mann voran. Nach fast zweihundert Metern erreichten sie eine Öffnung im Boden, die gerade groß genug war, um eine einzelne Person hindurchzulassen. »Achtung! Die Stufen sind nur in Ton geschlagen.« Sie stiegen knappe drei Meter hinab, mußten sich ducken, um unter einem Ausläufer des Fundaments hindurchzukommen, und bewegten sich durch einen leicht aufwärtsführenden Gang weiter. Sie befanden sich nach Nymasters Angaben jetzt unter dem großen
Empfangsraum. »Dort drüben ist der Sitz der Wahrheit, auf dem das Orakel sitzt.« Hastige, ein wenig schlurfende Fußtritte kamen von oben. »Das ist der alte Caper, der Hausmeister. Er hat ein verkrüppeltes Bein.« Wieder wurden sie von einem Teil des Fundaments behindert. »Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein. Wenden Sie Ihr Gesicht vom Lichtschein ab und sagen Sie kein Wort. Wenn man uns anhält und wir erkannt werden –« »Was geschieht dann?« »Kommt auf den Rang dessen an, der uns entdeckt. Am schlimmsten sind die Novizen, die mit schwarzen Roben angetan sind. Sie sind noch neu in ihrem Amt und nehmen es übermäßig genau. Ebenso die Hierarchen, die an ihren goldenen Quasten zu erkennen sind. Die Ordinarien nehmen es meist weniger genau.« »Wie geht es nun weiter?« »Dieser Gang führt zu den Räumen, in denen die Sklaven und Gefangenen vor ihrer Verwendung untergebracht werden.« »Verwendung? Sollen sie etwa als Orakel dienen?« Nymaster schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben eine andere Bestimmung. Das Orakel braucht das Wissen von vier Personen, die seine Gedanken lenken
müssen. Wenn das Orakel befragt wird, wirken also noch drei weitere Personen mit.« Glystra ergriff ungeduldig Nymasters Arm. »Vorwärts!« »Wir müssen jetzt äußerst leise sein«, warnte Nymaster. Er ging um einen Felsblock herum, stieg eine einfache Holzleiter hinauf und kroch oben auf einem schmalen Vorsprung weiter. Glystra folgte. Nymaster lauschte und erhob sich dann. »Mir nach. Schnell jetzt!« Er verschwand. Glystra ließ sich hinter ihm in einen dunklen Schacht hinab. Er stand hinter Nymaster, berührte fast seinen Rücken. Vor ihren Füßen floß übelriechendes Wasser dahin. Vor ihnen war diffuses Licht zu erkennen. Eine Anzahl von Stufen führte aufwärts. Sie gingen die Stufen hinauf und standen unvermittelt in einem erhellten Raum. Es war heiß, und die Luft war mit einem tranigen Ölgeruch geschwängert. Geräusche verrieten ihnen, daß irgendwo vor ihnen ein geschäftiges Treiben herrschen mußte. Es fiel Glystra nicht leicht, Übelkeit und Brechreiz zu unterdrücken. Nymaster ging vor ihm mit raschen Schritten den Gang entlang. Mehrere Männer in Roben kamen an ihnen vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Nymaster verhielt seine Schritte.
»Hinter dieser Wand befinden sich die Räume der Gefangenen. Sehen Sie durch eine der Ritzen hindurch und sagen sie mir, welche der Frauen sie suchen.« Glystra trat dicht an die Steinwand heran und spähte durch einen schmalen Spalt in Augenhöhe. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen saßen entlang der Wände oder standen inmitten des Raumes. Ihre Haare waren abrasiert und ihre Köpfe mit gelber, blauer oder grüner Farbe bemalt worden. »Welche ist es? Die am äußersten Ende?« »Ich kann sie nicht sehen. Sie ist nicht dabei.« »Dann wird es schwierig«, murmelte Nymaster. »Ich fürchte, das geht über unsere Abmachungen hinaus.« »Unsinn. Unsere Abmachung lief darauf hinaus, die Frau zu finden und zu befreien, wo immer sie sich befinden mochte. Bring mich zu ihr, oder ich werde dich augenblicklich umbringen!« »Ich weiß nicht, wo ich sie suchen soll«, erklärte Nymaster ruhig. »Finde es heraus. Das ist deine Sache.« Nymaster legte die Stirn in Falten. »Ich werde Koromutin fragen. Warten Sie hier.« »Nein, ich komme mit.« Nymaster schimpfte unwillig vor sich hin, als sie den Gang hinabgingen. Er steckte seinen Kopf in eine
kleine Kammer hinein. Darin befand sich ein dicklicher Mann in den mittleren Jahren. Er war kaum überrascht, Nymaster zu sehen. Glystra beugte sich vor, um die leise geführte Unterhaltung verfolgen zu können. Koromutin musterte ihn eingehend. »Er sagt, daß sie nicht bei den anderen Gefangenen ist, und er will nicht wieder gehen, bevor er sie gefunden hat.« Koromutin dachte nach. »Dann muß sie sich in den oberen Gemächern befinden. Wenn es so ist – nun, was bietet der Herr Vater dafür an? Mir fällt gerade ein, er hatte einen Dolch aus bestem PhilemonPorphyr ...« »Er soll dir gehören.« Koromutin erhob sich händereibend und musterte Glystra noch einmal eingehend. »Die Dame ist gewiß eine hochwohlgeborene Prinzessin, mein Herr.« Er verbeugte sich vor Glystra. »Gestatten Sie mir, Ihnen behilflich zu sein.« Damit wandte er sich um und ging den anderen voraus. Sie folgten einer sich windenden Treppe nach oben. Schritte kamen ihnen entgegen. Koromutin verbeugte sich tief. »Tief verbeugen!« wisperte Nymaster. »Der Superior kommt.« Glystra machte einen Bückling, wie es tiefer nicht ging. Er sah gerade noch den Saum einer reich ver-
zierten Robe. Er hörte, wie eine hohe Fistelstimme fragte: »Wo steckst du nur, Koromutin? In aller Kürze findet eine Orakel-Sitzung statt. Du scheinst dich verspätet zu haben. Wir brauchen die Weisheit.« Koromutin brachte eine Flut von Entschuldigungen hervor. Der Superior ging wieder nach oben, während Koromutin in seine Kammer zurückging und ein buntes Ornat überwarf. »Warum das alles?« fragte Glystra. Nymaster zuckte mit den Schultern. »Es ist die Aufgabe des alten Koromutin, die Zeremonie mit dem Orakel durchzuführen. Wir müssen warten, bis es vorbei ist.« »Wir haben aber keine Zeit.« »Koromutin muß an der Sitzung teilnehmen. Uns bleibt keine andere Wahl. Abgesehen davon möchte ich die Zeremonie gern einmal miterleben. Ich war noch nie dabei, obwohl mir schon oft davon berichtet worden ist.«
17 Koromutin beschäftigte sich weiter mit seinen Vorbereitungen. Aus einem verschlossenen Schrank holte er einen Glasbehälter mit einer gelblich-trüben Flüssigkeit hervor, die er in eine Spritze füllte. »Was ist das?« »Die Weisheit«, erklärte Koromutin selbstgefällig. »Es ist ein sehr hochwertiges Konzentrat. Der Verstand von vier Männern geht in eine jede dieser Füllungen.« Hormone, überlegte Glystra. Koromutin befestigte die Spritze an seiner Kopfbedeckung. »Gehen wir.« Er führte sie einen langen Gang hinunter und über eine Anzahl von Treppen in den großen Empfangsraum unter der hohen Domkuppel. Zwölf Novizen hatten sich bereits in einem Halbkreis aufgestellt. »Zu wenig«, murmelte Koromutin. »Lord Voivode wird wenig begeistert sein. Ihm ist eine großartige Zeremonie weit wichtiger als die Weisheit des Orakels selbst. Ich muß nun meinen Platz einnehmen. Ihr geht am besten dort hinüber, auf die andere Seite. So fallt ihr am wenigsten auf.« Nymaster und Glystra taten, wie ihnen geheißen
wurde. Wenig später wurde eine Sänfte in die Halle getragen, von vier in Schwarz gekleideten Dienern begleitet. Dahinter folgten noch zwei junge Mädchen, die einen gepolsterten Stuhl zwischen sich trugen. Als die Träger die Sänfte herabließen, kam ein kleiner, rotgesichtiger Mann daraus hervor, der sich sogleich in dem bereitgestellten Stuhl niederließ. »Schnell, schnell!« rief er. Zugleich winkte er aufgeregt. »Mein Leben geht zu Ende, und das Licht verläßt meine Augen, während ich hier sitze und warte.« Der Superior trat auf ihn zu und verbeugte sich. »Vielleicht möchte sich der Lord während der einführenden Riten ein wenig erfrischen?« »Zum Teufel mit den Riten!« schnaubte Lord Voivode. Der Superior trat zurück und verkündete: »Das Orakel kommt.« Zwei Novizen führten eine schwarzhaarige Gestalt in einem weißen Überwurf heran. Es war ein ziemlich ausgemergelter Mann, der sich wie ein gefangenes Tier umsah. Der Voivode gab lautstark seine Enttäuschung kund. »Eine solche Kreatur soll mich beraten? Sie scheint zu nichts anderem fähig zu sein, als vor Angst zu zittern.« »Vergessen Sie bitte Ihre Vorurteile, Lord«, bat der Superior. »Durch ihn werden Sie des Wissens von vier Männern teilhaftig werden.«
Die bedauernswerte Gestalt wurde auf einen Sitz gehoben – den Sitz der Wahrheit. Bald darauf erschien Koromutin in seiner steifen Robe. Er stieg zu dem Sitz hinauf, nahm die Spritze von seiner Kopfbedeckung ab und stieß die Nadel ins Genick des Orakels. Der Mann krümmte sich, warf die Arme hoch. Einen Augenblick lang saß er reglos da, um dann in sich zusammenzusinken. Er nahm den Kopf in die Hände und rieb sich über die Stirn. Seine Glieder zuckten, und verworrene Laute kamen aus seinem Mund. Glystra sah atemlos zu. Die Muskeln des Orakels waren angespannt, und in seinen Augen stand ein seltsames Leuchten. Erschöpft fiel es schließlich in seine schlaffe Haltung zurück. Lord Voivode nickte beifällig und unterhielt sich leise mit dem Superior, der alsbald mit lauter Stimme verkündete: »Es ist so weit. Fünf Minuten lang stehen Ihnen die Weisheiten des Orakels zur Verfügung.« Lord Voivode beugte sich nach vorn. »Orakel, ich frage dich: Wie lange habe ich noch zu leben?« Das Gesicht des Orakels überzog ein müdes Lächeln. »Sie fragen zwar nach Nebensächlichkeiten, aber ich werde Ihnen antworten. Warum sollte ich nicht? Aus Ihrer Körperhaltung, Ihrer Gangart und verschiedenen weiteren Tatsachen ist zu entnehmen,
daß Sie innerlich vom Krebs verzehrt werden. Ihr Atem ist bereits der der Verwesung. Ich gebe Ihnen im höchsten Falle noch ein Jahr Lebenszeit.« Voivode wandte sich mit verzerrtem Gesicht an den Superior. »Das Orakel lügt! Hinweg mit ihm! Ich bezahle mit guten Sklaven, und dann bekomme ich Lügen vorgesetzt!« Der Superior begütigte ihn mit einer Handbewegung. »Kommen Sie niemals zum Brunnen am Myrtensee, wenn Sie nur Ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen bestätigt finden wollen; hier bekommen Sie nur die Wahrheit zu hören, Lord Voivode.« Voivode wandte sich erneut an das Orakel. »Wie kann ich mein Leben verlängern?« »Darüber habe ich kein genaues Wissen. Eine geeignete Kur, gewisse Diäten, Enthaltsamkeit von Narkotikas und karitative Taten könnten zu einer Verlängerung beitragen.« Lord Voivode beschwerte sich ärgerlich beim Superior. »Warum haltet ihr mich zum Narren; dieses Geschöpf gibt nur blanken Unsinn von sich. Warum verrät es mir nicht die Formel?« »Was für eine Formel?« erkundigte sich der Superior. »Die Formel zur Herstellung eines Trankes, der ewiges Leben schenkt. Diese Formel will ich wissen, und nichts anderes!«
»Fragen Sie selbst«, riet der Superior. Voivode brachte seine Frage vor. »Bei all meiner Erfahrung kann ich Ihnen nicht mit Informationen dienen, die Ihnen zum Besitz einer solchen Formel verhelfen würden«, erklärte das Orakel. »Sie sollten nur fragen, was im Bereich der gegebenen Möglichkeit liegt«, gab der Superior in sanftem Ton zu verstehen. Das Gesicht des Lords überzog sich mit einer starken Röte. »Wie soll ich es am besten anstellen, um meinem Sohn das Erbe zu erhalten?« »In einem Staatswesen, das nicht äußeren Einflüssen unterliegt, kann ein Herrscher durch Tradition, Macht oder den Willen seiner Untertanen regieren. Die letztgenannte Art des Regierens ist gewiß die beständigste und fruchtbarste.« »Weiter«, drängte der Voivode. »Du hast ohnehin nicht mehr lange zu leben!« »Seltsam«, erklärte das Orakel mit einem müden Lächeln. »Da ich soeben erst begonnen habe, zu leben.« »Sprich, Orakel!« sagte der Superior mit scharfer Stimme. »Ihre Dynastie begann damit, daß Sie Ihren Vorgänger vergifteten. Es ist also keine Tradition vorhanden. Es könnte Ihrem Sohn also gelingen, sich
weiterhin durch Gewalt an der Macht zu halten. Das wäre im Prinzip sehr einfach. Er braucht nur einen jeden zu beseitigen, der seine Herrschaft in Frage stellt. Das wird ihm freilich neue Feinde schaffen, die er nun wiederum beseitigen muß. Wenn er daher seine Widersacher schneller zu beseitigen vermag, als diese ihre Kräfte zu vereinigen vermögen, dann wird er an der Macht bleiben.« »Undenkbar! Zu so etwas ist mein Sohn niemals in der Lage. Ich selbst bin von Verrätern umgeben und von speichelleckenden Höflingen, die nur auf mein Ableben warten, um die Zeichen zu Raub und Plünderung zu geben.« »In diesem Fall müßte Ihr Sohn die Qualifikation eines Herrschers beweisen, so daß niemand ein Interesse daran hat, ihn zu beseitigen.« Lord Voivode schien in die Ferne zu blicken; vielleicht sah er das Gesicht seines Sohnes vor sich. »Um die Situation in diesem Sinne zu ändern, müßten Sie allerdings Ihre eigene Regierungsweise erheblich ändern. Sie müßten eine jede Handlung eines Ihrer Beamten mit den Augen des geringsten Bürgers Ihres Staates sehen und dementsprechend Ihre Anordnungen geben. Wenn Sie dann aus dem Leben scheiden, wird Ihr Sohn von einer Welle des guten Willens und der Anerkennung getragen werden.« Der Lord lehnte sich in seinem gepolsterten Sessel
zurück und sah den Superior fragend an. »Und dafür habe ich mit zwanzig guten Sklaven und vier Gramm reinem Kupfer gezahlt!« Der Superior ließ sich noch immer nicht aus der Ruhe bringen. »Das Orakel hat Ihre Fragen beantwortet. Es hat Ihnen in groben Zügen angedeutet, wie Sie in Ihrer Situation am besten zu handeln vermögen.« »Aber es hat mir nichts Angenehmes gesagt!« protestierte Voivode. »Es hat Ihnen die Wahrheit gesagt, nicht mehr und nicht weniger.« »Also noch eine Frage: Die Delta-Leute sind in das Tal zu Cridgin eingefallen und haben meine Rinderherden entführt. Durch den Morast können meine Soldaten ihnen nicht folgen. Was kann ich dagegen tun?« »Pflanzen Sie auf den Hügeln des Impsidion Buschwein an.« Der Lord schluckte und lief erneut rot an. Der Superior wandte sich an das Orakel. »Erkläre das bitte ausführlicher.« »Die Delta-Leute leben von Venusmuscheln. Seit Jahrhunderten kultivieren sie Stämme von Venusmuscheln. Lord Voivode hat seine Tiere ständig auf den Hügeln weiden lassen, so daß die Vegetation abstarb und der Boden vom Regen in den Fluß gewaschen wurde. Der Schlamm setzte sich auf den Venusmuscheln ab und brachte sie zum Absterben. Wenn wei-
tere Zwischenfälle vermieden werden sollen, dann muß die Ursache beseitigt werden.« »Die Delta-Leute sind unberechenbar und gefährlich«, wandte Voivode ein. »Ich will Rache an ihnen nehmen.« »Diesen Wunsch werden Sie sich nicht erfüllen können.« Der Lord sprang auf, entwand einem seiner Diener eine Tonschale und schleuderte sie nach dem Orakel, traf es gegen die Brust. Der Superior stieß einen empörten Schrei aus. Der Lord Voivode kümmerte sich nicht weiter um die Anwesenden. Er stieg in seine Sänfte und ließ sich aus der Halle hinaustragen. Das Orakel hielt jetzt die Augen geschlossen; es atmete in heftigen, aber unregelmäßigen Zügen. Seine Hände ballten sich zusammen. Glystra wollte näher auf das Orakel zugehen, wurde aber von Nymaster zurückgehalten. »Bleiben Sie stehen, wenn Ihnen Ihr Leben noch etwas wert ist!« Koromutin ging an ihnen vorüber und wisperte ihnen zu: »Wartet draußen im Korridor auf mich!« Sie verließen hinter ihm den Raum. Nach endlos erscheinenden zehn Minuten kehrte Koromutin in seiner gewohnten Kleidung zurück. Wortlos führte er sie eine Treppe hinauf. Durch große Bogenfenster sahen sie auf die unter ihnen liegende Oase hinab.
Es ging noch einen Treppenabsatz höher, dann verschwand Koromutin in einem kleinen Büro, das von einem Mönch eingenommen wurde, der sein Zwillingsbruder hätte sein können. Die beiden unterhielten sich lebhaft miteinander. Koromutin wandte sich an Nymaster. »Das ist Jentile, der Haus-Ordinarius. Er kann uns helfen – wenn auch er einen solchen Dolch erhält, wie er mir versprochen worden ist.« Nymaster zögerte kurz, gab dann aber seine Zustimmung. Der kleine Mann hinter dem Tisch erhob sich und trat in den Gang hinaus. »Er hat die Frau, die Sie suchen, bereits gesehen«, erklärte Koromutin mit vertraulichem Unterton, »und wird Sie zu ihrem Aufenthaltsort bringen. Ich überlasse Sie seiner Obhut.« Damit zog er sich zurück. Jentile führte sie über endlose Gänge und Treppen, bis Glystra plötzlich ein lautstarkes Summen vernahm. Er blieb stehen und lauschte. »Was ist das?« fragte er. »Sehen Sie durch dieses Gitter hindurch, und Sie werden es selbst sehen. Es ist ein Kasten aus Metall und Glas, aus dem ferne Stimmen sprechen. Ein wundersames Instrument, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit.«
Glystra kam der Aufforderung nach und sah eine moderne elektronische Apparatur vor sich, deren Aufbau die Improvisation eines Fachmannes vermuten ließ. Auf einem Tisch waren Lautsprecher, Mikrofon und verschiedene Kontrollgeräte angeordnet. »Kommen Sie schon«, drängte Jentile. »Ich will meinen eigenen Kopf noch länger auf den Schultern behalten, auch wenn Sie keinen großen Wert darauf zu legen scheinen.«
18 Jentile hielt vor einer schweren Holztür an. Er spähte durch eine Ritze hindurch, wandte sich dann an Glystra und sagte zu ihm: »Kommen Sie her und überzeugen Sie sich selbst von ihrer Anwesenheit. Dann müssen wir von hier weg. Der General-Ordinarius kann jeden Augenblick auftauchen.« Claude Glystra lachte grimmig auf und sah durch die Ritze hindurch. Nancy saß in einem Lehnstuhl, den Kopf mit geschlossenen Augen zurückgelehnt. Sie trug lose Pyjamas; ihr Haar war hell und gepflegt. Es sah so aus, als wäre sie soeben mit ihrer Toilette fertiggeworden. Glystra vermochte den Ausdruck ihres Gesichts nicht zu deuten. Er schob Jentile beiseite. »Nymaster, du kümmerst dich um ihn!« Er stieß die Tür auf. Nancy starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Claude ...« Langsam erhob sie sich. Sie stürzte ihm jedoch nicht mit Freude und Erwartung entgegen, wie er es erwartet hatte. »Was ist geschehen?« fragte er ruhig. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie tonlos. »Wir müssen schnell von hier weg.« Er legte seinen
Arm um ihre Schultern. Sie schien kraft- und willenlos zu sein. Jentile wurde von Nymaster festgehalten. Sein Gesicht war empört und vor Angst verzerrt. Er brachte jedoch keinen Laut hervor. »Zurück in den Funkraum«, sagte Glystra. »Zu diesem Kasten aus Metall und Glas.« Sie gingen den Weg zurück. Glystra hielt den Ionenstrahler in der einen Hand, mit der anderen umfaßte er Nancy. Das Summen kam näher. Glystra stürmte in den Raum hinein. Ein hagerer Mann mit einem blauen Kittel sah auf. »Immer schön ruhig bleiben, dann geschieht dir nichts.« Der Mann erhob sich, ohne den Blick von Glystras Waffe zu lassen. »Du bist von der Erde, nicht wahr?« »Na und?« »Du hast dieses Gerät hier gebaut?« »Was dagegen?« »Im Gegenteil, ich finde es sehr praktisch. Verbinde mich mit der Erdenklave.« »Das werde ich nicht tun«, erklärte der Blaukittel bestimmt. »Mein Leben ist mir mehr wert. Bedienen Sie sich selbst, wenn Sie die Erdenklave haben wollen. Da Sie bewaffnet sind, kann ich Sie nicht davon abhalten.« Glystra trat einen Schritt vor. Der Mann zuckte
nicht mit der Wimper. »Stell dich neben dem Ordinarius an der Wand auf ... Nancy!« »Ja, Claude?« »Du stellst dich dort drüben hin, etwas abseits von den anderen. Und bewege dich nicht.« Langsam leistete sie seiner Anweisung Folge. Sie schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Glystra setzte sich vor den Tisch und unterzog das Gerät einer näheren Betrachtung. Es war eine recht einfache Kurzwellenstation, wie sie Millionen von Rundfunkamateuren auf der Erde ihr eigen nannten. »Wie ist die Frequenz der Erdenklave?« »Weiß ich nicht.« Glystra fand ein Register und suchte darin den Buchstaben E. »Erdenklave, offizielle Code-Nummer 181933«, las er vor. Er schaltete das Gerät ein und begann an den Knöpfen zu hantieren. Vom Gang her ertönten schwere Schritte. Die Tür wurde aufgerissen. Ein Gesicht mit kantigen Zügen und dichten grauen Augenbrauen sah herein. Augenblicklich warf sich der Haus-Ordinarius auf die Knie. »Ehrwürdiger General-Ordinarius, es war nicht mein Wille ...« General-Ordinarius Mercodian sah über seine Schulter zurück, in den Gang hinaus. »Nehmt diese Männer gefangen!«
Glystra wandte sich erneut dem Sender zu. Noch eine Ziffer ... Stämmige Gestalten stürmten in den Raum. Nancy taumelte mit blutleerem Gesicht vorwärts. Sie verhielt genau in der Schußlinie. »Nancy!« rief Glystra. Er hatte seinen Ionenstrahler gezogen, aber sie stand genau zwischen ihm und dem GeneralOrdinarius. »Verzeih mir«, wisperte er kaum hörbar. »Es geht um mehr als dein Leben ...« Er drückte den Abzug durch. Violettes Licht erleuchtete gespenstisch die Gesichter. Das Licht flakkerte nur kurz auf, erlosch wieder. Das Energieaggregat war verbraucht. Drei Männer in schwarzen Roben stürzten sich auf ihn. Er schlug wild um sich. Der Tisch mit den Gerätschaften stürzte um, obwohl der Techniker es verzweifelt zu verhindern suchte. Nymaster nützte diesen Augenblick, um auf den Gang hinaus zu fliehen. Seine Schritte hallten über den Korridor. Glystra war bereits in eine der Ecken abgedrängt worden. Die Schwarzgekleideten warfen ihn zu Boden, trampelten auf ihm herum, banden ihm die Hände auf den Rücken. »Fesselt ihn besonders gut«, wies Mercodian an, »und bringt ihn hinab!« Er wurde die Korridore entlanggeschleppt, an den hohen Arkaden vorbei, von denen aus die Oase zu übersehen war.
Ein schwarzer Schatten glitt in geringer Höhe durch die Luft. Glystra stieß einen heiseren Schrei aus. »Ein Luftschweber – von der Erde!« »Ein Luftschweber«, berichtigte Mercodian. »Aber nicht von der Erde, sondern von Grosgarth.« »Von Grosgarth?« »Ich sagte es schon.« Glystra zweifelte an seinem Verstand. »Es gibt in Grosgarth nur einen, der über einen Luftwagen verfügen könnte –« »Richtig.« »Weiß der Bajarnum vielleicht –« »Er weiß, daß Sie hier sind. Glauben Sie wirklich, daß er einen Luftschweber hat, aber kein Radio?« Er wandte sich an die Schwarzgekleideten. »Paßt auf diesen hier besonders gut auf! Ich muß gehen, um Charley Lysidder zu begrüßen ...« Glystra stand inmitten des Raumes auf dem steinernen Fußboden. Seine Kopfhaare waren abrasiert worden, und er hatte ein übelriechendes Bad in einer essigähnlichen Flüssigkeit über sich ergehen lassen müssen. Die Luft in der Gefangenenkammer war zum Ersticken. Er atmete durch den Mund, um dem Geruch zu entgehen. Seltsam ... etwas in dem Aroma war schwer und beißend, ein süßlicher Duft, betäubend und anregend zugleich.
Zygagen! Ja, das war es. Es war das gleiche Aroma, das er bereits vom Rauch brennender Zygagenzweige her kannte. Seine Gedanken kreisten immer schneller. Hatte der Wirkstoff der Zygagen vielleicht etwas mit dem Serum zu tun, mit dem das Orakel für seine letzten Dienste vorbereitet wurde? Wie wirkte diese Droge überhaupt? Glystra konnte sich von dieser Frage nicht lösen, die eigentlich von einem Wissenschaftler hätte beantwortet werden müssen. Offenbar brachte die Droge die in einem Menschenleben gesammelten Erfahrungen, Eindrücke und Denkansätze hervor, die jahrelang im Unterbewußtsein eines Individuums zwar vorhanden gewesen waren, aber nie bis zur Oberfläche gelangt waren. Die Orakel-Droge ließ einen Menschen an die Stufe des Todes herantreten und sich zum erstenmal seines wirklichen Wissens um die Natur bewußt werden. Ein Wesen, das einen solchen Höhepunkt der Weisheit erreichte, mußte wenig später mit seinem Tod dafür bezahlen. In gewisser Weise glich das den Folgen, die das Einatmen des Zygagenrauches bei ihnen bewirkt hatte. Sein Denkvermögen hatte plötzlich ausgesetzt, als wäre ein Uhrwerk abgestellt worden. Steve Bishop hingegen hatte nicht unter diesen Nachwirkungen zu
leiden gehabt. Vielmehr war bei ihm ein gesteigertes Wohlbefinden die Folge gewesen, ebenso wie gesteigerte Fähigkeiten. Offenbar hatten ihm seine Vitamine dabei geholfen. Vitamine? War das Orakel vielleicht an Vitaminmangel gestorben? Glystra beschäftigte sich mit dieser Idee. Langsam ging er auf dem Steinboden auf und ab. »Ssst!« Glystra sah auf. Ein feindseliges Auge spähte durch einen Spalt in der Tür. Es war Nymaster. »Und jetzt bist du gefangen«, sagte der Sohn des Händlers mit leiser Stimme. »Du wirst sterben müssen. Koromutin sagt, daß du ausgewählt wurdest, das Orakel zu spielen. Für Charley Lysidder. Er hat es vom Superior erfahren, während er von diesem geschlagen wurde.« »Kannst du mich nicht durch Bestechung freibekommen? Ich habe noch einige von den Schwertern, wie du sie gesehen hast.« »Das wäre jetzt selbst mit einer ganzen Tonne Eisen nicht mehr möglich.« Glystra schwieg. »Und was soll jetzt mit meinem Vater geschehen?« fragte Nymaster. »Wenn Elton deiner Anordnung folgt, wird er ihn töten.«
»Bring mir ein Stück Papier. Ich werde Elton schreiben.« Nymaster schob ihm ein fettiges Papierstück und einen scharfen Granitstein hindurch. Glystra kritzelte eine Botschaft an Elton darauf und reichte das Papier zurück. »Ich habe ihm mitgeteilt, daß du noch einmal zu mir zurückkommen wirst. Er wird dir ein kleines Päckchen geben, das du mir bringen sollst. Dafür erhältst du ein weiteres Schwert.« Nymaster schien zu zögern. »Es ist ein ungeheures Wagnis. Aber ich werde es versuchen.« Eine gute Stunde später kehrte er wieder zurück. Er brachte, was Glystra verlangt hatte: ein kleines Päckchen, das Vitamintabletten enthielt. Nymaster verabschiedete sich von ihm, als zählte er fast schon nicht mehr zu den Lebenden. Glystra selbst hegte die Hoffnung, am nächsten Tag durchaus noch unter den Lebenden zu weilen. Wenn seine Kombinationen nicht falsch waren ...
19 Die Sonne verschwand hinter den Gärten am Myrtensee. Vom Osten her brach die Dämmerung herein, bewegte sich auf den marmornen Pavillon zu, der sich auf der Ostseite der riesigen Kuppel befand, umkränzt von schlanken Säulen. Vier schlanke junge Männer traten aus der Tempelkuppel heraus. Sie trugen Fackeln mit sich, die sie in hölzerne Ständer steckten, und kehrten schweigend wieder um. Die Dämmerung wich der hereinbrechenden Nacht. Stimmen ertönten vom Tempel her. Mercodian, der General-Ordinarius vom Myrtensee, und Charley Lysidder, der Bajarnum von Beaujolais, traten in den Lichtkreis, der von den Fackeln ausging. Die Festlichkeiten begannen, in deren Verlauf das Orakel, das auf den Namen Claude Glystra gehört hatte, seine Weisheit preisgeben – und den Preis dafür auch noch selbst bezahlen würde. Glystra wurde mit verbundenen Augen auf seinen Platz gebracht. Mehrere Arme hielten ihn fest, und dann spürte er, wie die Nadel der Spritze tief in seinen Nacken eindrang. Eine große schwarze Hand schien nach seinem Ge-
hirn zu greifen. Dunkelheit umfaßte ihn, ließ ihn vergessen. Die Stimme des General-Ordinarius drang an sein Ohr. »Bajarnum, jetzt liegt sein Gehirn klar und offen vor Ihnen. Beeilen Sie sich, denn in wenigen Minuten schon wird ihn sein Leben verlassen.« Er öffnete die Augen. Die Kopfbinde war ihm inzwischen abgenommen worden. Er fühlte sich wie von ungeahnten Kräften durchflutet. Er erkannte den Mann neben Mercodian augenblicklich. Es mußte der Bajarnum sein – aber er kannte ihn unter einem anderen Namen, nämlich Arthur Hidders. Der Pelzhändler, der im gleichen Schiff wie sie auf den Großen Planeten gekommen war. Eine gute Tarnung für einen Despoten des Großen Planeten, um Waffen- und Sklavengeschäfte auf der Erde zu tätigen ... Neben Hidders-Lysidder-Bajarnum stand Nancy, kreidebleich, das Gesicht dem Boden zugewandt. Ihm entging nicht, daß ihre Augen mit Tränen gefüllt waren. Glystra verstand jetzt die Rolle, die sie gespielt hatte. »Beeilen Sie sich, Bajarnum, wenn Sie sein Wissen haben wollen«, drängte Mercodian. Charley Lysidder erhob seine Stimme. »Wie kann ich von der Waffenkontrolle des Systems Waffen kaufen? Wen muß ich dazu bestechen?«
Glystra sah auf den Bajarnum hinab, dann auf Mercodian, zuletzt auf Nancy. Er konnte seine Gesichtszüge kaum beherrschen, so lächerlich erschien ihm diese Situation. Der Bajarnum wiederholte seine Frage. »Versuchen Sie es mit Alan Marklow«, sagte Glystra, als gäbe er ein großes Geheimnis preis. Der Bajarnum beugte sich erregt nach vorn. »Marklow? Der Vorsitzende des Obersten Kontrollrats?« Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte teilweise ärgerlich, teilweise ungläubig. »Alan Marklow also ist käuflich?« »Ebensogut wie jedes andere Mitglied des Rates«, erklärte Glystra. »Darin liegt mein Rat begründet. Wenn Sie unbedingt jemanden bestechen wollen, ist es doch zweifellos am besten, Sie beginnen gleich bei der Spitze.« Der Bajarnum starrte ihn stumm an. Der GeneralOrdinarius verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen und schnellte von seinem Sitz hoch. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe«, fuhr Glystra fort, »dann brauchen Sie Waffen, um Ihr Reich noch weiter ausdehnen zu können. Ist das richtig?« »Ja, so könnte man es ungefähr sagen.« »Was bewegt Sie zu diesen Absichten?« Mercodian machte eine Bewegung, wollte offenbar eine Anweisung geben. Statt dessen preßte er jedoch
lediglich seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Ich will, daß mein Name für alle Zeiten mit Ruhm verbunden sein wird. Grosgarth soll die Hauptstadt der Welt werden, und ich will all meine Feinde vernichten.« »Das ist ebenso lächerlich wie sinnlos!« Lysidder war sichtlich unangenehm berührt und wandte sich an Mercodian. »Sind das vielleicht die üblichen Antworten?« »Keineswegs, Bajarnum.« Er konnte seine Wut nicht mehr länger im Zaum halten. »Was für ein Orakel bist du«, fuhr er Glystra an, »daß du Fragen ausweichst und dich mit dem Fragensteller herumzustreiten beginnst? Du mußt dir dessen bewußt sein, daß dein eigenes Ich durch die Droge der Weisheit ausgeschaltet ist. Ich befehle dir, präzise auf die Fragen des Bajarnum zu antworten. Er will noch viel von dir wissen, bevor du stirbst, und das wird in wenigen Minuten sein!« »Vielleicht war meine Frage nicht so ganz exakt«, lenkte Bajarnum ein und wandte sich erneut an Glystra. »Wie kann ich mir billig metallene Waffen besorgen?« »Indem Sie der Raumpatrouille beitreten. Dann erhalten Sie einen Ionenstrahler und ein Taschenmesser völlig kostenlos.«
Mercodian japste nach Luft, während sich tiefe Falten in die Stirn des Bajarnum gruben. Die Befragung verlief bei weitem nicht so, wie sie es erwartet hatten. Lysidder versuchte es ein drittes Mal. »Ist es denkbar, daß sich die Erd-Zentrale ernsthaft in die Angelegenheiten des Großen Planeten einmischen wird?« »Das ist in der Tat höchst wahrscheinlich«, antwortete Glystra, wohl wissend, daß dies der Wahrheit entsprach. Er überlegte zugleich, daß es für ihn nun wohl an der Zeit war, zu sterben, und sank auf seinem Sitz in sich zusammen. »Das war wenig zufriedenstellend«, gab Mercodian zu. Charley Lysidder kaute auf seinen Lippen herum und musterte Glystra aufmerksam. Nancy starrte ausdruckslos vor sich hin; es gelang Glystra bei aller Konzentration nicht, hinter ihre Gedanken zu kommen. »Eine letzte Frage«, kündigte der Bajarnum an. »Wie kann ich mein Leben verlängern?« Mit großer Mühe nur gelang es Claude Glystra, seine Bewegungen zu kontrollieren. Mit tonloser Stimme antwortete er: »Indem du dir ebenfalls die Droge der Weisheit verabreichen läßt.« Der General-Ordinarius spuckte wütend aus. »Diesem Geschöpf ist nicht beizukommen! Wäre er nicht schon so gut wie tot, würde ich ihn eigenhändig mit dem Schwert durchbohren.«
Glystra war inzwischen auf seinem Sitz völlig in sich zusammengesunken. Mercodian ließ ihn fortbringen. »Es war ein bedauernswerter Fehler, Bajarnum. Wenn Sie wünschen, werde ich sogleich ein zweites Orakel vorbereiten lassen.« Der Bajarnum reagierte nicht auf seinen Vorschlag. »Wenn ich nur wüßte, was er gemeint hat ...« Glystra wurde in einen Raum geschafft, in dem bereits mehrere Tote aufgebahrt lagen. Er wartete ab, bis die Nachtwache ihre Runde machte, und machte sich auf und davon. Er gelangte unbemerkt wieder aus der Kuppel heraus und kehrte durch Zellos Garten hindurch zur Basarstraße zurück. Nymaster, sein Vater und Elton, glaubten kaum ihren Augen, als sie ihn wiedersahen. Glystra ließ sich ein Bad anrichten und erzählte dann, wie er seine Rolle als Orakel überlebt hatte – dank einer größeren Menge von Vitamintabletten. »Und wie geht es jetzt weiter?« wollte Elton schließlich wissen. »Und jetzt geht es Charley Lysidder an den Kragen«, erklärte Claude Glystra. Eine halbe Stunde später schlichen zwei schattenhafte Gestalten zu dem mit Marmor ausgelegten Platz hinüber, auf dem Charley Lysidders Luftschweber gelandet war. An der Kabinentür lehnte eine Gestalt,
die eine rote Jacke anhatte und einen Ionenstrahler an einem Schulterband trug. »Wie machen wir's«, wisperte Glystra. »Erst müssen wir mit ihm fertigwerden«, meinte Elton. »Fliegen kann ich das Ding.« »Gut. Ich gehe auf die andere Seite. Du lenkst ihn irgendwie ab.« Er verschwand in der Dunkelheit. Elton wartete gute zwei Minuten. Dann trat er vor und richtete seinen Strahler auf die Wache. »Keine Bewegung!« Der Mann sah ihn herausfordernd an. »Was soll –« Glystra erschien hinter ihm. Ein dumpfes Geräusch – die Wache sackte in sich zusammen. Glystra nahm den Ionenstrahler aus der Tasche am Schulterband und winkte Elton. »Auf!« Die Oase vom Myrtensee fiel unter ihnen zurück. Glystra lachte befreit auf. »Wir haben es geschafft, Asa! Wir sind frei ...« Elton blickte über das weite Panorama hinweg. »Das glaube ich erst, wenn wir in der Erdenklave sind.« »Erdenklave?« Glystra sah ihn überrascht an. »Willst du vielleicht lieber nach Grosgarth?« »Natürlich nicht. Aber denk mal nach. Wir sind doch in der besten Position. Charley Lysidder sitzt am Myrtensee fest. Sein Luftschweber ist weg, die Funkanlage nicht mehr zu gebrauchen. Selbst wenn
er noch einen Luftschweber haben sollte, kann er ihn nicht herbeirufen.« »Bleibt ihm die Monobahn«, warf Elton ein. »Die ist auch nicht langsam. In vier Tagen kann er wieder in Grosgarth sein.« »Genau. Er muß die Monobahn benützen, und das ist unsere Chance.« »Wie das? Er wird sich gewiß nicht auf den Weg machen, ohne sich bis an die Zähne zu bewaffnen.« »Daran kann es keine Zweifel geben. Vielleicht schickt er auch nur einen Boten zurück nach Grosgarth, um einen anderen Luftschweber kommen zu lassen, sofern er noch einen hat. Wir müssen uns also erst einmal vergewissern. Ich entsinne mich an einen Ort, wo die Monobahn dicht an einem Felsplateau vorbeiführt. Dort werden wir auf ihn warten.«
20 Sie mußten sich bis am nächsten Morgen gedulden. Ungefähr zwei Stunden nach Sonnenaufgang kam aus der Richtung des Myrtensees ein kleiner, dunkler Punkt auf sie zu. »Der Bajarnum kommt«, erklärte Glystra befriedigt. Der Wagen kam über die Wüste hinweg näher, im Spiel des Windes hin- und herschwingend. Sie konnten schließlich erkennen, daß es eine langgestreckte Frachtgondel war. Mit summenden Rädern rauschte der Wagen an ihnen vorbei und setzte seine Fahrt in Richtung Westen fort. Sie konnten deutlich vier Männer und eine Frau unterscheiden, während sie selbst sich hinter einem Felsvorsprung so in Deckung hielten, daß sie nicht gesehen werden konnten. »Das waren Lysidder, drei seiner Vasallen und Nancy. Und sie wirkten nicht besonders fröhlich.« »Aber sie hatten ihre Strahler griffbereit. Sie scheinen uns zu erwarten.« »Ich habe mitnichten vor, mich ihnen zu nähern.« Sie erhoben sich und gingen zum Luftschweber zurück. »Ich möchte zu gerne mal wissen, was du vorhast«,
murrte Elton. »Wenn du mich fragst, dann treibst du dieses Superhelden-Spielchen ein wenig zu weit.« Sie überflogen die weite Hochfläche, auf der sich noch vor wenigen Tagen ihre Flucht vor den Rebbirs abgespielt hatte. Sie schwebten in das Tal hinunter, wo das Kabel, von den hohen Felsgraten herabfallend, auf eine Plattform zulief. Sie landeten unter einem der Stützpfeiler der Monobahn. »Wir werden jetzt mutwillig das oberste Gebot Osriks verletzen, nämlich das Kabel durchschneiden. Und das sogar mehrmals. Zunächst nehmen wir die Länge zwischen zwei Stützpfeilern heraus.« Glystra kletterte an einem Stützpfeiler hinauf und trennte das Kabel der Monobahn durch. Elton machte es ihm beim nächsten Pfeiler in gleicher Weise nach. »Gut. Jetzt legen wir dieses Seilstück doppelt und befestigen es so am Unterbau des Schwebers, daß wir zwei freie Seilenden bekommen.« Nachdem sie das erledigt hatten, starteten sie den Schweber erneut und landeten im Schatten der Plattform, von der aus sich das Kabel zum Felsgrat hochschwang. Glystra stieg zur Plattform hoch. »So, und jetzt wird ein Seilende mit ein paar kräftigen Knoten an diesem Kabelstück befestigt.« »Mir geht ein Licht auf«, grinste Elton. »Ich fürchte nur, der Bajarnum wird wenig Freude daran haben.« »Den brauchen wir ja nicht unbedingt zu fragen.
Setz dich vorsichtshalber in den Schweber – für den Fall, daß das Kabelgewicht zu stark durchzieht. Fertig?« »Fertig.« Glystra hatte mittlerweile ein Seilende des am Schweber befestigten Seils mehrfach mit dem verknotet, das sich zwischen der Plattform und dem Felsgrat spannte. Das Gewicht dieses Seils hätten sie aus eigener Kraft niemals halten können. Glystra schnitt das Kabel ein gutes Stück vor seinem Knoten durch, so daß das Kabel vom Felsgrat herab jetzt nicht mehr zur Plattform, sondern direkt zum Luftschweber führte, der jetzt gewissermaßen einen Grundanker der Monobahn hergab. Glystra ging zu Elton zurück. »Sie dürfen in etwa einer Stunde hier auftauchen. Wenn es der Wind gut mit ihnen meint, sogar etwas eher.« »Sie kommen!« Die Zeit war schnell vorübergegangen. Elton sah, wie die Gondel sich über den Felsgrat hinausschob. »Jetzt dürfte die schönste Fahrt ihres Lebens beginnen«, freute sich Glystra. Der kleine Punkt kam rasend schnell näher und blieb doch noch ein kaum auszumachender Punkt vor der steil aufragenden Felswand. »Wenn wir jetzt das Gesicht des Bajarnum sehen könnten ...« Er drückte den Hebel durch, und der Luftschweber
hob ab, stieg steil empor, bis er die Höhe des Grates erreicht hatte. Die Frachtgondel unter ihnen rollte in den untersten Teil der Schleife hinab und blieb ausweglos hängen. Die Passagiere darin waren kaum besser als kleine schwarze Punkte auszumachen, aber es sah aus, als gestikulierten sie heftig. Glystra dirigierte den Schweber zum Grat hinüber und setzte ihn an der dortigen Plattform auf. Er verknotete das zweite freie Seilende des Schwebers mit dem an der Plattform auslaufenden Kabel, durchschnitt dieses dann und hatte nun die Frachtgondel an einer langen Kabelschleife unter ihrem Schweber hängen. Glystra blickte hinab. »Dort unten hängt er, der Bajarnum von Beaujolais. Gefangen wie eine Maus in der Falle, ohne daß wir Hand an ihn zu legen brauchten.« »Sie haben noch immer ihre Waffen«, wandte Elton ein. »Wo immer wir sie niedersetzen – und sollte es in der Erdenklave sein – werden sie auf uns schießen.« »Das werden sie nicht. Eine kleine erfrischende Dusche im See wird sowohl Charley Lysidders Temperament abkühlen, als auch die Ionenstrahler durch Kurzschluß gebrauchsunfähig machen.« Charley Lysidder war bleich vor Wut und Enttäuschung, als er am Ufer des Sees stand. Die drei edlen
Vasallen in seiner Begleitung hingegen vermochten noch etwas von ihrer Haltung zu bewahren, obwohl ihnen das Wasser aus den Stiefeln rann. Nancy hockte frierend am Strand, und ihre Zähne klapperten hörbar. Glystra warf ihr einen Überwurf zu. Den Ionenstrahler in der Hand, wandte er sich den anderen zu. »Ihr geht einer nach dem anderen in den Schweber hinein. Elton wird euch nach Waffen und ähnlich unnützem Zeug durchsuchen.« Er wies auf den Bajarnum. »Du gehst zuerst.« Elton brachte bei seinen Untersuchungen drei Dolche und die unbrauchbaren Strahler zum Vorschein. Im Schweber bedeuteten sie ihren Gefangenen, daß sie sich so weit hinten wie möglich zu halten hatten. Lysidder faßte wieder Mut. »Dafür werde ich mich revanchieren. Und wenn ich noch hundert Jahre leben muß!« Glystra lachte. »Die Wut macht dich blind. Wenn es eine Revanche gibt, dann für die hunderttausend Männer, Frauen und Kinder, die du auf andere Welten verkauft hast.« »Das ist eine erfundene Zahl.« »Ob hundert oder hunderttausend, es ist das gleiche Verbrechen.« Glystra ließ sich neben Elton auf dem Pilotensitz nieder. »Glaubst du, daß du die Erdenklave finden kannst?«
»Ich hoffe es.« Seine Finger glitten über das Armaturenbrett. Der Schweber hob ab und flog in westlicher Richtung davon. Lysidder war damit beschäftigt, die Feuchtigkeit aus seiner Tunika zu wringen. Er gewann zusehends wieder an Haltung. »Ich glaube, du tust mir Unrecht, Claude Glystra. Ich habe Menschen verkauft, die ohnehin dem Verderben preisgegeben waren, zumeist dem sicheren Hungertod. Das ist nicht rechtens, zugegeben. Aber mußten nicht auch auf der Erde Tausende um der Befreiung willen sterben?« »Soll heißen, es war Ihre Absicht, den Großen Planeten zu befreien?« »Richtig.« »Aber warum?« Der Bajarnum sah ihn an. »Aber das ist doch keine Frage. Würde dann nicht Ruhe und Frieden herrschen?« »Nein, und das müßtest du selbst wissen. Der Große Planet kann nicht durch Eroberungen vereinigt werden. Schon gar nicht von einer Armee auf Zipangoten und zu deinen Lebzeiten. Daß du dich für Gesetz und Ordnung einsetzen würdest, ist abgesehen davon ohnehin nicht anzunehmen. Deine Armee ist in Wale und Glaythree eingefallen und hält diese Länder besetzt. Zur gleichen Zeit aber rauben die Zi-
geuner und Rebbirs, wie sie nur können, und niemand hindert sie daran.« Nancy sah den Bajarnum zweifelnd an. »Deine Eroberungen«, fuhr Glystra fort, »dienten lediglich deinem Egoismus und deiner persönlichen Eitelkeit. Du bist keinen Deut besser als Atman der Gnadenlose, nur mit dem Unterschied, daß du etwas vornehmere Kleider trägst.« »Das ist alles nichts als leeres Gerede«, zischte Lysidder. »Die Kommissionen von der Erde kommen und gehen. Der Große Planet verschlingt sie alle. So ist es seit vielen Generationen. Und noch immer wird geredet.« »Diese Kommission ist anders«, gab Glystra grinsend zu verstehen. »Oder sagen wir besser, was noch von ihr übrig ist. Ich habe mir umfassende Machtbefugnisse bestätigen lassen, bevor ich diese Position angenommen habe. Ich empfehle nicht – ich befehle.« »Angenommen, das trifft zu. Was würdest du unternehmen?« Glystra zuckte mit den Schultern. »Ich habe Ideen, aber noch kein Programm. Eines aber ist gewiß: Mord und Sklaverei werden ein Ende haben.« Der Bajarnum stieß ein höhnisches Lachen aus. »Du wirst also waffenstarrende Kampfschiffe von der Erde kommen lassen, um die Zigeuner, die Rebbirs, die Nomaden und all die anderen Steppenbewohner
auszurotten – also all die wandernden Stämme des Großen Planeten. Und das alles, um ein von der Erde kontrolliertes Reich aufzubauen anstelle des Reiches von Beaujolais, das ich errichten wollte.« »Du hast das wesentliche offenbar nicht verstanden«, entgegnete Glystra. »Der Große Planet kann niemals zwangsweise geeint werden – ebensogut könnte man Enten, Katzen, Affen, Fische und Elefanten zu einem Staat zusammenfassen. Vermutlich werden tausend oder mehr Jahre vergehen, bevor eine einheitliche Regierung des Großen Planeten denkbar wird. Ein von der Erde beherrschter Großer Planet wäre bei weitem zu kostspielig und würde vermutlich der Macht der Willkür anheimfallen – nicht weniger schlimm wie derzeit das Reich von Beaujolais.« »Was also willst du unternehmen?« Glystra zuckte erneut mit den Schultern. »Regionale Organisationen, unterstützt durch örtliche Gardeeinheiten.« »Also das ganze überlebte System der Erde!« Der Bajarnum rümpfte beleidigt die Nase. »In spätestens fünf Jahren, sind deine regionalen Befehlshaber zu Tyrannen geworden, schlimmer als alle vorhergehenden Herrscher. Die regionalen Richter werden bestechlich sein und die für die Politik verantwortlichen Leute werden nach eigenem Gutdünken Gebiete unterwerfen.«
»Das alles liegt durchaus im Bereich des Möglichen, aber es wird einer Kontrolle unterliegen.« Eine Zeit verstrich. »Was hast du eigentlich mit uns vor?« erkundigte sich Lysidder. Glystra sah durch die Sichtscheibe hinaus. »Das wirst du in zwei Stunden erfahren.« Sie flogen über einen See hinweg, über graue Wüstenstriche und Bergketten. Die Landschaft unter ihnen wechselte in rascher Folge. Als sie über einem gewellten Gebiet schwebten, in dem zahlreiche Weinfelder angelegt waren, wandte sich Glystra an Elton. »Ich schätze, das ist weit genug. Hier machen wir eine kurze Zwischenlandung.« In Lysidders Gesicht begann es zu arbeiten. »Was hast du vor?« »Ach, nichts weiter. Ich habe mich entschlossen, euch laufen zu lassen. Du kannst ja versuchen, nach Grosgarth zurückzukehren, aber ich glaube nicht, daß du es schaffst. Du wirst also hierbleiben und für deinen Lebensunterhalt arbeiten müssen, wie ich es sehe – und das ist wohl die schrecklichste Strafe für den Bajarnum von Beaujolais, die man sich überhaupt ausdenken könnte.« Sie setzten Lysidder und seine drei Vasallen ab und flogen sogleich weiter. Die Gestalten unter ihnen wurden rasch kleiner: Harlekine in prunkvollen Gewändern, die steif und bewegungslos dem abheben-
den Luftschweber nachstarrten. Endlich verlor Charley Lysidder seine Selbstbeherrschung und schüttelte eine drohend geballte Faust hinter ihnen her. Glystra grinste. »Der Bajarnum von Beaujolais gehört der Vergangenheit an.« Die Landschaft des Großen Planeten schwand langsam im Dämmerlicht des späten Nachmittags dahin. Glystra vermochte die schweigende Gestalt im rückwärtigen Teil des Schwebers nicht mehr weiter zu ignorieren. Er ging nach hinten und ließ sich neben ihr nieder. »Ich möchte gern annehmen«, begann er, »daß du nichts als ein willenloses Werkzeug des Bajarnum gewesen bist, und ich werde dafür sorgen –« Sie unterbrach ihn leise, aber leidenschaftlich. »Ich werde dich nie davon überzeugen können, daß wir im Grunde für das gleiche Ziel gearbeitet haben.« Glystra dachte an den langen Marsch zurück und an seine toten Begleiter. Sie hatte sich mitschuldig gemacht durch die Rolle, die sie spielte. »Ich weiß, wo deine Gedanken jetzt sind«, sagte sie. »Aber hör mich erst einmal an. Und dann setze mich mitten im Ozean aus, wenn du willst.« Er nickte stumm. »Die Zigeuner haben mein Zuhause verbrannt und alles, was sich darin befand«, setzte sie mit tonloser Stimme an. »Es war, wie ich es dir bereits erzählt ha-
be. Ich bin nach Grosgarth gegangen; Charley Lysidder hat mich während des Mittsommernachtfestes entdeckt. Er verkündete den Krieg gegen die ganze Welt, und ich dachte, daß das die einzige Chance des Friedens für den Großen Planeten wäre. Er nahm mich in seine Dienste, und warum hätte ich mich dagegen sträuben sollen? Er nahm mich auch mit zur Erde, und auf dem Rückweg erfuhren wir von euren Plänen. Offensichtlich ging es euch einzig allein darum, Charley Lysidder zu verfolgen und von seinen Plänen abzuhalten. Ich trug große Bitternis gegen die Erde und all ihre Bewohner in mir. Sie lebten in Sicherheit und Wohlstand, während auf dem Großen Planeten die Urenkel einstiger Erdbewohner gequält und getötet wurden. Warum kamen sie uns nicht zu Hilfe?« »Ich verstehe«, sagte Glystra. »Aber warum hast du während des Marsches nichts gegen mich unternommen? Du hättest tausendfache Möglichkeiten dazu gehabt.« »Ich begann dich zu lieben und mußte dich doch bekämpfen. Es gelang mir beides nicht. Es ist mir schwer genug geworden, mit dem Wissen um all diese Dinge täglich mit dir zusammen zu sein. Lysidder nahm später natürlich an, ich hätte euch bewußt zum Myrtensee geführt, um euch dort gefangennehmen zu lassen.«
»Wie war das, als sie Bishop umbrachten?« »Damit hatte ich nichts zu tun. Ich bin in Richtung auf die Tempelkuppel gegangen, und er folgte mir, wurde von den Männern Mercodians ergriffen.« »Und Pianza?« Sie schüttelte müde den Kopf. »Die Händler hatten Pianza bereits umgebracht. Ich konnte sie nur noch davon abhalten, euch alle zu töten. Ich habe ihnen aber gestattet, die Gondeln mitzunehmen, weil ich damit erreichen wollte, daß du nach Kirstendale zurückkehrst, wo wir glücklich und unbehelligt hätten leben können.« Sie sah ihn an und senkte dann den Blick. »Ich kann es dir nicht verdenken. Du glaubst mir kein Wort.« »Im Gegenteil, ich glaube dir alles. Ich wünschte nur, ich hätte deinen Mut.« »Ihr beide macht mir immer mehr Spaß!« rief Elton von vorne. »Gebt euch doch endlich einen Kuß, und die Sache ist erledigt.« Glystra und Nancy saßen noch eine Zeitlang schweigend zusammen. »Wir haben viele unverrichtete Dinge hinter uns zurückgelassen«, sagte Glystra schließlich. »Auf dem Rückweg werden wir eine kleine Zwischenlandung in Kirstendale einlegen und die Dienste von Sir Roger Fayne in Anspruch nehmen, der uns in einer schönen und großen Kutsche durch die Stadt ziehen wird.«
»Da bin ich mit dabei!« lachte Elton. »Und ich werde eine lange Peitsche mitnehmen.«