Nr. 103
Planet der Spinnen Suchexpedition im Todesdschungel - Zwerge und Riesen auf der Welt ohne Namen von Kurt Mahr
...
11 downloads
390 Views
292KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 103
Planet der Spinnen Suchexpedition im Todesdschungel - Zwerge und Riesen auf der Welt ohne Namen von Kurt Mahr
Mit dem Tod des letzten »Grauen« auf der »Endstation Nemoia« haben die Ereignisse, die durch die Aktivitäten des Redbone- und des Suddenly-Effekts in weiten Teilen der Galaxis Unruhe und Schrecken verbreiteten, ihr Ende gefunden. Jetzt, Ende Mai des Jahres 2842 terranischer Zeitrechnung, herrschen wieder Ruhe und Frieden auf den von Menschen besiedelten Planeten der Milchstraße. Nur eine Welt ist davon ausgenommen – der zweite Planet von Gladors Stern, die Heimstatt der Siganesen, der kleinsten Vertreter der Spezies Homo sapiens. Hier, auf Siga, bahnt sich etwas an, das schwere galaktopolitische Konsequenzen nach sich ziehen und das traditionell gute Einvernehmen zwischen Terranern und Siganesen empfindlich stören kann. Die überraschende Nachricht, daß Kinder absichtlich in ihrem Wachstum gehemmt und anschließend von Unbekannten entführt wurden, schlägt auf Siga wie eine Bombe ein. Und Alliama Tarouse, die Chefin einer bislang unbedeutenden politischen Partei mit extremistischer Zielsetzung, schlägt daraus Kapital. Sie macht das Solare Imperium für die Verbrechen an den jungen Siganesen verantwortlich. Dabei führt die Spur der Verbrecher und ihrer Opfer zum PLANETEN DER SPINNEN …
Planet der Spinnen
3
Die Hautpersonen des Romans: Flannagan Schätzo - Ein Siganese nimmt Rache an einem Terraner. Penty Grassor - Schätzos Freund und Komplice. Stanzo Peysen - Leiter einer gefährlichen Expedition. Oren Kubaschk - Ein Mörder wird gestellt. Afruth Schwartz - Einziges weibliches Mitglied der Suchexpedition im Dschungel der Spinnenwelt.
1. Flannagan Schätzo sah auf, als das Schott sich öffnete. Ein Roboter trat herein, eine mammuthafte Gestalt für Schätzos Begriffe, und stellte ein winziges Ding behutsam auf den Boden. »He, Robot!« rief Flannagan. »Bleib stehen und sag mir …« Er unterbrach sich, als er sah, daß der Robot nicht reagierte. Der Maschinenmensch trat durch das Schott hinaus. Die Öffnung verschloß sich selbsttätig. Flannagan Schätzo war wieder allein. So ging es nun schon seit Tagen. Wenigstens glaubte Schätzo, daß es Tage waren, die er seit seiner Entführung von Siga in diesem gigantischen Gefängnis verbracht hatte. Es gab keine Möglichkeit, das genau zu bestimmen. Man hatte ihm alles abgenommen, selbst das winzige Chronometer, das er sonst am Handgelenk trug. Er wußte, daß er sich an Bord eines Raumschiffs befand, das von normalgewachsenen Menschen für ihresgleichen konstruiert worden war, nicht für Siganesen. Mit seinen knapp siebzehn Zentimetern Körperlänge war Flannagan Schätzo in einer Welt der Riesen gelandet, in der selbst der Weg von einer Ecke seines Gefängnisses bis zur nächsten fast schon einen anstrengenden Fußmarsch darstellte. Er machte sich über den kleinen Gegenstand her, den der Roboter auf dem Boden abgestellt hatte. Es handelte sich um ein winziges Tablett, sechs Zentimeter lang und vier Zentimeter breit, auf dem zwei zwergenhafte Schüsselchen standen. Sie enthielten jenen Mischmasch an Konzentraten, Hydraten und Extrakten, mit denen Flannagan nun schon seit Tagen gefüttert wurde. Ein si-
ganesischer Löffel war zwischen die beiden Schüsseln geklemmt worden. Schätzo machte sich sofort an die Arbeit. Er wußte, daß er essen mußte, um bei Kräften zu bleiben. Denn was immer ihn auch am Ende dieser Fahrt erwartete, es würde nichts Freundliches, Angenehmes sein, und da war es besser, wenn man bei Kräften war. Flannagan Schätzo wußte nicht, wer es war, der ihn auf Siga gekidnappt hatte. Er wußte nicht, wem das Raumschiff gehörte, und von der Besatzung hatte er bis jetzt nur den Roboter zu sehen bekommen, der ihm täglich das Essen brachte. Er kannte weder das Ziel, noch die Dauer der Reise, und auch die Motivation seiner Bedränger war ihm völlig unbekannt. Aber trotzdem hatte er sich in den langen Stunden der Einsamkeit in diesem riesigen, grauen, tristen Raum Gedanken gemacht und war dabei zu ein paar bemerkenswerten Schlüssen gekommen. Da war zuerst einmal das Tablett, von dem er aß, die beiden Schüsseln und der winzige siganesische Löffel. Wie kam solcherlei Gerät an Bord eines Raumschiffs, das Menschen von normaler Größe gehörte? Hatte man sich eigens seinetwegen die Mühe gemacht, diese Miniaturausgaben von Eßutensilien zu beschaffen? Soviel Rücksichtnahme traute er seinen Bedrängern nicht zu, besonders, wenn er sich daran erinnerte, wie unsanft sie mit ihm verfahren waren, als sie ihn gekidnappt hatten. Es gab nur eine Erklärung: Außer ihm befanden sich noch andere Siganesen an Bord. Waren sie Verbündete der Raumschiffseigner oder ebenso Gefangene wie er? Daß man eigens für diese Fahrgäste siganesisches Eßbesteck angeschafft hatte, wies darauf hin, daß es sich um Personen handelte, auf die man Rücksicht nehmen mußte. Es würden
4 also Verbündete der Schiffseigner sein, nicht Gefangene. Unwillkürlich wanderten Flannagan Schätzos Gedanken zu den zweiunddreißig siganesischen Kindern, die kurz vor seiner Gefangennahme ebenfalls gekidnappt worden waren. Diese Kinder hatten bei bedeutsamen Ereignissen, die sich in den letzten drei Wochen auf Siga taten, eine wichtige Rolle gespielt. Sie litten an einem gemeinsamen Übel, einer akuten Wachstumsbehinderung. Keines von ihnen war größer als vier Zentimeter, und das war selbst für siganesische Verhältnisse zwergenhaft klein. Es hatte insgesamt sechsundvierzig solcher Kinder gegeben. Eine politische Partei hatte das Schicksal der Kinder für ihre eigenen propagandistischen Zwecke gebraucht, um den Siganesen einzureden, daß die Wachstumsbehinderung von terranischen Agenten künstlich erzeugt worden sei. Die sechsundvierzig, so behaupteten die Propagandisten, seien nur eine Vorhut. Spätestens in der übernächsten Generation werde es infolge der terranischen Machenschaften keinen einzigen Siganesen mit einer Körperlänge von mehr als vier Zentimetern geben. Die Tarouse-Partei forderte daher die Loslösung Sigas aus dem Solaren Imperium, völlige Unabhängigkeit für Siga und die Siganesen und den Abbruch diplomatischer, wirtschaftlicher und militärischer Beziehungen mit Terra. Dem Volk waren die lächerlichen Thesen der Tarouse-Propagandisten eingegangen wie süßer Wein. Es war zu Aufständen gekommen. Terraner auf Siga wurden angepöbelt und geschmäht. Inzwischen waren die sechsundvierzig wachstumbehinderten Kinder in staatliche Kliniken gebracht worden, wo sie untersucht werden sollten. Aus diesen Kliniken waren zweiunddreißig kurz vor Flannagan Schätzos Gefangennahme entführt worden. Warum Schätzo glaubte, daß die zweiunddreißig Unglücklichen sich ebenfalls an Bord dieses Raumschiffs befanden, das wußte er nicht zu sagen. Er hatte nur so eine Ahnung, und in den 226 Jahren seines bishe-
Kurt Mahr rigen Lebens hatte er gelernt, sich auf seine Ahnungen zu verlassen.
* Ein leichter Ruck weckte Flannagan Schätzo aus unruhigem Schlaf. Er fuhr auf und horchte. Das stetige Summen des Triebwerks, seit einigen Tagen das einzige Geräusch, das in die Einsamkeit seines Gefängnisses drang, hatte sich verändert. Es war schwächer, dumpfer geworden. Die Antriebsaggregate liefen leer. Das Raumschiff war gelandet. Das Schott öffnete sich. Ein Mann trat ein, das erste organische Wesen, das Flannagan Schätzo seit seiner Entführung von Siga zu sehen bekam. Es war ein grober, ungeschlachter Bursche, der da auf ihn zutrat, noch jung, nicht besonders groß, aber dafür umso breitschultriger. Er hatte eine Knollennase und ein Paar tückische, braune Augen, mit denen er den Siganesen spöttisch musterte. Was Flannagan am meisten überraschte, war, daß er dieses Gesicht zu kennen glaubte. Irgendwo war er diesem Mann schon einmal begegnet, und die Begegnung war, wenn er sich richtig erinnerte, nicht unter freundlichen Aspekten verlaufen. Der Vierschrötige bückte sich blitzschnell und nahm den winzigen Siganesen mit einer Hand vom Boden auf. Sein Griff war alles andere als sanft. Flannagan Schätzo fühlte sich von den kräftigen Muskeln unbarmherzig eingepreßt. »Paß auf, was du tust!« schrie er den Grobschlächtigen wütend an. »Habt ihr mich nur hierhergebracht, damit ein unvorsichtiger Ochse wie du mich umbringen kann?« Der Vierschrötige grinste. Es war ein häßliches, hinterhältiges Grinsen. Es war nicht Mangel an Vorsicht, die ihn hatte so fest zugreifen lassen, registrierte Flannagan. Es war Absicht. Er wollte Schmerzen bereiten. »Du erinnerst dich nicht mehr an mich, nicht wahr?« grinste der Grobschlächtige und hielt sich Flannagan Schätzo dicht vors Gesicht, als wollte er ihn mit den Augen
Planet der Spinnen durchdringen. Im Vergleich zu Flannagans schwächlichem Stimmorgan klang die Stimme des Vierschrötigen wie hallender Donner, und aus seinem Mund kam ein Schwall übelriechender Atemluft, die den hilflosen Siganesen wie ein höllischer Sturm umbrauste. »Oren Kubaschk ist mein Name!« dröhnte die Stimme. »Und wenn du dich an unsere letzte Begegnung erinnerst, dann wirst du wissen, daß es dir hier nicht besonders gutgehen wird.« Oren Kubaschk, Oren Kubaschk, rumorte es in Flannagan Schätzos Bewußtsein. Der Schleier über seinem Gedächtnis lüftete sich. Er, Flannagan, war damals noch USOAgent gewesen. Eine Gruppe von Terranern hatte auf Siga eine Untergrundorganisation gebildet, die sich damit beschäftigte, Erzeugnisse der siganesischen Mikrotechnik an die Blues und das Imperium der Akonen zu vertreiben. Ein solches Beginnen gefährdete die Sicherheit des Solaren Imperiums, denn ein Gutteil der technischen Überlegenheit der Terraner beruhte auf der siganesischen Mikrotechnik. Mit der Sicherheit des Imperiums war zugleich der Friede in der Galaxis bedroht. Deshalb griff die USO ein. Die Organisation wurde ausgehoben, ihre Mitglieder vor Gericht gestellt. Einigen allerdings gelang die Flucht. Oren Kubaschk gehörte dazu. Bei dem Ausbruch verloren nicht nur zwei der Flüchtenden, sondern auch ein USO-Spezialist das Leben. Dieser Spezialist war Jona Grassor, Flannagans langjähriger Freund. Es war Oren Kubaschk, der Jona auf dem Gewissen hatte. Flannagan Schätzo hatte es ihm nicht vergessen. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte er verächtlich. »Wer wird sich nicht an den großen, starken, tapferen Terraner erinnern, der es wagte, einen waffenlosen Siganesen hinterrücks zu erschießen!« »Reiz mich nicht, du Wicht!« schrie er wütend. »Wer hindert mich, dich einfach zu zerquetschen? Was hatte dein Freund dort zu suchen? Warum stellte er sich uns in den Weg? Ich hatte nichts gegen ihn. Ich kannte
5 ihn überhaupt nicht. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wie er geheißen hat. Es war seine eigene Dummheit, die ihn das Leben kostete!« Flannagan Schätzo schwieg. Für einen Mann in seiner Lage war es sinnlos, den, der ihn in der Hand hielt, zu reizen. Oren Kubaschk war ein dummer, impulsiver Mensch. Selbst wenn ihm jemand den Befehl gegeben hatte, den gefangenen Siganesen mit Vorsicht zu behandeln, konnte man sich nicht darauf verlassen, daß er sich an den Befehl halten würde, wenn er in Wut geriet. Der Druck der Hand lockerte sich. Flannagan konnte wieder atmen. Er fühlte sich zerschlagen und ausgelaugt. Mit zitternden Armen stützte er sich auf den Daumen der Hand, die ihn hielt. Oren Kubaschk lachte höhnisch. »Ein großes Maul, aber nichts dahinter!« rief er mit dröhnender Stimme. »Nicht einmal einen freundschaftlichen Händedruck kann er vertragen.« Er amüsierte sich, während er, Flannagan Schätzo immer noch in der Hand, durch das Schott hinaus auf den Gang trat. Der Gang führte zu einer Schleuse, von der aus ein altmodischer Laufsteg in die Tiefe führte. Feuchte, warme, modrige Luft schlug Flannagan entgegen. Er sah sich um. Das Raumschiff, eine alte Kaulquappe von sechzig Metern Durchmesser, war auf einer Lichtung gelandet. Ringsum erhob sich … Wald? Flannagan vermochte nicht zu entscheiden, was das für Gebilde waren, die jenseits der Lichtung den Boden bedeckten. Es mochten Pflanzen sein, aber sie hatten wenig Ähnlichkeit mit pflanzlichem Leben, wie der Siganese es kannte. Merkwürdiges, schimmerndes Gewebe zog sich horizontal über den Boden, eine Ebene über der anderen, das Ganze ein glitzerndes Gewirr von Fäden verschiedener Dicke, an die zehn Meter hoch, ohne Blüten und Blätter oder sonstige Zutaten, wie sie das Pflanzenreich gewöhnlich aufweist. Am schlimmsten jedoch war der Gestank, der in der Luft lag. Er schien aus dem war-
6 men Boden zu quellen, ein Miasma, das sich aus dem Geruch der Verwesung und dem penetranten Gestank tierischer Exkremente zusammensetzte. Am Fuße des Laufstegs hatten sich Leute gelagert, normalgewachsene Menschen und eine kleine Gruppe von Siganesen. Ihnen wandte Flannagan Schätzo seine Aufmerksamkeit zu, nachdem es ihm mißlungen war, in der Umgebung einen Hinweis auf die Identität des Planeten zu finden. Er zählte neun Terraner, acht Männer und eine Frau, und sechs Siganesen. Zu den Terranern kam natürlich noch Oren Kubaschk, der ihn in der Hand trug. Von den Normalgewachsenen kannte Schätzo keinen einzigen. Einer davon fiel ihm auf, weil er nicht wie die übrigen eine graublaue Allzweck-Montur trug, sondern sich in einen Anzug gekleidet hatte, der ebenso elegant und teuer wie für diese Umwelt völlig ungeeignet war. Der Mann mochte etwas unter fünfzig Jahren sein. Da er auf dem Boden hockte, konnte Flannagan nicht abschätzen, wie groß er war. Auf jeden Fall war er schlank und hatte ein Gesicht, das den Eindruck der Weichlichkeit vermittelte. Das täuschte jedoch, wie Flannagan bemerkte, als er den harten, kalten Blick der dunklen Augen auf sich ruhen fühlte. »Hier haben wir den Gefangenen!« verkündete Oren Kubaschk und hielt die Hand mit Flannagan Schätzo dem Mann mit dem verweichlichten Gesicht entgegen. Der machte nur eine Kopfbewegung in Richtung der Siganesen, die sich abseits niedergelassen hatten, und sagte mit nasaler Stimme: »Setz ihn dort ab!« Kubaschk ging auf die Gruppe der Siganesen zu. Er tat so, als wolle er Flannagan behutsam absetzen, aber als seine Hand etwa einen halben Meter über dem Boden schwebte, öffnete er sie plötzlich. Schätzo war darauf gefaßt. Er drehte sich im Fall herum und landete wie eine Katze auf Armen und Beinen. Oren Kubaschk lachte verächtlich. »Das war nichts«, sagte er. »Das nächstemal probieren wir's aus größerer Höhe!«
Kurt Mahr Dann wandte er sich ab und setzte sich zu den Terranern. Flannagan Schätzo strich seine Montur glatt und musterte seine sechs Landsleute. Es handelte sich ausschließlich um Männer. Einen von ihnen kannte Flannagan von siganesischen Nachrichtensendungen her. Er war ein bekannter Wirtschaftswissenschaftler und hieß Auld Cooster. An dem letzten der Siganesen blieb Flannagans Blick haften. Er war so überrascht, daß es ihn Mühe kostete, sein Erstaunen zu verbergen. Und doch war es von äußerster Wichtigkeit, daß er sich beherrschte. Der Siganese schien ihn ebenfalls erkannt zu haben. Er sah ihn an und schloß und öffnete das linke Auge, als wolle er ihm zuzwinkern. Was wollte dieser Mann hier? Es war unmöglich, daß er sich mit einer Gruppe Terraner verbündet hatte, zu der Oren Kubaschk gehörte. Denn er war Penty Grassor, Jona Grassors Bruder …!
* Flannagan Schätzo wußte, daß er vorsichtig sein mußte. Er stellte sich vor und fügte hinzu: »Soweit ich weiß, habe ich mich als Gefangenen zu betrachten. Wenigstens geschah mein Abflug von Siga nicht freiwillig. Wie steht es mit euch?« »Wir befinden uns auf großer Fahrt«, antwortete einer der Siganesen mit melodischer Stimme. Er war ein Mann am Beginn der mittleren Jahre, etwa einhundertundfünfzig Jahre alt, und hatte ein ausdrucksvolles, fein gegliedertes Gesicht. Das Grün seiner Haut war verblaßt, kaum mehr zu erkennen, ein Zeichen seiner Vornehmheit. »Wir versprechen uns Wissen und Reichtum von diesem Unternehmen. Es dreht sich nur darum, ob wir die Flotte finden können.« »Die Flotte?« fragte Flannagan verwundert. »Welche Flotte?« Der Mann mit der melodischen Stimme schickte sich an zu antworten. Aber ein junger Siganese fuhr ihm grob ins Wort.
Planet der Spinnen »Halt den Mund, Piano! Du hast gehört, daß der Mann ein Gefangener ist. Er braucht nicht zu wissen, worum es hier geht.« Er warf zuerst dem mit der melodischen Stimme und danach Flannagan Schätzo einen ärgerlichen Blick zu. »Junger Mann«, sagte Flannagan mit schneidend scharfer Stimme, »du hast eine ungewöhnliche Art, dich Älteren gegenüber auszudrücken. Sag mir, wie du heißt!« »Ich bin Tough Ma-Konah«, antwortete der junge Siganese mürrisch. »Und du, alter Mann, spielst dich am besten hier nicht so auf. Das könnte dir schlecht bekommen!« Flannagan Schätzo trat auf Ma-Konah zu. Er musterte ihn mit scharfem Blick, den der Junge frech und doch zugleich unsicher erwiderte. Blitzschnell griff Flannagan nach vorn, bekam Ma-Konah am Kragen seiner Montur zu fassen, hob ihn in die Höhe und schleuderte ihn nach hinten über die Schulter. Ma-Konah stürzte schwer. Einen Augenblick lag er wie bewußtlos. Dann raffte er sich mühsam auf. »Du wirst dir merken«, sagte Flannagan hart, »wer sich hier nicht aufspielen darf. Ich bin ein Gefangener; aber dem Alter gebührt Respekt, und du wirst nicht darum herumkommen.« Ma-Konah schlich sich beiseite, ohne ein Wort zu sagen. Flannagan Schätzo seufzte ergeben. Er wußte noch nicht genau, in was für ein Unternehmen er da hineingeraten war, und hatte doch schon zwei erbitterte Feinde: Oren Kubaschk und Tough MaKonah. Die Gesellschaft von Siganesen hatte, wie die Terraner, eine Plastikplane auf dem Boden ausgebreitet, um nicht auf der stinken, morastigen Erde sitzen zu müssen. Flannagan hockte sich neben Penty Grassor nieder. Er reichte Grassor die Hand. »Sie haben bis jetzt noch nichts gesagt«, erklärte er höflich, »also darf ich annehmen, daß man mit Ihnen gut auskommt.« Grassor ergriff die Hand. »Ich heiße Penty Grassor«, sagte er. »Wir sind hier nicht so vornehm, daß du mich mit
7 Sie anzureden brauchtest. Wir werden uns gut vertragen.« Kein Wort fiel über Jona Grassor. Flannagan mußte warten, bis er mit Penty allein war, um zu erfahren, was den Bruder seines Freundes dazu veranlaßt hatte, sich dieser Expedition anzuschließen. Er erhielt die übrigen Mitglieder der Gruppe vorgestellt. Die Männer, die er noch nicht kannte, hießen Jon Tanzon, Vernon Lyall mit dem Beinamen Piano, das war der Mann mit der wohlklingenden Stimme, und Romberg Kessel. »Was ist das für ein Unternehmen?« erkundigte sich Flannagan, nachdem die Formalitäten beendet waren. Penty Grassor warf ihm von der Seite her einen halb mißtrauischen, halb unsicheren Blick zu. »Ich weiß nicht, ob ich dir davon erzählen darf«, meinte er. »Dann behalt's für dich!« knurrte Flannagan. »Ich bin nicht neugierig.« »Außerdem weiß ich selber nicht besonders viel«, fuhr Grassor fort. »Aber es geht um eine Flotte von Raumschiffen, die ein unbekanntes Volk vor langer Zeit auf diesem Planeten gelandet hat.« Flannagan sagte kein Wort. Penty Grassor schien weitersprechen zu wollen, aber bevor er dazu kam, rief der Mann mit dem weichlichen Gesicht von der Gruppe der Terraner herüber: »Flannagan Schätzo, komm hierher!« Flannagan stand auf und marschierte hinüber. Die Gruppen der Terraner und der Siganesen saßen nur wenige Meter voneinander entfernt. Flannagan baute sich vor dem Verweichlichten auf, der wie ein Gebirge vor ihm in die Höhe ragte. »Ich bin Peysen«, sagte der Mann mit dem vornehmen Anzug »Stanzo Peysen. Du hast von mir gehört?« Flannagan brauchte nicht lange nachzudenken. Stanzo Peysen war auf Siga ein bekannter Name. Er hatte den Mann nie zuvor gesehen, aber er wußte, daß er in der TerraMission auf Siga eine wichtige Rolle spielte.
8 »Ja, ich habe von dir gehört«, antwortete Flannagan. »Dein Hiersein hat zwei Anlässe«, erklärte Peysen. »Erstens wurde uns deine Neugierde auf Siga allmählich unbequem, und zweitens besitzt du als ehemaliger Spezialist der United Stars Organisation Fähigkeiten, die wir bei unserem Vorhaben zu schätzen wissen.« An dieser Stelle fiel Flannagan Schätzo ihm respektlos ins Wort. »Welches ist euer Vorhaben?« Peysen winkte ab. »Das geht dich im Augenblick noch nichts an. Du wirst beizeiten darüber erfahren. Es sind andere Dinge, über die ich jetzt mit dir sprechen möchte.« »Sprich!« forderte Flannagan ihn auf. Stanzo Peysen musterte ihn irritiert. Dann fuhr er fort: »Du bist uns wertvoll, aber keinesfalls unersetzlich. Du bist unser Gefangener. Du tust entweder, was wir von dir wünschen, oder du wirst auf dieser Welt ausgesetzt. Was sagst du dazu?« Flannagan hob lässig die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Ihr habt mich in der Hand, und ich hänge am Leben. Ich werde mich so verhalten, daß ich möglichst lange am Leben bleibe.« »Das ist vernünftig«, lobte Peysen, der Flannagans Feststellung auf seine Weise auslegte. »Da werden wir gut miteinander zurechtkommen.« »Wir zwei vielleicht«, gab Flannagan zurück. »Aber wenn du mich wirklich für wertvoll hältst, wie du sagst, dann machst du diesem Ochsen dort drüben am besten jetzt gleich klar, daß er die Finger von mir zu lassen hat.« Peysen sah erstaunt auf. »Ochsen? Welchen …?« Flannagan wandte sich um und deutete auf Oren Kubaschk. »Den dort!« rief er. »Wir kennen uns von früher, leider. Er kann mich ebenso wenig leiden wie ich ihn. Leider befindet er sich jedoch in der Lage, in der er mich seine Ab-
Kurt Mahr neigung fühlen lassen kann, und ich nicht.« Stanzo Peysen warf Kubaschk einen fragenden Blick zu. »Ist das so?« wollte er wissen. Kubaschk war rot geworden – vor Zorn! »Was? Daß wir uns kennen? Ja, das ist so!« »Der Mann ist unser Gefangener«, erklärte Peysen mit scharfer Stimme, die der Weichheit seines Gesichtes Hohn sprach, »aber wir werden ihn nicht malträtieren. Ist das klar?« Oren Kubaschk senkte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Flannagan Schätzo wagte nicht abzuschätzen, über wieviel Autorität Stanzo Peysen in dieser Gruppe verfügte. Es sah nicht aus, als hätte die Zurechtweisung Kubaschk besonders beeindruckt. Peysen stand auf. Er sah einige Mitglieder seiner Gruppe der Reihe nach an. »Geller, Borodkin, Schwartz – wir haben zu tun! Kommt mit!« befahl er. Die drei Genannten erhoben sich: Ein äußerst junger, schlanker Mann; ein Mann, der nicht ganz so jung war wie der erste und dessen auffallendstes Merkmal die kleinen Augen waren, die zwischen Hautfalten fast verschwanden, und schließlich die einzige Frau der Gruppe. Peysen betrat die Laufbrücke, die zur Schleuse des Raumschiffs hinaufführte. Die drei anderen folgten ihm. Flannagan blickte ihnen nach, bis sie an Bord der Kaulquappe verschwunden waren. Dann wandte er sich, um zu den Siganesen zurückzukehren. Er hockte sich neben Penty Grassor, wie er es zuvor getan hatte. Tough Ma-Konah, der sich zuvor abseits geschlichen hatte, war wieder zur Gruppe gestoßen. »Wir wurden vorhin unterbrochen«, sagte Flannagan zu Grassor. »Die Flotte, nach der ihr sucht, interessiert mich. Woher wißt ihr davon?« Insgeheim musterte er die Leute, die um ihn herumsaßen. Sie hatten mit Peysen und seinen Terranern gemeinsame Sache gemacht. Würden sie es dulden, daß Penty Grassor Geheimnisse ausplauderte? Er sah
Planet der Spinnen Tough Ma-Konah und den Mann namens Jon Tanzon gehässig das Gesicht verziehen. Aber anscheinend war sein erster Auftritt so überzeugend gewesen, daß sich fürs erste niemand mehr mit ihm anzulegen wagte. »Wir wissen von den Terranern davon«, antwortete Grassor unbeteiligt. »Schon mal von Mentollien gehört?« Flannagan nickte. »Ein Prospektor, nicht wahr? Siganese. Vor ungefähr dreihundert Jahren. Er machte einige wichtige Entdeckungen auf den Welten in der Umgebung von Gladors Stern. War damals ziemlich viel im Gerede. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.« »Er verunglückte«, antwortete Grassor ernst. »Vor nicht allzu langer Zeit. Tödlich. Vorher jedoch stand er mit Peysen in Verhandlungen. Peysen hat eine Menge Kartenskizzen von ihm erhalten, die sich auf diesen Planeten beziehen. Mentollien hat hier einen merkwürdigen Fund gemacht – und beinahe das Leben dabei eingebüßt. Es handelt sich um eine große Anzahl von Raumschiffen, die seit Jahrtausenden hier abgestellt sind. Der, der sie an sich bringt, wird im Handumdrehen ein reicher und mächtiger Mann.« »Mentollien war hier«, sinnierte Flannagan. »Wie heißt diese Welt?« »Ich glaube nicht, daß sie einen Namen hat.« »Wie weit sind wir von Siga entfernt?« »Neunhundert Lichtjahre.« Flannagan warf einen abschätzenden Blick auf die alte Kaulquappe, die vor ihm aufragte. »Ich habe schon schnellere Raumschiffe gesehen«, sagte er unwirsch. »Aber keine billigeren«, wies Grassor seine Kritik zurück. »Mag sein«, gab Flannagan zu. »Ich habe nur noch eine Frage, und ich will sehen, ob ihr den Mut besitzt, mir darauf ehrlich zu antworten. Auf Siga gab es vor kurzem, wie ihr wißt, unter Kindern im Alter von vier bis zu achtzehn Jahren einige Fälle akuter Wachstumsstörung. Sechsundvierzig insge-
9 samt. Von diesen Kindern wurden vor wenigen Tagen zweiunddreißig entführt und sind, soweit die Behörden auf Siga wissen, spurlos verschwunden.« Er blickte sich um und bemerkte Unbehagen auf manchen Gesichtern. »Was ich wissen will, ist: Befinden diese zweiunddreißig Kinder sich an Bord des Raumschiffs?« Sie blickten alle zu Boden, selbst Penty Grassor. Niemand wollte die Frage beantworten. »Nun …?« drängte Flannagan. »Ja, sie sind an Bord«, quetschte Grassor hervor. Flannagan spie auf den Boden und stand auf. Mit einemmal empfand er tiefen Abscheu für die Leute, mit denen das Schicksal ihn gegen seinen Willen zusammengeworfen hatte. »Was seid ihr doch für Schweinehunde«, sagte er voller Verachtung und spie ein zweites Mal aus.
2. Ein Schatten fiel vor ihm auf die weiche, stinkende Erde. Er sah auf. Oren Kubaschk stand vor ihm, so hoch wie ein Berg. Ein häßliches Grinsen lag auf seinem klobigen Gesicht. Flannagan sah sich um. Peysen war immer noch an Bord der Kaulquappe. »So, also beim Chef anschwärzen wolltest du mich!« dröhnte es aus der Höhe herab. »Ich werde dir zeigen, was es heißt, sich mit Oren Kubaschk anzulegen.« Er bückte sich und griff Flannagan auf. Er hielt sich die kleine Gestalt des Siganesen dicht vors Gesicht, wie es seine Art war, und spannte die Muskeln der Hand. »Malträtiert wirst du nicht«, zischte er, »aber arbeiten sollst du.« Er drehte sich um und wies in Richtung des merkwürdigen Waldes, der die Lichtung umgab. »Siehst du die Früchte, die dort in den Bäumen hängen?« Flannagan Schätzo sah in der Tat eine ganze Reihe punktförmiger Gebilde, die in
10 den obersten Schichten des eigenartigen Pflanzennetzwerks zu hängen schienen. Es war merkwürdig, daß er sie zuvor nicht bemerkt hatte. »Ein paar von denen sollst du für uns pflücken«, rief Kubaschk so laut, daß Flannagan die Ohren dröhnten. »Komm, ich bring dich hin, damit du nicht so weit zu laufen hast.« Er setzte sich in Bewegung. Flannagan Schätzo musterte besorgt die Gesichter der Terraner. Sie waren unbeweglich, undurchsichtig. Nur einer grinste hämisch, ein junger, kleiner Mann mit einem spitzen Gesicht. Seine Augen funkelten, wie die eines Zuschauers bei einem aufregenden Schauspiel. Kubaschk schritt weit aus. Die Entfernung bis zum Rand der Lichtung betrug rund dreihundert Meter. Für Flannagan Schätzo wäre es, wenn er zu Fuß hätte gehen müssen, ein einstündiger Marsch gewesen. Kubaschk jedoch bewältigte die Strecke in wenigen Minuten. In der Zwischenzeit erhielt Flannagan Schätzo Gelegenheit, die merkwürdige Flora dieses Planeten in näheren Augenschein zu nehmen. Er brauchte seine frühere Meinung nicht zu revidieren: Der Wald, wenn man ihn so nennen wollte, der die Lichtung umgab, bestand in der Tat aus locker übereinandergeschichteten Lagen eines weitmaschigen Gewebes, das im Licht der fremden Sonne merkwürdig glitzerte. Trotz der Maschenweite und der lockeren Schichtung war das Gebilde als Ganzes jedoch so dicht, daß kaum ein einzelner Strahl der fremden Sonne bis auf den Boden drang. Unter dem Gewebeschichten herrschte trügerisches Halbdunkel. Noch etwas anderes bemerkte Flannagan: Der Gestank, der ihm schon beim Verlassen des Raumschiffs unerträglich erschienen war, wurde immer intensiver, je mehr Oren Kubaschk sich dem fremdartigen Wald näherte. Es war, als ginge der häßliche Geruch von den merkwürdigen, schimmernden Gewächsen aus. Besondere Aufmerksamkeit
Kurt Mahr schenkte Flannagan den Gebilden, die Kubaschk als »Früchte« bezeichnet hatte. Aus der Ferne waren sie ihm wie Punkte erschienen. Jetzt sah er, daß es in Wirklichkeit ovale Gebilde waren, die etwa einen halben Meter in der Längsdimension maßen und an Höhe und Breite etwa die Hälfte dieser Abmessung aufzuweisen hatten. Sie schienen recht gewichtig zu sein, und Flannagan fragte sich, wie die dünnen Fäden des Pflanzengespinsts sie zu tragen vermochten. Am Rande des Waldes blieb Oren Kubaschk stehen. Er wog den Siganesen einigemal in der Hand und lachte dazu. Dann rief er: »Hinauf mit dir! Eine Frucht mußt du mir auf jeden Fall bringen, sonst bist du verloren!« Bei einem Aufwärtsschwung öffnete er die Hand. Wie von einer Sehne geschnellt, schoß Flannagan Schätzos kleiner Körper in die Höhe. Die schimmernden Gewebeflächen rasten mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu. Dies waren Sekunden, in denen er die ganze Beherrschung brauchte, die er sich in zwei Jahrhunderten anerzogen hatte. Er mußte den Augenblick abwarten, in dem seine Vorwärtsbewegung aufhörte, und dann blitzschnell einen der Gewebefäden ergreifen, um sich daran festzuhalten. Versäumte er das, so stürzte er wieder in die Tiefe. Oren Kubaschk hatte ihn mit großem Schwung geschleudert. Am Scheitelpunkt seiner Bahn befand er sich gewiß zwölf Meter über dem Boden. Siganesen sind widerstandsfähige Geschöpfe, aber einen Sturz aus wenigstens zwölf Metern Höhe getraute sich auch Flannagan Schätzo nicht, unverletzt zu überstehen. Das glitzernde Gewebe raste an ihm vorbei. Allmählich wurde die Bewegung langsamer. Er spannte die Armmuskeln. Jetzt … jetzt war der richtige Augenblick gekommen. Die Hände schossen vor. Die Finger schlossen sich um ein klebriges, elastisches Gebilde. Flannagan Schätzo schloß die Augen. Mehr konnte er jetzt nicht tun. Er hatte alles geleistet, was in seiner Kraft stand.
Planet der Spinnen Der Gewebefaden, der etwa die Dicke seines Unterarms besaß, zog und streckte sich unter dem ungewohnten Gewicht, das sich plötzlich an ihn gehängt hatte; aber er hielt. Erleichtert schlug Schätzo die Augen wieder auf und sah sich um. Aus der Tiefe hörte er Oren Kubaschks hallendes Gelächter. Flannagan befand sich in unmittelbarer Nähe des Walddaches. Über ihm gab es nur noch eine einzige Lage des seltsamen Gewebes. Und in dieser obersten Lage hingen die Früchte, von denen Kubaschk wenigstens eine haben wollte. Flannagan Schätzo überlegte. Wer wollte ihn daran hindern zu fliehen? Oren Kubaschk dort unten war viel zu dumm, als daß er diese Möglichkeit mit in Betracht hätte ziehen können. Er wollte seine Frucht haben. Das war alles, was ihn kümmerte. Flannagan versuchte, in die Tiefe des Waldes zu blicken; aber die Fäden, die sich quer durch sein Gesichtsfeld zogen, waren so zahlreich und so dicht, daß sein Blick höchstens zwanzig Meter weit drang. Es sah nicht so aus, als sei der Wald dort schon zu Ende. Er zog sich bis in alle Ewigkeit hin, und Flannagan, der diese Welt nicht kannte, hielt das Risiko für zu groß, sich waffenlos und ohne Kenntnis des Planeten dieser Umwelt auszusetzen. Also blieb ihm nur noch die Möglichkeit, Oren Kubaschk eine der Früchte zu besorgen und sich auf diesem Wege aus der Schlinge zu ziehen. Er peilte die Frucht an, die ihm am nächsten hing, und machte sich auf den Weg. Es war eine mühsame Art der Fortbewegung. Die Fäden, an denen er entlangturnte, waren so klebrig wie Honig, und manchmal hatte er den Eindruck, sie bestünden wirklich aus Honig und müßten unter seinem Gewicht zerreißen. Sie waren nicht, wie er zuerst vermutet hatte, elastisch, sondern plastisch. Wenn er sich zu einem der dünneren Fäden hinüberhangelte, so senkte sich dieser unter seinem Gewicht und erhielt dadurch eine neu Form, die er auch dann beibehielt, wenn Flannagan schon längst den nächsten Faden erreicht hatte. Es kam ihm vor, als würden die Fäden um
11 so klebriger, je weiter er in die Höhe kletterte. Aber das mochte Täuschung sein. Schon jetzt sehnte er sich nach einem Bad, in dem er all die Klebrigkeit, die an ihm hängengeblieben war, wieder abwaschen konnte. Als er einen besonders starken Faden erreichte, hockte er sich rittlings darauf und legte eine Verschnaufpause ein, um sich zu orientieren. Er sah zu der Frucht hinauf, der sein Bemühen galt, und erschrak. Er war sicher, vorhin dort nur eines der ovalen Gebilde gesehen zu haben. Jetzt waren es drei. Er blickte in die Tiefe. Einen Augenblick lang schoß es ihm durch den Sinn, Oren Kubaschk um Rat zu fragen; aber als er das grinsende, hämische Gesicht des Vierschrötigen sah, gab er den Gedanken wieder auf. Kubaschk schien mit schlecht verhohlener Schadenfreude auf etwas zu warten. Was das war, konnte Flannagan sich nicht denken. Er kletterte weiter. Er befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit den drei Früchten und brauchte sich nicht mehr in die Höhe, sondern nur noch seitwärts zu hangeln. Das erleichterte die Arbeit. Er machte gute Fortschritte, bis er plötzlich ein zischendes Geräusch hörte. Er blickte auf, und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Die drei Früchte hatten sich verwandelt. Einer jeden waren, scheinbar aus dem Nichts, zwölf lange, haarige Spinnenbeine gewachsen. Aus dem Vorderteil der Frucht ragten jeweils zwei meterlange, fühlerähnliche Gebilde hervor, die an ihren Enden kugelförmige Organknollen trugen, und unter den Fühlern sah Flannagan ein merkwürdiges Gebilde, das ihn an die Scheren eines Krebses erinnerte. Plötzlich wußte er, was er von Oren Kubaschks lärmender Heiterkeit zu halten hatte. Er war in eine Falle geraten! Es gab keine Früchte in diesem Wald. Was er für Früchte gehalten hatte, waren in Wirklichkeit spinnenähnliche Tiere, und ihr scherenartiges Beißwerkzeug wies darauf hin, daß sie nicht
12
Kurt Mahr
zu den friedlichsten aller Geschöpfe zählten. Es gab auch keinen Wald! Das zähe, klebrige Gespinst, das den Boden dieses Planeten überzog, war das Werk der Spinnen, die dieses Gebilde errichtet hatten, um sich darin ihre Nahrung zu fangen. Das vorderste der Gebilde, die er bis vor wenigen Augenblicken für Früchte gehalten hatte, setzte sich in Bewegung. Flannagan Schätzo sah zwei starre Facettenaugen auf sich gerichtet. Er überlegte, ob er sich durch Flucht diesem Dilemma entziehen könne. Da sah er, daß die beiden anderen Spinnen zur Seite hin ausgeschert waren, um ihm den Rückweg abzuschneiden. Überdies war anzunehmen, daß die Spinnen sich in diesem von ihnen selbst geschaffenen Gelände wahrscheinlich rascher bewegen konnte, als er, der er nach jedem Griff die Hand oder den Fuß mühselig wieder von den klebrigen Fäden entfernen mußte. Und dann drang zu allem Überfluß auch von unten Oren Kubaschks schadenfrohes Gelächter herauf. Das gab den Ausschlag. Flannagan Schätzo entschloß sich zu kämpfen. Kubaschk hatte ihn hier heraufgeschleudert, damit er ihm eine von den Früchten besorge. Und eine Frucht würde er ihm besorgen …!
* Die Spinnen machten raschelnde, zischende Geräusche, als sie sich ihm näherten, die eine von vorne, die anderen von der Seite. Sie mußten hungrig sein, denn die Beißscheren schnappten unaufhörlich auf und zu, als hätten sie ihr Opfer schon gefaßt. Flannagan Schätzo wartete, äußerlich ruhig, innerlich von Todesangst geschüttelt. Er hatte nur eine Chance. Jede der Spinnen wollte ihn für sich haben, so einträchtig sich ihr Umzingelungsmanöver auch ausnahm. Für sie war er nur ein kleiner Happen, der kaum einer von ihnen den Magen füllen würde. Er mußte ihren Futterneid ausnützen. Die Zeit schien stillzustehen. Das unauf-
hörliche Rascheln und Zischen war das einzige Geräusch, das noch in Flannagans Bewußtsein drang. Die beiden Spinnen, die ihn von der Seite fassen wollten, waren jetzt auf gleicher Höhe mit ihm und bewegten sich auf ihn zu. Dasselbe tat die Spinne, die er vor sich hatte. Es fiel Flannagan schwer, alle drei Angreifer gleichzeitig im Auge zu behalten. Er wendete ruckartig den Kopf, um für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf eine der Spinnen zu werfen, die sich von der Seite her näherten. Am gefährlichsten war das Tier gerade vor ihm. Es war ihm am nächsten, und wenn sich seine Artgenossen nicht beeilten, war sein ganzer Plan umsonst. Er hatte sich seine Umgebung genau angesehen. Neben ihm, rechts und links, und unter ihm befanden sich tragfähige Fäden, auf die er sich verlassen konnte. Selbst wenn er sich einfach hätte fallen lassen, wäre er wahrscheinlich über kurz oder lang an einem der klebrigen Gespinste hängengeblieben. Jetzt entwickelten die beiden seitwärts angreifenden Tiere höhere Geschwindigkeit. Sie mochten bemerkt haben, daß ihnen andernfalls ihr Artgenosse zuvorkommen würde. Flannagan Schätzo spannte die Muskeln. Prüfend löste er die Hände von dem Faden, an dem er sich festhielt, um festzustellen, ob ihn die Klebemasse noch behinderte. Jetzt war eine der Spinnen unmittelbar vor ihm. Sie strömte einen unbeschreiblichen Geruch aus, und ihre Augen waren so groß und starr, daß sich Flannagan für die Dauer eines Atemzugs von ihnen hypnotisiert fühlte. Dann jedoch hörte er von rechts und links gleichzeitig das Schnappen einer Gebißschere. Das rüttelte ihn auf. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Zwei, drei Scherenpaare schossen gleichzeitig auf ihn zu. Er ließ den Faden fahren, an dem er sich bis jetzt festgehalten hatte. Er duckte sich und hörte über sich drei Scheren mit schabendem, rasselndem Geräusch ineinanderfahren. Er verlor das Gleichgewicht; aber das war geplant. Einen halben Meter tiefer bekam er den nächsten Faden
Planet der Spinnen zu fassen, benutzte ihn als Reck, schwang sich auf und verschaffte sich von neuem festen Halt. Über ihm hatten sich die drei Spinnen ineinander verbissen. Flannagans Plan ging auf. In dem Augenblick, in dem die Tiere aneinandergerieten, vergaßen sie den ursprünglichen Zweck ihres Vorhabens. Sie waren jetzt nur noch miteinander beschäftigt. Haarige, schuppenartige Körperbedeckung rieselte auf Flannagan herab, während die drei Bestien einander zerfleischten. Es war ein verbissener, aber kein geräuschloser Kampf. Die Beißscheren schnappten mit knallenden Geräuschen auf und zu, die haarigen Beine rieben sich kratzend aneinander, und die Kugeln an den Fühlerenden prallten mit dumpfen Laut zusammen. Das dauerte zwei, vielleicht drei Minuten. Dann stürzte von oben ein abgebissener Fühler herab. Flannagan ergriff ihn und zog ihn zu sich heran. Die Oberfläche des Spinnenorgans fühlte sich rauh an. Der Organklumpen an seinem Ende war weich und schwer. Flannagan schwang den Fühler versuchsweise durch die Luft. Er war schwer und maß sechsmal Flannagans Körperlänge. Aber er war eine Waffe, mit der er sich verteidigen konnte. Eine der Spinnen war so schwer verletzt, daß sie sich nicht mehr halten konnte. Hilflos stürzte sie durch das Gewirr der Fäden in die Tiefe. Von Zeit zu Zeit schien ein Teil des klebrigen Gewebes ihren Fall zu bremsen, aber immer wieder gewann der schwere, unbeholfene Körper das Übergewicht und stürzte weiter. Augenblicke später war die zweite Spinne an der Reihe. Der Sieger hatte ihr beide Fühler und drei Beine abgebissen und rückte dem Spinnenkörper zu Leibe, um sich daran zu laben. Das kritisch verwundete Tier besaß jedoch noch genug Kraft, um sich abzustoßen und ebenfalls in die Tiefe zu stürzen. Übrig blieb nur noch der Sieger. Mit ruckenden Bewegungen sah er sich um, als erinnerte er sich jetzt erst, daß der ursprüngliche Angriff einem ganz anderen Objekt ge-
13 golten hatte. Flannagan Schätzo schwang den erbeuteten Fühler. Das biegsame Organ schwang nach oben, und die Kugel an seinem Ende traf mit dumpfem Klang den braunen Körper der Spinne. Im selben Augenblick machte Flannagan sich an den Abstieg. Die Spinne, ihres ursprünglichen Opfers gewahr, folgte ihm sofort. Erst hatte er Schwierigkeiten, einen sicheren Abstand zu halten, denn die Fäden, an denen er entlangturnte, waren klebrig, und manchmal wollten sich die Hände nicht von ihnen lösen. Je tiefer er jedoch kam, desto trockener wurde das Gespinst, als handelte es sich hier um Fäden, die die Spinnen schon vor langer Zeit gesponnen und die daher Zeit zum Austrocknen gehabt hatten. Er hielt sich in Richtung des Waldrandes, denn dort stand Oren Kubaschk, der seit Beginn des Kampfes keinen Laut mehr verloren hatte. Der Fühler, den er als Waffe benutzen wollte, hinderte Flannagan sehr; aber er konnte ihn nicht entbehren. Er würde ihn später noch brauchen … Schließlich erreichte er in etwa fünf Metern Höhe über dem Boden den Rand des Gespinstes. Die Fäden waren hier dichter, wahrscheinlich durch die auf ihnen lagernde Last zusammengedrückt, und wiesen keine Spur von Klebrigkeit mehr auf. Flannagan verschaffte sich sicheren Halt und vergewisserte sich, daß er selbst bei einem unkontrollierten Sturz nur ein paar Dezimeter in die Tiefe rutschen würde, bevor das Gespinst ihn wieder auffing. In dieser Position erwartete er den Angriff der Spinne. Es war ein schlaues Tier. Als es sah, daß sein Opfer sich zum Kampfe stellte, wurde es vorsichtiger. Flannagan ließ den Arm, der den abgebissenen Fühler hielt, nach draußen ins Freie baumeln, so daß er mühelos Schwung holen konnte, wenn der Augenblick der Entscheidung kam. Mit ruckenden, schnellenden Bewegungen, wie es Spinnen tun, kam ihm der Angreifer entgegen. Flannagan schätzte die Entfernung. Jetzt waren es noch zwei Meter, jetzt noch einer, noch achtzig Zentimeter …
14 Als die Spinne bis auf einen halben Meter heran war, holte er aus und schlug zu. Der Fühler mit der Kugel am Ende fuhr der Spinne genau zwischen die geöffneten Beißzangen. Mit schnappendem Geräusch klappte das fürchterliche Beißwerkzeug zu, und im gleichen Augenblick fing Flannagan Schätzo an zu zerren. Das Gewicht des Spinnenkörpers betrug ein Vielfaches seines eigenen. Aber die Muskelkraft der Siganesen ist, im Vergleich zu ihrer Körpergröße, der eines Terraners weit überlegen. Es gelang Flannagan, die Spinne von ihrem Halt zu reißen. Sie hatte sich in den Fühler verbissen und hing an ihm wie ein Fisch am Köder. Sie drohte, auf den Boden zu stürzen; aber das dichte Geflecht fing sie auf. Flannagan zog sie mit kurzem, scharfen Rucken immer näher zu sich heran. Und schließlich hatte er sie da, wo er sie haben wollte. Noch ein Ruck, und sie würde, wenn er den Fühler losließ, endgültig in die Tiefe stürzen – genau dahin, wo Oren Kubaschk stand. Den Grobschlächtigen hatte das Beobachten des ungleichen Kampfes zu sehr in Anspruch genommen, als daß er geahnt hätte, was ihm bevorstand. Flannagan Schätzo stellte sich in Position, wandte sich zur Seite und schrie hinab: »Hier hast du die Frucht, die ich dir bringen sollte, Kubaschk.« Und damit gab er der Spinne, die sich immer noch in die Organkugel des Fühlers verbissen hatte, den letzten entscheidenden Ruck. Im gleichen Augenblick ließ er den Fühler los. Das Tier stürzte mitsamt seiner Beute in die Tiefe und landete auf Kubaschks Schulter. Der Vierschrötige schrie auf und versuchte, die Spinne von sich abzustreifen; aber kaum hatte das Tier gemerkt, daß es ein neues, lohnenswerteres Opfer gefunden hatte, da ließ es den Fühler fahren und schlug die fürchterlichen Beißscheren in Kubaschks Schulter. Brüllend warf sich Kubaschk zu Boden und versuchte, indem er sich von einer Seite auf die andere drehte, das Tier zu erdrücken.
Kurt Mahr Die Spinne glitt von der Schulter herauf bis zum Gesicht und begann, Kubaschks Gesicht zu bearbeiten. Er schrie lauthals um Hilfe, bis die übrigen Terraner vom Landeplatz her gerannt kamen und sich seiner annahmen. Zweien von Ihnen gelang es, das Tier von Kubaschk wegzureißen. Sie schleuderten es zur Seite und erledigten es mit den Blastern, die sie anscheinend als Bestandteil ihrer ständigen Ausrüstung in den Gürteln trugen. Oren Kubaschk blutete aus mehreren Hals und Gesichtswunden und war halb irr vor Schmerz. »Wenn ich diese feige, niederträchtige Maus erwische …!« gurgelte er. Einer der Männer – er sah aus, als ob er in nicht allzu ferner Zukunft sein einhundertstes Geburtstagsfest feiern würde – legte dem Rasenden die Hand auf die Schulter. »Du hast dir das selbst eingebrockt, Kubaschk«, sagte er mit einer Stimme, die für Flannagans Ohren wie Donner rollte. »Sieh zu, daß du wieder in Form kommst und daß Peysen dich nicht erwischt!« Die Terraner nahmen Oren Kubaschk in die Mitte und führten ihn zum Landeplatz. Flannagan Schätzo kletterte vollends aus dem Gewirr des Spinnengespinstes herab und erreichte sicher den stinkenden, weichen Boden. Auch er kehrte zum Lager zurück, ohne daß ihm jemand Beachtung schenkte. Im Vorbeigehen warf er dem zur Hälfte verbrannten Körper der toten Spinne einen Blick zu, in dem ein Unbefangener so etwas wie Dankbarkeit hätte lesen können.
* Er kehrte zu der Gruppe der Siganesen zurück. Sie hatten den ungleichen Kampf aus der Ferne mitverfolgt. Penty Grassor stand auf und kam Flannagan ein paar Schritte entgegen. Er drückte ihm wortlos die Hand. »Wir sprechen uns später«, murmelte er, so daß die andern es nicht verstanden. Wenig später erschien der alte Terraner,
Planet der Spinnen der drüben am Waldrand Kubaschk zurechtgewiesen hatte, als er gegen Flannagan wilde Drohungen ausstieß, und forderte die Siganesen auf, an Bord des Raumschiffs zu kommen. Der Mann hieß Dored Cathcart, wie Flannagan erfuhr. Eine Aura von Härte und Tatkraft schien ihn zu umgeben. Er war ein Mann, zu dem Flannagan Schätzo, wäre er ihm an anderer Stelle begegnet, unschwer hätte Vertrauen fassen können. Er wurde nicht mehr in sein Gefängnis gesperrt, sondern bezog mit seinen siganesischen Artgenossen deren Unterkunft, die in einer für menschliche Begriffe kleinen Gerätekammer untergebracht war. Die Siganesen hatten es sich dort bequem gemacht. Penty Grassor ging organisieren und besorgte für Flannagan Schätzo Materialien, aus denen er sich ein provisorisches Lager zimmern konnte. Es gab zu essen. Zum erstenmal seit seiner Gefangennahme brauchte Flannagan Schätzo sich nicht mehr mit dem üblichen Brei zu begnügen, der Hunger und Durst zugleich stillte, sondern erhielt eine konventionelle Mahlzeit mit zwei Bechern seines Lieblingsgetränks, Bier, dazu. Er beobachtete, daß die Mitglieder der siganesischen Gruppe einander keineswegs in unverbrüchlicher Freundschaft zugetan waren. Es schien eine gereizte Stimmung zu herrschen, die Flannagan sich nicht recht erklären konnte. Man sprach kaum miteinander, und wenn doch einmal einer das Wort an den anderen richtete, so geschah es auf wenig freundliche, fast barsche Art und Weise. Nach dem Essen begaben sich die Siganesen zur Ruhe. Ihr Individualismus zeigte sich auch in der Errichtung der Lagerstätten: Sie waren weit voneinander angebracht, als wolle jeder zum Ausdruck bringen, daß er mit dem Rest der Gruppe möglichst wenig gemein haben wollte. Nur Penty Grassor und Flannagan Schätzo bildeten eine Ausnahme. Flannagan hatte sich in Grassors unmittelbarer Nähe angesiedelt, ohne daß Grassor dagegen Einspruch erhoben hatte. Das Licht wurde gelöscht, und Ruhe brei-
15 tete sich über den Raum. Für Flannagan Schätzo war der Augenblick gekommen, in dem er sich ungestört mit Penty Grassor unterhalten konnte. Er wälzte sich auf die Seite. »Noch nicht!« hörte er Penty Grassor sagen. Er fragte sich verwundert, was diese Aufforderung zu bedeuten habe; da hörte er mehr, als daß er sah, wie Grassor aufsprang. Aus der Finsternis kam ein wütender Aufschrei, dem klatschende Schläge und heftiges Keuchen folgten. Jemand schrie zornig: »Ich werde dir heimleuchten, du hinterhältiger Spitzel!« Das war Penty Grassors Stimme. Danach gab es noch einmal eine Serie klatschender Geräusche und schließlich einen dumpfen Fall. Wenige Sekunden später kehrte Grassor zurück. »Das war Tough Ma-Konah«, stieß er keuchend hervor. »Ich hörte ihn kommen. Wahrscheinlich haben ihn die Terraner beauftragte, uns zu belauschen.« »Und …?« »Für ein oder zwei Stunden kann er höchstens die Englein singen hören«, sagte er grimmig. Flannagan ließ ihm Zeit, sich von der Anstrengung des Kampfes zu erholen. Dann fragte er: »Wie kommst du zu diesem Verein?« »Wegen Kubaschk, wie sonst?« »Am besten erzählst du mir alles von Anfang an.« »Es begann damit, daß Stanzo Peysen von Mentollien die Karten erhielt, auf denen der Standort der märchenhaften Raumflotte eingezeichnet ist. Peysen war sicher, daß mit der Flotte ein Riesengeschäft zu machen sei. Aber es schien ein paar Schwierigkeiten zu geben. Welcher Art sie sind, weiß ich nicht; aber sie müssen etwas mit Mikrotechnik zu tun haben, denn Peysen begann plötzlich nach Helfern zu suchen, die noch kleiner sein mußten als ein normalgewachsene Siganesen. Solche Leute gibt es natürlich nicht. Also mußten sie gezüchtet werden. Peysens
16 erster siganesischer Verbündeter wurde somit logischerweise Jon Tanzon, Mikrobiologe und Genforscher.« Eine fürchterliche Ahnung stieg in Flannagan auf. »Tanzon ist der Mann, der die Mißbildung der Kinder herbeiführte?« »Er war maßgeblich daran beteiligt«, gab Grassor zu. »Während Tanzon sich mit seinen Experimenten beschäftigte, suchte Peysen weiter nach Verbündeten. Von den Terranern kannte er die meisten von Anfang an. Leute wie Geller, Cathcart und die Frau arbeiten in der TerraMission, genau wie er selbst. Wie er an Kubaschk gekommen ist, weiß ich nicht. Ich hatte jahrelang nach Kubaschk gesucht, du weißt ja, Jonas wegen, und war fast schon bereit zu glauben, daß er sich gar nicht mehr auf Siga befand. Da traf ich ihn plötzlich in Peysens Umgebung. Er kannte mich nicht. Er wußte ja nie so genau, wen er damals bei seinem Ausbruchsversuch eigentlich erschossen hat. Er ist wie ein wildes Tier, unbeherrscht und dumm. Siganesen gelten ihm weniger als terranische Hunde. Ich sah meine Gelegenheit und schloß mich Peysen an. Jetzt bin ich hier und warte auf die erste Chance, Kubaschk das Genick zu brechen.« »Damals hatte er außer Tanzon schon Piano Lyall und Romberg Kessel angeworben. Er suchte einen Fachmann für Mikropositroniken. Lyall, den ich seit langem kannte, wandte sich an mich – allerdings ohne mir viel Einzelheiten über das Projekt zu erzählen. Auch Peysen war von Anfang an recht schweigsam. Erst nachdem ich mich für die Teilnahme entschlossen hatte, rückte er Stück um Stück mit seinem Plan heraus. Von den wachstumbehinderten Kindern erfuhr ich erst ganz zuletzt.« »Und jetzt?« fragte Flannagan. »Was meinst du … und jetzt?« »Du rächst dich an Oren Kubaschk … und was kommt dann?« »Darüber habe ich nicht nachgedacht«, antwortete Penty Grassor müde. »Ich bin hierhergekommen, um Jona zu rächen.«
Kurt Mahr »Du bist ein kranker Mann, Penty Grassor«, tadelte ihn Flannagan Schätzo. »Ich meine hier oben krank, im Geist. An Bord dieses Schiffes befinden sich zweiunddreißig unschuldige Kinder, die unserer Hilfe bedürfen. Willst du sie einfach im Stich lassen?« »Was kann ich für sie tun?« fragte Grassor mutlos. Flannagan schwieg. Dann sagte er: »Ich mache dir einen Vorschlag.« »Laß hören!« »Ich bin dir mit Oren Kubaschk behilflich, und du hilfst mir, die Kinder zu befreien. Einverstanden?« Es dauerte lange, bis Penty Grassor sich entschloß. Plötzlich fühlte Flannagan Schätzo eine Hand auf seinem Arm. Er ergriff sie und schüttelte sie. »Einverstanden«, sagte Penty Grassor.
3. Als die Beleuchtung wieder aufflammte, war Flannagan Schätzo immer noch müde. Die Nächte auf dieser Welt schienen kurz zu sein. An Penty Grassors Uhr konnte er ablesen, daß er nur vier Stunden lang geschlafen hatte. Kurz danach erschien der Terraner namens Cathcart und forderte Grassor, Lyall und Flannagan Schätzo auf, mit ihm zu kommen. Er führte sie zu einer Kabine, in der Stanzo Peysen sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. An den Wänden hingen Dutzende von Kopien grober, handgezeichneter Landkarten, dazu eine Reihe von Luftaufnahmen. Peysen selbst saß hinter einem alten Arbeitstisch, auf dem sich Karten und Photographien stapelten. Seitwärts saßen der rothaarige Mann mit den kleinen Augen, der junge schlanke Terraner, die Frau und schließlich Oren Kubaschk. Die Sitzmöbel waren ältesten Fabrikats und wirkten zerbrechlich. Flannagan Schätzo begann allmählich zu verstehen, warum Stanzo Peysen einen Wirtschaftsexperten, nämlich Auld Cooster, in seiner Gruppe brauchte: Er hatte
Planet der Spinnen kein Geld! Dored Cathcart war draußen geblieben. Er nahm an dieser Besprechung nicht teil. Oren Kubaschk hatte Schnitte und Schrammen im Gesicht, von denen einige trotz der angewandten Medikamente zu eitern begonnen hatten: Das Gift der Spinne tat seine Wirkung. Kubaschk bedachte die eintretenden Siganesen mit einem wütenden Blick. Als er Flannagan Schätzo sah schüttelte er die Faust. »Ich habe euch rufen lassen, um die Einzelheiten unseres Unternehmens mit euch zu besprechen«, eröffnete Stanzo Peysen den Siganesen. »Es dreht sich darum, daß zunächst eine Teilgruppe in Richtung des Landeortes der Flotte vorstoßen und den Ort zu erreichen versuchen wird. Die Mitglieder dieser Teilgruppe sind in diesem Raum versammelt.« Er wandte sich um und zeigte mit einem Lineal auf eine der Landkarten. »Unser Landeplatz liegt hier«, erklärte er und deutete auf einen rot markierten Punkt. »Von hier aus geht es ständig nach Norden. Hier«, das war ein Gebiet mit hellbrauner Schattierung, »befindet sich das Gebiet der PsogenerSümpfe, das wir tunlichst umgehen sollten, weil in den Sümpfen Ungeheuer leben, denen wir nicht gewachsen sind. Weiter nördlich«, jetzt kam er an eine Stelle, an der viele kleine Punkte die Karte zierten, »erreichen wir das Gebiet der Vogelhöhlen, ebenfalls eine gefährliche Gegend. Und schließlich«, die Linealspitze ruhte auf dem Rand eines blau gezeichneten Kreises, »gelangen wir in das Tal der Flotte.« Flannagan Schätzo wußte nicht, in welchem Maßstab die Karte gezeichnet war. – Aber der Weg, den Peysen soeben abgesteckt hatte, erschien ihm lang. »Hat noch jemand Fragen?« sagte Peysen und sah sich um. »Ich!« schrie Flannagan und hob die Hand, damit der Terraner ihn auch bemerkte. »Ja …?« »Ich höre andauernd Worte wie gehen, umgehen, erreichen und gelangen«, schrie
17 Flannagan, denn terranische Ohren waren unempfindlich, und man mußte die Stimme anstrengen, wenn man gehört werden wollte. »Das hört sich beinahe so an, als wolltest du die ganze Strecke zu Fuß gehen.« »Das habe ich vor«, gab Peysen zu. Er schien Flannagans Ratlosigkeit zu bemerken und fügte hinzu: »Wir wissen von Mentollien, daß es gefährlich ist, sich der Flotte mit Maschinen, also in Fahrzeugen, zu nähern. Mentollien selbst hat es einmal versucht und sich um ein Haar dabei den Hals gebrochen. Obwohl die Flotte anscheinend schon seit Jahrhunderten im Tal ruht, scheinen ihre Abwehrgeräte noch einwandfrei zu funktionieren. Die Erbauer der Flotte müssen ein Volk gewesen sein, das eine hochentwickelte Technik besaß. Uns bleibt keine andere Möglichkeit, als das Tal zu Fuß aufzusuchen.« »Wie weit ist das?« erkundigte sich Flannagan. »Zwischen achtzig und einhundert Kilometer«, antwortete Peysen, »wenn man Mentolliens Maßstab glauben darf.« Flannagan erinnerte sich an die wenigen Minuten, die er gestern im Wald der Spinnengewebe verbracht hatte, und schüttelte sich. »Keiner von uns wird ans Ziel kommen!« behauptete er. Oren Kubaschk lachte verächtlich. Peysen jedoch schien den Einwand ernst zu nehmen. »Wegen der Koorbstas, meinst du?« »Koorbstas?« fragte Flannagan zurück. »Ist das der Name der Spinnen?« »Ja, Mentollien hat sie getauft.« »Natürlich meine ich die Spinnen und was sonst noch für Getier auf diesem Planeten haust.« »Die meisten anderen können wir umgehen; aber die Koorbstas sind allgegenwärtig«, erklärte Peysen. »Sie bedeuten offenbar die größte Gefahr. Ich habe das nicht übersehen. Wir kommen damit zu einem Vorhaben, das verwirklicht werden muß, bevor wir zu unserer Expedition aufbrechen. Wir müs-
18 sen Verbindung mit den Die-Zagos aufnehmen und sie dazu bewegen, daß sie uns ein paar Begleiter mitgeben.« »Was ist ein Die-Zago?« rief Flannagan. »Die-Zagos sind die Eingeborenen dieser Welt«, antwortete Peysen. »Sie stehen auf einer sehr niedrigen Intelligenzstufe und leben als Jäger und Sammler in den Spinnenwäldern. Ihre Sprache ist äußerst primitiv und besteht aus gleichklingenden Zirplauten, die von menschlichen Sprechwerkzeugen nicht nachgeahmt werden können. Wir führen daher eine Reihe von Translatoren mit uns, Geräte von normaler Größe und auch solche, die sich für Siganesen eignen, mit deren Hilfe wir uns den Die-Zagos verständlich machen können.« Er schwieg eine Weile, blickte nachdenklich auf ein Stück Druckfolie, das vor ihm lag, und fuhr schließlich fort: »Die Schwierigkeit liegt darin, die DieZagos zu finden. Ich bin sicher, daß sie bei der Annäherung unseres Raumschiffs vor Schreck tief in die Spinnenwälder geflüchtet sind. Sie werden sich allmählich heran trauen, aber so lange können wir nicht auf sie warten. Wir müssen hinter ihnen her. Die Die-Zagos kommen vorzüglich mit den Koorbstas aus. Sie bauen ihre Hütten und Dörfer mitten unter den Spinnen. Deswegen sind sie für uns von Nutzen.« Er musterte die Gruppe der Siganesen. »Ein Die-Zago ist normalerweise etwa fünfzig Zentimeter groß. Wenn sie nur Terraner zu sehen bekämen, würden sie womöglich vor unserer Größe erschrecken und noch weiter in die Wälder fliehen. Deshalb nehmt ihr drei an der Vorausexpedition teil. Zu eurem Schutz werden Afruth und Kubaschk euch begleiten. Die Verhandlungen mit den Die-Zagos werden jedoch von euch geführt, verstanden?« Flannagan Schätzo sah mürrisch vor sich hin. »Oren Kubaschk auf diplomatischer Mission«, murmelte er. »Das nenne ich den Bock zum Gärtner gemacht!« Aber er sprach nicht laut genug. Es hörte
Kurt Mahr ihn keiner außer Penty Grassor und »Piano« Lyall, die unmittelbar neben ihm standen.
* Der Wald war unendlich, und der Gestank, der vom Boden aufstieg, eine Tortur, von der Flannagan Schätzo nicht wußte, wie lange er sie würde ertragen können. Sie waren schon seit Stunden unterwegs. Die Lichtung lag längst hinter ihnen, und um sie herum waren nur noch die Fäden des ungeheuren Gespinstes, das die Koorbstas angelegt hatten. Sie bewegten sich dicht über dem Boden. Auf dem Boden selbst war das Gehen unmöglich, erstens wegen des Gestanks und zweitens wegen der Beschaffenheit der Oberfläche: Die Terraner sanken darin bis an die Hüfte ein. In den unteren Lagen war das Koorbsta-Gespinst fast schon zu Stein geworden. Die Fäden waren weder klebrig, noch elastisch. Dies war ein Gelände, in dem die Siganesen ebenso schnell, wenn nicht noch schneller vom Fleck kamen als die Terraner. Behende schlüpften sie durch die Maschen des versteinerten Gewebes, während Afruth Schwartz, die Frau, und Oren Kubaschk sich erst eine Bahn brechen mußten. Sie bedienten sich dabei eines einfachen Haumessers. Wenn es mit gehöriger Wucht gegen einen versteinerten Strang geschlagen wurde, dann zersplitterte dieser wie Glas und fiel zu Boden. Oben, in den höheren Lagen des Gespinstes, lauerten die Koorbstas. Sie hatten längst bemerkt, daß sich da eine Gruppe eßbarer Geschöpfe durch ihren Wald bewegte. Zwei oder dreimal hatten sie sich bereits zum Angriff formiert, aber Oren Kubaschk machte ihnen mit Hilfe seines Blasters klar, daß die Beute nicht so leicht zu haben sei. Auch die drei Siganesen waren bewaffnet; aber mit ihren kleinen Strahlern konnten sie nicht viel ausrichten. Für einen normalgewachsenen Menschen waren die Miniaturwaffen der Siganesen nur dann gefährlich,
Planet der Spinnen wenn sie entweder durch die Augen ins Gehirn trafen oder lange Zeit ungestört auf ihr Opfer einwirken konnten. Der Vormarsch der kleinen Gruppe richtete sich nach einer Karte, die von Mentollien stammte und auf der er verschiedene Lager und Versteckplätze der Die-Zagos eingezeichnet hatte. Der nächste dieser Orte lag noch fünfzehn Kilometer entfernt. Man würde ihn an diesem Tag nicht mehr erreichen, und Flannagan Schätzo graute es vor der Nacht, die sie hier im Walde würden verbringen müssen. Einen Umstand allerdings wußte er zu schätzen: Oren Kubaschk war so mit dem Zerhauen der Netzfäden und den Schwierigkeiten des Marschierens beschäftigt, daß er gar nicht dazu kam, sich an Flannagan zu reiben. Aus der Frau wurde Flannagan auf der anderen Seite überhaupt nicht klug. Sie war noch sehr jung, vielleicht Anfang der dreißiger Jahre, hatte eine ausgezeichnete Figur, soweit die Arbeitsmontur das erkennen ließ, und ein hübsches Gesicht. Der einzige Zug, der zu ihrem sonstigen Äußeren nicht paßte, war der merkwürdig kalte Ausdruck ihrer Augen. Flannagan Schätzo fühlte sich an einen Roboter erinnert, so wenig Seele, so wenig menschliche Bewegung lag in Afruths Blick. Außerdem sprach sie nicht mehr als unbedingt nötig, und wenn sie schon einmal den Mund aufmachte, dann waren ihre Äußerungen von einer gekünstelten, erzwungenen Kürze und Sachlichkeit, die bisweilen lächerlich wirkte. Nicht nach Sigas Maßstäben, wohl aber nach denen der Erde war Flannagan Schätzo ein alter Mann. Schon zweihundertundsechsundzwanzigmal hatte sich der Tag seiner Geburt gejährt. Flannagan Schätzo war ein Mensch, dessen Einstellung zum Leben andere Menschen, besonders solche, die eine Vorliebe für Ordnung hatten, oft nicht verstanden. Keiner aber bezweifelte, daß Schätzo ein äußerst weiser Mann war, der die Erfahrung seines langen Lebens benützt hatte, um seine Persönlichkeit zu formen und sich in der Welt besser zurechtzufinden. Und
19 eben diese Lebensweisheit machte Flannagan Schätzo klar, daß Afruth Schwartz eine Frau war, die in ihrer Seele die Erinnerung an ein unglückliches, vielleicht sogar katastrophales Erlebnis mit Gewalt verdrängte. Sie gehörte in die Hand eines Psychophysikers, nicht zu einer Expedition auf einem wildfremden, feindlichen Planeten.
* Über dieser Welt schien selten die Sonne. Es war, als stiege der Gestank der Tiefe himmelwärts und verdichtete sich dort zu einer Lage übelriechender Wolken, die die Sonne nie hindurchließen. Die kleine Expedition war vielleicht noch neun Kilometer von dem nächsten Punkt entfernt, den Mentollien auf seiner Karte markiert hatte, als die Dunkelheit hereinbrach. Oren Kubaschk, der sich als Leiter der Expedition fühlte, suchte einen Ort, über dem das Gespinst der Spinnen weniger dicht war als anderswo. Dort wurde auf dem Boden die Plane ausgespannt, die den beiden Terranern als Unterlage dienen sollte, damit sie nicht in dem übelriechenden Matsch versanken. Die Plane hatte eine Fläche von annähernd zwanzig Quadratmetern und wurde von mehreren Stützpfosten so gehalten, daß sie wenige Zentimeter über dem Boden lag. »Ihr sucht euch einen Platz möglichst weit am Rand«, fuhr Kubaschk die drei Siganesen an. »Damit ich euch ja nicht zu riechen bekomme!« Flannagan Schätzo zog es vor zu schweigen; aber Penty Grassor brachte es nicht fertig, die Mißachtung, die aus Kubaschks Worten sprach, einfach über sich ergehen zu lassen. »Solange du nur nicht an deinem eigenen Gestank erstickst!« rief er wütend. »Wir brauchen deine komische Plane nicht. Wir schlafen hier oben im Gespinst.« Kubaschk, der bisher auf der Plane gehockt hatte, fuhr zornig in die Höhe. »Ihr schlaft hier unten!« schrie er so laut, daß eine Schar von Koorbstas, die aus der
20 Höhe die kleine Expedition belauerte, ängstlich auseinanderstob. »Versuch doch, ob du uns dazu zwingen kannst!« höhnte Grassor und schwang sich so rasch, daß Kubaschk nicht mehr nach ihm greifen konnte, in das Gespinst hinauf. Für Flannagan Schätzo und Piano Lyall war es eine Frage der Solidarität, ihm auf dem schnellsten Weg zu folgen. Unter ihnen stand Oren Kubaschk, eine blutende Wunde auf der Stirn, und tobte, daß es im Spinnenwald widerhallte. Schließlich trat Afruth Schwartz zu ihm und legte ihm in beruhigender Geste die Hand auf den Arm. »Hör auf zu lärmen«, hörte Flannagan sie sagen. »Laß die Siganesen dort oben schlafen. Wenigstens merken sie, falls die Koorbstas über uns herfallen wollen, und ausreißen können sie uns ohnehin nicht.« Kubaschk war merkwürdig schnell bereit, darauf einzugehen. Er grinste Afruth breit an. »Eigentlich eine vorzügliche Idee«, meinte er anerkennend. »Wenigstens sind wir beide hier unten allein, wie?« Sie antwortete darauf nicht, sondern kauerte sich am Rand der Plane nieder und riß eine der Proviantrationen an, von denen jeder mehrere in den Taschen seiner Montur trug. Inzwischen suchten die drei Siganesen sich einen starken, versteinerten Gewebestrang aus, den sie mit ihren winzigen Blastern mühselig so bearbeiteten, daß er schließlich auf der Oberseite eine schmale Kuhle aufwies, in der sie sich zur Ruhe betten konnten. Sie losten Wachen unter sich aus, denn sie glaubten nicht, daß man den Koorbstas trauen könne, Flannagan Schätzo zog das erste Los. Es war mittlerweile gänzlich finster geworden. Er konnte die Plane, auf der Kubaschk und die Frau sich ausgestreckt hatten, nicht mehr sehen. Er fragte sich, ob es ihm gelingen würde, geräuschlos in die Tiefe zu klettern und Oren Kubaschk aus nächster Nähe zu erschießen, um Jona Grassors Tod zu rächen. Aber er verwarf den Gedanken wieder. Er enthielt ein zu großes Risiko, und außerdem sollte Oren
Kurt Mahr Kubaschk nicht sterben, ohne zu wissen, weswegen er starb. Er hatte sich Penty Grassors Uhr ausgeborgt und las auf ihr den Ablauf der Zeit. Als seine zwei Stunden um waren, weckte er Lyall und legte sich selbst zur Ruhe. Die Nacht war bis jetzt ruhig gewesen, bis auf die sporadischen Geräusche fremder, unheimlicher Lebewesen, die aus der Tiefe des Gespinstdschungels drangen.
* Er schlief tief und fest, und es dauerte eine Weile, bis er merkte, daß das, was er im Traum als sanftes Schaukeln empfunden hatte, in Wirklichkeit ein unsanftes Schütteln war, ausgehend von einer Hand, die ihn aus dem Schlaf zu rütteln suchte. Er fuhr auf. »Was … was ist los?« »Hör dir das an!« zischte eine Stimme, die er als Penty Grassors erkannte. Flannagan horchte. Er vernahm ein sägendes, schabendes Geräusch, das aus der Tiefe zu dringen schien, und dann plötzlich ein lautes Stöhnen, das von einem der beiden Terraner kommen mußte, die dort unten schliefen. »Was meinst du?« fragte er Grassor. »Das Schaben oder das Stöhnen?« »Beides«, antwortete Grassor mit unterdrückter Stimme. »Es fing beides zur gleichen Zeit an. Das Stöhnen kommt von der Frau. Sie scheint Alpträume zu haben. Sie hatte kaum angefangen, da begann irgendwo weit hinten im Wald das schabende Geräusch, und seitdem ist es von Minute zu Minute lauter geworden.« Sie weckten Piano Lyall. Er horchte ebenfalls in die Dunkelheit hinaus und verkündete mit tönender Stimme: »Ein unheimliches Geräusch! Ich fürchte mich!« Jedes Mitglied der Expedition trug eine kleine Lampe im Gürtel. Flannagan zog sie hervor und schaltete sie ein. Ein schmaler, kleiner Lichtkegel geisterte durch das glitzernde, versteinerte Gewebe hinab bis zum
Planet der Spinnen Boden. Flannagan sah zunächst nichts, aber plötzlich nahm er eine undeutliche, schattenhafte Bewegung wahr und hielt die Lampe still. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern stocken. Dort unten auf dem weichen Boden bewegte sich ein wurmähnliches Gebilde, ein bleiches, augenloses Geschöpf, das sich wie eine Schlange wand und sein Ziel mit Hilfe eines untrüglichen Instinkts, der ihm das Augenlicht ersetzte, ansteuerte. Beim Kriechen, und wenn es herabhängende, versteinerte Gewebefäden berührte, verursachte es das schabende, kratzende Geräusch, auf das Penty Grassor aufmerksam geworden war. Der Körper des Wurms hatte einen ovalen Querschnitt, und die Körperlänge betrug mehr als fünf Meter. An der dicksten Stelle hatte das Untier einen Durchmesser von mehr als einem halben Meter. Aus dem vorderen Körperende ragten auf beweglichen Stielen zwei Saugnäpfe, jeder von der Größe einer menschlichen Handfläche. Flannagan Schätzo ließ den Lichtkegel der Lampe zur Seite gleiten. Das Schaben war so laut, daß es unmöglich von einem einzigen Tier herrühren konnte. Und während er die Lampe schwenkte, sah er tatsächlich, daß es eine ganze Armee von Würmern war, die aus nördlicher Richtung auf die Plane zurückte. Hier war keine Zeit zu verlieren. Er hatte nichts dagegen, wenn die Würmer Oren Kubaschk auffraßen; aber Afruth Schwartz mußte gerettet werden. Lyall und Grassor konnten ihm dabei nicht helfen. Er mußte Oren Kubaschk wecken. Dessen schwere Waffe allein war den Würmern gewachsen. Er stellte sich auf die Kante des Gespinstfadens, in dessen künstlich geschaffener Höhlung sie geschlafen hatten, berechnete den Sprung und stieß sich ab. Es war ein Fall von mehreren Metern. Wie eine kleine Bombe traf er auf Oren Kubaschks Brust; aber der Grobschlächtige war kein leichter Schläfer. Er wälzte sich brummend auf die andere Seite und schüttelte Flannagan dabei von
21 sich ab. Flannagan rannte auf der Plane, bis er Kubaschks Ohr erreichte. Er kniete davor nieder und schrie, so laut er konnte: »Wach auf, du Ochse! Gefahr ist im Verzug!« Dann sprang er auf und kickte Kubaschk mit voller Wucht gegen den Kinnbacken. Der Vierschrötige wachte auf. Mit einem Fluch fuhr er in die Höhe. »Wer schreit?« verlangte er wütend zu wissen. »Gefahr!« rief Flannagan. »Das Lager wird von Riesenwürmern überfallen. Nimm deine Waffe.« Kubaschk erkannte die Stimme. »Das ist Schätzo«, grollte er. »Wo bist du, giftiger Zwerg? Du willst mich nur in eine Falle locken!« »Du steckst schon in der Falle, du Roß!« schrie Flannagan wütend. »Wenn du nur eine Sekunde lang dein loses Maul hieltest, könntest du die Würmer kriechen hören. Mach, was du willst! Ich bringe mich in Sicherheit.« Kubaschk horchte. Er stand auf der schwankenden Plane, hatte eine Hand ans Ohr gelegt und lauschte in die Nacht. Flannagan hatte sich sicherheitshalber in das Gewirr der Gespinstfäden hinaufgeschwungen. Allerdings blieb er in der Nähe der Plane, um eingreifen zu können, wenn seine Hilfe gebraucht würde. Er fand es eigenartig, daß Afruth Schwartz noch nicht aufgewacht war. Aus der Nähe konnte er sehen, wie sie sich unruhig auf ihrem Lager hin und herwälzte. Noch immer gab sie stöhnende schmerzvolle Laute von sich. Der Alp war noch nicht gewichen. Flannagan schaltete die Lampe ein und richtete den schmalen Lichtkegel auf den Rand der Plane. Auf schwankendem, zitterndem Stiel schob sich ein bleicher Saugnapf vorwärts, haftete einen Augenblick lang auf dem glatten Material der Plane und glitt dann weiter, als die Wahrnehmungsorgane des Wurmes feststellten, daß der Napf auf ungenießbares Plastik gestoßen war.
22 Oren Kubaschk war wie hypnotisiert dem grellen Lichtstrahl gefolgt. Als er das zitternde, schwankende Gebilde auf die Schlafende zukriechen sah, schrie er entsetzt auf. Nur einen Augenblick lang dauerte der Schock der Überraschung. Dann bückte sich der Vierschrötige und nahm den Blaster zur Hand, den er beim Schlafen neben sich gelegt hatte. Er schwang sich auf den niedrigsten Gewebestrang hinauf und klemmte sich, um besseren Halt zu haben, in eine Gabel, aus der zwei dicke Stränge hervortraten. Er befand sich jetzt unmittelbar über der immer noch schlafenden Frau, und im Schein der Lampe, der unter Flannagans leitender Hand ständig hin und herglitt, konnte er die Masse der Würmer sehen, die sich unbeirrbar auf die Plane zuschob. Er eröffnete das Feuer. Fauchend und sengend strich der blauweiße Energiestrahl dicht am Rand der Plane vorbei und traf den vordersten Wurm, der seine beiden Saugnäpfe soeben nach Afruth Schwartz ausstreckte. Knisternd und knacksend krümmte sich das getroffene Tier und verwandelte sich in ein schwarzes, übelriechendes und grotesk geformtes Stück verbrannter Körpermaterie. Der Lärm der ersten Salve schreckte die Schlafende auf. Sie kniete auf und starrte verwundert umher. Flannagan Schätzos Lampe beschrieb einen Halbkreis, so daß der Lichtkegel auf den Würmern zu ruhen kam, die der Plane am nächsten waren. Er sah, wie Afruth Schwartz in einer Geste des Entsetzens die Hände hob. Sie preßte die Fingerspitzen gegen die Schläfen und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Im selben Augenblick feuerte Oren Kubaschk die zweite Salve. Sofort geriet dort unten alles in Verwirrung. Der bisher zielbewußte Vormarsch der Würmer geriet ins Stocken. Kubaschks zweiter Schuß hatte weitere zwei der unappetitlichen Tiere getötet; aber das konnte nicht der Grund für die Verwirrung in den rückwärtigen Reihen der Angreifer sein. Plötzlich schienen sie ihren Sinn für die
Kurt Mahr Richtung verloren zu haben. Weiße, schleimige Körper bäumten sich auf, als die Würmer in zunehmendem Wirrwarr übereinander hinwegzukriechen begannen, und in dieses Wirrwarr hinein feuerte Oren Kubaschk Salve um Salve, bis etwa die Hälfte der Angreifer vernichtet war und die Kampfszene unter einer dichten Wolke von stinkendem Qualm lag, der von den verbrannten Wurmleibern auf stieg. Da geschah etwas Eigenartiges. Die Stiele mit den Saugnäpfen, die die Würmer am vorderen Ende des Leibes trugen, verwandelten sich plötzlich in Schaufeln. Die Näpfe schossen in den weichen Grund, griffen die modrige Erde und schleuderten sie nach hinten über den Wurmkörper hinweg, und das mit einer Geschwindigkeit, daß ein paar Sekunden lang die ganze Wurmarmee vor lauter aufspritzenden Erdfontänen kaum mehr zu sehen war. Oren Kubaschk hatte vor lauter Staunen aufgehört zu schießen. Als die Fontänen nicht mehr in die Höhe spritzten, waren auch die Würmer verschwunden. Noch zeigten sich im Boden die Löcher, die sie sich gegraben hatten; aber der weiche, schwammige Grund befand sich in dauernder Bewegung. In wenigen Minuten würde von der Armee der Würmer, die soeben das Nachtlager der Expedition angegriffen hatte, keine Spur mehr zu sehen sein. Kubaschk legte die Waffe beiseite und kümmerte sich um die Frau. Sie war voller Angst und Aufregung. Kubaschk war kaum der geeignete Mann, um ihr Beruhigung einzuflößen. Sie wandte sich von ihm ab, und Flannagan Schätzo sah, wie sie ein Medikament nahm. Kubaschk stemmte die Arme in die Seite und schrie nach oben: »Paßt dort droben schön weiter auf, ihr Gartenzwerge!« Dann legte er sich nieder. Es fiel ihm nicht ein, ein Wort des Dankes darüber zu verlieren, daß er durch Flannagan Schätzos Tatkraft und Penty Grassors Wachsamkeit vor einem abscheulichen Schicksal bewahrt worden war. Flannagan hangelte sich weiter
Planet der Spinnen
23
nach oben und stieß zu seinen zwei Landsleuten. »Das Schwein …!« zischte Grassor zwischen den Zähnen hervor. Flannagan sah sich um. Piano Lyall schickte sich an, von neuem zur Ruhe zu gehen. Unten hatte auch Afruth Schwartz sich wieder ausgestreckt. Er löschte die Lampe und schob sie in die Tasche. Dann sagte er halblaut zu Grassor: »Nur immer mit der Ruhe! Ich glaube, ich habe die Grundidee für einen Plan, mit dem wir Kubaschk hereinlegen können.«
4. Am Mittag des nächsten Tages erreichten sie die Gegend des ersten Die-Zago-Verstecks, die Mentollien als einen Punkt auf seiner Karte eingetragen hatte. Wie verabredet, blieben die beiden Terraner ein paar Meter im Hintergrund, während die drei Siganesen sich als Vorhut dem Ort näherten, an dem das Versteck sich befinden sollte. Die Landschaft hatte sich seit dem gestrigen Tage nicht verändert: Noch immer war die Oberfläche des fremden Planeten von den zehn und mehr Meter hohen Gespinsten der Koorbstas bedeckt. Als sie ihrer Berechnung nach den kritischen Punkt erreicht hatten, machten die drei Siganesen halt. Flannagan Schätzo postierte seinen MikroTranslator auf einem besonders dicken Gespinstfaden, nahm das Mikrophon zur Hand und sprach hinein: »Wir kommen in Frieden und suchen eure Freundschaft!« Aus einem Lautsprecher drang eine Serie quietschender, zirpender Laute, von denen Schätzo hoffte, daß sie den Gehalt seiner Begrüßung wenigstens in etwa zum Ausdruck brächten. Gleich darauf wurde er abgelenkt. Es war eine lächerliche Kleinigkeit: Piano Lyall hatte auf dem runden Gespinstfaden den Halt verloren und drohte abzustürzen. Penty Grassor war jedoch rechtzeitig zur Stelle, packte ihn am Kragen und zerrte
ihn auf sicheren Boden zurück. Als Flannagan Schätzo sich dem Translator wieder zuwandte, verkündete das Gerät soeben: »Friede … Freund … zu uns kommen!« Verblüfft starrte er den kleinen Kasten an. Offensichtlich hatte er eine Antwort der DieZagos empfangen, von der Penty, anderweitig beschäftigt, jedoch keinen Laut gehört hatte. Er blickte sich um. Noch immer konnte er keine Spur der Eingeborenen entdecken. Ein wenig hilflos sprach er in das Mikrophon: »Wir kämen gern zu euch, aber wo seid ihr?« Im nächsten Augenblick erzitterte der Gespinstfaden, auf dem er stand, unter einem schweren Aufprall. Flannagan fuhr herum. Dicht neben ihm stand ein haariges, vielgliedriges Geschöpf, etwa dreimal so groß wie er selbst, mit einem flachen Schädel, großen braunen Augen, einem scharf zurückweichenden Kinn und einem dünnen, zerbrechlich wirkenden Körper. Mit vorgestülpten Lippen stieß das fremde Wesen eine Reihe eigenartig tschilpender Laute hervor, und gleichzeitig trat der Translator wieder in Tätigkeit. »Ich hier … Freunde führen!« Afruth Schwartz und Oren Kubaschk waren von hier aus nicht zu sehen. Flannagan trug Piano Lyall auf, sie über Radiokom von der erfolgreichen Kontaktaufnahme in Kenntnis zu setzen, da er selbst kein solches Gerät trug. Nachdem das geschehen war, setzten sie sich unter Führung des Die-Zago in Bewegung. Es ging ein wenig tiefer in den Wald hinein und gleichzeitig stieg der Weg an. Flannagan erinnerte sich an Stanzo Peysens Schilderung, wonach die Die-Zagos mit den Koorbstas in Frieden und Eintracht lebten. Sie brauchten nicht weit zu klettern, so erreichten sie eine Gegend, in der fremde, große Vögel mitten im Gewebe der Spinnen ihre Nester angelegt zu haben schienen. Sie hatten dabei die Gespinstfäden als Gerüst benutzt und die Flächen, die die Fäden einschlossen, mit einem Material verkleidet, das an getrockneten, schwarzen Lehm erin-
24 nerte und einen penetranten Geruch ausströmte. Wahrscheinlich war es dieselbe Substanz, aus der auch der weiche Boden bestand, nur daß sie hier in der Höhe, dem Licht des Tages ausgesetzt, rasch trocknete und danach ein brauchbares Baumaterial abgab. Die merkwürdigen Nester waren, da ihre Kanten dem Verlauf der Fäden folgten, von unregelmäßiger Form und hatten eine Höhe von knapp einem Meter. Es gab, soweit Flannagan sehen konnte, etwa zwei Dutzend solcher Nester, die in ihrer Gesamtheit das Dorf der Die-Zagos bildeten, welches Mentollien auf seiner Karte verzeichnet hatte. Etwa im Zentrum dieser Anlage gab es eine mehrere Quadratmeter große Plattform, die auf dieselbe Weise angelegt war wie die Wände der Häuser: Eine Fläche zwischen mehreren einander kreuzenden Gespinstfäden, mit getrocknetem Lehm ausgekleidet. Auf dieser Plattform erwarteten mehrere schnatternde, zirpende Die-Zagos die Rückkunft ihres Boten, den sie ausgesandt hatten, um die Fremden herbeizuholen. Der Bote führte die drei Siganesen in Richtung der Plattform, und sie sahen keinen Grund, ihm nicht zu folgen, obwohl der merkwürdige Dorfplatz fast schon bis zum Rande seiner Kapazität gefüllt zu sein schien. Flannagan warf mehrmals einen Blick in die Runde und hielt nach Koorbstas Ausschau, in deren Jagdgebiet sich das Dorf befand. Aber keines der häßlichen Tiere ließ sich sehen. Stanzo Peysen hatte recht gehabt: Die DieZagos kamen mit den Spinnen zurecht. Auf der Plattform herrschte ein Gedränge wie in einem städtischen Nahverkehrsmittel zur Stoßzeit. Bei Ankunft des Boten öffnete sich eine schmale Gasse, durch die er selbst und seine drei Begleiter eingelassen wurden. Flannagan, Grassor und Lyall fanden sich bald inmitten eines Gewimmels von dürren, gelbbehaarten Körpern, die denselben unbeschreiblichen Duft ausstrahlten wie die Wände ihrer nestähnlichen Unterkünfte. Das Tschilpen und Zirpen war unerträglich laut, und der Translator mußte eine Zeitlang ab-
Kurt Mahr geschaltet werden, da er alles, was er hörte, zu gleicher Zeit ins Interkosmo übersetzen wollte und dadurch in ernsthafte Bedrängnis geriet. Flannagan Schätzo suchte sich einen Platz, auf dem er zwischen den dürren, hageren Beinen der affenähnlichen Wesen einigermaßen sicher war, und schrie, so laut er konnte: »Ruhe da, ihr Narren! Verdammt noch mal, haltet die Mäuler, ihr Affen!« Der Translator war noch abgeschaltet, er konnte sich die undiplomatische Ausdrucksweise vorläufig also noch leisten. Die DieZagos hörten tatsächlich auf zu schnattern. Ein paar, die in Flannagans Nähe standen, traten einen halben Schritt zur Seite, soweit es das Gedränge erlaubte, und starrten erstaunt in die Tiefe, um den winzigen Schreier zu mustern, als entdeckten sie eben erst, daß er in ihrer Mitte weilte. Flannagan schaltete das Gerät wieder ein. »Ich bin ein Vertreter des mächtigen Stammes der Siganesen«, verkündete er. »Meine Freunde, ein paar Terraner und ich, sind mit einem Sternenfahrzeug hier gelandet, um eine Expedition zu unternehmen. Diese Expedition wird durch das Gebiet der Spinnen führen und ist daher für uns, da wir so klein sind, nicht ungefährlich. Wir bitten daher um eure Hilfe. Ihr sollt unsere Freunde und Begleiter sein. Wenn ihr das wollt, dann werden wir euch belohnen, wie ihr noch nie zuvor belohnt worden seid.« Der Translator tschilpte noch eine ganze Weile, nachdem Flannagan längst aufgehört hatte zu sprechen. Infolge der primitiven Grammatik der Die-Zago-Sprache bedurfte es anscheinend in diesem Idiom einer wesentlich größeren Anzahl von Worten, um seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Die Gelbhaarigen hörten aufmerksam zu, was der Translator zu sagen hatte. Dann begann das Gezirpe von neuem. Diesmal war es noch hektischer als zuvor. Flannagan nahm an, daß man sein Angebot diskutierte, und damit hatte er nicht unrecht, denn plötzlich wurde es still, und dann tschilpte von ir-
Planet der Spinnen gendwoher eine Die-Zago-Stimme, die der Translator wie folgt übersetzte: »Wir … erfreut über eure Freundschaft. Gerne … helfen. Geben dreiunddreiunddreiunddrei Mann. Was Belohnung?« Das waren zwölf Mann, rechnete Flannagan Schätzo. Etwa so, wie Stanzo Peysen es sich vorgestellt hatte. Und was sollte er Ihnen als Belohnung anbieten? Peysen hatte im Detail davon nicht gesprochen. Er mußte improvisieren. Er bot Spiegel an, aber die Die-Zagos wußten nicht, was Spiegel waren. Er offerierte Glasperlen, aber auch davon hatten sie niemals gehört. Sie machten keine Gegenvorschläge, also war er darauf angewiesen, sich immer neue Dinge auszudenken, von denen er glaubte, daß sie den DieZagos zusagen würden und ein entsprechender Vorrat an Bord der Kaulquappe vorhanden war. Schließlich jedoch übersetzte der Translator einen Zwischenruf, der von einem ungeduldig werdenden Die-Zago zu kommen schien: »Kristallediemanleckt …!« Es war Zufall, daß Flannagan Schätzo der richtige Gedanke sofort durch den Kopf schoß. Andernfalls hätte er tagelang an dieser Beschreibung herumrätseln können, ohne auf die richtige Idee zu kommen. »Salz?« schrie er begeistert. »Ihr sollt soviel Salz haben, daß ihr euch damit bepudern könnt!« Dieses Versprechen löste allgemeinen Jubel aus. Es fiel Flannagan schwer, den DieZagos klarzumachen, daß man zuerst die Einzelheiten des Abkommens aushandeln müsse, bevor man mit dem Jubeln beginnen konnte. Aber schließlich setzte er sich durch. Es wurde vereinbart, daß sich die zehn Begleiter der Expedition sofort mit Flannagan und seinen Begleitern auf den Rückweg zur Lichtung machen sollten. Ihnen beigegeben wurden weitere zehn Mann, die die Hälfte des versprochenen Salzes in Empfang nahmen und zum Dorf bringen sollten. Die zweite Hälfte würde nach Beendigung der Expedition geliefert werden.
25 Jetzt erst rief Flannagan die beiden Terraner herbei. Er hatte die Die-Zagos mit vorsichtigen Worten auf die gigantische Körpergröße seiner »Freunde« aufmerksam gemacht, so daß die Gelbhaarigen nicht erschraken, als Oren Kubaschk und Afruth Schwartz in der Tiefe erschienen. Ins Dorf konnten sie sich nicht wagen, weil in dieser Höhe die Koorbsta-Fäden so dünn und biegsam waren, daß sie ihr Gewicht nicht zu tragen vermochten. Der Rest war nur noch eine Frage von unaufhörlichem Geschnatter und fieberhafter Tätigkeit von seiten des Translators. Noch lange vor Sonnenuntergang brach die um zwanzig gelbhaarige Die-Zagos vermehrte Expedition zum Rückmarsch auf.
* Unter der Führung der Die-Zagos wanderten sie den größten Teil der Nacht hindurch und legten nur gegen Morgen eine kurze Ruhepause ein. Die Eingeborenen kannten sich im Gespinstdschungel der Koorbstas aus. Es gab keinen einzigen Zwischenfall. Kurz nach Sonnenaufgang erreichte man den nördlichen Rand der Lichtung, auf der das Raumschiff gelandet war. Von hier an übernahm wieder Oren Kubaschk die Leitung der Expedition. Er hatte inzwischen von den Die-Zagos erfahren, welche Abmachungen getroffen worden waren, und schickte sich an, die zwanzig Gelbhaarigen sofort zu Stanzo Peysen zu bringen. Die drei Siganesen wurden zu ihrem Quartier geschickt. Von den vier Landsleuten, die sich dort mehr oder weniger erfolgreich die Zeit vertrieben, zeigte sich nur Romberg Kessel an den Erlebnissen der Expeditionsteilnehmer interessiert. Er erfuhr von Penty Grassor mit knappen Worten, was geschehen war, und auch, daß man auf dem Rückmarsch so gut wie keine Rast gemacht hatte. Er zeigte sich verständnisvoll, als Grassor und Flannagan zu verstehen gaben, daß sie sich zuerst einmal ausgiebig ausruhen wollten.
26
Kurt Mahr
Sie streckten sich auf ihren Lagern aus. Flannagan gähnte lauthals vor sich hin – nicht, weil er wirklich so müde gewesen wäre, sondern weil er den Eindruck erwecken wollte, daß er gleich einschlafen werde. Er drehte sich behaglich auf die Seite, und richtig, da lag Penty Grassor ebenfalls auf der Seite, so daß er ihn sehen konnte, hatte die Augen weit offen und sagte leise: »Jetzt habe ich lange genug die Luft angehalten. Du behauptetest, du hättest die Grundzüge eines Planes. Wie steht's damit?« »Immer langsam!« mahnte Flannagan. »Zuerst ist noch eine Menge Vorarbeit zu leisten. Wie gut, meinst du, ist Stanzo Peysen über die Mitglieder seiner Expedition informiert?« »Hm«, brummte Grassor, »schwer zu sagen. Gut, würde ich sagen. Bis in jede Einzelheit.« »Wie kommst du darauf?« »Als ich zum erstenmal bei ihm vorsprach, sagte er mir auf den Kopf zu, wo ich beschäftigt war, wieviel ich verdiene und welche Aufstiegsmöglichkeiten ich hatte. Er hatte das alles ermitteln lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er bei den andern weniger gründlich war.« »Meinst du, daß er schriftliche Unterlagen über seine Mitarbeiter mit sich führt?« »Hier?« Penty Grassor dachte darüber nach. Dann bejahte er. »Wenn es überhaupt schriftliche Unterlagen gibt, dann hat Peysen sie dabei. Soviel ich weiß, hat er in diese Expedition seine letzten Geldmittel investiert und beim Abflug von Siga sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen. Was er hat, befindet sich hier, auch die Unterlagen.« »In seinem Arbeitsraum.« »Wo sonst?« Flannagan Schätzo grinste belustigt vor sich hin. »Dann habe ich für uns beide was zu tun«, sagte er. »Wir brechen heute nacht in Stanzo Peysens Arbeitsraum ein!«
*
Es war an sich ein unsinniges Unternehmen: zwei Zwerge in der Welt der Riesen, in der ihnen kein einziger Servomechanismus gehorchte. Es fing damit an, daß sie nicht einmal wußten, wie sie das eigene Quartier verlassen sollten. Tagsüber stand den Siganesen die Möglichkeit zur Verfügung, über Interkom nach einem Terraner zu rufen, der ihnen das Schott öffnete. Nachts gab es diese Möglichkeit nicht, und außerdem war die Natur des Unternehmens, dem Flannagan Schätzo und Penty Grassor sich verschrieben hatten, nicht danach, daß sie diesen Weg hätten beschreiten wollen. Nur eine Bequemlichkeit hatten die Terraner ihren siganesischen Gästen zugebilligt: Es war im Innern ihres Quartiers ein zweiter Servomechanismus zur Bedienung der Beleuchtung angebracht worden, und der befand sich in so geringer Höhe über dem Boden, daß die Männer von Siga ihn mühelos bedienen konnten. Aber Flannagan Schätzo war ein Mann, der um die Lösung scheinbar unlösbarer Probleme nicht lange verlegen war. Die Kaulquappe war ein älteres Modell. Ihre Klimaanlage sandte frische, kühle Luft durch vergitterte Öffnungen in der Decke eines jeden Raumes und saugte warme, verbrauchte Luft durch ebenfalls vergitterte Löcher in Bodennähe ab. Eines dieser bodennahen Gitter befand sich unmittelbar neben dem Schott, einer Gegend, in der kein Siganese sein Lager aufgeschlagen hatte. Auf dieses Gitter hatte Flannagan Schätzo es abgesehen. Es war still in dem finsteren Quartier. Die anderen Siganesen schliefen, selbst Tough Ma-Konah hatte sich vorgestern nacht auf handgreifliche Weise davon überzeugen lassen, daß es auch für ihn gesünder sei, nachts zu schlafen. Das Gitter war nur lose eingefügt. Es bereitete den beiden Tatendurstigen keinerlei Schwierigkeiten, es aus der Fassung zu entfernen. Nur bei dem Bestreben, es lautlos zu Boden bringen, mußten sie sich anstrengen. Sie drangen in den Abluftschacht ein.
Planet der Spinnen Flannagan Schätzo hatte sich, als er zum erstenmal dorthin geführt wurde, annähernd gemerkt, wo sich Stanzo Peysens Hauptquartier befand. Zudem verfügte er über einen Richtungsinstinkt, den er sich während der langen Jahre seiner Tätigkeit als USOAgent anerzogen hatte. Ohne lange irre zu gehen, führte er Grassor auf dem kürzesten Weg zu dem Abluftgitter, das wenige Zentimeter über dem Boden in die Wand von Peysens Arbeitsraum eingelassen war. Bevor sie das Gitter entfernten, sicherten sie zunächst. Flannagan hatte eine Lampe mitgebracht. Er ließ den scharfgebündelten Lichtkegel von oben nach unten, von rechts nach links durch den finsteren Raum wandern, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Die Karten hingen noch an den Wänden, und auf Peysens Schreibtisch lastete immer noch derselbe Wirrwarr von Folien, Papieren, Karten und Photographien, den er schon vor drei Tagen bemerkt hatte. Sie drückten das Gitter nach draußen. Es war so schwer, daß es sie mitzog. Es gab einen hellen, blechernen Klang, als das Gitter auf den Boden schlug. Sie blieben ein paar Sekunden lang reglos liegen und lauschten. Als sich nichts rührte, standen sie auf und schoben das Gitter so, daß es sich leicht wieder entfernen ließ, in seine Fassung zurück. Erst dann machten sie sich an die eigentliche Arbeit. Die Unterlagen befanden sich, wenn es sie überhaupt gab, in Stanzo Peysens Schreibtisch. Dieses Möbelstück war eines der Standardmodelle, wie sie sie schon seit Jahrhunderten gab, mit einer eingebauten Energiequelle und einer Schaltleiste, deren Schalter für die Bedienung der einzelnen Schübe und Schubladen da waren. Die Schwierigkeit bestand für die beiden Siganesen darin, zunächst die schwindelnde Höhe der Schreibtischplatte zu erreichen, auf der sich die Schaltleiste befand, und dann in die einzelnen Laden zu tauchen, die einer von ihnen per Knopfdruck öffnen würde. Dieser eine war Penty Grassor, da nur Flannagan Schätzo genau wußte, wonach hier eigentlich gesucht wurde.
27 Es gelang ihnen mit einiger Mühe, den Stuhl, auf dem Stanzo Peysen zu sitzen pflegte, so gegen den Schreibtisch zu schieben, daß die beiden Armlehnen dicht unterhalb der Tischkante gegen das Möbelstück stießen. Dann kletterten sie an dem plastikmetallenen Bein des Stuhls in die Höhe, und wenige Minuten später standen sie auf der Tischplatte, auf der sie, nachdem sie einige Lagen Photographien säuberlich zur Seite geräumt hatten, die Schaltleiste fanden. Es wurde vereinbart, daß Grassor zuerst die Schübe der rechten und dann der linken Seite öffnete, und zwar von oben nach unten. In den obersten Schub konnte Flannagan mühelos hineinspringen. Von da an jedoch war er darauf angewiesen, daß Grassor die Knöpfe genau in der richtigen Reihenfolge und mit angemessenem Zeitabstand drückte; denn es blieb ihm nur die Wahl, sich aus der oberen Lade, wenn sie sich zu schließen begann, in die nächstuntere hinabfallen zu lassen, die sich im selben Augenblick öffnen mußte. Penty Grassor sprang mit beiden Füßen zugleich auf den obersten rechten Knopf. Ein Ruck fuhr durch das Möbelstück. Die Lade hatte sich geöffnet. Sie war nicht hoch genug, als daß Flannagan sich hätte aufrecht darin bewegen können. Er stellte jedoch bald fest, daß hier das Gesuchte nicht zu finden war. Er schritt bis zum Ende der Lade und klammerte sich außen an den Rand. Dann rief er Grassor zu, er solle den nächsten Knopf betätigen. Als er spürte, daß seine Lade sich einwärts bewegte, ließ er sich fallen. Er landete zielgerecht in der nächstunteren Lade, die sich soeben geöffnet hatte. Als er mit der Lampe um sich leuchtete, sah er sofort, daß er hier vielversprechendes Gebiet erreicht hatte. Er stand auf einem Schriftstück, dessen Titel in Lettern so groß wie sein Zeigefinger den Namen GLOW GELLER aufwies. Er trat in den Hintergrund der Lade, wo sich einige Schreibstifte und ein kleiner Taschenrechner befanden, und begann, die Papiere nach vorne zu schieben. Tatsächlich gab es hier eine Akte
28 über jedes Mitglied der Expedition, die Siganesen eingeschlossen. Die Lade war eine wahre Fundgrube für Informationen. Aber zunächst interessierte sich Flannagan Schätzo nur für Afruth Schwartz. Wenn ihm nachher noch Zeit blieb, würde er sich auch die anderen Unterlagen durchlesen. Die Lektüre des Papiers über Afruth Schwartz bestätigte seinen Verdacht. Die Frau hatte ein schweres Schicksal gehabt. Psychosen und Traumata waren zurückgeblieben und hatten niemals ganz geheilt werden können. Zwei Einzelfälle wurden im Detail geschildert: Afruth Schwartz stammte von einer Siedlerwelt. Sie war sieben Jahre alt, als eine Horde Aufständischer das Anwesen ihrer Eltern überfiel und jedermann niedermachte; Vater, Mutter, zwei Brüder und eine Schwester. Afruth hielt sich in einer Bodenkammer versteckt, von wo aus sie Augenzeuge des blutigen Geschehens wurde. Die Mörder waren später gefaßt worden. Von dem Anführer hatte Flannagan Schätzo sogar gehört. Sein Name war Varik Semibol, und in jenen Tagen der Revolution auf dem Siedlerplaneten hatte er sich Varik den Blutigen nennen lassen. Bei dem zweiten Vorfall handelte es sich um eine Vergewaltigung, der Afruth Schwartz im Alter von fünfzehn Jahren zum Opfer gefallen war. Dieses Ereignis hatte sich unter besonders brutalen Begleiterscheinungen abgespielt. Die Psychophysiker waren sich darüber uneinig, wie aus dem Bericht hervorging, welcher der beiden Vorfälle Afruth Schwartz' Gemüt mehr belastet hatte. In Übereinstimmung befanden sie sich jedoch darüber, daß außer heilbarem auch ein gewisser Betrag an unheilbarem seelischem Schaden angerichtet worden war, den die Frau für den Rest ihres Lebens mit sich herumschleppen würde. Soweit war Flannagan mit der Lektüre gekommen, da hörte er von oben her Penty Grassor rufen: »Achtung, Gefahr!« Im gleichen Augenblick fuhr die Lade einwärts. Flannagan war gefangen. In aller Eile brachte er die Papiere wieder in die
Kurt Mahr Ordnung, in der er sie vorgefunden hatte, und horchte. Er hörte laute Schritte und eine brummende Stimme: »Immer bin ich das Laufmädchen! Soll sich seinen verdammten Rechner doch selbst holen …!« Flannagan spannte die Muskeln. Das war Oren Kubaschks Stimme, und mit dem Rechner war womöglich das kleine Taschengerät gemeint, neben dem er stand! Er kauerte sich in den hintersten Winkel der Lade und legte sich einen der spitzen Schreibstifte so zurecht, daß er ihn notfalls als Waffe gebrauchen konnte. Oben murmelte Kubaschk: »Rechts, zweite Lade von oben …« Mit einem Ruck fuhr der Schub auf. Erleichtert stellte Flannagan fest, daß Kubaschk kein Licht eingeschaltet hatte. Aber das Schott stand offen, und ein wenig Helligkeit fiel vom Gang herein. Kubaschk schien genau zu wissen, wo der Rechner sich befand. Er bückte sich nicht, um die Lade zu untersuchen, sondern streckte die Hand aus, um nach dem Gerät zu fassen. Flannagan sah die fleischige, behaarte Hand auf sich zukommen. Sie war wie ein Ungeheuer, dem eigene Intelligenz innewohnte. Suchend glitten die Finger über die aufgestapelten Papiere, drangen weiter in den Hintergrund der Lade vor und näherten sich dem Siganesen. Kubaschk wußte nicht, daß der Rechner in der rechten Ecke der Lade lag. Die Hand bewegte sich in der Mitte, und wenn nicht ein Wunder geschah, mußte wenigstens einer der Finger auf Flannagan Schätzo treffen. Flannagan wartete, bis der ungeschlachte Daumen nur noch wenige Zentimeter entfernt war, dann griff er zu seiner Waffe und ging zum Angriff über. Wenn er wartete, bis Kubaschk ihn ergriff, war er verloren. Er mußte zuerst handeln, und wenn es auch eine Tat der Verzweiflung war, auf die er sich jetzt einließ, so gab es doch noch eine winzige Chance, dem Dilemma zu entkommen. Mit voller Wucht rammte er die Spitze des Schreibstifts in die Kuppe des Daumens.
Planet der Spinnen Der Vormarsch der Hand kam augenblicklich ins Stocken. Von oben tönte ein entsetzter Schrei. Dann wurde die Hand zurückgezogen. Schwere Schritte dröhnten. Kubaschks röhrende Stimme schrie: »Eine Ratte! Eine Ratte hat mich gebissen …!« Er lief auf den Gang hinaus. Blitzschnell schwang Flannagan Schätzo sich über den Rand der offenen Lade. Der Stuhl stand ganz in der Nähe. Wenn er sich kräftig abstieß, bekam er vielleicht den Mittelschaft zu fassen. Er nahm Schwung und ließ los. Mit etwas mehr Wucht, als er geplant hatte, prallte er gegen das Stuhlbein, umschlang es mit beiden Armen und ließ sich daran herab. Von oben kam Penty Grassor. Oren Kubaschks entsetztes Geschrei war noch nicht verstummt, da standen die beiden Siganesen schon an der Wand und wuchteten das Gitter aus der Fassung. Die Verzweiflung verdoppelte ihre Kräfte. Sie verschwanden in der Abluftöffnung und befestigten hinter sich das Gitter. Grassor wollte davoneilen, aber Flannagan hielt ihn zurück. »Ich muß wissen, was daraus wird!« zischte er. Augenblicke später flammte draußen das Licht auf. Oren Kubaschk und Stanzo Peysen betraten den Raum. »Zeig mir deine Ratte!« befahl Peysen ungnädig. »Sie … sie war dort in der Lade«, stieß Kubaschk hervor. »Ganz bestimmt, sie hat mich gebissen.« Er schob den Daumen in den Mund, um das Blut aus der Wunde zu saugen. Peysen schritt um den Schreibtisch herum und untersuchte die offene Lade. Er zog einen Schreibstift hervor und hielt ihn Kubaschk hin. »Hier ist deine Ratte, du Narr!« verhöhnte er ihn. »Du bist mit dem Daumen gegen die Spitze geraten und hast dich dabei verletzt.« Peysen zog den kleinen Rechner hervor und schloß den Schreibtisch. Dann ging er hinaus, und Oren Kubaschk, den Daumen immer noch im Mund, folgte ihm wie ein
29 begossener Pudel. Das Licht ging aus, und das Schott wurde geschlossen. »Einhundert Prozent Erfolg!« kicherte Flannagan Schätzo, dann machte er sich mit Penty Grassor auf den Rückweg.
5. Am nächsten Morgen zogen die zehn DieZagos mit einer fünf Pfund schweren Ladung Salz ab. Gegen Mittag brach die Expedition auf. An ihr nahmen außer den Personen, die Stanzo Peysen vor vier Tagen in sein Arbeitszimmer zu einer Vorbesprechung geladen hatte, auch die übrigen DieZagos teil, die als Scouts engagiert waren und den Weg zu sichern hatten. Fünf Terraner und vier Siganesen blieben bei dem Raumschiff zurück und außer ihnen auch die zweiunddreißig wachstumbehinderten Kinder, von denen Flannagan Schätzo bislang noch kein einziges zu Gesicht bekommen hatte. Die zehn Die-Zagos bewegten sich in wechselndem Abstand vor der Expedition her. Es war ihre Aufgabe, Wege zu finden, auf denen kritische und gefährliche Stellen nicht berührt wurden, und ferner der Expedition die Koorbstas vom Leibe zu halten. Den Abschluß der Marschgruppe bildeten die fünf Terraner. Zwischen den Die-Zagos und den Terranern bewegten sich die drei Siganesen. Man kam rascher vorwärts, als es auf der ersten Expedition zum Versteck der DieZagos der Fall gewesen war. Das kam daher, daß den Terranern jetzt acht Arme anstatt nur zwei zur Verfügung standen, die das Haumesser schwingen und einen Weg bahnen konnten. Afruth Schwartz wurde bei der Verteilung dieser Arbeit übergangen. Infolgedessen ermüdete sie nicht so rasch und trug dadurch ihrerseits zum rascheren Vordringen der Expedition bei. Die Koorbstas verfolgten die Eindringlinge zwar mit neugierigen Blicken, aber sie anzugreifen, dazu schienen sie keine Lust zu haben. Das machte die Anwesenheit der Die-Zagos. Penty
30 Grassor hatte mittlerweile eine Hypothese erarbeitet, wonach die Spinnen nur deshalb nichts mit den gelbbehaarten Eingeborenen zu tun haben mochten, weil diese einen entsetzlichen Körpergeruch ausströmten. Ob diese Theorie richtig war, ließ sich im Augenblick nicht ermitteln. Flannagan Schätzo erinnerte sich jedoch mit Grausen an die paar Minuten, während denen er auf der Plattform im Dorf der Eingeborenen mitten unter den Die-Zagos gestanden hatte. Auf Grund dieser Erfahrung hielt er Grassors Hypothese für durchaus plausibel. Als die Dunkelheit einbrach, hatte die Expedition nach Flannagans Schätzung etwa zwölf Kilometer zurückgelegt. Das war eine beachtliche Leistung, wenn man bedachte, daß der Trupp erst am Mittag aufgebrochen war und der Weg durch höchst schwieriges Terrain geführt hatte. Auf Anraten der DieZagos wurde die Plane, auf der die Expeditionsmitglieder die Nacht verbringen gedachten, nicht über dem Boden, sondern inmitten des versteinerten Gespinstes aufgespannt. Dazu mußten eine Menge Gespinstfäden zerschlagen und entfernt werden, eine Arbeit, die fast eine Stunde in Anspruch nahm. Man gewann dadurch zusätzliche Sicherheit und ein höheres Maß an Komfort, denn in unmittelbarer Bodennähe war der Gestank, der von der breiigen Erdmasse ausging, mitunter so stark, daß bei längerem Einatmen Rausch und Übelkeitszustände auftraten. Flannagan Schätzo fand es in gewissem Grade verwunderlich, daß der ganze Tag ohne jeglichen Zwischenfall verlaufen war. Er hatte sich geflissentlich aus Oren Kubaschks Nähe gehalten; aber selbst jetzt, da sie alle gemeinsam auf der großen Plane hockten – die Die-Zagos selbstverständlich ausgenommen – verhielt Kubaschk sich friedlich. Flannagan vermutete, daß Stanzo Peysen ihm die Leviten gelesen hatte. Seine Vermutung erwies sich jedoch als verfrüht. Der Tag sollte nicht so reibungslos enden, wie er bis jetzt verlaufen war, und dafür sorgte einer der gelbhaarigen Eingeborenen. Die zehn Scouts hatten sich in das
Kurt Mahr schimmernde Gespinst hinauf verkrochen. Der Spinnendschungel war ihr Lebensraum. Sie fühlten sich dort zu Hause wie ein Mensch auf ebener Erde. Sie kauerten auf den versteinerten Fäden und beobachteten neugierig das Lagerleben auf der Plane. Stanzo Peysen hatte eine kräftige Lampe mitgebracht, die an einem der Fäden aufgehängt worden war und die Szene hell beleuchtete. Einer der Die-Zagos kauerte nicht mehr als einen halben Meter über der Stelle, an der Oren Kubaschk sich niedergelassen hatte, um seine Abendration zu verzehren. Die Eingeborenen waren primitive Wesen mit einer Intelligenz, die kaum über der des Neandertalers stand, und entsprechenden Sitten und Gebräuchen. Sie fanden nichts dabei, ihre Notdurft gerade da zu verrichten, wo der Drang sie überfiel. Auch dem Die-Zago, der über Oren Kubaschks Haupt kauerte, fiel nichts Schlimmes dabei ein. Kubaschk, der gerade einen Bissen in den Mund geschoben hatte, als das Häufchen Exkremente neben ihm auf die Plane fiel, bekam Augen so groß wie ein Handteller und gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Ein paar Sekunden lang schien er nicht begreifen zu können, was da geschehen war. Dann spie er von sich, was er im Mund hatte, und sprang mit einem wütenden Schrei auf, so daß die Plane ins Schaukeln geriet. Mit einem raschen Griff hatte er den ahnungslosen Die-Zago beim Hals gepackt, schüttelte ihn hin und her und brüllte ihn an: »Ich werde dich lehren, du schmutziger Affe, wie man sich anständig benimmt!« In zügellosem Zorn holte er aus und schleuderte den Die-Zago mit voller Wucht in die Dunkelheit. Man hörte den Eingeborenen ängstlich aufschreien. Der Schwung des Wurfes schleuderte ihn gegen versteinerte Gespinstfäden, die mit klirrendem Geräusch zerbrachen. Der Die-Zago gab noch einen letzten Wehlaut von sich, dann war von ihm nichts mehr zu hören. Die Terraner schien der Vorfall nicht sonderlich zu berühren. Lediglich einer von ihnen verlor darüber ein Wort. Das war Stanzo
Planet der Spinnen
31
Peysen. Er sagte: »Du solltest dich mehr beherrschen, Kubaschk. Wisch den Dreck fort und setz dich wieder hin. Diese Burschen sind nicht so zivilisiert wie wir.« Kubaschk tat brummend, wie ihm geheißen war, und setzte seine Abendmahlzeit fort. Inzwischen hatte sich Flannagan Schätzo unter den Die-Zagos umgesehen. Sie hockten nach wie vor auf ihren Plätzen, aber in ihren Augen stand jetzt ein anderer Ausdruck als zuvor. Wenn sie bisher die Szene unter ihnen mit kindlicher Neugierde betrachtet hatten, leuchtete jetzt Ärger aus ihrem Blick. Nach einer Weile machten zwei von ihnen sich auf, um nach ihrem mißhandelten Genossen zu suchen. Sie waren ziemlich lange unterwegs. Als sie zurückkehrten, brachten sie das Opfer mit. Die arme Kreatur hatte sich beim Aufprall gegen einen der versteinerten Fäden das Rückgrat gebrochen. Man brauchte ihn nicht zu untersuchen. Die unnatürliche Verkrümmung des Körpers verriet, daß kein Leben mehr in ihm war. Schließlich, als sie ihre Mahlzeit verzehrt hatte, verzogen sich auch die drei Siganesen in das Gestrüpp des Spinnendschungels. Wie bei der letzten Expedition fanden sie auch hier einen Gespinststrang, der dick genug war, so daß sie sich ein Lager darin bereiten konnten. Bevor sie einschliefen, sagte Flannagan Schätzo: »Es wird gut sein, wenn wir von jetzt an die Augen offenhalten. Die Die-Zagos haben einen ihrer Leute verloren. Ich glaube nicht, daß sie uns jetzt noch so freundlich gesinnt sind wie bisher.«
* Er behielt recht. Zwar gab es am folgenden Tag nur einen einzigen Zwischenfall; aber der war so schwerwiegend, daß er um ein Haar die ganze Expedition ausgelöscht hätte. Sie waren am Vormittag gut vorwärtsgekommen. Die Die-Zagos, jetzt nur noch
neun, betätigten sich weiterhin als Pfadfinder. Aber Flannagan, der am vergangenen Tag bemerkt hatte, daß der Pfad des öfteren Winkel und Kurven beschrieb, stellte heute fest, daß man sich auf schnurgerader Linie bewegte. Das mochte nicht viel besagen; aber er glaubte doch, daß die Kurven gestern gemacht wurden, damit man Gefahren auswiche. Wenn die Die-Zagos heute die Expedition auf geradem Kurs führten, dann konnte dies bedeuten, daß es vorläufig keine Gefahren zu umgehen gab, oder auch, daß die Scouts den Gefahren nicht mehr ausweichen wollten. Gegen Mittag wurde kurz gerastet. Man nahm einen Imbiß zu sich, und Stanzo Peysen verkündete, daß man seit dem Aufbruch von der Lichtung über fünfundzwanzig Kilometer zurückgelegt habe. Das war mindestens ein Viertel der Gesamtstrecke, also durfte man hoffen, das Ziel in nicht mehr als insgesamt vier Tagen zu erreichen. Seit dem Aufbruch mochten etwa zwei Stunden verstrichen sein, da nahm Flannagan Schätzo plötzlich einen eigentümlichen Geruch war. Er war nicht unangenehm, nicht zu vergleichen mit dem Gestank, der vom Boden aufstieg. Aber er hatte eine berauschende, betäubende Wirkung, die auf den Gleichgewichtssinn einwirkte und die Füße auf einem Gelände, das sonst völlig sicher gewesen wäre, plötzlich straucheln ließ. Er sah sich verwundert um. Auch Grassor und Lyall hatten den Geruch bemerkt und waren mißtrauisch geworden; aber so angestrengt sie sich auch umblickten, sie konnten nichts Verdächtiges entdecken. Auch die Die-Zagos turnten wie sonst mit unglaublicher Gewandtheit durch das Gewirr der Gespinnstfäden und ließen durch nichts erkennen, daß Gefahr drohte. Die fünf Terraner schienen den Geruch ebenfalls zu bemerken; aber sie nahmen ihn entweder nicht ernst, oder die eigenartige Wirkung des Duftes hatte ihnen schon die Fähigkeit der kritischen Überlegung geraubt. Besonders Oren Kubaschk machte sich über das »Parfüm«,
32 wie er es nannte, lauthals lustig und war an einer Stelle derart unkonzentriert, daß er ausrutschte und um ein Haar in die Tiefe gestürzt wäre, wenn Geller und Borodkin nicht blitzschnell zugegriffen und ihn vor dem Absturz bewahrt hätten. Flannagan Schätzo hatte das Gehabe der Terraner aufmerksam verfolgt. Jetzt wandte er sich ab, um den Weg fortzusetzen und prallte gegen ein hartes, unsichtbares Hindernis. Der Aufprall hätte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. Nur mit Mühe konnte er sich noch an einem der Gespinstfäden festhalten und die Balance wieder herstellen. Ungläubig streckte er den Arm aus und stieß mit der Hand tatsächlich gegen eine unsichtbare Wand, die von beachtlichem Umfang zu sein schien, denn so weit er sich auch drehte und streckte – er konnte ihr Ende nicht greifen. Grassor und Lyall waren aufmerksam geworden. »Was gibt's?« fragte Piano mit singender Stimme. »Kommt her und streckt die Hand aus!« forderte Flannagan ihn auf. »Komme … kommkomme sofort!« stotterte Lyall. In Flannagans Bewußtsein klingelte ein Signal. Lyall machte den Eindruck eines Betrunkenen. Er bewegte sich unsicher und konnte nicht mehr geradeaus sehen. Er kam herangewankt, streckte den Arm aus und berührte die unsichtbare Wand. »Hm«, brummte er, »ein Hinhindernis!« Flannagan brachte ihn dazu, daß er sich hinsetzte. Er zwängte ihn mit den Schultern in eine Gabelung der Gespinstfäden, so daß er Halt hatte und nicht herabfallen konnte. Er warf einen raschen Blick in die Höhe. Die Die-Zagos turnten weiter fort, als wäre nichts geschehen. Als er den Blick senkte, bemerkte er, daß Piano Lyall eingeschlafen war. »Verdammter Gestank!« schimpfte Penty Grassor, auch er seiner Stimme nicht mehr ganz sicher. »Ganz elendes Zeug. Macht einen ganz be … be … na, so was!«
Kurt Mahr Auch Flannagan spürte die Benommenheit immer stärker. Er wandte sich um und wollte den Terranern eine Warnung zurufen, da bot sich ihm ein unglaublicher Anblick. Seitwärts bemerkte er eine ganze Herde schlangenähnlicher Tiere, die mit merkwürdigem Eifer in dem Gespinst des KoorbstaDschungels auf und ab glitten. Es war ein Anblick, der zum Lachen reizte, fast so, als empfänden die Schlangen einen überaus starken Juckreiz, den sie dadurch loszuwerden suchten, daß sie ihr Bäuche an den versteinerten Fäden rieben. Gleichzeitig wurde jedoch der betäubende Duft merklich stärker, und Flannagan kam der Verdacht, daß die Schlangen etwas damit zu tun hätten. Dann sah er die fünf Terraner. Sie hatten sich niedergesetzt. Sie hockten auf starken Gespinstfäden und ließen die Beine in die Tiefe baumeln. Sie hielten sich an Längsfäden fest und schwankten hin und her, als befänden sie sich mitten in einem Sturm. Flannagan turnte zu ihnen hinüber. »Steh auf!« schrie er Peysen an. »Wir müssen weiter!« Peysen starrte ihn aus halb verdrehten Augen an. »We … we … we …«, lallte er. Oren Kubaschk kicherte kindisch vor sich hin. Borodkin schien zu schlafen. Geller und Afruth Schwartz starrten teilnahmslos in die Höhe. Von weither kam das Schnattern und Zirpen der Die-Zagos. Sie hatten die höheren Ebenen des Gespinstdschungels aufgesucht und turnten dort oben herum. Flannagan nahm zur Kenntnis, daß er von den Terranern keine Hilfe erwarten konnte. Ihm selbst setzte die Benommenheit, die der seltsame Duft erzeugte, immer mehr zu. Aber er war ein harter Mann, der gelernt hatte, bis zum letzten Atemzug um sein Leben zu kämpfen. Zuerst mußte er herausfinden, wovon er eigentlich bedroht wurde; dann konnte er etwas dagegen unternehmen. Er turnte dort hinüber, wo die fremdartigen Schlangen an den Gespinnstfäden auf und abglitten. Es waren inzwischen mehr geworden. Als Flannagan nahe genug herange-
Planet der Spinnen kommen war, sah er, daß die Unterseite der Schlangenkörper eine gläsern schimmernde Masse absonderte, die sich wie eine Seifenhaut über die Gespinstfäden spannte und dort erstarrte. Nur in dem Augenblick, in dem sie von dem Schlangenkörper ausgeschieden wurde, war sie überhaupt sichtbar. Sobald sie erstarrte, wurde sie völlig transparent, durchsichtiger als das beste Glas, das Flannagan je gesehen hatte. Gegen eine solche Wand war er also gestoßen. Von der Wand ging auch der betäubende Duft aus, und zwar um so intensiver, je mehr Zeit verstrich. Er begann zu erkennen, was die Schlangen vorhatten. Sie hatten der Expedition den Weg nach vorne verbaut. Und während die Mitglieder der Expedition sich ratlos über das ungewohnte Phänomen der Kopf zerbrachen und von dem Duft, der von der erstarrenden Masse ausging, immer berauschter wurden, fuhren die Schlangen fort, den Käfig zu schließen, in dem sie ihre Opfer fangen wollten. Es wurden jetzt immer mehr. Hunderte waren schon am Werk, die Gespinstfäden mit ihrer merkwürdigen Körperausscheidung zu überziehen Sie waren überall – oben, unten, rechts links. Die Falle, die sie bauten, hatte die Form einer Linse von annähernd zwanzig Metern Durchmesser und fünf Metern Höhe an der dicksten Stelle. Es wimmelte plötzlich von Schlangen, und als Flannagan in die Höhe turnte, um dort nach einem Ausweg zu suchen, wurde er von zweien der gelenkigen, biegsamen Tiere angegriffen. Er verteidigte sich mit seinem Blaster, aber der winzige Energiestrahl schien auf die fremden Geschöpfe keine besondere Wirkung zu haben, und schließlich mußte er noch froh sein, ungeschoren davonzukommen. Als er schließlich wieder bei Penty Grassor ankam, hatten die Schlangen ihr Werk vollendet. Die Luft war so voll des betäubenden Duftes, daß Flannagan nur noch verhalten zu atmen wagte, aus Angst, er könne beim nächsten Atemzug das Bewußtsein verlieren. Grassor stand noch aufrecht, aber
33 er mußte sich an einem Längsfaden festhalten und schwankte gefährlich. Die Schlangen hatten sich ein Stück weit zurückgezogen. Von allen Seiten umgaben sie das gläserne Gefängnis und warteten, bis ihre Opfer dem lähmenden Duft endgültig erlagen. »Wir müssen hier 'raus, Penty!« zischte Flannagan. »Ja, aber wwie?« lallte Grassor. Flannagan streckte die Hand aus, um sich zu überzeugen, daß die durchsichtige Wand noch da war. Er zog den Blaster und richtete die Mündung auf das transparente Hindernis. Als er abdrückte, gab es einen Knall, als hätte jemand einen Schweißbrenner entzündet. In der bisher undurchsichtigen Masse war ein kleines Loch entstanden, das nur deswegen sichtbar war, weil die Ränder eine braune, versengte Färbung hatten. Flannagan musterte besorgt die Armee von Schlangen, die sie von allen Seiten umgab. Sie konnten zwar Löcher in die Wand des Gefängnisses brennen, aber es gab keine Möglichkeit, den allgegenwärtigen Schlangen zu entkommen. Nur die Die-Zagos konnten helfen. Aber vorher mußte dafür gesorgt werden, daß das Innere der Falle belüftet wurde. Er wandte sich an Grassor. »Penty, kannst du noch stehen?« »Hrmmhm«, brummte Grassor. »Warum soll ich? Ich möchte mich lieber setzen!« Flannagan holte weit aus und verabreichte ihm eine Ohrfeige, bei der ihm selbst die Finger brannten. »He …!« schrie Grassor wütend und wackelte mit dem Kopf. »Reiß dich zusammen!« fauchte Flannagan ihn an. »Du mußt mir helfen.« »Helhelfen, ja«, brachte Grassor hervor. »Wie?« Flannagan trug ihm auf, an der durchsichtigen Wand entlangzuklettern und so viele Löcher wie nur möglich hineinzuschießen. Je mehr Löcher, desto mehr frische Luft kam herein, und desto länger konnten sie sich auf den Beinen halten. Er selbst turnte zu den fünf Terranern zurück. Er mußte sich mit den Die-Zagos in Verbindung setzen,
34 und dazu bediente er sich am besten des Translators, den Stanzo Peysen umgeschnallt trug, da er einen stärkeren Lautsprecher hatte. Es war gut, daß die Terraner schliefen. Ebenso vorteilhaft war, daß Piano Lyall das Bewußtsein verloren hatte. So konnte er unbehindert sprechen. Es gelang ihm, das Gerät in Betrieb zu setzen. Das Handmikrophon, für den Gebrauch eines Terraners gefertigt, war ihm zu schwer. Er ließ es in der Halterung und kletterte an Peysens Montur hinauf, bis er unmittelbar über dem Mikrophoneingang saß. Den Lautsprecher hatte er auf höchste Leistung geschaltet. »Freunde, ihr tut uns unrecht!« war seine erste Feststellung. »Wir drei Kleinen sind ebenso wie ihr Feinde des Grobschlächtigen, der euren Genossen getötet hat. Wir sind hier, um uns an ihm zu rächen – für Verbrechen, die er schon vor langer Zeit begangen hat. Ihr müßt uns gegen die Schlangen helfen, damit wir unsere Rache vollziehen können.« Er wartete, bis der Translator zu Ende gezirpt hatte. Dann lauschte er. In der Höhe war es still geworden. Die Die-Zagos hatten seine Botschaft empfangen und schienen leise miteinander zu beraten. Wie würden sie sich entscheiden? Plötzlich drang eine schrille Stimme von oben herab. Der Translator trat sofort in Tätigkeit und übersetzte: »Du schwören – beim Geist des heiligen Turmes!« »Ich schwöre!« antwortete Flannagan, obwohl er keine Ahnung hatte, was ein heiliger Turm war. In der Höhe wurde es plötzlich lebendig. Mit kurzen, schrillen Schreien kamen die Die-Zagos aus den höheren Ebenen des Gespinstdschungels herabgeturnt. Die Schlangen wurden unruhig. Flannagan konnte nicht erkennen, was die Eingeborenen taten, aber plötzlich lösten sich Schlangenkörper von den versteinerten Gespinstfäden, auf denen sie geruht hatten, und stürzten haltlos in die Tiefe. Die übrigen Schlangen ergriffen die Flucht. Die Die-Zagos schienen eine uner-
Kurt Mahr klärliche Macht über sie auszuüben. Flannagan sah kein einziges Beispiel, daß eine der Schlangen sich zur Wehr setzte. So schnell sie konnten, glitten sie davon und waren bald in den Tiefen des Dschungels verschwunden. Inzwischen war Penty Grassor fleißig im Gespinst herumgekrochen, und überall, wo er gewesen war, glänzten in der Wandung der Linse, die die Schlangen gezimmert hatten, kleine braune Löcher, durch die frische Luft von draußen hereindrang. Die Intensität des fremden Duftes verringerte sich merklich. Es war, wie Flannagan später von einem der Die-Zagos erfuhr, auch höchste Zeit. Der Geruch, den die von den Schlangenkörpern abgeschiedene Masse ausströmte, war tödlich. Die Zeitdauer, die ein organisches Wesen unter dem Einfluß des betäubenden Gases überleben konnte, richtete sich nach der Größe des Wesens. Schließlich kam Stanzo Peysen wieder zu sich. Verschwommenen Blicks sah er sich um. »Wird Zeit, daß du aufwachst!« verhöhnte ihn Flannagan Schätzo. »Wenn wir nicht gewesen wären, säßest du jetzt schon in der Hölle und hörtest die Teufel pfeifen!« Einer nach dem andern kam auch der Rest der Gruppe wieder zu sich. Die schweren Blaster der Terraner traten in Tätigkeit und fraßen rissige Löcher in die gläserne Wand, die die Schlangen errichtet hatten. Stanzo Peysen schien beeindruckt. Als Flannagan Schätzo ihm schilderte, aus welchem Dilemma er befreit worden war, wurde er blaß. Flannagan verlor kein Wort darüber, daß er Grund hatte anzunehmen, daß die Die-Zagos die Expedition mit Absicht in diese Falle geführt hatten, und Peysen seinerseits machte den Eingeborenen keinerlei Vorwürfe, wie man es vielleicht von ihm erwartet hätte. Es dauerte eine Weile, bis die berauschten Köpfe wieder in die Wirklichkeit zurückgefunden hatten. Dann setzte die Expedition ihren Marsch fort. Mit Befriedigung nahm Flannagan Schätzo wahr, daß der Kurs von nun an nicht mehr so geradlinig wie bisher
Planet der Spinnen
35
verlief. Die Die-Zagos hatten ihre alte Taktik wieder aufgenommen, kritische Gefahrenherde in weitem Bogen zu umgehen.
* Als man am Abend haltmachte, verkündete Stanzo Peysen, daß die Expedition am folgenden Tag den südlichen Rand der PsogenerSümpfe erreichen werde. Er hatte ursprünglich vorgehabt, die Sümpfe mit ihren gefährlichen Bewohnern in weitem Bogen zu umgehen; aber inzwischen war ihm eine merkwürdige Markierung auf Mentolliens Karte aufgefallen, die sich mitten in den Sümpfen befand und auf die er sich keinen Reim machen konnte. Man würde also versuchen, diesen Punkt in Augenschein zu nehmen, wenn es ohne Risiko möglich war. Die Plane wurde wieder ausgespannt, und dasselbe Panorama wie am vorherigen Abend entwickelte sich. Stanzo Peysen hängte seine Lampe auf, und wer als Unvoreingenommener die Szene beobachtet hätte, der wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß hier eine Gruppe kampierte, die durch bitteren Haß in zwei Teile gespalten war. Nach der Abendmahlzeit suchten sich die drei Siganesen wie üblich ihr Lager. Das Gift der Schlangen tat jetzt noch seine Wirkung: Es erzeugte eine lähmende Müdigkeit, der sich niemand entziehen konnte. Lediglich Flannagan Schätzo lag noch eine ganze Weile wach, selbst als es im Lager unter ihm längst ruhig geworden war. Die Lampe war ausgeschaltet worden. Es war finster im Dickicht der Koorbsta-Gewebe, und merkwürdige Laute einer unheimlichen fremden Tierwelt drangen aus den Tiefen des glitzernden Dschungels. Plötzlich war es, als hörte er neben sich ein schabendes Geräusch. Er wandte den Kopf und sah neben sich einen riesigen Schatten aufwachsen. Instinktiv griff er zur Waffe, die er auch nachtsüber im Gürtel trug. Da raunte eine Stimme ihm aus nächster Nähe zu: »Fürchte dich nicht! Ich möchte mit dir
sprechen, ohne daß die anderen etwas davon merken.« Er lag still. Er kannte diese Stimme. Es war Afruth Schwartz' Stimme. »Ich höre«, antwortete er leise. »Heute nachmittag waren alle bewußtlos, nicht wahr?« fragte sie. »Wann heute nachmittag?« erkundigte er sich, und da er die Antwort zu kennen glaubte, begann er, sich Sorgen zu machen. »Als wir von den Schlangen eingeschlossen waren«, lautete die Antwort. »Als du den Translator in Betrieb setztest und die Die-Zagos bewegtest, daß sie uns zu Hilfe kämen.« Er schluckte und nahm sich Zeit, eine Antwort auszusinnen. »Da du das alles weißt«, sagte er schließlich, »warst du selbst anscheinend nicht bewußtlos.« »Das ist richtig«, hauchte sie. Sie verwirrte ihn. Er wußte nicht, was er sagen sollte. In einer solchen Lage war es am besten zu schweigen. Er wartete. »Du wunderst dich, warum ich nicht zu Peysen oder Kubaschk darüber gesprochen habe?« fragte sie leise. »Woher soll ich wissen, ob du es nicht doch getan hast?« »Ich habe es nicht getan«, antwortete sie. »Warum nicht?« »Du willst dich an Oren Kubaschk rächen. Ich will es auch. Ich werde dir behilflich sein, wenn ich kann und wenn du meine Hilfe brauchst.« Überrascht richtete er sich auf. »Du …? Was hast du gegen Kubaschk?« »Du kennst meine Lebensgeschichte nicht«, sagte sie. »Es würde zu lange dauern, dir alles zu erzählen. Ich muß zurück, bevor jemand merkt, daß ich mit dir rede.« Sie wandte sich ab und kletterte vorsichtig, geräuschlos nach unten. Noch einmal, als sie die Plane fast schon erreicht hatte, hörte Flannagan Schätzo ihre leise Stimme: »Vergiß nicht: Wenn es gegen Oren Kubaschk geht, bin ich an deiner Seite!« Er lag noch lange wach und dachte über
36
Kurt Mahr
die seltsame Unterredung nach. Er kannte Afruth Schwartz' Lebensgeschichte. Er mußte sie kennen, denn er hatte einen Plan entwickelt, der mit Afruth Schwartz und der eigenartigen Tierwelt dieses Planeten zu tun hatte. Was hatte Oren Kubaschk mit Afruth zu tun? Hatte er zu den Aufständischen gehört, die ihre Familie ermordet hatten, oder war er einer von denen, die Afruth geschändet hatten? Er wußte es noch nicht. Es ging ihn auch nichts an. Für seinen Plan war es ohne Belang, warum Afruth Schwartz dem Grobschlächtigen gegenüber Rachegedanken hegte.
6. Am nächsten Tag lichtete sich plötzlich der bisher allgegenwärtige Spinnendschungel und gab den Ausblick auf eine riesige, hier und dort von vereinzelten Bäumen und Buschinseln bestandene Lichtung frei. Außer den bleichen Farnen und Moosen, die auf dem übelriechenden Boden des Gespinstwaldes wuchsen, waren diese Pflanzen die einzigen Vertreter der Flora, die die Mitglieder der Expedition bislang auf diesem Planeten zu Gesicht bekommen hatten. Ein Großteil der Lichtung wies eine Oberfläche auf, die im hellen Licht des frühen Nachmittags tückisch schillerte. Das war der Sumpf, der Psogener-Sumpf, wie Mentollien ihn getauft hatte. Auf dem Sumpf selbst wuchs nur noch niederes Buschwerk mit eigentümlich grau gefärbten Blättern. Die Sumpffläche war größtenteils eben. Nur hier und da ragten kleine Hügel, die sich aus der Ferne wie überdimensionale Maulwurfshügel ausnahmen, aus der Oberfläche. Und noch eine weitere Unebenheit gab es, die sich aus der weiten Fläche des Sumpfes erhob. Sie hatte die geometrisch regelmäßige Form eines flachen Kegels und einen metallischen Schimmer. Die Spitze des Kegels ragte etwa fünfzehn Meter über die Oberfläche des Sumpfes hervor, und der Durchmes-
ser der metallenen Insel betrug annähernd sechzig Meter. Es war bemerkenswert, daß die Die-Zagos sich beim Anblick der Insel zu Boden warfen und im Chor die Laute eines fremdartigen Ritus ausstießen. Die Zeremonie dauerte nur wenige Minuten. Flannagan Schätzo näherte sich dem Gelbhaarigen, den er für den Anführer des Trupps hielt, und fragte ihn mit Hilfe des Translators: »Wem gilt eure Ehrfurcht?« Er erhielt zur Antwort: »Dem Geist des heiligen Turmes.« Überrascht blickte Flannagan zu der schimmernden Insel hinüber. »Das … ist der heilige Turm?« »Das ist der heilige Turm«, bestätigte der Die-Zago. Flannagan musterte das eigenartige Gebilde mit neuem Interesse. Der metallische Schimmer war ohne Zweifel echt: Die Insel bestand aus Metall. Wieviel von ihrem Gesamtvolumen über die Oberfläche des Sumpfes hinausragte und wieviel in der schwammigen, tückisch glitzernden Masse versunken war, das ließ sich schwer sagen. Sicher war jedoch, daß das Gebilde in seiner Gesamtheit um ein Vielfaches größer war, als es jetzt den Anschein erweckte. Wie kam es hierher? Wessen Erzeugnis war es? Die Die-Zagos hatten es nicht geschaffen, das stand fest. Sie wußten nicht einmal, was Metall war, geschweige denn besaßen sie Werkzeuge, um es zu bearbeiten. Der schimmernde Kegel erweckte den Eindruck, daß er das Produkt einer hochentwickelten Technik sei. Auf diesem Planeten gab es außer den Die-Zagos keine eingeborene Intelligenz, also mußte der Kegel von auswärts gekommen sein. Stand er mit der sagenhaften Flotte in Zusammenhang, deren Landeplatz das Ziel dieser Expedition war? Fragen über Fragen! Als Flannagan sich schließlich vom Anblick der merkwürdigen Insel losriß, sah er, daß die fünf Terraner sich zu einer Besprechung zusammengefunden hatten. Sie dauerte nicht lange. Der Kreis öffnete sich. Stanzo Peysen trat hervor
Planet der Spinnen
37
und verkündete: »Ich habe meine Ansicht geändert. Bei der Insel, die sich mitten aus dem Sumpf erhebt, handelt es sich um ein bedeutsames Objekt, das womöglich mit unserem Vorhaben in Zusammenhang steht. Wir werden uns die Insel aus der Nähe betrachten. Aus Mentolliens Schilderungen geht hervor, daß es in der Oberfläche des Sumpfes Kanäle gibt, die mit Sumpfwasser gefüllt sind. Wir werden uns ein Floß bauen und zur Insel hinüberstaken.« Flannagan stand in Penty Grassors Nähe und hörte diesen sagen: »Der Mann ist übergeschnappt. Erst schwärmt er uns davon vor, wie gräßlich und abscheulich die Ungeheuer sind, die im Sumpf leben, und jetzt möchte er ihnen einen Besuch abstatten.« Peysen erklärte weiter, daß die Expedition zur Insel aus fünf Mitgliedern bestehen würde: ihm selbst, Glow Geller und den drei Siganesen. Der Rest der Gruppe, die neun DieZagos eingeschlossen, bleibt am Rande des Sumpfes zurück. Als Flannagan Schätzo das hörte, da begann er darüber nachzudenken, ob sich jetzt vielleicht der Zeitpunkt nähere, zu dem sich seine und Penty Grassors Rache vollziehen ließ. Und Afruth Schwartz', fügte er in Gedanken hinzu.
* Nach einer kurzen Rastpause begannen die Terraner, Bäume für das Floß zu fällen. Es gab nicht viele Gewächse, die sich für diesen Zweck eigneten. Sie standen weit auseinander, und die vier Männer hatten alle Hände voll zu tun, um die Stämme von allen Seiten herbeizuschleppen. Das Floß wurde am späten Nachmittag fertig. Stanzo Peysen hatte vor, die Insel nur ganz kurz in Augenschein zu nehmen. Man würde hinüberstaken und sich drüben nicht lange aufhalten. Die Entfernung vom Rand des Sumpfes betrug etwa zwölfhundert Meter.
Inzwischen hatten sich Flannagan Schätzos Pläne weiter entwickelt und Gestalt angenommen. Ihm lag nichts daran, daß Peysen so schnell wieder zum Festland zurückkehrte. Für die Ausführung seines Vorhabens brauchte er wenigstens eine halbe Nacht. Er beobachtete sorgfältig, wie die vier Terraner – Afruth Schwartz war an der Arbeit nicht beteiligt – das Floß zusammenbauten. Es war eine höchst primitive Konstruktion. Die Stämme wurden nebeneinander gelegt. Dann zog man biegsame Gerten, die man von Büschen geschnitten hatte, zwischen ihnen hindurch, verknotete die flexiblen Enden und verschaffte so den Stämmen untereinander Halt. Das war eine Konstruktion, der man leicht Herr werden konnte. Flannagan beobachtete nicht weiter. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er nutzte die Zeit, in der die vier Männer beschäftigt waren, um mit Afruth Schwartz zu sprechen. Sie sah ihn auf sich zukommen und lenkte ihre Schritte hinter ein Gebüsch, das gegen die Blicke Neugieriger vorzügliche Deckung bot. Flannagan Schätzo folgte ihr. »Ich möchte, daß du heute nacht nicht zu fest schläfst«, sagte er. Sie blickte ihn verwundert an. »Heute ist die Nacht, in der es Oren Kubaschk an den Kragen geht«, erklärte er ihr. »Wie willst du das anfangen?« »Das laß meine Sache sein. Ich brauche dich dazu, und es mag schmerzhaft für dich werden. Bist du trotzdem mit dabei?« Sie nickte heftig. »Jederzeit, wenn es gegen Kubaschk geht«, stieß sie hervor. »Der Kerl muß mehr Schandtaten angerichtet haben, als man zählen kann«, knurrte Flannagan. Danach ließ er Afruth einfach stehen und suchte den Anführer der Die-Zagos auf. Peysen und seine Gefolgsleute waren noch immer mit dem Floßbau beschäftigt. Piano Lyall stand neugierig daneben und sah ihnen zu. Niemand sah, daß Flannagan Schätzo mit den Eingeborenen sprach. »Heute nacht halte ich meinen Schwur!«
38
Kurt Mahr
erklärte er dem Gelbhaarigen. »Aber ich brauche eure Hilfe.« »Wir … helfen«, antwortete es aus dem Translator. »Du – sagen wie.« »Das ist nicht so einfach zu erklären«, antwortete Flannagan. »Es dreht sich darum, jemand zum Absturz zu bringen.« Das verstand der Die-Zago nicht. Flannagan mußte es ihm anders erklären. Er legte ihm dar, wie sich sein Plan abwickeln sollte. Überraschenderweise hatte der Die-Zago einige Verbesserungsvorschläge zu machen, die Flannagan durchaus einleuchteten und die er deshalb sofort in seine Planung mit einbezog. »Könnt ihr das?« fragte er zum Schluß. »Wir – können«, antwortete der Translator. »Wer gibt Zeichen?« »Ich gebe das Zeichen«, antwortete Flannagan. »Welches Zeichen?« Flannagan steckte zwei Finger in den Mund und brachte einen halblauten Pfiff hervor. »So«, sagte er. »Nur viel lauter.« Der Eingeborene war einverstanden. Flannagan hatte den Eindruck, er habe durch seine Bereitschaft, den Schwur zu erfüllen, einen neuen Freund gewonnen.
* Zwei Stunden vor Sonnenuntergang war das Floß fertig. Es waren mehrere lange Stangen geschnitten worden, die Peysen und Geller zum Fortbewegen des primitiven Gefährts verwenden wollten. Man ging am Rande des Sumpfes entlang und suchte nach einem der Kanäle, von denen Peysen gesprochen hatte. Sie waren unschwer auszumachen, denn ihre Oberfläche war völlig glatt und hatte einen stärkeren Schimmer als der eigentliche Sumpf, der bei aller Ebenheit doch viele kleine Furchen und Rinnen aufwies. Es wurde ein Kanal gefunden, der, soweit man blicken konnte, in gerader Richtung zur Insel verlief. Die beiden Terraner schwan-
gen sich auf das Floß. Sie drei Siganesen wurden ihnen nachgereicht. Peysen und Geller ergriffen die Stangen; dann begann die Fahrt. Flannagan und seinen beiden Landsleuten war die Sache nicht geheuer. Sie fanden sich im Zentrum des Floßes zusammen, wo sie von der gefährlichen Oberfläche des Sumpfes die größtmögliche Distanz hatten. Die Fahrrinne war etwa vier Meter breit. Das Floß selbst hatte eine Breite von knapp drei Metern. Im Augenblick war also noch genügend Raum vorhanden. Was aber, wenn das Fahrzeug sich im Gewirr der Kanäle verlor und dann plötzlich an eine Stelle kam, an der es nicht mehr weiter ging? Langsam und vorsichtig trieben die beiden Terraner ihr zerbrechliches Gefährt vorwärts. Fast sah es so aus, als seien die Befürchtungen der drei Siganesen umsonst gewesen. Da stieß Piano Lyall plötzlich einen entsetzten Schrei aus und deutete zwischen Glow Gellers Beinen hindurch auf die Sumpffläche hinaus. Flannagan verstand nicht sofort, was er meinte, und Lyall war so entsetzt, daß kein vernünftiges Wort aus ihm herauszubringen war. Dann jedoch bemerkte Flannagan, daß eine der Unebenheiten, die er auf den ersten Blick mit überdimensionalen Maulwurfshügeln verglichen hatte, in Bewegung geraten war. Sie trieb durch die zähe Masse des Sumpfes und wirkte wie der Turm eines altmodischen Unterseebootes, das soeben aufzutauchen begann. Was dann geschah, verlief so schnell, daß selbst Flannagan trotz seiner Reaktionsschnelligkeit Mühe hatte, dem Vorgang zu folgen. Die Oberfläche des Sumpfes schien sich plötzlich zu spalten. Eine Furche entstand, die von dem seltsamen Hügel bis an den Rand des Kanals reichte, durch den sich das Floß bewegte. »Peysen, paß auf!« schrie Flannagan mit überschnappender Stimme. Dann schoß aus dem Sumpf ein häßliches, bleiches Gebilde in die Höhe, ein Fangarm, ein flacher, gerippter Tentakel, der wie ein
Planet der Spinnen gigantischer Bandwurm wirkte. Mit atemberaubender Schnelligkeit bäumte er sich auf, schlug peitschend wieder herab und faßte mit der plattgedrückten Spitze Stanzo Peysen um die Hüfte. Mit einem entsetzten Aufschrei ließ Peysen die Stange fahren, mit der er eben noch das Boot vorwärtsbewegt hatte, und griff nach dem ekelhaften Gebilde, das ihn erfaßt hatte. Der Polyp jedoch war schneller. Ein kräftiger Ruck des bleichen Tentakels, und Peysen landete im Wasser. Er schlug wie wild mit den Armen um sich und schrie lauthals um Hilfe. Es war sein Glück, daß er in Glow Geller einen Genossen hatte, der schnell zu reagieren verstand. Geller warf die Stange beiseite, jedoch so, daß die auf das Floß fiel. Mit einer blitzschnellen Handbewegung hatte er den Blaster aus dem Gürtel gerissen und begann, auf das Stück des Tentakels zu feuern, das durch die trübe Oberfläche des sumpfigen Wassers zu sehen war. Damit würde er Peysen nicht viel helfen, erkannte Flannagan sofort. Erstens dämpfte das Wasser die Energie des Strahlers, und zweitens geriet Peysen bei den wilden Bewegungen des Fangarms in die Gefahr, selbst getroffen zu werden. »Weiter oben!« schrie er zwischen zwei Salven. »Schieß den Tentakel auf dem Sumpf ab, nicht im Wasser!« Glow Geller hatte ihn verstanden. Er richtete den Lauf der Waffe auf den Sumpf hinaus. Ein weißglühender Strahl, und der Fangarm war in zwei Teile zertrennt. Von dem Hügel kam ein ächzendes, grollendes Geräusch, Laute des Schmerzes, die die fremde Kreatur ausstieß. Dadurch wurde Geller auf den eigentlichen Feind aufmerksam. Er zielte sorgfältig und übergoß den verdächtigen Hügel mit energetischem Feuer. Etwas Seltsames geschah. Der Hügel schien sich aufzublähen, dann platzte er mit dumpfem Knall, und eine Wolke schwarzen, übelriechenden Dampfes breitete sich über dem vernichteten Tierkörper aus. Inzwischen hatte Stanzo Peysen sich von dem abgetrennten Tentakelrest befreien kön-
39 nen. Mit raschen Schwimmstößen kam er auf das Floß zu. Geller beugte sich nieder, um ihm an Bord zu helfen. »Das war knapp!« rief er. »Noch ein paar …« Er stockte mitten im Satz, als er erkannte, was mit Peysen geschehen war. Seine graublaue Montur war über und über mit schwarzbraunen Punkten bedeckt. Er nahm sie näher in Augenschein und fuhr wieder zurück. »Was hast du da aufgesammelt?« rief er entsetzt. Peysen selbst entdeckte erst jetzt, was geschehen war. Er begann, wie ein Wilder um sich zu schlagen. Mit flachen Händen schlug er klatschend hierhin und dorthin, und jedesmal, wenn er einen der schwarzbraunen Punkte traf, löste sich dieser von der Montur und fiel zu Boden. Flannagan untersuchte eines der Gebilde, das in seiner Nähe gelandet war. Es war ein blutegelähnliches Geschöpf, das sich, während Peysen sich im Wasser befand, an dessen Kleidung angesaugt hatte. Wie weit sie ihren irdischen Artverwandten überlegen waren, zeigte sich daran, daß sie in der kurzen Zeit, in der sie mit Peysen in Kontakt gewesen waren, schon Löcher durch die zähe Montur gebissen und an verschiedenen Stellen sogar Peysens Haut erreicht hatten. Die Fahrt ging weiter. Peysens Stange, die er beim Angriff des Polypen fortgeschleudert hatte, war davongeschwommen. Aber die beiden Terraner hatten wohlweislich mehrere dieser Werkzeuge an Bord genommen. Von jetzt an wurde jedesmal eine Pause eingelegt, wenn man in der Nähe eines der Hügel kam. Peysen richtete mit wahrem Vergnügen den Lauf seines Strahlers auf die zum größten Teil im Morast verborgenen Tiere, jagte eine Salve nach der andern in die massigen Körper und grinste, wenn sie mit dumpfem Knall explodierten und eine dunkle, stinkende Wolke ausstießen. Inzwischen war auch Flannagan Schätzo zu Werk gegangen. Die beiden Terraner waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß
40
Kurt Mahr
sie nicht merkten, was er tat. Auch Piano Lyall interessierte sich mehr für die Jagd nach den Polypen als für die weniger spektakuläre Aktivität seines Landsmannes. Mit seinem Strahler löste Flannagan, eine nach der anderen, die Verbindungen zwischen den Stämmen des Floßes. Nur an einigen Stellen ließ er die verknoteten Gerten ungeschoren, um zu verhindern, daß das Fahrzeug auseinanderfiel, bevor sie die metallene Insel erreichten. Penty Grassor beobachtete ihn dabei. »Was geht hier vor? Willst du uns ersäufen?« fragte er entsetzt. »Ich schaffe eine notwendige Voraussetzung«, gab Flannagan zur Antwort. »Voraussetzung – wofür?« »Für Kubaschks Bestrafung.« Grassor sah ihn entgeistert an. »Was … ich verstehe nicht …« »Das glaube ich«, grinste Flannagan. »Heute nacht geht's Kubaschk an den Kragen. Es ist alles schon vorbereitet. Damit uns niemand dabei auf die Finger sieht, wird diese Gesellschaft über Nacht auf der stählernen Insel stranden.« »Und Kubaschk? Wird er ferngesteuert bestraft?« »Nein.« Flannagan deutete so, daß niemand sonst ihn sehen konnte, nach dem Festland hinüber. »Wir werden dort drüben sein und den Verlauf aus nächster Nähe leiten.« Grassors Blick verriet noch mehr Verwirrung. »Und wie kommen wir hinüber, wenn doch das Floß kaputt ist?« »Sie dir den Sumpf an!« riet ihm Flannagan. »Nicht den Kanal, du Narr. Den Sumpf!« Grassor starrte auf den Sumpf hinaus. »Ja, und …?« »Glaubst du nicht, er könnte zwei Leichtgewichte von Siga tragen – besonders, wenn sie schnell zu Fuß sind?«
*
Kurze Zeit später landeten sie an der Insel. Das merkwürdige Gebilde bestand tatsächlich aus Metall, höchstwahrscheinlich aus Stahl. Die Oberfläche wies zahlreiche Kratz und Rißspuren auf, Zeichen der Zeit, vielleicht auch die Hinterlassenschaft von Mikrometeoriten, falls die Insel aus dem Weltraum auf diesen Planeten verschlagen worden war. Eine Fuge war nirgendwo zu sehen. Glatt bis auf die Kratzer und Risse streckte sich die riesige Metallfläche nach beiden Seiten und bis zur Spitze des flachen Kegels hinauf. »Wir teilen uns!« entschied Stanzo Peysen. »Ich möchte, daß wir einmal die gesamte Oberfläche abgehen, das ist alles.« Er wies den einzelnen ihre Wege an. Er selbst und Geller würden nach rechts und links am unteren Rand des Kegels entlanggehen. Die drei Siganesen stiegen den Kegel hinauf, wobei ihre Marschrouten sich fächerförmig voneinander entfernten, um auf der anderen Seite der Insel wieder ineinander zu münden. Flannagan ließ sich Zeit mit dem Aufbruch. Grassor und Lyall hatten schon einen guten Teil ihres Weges zurückgelegt, und die beiden Terraner waren im Begriff, um die Krümmung der Insel herum zu verschwinden, da befand sich Flannagan immer noch auf dem Floß. Glücklicherweise achtete niemand auf ihn. Mit zwei raschen Schüssen zertrennte er die letzten Gerten, die die Balken des Floßes noch miteinander verbanden. Dann sprang er an Land und hetzte die Schräge des Kegels hinauf. Bald war er so weit von dem Floß entfernt, daß keiner ihn mehr der Tat verdächtigen konnte, die er soeben begangen hatte. Die Untersuchung des Kegels erwies sich als völlig ergebnislos. Überall war zerkratztes Metall, das trotz der Beanspruchung seinen Glanz noch nicht verloren hatte – ein gutes Zeugnis für das metallurgische Wissen des unbekannten Volkes, das dieses Gebilde erschaffen hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Insel traf man wieder zusammen. Geller schlug vor, man sollte mit den
Planet der Spinnen Strahlern ein Loch in die stählerne Hülle brennen, um zu erfahren, was sich im Innern befand. Aber Peysen wies diesen Vorschlag zurück. Über den Gipfel des Kegels kehrte man zum Ausgangspunkt zurück. Das Floß hatte sich inzwischen in seine Bestandteile aufgelöst. Einzeln trieben die Stämme im trüben Wasser des Kanals. Peysen stieß einen Entsetzensschrei aus. »Das müssen die verdammten Blutegel getan haben«, knurrte Glow Geller wütend. »Sie fressen sich durch alles hindurch.« Niemand widersprach ihm, am wenigsten Flannagan Schätzo. Die Lage war prekär. In wenigen Minuten würde es finster sein. Selbst wenn die Leute drüben am Ufer ein neues Floß zusammenbastelten, wäre es unmöglich gewesen, bei den vielfältigen Gefahren, die der Sumpf barg, während der Dunkelheit die Insel anzusteuern. Es kam so, wie Flannagan gehofft hatte: Stanzo Peysen entschied, die Nacht auf der stählernen Insel zu verbringen. Über Radiokom wurde die Mannschaft auf dem Festland von dem Zwischenfall in Kenntnis gesetzt. Oren Kubaschk, der als Peysens Stellvertreter fungierte, erhielt den Auftrag, noch im Laufe des Abends ein neues Floß zu bauen. Diesmal würde es länger dauern, und diesmal würde man auch Afruth Schwartz nicht verschonen können. Als Lagerplatz für die gestrandete Expedition kam nur die Spitze des Kegels in Betracht. Jede andere Seite wäre allein wegen der langen Tentakel, über die die Geschöpfe dieses Sumpfes verfügten, zu gefährlich gewesen. Bis zum Gipfel der Insel reichten sie jedoch wohl nicht hinauf. Aus diesem Grunde verwarf Stanzo Peysen auch die Idee, für die Dauer der Nacht Wachen auszulosen. »Wir sind hier oben sicher«, entschied er, »und wir brauchen den Schlaf nötiger als übertriebene Vorsicht.« Da für die Dauer des Ausflugs nur ein paar Stunden angesetzt worden waren, hatten sie nichts zu essen mitgebracht. Die Mägen knurrten, aber schlimmer noch war der
41 Durst, der die Männer plagte. Besonders die beiden Terraner hatten den ganzen Tag über körperlich schwer gearbeitet. Das machte sich jetzt bemerkbar. Sie legten sich in unmittelbarer Nähe der Kegelspitze nieder und waren wenige Minuten nach Einbruch der Dunkelheit eingeschlafen. Piano Lyall war schwerer kleinzukriegen. Er besaß die ungewöhnliche Zähigkeit der Siganesen, und ihm stand der Sinn viel mehr nach Erzählen als nach Schlafen. Schließlich begann jedoch auch er zu gähnen. Er legte sich auf der flachen Neigung des Stahlbodens nieder, und bald verrieten regelmäßige Atemzüge, daß auch er eingeschlafen war. Flannagan Schätzo und Penty Grassor saßen auf dem zerfurchten Stahlboden und starrten in die Dunkelheit hinaus. Von Zeit zu Zeit leuchtete drüben am Festland ein grellweißer Blitz auf: Oren Kubaschk und seine beiden Helfer waren an der Arbeit. Mit ihren Blastern fällten sie Bäume für das neue Floß. Eine Stunde verging, und dann noch eine halbe, dann hörte das Wetterleuchten plötzlich auf. Die Bäume waren gefällt. Wahrscheinlich würden Kubaschk, Borodkin und Afruth Schwartz sich jetzt zur Ruhe begeben und das Floß erst am kommenden Morgen fertigbauen. Müde genug mußten sie sein. Flannagan tippte seinem Verbündeten auf den Arm und stand auf. »Vorwärts jetzt«, sagte er leise. »Es geht los!«
7. Der Weg war tückisch. Die Decke des Sumpfes schien unter den vorsichtigen und dennoch raschen Schritten der beiden Siganesen zu schwanken. Sie vermittelte einen gefährlichen Eindruck der Elastizität – gefährlich, weil sie nicht wirklich elastisch war: Einmal blieb Flannagan Schätzo, um sich zu orientieren, ein paar Sekunden lang stehen, und schon begann er einzusinken. Sie hielten sich in der Nähe des Kanals. Hier hatten Peysen und Geller während des
42 Tages alle Sumpfungeheuer vernichtet, so daß sie vor den schnellen und alles erdrückenden Fangarmen sicher waren. Aber der Sumpf hielt noch andere Schrecken bereit. Aus der Finsternis heraus wurde Flannagan Schätzo von einem rattenähnlichen Tier angesprungen. Er reagierte blitzschnell, feuerte den Blaster ab und traf das Untier ins Auge. Mit erschrecktem Pfeifen verschwand es in der Nacht. Die wirkungsvollste Garantie für die Sicherheit der beiden Siganesen lag in der Schnelligkeit ihrer Bewegungen. In weiten Sprüngen schnellten sie sich über die Sumpfebene dahin. Die Geschöpfe des Sumpfes waren einer solchen Geschwindigkeit gegenüber hilflos. Wenn sie nicht von vorn angriffen, liefen ihnen die Siganesen einfach davon. Auf diese Weise kam es, daß Flannagan und Grassor zur Überwindung der 1200 Meter, die die Insel vom Festland trennten, weniger Zeit brauchten als ein Mensch bei normalem Schrittempo. Es waren knapp zehn Minuten seit ihrem Aufbruch vergangen, da hatten sie die trügerische Decke des Sumpfes hinter sich. In einem Gebüsch erholten sie sich von den Strapazen des Marsches. Zur linken Hand befand sich das Lager der Zurückgebliebenen. Es war am Lichtschein der Lampe zu erkennen, die man dort aufgestellt hatte. Schätzo und Grassor schlichen sich heran, um die Lage auszukundschaften. Man war soeben dabei, sich zur Nachtruhe zu betten. Gesprochen wurde nicht. Die Gruppe machte einen mürrischen, unzufriedenen Eindruck. Weit abseits hockten die neun Die-Zagos auf den Stangen, die für das neue Floß geschnitten worden waren. Die Lampe wurde gelöscht, und bald war aus dem Lager kein Laut mehr zu hören. Flannagan gab noch eine halbe Stunde zu. Als er danach auf die Gruppe der Schlafenden zukroch, hörte er an Kubaschks und Borodkins schweren, regelmäßigen Atemzügen, daß von den beiden nichts zu befürchten war. Afruth Schwartz hatte Wort gehal-
Kurt Mahr ten. Sie war wach. »Komm hier auf die Seite!« flüsterte Flannagan ihr zu. Sie entfernten sich vom Lager. Flannagan erteilte Anweisungen. »Du weckst Kubaschk«, sagte er zu der Frau, »aber so, daß Borodkin nichts davon merkt. Ich überlasse es dir, wie du Kubaschk in den Dschungel locken willst. Versprich ihm ein Schäferstündchen oder sonstwas. Aber sorge dafür, daß er dir frühestens im Abstand von zehn Minuten folgt. Klar?« Afruth nickte stumm. »Vom Lager aus gehst du genau in südlicher Richtung. Am Rande des Dschungels warten wir auf dich.« Die Frau wandte sich ab und kehrte zum Lager zurück. Oren Kubaschk vorsichtig aufzuwecken, würde einige Zeit in Anspruch nehmen. In der Zwischenzeit suchten die beiden Siganesen die Die-Zagos auf. Sie waren erwartet worden. »Es ist soweit«, sprach Flannagan in den Translator. Sie brachen auf. Die Die-Zagos kletterten die Fäden des Gespinstdschungels hinauf und verschwanden in der Finsternis. Wenn sie gebraucht wurden, würden sie jedoch zur Stelle sein. »Ich wollte, zum Donnerwetter, ich wüßte, worum es eigentlich geht«, knurrte Penty Grassor ärgerlich. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ihn Flannagan. »Du wirst es schon verstehen, wenn du es siehst. Wir locken Kubaschk in den Dschungel. Während er nach Afruth sucht, wird er in die Tiefe gestoßen. Dort aber wartet der Feind schon auf ihn, der ihn verschlingen wird.« Grassor sah ihn mißtrauisch an. »Was ist das für ein Geschwafel? In die Tiefe stoßen, der Feind wird ihn verschlingen! Was hast du vor?« »Wart ab!« wies Flannagan ihn zurecht. »Es ist ein großartiger Plan, der nur den einen Fehler hat, daß ich mich unter Umständen verrechnet haben kann.« »Wunderbar!« spottete Grassor. »Mehr
Planet der Spinnen
43
Trost brauche ich gar nicht.« Flannagan stieß ihn an und zeigte in Richtung des Sumpfes. Ein großer Schatten näherte sich. »Es war nicht leicht, aber es gelang schließlich«, sagte sie leise. »Er wird mir in einer Viertelstunde folgen. Ich soll rufen, wenn ich mich weit genug vom Lager entfernt habe, damit er mich finden kann.« In ihren Augen glitzerte es gefährlich.
* Sie kletterten in den Wirrwarr der Koorbsta-Gespinste hinein. Anfangs hielten sie sich an den Weg, den die Expedition am vergangenen Tage gebrochen hatte. Dann jedoch wandten sie sich seitwärts. Für Flannagan Schätzo begann jetzt der schwerste Teil seiner Aufgabe. Er mußte Afruth Schwartz verletzen, er mußte ihr Schmerzen zufügen, um die Wirkung zu erzielen, die schließlich zu Oren Kubaschks Vernichtung führen würde. Und er wußte nicht, ob die Frau für sein Verhalten Verständnis haben würde. Sie suchten einen Ort, an dem sie anhalten konnten, und machten es sich dort auf den versteinerten Gespinstfäden bequem. Von Kubaschk war noch nichts zu hören. Wenn er sich an die Verabredung hielt, war er noch nicht einmal vom Lager aufgebrochen. »Ich möchte, daß du dich an gewisse Ereignisse deiner Vergangenheit erinnerst«, sagte Flannagan Schätzo zu der Frau. »Das ist für meinen Plan notwendig.« Sie warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Warum?« fragte sie erschreckt. »Du mußt dich erinnern«, drängte Flannagan. »Du mußt die Vergangenheit wiederaufleben lassen. Der Schmerz, den du dabei empfindest, veranlaßt dein Gehirn, Signale auszusenden, die ich für unseren Zweck brauche.« Der Gedanke allein schien ihr Angst zu bereiten. »Warum … warum …?« wimmerte sie. »Hilf mir!« bat er. »Ich tue dir nicht grundlos weh!«
»Was für Signale?« wollte Penty Grassor wissen. »Du bist jetzt ruhig«, kanzelte Flannagan ihn ab. »Ich kann keine Zwischenfragen brauchen.« Grassor schwieg ärgerlich. Flannagan wandte sich wieder an die Frau. »Denk zurück!« forderte er sie auf. »Ein kleines Mädchen, in einem Siedlerhaus, auf einem unzivilisierten Planeten, auf dem nur ein paar hunderttausend Siedler wohnen. Es gibt politischen Aufruhr …!« Sie preßte die Hände vors Gesicht und schluchzte auf. »… das Mädchen in der Bodenkammer. Ihre Eltern und Geschwister sind unten im Haus …!« »Nein …!« »Erinnere dich an jede Einzelheit«, fuhr Flannagan fort. »Das Haus wird von Revolutionären umstellt. Dein Vater … was tat er?« »Er … er stellte sich ihnen entgegen. Er wollte …« »Er wollte sie abwehren, nicht?« Nicken, Schluchzen, krampfhafte Körperzuckungen. »Aber es gelang ihm nicht. Sie schlugen ihn nieder …« »Sie stachen ihn nieder!« fast ein Aufschrei. »Blut fließt. Die Revolutionäre stürmen ins Haus. Dort sind deine Mutter, deine Brüder und deine Schwester. Die Mörder fallen über sie her! Nur dich sehen sie nicht. Du hockst oben in der Bodenkammer und kannst durch die offene Luke alles mitansehen.« Afruth Schwartz preßte die Fäuste fester gegen die Augen und schüttelte wie wild den Kopf, als könne sie die häßliche Erinnerung dadurch loswerden. Aber ihr Bemühen war umsonst. Der Damm war gebrochen. Haltlos ergoß sich die Flut aus verdrängten Schichten des Gedächtnisses und überschwemmte das Bewußtsein. »Varik der Blutige«, holte Flannagan zum letzten Schlag aus. »Varik Semibol war es,
44
Kurt Mahr
der deine Familie abschlachtete. Und du mußtest hilflos zusehen, wie das Blut floß …« Er erkannte, daß er sein Ziel erreicht hatte. Die blutigen Erinnerungen ihrer Kindheit tobten in Afruth Schwartz' Bewußtsein. Der Lauf der Dinge, einmal in Gang gekommen, ließ sich nicht mehr aufhalten. Afruth war jetzt nicht in der Lage, die Rufe auszustoßen, die Oren Kubaschk zur Orientierung brauchte. Er mußte auf andere Weise auf den richtigen Weg gebracht werden. Flannagan turnte an einem Faden nach oben und klemmte seine Lampe in eine Gabelung. Dann schaltete er sie an, so daß sie in Richtung des Dschungelrandes leuchtete. Er befahl Penty Grassor, sich aus dem Lichtkreis zurückzuziehen. Afruth Schwartz war jetzt alleine. Sie schien es nicht zu bemerken. Sie war mit ihren Erinnerungen beschäftigt. In der Höhe wisperte es leise: Die Die-Zagos waren auf ihrem Posten.
* Oren Kubaschk war nicht der Mann, der sich viel unnütze Gedanken machte. Für ihn war das Leben eine einfache Sache, eine Angelegenheit in Schwarz und Weiß. Als er unter Afruth Schwartz' unaufhörlichem Drängen schließlich wach wurde, war er zunächst erstaunt. Aber als er erfuhr, daß die Frau weiter nichts wollte, als daß er ihr in den Dschungel folgte, da fiel der Groschen sofort. Sie war einsam und von aller Zivilisation abgeschlossen. Warum sollte sie da nicht Sehnsucht nach einem Mann empfinden? Er verstand, warum er ihr erst in gehörigem Abstand folgen sollte. Falls jemand unversehens erwachte, sollte er nicht ahnen, daß sie sich miteinander verabredet hatten. Er schlich sich vorsichtig vom Lager weg und wartete. Er hatte eine Lampe und einen leichten Strahler dabei, damit war er allem überlegen, was dort im Dschungel kroch und schlich. Blödsinniger Platz für ein Stelldichein, dieses Gespinst. Warum blieb sie nicht hier draußen?
Nach der verabredeten Frist machte er sich auf den Weg. Sie hatte gesagt, sie werde sich in südlicher Richtung halten. Er schwang sich in den versteinerten Teil des Netzwerks empor und hangelte sich am Rande des Weges entlang, auf dem die Expedition gestern nachmittag gekommen war. Als er sich weit genug vom Lager entfernt hatte, begann er zu rufen. Er bekam keine Antwort, aber plötzlich bemerkte er im Gewirr der glitzernden Fäden einen matten Lichtschimmer. Aha, sie hatte eine Lampe aufgehängt! Er wandte sich seitwärts auf den Lichtschein zu. Einmal hörte er unten auf dem Boden ein schabendes Geräusch. Er schaltete die Lampe ein und richtete den Strahl in die Tiefe. Er traf auf einen der ekelhaften, weißen Würmer, die im Boden des Dschungels lebten und denen sie auf der Suche nach dem Versteck der Die-Zagos begegnet waren. Oren Kubaschk schüttelte sich und kletterte weiter. Was sollte schon ein Wurm ausrichten? Plötzlich hörte er Schluchzen. Was war das? Er eilte weiter. Das Schluchzen wurde deutlicher. Schließlich sah er durch das Gewirr des Gespinstes Afruth Schwartz auf einem versteinerten Faden hocken. Sie hatte das Gesicht in den Händen verborgen, und der Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Betroffen hangelte Oren Kubaschk sich heran. Er war verwirrt. Das verstand er nicht. Er kam der Frau so nahe, daß er ihre Schulter ergreifen konnte. Er schüttelte sie. »He, Mädchen! Was soll das Weinen …?« Es dauerte lange, bis sie auf ihn aufmerksam wurde. Zuerst blickte sie überrascht, aber dann, als sie Oren Kubaschk erkannte, verwandelte sich ihr Ausdruck in den wilden, unversöhnlichen Haß, vor dem selbst der sonst nicht schreckhafte Kubaschk zurückwich. »Was … ist …?« stammelte er entsetzt.
*
Planet der Spinnen Fassungslos starrte Penty Grassor auf die Flut der widerlichen Würmer, die sich über den Boden des Dschungels ergoß. Sie kamen hauptsächlich aus den Tiefen des Waldes, weniger von der Seite her, auf der der Sumpf lag. Sie strebten auf einen imaginären Punkt zu, der genau unter dem versteinerten Faden lag, auf dem Afruth Schwartz saß und sich von ihren Erinnerungen peinigen ließ. »Was … was …?« versuchte er, eine Frage zu formulieren, aber die Aufregung war so groß, daß er keinen zusammenhängenden Satz hervorbrachte. »Du erinnerst dich an die erste Nacht?« erkundigte sich Flannagan Schätzo und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, gleich fort: »Die Würmer griffen das Lager an. Obwohl sie blind sind, wußten sie genau, wohin sie wollten. Was leitete sie? Der Geruch? Geräusche? Wir gaben keine Geräusche von uns, erinnerst du dich? Nur Afruth Schwartz. Sie hatte einen Alptraum und stöhnte. Aber selbst ihr Stöhnen war nicht laut genug, um von einem Wurm gehört zu werden, der fünfzig Meter entfernt tief unter der Oberfläche lebt. Was war es also? Ich bekam eine Idee, als Afruth bei Kubaschks erster Salve aufwachte. Sie sprang auf. Sie erschrak vor den Würmern. Der Alptraum, die Erinnerung an die Vergangenheit, war weggewischt. Im selben Augenblick verloren die Würmer die Orientierung. Sie krochen über und untereinander und wußten nicht mehr wohin. Woran hatten sie sich also orientiert? Es konnten nur die Impulse der Verzweiflung sein, die Afruths Bewußtsein ausstrahlte, während sie den Alptraum hatte. Die Würmer sind primitiv, aber psionisch empfindlich. Sie nahmen die Impulse wahr. Sie wußten, daß es dort, woher die Impulse kamen, Nahrung für sie gab. Damals kam mir die Idee, Afruths Verzweiflung als Köder für die Bestien zu verwenden.« Es war verwirrend für Penty Grassor. Er sagte nichts. Es war schwer, solche Dinge zu
45 verstehen. Aber der Erfolg gab Flannagan recht. »Es geht los!« sagte Schätzo plötzlich. Sie waren nicht allzu weit von Afruth Schwartz entfernt. Im Schein der kleinen Lampe, die Flannagan Schätzo dort aufgehängt hatte, sahen sie eine grobschlächtige, breitschultrige Gestalt durch den Gespinstwald klettern. Das mußte Oren Kubaschk sein. Er hangelte sich bis dich an die Frau heran und begann, sie bei der Schulter zu schütteln. Sie hörten ihn sagen: »He, Mädchen! Was soll das Weinen …!«
* Geräuschlos schwangen sich die beiden Siganesen höher in das Gespinst hinauf. Sie sahen Oren Kubaschk erschreckt zurückweichen und hörten seine gestammelte Frage: »Was … ist …?« Flannagan Schätzo konnte sich ausmalen, wie es in Afruth Schwartz' Innerem in diesem Augenblick aussah. Aus den teuflischen Erinnerungen ihrer Kindheit aufgeschreckt, sah die Frau sich einem Mann gegenüber, der bei einem anderen katastrophalen Ereignis ihres Lebens eine nichtswürdige Rolle gespielt hatte. Der Fluß grausamer Erinnerungen riß nicht ab. Eines ging ins andere über, und die Verzweiflungsimpulse ihres Bewußtseins riefen immer neue Scharen von Würmern auf den Plan, die sich unten auf dem Boden des Dschungels zu Bergen türmten und vergebens versuchten, in das Gespinst hinaufzuklettern. »Du!« stieß die Frau hervor. »Du erinnerst dich nicht an mich! Aber ich habe dich nie vergessen. Ich war damals vierzehn Jahre alt, als ihr über mich herfielt, du und deine drei Kumpane – Bestien, einer wie der andere! Jetzt kommt der Augenblick der Rache, du … du …!« Oren Kubaschk wich noch weiter zurück. Angst leuchtete plötzlich aus seinen Augen. Er erinnerte sich an den Vorfall, den die Frau beschrieb. Sie war es gewesen …? Da drang aus der Höhe eine feine Stimme,
46 fast ein Säuseln im Vergleich zu den Worten der Frau. »Und hier sind noch zwei, die mit dir abzurechnen haben, Kubaschk! Erinnerst du dich an den Siganesen, den du hinterrücks erschossen hast, als du mit deinen Genossen auf Siga aus dem Gefängnis ausgebrochen bist? Hier steht sein Bruder, Penty Grassor, und ich …« »Ha!« schrie Oren Kubaschk voller Entsetzen. »Das ist Schätzo, der Hund! Ich kenne ihn an der Stimme!« »Richtig, ich bin Flannagan Schätzo!« antwortete es aus der Höhe. »Und jetzt, da du weißt, worum es geht, sollst du sterben!« Da riß Oren Kubaschk sich zusammen. Das Entsetzen hatte ihn gepackt, aber plötzlich brach der Wille zum Überleben durch. Die Hand stach hinab, versuchte den Kolben des Blasters zu fassen. »Noch habt ihr mich nicht!« schrie er in wütendem Zorn. »Wartet, ich will euch zeigen …« Da gellte oben ein schriller Pfiff, und Sekundenbruchteile später begann es, aus den Höhen des Gespinstes Körper zu regnen, schlanke, gelenkige, gelbbehaarte Körper. Sie landeten auf Kubaschks Kopf, auf seinen Schultern. Sie klammerten sich an seinen Rücken und zerkratzten ihm den Bauch. Er hatte, weil er nach dem Blaster griff, schon mit einer Hand den Halt loslassen müssen, der ihm auf dem dünnen Gespinstfaden Gleichgewicht verlieh. Jetzt ließ er, um sich gegen die Die-Zagos wehren zu können, auch mit der anderen Hand los. Das wurde ihm zum Verhängnis. Er begann zu schwanken. Er wirbelte mit den Armen in der Luft und stieß einen schrillen, markerschütternden Schrei aus. Im letzten Augenblick ließen die Die-Zagos von ihm ab und brachten sich im Gespinst in Sicherheit. Oren Kubaschk jedoch stürzte in die Tiefe. Es krachte und splitterte, als der massige Körper die versteinerten Fäden durchschlug. Dann gab es unten ein dumpfes, schmatzendes Geräusch.
Kurt Mahr Als Flannagan Schätzo seine Lampe aus der Gabel holte und den Lichtkegel in die Tiefe richtete, sah er nur noch einen wallenden Berg von bleichen Wurmleibern. Von Oren Kubaschk war keine Spur mehr zu erkennen.
* Müde und zerschlagen kehrten sie zum Lager zurück. Die Die-Zagos waren ihnen vorausgeeilt und hockten schon wieder auf den Baumstämmen, als sie das Lager erreichten. Afruth Schwartz kauerte nieder, um den beiden Siganesen näher zu sein. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ein zweites Mal«, sagte sie mit erstickter Stimme, »würde ich so etwas nie mehr tun.« Sie ging und legte sich vorsichtig auf der Plane nieder. Borodkin schien in der Zwischenzeit nicht erwacht zu sein. Flannagan Schätzo kehrte zu den Die-Zagos zurück, um ihnen seinen Dank auszusprechen. Sie wollten nichts davon wissen. Daß ihr toter Stammesbruder gerächt war, genügte ihnen vollauf. Penty Grassor und Flannagan Schätzo machten sich auf den Weg zur Insel. Sie schritten hinaus auf den Sumpf. Mit weiten, kraftvollen Sätzen schnellten sie sich über die federnde, schwammige Fläche hinweg. Es schoß Flannagan Schätzo durch den Kopf, daß Afruth Schwartz ihn niemals nach der Rolle gefragt hatte, die sie in diesem grausigen Stück spielte. Vielleicht würde sie es noch tun, überlegte er. Bei Frauen kannte man sich nie so richtig aus. Vielleicht aber ließ sie auch die Sache einfach auf sich beruhen. Sie erreichten ohne Zwischenfall die Insel und krochen geräuschlos die flache Steigung hinauf. Stanzo Peysen und Glow Geller schliefen den Schlaf der Erschöpfung. Auch Piano Lyall schien in der Zwischenzeit nicht aufgewacht zu sein. Der Fall Kubaschk war abgeschlossen, dachte Flannagan Schätzo, bevor er einschlief. Jetzt ging es darum, die zweiunddreißig
Planet der Spinnen
47
unglücklichen Kinder zu befreien.
8. Das aufgeregte Zirpen des Radiokoms weckte die Besatzung der Insel bei Tagesgrauen. Stanzo Peysen fuhr schlaftrunken in die Höhe. Es dauerte eine Zeitlang, bis er begriff, wo er war und was ihn geweckt hatte. Er schaltete den Empfänger ein. Abe Borodkin, der Rothaarige mit den kleinen Augen, war am Apparat. »Kubaschk ist verschwunden«, sagte er knapp. »Wie … was …?« Peysen war immer noch nicht ganz bei sich. »Kubaschk ist verschwunden«, wiederholte Borodkin. »Ich wachte vor ein paar Minuten auf. Wollte anfangen, das Floß zusammenzubauen. Kubaschk war nirgendwo zu sehen. Ich rief nach ihm, aber er meldete sich nicht. Es gibt auch keine Spuren.« »Weiß Afruth etwas davon?« stieß Peysen hervor. »Nein. Ich habe sogar die Die-Zagos befragt.« »Verdammt …!« knurrte Peysen. Er überlegte ein paar Sekunden lang. Dann fuhr er fort: »Das bedeutet, daß du mit Afruth das Floß allein fertigmachen mußt.« »Dachte ich mir«, antwortete Borodkin trocken. »Wir gehen sofort an die Arbeit.« Der Tag versprach lang zu werden. Die Männer auf der Insel hatten seit fünfzehn Stunden nichts mehr gegessen und seit mehr als zehn Stunden keinen Schluck Wasser mehr zu sich genommen. Es war heiß und schwül unter der ewig lastenden Wolkendecke. Borodkin und Afruth würden mehr als die Hälfte des Tages brauchen, um das Floß zustande zu bringen. Unter ungünstigen Umständen war es möglich, daß die beiden Terraner und die drei Siganesen gezwungen wurden, eine weitere Nacht auf der Insel zu verbringen. Stanzo Peysen und Glow Geller ergingen sich in vielerlei Spekulationen über Oren
Kubaschks Schicksal. Er konnte durchgedreht haben und davongelaufen sein. Geller vertrat diese Ansicht; aber Peysen hielt ihm entgegen, daß es in Kubaschks Gehirn nicht allzu viel gab, was durchdrehen könnte. Peysen selbst war der Ansicht, daß Kubaschk einem Racheakt der Die-Zagos zum Opfer gefallen war. Er hatte vor drei Nächten einen der Eingeborenen im Zorn getötet. Die Gelbhaarigen mochten das zum Anlaß genommen haben, ihn zu bestrafen. Diese Ansicht hielt nun wiederum Geller für wenig plausibel. Wenn die Die-Zagos Kubaschk in der Nacht angegriffen hatten, dann wäre bei dem Lärm der Rest des Lagers wach geworden. Und vom Lager weglocken hätte Kubaschk sich nicht lassen – auf keinen Fall von den Die-Zagos, von denen er wußte, daß sie ihn haßten. Die Frage blieb ungeklärt. Mehrmals während des Tages rief Peysen Borodkin an und erhielt jedesmal die Auskunft, daß sich Kubaschk noch nicht habe sehen lassen. Peysen betrachtete das Verschwinden des Grobschlächtigen als einen schweren Verlust für die Expedition und obendrein als ein böses Omen. Mehrere Stunden lang schritt er düster auf dem Gipfel der Insel auf und ab und sprach kein Wort. Erst als die Nachricht kam, daß er Borodkin und Afruth Schwartz gelungen sei, das Floß früher als geplant fertigzustellen, hellte sich sein Gesicht wieder auf. Es war noch früh am Nachmittag, als das zerbrechliche Gefährt am Ufer der Insel anlegte. Borodkin hatte die Fahrt alleine gewagt. Es hatte keinen Zwischenfall gegeben. Die Sumpfungeheuer schienen die Nähe des Kanals zu meiden, an dem gestern so viele ihrer Artgenossen den Tod gefunden hatten. Auch die Rückfahrt zum Festland verlief ereignislos. Peysen drang darauf, daß wenigstens der Nordrand des Gespinstdschungels nach Kubaschks Spuren durchsucht würde. An dieser Suche beteiligten sich auch die Siganesen. Flannagan Schätzo richtete es so ein, daß er an die Stelle kam, an der Oren Kubaschk in der vergangenen Nacht gestor-
48
Kurt Mahr
ben war. Nicht einmal die Waffe und die Lampe, die der Vierschrötige bei sich getragen hatte, waren mehr zu finden. Entweder waren die Würmer Allesfresser im wahrsten Sinne des Wortes, oder die beiden Gegenstände waren im weichen Boden versunken. Peysen sah bald ein, daß er Oren Kubaschk für immer abschreiben müsse. Er entschied, daß der Weitermarsch erst am nächsten Morgen angetreten würde. Die Männer, die auf der Insel übernachtet hatten, brauchten zunächst eine umfangreiche Stärkung und dann ein paar Stunden Ruhe. Abermals wurde es Nacht über der fremden Welt, die keinen Namen hatte. Morgen, überlegte Flannagan Schätzo, ging es durch das Gebiet der Vogelhöhlen. Er wußte nicht, was er sich darunter vorstellen sollte; aber Stanzo Peysen hatte gesagt, es sei eine gefährliche Gegend.
* Sie umgingen den Sumpf, an dessen nördlichem Rand sie wieder in den Gespinstdschungel eindrangen, von der Lichtung aus, die den Sumpf umgab, hatten sie sehen können, daß weit im Norden eigenartig schimmernde Gebilde aus dem Dschungel aufstiegen. Die Die-Zagos wurden nach der Natur dieser Felsen befragt, da diese auf dem Weg lagen, den die Expedition nehmen mußte. Aus den Eingeborenen war jedoch nicht viel herauszukriegen. Sie gaben an, die Felsen bestünden aus demselben Material wie auch der Dschungel, nämlich aus den Fäden, die die Koorbstas spannen. Weiter wußten sie nichts und die Ängstlichkeit, mit der sie ihre Antworten gaben, überzeugten Peysen, daß in der Nähe der Felsen nicht unbedeutende Gefahren zu erwarten seien. Man bahnte sich wie üblich einen Weg durch das Gewirr der versteinerten Fäden. Es war nicht zu verkennen, daß Oren Kubaschks kräftige Arme fehlten: Es ging langsamer voran als sonst. Erst gegen Mittag kam man in die Nähe der Felsen. Peysen beschloß, eine Rast einzulegen, bevor man sich
in die Gefahr begab. Flannagan Schätzo fiel auf, daß der Dschungel, seitdem sie den Sumpf verlassen hatten, immer unbelebter geworden war. Früher hatten die Koorbstas zu Hunderten, manchmal zu Tausenden in den oberen Schichten des Gespinstes gelauert, und das Netzwerk hing voll von ahnungslosem Getier, das sich darin gefangen hatte und den Spinnen als Nahrung dienen würde. Jetzt waren keine Koorbstas mehr zu sehen, auch von ihren Opfern gab es keine Spur. Selbst der Gestank, der vom Boden des Dschungels ausstrahlte, war ein anderer geworden, schärfer, durchdringender. Während der Rastpause turnte Flannagan bis zum Dach des Gespinstes hinauf. Dabei machte er eine überraschende Entdeckung. Die Fäden, die die Koorbstas spannen, waren bislang nur in Bodennähe von jener harten, versteinerten Konsistenz gewesen, die es den Terranern erlaubte, sich darauf zu bewegen. Sie waren elastischer und klebriger geworden, je höher man drang. Hier war es anders. Selbst in großer Höhe, selbst noch in der obersten Schicht des Gespinstes waren die Fäden hart wie Stein. Flannagan Schätzo verstand plötzlich, warum es hier keine Koorbstas mehr gab. Das Gewebe eignete sich nicht mehr zum Einfangen der Nahrung. Es war alt – so alt, wie an anderen Orten nur die untersten Gewebeschichten, die vielleicht schon vor Jahrhunderten angelegt worden waren. Er schwang sich bis auf das Dach des Dschungels hinaus und sah nun aus weniger als einem Kilometer Entfernung den ersten der schimmernden Felsen, die sie vom Rand des Sumpfes aus bemerkt hatten. Er ragte bis zu einer Höhe von dreihundert Metern empor, eine schlanke, glitzernde Nadel, die aus demselben versteinerten Fadenmaterial zu bestehen schien wie der Koorbsta-Dschungel. Die glatte Wand des Felsens barg in sich einige dunklere Stellen, deren Beschaffenheit sich Flannagan nicht zu erklären vermochte – bis er plötzlich ein geflügeltes Tier bemerkte, das hoch über dem Felsen kreiste. Er beobachtete es eine Zeitlang und sah, wie
Planet der Spinnen
49
es plötzlich zum Sturzflug überging. Es schien an dem Felsen vorbei in den versteinerten Dschungel stürzen zu wollen. Plötzlich bremste es den steilen Flug jedoch abrupt und war kurz darauf an einer der dunkleren Stellen der Felswand verschwunden. Da ging Flannagan Schätzo ein Licht auf. Die dunklen Flecken an den Felswänden waren Höhleneingänge. Aus der Ferne konnte er nicht entscheiden, ob es sich bei dem geflügelten Lebewesen wirklich um einen Vogel oder eine andere Tierfamilie handelte, aber die Analogie zum Vogel war ohne Zweifel gegeben. Die Felsen, die im Norden von hier aus dem Dschungel ragten, bargen ohne Zweifel die gefährlichen Vogelhöhlen, von denen Mentolliens Landkarte sprach und vor denen Stanzo Peysen sich fürchtete. Er beobachtete den Felsen noch eine ganze Weile, aber das geflügelte Geschöpf kam nicht mehr zum Vorschein. Er kletterte wieder nach unten. Als er sich der Stelle näherte, an der die Expedition rastete, hörte er aufgeregtes Stimmgewirr. Er sah sich nach den Die-Zagos um, die sonst gewöhnlich einige Meter über der Expedition in den Gespinstfäden kauerten; aber sie waren nicht da. Als er die Gruppe von Terranern und Siganesen erreichte, schwang Penty Grassor sich neben ihn und sagte mit ominösem Tonfall: »Es tut sich etwas. Die Eingeborenen sind auf und davon!«
* »Etwas Ähnliches stand zu erwarten«, erklärte Stanzo Peysen einige Zeit später, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte. »Mentollien berichtet, daß nicht nur die Eingeborenen, sondern auch unintelligente Lebewesen sich vor der Gegend fürchten, in der die Flotte gelandet ist. Die Vögel, die in den Vogelhöhlen wohnen, bilden die einzige Ausnahme und vielleicht noch niederes Getier, das im Boden des Dschungels lebt. Ich bedaure zwar, daß die Die-Zagos
uns verlassen haben, nehme ihre Flucht andererseits jedoch als erfreulichen Hinweis darauf, daß wir uns in nächster Nähe des Ziels befinden.« Das war Stanzo Peysen: Ein Politiker durch und durch. Man schlug ihn nieder, beraubte ihn und zog ihn bis auf die Haut aus – er bedauerte das zwar, sah aber in dem Vorfall gleichzeitig das Gute. Ein Zeichen, daß die kämpferische Initiative unter den Menschen noch nicht ausgestorben war. Was Flannagan Schätzo anging, so war er wesentlich mißtrauischer und nicht annähernd so optimistisch. Für seine Begriffe waren die Die-Zagos diejenigen, die sich im Gespinstdschungel am besten auskannten. Wenn sie Anlaß sahen, sich aus dem Staub zu machen, dann war Gefahr im Verzug. Man sollte sich darauf konzentrieren, fand er, und nicht auf die erfreuliche Aussicht, das Ziel bald zu erreichen. Die Expedition brach nach kurzer Pause wieder auf – ohne die Eingeborenen. In tückischer Stille lag der glitzernde Gespinstdschungel ringsum. Abe Borodkin, der über die kräftigsten Muskeln verfügte, marschierte voran und hieb eine Bresche. Die Siganesen hielten sich, wie es zuvor die DieZagos getan hatten, schräg über den Köpfen der Terraner. Sie hatten die Rolle der Scouts übernommen. Penty Grassor, der unter den Siganesen die Rolle des Vorpostens übernommen hatte, hielt plötzlich inne und deutete mit aufgeregten Armbewegungen in die Höhe. Flannagan hangelte sich zu ihm heran. Grassor hatte ein Loch gefunden, eine Art Schacht, der sich schräg durch das Gewirr der Fäden zog. Er hatte einen kreisförmigen Querschnitt von etwa zwei Metern Durchmesser und reichte vom Boden des Dschungels hinauf bis zum Dach. Flannagan Schätzo beugte sich vorwärts und konnte, schräg durch den Schacht hinaufblickend, den wolkenverhangenen Himmel sehen und ein Stück des Felsens, den er vorher aus der Ferne beobachtet hatte. Der Zweck des Schachtes war nicht zu er-
50 kennen. Jemand – oder etwas – hatte sich die Mühe gemacht, die versteinerten Fäden zu entfernen und einen freien Durchgang zu schaffen, der vom Dach des Dschungels bis hinunter auf den Boden reichte. Wozu der Durchgang benutzt wurde, das wußte man nicht. Auch die Terraner wußten es nicht, die den Schacht ebenfalls entdeckt hatten und mit lauter Stimme darüber sprachen. Der Zug bewegte sich weiter. Im Laufe der nächsten Stunden wurden acht weitere Schächte gefunden. Sie waren so beschaffen wie der erste, und auch an ihnen fand sich keine Spur, die auf ihren Verwendungszweck hingewiesen hätte. Flannagan Schätzo hielt es für auffällig, daß die Schächte sich jeweils in unmittelbarer Nähe eines der Felsen befanden, deren Gebiet sie nun durchquerten. Die Felsen selbst übrigens waren keineswegs, wie es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte, solide Gebilde. Sie bestanden aus demselben Gespinst wie der Dschungel selbst. Der Himmel allein mochte wissen, was die Koorbstas dazu veranlaßt hatte, ihr Gespinst hier mit felsenähnlichen Auswüchsen zu versehen. Unter dem Gewicht der Auswüchse hatte sich das darunterliegende Gespinst zusammengedrückt, so daß die Zwischenräume zwischen den einzelnen Fäden dort wesentlich geringer waren als anderswo. Deshalb umging die Expedition die Felsen in weitem Bogen. Es war weniger zeitraubend, einen Umweg zu machen als sich einen Weg durch das dichte Gespinst zu bahnen. Am späten Nachmittag wurden die Felsen allmählich spärlicher. Es war zu hoffen, daß man ihr Gebiet bald völlig hinter sich gelassen haben werde. Niemand freute sich auf diese Aussicht mehr als Flannagan Schätzo, dem von den Felsen und ihren Bewohnern eine unheimliche, stetige Drohung auszugehen schien. Aber seine Freude war verfrüht. Sie hatten nach langer Zeit wieder einen Schacht entdeckt. Wie üblich beugte sich Flannagan nach vorne und spähte durch die Öffnung hinauf. Er sah den grauen Himmel und die Flanke eines Felsens. Und noch et-
Kurt Mahr was sah er: einen dunklen Punkt, der vor dem grauen Hintergrund der Wolken schwebte und sich rasch vergrößerte. Nun nahm der Punkt Konturen an und entpuppte sich als ein Vogel, der mit angelegten Schwingen und rückwärts gezogenen Beinen in rasendem Flug in die Tiefe stürzte, genau auf die Mündung des Schachtes zu. In dieser Hundertstelsekunde wurde Flannagan Schätzo die Bedeutung der Schächte klar. Er sah den Vogel in die Schachtmündung hereinschießen und wich blitzschnell zurück. »Vorsicht! Gefahr!« schrie er und versuchte, die Männer hinter ihm zurückzudrängen. Aber sie verstanden nicht, was er meinte, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.
* Penty Grassor hatte sich seitwärts nach vorne gedrängt, um ebenfalls den Schacht hinaufzuspähen. Von oben kam ein hohles, pfeifendes Geräusch. »Grassor, du Narr!« schrie Flannagan wütend. Ohne auf die Gefahr zu achten, sprang er hinter Grassor auf den Strang, auf dem dieser stand. Er hielt den Strahler in der einen Hand, mit der anderen faßte er nach dem Freund, um ihn zurückzuziehen. Plötzlich fiel ein Schatten über die Szene. Flannagan sah auf und erblickte aus nächster Nähe eine geflügelte Bestie, ein schwarzes Ungeheuer mit weit aufgerissenem, hornigem Schnabel und zwei gelbumränderten Augen. Die Haut des Tieres schien mit Schuppen bedeckt, und von seinem riesigen Körper ging ein betäubender Gestank aus. Flannagan riß die Waffe in die Höhe und schoß. Im selben Augenblick stieß Grassor eine schrillen Schrei aus. Der Vogel hatte seinen Sturzflug innerhalb kürzester Zeit abgebremst. Der Schnabel, jetzt geschlossen, fuhr mit fürchterlicher Wucht hernieder. Flannagan hörte einen dumpfen Schlag und ein häßliches Knirschen. Er sah nicht, woher
Planet der Spinnen die Geräusche kamen. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das eine Auge des Vogels konzentriert, das ihm zugewandt war. Immer wieder drückte er auf den Auslöser. Feuerstrahl auf Feuerstrahl fuhr der Bestie entgegen und versenkte sich in das gelblich schillernde Auge. Das Ungeheuer stieß einen Schrei aus, der Flannagan die Trommelfelle zerreißen wollte, wandte sich mit unglaublicher Behendigkeit im Innern des Schachtes um und flog mit klatschenden Flügelschlägen wieder in die Höhe. Flannagan wirbelte herum. Dicht neben ihm lag Penty Grassor auf dem Rücken. Er hielt die Augen geschlossen. Sein Kopf baumelte auf der einen und die Beine auf der anderen Seite des Fadens herab. Vorsichtig beugte Flannagan sich nieder und zog den Freund so zurecht, daß er der Länge nach auf den Faden zu liegen kam. Die Bewegung schien Grassor Schmerz zu bereiten. Er öffnete die Augen. Lyall hatte sich vor Schreck einige Meter weit in das Gespinst zurückgezogen. Von unten drang Stanzo Peysens aufgeregte Stimme: »Was war das? Was ist da oben los?« Flannagan Schätzo achtete nicht darauf. »Tut es weh?« fragte er den Freund. Penty Grassor wollte mit dem Kopf nicken, aber die Bewegung gelang ihm nur zur Hälfte. »Im Hals …«, brachte er stockend hervor. »Der Rücken … ist wie weg!« Flannagan sagte nichts. Als er Grassor auf den Faden heraufzog, hatte er bemerkt, daß der Schnabelhieb der geflügelten Bestie dem Freund das Rückgrat gebrochen hatte. »Du … bist jetzt allein«, stieß Grassor hervor und verzog das Gesicht zu einem schmerzlichen Lächeln. »Die Kinder …« »Mach dir keine Sorgen um die Kinder!« schnitt ihm Flannagan das Wort ab. »Die Kinder werden gerettet.« »Wie dumm«, hauchte Penty Grassor. »Ich wäre … so gerne mit dabei gewesen. Zu zweit … hätten wir …«
51 Eine zuckende Bewegung fuhr durch den schmächtigen Körper. Dann war Penty Grassor tot.
* Flannagan Schätzo bestand darauf, daß die Leiche des Freundes nach siganesischer Sitte verbrannt würde. Es gab in diesem Dschungel kein brennbares Material, also mußte Abe Borodkins Blaster den Dienst verrichten. Penty Grassors Körper verging in einem Energiestrahl. Dann setzte die Expedition ihren Weg fort – niedergeschlagen und schweigsam. Das Rätsel der Schächte war gelöst. Die Vögel, die oben in den Höhlungen der Gespinstfelsen hausten, benützten sie, um blitzschnell bis zu dem Boden des Dschungels vorstoßen zu können, wo sie sich ihre Nahrung holten. Im Boden gab es Würmer und anderes Getier. Die Vögel verfügten offenbar über einen vorzüglich ausgeprägten Gesichtssinn. Am Eingang ihrer Höhle hockend, konnten sie durch den Schacht bis auf den Grund des Dschungels hinabblicken. Bemerkten sie dort unten eine Bewegung, so stürzten sie sich in die Tiefe. Sie waren ausgezeichnete Flieger. Sie verstanden es, aus dem rasendsten Sturzflug innerhalb von Sekundenbruchteilen auf Null abzubremsen. Der mächtige Schnabel erfaßte, was die Augen erspäht hatten, der Vogel wendete und schoß durch den Schacht wieder nach oben. Es war ein höchst merkwürdiges System, das sich eine skurrile Natur hier ausgedacht hatte. Flannagan Schätzo war von Natur aus ein unsentimentaler Mensch – oder vielleicht hatte er sich auch nur dafür gehalten. Denn Penty Grassors Tod ging ihm näher, als er es jemals für möglich gehalten hatte. In ihm war eine Niedergeschlagenheit, gegen die er nur schwer ankämpfen konnte. Es kam ihm vor, als sei mit Grassors Tod auch sein eigenes Leben plötzlich sinnlos geworden. Er mußte sich immer von neuem einreden, daß seine Aufgabe noch längst nicht beendet
52
Kurt Mahr
war. An Bord der alten Kaulquappe befanden sich immer noch die zweiunddreißig Kinder, deren Wachstum durch eine Gruppe rücksichtsloser, selbstsüchtiger Schatzsucher so manipuliert worden war, daß die Unglücklichen für die Zwecke der Verbrecher verwendet werden konnten. Die zweiunddreißig siganesischen Kinder warteten immer noch darauf, daß er sich ihrer annehmen und sie aus ihrer Misere befreien würde. Aber nun hatte er keinen Bundesgenossen mehr. Er mußte alles allein machen. Seine Aufgabe wurde dadurch ungleich schwerer, als sie bisher schon gewesen war. Es galt, neue Pläne zu entwerfen, die nur die Tätigkeit eines einzelnen erforderten. Oder gab es nicht doch jemand, an den er sich um Hilfe wenden konnte? Afruth Schwartz wußte aus eigener Erfahrung, welchen Schaden katastrophale Erlebnisse im Kindesalter bei Menschen anrichten konnten. Sollte in ihrer Seele nicht wenigsten ein Funke Mitleid für die siganesischen Kinder zu finden sein? Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Er schwang sich in die höchsten Schichten des Gespinstes hinauf. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Wolken waren von düsterem Grau. Im Süden ragten die Felsen mit den Höhlen der tückischen Vögel über das Dach des Dschungels empor. Im Osten und Westen gab es zwei flache, ungegliederte Höhenzüge, die sich im Norden einander zu nähern schienen und ein Tal bildeten. Hügel wie Tal waren von dem allgegenwärtigen Gespinst der Koorbstas überwuchert, aber von den Spinnen selbst war weit und breit keine Spur zu sehen. Die Expedition zog weiter, in das Tal hinein, das die beiden Höhenzüge umschlossen.
Flannagan Schätzo blieb weiterhin oben auf dem Dach des Dschungels. In wenigen Minuten würde die Dunkelheit hereinbrechen. Da bemerkte er in einiger Entfernung plötzlich ein ovales Gebilde, etwa von der Größe eines Menschenkopfes, das sich im Gespinst verfangen zu haben schien. Und als er sich umblickte, sah er mehrere solcher Gebilde, manche ferner, alle von derselben Form, Hunderte von ihnen, vielleicht sogar Tausende, die in dem Gewebe hingen wie fremdartige Früchte. Er turnte nach unten und berichtete Peysen von seiner Entdeckung. Peysens Reaktion kam für ihn völlig unerwartet. Ein eigenartiges Leuchten trat in die Augen des Terraners. Er hielt die Hand über die Augen, spähte vorwärts, als könne er auf diese Weise besser sehen, obwohl es doch schon fast völlig finster war. Dann erklärte er mit feierlicher Miene: »Wir sind am Ziel!« Flannagan Schätzo rauschte es in den Ohren. Hatte er richtig gehört? War das möglich? Die Flotte? Eine Flotte von Raumschiffen? Die kopfgroßen, ovalen Gebilde, die er im Gespinst hatte hängen sehen, waren Raumschiffe? Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Natürlich eine Flotte von Zwergenschiffen. Selbst für ihn, den zwergenhaften Siganesen, waren die Schiffe zu klein, als daß er sie hätte betreten können. Dazu also brauchten sie die unglücklichen Kinder …! ENDE
ENDE