FREDER VAN HOLK
Kampf im Dreieck Tokio. Nagasaki hat reizvollere Anlagen, Kioto schönere Bauten, Nikko edlere Tempel, ...
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FREDER VAN HOLK
Kampf im Dreieck Tokio. Nagasaki hat reizvollere Anlagen, Kioto schönere Bauten, Nikko edlere Tempel, Nagoya entzückendere Straßen, Osaka bessere Industrie und Yokohama umfangreicheren Handel. Tokioi s t nur die Hauptstadt des Landes und die volkreichste Stadt und beides zusammen braucht noch nicht einmal ein Ruhm zu sein. Wohl erhebt sich der Palast des Mikados, die alte Residenz der Schogune, mitteni n der Stadt mit seinen zyklopischen Mauern und seinem von Lotosblüten überwucherten Wallgraben von fünfzig Meter Breite und Tiefe, wohl dehnt sich jenseits des Ü n o Parks die eigentümliche, in vielem echt japanische Yoshiwara aus, wohl verharrt dahinter Asakusa mit dem Hongwandschl und dem Tempel von Sensondschl, aber das ändert nichts daran, daß das Tokio von heute so unjapanisch wie möglich ist, ein scheußliches Zerrbild von Halbkultur. Rings um den Palast sind die reizvollen Schlösser der alten Daimyo verschwunden. An deren Stelle stehen vielstöckige Geschäfts-, Regierungs- und Wohnhäuser, bei deren Bau abendländische Architekten Pate gestanden haben, Bauten, die allenfalls auf einen Amerikaner Eindruck machen können. Und jenseits von hinten liegt das einförmige, farblose und höchst ärmliche Häusermeer von Tokio, nicht
weniger erschütterndi n seiner inneren Kulturlosigkeit wie die Vorortsviertel der großen europäischen Industriestädte. Nie würde es einem Japaner einfallen, zu rühmen: „Yedo wo minal utschl wa, Kekko to yu na." („Hast du Tokio nicht gesehen, so darfst du nicht von prächtig sprechen.") Er weiß es, und wenn er es nicht weiß, so ahnt er es, daß mit Tokio nicht viel Ehre einzulegen ist. Wohl gibt es moderne Hochschulen, Krankenhäuser, Museen, Bibliotheken und Fabriken, für die sie sich gern bewundern lassen, aber die haben mit Japan nichts zu tun. Der kluge Japaner weiß, daß für diese modernen Errungenschaften, die von den Abendländern übernommen wurden, die ganze eigentliche Kultur Japans hingegeben werden mußte, diei n der bildenden Kunst herrliche Blüten trieb. Er lächelt schmerzlich, wenn ein Europäer Japan bewundert, weil es trotz seiner modernen Einstellung das Alte bewahre. Er lächelt und verzichtet darauf, dem Toren begreiflich zu machen, daß die Erhaltung von Denkmälern ein Beweinen der Toten ist. Vielleicht tröstet er sich damit, daß diese Entwicklung unabänderlich sei. Tatsächlich - sie war unabänderlich. Und wenn man die Geschichte Japans
Im letzten Jahrhundert verfolgt, so kommt einem das Staunen an. Japan hat sich lange bis zum äußersten gegen das Eindringen europäischer Elemente verschlossen. Die Japaner lebten auf ihren Inseln in einer streng geordneten, innerlich glücklichen Gemeinschaft unter dem friedlichen Symbol der blühenden Kirschen und Glyzinen. Sie wollten durchaus nichts wissen von Technik und Erfindungen, von allem, was Fortschritt hieß. Doch die anbrandende Welle wurde immer stärker und mächtiger. Und da fanden sie einen Staatsmann von großem Format. Dieser erkannte, daß das Volk auf die Dauer dem fremden Einfluß nicht standhalten konnte, daß es eines Tages mit Waffengewalt überrannt und dann in seinem inneren Wesen wie in seiner politischen Gestalt einfach vernichtet werden würde. Er erkannte es und wählte das einzige wirksame Gegenmittel, um Volk und Staat zu erhalten - er machte das Übel zur Tugend. Von Jenem Tage an, an welchem die Häfen Japans den Fremden geöffnet wurden, kannte die Nation nur noch ein Ziel, nämlich alles das an äußeren und inneren Mitteln an sich zu reißen, was die gefährlichen Weißen so machtvoll auftreten ließ. Die Japaner wurden englischer als die Engländer und amerikanischer als die Amerikaner. Sie schickteni h r e Studenteni n alle Welt und ruhten nicht eher, bis sie alle Geheimnissei h r e r stillen Feinde ausgespürt und in ihren Besitz gebracht hatten. Man muß diese Zusammenhänge kennen, um Tokio mit den richtigen Augen zu sehen. Freude macht es freilich nicht. Man bringt sich gern auf andere Gedanken und wandert hinaus zu einer der wenigen Stätten, an denen man noch die
Luft des alten Japan atmen kann hinaus zum Park von Ü n o . Dort zeigt sich noch unter riesigen Kiefern und Apfelbäumen, an wunderbaren Tempelbauten und märchenhaften Lotosteichen die träumerische Pracht Japans. Dort schlummern im Schatten jahrhundertealter Bäume die goldstrotzenden Grabtempel der Schogune, dort leuchten noch die Pagoden mit ihren seltsamen Dächern in farbenfreudigem Rot. Unbeschreiblich schön und friedlich ist es, un'.er einer der blühenden Glyzinen mit ihren langen Ästen und duftenden Trauben zu sitzen und nichts zu tun, als die Schwingen der Seele sich entfalten zu lassen. So mochte wohl der Mann empfinden, der einsami n einem um diese Stunde wenig besuchten Teil des Parkes saß und vor sich hinträumte. Sein Gesicht war gelöst, als säße er bereits Stunden. Gesichtsschnitt und Kleidung verrieten den Europäer. Die letztere deutete auf einen Seemann hin. Das Gesicht hatte ausdrucksvolle Züge, aber es verrieti n diesem gelösten Zustand nicht mehr, als das Gesicht eines Knaben. Es ist gewöhnlich so, daßi m Schlaf oderi m Wachträumen die Maske des täglichen Lebens vom Mann abfällt und dann das längst vergessene Knabengesicht mit seinen weichen Linien wieder hervortritt. Der Mann überhörte es, daß ein anderer mit weichen Sohlen auf ihn zuschritt. Erst als dieser unmittelbar vori h m stand und sich vorsichtig räusperte, blickte er auf. Im gleichen Moment strafften sich seine Züge Energie, Entschlossenheit und kühle Beherrschung traten in Erscheinung. Man sah, das war ein Mann, der vom Schicksal zum Handeln und zu Taten, weniger zu Nachdenklichkeit und geistiger Arbeit angelegt war.
„Was ist, Bender?" fragte er kurz in dem etwas harten Englisch des Amerikaners. „Herrliches Wetter", grinste der anderes. „Gottes Segen über Euch, daß Ihr hier wie meine pensionierte Großmutter . . . " „Laß dein Gewäsch und erzähle", fuhr ihn der erwachte Träumer an. Bender hob die Schultern und setzte sich. Mit der Andacht eines Mannes, der eine lange Ruhepause vor sich sieht, streckte er seine Beine aus und schob die Bügelfalten der schwarzen Hosen zurecht. Dann zupfte er an einigen Falten seiner schwarzen Jacke, rückte den schwarzen, leicht ausgefransten Schlips gerade und begann seinen Bart zu massieren. Vielleicht lag es an seiner Kleidung, daß er ungefähr wie ein Küster auf Urlaub wirkte. Vielleicht war es auch sein kümmerlicher, an zerzaustes Seegras erinnernder Bart, der an einen Angehörigen dieses ehrenwerten Be-. rufes denken ließ. Ganz bestimmt hatte aber seine Sprache eine feierliche Note. Er beeinträchtigte freilich diesen Eindruck durch verschiedene Kleinigkeiten, die man nicht übersehen konnte. Zunächst waren seine Backen dick und wohlbehäbig rund wie bei einem Säugling. Im Gegensatz dazu, wie zu den vorausgenannten Momenten lagen an seinen äußeren Augenwinkeln eine Unzahl feiner Falten, die sich fast ständig bewegten, hin und her zuckten und dramatisch seine Worte und Gesten unterstrichen. Und zu alledem paßte wiederum nicht der Ausdruck seiner Augen, die fast so kühl und fest waren wie die des Mannes, neben den er sich Jetzt gesetzt hatte. ,,Es ist des Menschen unwürdig", entgegnete er auf die Zurechtweisung, „sich wie eine getretene Natter zu benehmen, weil man ihn mit seiner pen-
sionierten Großmutter vergleicht. Deine hitzige Sprache wird dich schon noch an den Rand des Grabes bringen, Stevens. Nichts sei mir ferner, als dir die süßen Stunden des Nichtstuns zu mißgönnen, a b e r . . . " Stevens wandte ihm mit einem knurrenden Laut das Gesicht zu. „Wenn du dein verfluchtes Karpfenmaul nicht bald anhältst, so haue ich dir eine drauf." Bender seufzte und schüttelte mit sanftem Vorwurf den Kopf. „Gut, schwelgen wir. Ich kann ein paar Stunden Ruhe gut gebrauchen." „Nun tu endlich dein Maul auf", schnauzte der andere. Bender grinste. „Du weißt auch nicht, was du willst. Also, Sun Koh ist in der Stadt." Stevens war sichtlich lebhaft i n t e r essiert. „Also doch eingetroffen? Ist er mit dem Flugzeug gekommen?" „Selbstverständlich, sonst könnte er doch nicht hier sein. Er muß wie ein Wahnsinniger gefahren sein. Viel später als wir ist er nicht eingetroffen." „Wird schwer brummte Stevens.
enttäuscht
sein",
„Weil er den Japaner nicht gehascht hat? Kann schon sein, aber sicher hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben." „ W o wohnt er?" „Imperial." „Hm." Eine Welle herrschte Schwelgen. Stevens hatte die Arme auf die Knie gestemmt und blickte zu Boden, als ob er überlegte. Endlich richtete er sich wieder auf und meinte: „Eigentlich wäre es richtiger, man verständigtei h n , denn daß er hier i n einen Hexenkessel gerät, steht bombenfest."
Bender pendelte mit dem Kopf hin und her. ,,Ganz deiner Meinung! Aber du kennst ja unsere Anweisung. Der Chef wird schon wissen, was er w i l l . " ,,Kanni c h mir denken", brummte sein Nachbar unwirsch. „Aber i m m e r hin bleibt es eine kitzlige Sache, sich so einfach darauf zu verlassen, daß sich der Mann schon heraushauen und das Richtige finden wird. Sie werden ihm bös zusetzen. Diese gelben Affen machen keinen langen Prozeß." ,,Sun Koh sicher auch nicht. Und wer weiß, ob sich die Japaner um ihn überhaupt kümmern." Stevens lachte kurz auf. ,,Ahnungsloser Engel! Selbstverständlich wissen die Leute in Tokio jetzt schon, daß ihre Flieger die Papiere nicht heimbringen. Da uns diese nicht erkannt haben, nehmen sie selbstverständlich an, daß Sun Koh sie ihnen abgenommen hat. Folglich werden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie von ihm wieder zurückzubekommen." Bender sortierte seine Bartfetzen. „Ganz hübscher Schlamassel. Sun Koh hat ja keine Ahnung, daß wir schneller waren als er. Er wähnt die Papiere bei den Japanern und wird nun seinerseits denen auf die Nähte gehen, um sie zu bekommen. Es wird eine ganze Weile dauern, bevor er merkt, daß er hinter den falschen Leuten ter ist." „Hoffentlich geht er dabei nicht in die Brüche!" „Der nicht." „War' auch schade um den Mann. Meiner Meinung nach könnte der Chef einfacher zum Ziele kommen." Bender hob die Schultern.
„O'Patrlck hat eineni r i s c h e n Vater. Zeige einem Iren den geraden Weg zum nächsten Dorf, so wird er bestimmt den nicht wählen und einen Bogen schlagen." Stevens erhob sich und sagte abschließend: „Nun, kann uns ja auch egal sein. Ist für mich noch zu tun?" Bender stand ebenfalls auf. „Nichts. Ich denke, daßi c h die Beobachtungen allein durchführen kann. Halte die Maschine ständig fahrbereit und gib O'Patrick laufend Nachricht. Ich werde mich vorläufig zum Hotel drücken." „Mahlzelt!" brummte Stevens und ging davon. „Ich komme mit", entschied sich Bender. Stevens blieb stehen. Seine Augenbrauen waren beängstigend weit hochgezogen. „Hm, seit wann denn? Du weifet doch ganz genau, daß ich mich nicht mit dir zusammen sehen lasse, wenn dui n dem Aufzug herumläufst. Ich habe keine Lust, mich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses von der Strafte weg verhaften zu lassen." Der andere war durchaus nicht beleidigt. „Soll mir auch recht sein, dann gehe ich eben nach der anderen Seite. Du wirst nie begreifen, welche Vorzüge diese Tracht hat." Stevens winkte ab. „Danke, ich weiß schon Bescheid. Heilige Einfalt usw." „ A u f das Undsoweiter kommt es an", grinste Bender. „Das hast du mir schon zur Genüge erklärt", wehrte Stevens unverzüglich in leichtem Entsetzen ab. „Mach's gut, ich erwarte deine Nachrichten." Bender tippte sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand grüßend an
die Schläfe und ging in entgegengesetzter Richtung mit den gleichen weiten Schritten, mit denen er gekommen war, davon. Stevens sah sich nach einer Weile noch einmal um und beobachtete seinen Partner einen Augenblick. Obgleich er von dem ganzen Zauber nichts hielt, nötigte esi h m doch eine gewisse Bewunderung ab, wie sehr Bender in seiner Rückansicht einem der harmlosen und für die Politik sicher unverdächtigen amerikanischen Sektenmissionare ähnelte. Es nötigte ihm vor allem deshalb Bewunderung ab, weil er wußte, wie Bender sonst aussah. 2. Selbstverständlich war das Hotel „Imperial" restlos auf die Bedürfnisse der Anglo-Amerikaner zugeschnitten und glich in allem und jedem den vornehmen Karawansereien gleichen Stils, die man über die ganze Welt verteilt findet, damit Mister Smith aus Boston oder andere nicht ihre gewohnte Bequemlichkeit zu vermissen brauchten. Amerikanisch war das Gebäude mit seinen vielen Stockwerken selbst. Die Inneneinrichtung hatte man mehr auf Alt-England abgestimmt. Im übrigen mischten sich in Bedienung, Speisen, Getränken und ähnlichen Dingen die Bedürfnisse der Engländer und Amerikaner - beide gleich langweilig und gleich unjapanisch. Nein, mit einem japanischen Gasthof hatte das ,,Imperial" nichts zu tun. Schließlich konnte man ja nicht von den Leuten verlangen, dafe sie vor dem Portal die Schuhe auszogen und mit den berüchtigten zwei Stäbchen essen lernten, weil sie sich ein paar Tage aufhalten wollten. Derartige Scherze wagten weder Cook noch die
Hotelleitung ihren zahlungsfähigen Schützlingen zuzumuten. So trug denn auch der Raum,i n dem sich Sun Koh und Hal Mervin aufhielten, an keiner Stelle das Gepräge des Landes, in dem man sich aufhielt. Man konnte sich recht gut in der Illusion wiegen,i n New York oder i n London zu sein. Selbst ein Blick auf die Straße hätte sie nicht zerstört, denn dort unten gab es kaum etwas, das man nicht ebensoi n einer der genannten Städte hätte finden können. Hal Mervin, der eine ganze Weile durch das Fenster gestarrt hatte, wälzte ein Problem. Als er damit nicht fertig wurde, wandte er sich wie gewöhnlich an Sun Koh. „Eigentlich ist es komisch, Herr. Wenn man dort unten einen Fremden sucht, braucht man gar nicht erst lange hinzugucken. Man erkennt ihn sofort an seiner Größe." „Was findest du daran komisch?" erkundigte sich Sun, ohne sich i m Schreiben unterbrechen zu lassen. „Nun, daß die Japaner alle so klein sind." „Eine Rasse-Eigentümlichkeit", gab Sun kurz zurück. Der Junge - genau genommen schon ein junger Mann zwischen sechzehn und siebzehn - grübelte eine Weile, so dafe sein sommersprossiges Gesicht mit den rötlich angehauchten Haaren erheblich an seinem sonstigen pfiffigkaltschnäuzigen Eindruck einbüßte. Sun Koh schob kaum seinen Bogen beiseite, als er auch schon losfragte: „Wie ist das, Herr? Ich habe mal gelesen, die Menschen würden immer größer? Dann müßte man doch an der Größe gewissermaßen feststellen können, wie alt ein Volk oder eine Rasse ist?"in Tokio Sun Koh, der seinen jungen Begleiter und dessen Zähigkeit i m Ausfragen
kannte, wandte sich ihm lächelnd zu. „Eine sehr kühne Schlußfolgerung, Hal, die bestimmti n die Irre geht. Wende sie mal auf Sperling und Adler an, dann wirst du merken, daß sie nicht stimmt." Hal war leicht enttäuscht, daß sein Geistesblitz so wenig Anklang fand. ,,Dann stimmt es also nicht, daß die Menschen immer größer werden?" Sun erhob sich und trat zu ihm ans Fenster. „Eine Streitfrage, Hal. Eigentlich werden die Menschen immer kleiner, aber es gibt Untersuchungen, durch die das Gegenteil festgestellt worden sein soll." Der Junge wies hinunter. „Sehen Sie, wie sich die Fremden durch ihre Größe abheben? Warum sagen Sie, daß die Menschen eigentlichi m m e r kleiner werden?" „Weil die Rippen verkümmern." Hal riß die Augen auf. „Hä?" Sun klopfte ihm begütigend auf die Schulter. „Siehst sehr geistreich aus, Hal. Weißt du, wieviel Rippen der Mensch hat?" „Zwölf Paar", kam sofort die Antwort. „Und hast du schon mal die untersten Paare abgetastet?" Der Junge nickte, fühlte aber vorsichtshalber noch einmal vom Brustbein ausgehend nach. ,.Hm", meinte er nach Beendigung seiner Untersuchung nachdenklich, „das ist eigentlich auch komisch. Die untersten Paare werden immer kürzer und die letzten sind nur noch S t u m m e l . . . " "... keinen Zusammenhang mit den übrigen Rippen, mit dem Brustkorb mehr haben und frei im Fleisch enden", fuhr Sun ergänzend fort. „Es sind Rudimente, Überbleibsel oder Verkümmerungen ehemaliger Rippen. Es wird dich sicher interessieren, zu er-
fahren, daß eine ganze Menge Menschen dieses letzte Stummelpaar schon nicht mehr besitzt." Hal zählte nach. „Bei mir sind sie noch da. Wir brauchen sie wohl eigentlich nicht mehr, Herr?" Sun hob die Schultern. „Überlege selbst, wozu wir die Rippen benötigen?" „Als Schutz für die Lunge, nicht wahr? Na eben, dort unten an den letzten Rippen ist doch keine Lunge mehr, da kommt d o c h schon bald der Beckenknochen? Da sind die letzten Rippenpaare aber mehr überflüssige M ö bel." Sun Koh lachte. „Dein Ausdruck ist schrecklich, aber Sache richtig." Der Dunge schüttelte den Kopf. „Und da heißt es immer, die Natur sei klug und weise? Das kommt mir vor, als ob eine Fabrik einen Omnibus baut und macht eine Deichsel dran." „Der Vergleich ist gar nicht so schlecht, wenn du annimmst, daß sich jemand einen Pferdewagen zum Omnibus umbauen ließe." Hal protestierte. „Das Ding möchtei c h aber nicht benutzen." „Es wird auch kaum ein derartiges Fahrzeug geben. Aber setzen wir es voraus, dann wäre es gar nicht so verwunderlich, wenn sich an ihm noch die alte Deichselgabel befände." „Allerdings, so ungefähr wie bei den ersten Autos, die ja auch mehr wie Pferdekutschen ausgesehen haben. Aber wollen Sie damit sagen, daß der Mensch auch so ein umgebauter Wagen ist?" Sun Koh warf einen flüchtigen Blick zur Uhr und sagte dann langsam: „In der Entwicklung des Menschengeschlechts hat es eine gewaltige Umwälzung gegeben, eine Veränderung, an
in
die es sich heute noch nicht vollständig gewöhnt hat - nämlich den Übergang vom Vierfüßler zum Zweifüßler. Der Mensch ist früher auf Armen und Beinen gelaufen." „Wie der Affe." „Und wie fast alle anderen Tiere. Irgendwann richtete er sich zum ersten Male auf seine Hinterfüße auf, und dann lernte er allmählich, sich nur auf diesen zu bewegen. Die Natur hatte ihm nun den Körper eines Vierfüßlers geschenkt. Der Mensch hat sein stolzes Zweifüßlertum der Natur abgetrotzt, hat es gegen deren Willen erzwungen, und so muß er manches in Kauf nehmen, was ihm sonst erspart geblieben wäre. Sein Körper kann sich nur schwer daran gewöhnen, ständig auf zwei Füßen zu bleiben, wie es der Wille befiehlt." In Hals Gesicht standen deutliche Zweifel. „Ja, aber es macht doch gar keine Schwierigkeiten?" Sun lächelte. „Ahnungsloser Engel! Hast du z. B. noch nie von Plattfüßen gehört?" „Doch, selbstverständlich. Aber was haben die damit, zu tun?" „Sehr viel. Das Fußgewölbe des Menschen wurde von der Natur für die halbe Last des Körpers angelegt. Jetzt ruht die doppelte auf ihm. Die Folge ist, daß es stets nachgibt, wenn es längere Zeit belastet wird. Es ist einfach zu schwach für normale Beanspruchungen. Die Zahl der Menschen, die Plattfüße besitzen zum Teil schon von Kind an - ist ungeheuerlich groß. Laß dir mal von einem Fabrikanten für Schuheinlagen erzählen, was er für Riesenmengen herstellt." Hal war voller Bewunderung. „Sie bringen selbst die kleinsten Dingei n einen großen Zusammenhang, Herr."
„Kunststück", wehrte Sun ab. „Die Zusammenhänge liegen auf der Hand, man muß sie nur zu sehen Wissen. Hast du, um ein anderes Beispiel zu nehmen, bei Vierfüßlern schon einmal Krampfadern gefunden? Beim Menschen gibt es die außerordentlich häufig, einfach deswegen, weiI die Adergefäße der Beine von der Natur nicht für die starken Stauungen eingerichtet wurden, weil sie ursprünglich nur die halbe Stauung auszuhalten hatten. Oder betrachte den Gang der Menschen und vergleiche ihn mit dem eines Tieres, eines edlen Pferdes, eines Raubtieres. ist der Gang der Menschen etwa im allgemeinen der Krone der Schöpfung würdig? Keinesfalls die meisten Menschen gehen noch heute so, daß man ihnen unmittelbar absehen kann, wie wenig sich die Muskeln und Gelenke zu einer einheitlichen, vollendeten Bewegung gefunden haben, wie wir sie bei Tieren als selbstverständlich voraussetzen. Doch lassen wir die Beispiele, von denen es Dutzende gibt. Jedenfalls wirkt jene große Umwälzung noch heute im menschlichen Körper nach - deshalb findest du diese heute überflüssigen Stummel von Rippen. Bevor der Mensch lernte, sich auf zwei Beinen zu bewegen, waren sie voll ausgebildet und verrichteten ihren Dienst wie die andern Rippen." Der Junge kratzte sich am Hinterkopf. „Demnach ist die Lunge des Menschen kleiner geworden?" „Die Maßverhältnisse des ganzen Rumpfes haben sich verändert. Erst wurde der Rumpf von der waagerecht . liegenden Wirbelsäule getragen, wie du es heute noch bei Vierfüßlern siehst. Jetzt ist die Wirbelsäule nur noch Rückgrat, wird senkrecht belastet. Sie gibt keinen einwandfreien Halt mehr - daher Rückgratverkrümmungen und
die Ergebnisse jener Untersuchungen, auf die i c h vorhin hindeutete." Hal war den Blicken seines Herrn gefolgt und meinte,i n d e m er das Thema verließ: „In London würde ich auf Kriminalbeamte tippen, aber hier kennt man sich eben nicht aus." „Kriminalbeamte habeni n allen Ländern das gleiche gewisse Etwas, das sie vor allen andern Menschen kennzeichnet. Der Mann dort am Auto bewacht zweifelsfrei den Eingang, und die Hal grinste. andern, die ihn vor einer Weile be„Fein, Herr, schließlich gibt es Mentreten haben, kamen sicher als Vertreter schen, bei denen der Brustkorb direkt ihrer Behörde ins Hotel. Leicht mögauf der Hüfte aufsitzt." lich, daß der Besuch uns gilt." Sun lachte. „Viel fehlt ja nicht mehr. Der A b „Vielleicht bringen sie uns gar die stand beträgt bei den meisten MenPapiere?" schen schon kaum mehr als einige ZenSun Koh sah ihn mit einem merktimeter. Die meisten werden wohl erwürdigen Ausdruck an. schrecken, wenn sie mal ihre Finger „Du bist ein Optimist, Hal." in die Seiten, in die welchen Stellen Der Dunge lachte. zwischen den Rippen und Beckenkno„Wenn ich nicht wüßte, was das ist, chen, legen. Der menschliche Rumpf ist würde ichs für eine Beleidigung halten." schon derart zusammengesackt, daß An der Tür klopfte es mit harten, ein Vergleich mit einem Vierfüßler bestimmten Schlägen. kaum mehr möglich i s t . " „Da sind sie schon", sagte Sun ruhig. „Aber uneigentlich werden die Men„Öffne!" schen doch größer?" Hal lief zur Tür, doch noch ehe er Sun Kohs Aufmerksamkeit wurde sie erreicht hatte, standen drei Japaner durch einen Vorgang auf der Straße abauf der Schwelle. Sie verbeugten sich gelenkt, aber er gab bereitwillig Antsehr höflich und der erste erklärte i n wort. verbindlichstem Ton auf englisch; „Man kann das bejahen. Es liegt „ W i r haben wohl die Ehre, Mister wohl an den Beinen, die sich eben doch Sun Koh vor uns zu sehen. Entschuldinach besten Kräften anzupassen suchen. gen Sie bitte, daß wir Sie stören, aber Die Größenverhältnisse haben sich beim wir sind beauftragt worden, eine UnterMenschen so verschoben, daß die Beine suchung vorzunehmen. Bitte haben Sie erheblich größer als die Arme gedie unendliche Güte, unsere Papiere worden sind und im Vergleich zur Gezu prüfen." samtgröße an Länge immer mehr zu-
ähnliches - und drückt sich außerdem mehr und mehr zusammen. Die Last der Brust, des gesamten Oberkörpers ruht auf den Eingeweiden und führt zu den bedenklichsten Krankheiten und Entartungserscheinungen. - Insgesamt mußte diese von der Natur nicht vorgesehene Umbelastung zu einem Zusammendrücken und damit zu einer Verkürzung des Rumpfes führen. Deshalb sagte ich dir, daß der Mensch eigentlich kleiner w i r d . "
nehmen. Wenn du einen großen Menschen findest, so wirst du entdecken, daß es hauptsächlich seine Beine sind, die ihn so groß machen. Wir werden hochbeinig - dasi s t die Erklärung für
Sun Koh warf einen Blick hinein, aber er wußte, daß es überflüssig war. Nach den Papieren war der Sprecher übrigens der Leiter des Kriminalamtes selbst.
„Was wünschen Sic von mir?" erkundigte sich Sun kurz. Der Japaner war sichtlich tief bekümmert. „Es ist uns bedauerlicherweise der ungeheuerliche Verdacht überbracht worden, daß Sie Opiumi n s Land geschmuggelt haben. Sie wissen, daß das bei uns verboteni s t . Wir sind überzeugt, daß der Verdacht eine unbegreifliche Verleumdung darstellt, aber wir möchten esi n Ihrem Interesse nicht versäumen, es auch einwandfrei zu belegen, und bitten Sie daher um Erlaubnis . . . " „Bitte beginnen Sie mit Ihrer Durchsuchung", schnitt Sun Koh ab. Er begriff sehr viel, vor allem, daß die Japaner nichti m Traum daran dachten, nach Opium zu suchen. Sicher hatte man in Tokio schon erfahren, daß er Interesse an den geraubten Papieren besaß. Man würdigte ihn als Feind und nutzte die zu Gebote stehenden offiziellen Mittel, um ihn nach Möglichkeit auszuforschen. Mochten sie sich das Vergnügen machen. Es war andererseits nicht ganz verständlich, daß sich die Leute nutzlos so weit vorwagten, denn sie mußten eigentlich wissen, daß beii h m augenblicklich nichts zu holen war.i m Gegenteil, das Streitobjekt befand sichjain ihren Händen. Sun Koh wußte eben in dieser Stunde noch nicht, daß er darini r r t e , daß die Japaner die wichtigen Papiere nicht besaßen, sondern eben bei ihm vermuteten. Die drei Männer waren verhältnismäßig schnell mit den Zimmern fertig. Es gab hier nichts zu verbergen, und Suns Gepäck war denkbar gering. Sie sammelten sich wieder, und der Sprecher der drei machte eine neue Verbeugung.
„ W i r sind außerordentlich erfreut, daß wir nichts finden können und damit unsere Überzeugung bestätigt sehen. Würden Sie aber, um auch den fetzten Rest von Mißtrauen zu brandmarken, uns die Erlaubnis geben, Sie selbst zu untersuchen?" Sun Koh richtete sichi n stolzer A b wehr auf, aber er besann sichi m letzten Augenblick und gab mit einem kühlen „Bitte" die Erlaubnis. Flinke Hände tasteten ihn und Hal ab, und wenn Sun noch einen Beweis gebraucht hätte, daß die Leute die Papiere und nicht Opium suchten, so hätte er ihn jetzt erhalten. Die Untersuchung war gut genug, um die umfangreichen Akten festzustellen, aber es mangelte ihr an der Sorgfalt, die für Opium nötig gewesen wäre. Mit zahlreichen Entschuldigungen traten die drei zurück. Der Wortführer wurde gar nicht fertig, zu beteuern, wie groß seine Freude sei, den unglaublichen Verdacht völlig entkräften zu können. Doch allmählich legte er seinem Gesicht einen bedenklichen Ausdruck bei. Sun hatte das Gefühl, daß seine Wünsche noch nicht Völlig erschöpft seien. Und tatsächlich kam er auf allerhand Umwegen zu seinem Ziel. „ W i e gesagt, meine Freudei s t ungeheuerlich. Leider wird der freche Verleumder trotz allem - hm, es i s t natürlich lächerlich, aber Sie werden verstehen . . . " Sun wurde allmählich ungeduldig. „Bitte fassen Sie sich kurz! Meine Zeit i s t bemessen." Der Japaner verbeugte sich geschmeidig. „Sie gaben unserem Lande die Ehre, esi m Flugzeug aufzusuchen?" „Allerdings", erwiderte Sun zurückhaltend. ' „Und Sie ließen es in der Obhut Ihres Dieners zurück?"
,,lch nahm mir die Freiheit." „Selbstverständlich, selbstverständlich. Aber Ihr Diener handelt sicher sehr eigenmächtig?" „Ich verstehe Sie nicht. Bitte drücken Sie sich klar aus!" Der kleine Japaner wurde unter dem eiskalten Ton blaß und riß sich sichtlich zusammen. Seine Stimme bekam eine gewisse Schärfe. „ W i e Sie wünschen. Wir legten in Ihrem Interesse Wert darauf, eine kurze Durchsuchung des Flugzeuges vorzunehmen. Leider schien uns Ihr Diener mißzuverstehen. Er erhob sich ohne Erlaubnis der Flugpolizeii n die Luft und kümmerte sich nicht um unsere Anweisung, wieder zu landen." Um Suns Lippen zuckte ein kurzes, spöttisches Lächeln. „Sicher ein Mißverständnis! Hoffentlich haben Sie ihn nicht mit Gewalt heruntergeholt." Der andere hob entsetzt beide Hände. „Aber - wie werden wir dennl Außerdem suchte Ihr Diener eine Höhe auf, eine Höhe, in die unsere Leute nicht folgen konnten." „Aha"," murmelte Sun sarkastisch. „Es tut mir leid, daß sich mein Diener nicht anders verhielt. Wünschen Sie sonst noch etwas?" „Ahem, meinen Sie nicht, daß es zweckmäßig wäre, Ihren Diener zu benachrichtigen, daß . . . " „Leider unmögllch! Ich besitze keine zweite Maschine, diei h m in seine Höhe folgen kann. Es ist sehr bedauerlich, daß Sie den Mann so erschreckt haben. Bedauerlich besonders für mich, weili c h nun warten muß, bis sich sein Schrecken verloren hat. Und nun lassen Sie sich bitte nicht weiter von der Erfüllung Ihrer Pflichten abhalten. Leben Sie wohl!" Der Japaner trat unschlüssig ein paarmal hin und her, aber er sah wohl
ein, daß unter den obwaltenden Umständen vorläufig nichts weiter zu erreichen war. So wurde er denn wieder lebhaft, erging sich von neuemi n Entschuldigungen und zog sich endlich zurück. Hal Mervln hatte von dem Sinn dieser Ereignisse nicht allzuviel verstanden und erkundigte sich deshalb neugierig, „Was sollte denn das bedeuten, Herr?" Sun Koh sah ihn nachdenklich an. „Du fragst mich zuviel, mein Junge;. ich muß selbst erst Klarheit darüber gewinnen. Du weißt, wir kauften in Java die Erfindung Stramborgs und seiner Freunde. Bevor sie uns übergeben werden konnte, wurde sie gestohlen, wobei Stramborgs Freund starb. Die Täter waren Japaner, die vermutlichi m Interesse ihres Landes handelten. Sie verließen Surabaja im Flugzeug. Wir folgteni h n e n , konnten sie aber nicht mehr finden, da sie wahrscheinlich nicht die gerade Route einschlugen. Soweit ist alles klar. Diese Untersuchung aber ist eine Angelegenheit, die sich nicht einpassen will. Die Japaner besitzen die Papiere welches Interesse haben sie noch, uns; unter einem Vorwand polizeilich durchsuchen zu lassen? Sie suchten nicht Opium, sondern etwas anderes, nach meinem Eindruck sogar die Papiere." „Vielleicht sind die Leute nicht eingetroffen oder haben noch keine Nachricht gegeben?" „Dann könnte die hiesige Polizeibehörde auch kaum wissen, daß i c h um der Papiere willen hier bin." Hal schob die Stirni n Falten. „Tja, Herr, das begreife ich nicht." „Ich auch nicht. Doch komm jetzt, wir müssen uns in der Stadt umsehen. Ich glaube kaum, daß man uns die Papiere hierher bringt."
"Ich habe so meine Angst, daß sie schon in dem Safe irgendeines Ministeriums stecken." „Eine Stelle, an der mein Eigentum bestimmt nichts zu suchen hat." Die Tür klappte. Sun Koh und sein junger Begleiter waren hinaus. Im Zimmer hing nur noch der Nachhall der letzten Worte wie eine kühle Drohung. 6. Sun Koh und Hal waren kaum auf die Straße getreten, als sich ihnen ein gutgekleideter Japaner - in europäischer Kleidung, wie es in Tokio üblich ist den Weg stellte und mit einer tiefen Verbeugung grüßte. „Meine Freudei s t unermeßlich", begann er würdevoll, wenn auch ein klein wenig hastig, „die hohen Herren in unserer niederen Stadt begrüßen zu dürfen. Es gereicht Tokio zur unbegreiflichen Ehre . . . " ,,Es wird doch nicht der Bürgermeister selber sein?" flüsterte Hal grinsend seinem Herrn zu. „Vermutlich i s t diese Art des offiziellen Empfangs berühmter Gäste hier Sitte." Der Japaner, der englisch sprach und sicher jedes Wort verstanden hatte, ließ sich keinen Moment unterbrechen, sondern rühmte in schöngesetzten Worten die Ehre welter, bis sich Sun Koh freundlich erkundigte! „Haben Sie einen besonderen Wunsch oder legen Sie Wert darauf, daß wir einige Stunden hier stehen bleiben?" Der andere zeigte freudestrahlend sämtliche gelbangelaufenen Zähne. ,,No, no, ich wagte es ja gerade, Sie anzusprechen, damiti h r e köstliche Zeit nicht verloren gehe. Es würde mich tief bekümmern, wenn Sie Stunden und Tage durch diese Stadt wanderten, ohne wenigstens ihre bescheidenen Herrlichkeiten kennenzulernen. Deshalb lege i c h
meine geringen Dienste zu Ihren Füßen und . . . " „Also ein Fremdenführer", unterbrach Hal ziemlich herzlos. „Sie wollen uns die Sehenswürdigkelten der Stadt zeigen?" fragte Sun weniger schroff. Der Japaner verbeugte sich bejahend. „Ihr erleuchteter Geist hat mich vollkommen richtig verstanden. Ich werde glücklich sein, wenn . . " „Danke, Sie brauchen sich nicht zu bemühen. Wir beabsichtigen, uns die Stadt ohne Führer anzusehen." Das Gesicht des andern drückte i n höchstem Maße Betroffenheit aus. „Oh, ich könnte mir das niemals verzeihen. Wie wollen Sie Eingang finden in die wundervollen Tempel, die den Fremden verschlossen sind, wie wollen Sie die fesselnden Geheimnisse der Yoshlwara kennenlernen, ohne . . . " „ W i r haben nicht die Absicht, uns in die Geheimnisse der Stadt zu vertiefen", lehnte Sun ab. Die Züge des Japaners wurden geheimnisvoll. „ A h , Sie haben ein bestimmtes Ziel. Ich begreife vollkommeni n meinem geringen Verstand. Niemand wird Ihnen dienlicher sein als Nikoto. Ich kenne alle Leute und alle Häuser. Ich weiß, wo man wichtige Papiere verkauft oder solche kaufen kann. Nichts gibt es, w o mit ich den verehrenswürdlgen Herren nicht dienen könnte." Sun Koh sah den Mann, der von seinen weißen Berufskollegen allerlei gelernt zu haben schien, nachdenklich an. Wenn der Mann nicht nur den Mund voll nahm, sondern tatsächlich so gut in Tokio Bescheid wußte, konnte man ihn ganz gut gebrauchen. Der Japaner spürte wohl seine Chance, denn er legte von neuem los. Leider wurde er bereits nach den ersten Sätzen unliebsam unterbrochen.
Unbemerkt war eine von Kopf bis Fuß schwarz gekleidete Gestalt, die eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einem seit längerer Zeit stellungslosen Sektenmissionar besaß, an die Gruppe herangetreten. Es war jener Bender aus dem Ü n o Park. Er postierte sich unmittelbar vor den Japaner und lächelte ihn freundlich an. Auch seine Stimme war sanft wie gereinigtes Ö l . Die Worte jedoch, die er sprach, bildeten den schärfsten Gegensatz dazu. Hal Mervln, der sich von frühester Jugend an für eine herzhafte Sprachei n t e r e s s i e r t hatte, kam um einen besonderen Genuß, denn Bender sprach Japanisch. „Bist du verfaultes Aas von einem gelben Regenwurm schon wieder unterwegs, um die Reisenden zu betrügen?" erkundigte sich Bender. „Hat die Polizei dir nochi m m e r nicht den Brandstempeli n deine Halunkenvisage hineingebrannt, du Oberlump von Tokio, du Auswurf aus Yoshiwara, du von deiner Mutter verfluchter Schandfleck." In dieser Tonart ging es ununterbrochen weiter. Der Japaner stand zunächst wie erstarrt. Erst als ihn Bender mit gehobener Stimme und in allerhand wenig schmeichelhaften Umschreibungen fragte, ob er noch lange gedenke, die Straße zu verpesten, eilte er mit einem unbeschreiblichen Ausdruck im Gesicht hastig davon. Jetzt wandte sich Bender an Sun Koh und erklärte sichtlich befriedigt: „Sehen Sie, so muß man mit den Leuten sprechen. Im übrigen empfehle ich Ihnen, gegenüber Fremdenführern hieri n Tokio sehr vorsichtig zu sein. Meist sind es bezahlte Halunken, die auch noch oft genugi m Dienste einer Behörde arbeiten." Hal war dem Vorgang mit großem Interesse gefolgt und erkundigte sich
nun, bevor Bender noch abgehen konnte, lebhaft: „Haben Sie hieri m m e r so wenig Glück?" Der andere zog verdutzt die Brauen hoch. „Was sagtest du, mein Sohn?" fragte er würdevoll zurück. „ O b sie immer so wenig Glück haben, mein Vater?" wiederholte Hal etwas spitz. „Wieso?" Der Junge feixte. „Nun, Sie habeni h n doch sicher zum Gottesdienst eingeladen oder so etwas Ähnliches. Er schien sehr begeistert," Bender holte tief Atem. Er hatte es nötig, denn es ziemt nun einmal einem Missionar nicht, auf der Straße laut aufzulachen. Trotzdem klang es noch recht mühsam, als er erwiderte; „Segen über dich, du reizender Schmeichler! Aber weine nicht, aus dir kann trotzdem noch was werden." Hal streckte den Kopf vor und ballte die Fäuste. ,,Ha, was . . . " Doch Bender setzte gar nicht ab, sondern fuhr gleich, zu Sun Koh gewandt, weiter fort: „Halten Sie sich solche Kerle vom Leibe, wenn Sie nicht böse Erfahrungen machen wollen. Good bye!" Damit wollte er abgehen, ohne von Hals zitternder Entrüstung Kenntnis zu nehmen. Sun Koh hielti h n zurück.
mit einem Wink
„Einen Augenblick bitte,i c h noch eine Frage." „Bitte, mit Vergnügen?"
habe
Sun Koh ging mit scharfen, durchdringenden Augen über den Mann hin. Zögernd und langsam, als wäge er jedes Wort, kam seine Frage.
„ W i e brachten Sie es fertig, so schnell von Surabaja nach Tokio zu kommen?" Bender stand steif wie unter der Wirkung eines Blitzschlages. Erst nach unendlich lange scheinenden Sekunden schlossen sich seine Hände krampfig und öffneten sich wieder, dann fielen seine Züge zusammen, um unmittelbar darauf ein Gesicht der Ü b e r raschung und Verwunderung zu formen. ,,lch - verstehe Sie nicht", stieft er heraus. „Sie werden Ihre Gründe dazu haben", gab Sun ruhig zurück. „Ich möchte jedenfalls nicht versäumen, Ihnen für den Beistand zu danken, den Sie einem meiner Leute leisteten." Bender hatte sich gefaßt. „Sie verkennen mich, Mister. Ich höre zwar mit selbstgefälligem Vergnügen, daß Sie mir Gutes in die Schuhe schieben, doch mein sozusagen unvermeidlicher Charakter zwingt mich, zu bekennen, daft ich Zeit meines Lebens noch nichti n Surabaja war. Leben Sie wohl!" Nun tauchte er endgültig ab. Sun Koh hielt ihn nicht zurück. Er blickte ihm nur mit leiser Verwunderung nach. „Ein seltsamer Mensch", äußerte er, als er mit Hal weiter schritt. „Ich weiß nicht, ob ichi h m den Missionar glauben soll. Seine Augen passen nicht zu seinem Äußeren." Hal war mehr über seinen Herrn als über den Fremden verblüfft. „Sie halteni h n für den Mann, der i n Surabaja Nimba behilflich war?" Sun nickte. „Kannst du dich der Beschreibung Nimbas erinnern? Sie war ziemlich dürftig. Nimba hatte nur den Eindruck, daß es sich um einen Geistlichen oder ähnliches gehandelt haben könnte, nach Kleidung und Stimme zu urteilen.
Du weißt aber wohl auch, daß er sich etwas später einer Einzelheit entsann. Der Unbekannte hattei h m eine Flüssigkeit in den Mund geträufelt. Dabei war seine rechte Hand unmittelbar vor Nimba:; Augen. An dieser rechten Hand saß ein Ring, den uns Nimba beschrieb - ein sehr charakteristischer Ring, der aus einem Goldreif besteht, in den die G e s t a l teines Eisbären aus Platin eingespannt ist." „Das stimmt. Nimba sagte, daß ein Lichtstrahl von der nächsten Laterne gerade darauffiel. Der Kopf des Eisbären liegt dicht über den ausgestreckten Vordertatzen." „Ja. Und eben diesen Ring trug der Mann, der hier als Priester durch die Straften von Tokio läuft. Hal stieft einen Pfiff aus. „Donnerwetter - Donnerwetter. Ich habe natürlich wieder einmal auf meinen Augen geschlafen. Aber, Herr dann müßte er doch auch bald so schnell wie wir hergeflogen sein? Ein Priester? Vielleichti s t es doch ein Zufall?" Sun hob die Schultern. „Vielleicht. Doch warum erschrak der Mann so stark? Er war betroffen, wiei c h noch selten jemand gesehen habe. Und dabeii s t er bestimmt nicht der Mensch, der sein Inneres leicht verrät." „Wer weift, was da für ein fauler Zauber dahinter steckt. Wäre es nicht besser gewesen, ihn auszuquetschen, Herr?" „Dazu bestand ja keine Veranlassung. Selbst wenn es der Manni s t , können wir uns höchstens bedanken." „Komisch, komisch", murmelte der Junge grübelnd. „Übrigens, was hat er denn mit dem Japaner gehabt?" Sun Koh erklärte es ihm lächelnd. Hal war selbstverständlich wenig erbaut und meinte mit entrüsteter Ü b e r zeugung:
„Der Kerl ist der größte Heuchler, dem ich kein Wort glauben würde. Er schimpft wie ein Rohrspatz und sieht dabei aus wie einer, der einen Heiden bekehren will? Solche Leute haben es hinter den Ohren, Herr. Ein gewöhnlicher Priester bringt das nicht fertig." Das war eine Feststellung, die Sun schon selbst gemacht hatte. Sie war ein Grund mehr, sich mit jenem Mann zu beschäftigen und über seine Rolle nachzudenken. * Nach Stunden, in denen Sun Koh eine Reihe von Beobachtungen in der Umgebung des Kriegsministeriums gesammelt hatte, saß er mit Hal weit draußen an den Teichen des Tendschintempels in einem der zahlreichen Teehäuser. Der Tee, der mit einer gewissen Feierlichkeit serviert wurde, mundete ausgezeichnet. Und doch flüsterte Sun mit Abscheu und Widerwillen nach seiner ersten Tasse: „Der Tee . . . " Dann brach er auf seinem Stuhle zusammen. Fast gleichzeitig schlug Hals Kopf auf die Platte des winzigen Tischchens. Die anwesenden japanischen Gäste wurden aufmerksam, aber schon war der Wirt mit ein paar Männern zur Stelle. „Es ist nichts - Fremde, die zu lange herumgelaufen sind. Sie werden sich gleich erholen." Eine halbe Minute später war das Tischchen frei, und die Männer hatten mitsamt der Bewußtlosen das Teehaus verlassen. Man hörte, wie ein Stück weiter unten ein Auto anfuhr. Uyimo aber, der Wirt des Teehauses, erzählte einige Stunden später seinem besten und einzigen Freunde:
„Was sollte ich tun? Ich mache mir nichts aus Fremden, aber ich hasse sie auch nicht. Doch wenn die Polizei selbst es will? Die Augen verließen mich, als auf einmal der Kommissar neben mir stand und mir zuraunte, daßi c h die Tropfeni n den Tee der Fremden gießen sollte. Ich wehrte mich und sagte ihm, daß die Fremden nach Haus gehen und sagen würden, sie hätten bei Uyimo schlechten Tee getrunken. Doch er lachte mich aus und meinte, sie würden nichts von den Tropfen schmecken und im übrigen hätte ich zu tun, was er befiehlt. Nun, ich tat es. Sicher war es ein furchtbares Gift, denn die Fremden brachen sofort zusammen. Aber esi s t nicht meine Sache. Wenn die Polizei s e l b s t . . . " „Sie merkten nichts?" „Nichts. Arglos tranken sie und unterhielten sich, bis sie zusammenbrachen. Der Fremde, der wie ein junger Samurai der Weißen aussah, wollte noch aufspringen, aber es war schon zu spät. Sein junger Begleiter fiel mit ihm." „Hätte nicht er das Gift früher spüren müssen?" Der Wirt Uyimo schüttelte bekümmert den Kopf. „Sie sind klug bei uns. Ich mußte dem Großen mehr als die doppelte Zahl der Tropfen in den Tee gießen, so daß er so schnell erlag wie der andere. Wenn es nicht Fremde gewesen wären . . . " * Als Hal erwachte, fand er sich auf den Kissen eines Ruhelagers in einem Zimmer, das völlig die etwas nüchterne und unpersönliche Note eines europäischen Hotelzimmers trug. Von der Decke hing eine abgeschirmte Lampe, die gedämpftes elektrisches Licht ausstrahlte. Seine Füße zeigten
nach einer Tür, rechts hinter seinem Kopf befand sichi n mehr als einem Meter Entfernung ein verhülltes Fenster. An der gegenüberliegenden Wand, jenseits von Tisch und Stühlen, stand ein Ruhelager ähnlich dem seinen, auf dem sich der Körper seines Herrn streckte. Dieser Anblick rlfs den Jungen hoch. Er stemmte sich auf und lief dann etwas taumelig hinüber. Sun Koh lag wie ein Toter. Hal packtei h n kurzerhand bei der Schulter und schüttelte ihn kräftig. „Herr! Herr!" Sun rührte sich nicht. Hal beruhigte sich jedoch, als er merkte, daß der Puls langsam schlug. Der Herr war also nur noch betäubt. Früher oder später würde er wieder zu sich kommen. Er begann mit der Untersuchung des Zimmers. Die Tür war erwartungsgemäß verschlossen, aber sie sah ganz so aus, als könnte man die Füllungen ausbrechen. Oder lagen Stahlplatten dahinter? Er griff nach seinem Messer, konnte es jedoch nicht finden. Man hatte ihm alles abgenommen, was nach einer Waffe aussah. Und Sun Koh war es sichtlich nicht viel anders gegangen. Die Frage war wichtig genug, den Jungen zu veranlassen, sich wieder über seinen Herrn zu beugen. Tatsächlich, die Waffen fehlten. Nun kam es ganz darauf an, o b . . . " Gott sei Dank, die leistenförmige Verdickung am Gürtelschloß Suns war den Kerlen entgangen. Dann verstand er aber nicht, warum sie ihm seinen eigenen Gürtel abgenommen hatten. Oder... Er stürzte zu seinem eigenen Lager hinüber. Zu seiner freudigen Ü b e r raschung entdeckte er nun seinen Gürtel, der sich während seiner Betäubung gelöst hatte oder gelöst worden war
und nun zwischen Wand und Ruhebett lag. Die nadelfeine, in einem unerträglichen Blau aufblitzende Klinge von wenigen Zentimetern Länge, die i m oberen Querstück des Gürtelschlosses verborgen war, besaß einen unschätzbaren Wert. Zumal wenn man gefangengehalten wurde. Darüber verschwand der letzte Zweifel, als er sich das Fenster ansah. Vor Scheiben keine Spur.i n der Ö f f n u n g saß eine graue Stahlplatte. Erst nach diesen notwendigen Feststellungen fand Hal Zeit, sich die Dinge zurechtzulegen und darüber zu grübeln, wie sie hierher geraten waren. Lange Minuten blieben ihm dazu nicht, denn plötzlich öffnete sich die Tür. Der Kopf eines Japaners wurde sichtbar. Das Gesicht des Gelben hing einen Augenblick wie eine grinsende Melonei m Türspalt, dann verschwand es wieder und die Tür schnappte scharf ein. Wenig später erschien ein zweiter Japaner, jedoch erheblich würdevoller in seinem Auftreten als der erste. Er kam herein und zog die Tür hinter sich zu. Sicher war er ein Mann von Höflichkeit, denn er unterlieft es nicht, eine Verbeugung zu machen, bevor er in fehler- und akzentfreiem Englisch sagtet „Es wurde mir erwacht seien."
berichtet, daß Sie
Da er die Stimme gegen Ende des Satzes etwas hob, klangen seine Worte mehr nach einer Frage als nach einer Feststellung. Da Hal die Frage höchst überflüssig fand, erwiderte er wenig freundlich: „Sie sind falsch berichtet Ich bin noch nicht erwacht."
worden.
Der Japaner zuckte etwas mit seiner linken Augenbraue, eine Reaktion, die Hal noch öfter an ihm entdeckte. Seine
Stimme klang gleichmütig und geschmeidig wie zuvor. „Sie meinen sicher, daß Sie noch unter den leichten Nachwirkungen des Betäubungsmittels leiden. Das wird sehr schnell vergehen." „Sie hätten sich das Betäubungsmittel sparen sollen." ,,Es war leider unumgänglich notwendigi n Ihrem Interesse, um einen unnützen Kampf zu vermeiden." „Der wäre für uns sicher sehr nützlich ausgegangen", murmelte Hal. Der Japaner zog einen Stuhl vom Tisch weg und setzte sich darauf. „ W i r wollen uns etwas unterhalten", schlug er vor. Hal zwinkerte. „Vollkommen einverstanden, doch schlage ich einen kleinen Spaziergang vor. Es spricht sich besseri n frischer Luft. Finden Sie nicht, daß es hier abgestanden riecht? Wohl lange das Fenster nicht geöffnet?" „Kann sein", gab der Japaner willig zu. „Zu meinem größten Bedauern müssen wir jedoch hierbleiben. Es wird Jedoch nicht lange dauern, so dürfen Sie sich mit Ihrem Herrn des Genusses unbeschränkter Freiheit erfreuen und ganz nach Wunsch spazieren gehen." Der Junge setzte sich ebenfalls und schlug die Beine übereinander. „Schön, warten wir solange!" Der Japaner grinste freundlich. „Dieser erstrebenswerte Zustand wird natürlich davon abhängen, ob Sie mir ein paar Fragen beantworten." Hal schnippte mit den Fingern. „Aha, das habe ich mir beinahe gedacht. Und wenn nicht, dann wollen Sie uns hier ein bißchen festhalten, nicht wahr?" „Ich würde mir erlauben, meine Fragen in anderer Form zu wiederholen." „Das heißt?"
„Der Mensch spricht im Schmerz manches aus, was sonst seine Lippen verschweigen." Hal beugte sich vor. „Sie drohen mit der Folter? Wenn Sie sich da nur nicht schneiden. Sie wissen wohl nicht, daß wir alle beide geimpft sind?" Der Japaner blickte ihn einigermaßen verständnislos an. „Geimpft?" „Natürlich, geimpft", betonte der Junge ernsthaft. „Sie tun ja gerade, als ob Sie zum ersten Male davon hören?" Der andere wurde abweisend. „Dann sind Sie elend hinter dem Monde. Versuchen Sie es nur, dann werden Sie schon sehen, wie wir abgehen. Sie können das Grab vorher ausschaufeln. Bei der ersten Daumenschraube oder was Sie da sonst vorhaben, fallen wir um und sind tot. In unserem Blut steckt ein Serum, das gegen gewisse Schmerzen überempfindlich macht und den sofortigen Tod herbeiführt." Der Japaner glaubte nicht recht, aber er war doch unschlüssig. Nachdem er eine Weile überlegt hatte, entschied er sich. „Ich würde es auf einen Versuch ankommen lassen." „Viel Spaß dazu", knurrte der Junge. „Wer sind Sie eigentlich?" „Sie können mich Mituko nennen, falls Sie es wünschen." „Nicht übermäßig. Und was wollen Sie eigentlich?" „Eine Antwort." „Worauf?" Je kürzer die Sätze, desto schärfer und bestimmter die Tonart. Man war über das Vorpostengeplänkel hinaus und kam zur Sache. Und der Japaner zögerte nun auch nicht, den Ball zurückzuwerfen.
,,Wo befinden sich die Papiere des jungen Mynheer van Stramborg aus Java?" Hal Mervin hatte das Zeug zu einem Pokerspieler in sich. Er legte sich zurück und schüttelte dabei leicht den Kopf. Seine Worte kamen gedehnt und langsam wie einzelne Tropfen aus der Wasserleitung. ,,Die Papiere - des jungen Stramborg? Ja, du lieber Gott, vermutlich in seiner Brieftasche?" Die Züge des Gelben blieben unbewegt, nur seine linke Braue zuckte auf. „Ich sprach nicht von den Personalpapieren jenes Herrn, sondern von den Papieren, die seine Erfindung betreffen." Hal war lebhaftinteressiert. ,,Sleh da, hat er denn eine gemacht? Davon hat er doch gar nichts verraten, als wir vor kurzem bei ihm waren? Wird wohl nicht weit her sein, vielleicht ein versenkbarer Kragenknopf oder so etwas Kaltes, nicht wahr?" Mituko, wie er sich nannte, blieb unerschütterlich ernst. ,,Die Erfindung betraf eine neue Art von Flugzeugen." „Nicht möglich", staunte der Dunge, um gleich darauf verächtlich abzuwinken. „Doch irgendein Humbug. Auf dem Gebiete gibt es jeden Monat eine neue Lieferung. Flugzeuge - pah, als ob wir davon nicht gerade genug hätten." Der Japaner kreuzte die Arme. „Sie bemühen sich unnötig, abzuleugnen, was uns bekannt ist. Sie wissen um die Papiere, denn Ihr Herr hat sie i n Besitz." Hal grinste. „Wenn Sie sich da nur nicht schen. Ich bin die ganze Zeit über ihm gewesen und habe nichts merkt. Wie soll er denn zu ihnen kommen sein?"
täubei gege-
„Er nahm sie unsern Beauftragten ab, als diese sie im Flugzeug von Surabaja nach Tokio bringen wollten." Es war ganz gut für Hal, daß er seiner Rolle gemäß keinen Anlaß hatte, sein Staunen zu verbergen, denn das, was der Japaner da mit der Bestimmtheit innerster Überzeugung behauptete, setzte ihn tatsächlich in Verwunderung. „Da biste platt", murmelte er. „Sie wollen sagen, daß Ihre Leute erst die Papiere gemaust haben und daß sie ihnen dann wieder gestohlen wurden?" „Gewaltsam entrissen wurden", verbesserte Mituko, „und zwar von Ihrem Herrn." Hal rümpfte die Nase. „Hm, und damit rechnen Sie wohl nicht, daß Sie von Ihren Leuten beschwindelt worden sein könnten?" „Ein Japaner belügt seinen Samurai nicht", wehrte der andere nicht ohne Stolz ab. Hal lehnte sich wieder vor. „Was sind Sie? Ein Samurai? lch denke, Sie gehören zur Behörde oder zum Kriegsministerium, weil Sie sich für Flugzeugpläne interessieren?" Wie ein spöttisches Lächeln huschte es um den Mund des Mannes. „Keine japanische Behörde würde sich die Freiheit nehmen, Leute ohne Grund gefangenzunehmen. Ich bin hier als Privatperson." „Papperlapapp", erwiderte Hal burschikos, „das können Sie Ihrer Großmutter erzählen. Wenn etwas Mulmiges zu erledigeni s t , schieben die Behörden eine Privatperson vor." Mituko machte eine kleine Handbewegung. „Esi s t nicht wichtig. Wollen Sie mir bitte meine Frage beantworten?" Hal machte sich steif. „Das habei c h doch bereits getan? Ich weiß nichts von den Papieren, von denen Sie sprechen."
Der Japaner erhob sich. ...Dann sehei c h mich veranlaßt..." Unvermutet sprang Sun Koh von seinem Lager auf. Er war gleich zu A n fang des Gespräches aufgewacht, hatte aber darauf verzichtet, sich bemerkbar zu machen. Die Sätze, die hin und her gingen, gabeni h m genügend Aufschlüsse. Es blieb nur noch ein Rest dadurch, daß er das Gesicht des Japaners nicht hatte beobachten können. „Einen Augenblick bitte", bat er höflich. Mituko verlor weder Fassung noch Beherrschung, sondern verneigte sich höflich. ,,Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen dienen zu können." ,,Sie stellten einige Fragen, die die Erfindung des jungen Stramborg betrafen. Sie waren anscheinend der Meinung, daß ichi m Besitze jener Papiere bin?" „Ich bin es", betonte der andere. „Siei r r e n sich", erwiderte Sun kühl. „Nichti c h habe die Papiere, sondern Sie. Ihre Leute raubten sie, wobei sie sich nicht vor einem Mord scheuten." „Sie wurden ihnen wieder abgenommen." „ V o n mir nicht." „Von Ihnen." Sun Koh wurde aus dem Mann nicht klug. Niemand wußte besser als er, daß die Papiere nicht in seiner Hand waren, und doch machte der andere den Eindruck, als spräche er die Wahrheit. „Sie lügen", sagte er kalt. „Die Papiere sind bei Ihnen. Nur erklären Sie mir, warum Sie uns gefangen nahmen?" „Um von Ihnen das Versteck der Papiere zu erfahren", kam kurz und bündig die Antwort. Das war es. Sun Koh zweifelte nicht mehr. Dieser Mann handelte aus der Überzeugung heraus, aus der er sprach.
Das bedeutete . . . ? Das bedeutete, daß sich die Papiere in den Händen anderer befinden mußten. Sun Koh atmete tief. „Würden Sie mir bitte erzählen, auf welche Weise Ihren Leuten die Papiere wieder abgenommen wurden?" „ G e r n " , erklärte der andere bereitwillig. „Sie flogen auf Formosa zu, als über ihnen ein schnelleres Flugzeugi n gleicher Fahrtrichtung erschien, das ihnen den Befehl zum Wassern schickte. Der Befehl wari n einer Chiffre abgefaßt und mit einem Geheimzeichen begleitet, die beide nur wenigen Leuten bekannt sind. Sie mußten niedergehen. Die fremde Maschine, übrigens ein unbekannter Typ, hielt neben der ihren. Zwei Männer waren darin. Der eine schwamm herüber und forderte die Papiere. Da er alle Zeichen kannte und behauptete, im Auftrag zu kommen, um die Papiere schneller in Sicherheit zu bringen, wurden sie ihm ausgehändigt. Dann entfernte sich die fremde Maschine." Sun Koh schüttelte den Kopf. „Und jener Mann solli c h gewesen sein? War es denn mein Flugzeug?" „Keins von beiden, aber es war einer von Ihren Leuten und eins von Ihren Flugzeugen." „ W i e können Sie das behaupten?" Der Japaner sah ihn mit zusammengedrückten Augen an. „Es waren bestimmt keine englischen Agenten, und außer diesen sind nur Siei n t e r e s s i e r t . Wir haben unsere Ohren auch in Java." „ W i e sah jener Mann aus?" Der andere hob die Schultern. „Kann man einen Nackten beschreiben? Sein Kopf war durch eine Kappe aus Gummi verhüllt, doch trug er einen dünnen Bart und hatte ein dickes Gesicht. An seiner rechten Hand trug
Der Junge verstand sofort und schlener einen Ring mit einem Tierbild, das derte unauffällig zur Tür, während leider nicht genau erkannt wurde." sich Sun Koh nach der entgegengesetzSun unterdrückte mit Mühe einen ten Seite bewegte. ' Laut der Überraschung. Wie eine Knips - der Raum war dunkel. Vision stieg der Eisbäri m Goldreif an der Hand des Sektenmissionarsi n ihm Nichts rührte sich draußen. Sun Koh hatte richtig berechnet. Wenn eine auf. Sollte jener Mann doch in die Chance war, daß man sie unbeobachAngelegenheit verwickelt sein? tet ließ, so jetzt, unmittelbar nachdem „Ihr Verdacht gegen mich steht also der Japaner sie verlassen hatte. Die auf sehr schwachen Füßen", sagte er Beobachter sahen sich von Ihrer Pflicht nach einer kleinen Pause ruhig. „Ich momentan befreit und gingen mindedarf wohl annehmen, daß unserer Freistens für kurze Zeit von Ihren Löchern heit nichts im Wege steht, wenn ich weg, um die Muskeln zu lösen. Ihnen versichere, daß uns der Aufenthalt der Papiere unbekannti s t , und daß jene Leute nichti n meinem Auftrag handelten." Mituko verneigte sich. „Selbstverständlich, wenn Sie uns das unter Bedingungen versichern, unter denen der Mensch unbedingt die Wahrheit spricht." Sun zog die Brauen zusammen. „Das heißt, daß wir weiter Ihre Gefangenen bleiben und Sie uns foltern wollen?" „Es ist mir leider nicht möglich, Ihre Frage zu verneinen." Sun nickte. „Ich erwartete es, doch um so mehr bewundere ich Ihre Kühnheit, daß Sie sich alleini n die Nähe zweier Menschen wagen, denen Sie Schmerz zuzufügen gedenken." Der Japaner lächelte. „Sie überschätzen mich. Auf Ihr Herz zielen drei schwarze Mündungen, die Ihnen bei einiger Unvorsichtigkeit den Tod bringen." „Ihre Bemühungen um uns sind rührend", erwiderte Sun kalt. Mituko verbeugte sich zum letztenmal und ging schweigend hinaus. Die Tür hatte sich kaum geschlossen, als Sun flüsterte: „Der Schalter, Hal, dann zum Fenster. Langsam."
Während Hal durchs Zimmer zum Fenster schlich, hörte er bereits ein feines, langgedehntes Zischen. Es war das Geräusch, das die feine Klinge von der zwanzigfachen Härte des Stahls verursachte, wenn sie durch gewöhnlichen Stahl hindurchschnitt. „Hoffentlich brennt nicht gerade eine Lampe vor dem Fenster", hauchte Sun, wahrend er den letzten Querschnitt zog. „Und hoffentlich keine Eisenstäbe." Beides war nicht der Fall. Als das stählerne Rechteck zurückfiel, zeigte sich dahinter ein ganz gewöhnliches Fenster, gegen das der ganze schwache Schein einer entfernten Lampe fiel. Das Fenster lag im zweiten Stock eines steinernen Hauses, aber dafür lag dieses inmitten eines Parkes, dessen Bäume bis dicht heranreichten. „Auf den Rücken", befahl Sun und riß gleichzeitig die Wirbel herum. Schon klammerte sich Hal wie ein Affe auf seinen Rücken. Irgendwo hinter den Wänden des Zimmers klangen Rufe auf. Jetzt schwang sich Sun auf das Fensterbrett, verharrte eine Sekunde und sprang. Die doppelte Last schlug auf dünne Ä s t e , er griff mit stählernen Händen nach einem stärkeren Zweig und hemmte den Sturz. Der Zweig brach, tiefer sackten die beiden, doch
schon bog sich wieder ein starker Ast widerwillig, bevor er nachgab. Dann federte Sun unten auf. Hal stand wieder auf eigenen Füßen. Wie flüchtige Windhunde jagten sie zur Seite, dort wo der Park an die Strafte stieß. Eine Mauer grenzte ihn ab, drei Meter hoch. Sun drehte sich halb, faßte den hinter ihm laufenden Jungen. „Keine Scherben, faß zu." Ein Ruck. Hal flog wie ein gebeuteltes Kaninchen in die Höhe, landete mit allen Vieren auf der Mauer und ließ sich sofort auf der andern Seite hinunter. Sun Koh sprang ihm aus dem stand wieder auf eigenen Füßen. Wie Vor ihnen lag eine Nebenstraße in geringer Nähe des Mikado-Palastes. Sie war frei. Unverfolgt und unbelästigt ten sie in ihr Hotel.
gelang-
4. Einen halben Tag später. Hal Mervin stand am Fenster und beobachtete unentwegt die Straße. Leider lieft sich der Missionar mit dem Eisbärenring nicht sehen. Sun Koh saß am Tisch und beendete ein ausführliches Gespräch mit Nimba. Plötzlich klangen draußen auf dem Gang gedämpfte Schritte auf. Ein Mann ging durch den Gang. Das war nicht weiter der Rede wert. Doch merkwürdigerweise hielt er vor Suns Tür an. Einige unbestimmte Geräusche, dann steckte er einen Schlüssel ins Schloß. Der Schlüssel erfüllte seine Bestimmung nicht, eine Tatsache, die durch eine halblaute, unwillige Bemerkung quittiert wurde. Es war auch ein bißchen viel verlangt, denn die Tür war überhaupt nicht verschlossen. Auf diese Vermutung schien jetzt auch der Mann da draußen zu kom-
men, denn er drückte die Klinke nieder, so daß sich die Tür öffnete. Mit einem befriedigten „ A h " trat er ein. Er war sehr überrascht, als er Sun Koh und Hal entdeckte. „Nanu", murmelte er betroffen, „ w i e kommen Siei n mein Zimmer? Oder sollte ich mich in der Nummer geirrt haben?" „Sehr wahrscheinlich", erwiderte Sun mit mäßigem Interesse. Der Eingedrungene sprach nicht nur englisch, sondern spiegelte auch in seinem ganzen Äußeren den reisenden Engländer wider, und zwar von jener Sorte, bei der Kultur und Titel noch etwas nach dem Gelde riechen, mit dem sie erworben wurden. Selbstverständlich verriet die Kleidung den Londoner Schneider, das Gesicht war breit, aber dabei fest und energisch bis auf die etwas zu vollen Backen. Die Konturen wurden teilweise durch einen tadellos gepflegten, altertümlichen Bart verdeckt, die grauen Haare waren glatt zurückgestrichen. „Dann entschuldigen Sie bitte", meinte der Engländer, der peinlich berührt schien. „Deshalb schloß mein Schlüssel auch nicht. Übrigens haben wir uns nicht schon mal gesehen?" „Nicht daßi c h wüßte", gab Sun kühl zurück. Der andere schüttelte langsam den Kopf, als bereite ihm die Annahme einer Täuschung erhebliche Zweifel. „ A h , ich weiß", erklärte er dann lebhafter. „Waren Sie nicht vor kurzem in Surabaja?" In Suns Augen erschien ein kurzes Blitzen. „Allerdings - Ich wari n Surabaja, könnte mich aber nicht entsinnen, Ihnen dort begegnet zu sein." Jener hob die Schultern.
„Leicht erklärlich. Man begegnet sehentlich ein, um das Gespräch auf manchem Menschen, den man überStramborg bringen zu können. Die Rolle sieht. Übrigens traf ich da heute einen dieses Mannes ist mir unklar. Er eringemeinsamen Bekannten aus der Stadt nert mich an jemanden, aber dieser Surabaja, der Sie sicher aufsuchen muß wesentlich anders . . . ah - das wollte, - den jungen Mynheer van wäre eine M ö g l i c h k e i t . . . " Stramborg." „Haben Sie ihn erkannt, Herr?" fragte Hal. Jetzt erhob sich Sun Koh und ging „Noch nicht, aber ich habe eine Verlangsam auf den Engländer zu. mutung. Wenn ich die rechte Hand des "Der junge Stramborg isti n Tokio? Mannes noch einmal sehen könnte, Wo trafen Sie ihn?" würde ich vermutlich Gewißheit beDer andere trat einen Schritt zurück sitzen." und räusperte sich. „Er trug keinen Ring." "Hm, hm, auf dem Flugplatz. Er „Eben, und leider habe ich nicht landete gerade. Übrigens eine merkscharf genug beobachtet, um zu sawürdige Sache, äh, hm, sehr merkgen, ob er seine Ringe nur ablegte. würdig." Manches an ihm erinnert mich an den "Wovon reden Sie?" Missionar, aber andernteils sind die "Äh, i c h wechselte nur ein paar beiden Erscheinungen so durchaus geWorte miti h m und er verriet mir, gensätzlich, daß es schwer wird, in daß er hierher fahren wollte. i c h ihnen eine Person zu sehen. Der Unbefragte dann unten nach ihm, aber er kannte müßte ein hervorragender Chawar erstaunlicherweise noch nicht einrakterdarsteller sein." getroffen, obgleich er mir lange voraus war. Offengestanden, ich bin et„Wasi s t mit Mister van Stramwas besorgt um ihn, denn er betonte borg?" extra, dafs er ohne Aufenthalt das Sun Koh griff zum Telefon. Hotel aufsuchen wollte. Man verschwin„Das werden wir gleich feststellen. det gar zu leicht in Tokio, wenn es geDer Flugplatz muß ja schließlich Auswissen Leuten nicht gefällt." kunft geben." „Und wenn sie dort mit unter der Sun Koh sah dem andern forschend in Decke stecken?" die Augen. "Sie nehmen an, dafs der junge Stram„Kaum anzunehmen, zumal wenn van borg entführt sein könnte?" Stramborg durch Zeugen auf dem Flugplatz gesehen wurde. D e Japaner sind Der Engländer bewegte in einer vorsichtig genug, sich keine offizielle dürren Geste abwehrend seine Hände. Blöße zu geben. Alles, was sie auf „Ich nehme nichts an, erwähnte es gesetzwidrige Weise erlangen wollen, nur, weil das Gespräch so zufällig auf erreichen sie durch sogenannte Privatihn kam. Doch nun entschuldigen Sie leute." vielmals mein Eindringen. Good bye!" Die Anfrage beim Flugplatz ergab Er knickte den Oberkörper zu einer denn auch die bestimmte Auskunft, steifen Verbeugung ein und stelzte daß der junge Mynheer van Stramborg hinaus. vor nahezu zwei Stundeni n seiner eiSun wandte sich nachdenklich an genen Maschine gelandet sei und den den Jungen. Platz verlassen habe, um in die Stadt „Der Mann log selbstverständlich. zu fahren. Ich glaube, er drang nur deshalb ver-
Eine zweite Rückfrage bei der Hotelleitung ergab ferner, daß für den Gesuchten telegraphisch Zimmer bestellt seien, daß man aber von der Ankunft noch nichts bemerkt habe. „Also auf der Fahrt zum Hotel verschwunden", faßte Sun das Ergebnis zusammen. „Ich fürchte, unsere lieben Freunde von heute nacht haben die Hände im Spiel. Vielleicht hoffen sie, daß ihnen Stramborg ein neues Original seiner Papiere anfertigen wird. Soviel Zeit haben sie schon. Man müßte nur wissen, wo sie ihn hingeschleppt haben." Hal überlegte krampfhaft. „Vielleicht gar in das gleiche Haus?" Sun hob die Schultern. „Eine Mutmaßung, für die es keinen besonderen Anhalt gibt als den, daß auch solche Leute nicht allzuviel Quartiere haben können. Herein!" An der Tür hatte es geklopft. Ein Page trat ein und überreichte einen Brief ohne Aufschrift. Sun hieß ihn warten und riß den Umschlag auf. Er las: „Stramborgi s t i n dem gleichen Hause, in dem Sie sich während der letzten Nacht befanden. Wenn Sie Punkt elf Uhr nachts auf der Vorderseite eindringen, könnte es gelingen, i h n herauszuholen. Ich empfehle Ihnen, im zweiten Stock zu suchen und nicht allzu zartfühlend zu sein. Ihre Wächter von gestern würden heute gern Ihre Mörder sein, da sie hoffen, Ihr Ziel auch auf andere Weise zu erreichen." * Damit war das Schreiben zu Ende. Die Unterschrift fehlte. „Wer hat Ihnen das Schreiben übergeben?" fragte Sun den Pagen. „Ein unbekannter Herr", gab dieser bereitwillig Auskunft. „Er sah aus wie ein Missionar, wissen Sie, mit schwar-
zem Hut und schwarzen Kleidern, soganz . . . " „Danke, das genügt. Und was sagte er?" „Er nannte Ihre Zimmernummer und befahl mir, das Schreiben abzugeben. Auf Antwort sei nicht zu warten, doch müßte ich vermutlich erst ein paar Fragen beantworten. Der Herr sei ein bißchen - neugierig." Sun winkte ihn hinaus. „Das kann eine Falle sein", meinte Hal bedenklich, alsi h m sein Herr den Brief reichte. Sun lächelte. „Alle Chancen dafür, wenn nicht zwei Gegengründe beständen. Erstens warnt jener Mann nachdrücklich vor den Japanern und macht darauf aufmerksam, daß diese unser Leben nicht mehr schonen werden. Zweitens kommt das Schreiben von jenem, der meiner Meinung nach den Japanern die Papiere abgenommen hat, also bestimmt nicht mit Ihnen unter einer Decke steckt." „Trotzdem hat er allen Grund, uns ebenfalls als Feinde anzusehen, denn er weiß, daß wir hinter der Erfindung her sind. Vielleichti s t das ein bequemes Mittel, um uns aus dem Wege zu räumen." „Dann wäre es unklug, zu warnen." Hal schüttelte den Kopf. „Offengestanden, Herr, wenn ich Sie zu etwas reizen wollte, würde ich auch schreiben, daß Gefahr dabei ist, denn dann lassen Sie sich bestimmt nicht abhalten." Sun lachte. „Sieh da, Hal, du zeigst verblüffende Erkenntnisse. Trotzdem, ganz so mißtrauisch bin ich nicht." „Warum holt er Stramborg nicht allein heraus?" „Das ist am leichtesten zu erklären. Er wird allein sein. Zu dritt gelingt es besser als allein."
Hal horchte auf. „Zu driltt? Sie denken ..." „Daß jener Mann i n der Nähe sein wird und einzugreifen denkt, sonst hätte die Zeitangabe wenig Sinn." „Vielleicht will er gar auf der anderen Seite eine Scheibe einpochen oder solche Kinkerlitzchen, um die Bewohner des Hauses abzulenken?" „Warten wir's ab." * Hal Mervin hatte wenigstens annähernd das Richtige getroffen. Als sie zur angegebenen Zeit an der Vorderfront des Hauses ankamen, drang der dumpfe Knall einer Explosion aus dem Park zu Ihnen. Sie merkten, wie es daraufhin in verschiedenen Zimmern lebendig wurde. Lichter flammten auf und verlöschten wieder, Stimmen ertönten, die verrieten, daß die Bewohner zur Rückseite eilten. Es war genau elf Uhr, als Sun über die Strafte eilte und einen bereitgehaltenen Steini n eines der unteren Fenster warf. Das Klirren des Glases ging in den Geräuschen an der Hinterseite verloren. Hal stand schon sprungbereit. Sun lupfte ihn etwas an. Im Nu stand er oben, griff durch das Loch hindurch und wirbelte auf. Dann sprang er i n den Raum, unmittelbar gefolgt von Sun Koh. Dieser übernahm nun wieder die Führung. Das Zimmer war unverschlossen. Die Tür führte auf einen Flur. Ein Stück voraus ging von diesem eine Treppe nach oben. Auch der Fluri m zweiten Stockwerk war leer, aber es mündeten eine ganze Reihe von Türen aufi h n . Da Sun nicht genau wußte, wieviel Zeit ihm verbleiben würde, warf er sich gegen die nächste und brach sie mit seinen Schultern auseinander. Hal lief mittlerweile
von einer Tür zur andern und schlugmit dem Kolben der Pistole kräftig gegen das Holz. Der Klang verriet ihm an zwei Türen den Stahlschutz. Durch einen Zuruf machte er seinen Herrn aufmerksam, derinzwischen den ersten Raum leer gefunden hatte. Sun eilte heran. In einer der Türen steckte der Schlüssel. Das Zimmer war leer. Es war übrigens das gleiche,i n dem die beiden in der vergangenen Nacht gelegen hatten. Die zweite Tür mußte aufgeschnitten werden. Es dauerte nur Sekunden, so stürzte die Füllung nach innen. In dem Raum brannte das Licht. Auf einem Diwan lag der junge Stramborg. Er rührte sich nicht. Betäubt! Sun hob ihn mit einem Griff von. seinem Lager. Hal schlüpfte voraus, nahm den Reglosen in Empfang. Dann lud ihn Sun auf die Schulter. Die Bewohner schienen jetzt von der Rückfront allmählich zurückzukehren. „Lebhaft, Hal", gebot Sun, „den gleichen Weg." Wie flüchtige Wiesel sprangen sie über die Treppen zurück. Im ersten Stock wurden sie von drei Männern, die von der andern Seite her über den Flur kamen, bemerkt. Während sie die Treppe weiter nahmen, hörten sie die Alarmrufe. Die Japaner waren bestimmt nicht langsam. Als die beideni m unteren Flur auftauchten, sprangen ihnen dort ebenfalls schon zwei Mann entgegen und hoben die Pistolen. „Die nächste Tür", warf Sun dem Jungen hin und griff schon mit einer erstaunlich schnellen Bewegung zur Hüfte. Im Doppelschlag peitschten seine Schüsse hinaus. Die Kugeln schlugen
den Japanern die Waffen aus den Händen. „Hier, Herr!" schrie Hal und stürmte in das Zimmer hinein, das er offen gefunden hatte. Sun erreichte ihn gerade, als er die Fensterflügel aufriß. Stramborgs Körper flog herum, als sollte er hinausgeworfen werden. Aber Sun nahm ihn nur handlicher vor sich, duckte sich springend in den Rahmen hinein und fiel ab. Während Hal nachfolgte, kam von der Seite her eine schwarze Gestalt mit flatternden Rockschößen. Der geheimnisvolle Missionar. Er streckte die Arme nach Stramborg aus und stieß hastig heraus. „Kommen Sie, ich will Ihnen tragen helfen. Gleich rechts um die Ecke der zweiten Nebengasse wartet ein Wagen." Ü b e r Suns Gesicht ging der flüchtige Schimmer eines Lädheins. „Ausgezeichnet, aber die Last wird mir nicht zu groß. Im Gegenteil, ich glaube..." Er drehte sich blitzschnell und hatte auf einmal den Missionar wie ein Paket unter seinen Arm geklemmt, und zwar so nachdrücklich, daß dieser seine Arme nicht bewegen konnte. "... ich kann Sie auch noch mit befördern", vollendete Sun nach der kurzen Pause, die sein Griff benötigt hatte. Dann wandte er sich an den Jungen. „Los, Hal, voraus!" Hal sauste los, was seine Beine hergaben, aber Sun Koh hielt trotzdem mühelos mit ihm Schritt. Seine doppelte Last schien ihn nicht mehr zu stören als andere Leute die Armbanduhr. Peng. Der
erste
Schuß zischte
hinterher.
„Dichter an der Wand entlang", riet Sun im Laufen.
„Sie sind verrückt", stöhnte der Missionar von unten herauf. „Lassen Sie mich los, damit Sie Stramborg schneller in Sicherheit bringen können." „Ist es Ihnen nicht schnell genug?" erkundigte sich Sun, ohne seine Geschwindigkeit zu mäßigen. „Ich werde mich wehren", wütete der andere. „Wehren Sie sich", erlaubte Sun, drückte aber gleichzeitig seinen Arm enger an, so daß der andere das Gefühl hatte, in eine hydraulische Presse geraten zu sein. Er japste, als Sun nachließ, und versuchte es von einer andern Seite. „Ich wehre mich ja gar nicht, aber es ist doch Torheit, daß Sie mich mitschleppen. Ich habe es für meine Christenpflicht gehalten, Ihren behilflich zu sein, als ich erfuhr, wie hier die Dinge standen. Und zum Dank dafür behandeln Sie mich wie einen Feind?" „Aber durchaus nicht", lehnte Sun den Verdacht ab. „Ich möchte nur nicht undankbar genug sein, Sie zu Fuß laufen zu lassen und außerdem . . . " „Außerdem?" „Haben Sie vergessen, mir die Papiere über die Stramborgsche Erfindung zu übergeben." Darauf fand der Missionar nur ein kurzes Wort der Erwiderung, und das war so unchristlich wie nur möglich. Zwei oder drei Kugeln waren der ersten gefolgt, dann hatte die Schießerei aufgehört. Sie hatte auch keinen Zweck mehr, denn schon jagten Sun und Hal in die Straße hinein, die ihnen der Missionar angegeben hatte. Das Auto stand bereit. Der Fahrer war ein Japaner, in diesem Falle ein Glück, denn er zeigte nicht das geringste Interesse dafür, daß sein Auftraggeber unter etwas seltsamen Umständen wieder eintraf. Er fuhr los, als Sun es ihm befahl.
Bender seufte tief, nachdem er in seine Irgendwelchen Schwierigkelten auszuEcke gedrückt worden war. setzen. Sie verkennen mich völlig. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, trage „Fahren Sie wenigstens nicht ausgeich Ihnen gern den jungen Stramborg rechnet zum .Imperial'!" mit hinein. „Warum nicht?" Jener schüttelte den Kopf. Sun nickte. „Können Sie sich nicht denken, was „Den Wunsch willi c h Ihnen gern' nun kommt? In einer halben Stunde gern erfüllen. Fassen Sie a n ! " oder früher ist ein Aufgebot von PoEs wäre zwar leichter füri h n gelizei zur Hand und sperrt uns wegen wesen, den Betäubten, der jetzt a l l Hausfriedensbruch, Überfall und ähnmählich zu sich kam, allein zu tragen. lichen Dingen ein. Dann hat sich der Aber erstens konnte er den andern daFall für Sie wie für mich verflucht erdurch beschäftigen, und zweitens wurde ledigt." der Transport weniger auffällig. Es sah nun fast aus, als hülfen sie einem „Hm, Ihre Begründung ist nicht Betrunkenen liebevoll heim. schlecht", anerkannte Sun. „Im übrigen Stramborg kam oben unter den Beliegt es auch nichti n meiner Absicht, mühungen Suns sehr schnell zu sich. zum Hotel zurückzukehren." Bender half mit und versuchte nicht „Gottes Segen über Euch", murmelte auszubrechen. Er merkte wohl, daß er Bender befriedigt. auch nicht eine Sekunde unbeobachtet Sun beugte sich vor. blieb. „Nach Kawasaki." Der junge Holländer war freudig Das ist ein kleinerer Ort ungefähr überrascht, als er Sun über sich geauf halbem Wege von Tokio nach Yobeugt sah. kohama. Die Entfernung ist gering, so daß der Wagen sehr bald sein „Sie sind es?" fragte er mühsam. Ziel erreicht hatte. Beim ersten Hotel Sun nickte. an der Straße ließ Sun anhalten, ent„ W i r haben Sie aus den Händen der lohnte den Führer, gab ihm jedoch A n Japaner befreit. Warum waren Sie so weisung, weiter zur Verfügung zu töricht, nach Japan zu kommen?" bleiben. Es war nicht nötig, daß der „Ich wollte Ihnen helfen", erwiMann gar zu schnell in die Hände derte Stramborg leicht verlegen. Neugieriger geriet. „Haben Sie die Papiere wieder?" „Nein, sie wurden den Räubern Während Hal auf seine Weisung ausschon auf dem Wege nach Japan wiestieg, um ein Zimmer zu bestellen, der abgenommen, und zwar von dritwandte sich Sun an Bender. ten, mit denen wir beide nicht ge„Ich habe mit Ihnen einiges zu rechnet hatten. Dieser Herr wird uns sprechen, aber nicht hier, sondern oben wohl nähere Auskünfte geben können." im Zimmer. Sie gehen frei voraus, aber ich empfehle Ihnen, keine UnklugBender zog eine mißvergnügte Miene. heiten zu begehen, wenn Sie nicht „Ich? Wieso ausgerechnet ich?" Ihrer Gesundheit schaden wollen." Sun sah ihm fest in die kühlen grauen Der Missionar von eigenen Gnaden Augen, in denen durchaus nichts von grinste. der Verwunderung stand, die die „Für wen halten Sie mich? Ich bin Stimme heuchelte. ein friedlicher Diener Gottes, der nicht im „Weil Sie es waren, der den Jageringsten den Wunsch hat, sich panern die Papiere abnahm. Sie wer-
den wissen, daß sie mir gehören, und aus dem Feuer holt und dann geich hoffe, daß Sie vernünftig genug duldig warten muß, bis Gras über sind, klare Auskünfte zu geben." seinen Leichnam gewachsen ist." Der andere hob die Schultern und „Sie arbeiten für einen andern?" meinte vorsichtig; Der falsche Missionar pendelte mit ,,Hm, was ich weife, sollen Sie erdem Kopfe hin und her. fahren. Doch wollen Sie mir nicht „Sie können es so auffassen, Herr." verraten, worauf sich Ihr so bestimmt „Reden Sie bestimmter", bat Sun ausgesprochener Verdacht stützt?" mit leichter Schärfe. „Für wen sind Sie Sun Koh griff nach der Hand des tätig? Wer ist Ihr Auftraggeber?" Missionars und wies auf den Ring. Bender kratzte sich am Ohr. „Diesen immerhin wohl einzigartigen „Eigentlich ist das ja GeschäftsgeRing sah der Mann, dem die Papiere heimnis, aber Sie sollen nicht sagen, abgenommen wurden. Den gleichen daß i c h Ihnen nicht entgegengekomRing sah mein Diener Nimba, als Sie ihmmen bin. Sehen Sie, die Sachei s t so, in Surabaja halfen. Genügt das?" daß ein gewisser Nicholson die Nase von der Welt im allgemeinen und von „Völlig. Irgendwo im Gehirn sitzt den Menschen im besonderen gründeben immer ein Stück Schafsköpfiglich satt hatte. Er zog sich in die Einkelt. Was wollen Sie wissen?" samkeit zurück und suchte sich als „ W o befinden sich die Papiere?" Wohnort ausgerechnet eine Stelle unPrompt kam die Antwort. serer Erdkugel aus, diei n unmittel„Auf dem Südpol." barer Nähe des Südpols liegt. Sun zog die Brauen zusammen. „Soll das ein Witz sein?" Schnurrig, nicht wahr?" „Mein vollster Ernst." „Sehr schnurrig", bestätigte Sun beißend. „Bitte?" „Trotzdem", fuhr Bender überlegsam Bender breitete die Hände aus, als fort, „der Mann ist gar nicht so wollte er beweisen, daß er sie in der dumm, wie es auf den ersten Hieb bekannten Unschuld gewaschen habe. klingen mag. Er hat sich dort unten „Tja, ich kann Ihnen beim besten tadellos eingerichtet und lebt recht Willen nichts anderes sagen. Die Pabehaglich." piere befinden sich auf dem Südpol oder, ganz genau gesagt, auf dem „Bei 50 Grad Kälte?" Wege dorthin. Wenn Sie sie wieder „Keine Spur. Sie müßten mal dort haben wollen, müssen Sie sich schon hinkommen, da würden Sie erstens dort hinunter bemühen." staunen und zweitens Ihre Jacke ausziehen, so warm ist es dort. Sie werden Sun Kohs Miene war jetzt undurchsich schon denken können, was ich dringlich. meine - Vulkan und so weiter. Und . „Was sollen diese Scherze? Wer dann hat er eine ganze Masse praksind Sie?" tischer Neuheiten dort, für die Sie sich „Bender. Ralph Bender, wenn Ihnen sicher lebhaft interessieren würden." mit meinem Vornamen gedient ist." Da Bender schwieg, fragte Sun weiter. „Und welche Rolle spielen Sie in „Und jener Nicholson soll meine dieser Angelegenheit?" Papiere haben?" Bender grinste „Soi s t es. Er kam durch einen Zu„Ich bin gewissermaßen das unschulfall i n die Sache hinein und hielt es dige Lamm, das andern die Kastanien
für besser, sie in Sicherheit zu bringen. Ich glaube aber, wenn Sie ein offenes Wörtchen miti h m reden, rückt er sie schließlich wieder heraus." ,,Sie machen mir Hoffnungen", stellte Sun mit leichtem Spott fest. „Würden Sie mir bitte sagen, durch welchen .Zufall' Ihr Herr oder Auftraggeber in die Angelegenheit verwickelt wordeni s t ? " Bender zog ein geheimnisvolles Gesicht und zögerte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er meinte; „Hm, ich kann's Ihnen ja verraten, aber da müßte erst der Junge hinausgehen." Sun sahi h n erstaunt an, gab aber dann Hal einen Wink. „Veranlasse, daß der Fahrer zu essen bekommt." Hal verschwand. „ N u n " , forderte Sun Koh auf. Bender nickte. „Es ist bloß deshalb, damit Sie nicht stundenlang hier aufgehalten werden. Sehen Sie . . . " Sun Koh hatte die Hand Benders, die an einem seiner Rockknöpfe spielte, nicht weiter beachtet. Er sank ebenso wie Stramborg um, ohne sich Rechenschaft über die Ursache geben zu können. Bender fing ihn auf und ließ ihn langsam abgleiten. Dann erst warf er den nutzlos gewordenen Knopf mit seiner wirksamen Füllung, die freilich jetzt verschwunden war, in die Ecke. Er mußte eine ausgezeichnete Lunge haben, denn er atmete immer noch gleichmäßig aus und beeilte sich dabei noch nicht einmal, zur Tür z.u kommen. Ruhig schritt er durchs Zimmer und verließ es. Draußen auf dem Gang wurde er freilich lebhaft. Zwei Minuten später kamen gleich drei Bedienstete des Hotels mit kaltem Wasser nach oben gestürzt. Kurz hin-
ter ihnen folgte Hal. Er fand seinen Herrn und Stramborg betäubt vor. Unter der Einwirkung des Wassers erholten sie sich nach fünf Minuten wieder vollkommen. „Dieser Bender ist fort", berichtete ihm Hal. „Aber anständig war er, denn er schickte mir einen Mann, der mir sagen ließ, daßi c h nach oben kommen sollte. Und ein paar Leute mit Wasser schickte er auch." „Er hat mich überlistet", stellte Sun ohne große Bewegung fest. „Sein Betäubungsmittel war hervorragend. Übrigens schmeckt das Wasser recht eigenartig." Er winkte einen der Diener, die noch im Hintergründe warteten, heran und befragte ihn. So erfuhr er, daß Bender einige Wasserkrüge hatte füllen lassen und dann aus einer länglichen Röhre Tropfen hineingetan hatte. Darauf hatte er die Leute nach oben geschickt mit der Weisung, die Ohnmächtigen nur mit diesem Wasser zu netzen und ihnen davon zu trinken zu geben. „Ein merkwürdiger Gegner", sagte Sun sinnend, „der sich um unser Wohlbefinden sorgt. Doch - unsere Zeit drängt. Fertig machen, ich will nur Nimba noch Nachricht geben." 5. „Sehen Sie, Herr", meinte Nimba, als sich wohlbehalteni m Flugzeug befanden und in großer Höhe Schleifen über der Umgebung von Tokio zogen, „sehen Sie, dieses Flugzeug. Ich entdeckte es durch Zufall und sah mich seitdem öfter nach ihm um." Er wies dabei auf die Sehscheibe des Fernsehapparates. „Ein fremder Typ", meinte Sun, nachdem er sich eine Weile aufmerksam über die Scheibe gebeugt hatte. „Deswegen fiel es mir auf, und weil es außerdem auf einer Stelle liegt, die
nichts mit einem Flugplatz zu tun hat. Das ist doch weiter nichts als eine Art tiefeingeschnittene Waldlichtung. Der Kerl versteckt sich ganz einfach. Seit zwei Tagen liegt er hier und tut weiter nichts als höchstens auf jemanden warten." ,,Du sprichst von einem Mann?" Nimba nickte. „Eri s t augenblicklich vermutlich i n der Maschine drin. Ein Seemann oder so etwas Ähnliches, kein Japaner. Sonst weißi c h nichts, Ich wollte es Ihnen nur des Interesses halber zeigen." Sun schlug ihm anerkennend auf die Schulter. „Ich habe eine Ahnung, als ob du den Haupttreffer hast. Mein Interesse groß, daß ich mir Mann und Maschine aus der Nähe ansehen möchte. Hal!" Der Junge, der zu seiner größten Freude das Steuer führen durfte, wandte sich um. „Ja, Herr?" „Siehst du den Waldstrelfen dort unten? Von rechts läuft eine Lichtung ein." „Jawohl, Herr." „Auf der Lichtung steht ein Flugzeug. So schnell wie möglich hinunter und neben ihm landen." „Machen wir", grinste Hal. „Halten Sie sich fest, Mister Stramborg!" „Festhalten", warnte Sun, als er sah, daß der Holländer nicht gleich begriff. Gleichzeitig packte er ihn fürsorglich beim Kragen. Die Maschine stürzte schon. Hal ließ sie wie einen Stein mit immer größer werdender Geschwindigkeit zur Erde sacken. Nur wenn sie wirbeln wollte, gab er einen kleinen Ausgleich, um es dem Neuling nicht zu schwer zu machen. Dicht über dem Wald fing er auf. Drei, vier Rucke, dann senkte sich das Flugzeug sanft neben das andere.
Überraschenderweise blieb in jenem Flugzeug alles ruhig, insbesondere wurde nicht der Versuch gemacht, zu fliehen. Erst als Sun und Nimba bereits herausgesprungen waren, zeigte es sich, daß die Maschine nicht verlassen war. Stevens, der Träumer aus dem UenoPark, erschien in der Kabinentür und zeigte eine gute Portion Überraschung. „Hallo, da ist ja Besuch eingetroffen? Mußten Sie landen oder wollen Sie zu mir?" Sun Koh gab Antwort., „ W i r wollen zu Ihnen. Sind Sie allein?" „Nee, der Besitzer ist anwesend. Ich binistder Pilot. so Wollen Siei h n sprechen?" „Ich würde Wert darauf legen." Der andere zeigte keine Spur von
Abwehr. „Sehr gern, bitte gedulden Sie sich einen Augenblick!" Eine Minute später erschien der Besitzer der Maschine. Es war der leicht steifbeinige Engländer mit dem vorbildlichen Backenbart, der Sun Koh auf die Ankunft Stramborgs aufmerksam gemacht hatte. „ A h , welche Überraschung", rief er mit gutem Erstaunen. „Seien Sie herzlich willkommen!" Damit sprang er herunter und ging mit ausgestreckter Hand auf Sun Koh zu. Dieser drückte sie, um sie festzuhalten und erwiderte lächelnd; „Ich freue mich ebenfalls, Sie wiederzusehen, Mister - Bender." Der andere zuckte zusammen. „Verdammt - wie sind Sie darauf gekommen?" „Sie bestreiten also nicht?" Bender hob die Schultern. „Ich bestreite nie, wenn es zwecklos geworden ist. Aber wie Sie das wieder fertig gebracht haben, ist mir..."
„Der Ring, Mister Bender, Immer wieder der Ring. Sie tragen ihn vermutlich schon lange, und die Haut färbt sich eben nicht so stark, wenn sie mit einem Ring bedeckt ist. Sehen Sie, die Konturen des Eisbären sind ja ziemlich deutlich." „Für Ihr Auge", grollte Bender. „Aber das ist ja nun egal. Ich hoffe, daß Sie mir meine kleine List nicht übel genommen haben. Schließlich war ich ja gezwungen dazu, wenni c h frei werden wollte. Oder sind Sie gekommen, um mich dafür beim Kannthaken zu nehmen?" „Durchaus nicht", beruhigte Sun. „Ich bin nur gekommen, um mir die Papiere zu holen." Bender zog eine vorwurfsvolle Miene. „Aber ich sagte Ihnen doch schon, daß sie auf dem Südpol seien!" „Auf dem Wege zum Südpol", verbesserte ihn Sun. „Meinetwegen, aber das kommt ja auf eines heraus." Sun lachte. „Sie sind ein Schlaukopf, Mister Bender. Sie müssen mir jedoch die Feststellung erlauben, daß Ihre Maschine etwas südlich von Tokio steht. Angenommen, die Papiere lägen dort drin - könnte man dann nicht ebenfalls mit Überzeugung behaupten, daß sie sich auf dem Wege zum Südpol befänden?" Das Gesicht des andern war des Malens wert. Es zeigte von der Bestürzung bis zu einem vertraulichen Grinsen sämtliche Übergänge. „Sie sind eben noch schlauer als meinte er nach einer Pause. „Aber die Papiere sind trotzdem nicht da." Sun wurde ernst. „Sie werden mir erlauben, Ihre Maschine zu durchsuchen?" Bender zuckte mit den Achseln.
„Was heißt hier erlauben? Mir bleibt halt nichts anderes übrig. Stevens, scher dich raus, die Herren sind von der Polizei." Nimba blieb bei den Männern und tastete sie ab, wahrend Sun Koh und der mittlerweile herangekommene van Stramborg die Kabine des fremden Flugzeuges aufsuchten. Sie brauchten nicht lange darin herumzustöbern. In einem Futteral an der seitlichen Kabinenwand fanden sie sorgfältig umschnürt diei n einem festen Deckel eingeschlagenen Akten, die die Erfindung des jungen Holländers betrafen. Sun Koh entdeckte sie und reichte sie Stramborg hin. „Ist es das?" „Das sind sie", stellte dieser in freudiger Erregung fest. „Endlich!" Er löste die Schnüre und hob den Deckel ab. Nicht ohne Stolz wies er Sun auf das Titelblatt. „Dann ist es gut", nickte Sun. „Kommen Sie!" Sie sprangen wieder hinaus. „Im Grunde genommen tut es mir leid", sagte Sun zu Bender, „daß ich Sie um den Erfolg Ihrer Mühe bringen muß, aber Sie werden verstehen, daß ich Ihnen mein Eigentum nicht überlassen konnte. Und schließlich dürfen Sie ja nicht erwarten, daß ich um der Rücksprache mit Ihrem Auftraggeber willen bis zum Südpol fahre. Bestellen Siei h m einen Gruß von mir und ich freute mich, daß er den Japanern gegenüber so schnell zugreifen ließ." „Da wird die Freude groß sein", knurrte Bender. „Haben Sie was daich", gegen, wenn wir losfahren?" „Nicht das geringste. Leben Sie
wohl!" Sie schüttelten sich die Hände. Die beiden Männer stiegen ein, und unmittelbar hob sichi h r e Maschine i n die Luft, um dann mit schärfster Ge-
del?
schwindigkeit Kurs nach Süden zu nehmen. Langsam kehrte Sun mit seinen Begleitern in die eigene Kabine zurück. Die Schlacht war geschlagen, die Papiere zurückgeholt. Es blieb nur noch übrig, den jungen Stramborg unbehelligti n seine Heimat, aus Japan herauszubringen. In der Kabine streckte ihm dieser das Aktenbündel hin. ,,lhr Eigentum, Herr... oh ..." Hal war ungeschickterweise an die ausgestreckte Mappe gestoßen, so daß sie Stramburg aus der Hand fiel. Doch - was fiel ihm denn da aus der Hand? Lauter leere, weiße Blätter. Nur das Titelblatt war beschrieben. Sekundenlang blieb alles stumm, sprachlos. Dann kamen die ersten Laute der Überraschung. Stramborg selbst war es, der als erster aufschrie; „Das - sind doch die Papiere gar nicht. Die Kerle haben uns betrogen!" Sun atmete tief und sagte beherrscht; ,,Wlr haben uns selbst betrogen, wir hätten uns besser überzeugen sollen. Bender gebrauchte eine List, und sie glückte ihm." ,,Dem Kerl müßte man die Nase in Fransen zerschneiden", schlug Hal erbost vor. Doch wieder nahm ihn Sun in Schutz. „Er hat anständig gekämpft und uns nach allen Regeln der Kunst geschla-
gen. Er hat seinen Triumph verdient." „Sie wollen i h m die Papiere überlassen?" Sun schüttelte leicht den Kopf. „Selbstverständlich nicht, nur - die beiden werden mit äußerster Geschwindigkeit nach Süden rasen, um ihren Auftrag zu erfüllen und die Papiere abzuliefern. Die Maschine, in der sie sitzen, i s t hervorragend nach dem, was ich im Vorübergehen sah. Leicht möglich, daß wir sie erst dort erreichen können, wo sie am Ziel sind - am Südpol." Hal sah seinen Herrn erstaunt an. „Aber das war doch alles SchwinLangsam und überlegend kam Suns Antwort. „Eben das glaubei c h nicht. Die A n deutungen Benders klangen immerhin so, daß man auf Wahrheit schließen konnte. Auf alle Fälle werden wir mit dem Fernseher nach den beiden fahnden und ihnen dann folgen. Zuvor bringen wir Sie, Mynheer van Stramborg, jedoch nach Java zurück." Der Holländer sah ihn bittend an. „Ich würde sehr gern bei Ihnen . . . " „Ausgeschlossen!" lehnte Sun ab. „Doch vielleicht ändert sich Ihr Ziel in anderer Weise. Ich sagte Ihnen damals auf Java, daß ich mit Ihnen noch einiges zu besprechen hätte. Übrlgens Hal, fahr los!" Kurz darauf stieg auch diese Maschine aus der Lichtung auf.
Die Titel der folgenden Erzählungen lauten-. Bd. 72: Der rächende Sturz
Bd. 73: Das blinde Genie
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Jiu-Jitsu-Anleitung Nr. 37 Unserem M.-F.-Spezialreporter i s t es gelungen, den japanischen Altmeister des Jiu-Jitsu teidigung
-
jener geheimnisvollen, unübertrefflichen Kunst der Lebensver-
zui n t e r v i e w e n und voni h m praktischen Unterricht zu erhalten.
Wir veröffentlichen fortlaufend die Berichte unseres Reporters und bringen heute die
3. Schußabwehr.
,,Tja", meinte ich nachdenklich, ,,was mache ich denn aber nun, wenn mich jemand aus der Entfernung mit dem Revolver bedroht und z. B. aus sechs Meter Abstand nach mir schießt?" „Dann", lächelte Kamakuri, ,,trösten Sie sich mit einemi h r e r
Lieder,
in
dem es heißt, daß ja nicht jede Kugel trifft." „Sie wollen damit sagen, daß esi n gibt?"
einem solchen Falle keine Abwehr
„Ganz recht. Gegen den Schuß aus der Ferne gibt es keine sichere A b wehr. Trotzdemi s t für den Jiu-Mann auch diese Lage nicht völlig aussichtslos." „ W i e meinen Sie das?" „Der
geübte
Jiu-Jitsu-Kämpfer
hat dem Angreifer so gut wie alles vor-
aus, wenn er, wie es sein sollte, schnelli m
Handelni s t .
mutig, tapfer, entschlossen und blitz-
Hinter der Pistole steht auch nur ein Mensch, der
seine Reaktionszeit braucht, dazu meist sich überlegen
fühlt
und nachlässig
wird. In neunundneunzig von hundert Fällen wird es gelingen, sich blitzschnell heranzurollen
und über
den Angreifer zu kommen.
einen Schuß bestimmt abfeuern können, aber hinweggehen.
Ich zeige
der
wird
über
Er wird zwar den
Jiu-Mann
Ihnen dann später diese Art, sich anzurollen."
Alle Jiu-Jitsu-Griffe sind vorsidntlg enzuwenden, um Verletzungen zu vermeldenI