Alf Lüdtke · Herbert Reinke · Michael Sturm (Hrsg.) Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert
Studien zur Inneren Sicherheit Band 14 Herausgegeben von Hans-Jürgen Lange Die Ziele In der Reihe „Studien zur Inneren Sicherheit“ wechseln sich Monografien und strukturierte Sammelbände ab. Die Studien werden verfasst von Autoren des „Interdisziplinären Arbeitskreises Innere Sicherheit“ (AKIS). Der AKIS vereint Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, insbesondere der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Kriminologie, der Rechtswissenschaft und der Historischen Polizeiforschung. Die Studien zur Inneren Sicherheit umfassen grundlagentheoretische und problemorientierte Arbeiten. Sie sind einer interdisziplinären und sozialwissenschaftlichen Diskussion verpflichtet. Forschung zur Inneren Sicherheit und Polizeiforschung bilden hierbei keine gegensätzlichen Perspektiven, sondern sich ergänzende Bestandteile eines Forschungsfeldes. Die Studien zur Inneren Sicherheit arbeiten die unterschiedlichen Facetten des Wandels von Sicherheit auf. Sie stellen diese Veränderungen in den Zusammenhang mit dem Wandel von Staat und Gesellschaft insgesamt, wie er sich national, europäisch, international und global vollzieht. Die Analyse der Akteure, Institutionen und Strukturen, die die Sicherheitsproduktion von Staat und Gesellschaft prägen; die Prozesse und Handlungsorientierungen, unter denen Entscheidungen und Normen sowie ihre Kontrolle zustande kommen; die Programme zur Inneren Sicherheit (Kriminalpolitik, Polizeipolitik u. a.), die dabei mit der Zielsetzung entstehen, bestimmte Wirkungen zu erzielen; die Art und Weise der Umsetzung und die Einwirkung der Sicherheitsproduzenten auf die Gesellschaft (Polizieren); die Definitionen, Konstruktionen, Verlaufsformen und Sanktionierungen abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle (Kriminalsoziologie), die vorgenommen werden; die historische Rekonstruktion dieser Zusammenhänge; die Diskussion theoretischer Ansätze und Methodologien, um die interdisziplinäre Arbeit integrativ weiter zu entwickeln – all dies sind Perspektiven der Forschung zur Inneren Sicherheit, wie sie der Reihe zugrunde liegen.
Alf Lüdtke · Herbert Reinke Michael Sturm (Hrsg.)
Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert
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1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: text plus form, Dresden Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18266-7
Inhalt
I
Einführung
Alf Lüdtke/Michael Sturm Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert – Perspektiven ............................. 9 II
Staatliches Gewaltmonopol – und sein Ende?
Helmut Gebhardt Die Rolle der Polizisten und Gendarmen im Wandel der österreichischen Staatssysteme des 19. und 20. Jahrhunderts ............................ 45 Ralf Pröve Bürgergewalt und Staatsgewalt. Bewaffnete Bürger und vorkonstitutionelle Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert ................................. 61 Belinda Davis Polizei und Gewalt auf der Straße. KonÀiktmuster und ihre Folgen im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts ........................................... 81 Michael Dutton Das Regiment der Gewalt: Polizieren des Politischen in der Volksrepublik China ............................................................................... 105 III Die Polizei als Akteur – und als Opfer von Gewalt: Männer und Frauen in Uniform Gerhard Fürmetz „Besondere Gefährdung der Polizeibeamten“ – Alltägliche Gewalt gegen Polizisten im frühen Nachkriegsdeutschland ............................ 131 Anne Mangold Die friedfertige Polizistin ? Die Praxis der Deeskalation aus der Sicht von Männern und Frauen im Streifendienst ................................ 145 Karin Hartewig „Bilder vom Feind“. Die DDR-Opposition in den Fotogra¿en des Ministeriums für Staatssicherheit ........................................... 169
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Inhalt
Thomas Ohlemacher Gewalt gegen Polizeibeamte in der Bundesrepublik Deutschland, 1985–2000: Entstehungskontexte, Reaktionen, Paradoxien ............................. 187 IV Gewalttätige Polizei – gewalttätige Gesellschaft? Thomas Lindenberger Vom Säbelhieb zum „sanften Weg“ ? Lektüren physischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhundert ........................ 205 Daniel Schmidt Die Straße beherrschen, die Stadt beherrschen. Sozialraumstrategien und politische Gewalt im Ruhrgebiet 1929–1933 ............................................ 225 Melanie Becker Organisationskultur der Sicherheitspolizei im Nationalsozialismus ............... 249 Gerhard Sälter „Den Ablauf der Vernehmung bestimmen nicht Sie.“ Zur instrumentellen Verwendung struktureller Gewalt und sprachlicher Übermächtigung bei Verhören des MfS in den 1950er Jahren ......................................................................................... 279 Klaus Weinhauer Staatsgewalt, Massen, Männlichkeit: Polizeieinsätze gegen Jugend- und Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre ................................................................................................ 301 Michael Sturm „Unter mir wird alles weich“ – Eine Geschichte des Polizeischlagstocks ....... 325 Autorinnen und Autoren ................................................................................... 349
I Einführung
Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert – Perspektiven Alf Lüdtke/Michael Sturm
Gewalt der Polizei – Gewalt gegen die Polizei Ein aktueller Fall Der Notruf erreichte die Regensburger Polizei am Vormittag des 30. April 2009 gegen 10.30 Uhr. Ein junger Mann meldete sich telefonisch bei der Einsatzzentrale und gab an, von seinem Mitbewohner, dem 24-jährigen Musikstudenten Tennessee Eisenberg, mit einem Messer bedroht worden zu sein. Ihm selbst sei es zwar gelungen aus der Wohnung zu entkommen, er habe aber die Befürchtung, dass sich Eisenberg etwas antun könne. Nur wenige Zeit später trafen mehrere Streifenwagen am Ort des Geschehens ein. Insgesamt acht Beamte verschafften sich Zugang zur Wohnung, wo sie auf den Studenten stießen, der ihnen mit einem Messer in den Händen gegenübertrat. Auf die Aufforderung, die Waffe fallen zu lassen, reagierte Eisenberg nicht. Er näherte sich weiter den ins Treppenhaus zurückweichenden Polizisten, die, nachdem auch der Einsatz von Pfefferspray keine Wirkung gezeigt hatte, zu ihren Schusswaffen griffen. Wie die Beamten später zu Protokoll gaben, habe sich Eisenberg dadurch nicht beeindrucken lassen und ihnen zugerufen: „Dann erschießt’s mich halt“. Kurz darauf traf ihn das erste Projektil ins Knie. Was danach geschah, ist bis heute umstritten. Eisenberg habe trotz seiner Verletzung das Messer nicht fallenlassen und einen der Polizisten derart massiv bedrängt, dass seine Kollegen innerhalb weniger Sekunden mehrere Schüsse auf den Studenten abgaben, heißt es in einer Erklärung der Staatsanwaltschaft Regensburg.1 Insgesamt wurde der Student von zwölf Kugeln, in Arme, Beine, in die Lunge und in die Herzgegend getroffen. Am Mittag des 30. April erlag Eisenberg seinen schweren Verletzungen in einem Regensburger Krankenhaus. Während Polizei, Staatsanwaltschaft und bayerisches Innenministerium schon zu einem frühen Zeitpunkt von einer „Notwehr- bzw. Nothilfe“-Situation ausgingen, in der sich die Beamten befunden hätten, meldete die Familie Eisen-
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Vgl. Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 21.12.2009.
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_1, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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berg erhebliche Zweifel an dieser Bewertung an und verwies dabei nicht zuletzt auf ein eigens in Auftrag gegebenes rechtsmedizinisches Gutachten, das die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Gewalteinsatzes zumindest teilweise in Frage zu stellen schien. In der Öffentlichkeit blieben die tödlichen Schüsse von Regensburg zunächst weitgehend unbeachtet und rückten erst nach einigen Wochen in den medialen Fokus. Ein Grund hierfür mag der Feststellung geschuldet gewesen sein, dass der polizeiliche Gewalteinsatz aus keinem spektakulären Anlass erfolgte. Weder galt es in Regensburg einen fanatischen Terrorverdächtigen zu überwältigen, noch einen als hochgefährlich eingeschätzten Schwerkriminellen festzunehmen. Die Beamten, die auf Tennessee Eisenberg stießen, gehörten auch keiner für resolute Gewaltanwendung geschulten Spezialeinheit an, sondern waren (und sind) im polizeilichen Einzeldienst tätig. Mit anderen Worten: Der tödliche Verlauf des Einsatzes resultierte aus einer für die Polizei beinahe schon alltäglichen Situation. Norbert Pütter, Mitarbeiter des Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit in Berlin, wies daraufhin, das Einschreiten gegen einen randalierenden Mann in einer Wohnung sei ein geradezu „klassischer Fall“ polizeilicher Aufgabenbewältigung. Dennoch würden Polizisten vor allem bei solchen eskalierenden Routineeinsätzen zur Schusswaffe greifen2, wenn auch im internationalen Vergleich eher selten. Der Tod von Tennessee Eisenberg erinnert somit daran, dass Verletzungs- und auch Tötungsgewalt nicht nur bei besonderen „Lagen“ angedroht oder eingesetzt werden, etwa bei unfriedlich verlaufenden Demonstrationen, Geiselnahmen oder in der Terrorismusbekämpfung. Vielmehr gehören sie für Polizeibeamte zu ihren Handlungsoptionen, um sich gegen Widerstände zu behaupten oder Angriffe auf den eigenen Körper abzuwehren. Indessen bleiben die Formen polizeilicher Gewaltausübung ebenso umstritten wie die Möglichkeiten und Mechanismen, unrechtmäßiges Polizeihandeln zu sanktionieren. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen „Körperverletzung im Amt“ enden meist mit Einstellungsverfügungen.3 Im Falle der tödlichen Schüsse auf Tennessee Eisenberg hatte Norbert Pütter bereits Monate vor dem Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung prognostiziert, dass die Konsequenzen für die beteiligten Beamten eher gering ausfallen dürften. Tatsächlich befand die Ermittlungsbehörde im Dezember 2009, die Polizisten seien „rechtlich befugt“ gewesen, „sich gegen den andauernden Angriff des getöteten T. Eisenberg in der festgestellten Art und Weise zu verteidigen.“4 Das Verfahren wurde dementsprechend eingestellt. In einem Kommentar anlässlich der Entscheidung der Staatsanwaltschaft warf der Journalist Vgl. die tageszeitung vom 17.06.2009. Vgl. Singelnstein 2010. 4 Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Regensburg vom 21.12.2009. 2
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Hans Holzhaider die Frage auf, „ob acht Polizeibeamte gegen einen einzelnen, mit einem Messer bewaffneten Mann wirklich keine andere Verteidigungsmöglichkeit haben, als ihn zu erschießen.“ Und er schloss mit der Vermutung: „Und ganz sicher wäre das Verfahren nicht eingestellt worden, wenn der Tote ein Polizist und die Schützen Studenten gewesen wären.“5 Im gleichen Zusammenhang wies Ron Steinke in der taz darauf hin, dass in der Bundesrepublik das „Einstellen von Verfahren gegen tatverdächtige Polizeibeamten […] die Regel sei“. Er verknüpfte seine Feststellung mit der Forderung, unabhängige Ermittlungskommissionen nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten zu schaffen, um auf diese Weise polizeiliches Fehlverhalten effektiver überprüfen zu können.6 Aktuelle Positionen Im Juli 2010 trat Amnesty International mit ähnlich lautenden Vorschlägen an die Öffentlichkeit. In einem Bericht dokumentierte die Menschenrechtsorganisation eine Reihe von Übergriffen, die in den vergangenen Jahren von Polizeibeamten in Deutschland begangen worden sein sollen. Bedenklich sei zudem, dass „die Ermittlungsmethoden und -abläufe in Fällen mutmaßlicher polizeilicher Misshandlung beziehungsweise unverhältnismäßiger Gewaltanwendung […] noch nicht den Grundsätzen entsprechen, die in den von Deutschland unterzeichneten Menschenrechtsabkommen verankert sind.“ Wenn jedoch die „Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen“ würden, könne dies „zu einem Klima der Straflosigkeit führen“.7 Amnesty International fordert daher die „Einrichtung unabhängiger Polizeibeschwerdemechanismen“ und Maßnahmen, die „eine einfache Identi¿zierung von Polizeibeamten bei der Ausübung ihrer gesetzlichen PÀichten […] gewährleisten.“8 Freilich: In der Regel werden derartige Kontrollansprüche von Polizeibehörden sowie deren Standes- und Personalvertretungen vehement zurückgewiesen. Dies gilt gleichermaßen für die Vorschläge, unabhängige Polizeibeschwerdestellen einzurichten wie auch für die von Bürgerrechtlern seit Jahrzehnten erhobene Forderung, Polizeibeamte besonders im Rahmen von Demonstrationseinsätzen mit Namens- oder Nummernschildern zu kennzeichnen.9 Die Argumentationsmuster, die die polizeilichen Vorbehalte stützen sollen, lauten jeweils ähnlich: Durch die Schaffung derartiger Kontroll- und Sanktionsmechanismen sehe sich Süddeutsche Zeitung vom 22.12.2009. Vgl. die tageszeitung vom 22.12.2009. 7 Amnesty International 2010, S. 10 f. 8 Ebd., S. 108 f. 9 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 12.01.2010.
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die Polizei einem Generalverdacht ausgesetzt, der zudem willkürlichen Beschuldigungen von Polizisten Vorschub leisten und nicht zuletzt deren Familien in Gefahr bringen würde. In einer Stellungnahme bezeichnete Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft entsprechende Forderungen von Amnesty International schlicht als „Unfug“.10 Konrad Freiberg, der damalige Vorsitzende der konkurrierenden Gewerkschaft der Polizei, sprach im gleichen Kontext von einer „nicht akzeptable(n) Zumutung für die Einsatzkräfte“.11 Demgegenüber rücken polizeiliche Diskurse andere Wahrnehmungen in den Mittelpunkt: Die Gewaltbereitschaft gegenüber Polizeibeamten – bei Fußballspielen, Demonstrationen oder Einsätzen in urbanen „Problemvierteln“ – habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) scheint diese Sichtweise zu bestätigen. So gaben 47,8 Prozent der befragten Polizisten an, im Jahr 2009 im Dienst gestoßen, geschubst oder festgehalten worden zu sein. 24,9 Prozent erklärten, sie seien mit Gegenständen beworfen worden. 26,5 Prozent hätten Faustschläge oder Fußtritte erleiden müssen. Zwischen 2005 und 2009 sei die Zahl der schweren Verletzungen mit mindestens siebentägiger Dienstunfähigkeit um 60,1 Prozent gestiegen.12 Die Polizeigewerkschaften und eine Reihe von Innenpolitikern fordern daher, Übergriffe auf Polizisten mit schärferen Gesetzen und härteren Strafen, etwa durch die Einführung eines Paragrafen 115 StGB, der speziell Angriffe auf Polizeibeamte sanktionieren soll, zu ahnden.13 Die hier skizzierten kursorischen Beobachtungen verweisen auf zweierlei: ƒ
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Erstens zeigen die Auseinandersetzungen um die tödlichen Schüsse auf Tennessee Eisenberg ebenso wie die in Kreisen der Polizei erhobenen Forderungen nach härteren Strafen für Übergriffe auf Polizisten, dass unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Wahrnehmungen und Erfahrungen von „Gewalt“ das Verhältnis zwischen Staatsmacht und zivilen Staatsbürgern in Deutschland weiterhin durchziehen. Zweitens wird deutlich, dass Polizisten nicht von einer Position jenseits der Gesellschaft agieren. Sie sind keine gesichtslosen Agenten, die das „Gesetz“ oder die Interessen der „Herrschenden“ mechanisch gegenüber dem „beherrschten“ Volk durchsetzen. Diese Vorstellungen werden nicht nur in den
Deutsche Polizeigewerkschaft, Pressemitteilung vom 08.07.2010. Gewerkschaft der Polizei – Bundesvorstand, Pressemitteilung vom 08.07.2010. 12 Vgl. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen 2010; statistisch ist zudem das Risiko für Polizeibeamte im Dienst getötet zu werden deutlich höher als beispielsweise für Personen, die in sozialen Berufen beschäftigt sind. Andererseits ist das Gefährdungspotential in anderen Berufsgruppen, etwa in der Baubranche, wesentlich größer; vgl. Pütter/Neubert 2010. 13 Vgl. Gewerkschaft der Polizei – Bundesvorstand, Pressemitteilung vom 26.05.2010; ebenso Deutsche Polizeigewerkschaft, Pressemitteilungen vom 26.04., 18.05. und 28.05.2010. 10 11
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immer noch verbreiteten Klischees von ebenso allwissenden wie skrupellosen Gestapo-, Stasi- oder auch Verfassungsschutzmitarbeitern deutlich; sie spiegeln sich überdies in den cineastischen Fiktionen vom schwerbewaffneten, nahezu unüberwindbaren „Robocop“. Tatsächlich jedoch bewegen sich Polizei und Polizisten als eigenständige und „eigensinnige“ Akteure in einem gesellschaftlichen Kräftefeld, das entscheidend von ihnen mitbestimmt wird.14 Deren Handlungsmuster folgen allenfalls vordergründig einer reinen Zweckrationalität. Vielmehr Àießen in die Praktiken und Haltungen von Polizisten immer auch die eigenen Wahrnehmungen und Ressentiments, Ängste und Hoffnungen mit ein. Und diese speisen sich nicht zuletzt aus Erfahrungen des Dienstalltags.15 Die Bedeutungsebenen polizeilichen Handelns gehen somit weit über den reinen Vollzug von Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen hinaus. Das Einschreiten der Polizei löst Resonanzen aus, die auf die Staatsmacht zurückwirken. Immer wieder werden dabei – wie im Fall Tennessee Eisenberg – Rechtmäßigkeit und Methoden polizeilicher Handlungsmuster in Frage gestellt; an das Auftreten der Polizei knüpfen sich bei Teilen der Bevölkerung aber auch durchaus positivzustimmende Erwartungen und Ansprüche: sei es, dass mit polizeilicher Präsenz die Hoffnung auf ein sicheres und berechenbares Leben verbunden wird16, sei es, dass Kooperation mit der Polizei die Chance zu bieten scheint, an staatlicher Macht teilzuhaben. Polizisten zählen nach Feuerwehrleuten und Ärzten zu den angesehensten Berufsgruppen in Deutschland17; Polizeimessen und Tage der offenen Tür in Polizeieinrichtungen erfreuen sich kontinuierlich hoher Beliebtheit. Offenbar wird die Rolle der Polizei keineswegs ausschließlich durch deren Verankerung im Institutionengefüge des Staates de¿niert. Vielmehr ist Polizei einer der Akteure im Feld politisch-gesellschaftlicher KonÀikte – welche zumal bei den Amtsträgern die Grenzen ihrer Verhaltensweisen stets aufs Neue ausloten. Das Durchsetzen polizeilicher Autorität gehört ebenso wie das Infragestellen dieser Autorität zu „Herrschaft als sozialer Praxis.“18
Vgl. Lüdtke 1992, S. 28 f. Vgl. Behr 2000. 16 Vgl. Kania 2004/2007. 17 Vgl. etwa die Ergebnisse der Studie der GfK Custom Research „GfK-Vertrauensindex 2010“ (Juni 2010) 18 Lüdtke 1991. 14
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Polizeiforschung: Akteure und Praktiken Diese Sichtweise blieb in der deutschsprachigen historischen Polizeiforschung jedoch lange Zeit marginal. Widmeten sich soziologische Studien bereits in den frühen 1970er Jahren den Entstehungs- und Konstruktionsprozessen polizeilicher Wahrnehmungs- und Handlungsmuster19, folgte die überwiegende Zahl der bis zum Beginn der 1990er Jahre erschienenen polizeigeschichtlichen Veröffentlichungen traditionellen institutionen- und verwaltungsgeschichtlichen Ansätzen.20 Diese lieferten zwar umfangreiche Informationen über strukturelle, technische und rechtliche Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Polizeibehörden, wussten aber nur wenig oder gar nichts zu berichten über die alltäglichen polizeilichen Praktiken, das Selbstverständnis und die Dispositionen von Polizisten.21 Erst die breitere Rezeption alltags- und kulturgeschichtlicher Zugänge führte zu einem allmählichen „Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung“22 und somit zu erkennbar akteurszentrierteren Perspektiven. Die Forderung, das „vielschichtige GeÀecht der Machtstrategien“ stärker in den Blick zu nehmen und dabei auch die Erfahrungen „der Vielen“23 sowie Vorstellungen und Bilder von Polizei zu berücksichtigen, fand ihren Niederschlag in einer Reihe innovativer polizeigeschichtlicher Arbeiten. Hier erfuhr besonders die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus eine stärkere Aufmerksamkeit. Anknüpfend an die Studien von Robert Gellately, der am Beispiel der Gestapo-Stelle Würzburg24 zeigen konnte, wie sehr deren Erfolg von der bereitwilligen Zuarbeit aus der Bevölkerung abhängig war, trugen zahlreiche weitere Untersuchungen zu differenzierten Erkenntnissen hinsichtlich des Personals, der Praktiken und der „vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Politischer Polizei und Gesellschaft“25 bei. Aber auch andere Polizeiformationen wie beispielsweise die Kriminalpolizei und die uniformierte „grüne“ Ordnungspolizei, die lange Zeit im Schatten des langlebigen „Gestapo-Mythos“ (Robert Gellately) wenig Beachtung gefunden hatten, rückten seit Mitte der 1990er Jahre stärker in den Blick der historischen Forschung. Dabei zeigte sich, dass beide Institutionen im polykratischen Gefüge des „Dritten Reichs“ keineswegs nur den traditionellen „Normenstaat“ (Ernst Fraenkel) verkörperten, sondern eigeninitiativ Vgl. Feest/Blankenburg 1972. Eine Bilanz der historischen Polizeiforschung bis zur Mitte der 1990er Jahre liefern: Jessen 1995, Reinke 1996. 21 Diese Feststellung trifft im Kern auch auf das umfang- und materialreiche politikwissenschaftliche Standardwerk zur Polizei in der Bundesrepublik von Busch u. a. 1988 zu. 22 Jessen 1995. 23 Lüdtke 1992, S. 27. 24 Vgl. Gellately 1993. 25 Vgl. Mallmann/Paul 1995; Mallmann/Paul 2000.
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an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik teilnahmen. Die Angehörigen der Polizeibataillone bildeten gewissermaßen das „Fußvolk der ‚Endlösung‘“26, ohne das die präzedenzlosen Massenverbrechen zumal in Osteuropa und in der Sowjet union in ihren Dimensionen kaum denkbar gewesen wären. Demgegenüber schufen die nach 1933 ständig ausgeweiteten Befugnisse für die Beamten der Kriminalpolizei Handlungsräume, die diese unter dem Begriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ eigenständig ausfüllten und ihre Praktiken zunehmend radikalisierten.27 Obgleich diese neueren Studien die vielfältigen Formen polizeilicher Partizipation an der NS-Herrschaft herausarbeiteten, stellten sie doch die „automatische Durchschlagskraft des Kausalfaktors ‚Weltanschauung‘“28 in Frage. Ins Zentrum der Betrachtung rückten hingegen die vielschichtigen Verschränkungen von individuellen wie kollektiven Erfahrungen, generationellen Prägungen und situativen Dynamiken, die das Handeln und die Entscheidungsspielräume von Polizisten mitbestimmten.29 Dieses Erkenntnisinteresse blieb freilich nicht auf die NS-Zeit beschränkt, sondern spiegelte sich auch in Studien zur Polizei im Kaiserreich30 und in der Weimarer Republik31, der Volkspolizei der DDR32 oder zur Polizei in der Bundesrepublik.33 Hier trugen neuere Forschungen dazu bei, oftmals sehr monolithische Interpretationen beispielsweise des „SED-Staats“34 oder die grif¿ge These von der „Restauration der Polizei“35 in der frühen Bundesrepublik zu differenzieren. „Öffentliche Bilder der Polizei, alltägliche Widersetzlichkeiten und damit [der] Grad der Akzeptanz polizeilicher Eingriffshandlungen“ wurden zentral, um „den Spielraum des ‚Aushandelns‘ staatlicher Sanktionsgewalt in den spezi¿schen Systemkontexten von Ost und West zu erfassen.“36 Wesentliche Impulse für eine alltags- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Polizeigeschichte gingen von dieser handlungs- und akteurszentrierten neueren Gewaltforschung aus.
Mallmann 1997. Vgl. Wagner 2002; Wagner 1996. 28 Mallmann 1997, S. 383. 29 Vgl. u. a.: Schmidt 2008; Hölzl 2005; Mallmann/Paul 2004; Kenkmann/Spieker 2001; Roth 1997; Leßmann 1989. 30 Vgl. Jessen 1991, Lindenberger 1995, Müller 2005. 31 Vgl. Schmidt 2008; Bessel 1992; Leßmann 1989. 32 Vgl. Lindenberger 2002. 33 Vgl. Weinhauer 2003; Fürmetz/Reinke/Weinhauer 2001. 34 Vgl. Schroeder 1998. 35 Vgl. Werkentin 1984. 36 Weinhauer/Fürmetz/Reinke 2001, S. 28. 26 27
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Gewalt: Akteure und Situationen Neuere Gewaltforschung: physische Gewalt Seit etwa zwei Jahrzehnten konzentrieren sich Beobachter von historischer wie aktueller Gewalt auf das Handeln der Akteure, auf das ‚Wie‘ ihres Vorgehens – auf ihre Gewalttat. Fragen nach sozial-strukturellen Bedingungen für Verhalten und Handeln der Akteure sind aufgehoben in Erkundungen ihrer situativen Verhaltensformen, kulturellen Bedeutungsnetzen und rituellen Dynamiken.37 Der besondere Fokus dieser neueren Gewaltforschung liegt auf dem körperlichen Verhalten, auf Gesten und Mimik ebenso wie auf Körperkontakt, mehr noch auf direkten Zugriff. Es geht um handfestes Zupacken, Zuschlagen oder Zutreten – Taten, die den Körpern der Geschlagenen Schmerz zufügen (und in aller Regel zufügen sollen). Die Gewalttat zielt auf die Angst anderer, auf ihre Verletzung, wenn nicht auf ihren Tod.38 Diese Perspektive löste das bis in die 1980er Jahre vielfach vorherrschende Theorem der „strukturellen Gewalt“ 39 ab. Dessen Impuls war die Kritik der herrschenden Verhältnisse und Eliten – nach dem scheinbaren Ende der „heißen“ Kriege, zumindest in den westlichen „Zentren“ nach 1945. Denn anders als es modernisierungstheoretisch orientierte Annahmen voraussetzten, hatten z. B. Urbanisierung und soziale wie räumliche Mobilisierung die Lebensweisen der Menschen vielleicht in mancher Hinsicht „rationalisiert“; diese Umwälzungen hatten aber keineswegs im Selbstlauf die Allgegenwart von Gewalt überwunden. Vielmehr zeige sich „strukturelle Gewalt“ in anhaltenden oder neuen sozial-ökonomischen Ungleichheiten wie der Armut und Krankheitsanfälligkeit von „Randständigen“ und „Unterklassen“. Im akademisch-publizistischen Betrieb verdunkelte die Konzentration auf diese Gewalt der Verhältnisse vielfach den Blick für jene physische (Verletzungs-)Gewalt, wie sie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedrohlich war.40 Bedeutsam waren hier die Fernsehbilder von Protestaktionen und dem Vorgehen der polizeilichen oder auch militärischen Staatsgewalten in den „inner cities“ von Berlin, Paris oder Chicago. Entscheidender dürften aber die Bildberichte von napalmverbrannten oder massakrierten Zivilisten aus der angeblichen „Peripherie“ kolonialer oder entkolonisierter Regionen gewesen sein. Vor Für die Frühe Neuzeit vgl. Burschel 1994; zu den Perspektiven auf das 20. Jahrhundert siehe exemplarisch Lindenberger 2003 und Wildt 2003. 38 Vgl. Popitz 1986, S. 68–106, bes. S. 73–83; sie ist aufgenommen worden vor allem von Sofsky 1996 und Sofsky 2002, vgl. auch Reemtsma 2006. 39 Galtung 1971. 40 Vgl. Rieckenberg 2008. 37
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allem solche Bilder machten physische Gewalt und ihre Gräuel als alltägliche Herrschaftspraxis wieder erkennbar. Proteste gegen „strukturelle“ wie gegen physische Herrschaftsgewalt gaben zugleich Anstoß zu „Gegengewalt“ – zu physischer Gewalt, die sich in den Selbstdeutungen der Akteure wie mancher Sympathisanten allein gegen „Sachen“ richtete. Diese „Gegengewalt“ traf in den späten 1960er und den 1970er Jahren rasch auf eine nicht selten überaus „harte Hand“ staatlicher Akteure. Neben solchen unmittelbaren Erfahrungen gehörte zum Wahrnehmungshorizont von „Gegengewalt“ auch das Bilderrepertoire der Shoah – erweitert oder überlagert von Fernsehbildern und Fotos aus dem kriegszerstörten Vietnam. NS-Täterforschung: uneindeutige Pro¿le Die Untersuchung physischer Gewalt fragt nach den Möglichkeiten, den Praktiken und den Folgen konkreter Gewalttaten. In exemplarischer Weise hat der US-amerikanische Historiker Christopher Browning die verbundene Dynamik rekonstruiert. Ein erster Beitrag war seine 1991 erschienene Studie „Ordinary Men“ – die einer Gruppe von (Mit-)Tätern des Mordes an den Juden Europas nachgeht, die unterhalb der „Kommandohöhen“ agierten. Im Zentrum steht ein militärisch gegliederter und militärisch operierender Polizei-Verband, vor allem seine Mordaktionen ab Juli 1942 im „Generalgouvernement“, einem Teil des vom Deutschen Reich besetzten Polen. Browning betont, es seien auch in großen Organisationen wie der Polizei oder den Polizei-Bataillonen „einzelne Menschen“ gewesen, die „über einen längeren Zeitraum hinweg andere Menschen zu abertausenden umgebracht haben.“41 Entscheidend sei die weitere Sequenz gewesen, die nach einem ‚ersten Mal‘ die Schwellen für das Mitmachen beim Töten wie für dessen ‚Normalisierung‘ immer weiter gesenkt habe; Gruppendruck und Gewöhnung bestimmten danach das Mit- und Weitermachen der allermeisten. Es ist gerade diese systematische Kontextualisierung, die belegt, dass selbst im Krieg und im Rahmen eines militärischen Befehlsverhältnisses auch in einer angeblich „totalen Institution“ (Erving Goffman) dennoch unterschiedliche Handlungsoptionen versucht und auch realisiert werden konnten. Zugleich unterstreicht der Autor, dass die mörderische Gewalttat ungeachtet individuellen Ausscherens einzelner – das für sie offenbar keine langfristig gravierenden Folgen hatte – ein ‚Erfolg‘ im Sinne der Planer und Befehlsgeber war.42 Browning 1993, S. 13. Der Anstoß Brownings hat eine personen- bzw. gruppenbezogene Täterforschung angeregt, die sich von Raul Hilbergs eher auf die Institutionen gerichteten Analysen unterscheidet, vgl. Mallmann
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Koloniale Gewalt – universell eingesetzt ? Die entgrenzte Gewalttat ist das zentrale Element von Herrschaft im kolonialen Alltag. Konkret beruhte sie auf tödlicher Feuerkraft und deren militärischer Organisation. Für die kolonialen Eroberer und Machthaber sowie ihre Mittelsmänner galt es, die „Fügsamkeit der Besiegten nicht nur auf längere Zeiträume, sondern vor allen Dingen bei Abwesenheit der neuen Herrscher (zu) gewährleisten“43. In dieser Logik „sollte die Gewalt so fürchterlich sein, wie die Ohnmacht der Eroberer groß war und die Drohung lange glaubhaft sein sollte“. Dieses Argument legt die phänomenologische Analyse von Heinrich Popitz zugrunde. In dieser Sicht meint Übermacht überlegene, konkreter: todesgefährliche „Verletzungsfähigkeit“. Sie erweise sich als „absolut, weil sie das Absolute in dieser Welt, den Tod, ins Werk setzen kann“. Mit dieser Gewalt werde „dem ‚frechen Maul‘ unter den Besiegten ‚das Maul gestopft‘, der Sieger stellt keine Fragen, sondern ordnet an.“ Die übermächtige Gewalt erfordere keine gesonderte Legitimation; vielmehr „rechtfertigt [sie] sich durch ihre Tatsächlichkeit und ihre Überlegenheit selbst“. Diese Gewalt bestimmte die koloniale Aneignung – in vielen Fällen als militärische Eroberung. Sie war jedoch weder an militärische Verbände gebunden noch an zivile Kommissare oder Beamte und deren Verweis auf weltliche oder göttliche Autoritäten. In den Siedlerkolonien Nord- und Lateinamerikas, aber auch in Afrika oder Australien waren es die Siedler selbst, die entgrenzte absolute Gewalt nicht allein beanspruchten, sondern alltäglich fortwährend einsetzten. Siedler wie Amtspersonen waren stets wenige – nicht selten nur ein kleiner Bruchteil der Kolonisierten, denen sie in Alltagssituationen begegneten. Es war freilich nicht allein die geringe Zahl, sondern vor allem die konkrete Situation der Akteure vor Ort, die bei den Kolonialherren eine eigentümliche Selbstermächtigung und zugleich Gewaltentgrenzung beförderte. „Herrisches Auftreten“ und „unmissverständliche“, jede Diskussion ausschließende Befehle schienen keine Alternative zu kennen, wohl aber die Ergänzung des scharfen Schusses. Nicht Vertrauen, sondern Misstrauen und Erzwingen von Gehorsam waren die Maximen in den kolonialen (oder imperialen) Gesellschaften wie Staaten. Die Kolonialmacht herrschte durch unkalkulierbar-punktuellen Gewalteinsatz, der zugleich seine Wiederholung androhte. Konkret waren das etwa die „Twenty¿ve“, die 25 Prügelschläge, die ein Feldwebel der kolonialen (aus Einheimischen rekrutierten), militärisch organisierten Polizeitruppe in Togo offenbar als einziges Kommunikationsmittel mit den untergebenen Schwarzen einsetzte. Prügel „regierte“ zumal die „Steuerarbeit“ (ein gesondertes Arbeits1997; Mallmann/Paul 2004; Paul 2002; zur Kritik s. Wildt 2008. 43 Trotha 1994, S. 42; das folgende ebd. S. 39 ff.
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verhältnis, mit dem SteuerpÀichten abgearbeitet wurden) oder das Eintreiben von Zöllen.44 Bei der „Steuerarbeit“ und dem hier überdeutlichen Vorrang gewaltsamer Züchtigung und Disziplinierung ist die Parallele zur ‚harten Hand‘ gegen die abhängigen Knechte und Mägde in der ostelbischen Gutsherrschaft unverkennbar. Faustschläge und (Stock- oder Peitschen-)Prügel waren freilich nie das letzte Mittel in den kolonialen Besitzungen. Freilich beschränkten sich die lebensgefährlichen Waffen nicht mehr auf Säbel oder Karabiner: Bei „Strafexpeditionen“ avancierte seit den 1890er Jahren das „Maxim“-Gewehr, also maschinelles Schnellfeuer, zum Instrument wie Symbol der herrschenden Tötungsgewalt. Die Polizei folgte dem militärischen Organisations- und Einsatzmuster. Folgerichtig markierte das Massaker in seiner Àächendeckenden Blindheit für einzelne Personen (seien es Verdächtige oder ‚Feinde‘) die Bruchlinie zwischen den Herrschenden und den Besiegten; sie war an brutaler Eindeutigkeit kaum zu übertreffen. Dennoch zeigt sich selbst in dieser Zweipoligkeit kein eindeutiges Pro¿l kolonialer Gewalt. Die Unschärfe tritt besonders dann hervor, wenn es nicht um die scheinbar klassischen Kolonial-Räume und -Fälle in außereuropäischen Territorien geht. So hat Christopher Browning an Beispielen aus der Eroberungs- und Besatzungspolitik der Nationalsozialisten betont, wie wesentlich die Unterscheidung zwischen kolonialem und metropolitanem Raum für die Akteure der Gewalt im Nationalsozialismus war. Im „Reichsgebiet“ behandelten Schutzpolizisten offenbar die Ausgegrenzten – im konkreten Fall: „Nicht-Arier“ – weniger brutal und mitunter ausdrücklich ‚ziviler‘ als in den Teilen Polens, die nach 1939 besetzt oder annektiert waren. Diese Gebiete sollten kolonisiert werden.45 Der örtliche wie der räumliche Bezug sind wesentlich. Allerdings erfordern sie vermehrte Nahsicht, um die Differenzen von Alltagswirklichkeiten wahrzunehmen. Nicht Staaten und ihre Grenzen, sondern Regionen, Landschaften, aber auch einzelne Dörfer oder Stadtteile zeigen offenbar Unterschiede – in der Metropole wie der kolonialen ‚Provinz‘. So wohnten im London der Wende zum 20. Jahrhundert die „Barbaren“ in East London und die „Herren“ in Highgate. Damit wird eine Parallele erkennbar, bei der beispielsweise der preußische Militärstaat und der englische Kolonial-Imperialismus deutliche Ähnlichkeit zeigen: Hier wie dort machten die obrigkeitlichen Akteure wiederholt Anleihen bei den Verfahren in eigenen oder fremden außereuropäischen Kolonien, wenn es ‚zu Hause‘ um die Vgl. Trotha 1994, S. 45–51; bei der Frage, wie „unabhängig“ der koloniale Staat bzw. seine Vertreter in den Kolonien waren, zeigt Trotha relativ weite Handlungsräume vor Ort – ein Argument, das auch bei Steinmetz 2007 deutlich ist. Zollmann 2010 sieht erhebliche Durchsetzungsmacht der Siedler, die staatliche Übermacht(ansprüche), aber auch rechtliche Einhegungen deutlich begrenzt hätten. 45 Vgl. Browning 2000. 44
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Polizierung der „gefährlichen Klassen“ von Besitzlosen und (Besitz-)Armen ging. Das meinte Gewalteinsatz, schloss aber Infrastruktureingriffe (Wohnungsbau, Nachbarschafts- und Familienkonzepte) nicht aus – auch hier mit Anleihen bei kolonialen Modellen oder Praktiken. Dass diese ihrerseits bereits eine Melange waren – beispielsweise aus East London und (südafrikanischem) Durban – unterstreicht Wechselbeziehungen, die freilich asymmetrisch waren und blieben.46 Insofern war die Selbst-Entgrenzung, wie sie die Praxis kolonialer Herrschaftsgewalt kennzeichnet,47 keineswegs auf außereuropäische Gebiete oder Situationen beschränkt. Auch im Selbstverständnis der Akteure war diese Differenz häu¿g sekundär. Nicht zuletzt begünstigten europaweit wirksame Konzepte einer „inneren Kolonisation“ zumindest zweierlei: die Vorstellung einer unüberwindlichen Schranke zwischen „us and them“ sowie die Entgrenzung von Gewalt. Dabei sind eigene Wege und damit Differenzen zwischen den (National-)Staaten vielfach überschätzt worden. In Preußen-Deutschland strebten manche offenbar eine „rassische Privilegiengesellschaft“ (Jürgen Zimmerer) an, zumindest gegenüber Polen, Kaschuben, Ruthenen – überhaupt gegenüber slawischen Menschen und Menschengruppen „aus dem Osten“. Überblendungen kolonialer und metropolitaner Herrschaftspraktiken zeigen sich aber auch in der gewalttätigen Beharrlichkeit, mit der Agenturen des französischen Zentralstaates im frühen wie im späteren 19. Jahrhundert „Bauern zu Franzosen“ machten.48 Die Diskriminierung von Bretonen, Provençalen und Elsässern im „Mutterland“ selbst war von jener arroganten Missachtung geprägt, die man gegenüber Einheimischen in den außereuropäischen Besitzungen nicht erst ‚neu lernen‘ musste. Staat und Staatsgewalt 49 : Mehrfache Entgrenzungen ? Die Analyse von „Polizei“ konzentriert sich ebenso wie die von „Gewalt“ auf die Praktiken der historischen Akteure. Der Blick auf Verhalten und Handeln von Individuen oder Gruppen erfordert zugleich die Konzentration auf einzelne Situationen; zentral wird das Situative von Verhaltens- und Handlungsweisen. 46 Zu Resonanzen und Wechselbeziehungen zwischen „kolonialen“ und „heimischen“ Praktiken und Vorstellungen vgl. Arbeiten zu Häuslichkeit („domesticity“) und Nachbarschaft, die deren Export in (britische) Kolonien wie den Re-Import in die „wilden“ Gebiete der Metropole , wie East London, zeigen, vgl. Jean und Jon Comaroff 1992. – Zum Stand der Analysen des Kolonialstaates, besonders der deutschen Variante, Steinmetz 2007 und Zollmann 2010. 47 Dazu Maurice Bloch, Prey into Hunter. The Politics of Religious Experience, Cambridge 1992, zur „rebounding violence“ S. 5 f., S. 46 ff., S. 64; für postkoloniale Regimes s. Béatrice Hibou 2006. 48 Vgl. Weber 1976. 49 Dieser Abschnitt stützt sich zum Teil auf Überlegungen und auch Formulierungen aus der gemeinsamen Publikation von Lüdtke/Wildt 2008.
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Das ist nicht nur eine Frage der Methode, von Mikroanalyse und Erkundung von Alltagswirklichkeiten. Denn zugleich geht es darum, eine Eigentümlichkeit des Sozialen wie des Historischen zu erschließen: Institutionen wie Verhaltensweisen sind ‚wirklich‘ erst dann, wenn sie in diesem oder jenem Moment konkret und ‚praktisch‘ (folgenreich) werden. Das Situative einer Polizeistreife oder Polizeiwache ist ihr ‚Kern‘, bündelt alle Facetten der Institution, hier die der Polizei. Und gleichermaßen gilt: Gewalt wird erst im Moment ihres Ausübens wie ihres Erleidens tatsächlich ‚Gewalt‘. Ist aber nicht Staat eine jener Rahmungen, die (relativ) stabile Bedingungen wie Grenzen für Verhaltensweisen der Zugehörigen, aber auch der Ausgeschlossenen markiert ? Staats-Gewalt und ihre Institutionen oder Agenten – überhaupt alle Gewalt, die Staatsangehörige erleiden oder ausüben, unterliegt dem Anspruch auf staatliche Setzung. Das gilt zumindest für die Formen des modernen Staates50, wie sie in europäischen Kontexten, aber auch weltweit seit der frühen Neuzeit – höchst ungleichmäßig – entfaltet wurden. Oder genauer: auch rechtsstaatliche Einhegung hat den Anspruch auf staatlichen Letztentscheid bisher nicht berührt. Die Akteure auf den Kommandohöhen, ihre Untergebenen wie die (vielfach akademischen) Ideengeber beharren darauf. Und die Adressaten von Polizei und Verwaltung nehmen nicht nur hin oder fügen sich; sie erwarten offenbar nicht selten, fordern mitunter Regulierung, notfalls Machtspruch und „kurzen Prozess“. In den letzten Jahren scheint hier freilich eine vierfache Veränderung, besser: Erweiterung erkennbar. Zum einen ist zumal nach den mörderischen Anschlägen von 9/11 in den USA (sowie vom März 2004 in Madrid und Juli 2005 in London) ein Konzept wieder präsent, das allen Bemühungen, die unbeschränkte Herrschafts- und Staatsgewalt frühmoderner Prägung einzuhegen, beharrlich entgegengesetzt wurde, das des Staatsnotstandes. Dieser Ausnahmezustand kenne kein rechtliches Gebot, sondern nur den Machtspruch des Souveräns, konkret: seines staatlichen Repräsentanten. – Zweitens wird nicht oder nicht mehr nur von Staat, sondern verstärkt von „Staatlichkeit“ gesprochen und geschrieben. In Wechselwirkung damit hat die Rede von der „governance“ seit den 1990er Jahren enorme Konjunktur. Hier wie dort geht es um das Aufweichen scheinbar festgefügter Grenzziehungen, um veränderte Gewichtungen von staatlicher und nicht-staatlicher „politische[r] Regelung gesellschaftlicher Zusammenhänge“51. – Zum Dritten haben Erkundungen zur Prägekraft und materialen wie kulturellen Eindringtiefe von Infrastrukturen die Debatte neu justiert: Was heißt staatliches Handeln und was bedeutet physischer Gewalteinsatz angesichts der Folgewirkungen und der Durchschlagskraft von Kraftwerken, Verkehrswegen oder 50 51
Diese Figur ist ihrerseits eine enorme Simpli¿zierung, vgl. zuletzt Reinhard 1999. Zürn 2008, S. 563.
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Wasserleitungen – oder ihres Fehlens oder Verfalls ? In diesem Feld jenseits der eingeschliffenen Staatskonzepte wird – viertens – ein Argument Michel Foucaults zunehmend beachtet, zumindest zitiert. Er hat vorgeschlagen, das Auftreten individueller Selbst-Sorge nicht bürgerschaftlicher Widerständigkeit zuzurechnen. Vielmehr zeige sich hier „gouvernementalité“, das heißt eine spezi¿sch moderne Steuerungsleistung der Regierenden. Daran anschließend soll zum Abschluss gefragt werden, ob nicht – Staat hin oder her – die Akteurs- wie die Systemperspektive auf eigentümliche Weise immer wieder den Blick ‚von oben‘ oder ‚von außen‘ begünstigen oder gar erfordern. Was also würde es bedeuten, Erwartungen an und Hoffnungen auf „den Staat“ wörtlich zu nehmen ? Sind Signale und Äußerungen einer „Liebe zum Staat“ vielleicht verstörend, aber dennoch begründet ? Staatsnotstand – Ausnahmezustand Staat meint eine historisch spezi¿sche Kon¿guration. Zumindest seit dem 16. und 17. Jahrhundert ist in Europa feudale Herrschaft von staatlichen Regierungs- wie Durchsetzungsformen unterschieden worden. Staat nutzte (und meinte) Vorstellungen eines „gemeinen Besten“, in Abkehr von personalen Vorteilen oder VerpÀichtungen. Prekär ist aber genau dies: dass Staat als Synonym für den Anspruch seiner Vertreter genommen wird, einer ‚Sache‘ verpÀichtet zu sein, die für ‚alle‘ gelte. Dennoch ist genau dieser Anspruch eine wirkmächtige Selbstbeschreibung moderner Staatlichkeit geworden.52 Die Unterscheidung von ‚personalen‘ und ‚sachlichen‘ Beziehungen war stets mehrdeutig und umstritten. Thomas Hobbes hatte in seinem „Leviathan“ Mitte des 17. Jahrhunderts die Projektion einer alles überragenden Ober-Gewalt, einer Übermacht entworfen, die „peace and defence“ durchsetzen würde. Dieser „sterbliche Gott“ zeigte gleichwohl menschliche Züge.53 Vielleicht auch deshalb wurde der Leviathan im europäischen Kontext zum Sinnbild von Staatsgewalt, nicht nur in Zeiten der Fürstensouveränität. Bezugspunkt war ein friedensstiftendes Überwesen, tätig in mehreren Registern zugleich.54 Es verfügte, 52 Die Kritik an einem ahistorisch-allumfassenden Staatsbegriff ist nicht neu; dazu und zu einem der Anreger vor und nach 1945, dem Frühneuzeit-Historiker Otto Brunner, vor allem Algazi 1996. Zur Verknüpfung der Personalität von Herrschaft mit einem staatlichem Amtsauftrag Hintze 1962; zu zentralen Konzepten des „modernen Staates“ Münkler 1987; von den zeitgenössischen Planern wie akademischen Praktikern etwa Justi 1782 (1. Ausg. 1756). – Zum europäischen Horizont und seinen Fragwürdigkeiten vgl. Chakrabarty 2000. 53 Vgl. Hobbes 2005, S. 120 (1. AuÀ. 1651). 54 Zur Reichweite die Analyse des Titelkupfers der Erstausgaben (und seiner Variationen) wie vor allem dessen Verbreitung bis ins 19. und 20. Jahrhundert von Bredekamp 2003.
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zumindest in der Imagination, über Vernichtungsgewalt wie über Rechtssprechung, intervenierte zugleich Tag für Tag (wie Nacht für Nacht) mit polizierenden Zugriffen im Alltag der „Subjekte“. Die Entfaltung konstitutioneller wie parlamentarischer Staatlichkeit wurde angetrieben von KonÀikten um die Grenzen des Staates. Allerdings fordern auch konstitutionelle (sowie parlamentarische) Staaten „alle Gewalt“ im Notstand, wenn verfassungsmäßige Ordnung und Staat nicht mehr mit den verfassungsgemäßen Mitteln zu sichern sei.55 Bei einem Angriff von außen, oder wenn sich Aufruhr im Innern rege, müssten alle verfügbaren Mittel in „kurzem Prozess“ eingesetzt werden – diese Argumentations¿gur macht die Staatsgewalt wieder unumschränkt souverän. Die Geschichtlichkeit des Staates selbst, das heißt seine konkrete Lage, gegen die Protest, Streik oder „Gegengewalt“ Gründe haben mag, geraten aus dem Blick. Der Ausnahmezustand öffnet ein Terrain der unbegrenzten Möglichkeiten für Gewalt des (oder im Namen des) Staates – nicht nur für die traditionellen Gewalthaber wie das Militär und, seit dem 19. Jahrhundert, die Polizei. Wenn das Gesetz ausgesetzt wird, verlieren die Normen ihre Macht, ohne dass die Staatsgewalt verschwinden würde. Ausnahmezustand und Souveränität sind also nicht bloß staatsrechtliche Konstruktionen. Ethnographisch genaue Analysen polizeilicher Verhaltensweisen ‚vor Ort‘ zeigen darüber hinaus, wie sehr der Ausnahmezustand – und seine Unbestimmtheit – stets in den Alltag polizeilichen Handelns eingelassen ist: wenn in konkreten Situationen entschieden wird, was zur (Wieder-)Herstellung von Sicherheit notwendig ist. „Kurzer Prozeß“ wird in alltäglichen (Inter-)Aktionen gemacht.56 – Das gilt auch für die Staaten des „real existierenden Sozialismus“. Bis 1989/90 galt zwar die Doktrin der Einheit von Gesellschaft und Staat, jedenfalls von (herrschender) Partei und Staat. Wie sehr aber die jeweilige „Partei der Arbeiterklasse“ die von ihr kontrollierte Staatsmacht für den eigenen Machterhalt und gegen alle gesellschaftlichen Regungen einsetzte, zeigt die entgrenzte, jeder öffentlichen Kritik entzogene Bekämpfung angeblicher oder tatsächlicher „Feinde“. Die gewalttätige Willkür of¿zieller wie informeller „Organe“, zumal von Polizei und Staatssicherheit, etablierte einen Ausnahmezustand im Alltag. Staat erweist sich zumal in solchen Situationen als ein Moment von Herrschaftspraxis, das nicht dekretiert werden kann. Vielmehr sind es vielfältige Vgl. Gusy 1991. Dazu die Fallstudien bei Feest/Blankenburg 1972. – Mit einer normativen Perspektive vgl. Jacques Derrida, unter Verweis auf Walter Benjamins Überlegungen „Zur Kritik der Gewalt“: „Durch diese Aufhebung, die sie selber ist, er¿ ndet die Polizei das Recht, wird sie zur rechtsetzenden, gesetzgebenden Macht, jedesmal, wenn das Recht unbestimmt genug ist, um ihr diese Möglichkeit einzuräumen. Dort, wo Polizei ist […], kann man die beiden Gewalten, die setzende, (be)gründende, und die erhaltende, nicht länger unterscheiden“, s. Derrida 1991, S. 91 (Hervorhebungen im Original). 55
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Akteure, die ihn immer wieder ‚machen‘. Staat wird ‚wirklich‘ in den sozialen Praktiken der Vielen, in denen diese sich von staatlichen Ansprüchen und Angeboten markierte Situationen aneignen, sie also nutzen (aber auch umgehen oder ignorieren). Das heißt auch: Staat bleibt bei aller Gewaltsamkeit fragil genug, um keineswegs dauerhaft ‚sicher‘ zu sein. Parallel hat seit den 1980er Jahren eine sehr anders gelagerte ‚Ausnahme‘ vermehrte Beachtung gefunden: Staaten, die empirisch „schwach“ (geworden) schienen und damit ebenfalls die Norm des Staatlichen in Frage stellten („troubled“ oder „failing states“, „prekäre Staaten“). Es geht dabei nicht um Staaten oder Empires wie das koreanische Kaisertum, Qing-China oder das Osmanische Reich im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Im Blick sind vielmehr ‚neue‘ Staaten, wie sie im Zuge der Dekolonisierungen seit dem frühen 19. Jahrhundert, vor allem aber seit den 1950er Jahren entstanden sind. Nach 1989/90 hat sich dieses Feld erheblich erweitert – die europäischen wie asiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR und deren ehemaligen Blockstaaten (und die Nachfolgstaaten im ehemaligen Jugoslawien) gelten Vertretern der alteingesessenen Staaten als unzureichend, wenn sie nicht völlig zu versagen scheinen. Zentrales Kriterium staatlicher Stärke sind (im Sinne des Idealtypus staatlicher Herrschaft von Max Weber) bürokratisch-regelhafte Abläufe und insbesondere Absicht und Fähigkeit der staatlichen Akteure, konkurrierende Gewalten physisch-direkt zu übermächtigen, innerstaatlich wie in der Staatenkonkurrenz.57 „Failing states“ sind danach genau jene, die den Ausnahmezustand nicht oder nicht mehr zu verhängen und durchzusetzen vermögen (zum Beispiel Haiti). Als Maßstab gelten die „westlichen“ Staaten, überwiegend in West- und Mitteleuropa sowie Nordamerika. Dabei wird aus einer Abstraktion (wie sie im Idealtypus auftritt) kurzerhand die angeblich treffende Beschreibung von Wirklichkeit. Die fortwährenden Steuerungskrisen, die gravierenden Regulierungs- wie Verteilungs-De¿zite auch und gerade in angeblich vorbildlichen Staaten sind ausgeblendet; gelten soll allein der Mythos des intakten und deshalb ‚starken‘ Staates. „Staatlichkeit“ und governance „Staatlichkeit“ oder „governance“: beide Begriffe spiegeln vermehrte Skepsis gegen staatlich-hoheitliche Institutionen und Normen. Sie signalisieren zugleich
57 Dazu Balakrishnan 2005; zu „failing states“, aber auch zu den Privatisierungsstrategien für öffentliche Arenen und Kompetenzen, zugleich zu privat-öffentlichen Kooperationen, deren Folgen wie Perspektiven vgl. Forschungen zu „Governance“, s. Schuppert/Zürn 2008; vgl. auch Sharma/ Gupta 2006; Hibou 2006; Chabal/Daloz 1999.
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einen ebenso vagen wie weitreichenden Optimismus.58 Danach wären die Lenkungskapazitäten von ‚Staat‘ in Kooperationen mit nicht-staatlichen Akteuren zu steigern; Gemeinschaftsgüter ließen sich marktförmig erstellen.59 Vermehrte gesellschaftliche Selbstregulierung (zum Beispiel Selbstpolizierung) würde den Staat idealiter ersetzen. An seine Stelle tritt in diesem Konzept gesellschaftlich organisierte „Handlungskoordination“ zum allgemeinen Besten.60 Vorausgesetzt ist hier wie dort, dass der Nationalstaat (europäisch-nordamerikanischer Prägung) nicht mehr allein die Szene beherrsche und analytisch überholt sei. Eine wachsende Vielfalt inter- und transnationaler (sowie inter- und transregionaler) Kooperationen und Netzwerke habe die Souveränitäts- und De¿nitionsmacht des modernen Staates ausgehöhlt. Freilich, Analysen von „governance“ als „Handlungskoordination“ zeigen nicht selten eine starke Beteiligung, wenn nicht die führende Rolle staatlicher Akteure aller Hierarchiestufen – auch von Polizei und Justiz – bei solchen Kooperationen. Sie umfassen die globalen Drogenmärkte ebenso wie transnational-ma¿öse Erzwingungs- und Ausbeutungskartelle, aber auch lokal-regionale Bereichungsseilschaften, zum Beispiel in den Bau-, Immobilien- oder Entsorgungsbranchen. Ob sich darin die neuesten Varianten jener Klientelpolitik und Korruption zeigen, die zum vertrauten Inventar von (Staats-)Bürokratien gehören, ist zumindest eine offene Frage. Bisher spricht vieles dafür, dass das Neue dieser Innovation vor allem die Überschrift ist. In jedem Fall aber sind Analysen alltäglicher Praktiken der jeweiligen Akteure entscheidend.61 Nur dann lassen sich Asymmetrien der De¿nitionsmacht erkennen. Zugleich stehen diese Praktiken in Resonanz mit Vorstellungen von gesellschaftlicher wie staatlicher Ordnung, vielleicht von „gutem Leben“. Genauer: es sind weitreichende Hoffnungen, aber auch Ängste, die sich mit Ordnungskonzepten und ihren Metaphern, wie der vom „Vater Staat“, verbinden. Parallel bleibt die Frage, inwieweit vermehrte inter- und transnationale Verkettungen tatsächlich den nationalstaatlichen Rahmen einschränken oder gar obsolet machen. Zumal in bestimmten Handlungsfeldern zeigt sich eine Gegenbewegung: bei Sicherheit und Polizei sowie dem Rechtssystem, aber auch bei Infrastrukturregelungen der Tele-Kommunikation oder der Verkehrssysteme. Übernationale Zugriffe und Interventionen (EU-Richtlinien !) ermuntern offenbar nationalstaatliche Gegenzüge und Re-Formierungen.62 Das SchengenAbkommen ist ein besonders triftiges Beispiel. Überdies: sind nicht die aktuellen Menschenrechts- und Demokratiekonzepte westlicher Provenienz bei allen Vgl. Offe 2008, S. 68 f, 71 f. Zu einschlägigen Aspekten von Sicherheitsproduktion vgl. Hönke 2009. 60 Vgl. Zürn 2008, S. 561 f. 61 Vgl. Sharma/Gupta 2006; Bayart 2004. 62 Vgl. Sharma/Gupta 2006, S. 20 ff.
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universalistischen Ansprüchen immer nationalkulturell durchsäuert ? Insofern ist das vermehrte Beharren von Staaten wie der Volksrepublik China auf historisch begründeten eigenen Maßstäben, zumal für staatliches Handeln, keine ‚vormoderne‘ Besonderheit.63 Ob dies ein imperialer oder ein nationaler Gestus ist – er wird sich auch bei weiteren inter- und transnationalen Vernetzungen nicht von selbst erledigen. Staatsgewalt: in den Infrastrukturen Ist aber die Konzentration auf Verhaltensweisen und Formen der (Inter-)Aktion angemessen ? Erweisen sich nicht Infrastrukturen als wesentlicher, womöglich vorrangiger Beleg für einen starken, jedenfalls für einen funktionsfähigen Staat ? Hier geht es um jene staatlichen, aber auch kommunalen öffentlichen Vorkehrungen und Leistungen, die die alltäglichen Wahrnehmungs- und Handlungsräume der Vielen regulieren – und damit ihre Entscheidungen durch funktionalen Nutzen, wenn nicht Reiz der Bequemlichkeit formen, womöglich einschränken.64 Das reicht von der Kanalisation und Müllentsorgung über Post, Kommunikationsnetze und Verkehrssysteme bis zu Bildungs- und medizinischen Einrichtungen. Die langfristige Bedeutung der Prägekraft von Infrastrukturen für die Alltagspraktiken aller, die legal wie illegal in einem Staat leben, hat für die USA kürzlich William Novak betont. Er tritt dafür ein, die Durchsetzungsgewalt dieser „infrastructural power“ einzubeziehen. Sie zeige sich in der Machtverteilung in Kommunen und Einzelstaaten, in der Ausprägung des „rule of law“ bzw. des Rechts- und Gerichtssystems ebenso wie in der einÀussreichen Rolle von Bürgervereinigungen und individueller Akteure im Gesundheitssektor, im Bildungswesen oder in der öffentlichen Sicherheit (hier nicht nur in Form der National RiÀe Association).65 Freilich übergeht dieses Argument eine entscheidende Gleichzeitigkeit: die der infrastrukturellen Gewalt mit physischer Gewaltsamkeit. Gehören nicht regelmäßige Gewaltdrohung, wenn nicht (wiederholter) Gewalteinsatz zu den Praktiken, mit denen Stauseen, Kraftwerke oder Überlandleitungen, Gefängnisse oder Kindergärten gebaut, errichtet und geschützt – aber auch verhindert werden ? Von gerichtlichen Sanktionen bis zu Polizeiaktionen (oder auch MilitärVgl. Chakrabarty 2000. Dazu das Themenheft von Saeculum zu „Infrastrukturen in der Moderne“: Engels/Obertreis 2001 und van Laak 2001. – Vor den „Infrastrukturen“ galt seit den 1930er Jahren vermehrte Aufmerksamkeit der „Daseinsvorsorge“ (Ernst Forsthoff) , wobei deren autoritär-paternalistischen, wenn nicht diktatorischen Perspektiven im Sog der funktionalistischen Suggestion der Wortprägung lange übersehen oder bagatellisiert wurden, vgl. Kersten 2005 und Jellinghaus 2006. 65 Vgl. Novak 2008, bes. S. 762 ff. 63
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einsatz) wirken die direkten mit den ‚sanften‘ Gewalten in stetem und unmittelbarem Verbund. Mehr noch: sie verweisen nicht nur aufeinander; sie machen ihre Verknüpfung immer wieder schmerzhaft fühlbar. Gouvernementalité Michel Foucault hat in den späten 1970er Jahren „gouvernementalité“ als zentrales Kennzeichen einer seit dem späten 18. Jahrhundert neu justierten staatlichen Herrschaftspraxis betont.66 Der Akzent liege seither auf den Formen und Praktiken – den „Taktiken“ des Regierens. Für Foucault zeigt sich hier eine erste Ausprägung jener Macht, die nicht zentral oder „souverän“ verwaltet werde, die vielmehr immer und überall präsent sei. Gouvernementalität steht für ein Ensemble herrschaftlicher Praktiken, die – nach Foucault – auf den „Stachel der Repression“ verzichten. Vielmehr mache Obrigkeit konkrete Angebote für das individuelle Wohlergehen, für die Vermehrung der Familie – zugleich zur PÀege und Entwicklung der „Bevölkerung“ (die zeitgenössischen Stichwörter waren zunächst Merkantilismus und Peuplierungspolitik). Es gehe dabei immer auch um die Interessen derer, die bei Max Weber die „Beherrschten“ heißen.67 Das „Führen der Bevölkerung“, mit ihrer Achtsamkeit für Familien- und Lebenszyklen, hätten den einzelnen erstmals Möglichkeiten zu eigener Disposition und „Selbstaffírmation“ eröffnet. Diese „Regierungskunst“ sei zu unterscheiden vom Agieren der souveränen Macht, mit ihrer Gewalt „über Leben und Tod“. Freilich – der Autor relativiert diese zunächst schroffe Entgegensetzung noch im selben (Vorlesungs-)Text. Denn Regierungskunst als Ermöglichen der Verfügung über Dinge (und Dritte) operierte im institutionellen Rahmen der älteren, auf sofortige Aktion gerichteten souveränen Macht. Und Foucault unterstreicht, wie sehr auch gouvernementalité auf jene rigorose Körper-Disziplin angewiesen war, in welche die Untertanen eingefügt wurden, in die sie sich aber auch selbst einfügten.68 Die Betonung obrigkeitlicher „Verfügung“ über Dinge und Menschen, zumal der Lizenz für andere, ihrerseits disponieren zu können, hat dennoch eine Pointe: Sie öffnet den Blick auf eine veränderte Präsenz obrigkeitlicher Macht. Gerade ihre bürokratische Entfaltung bedeutete auch ein Angebot an die Erwartungen (und Sorgen) der Vielen – ein Aspekt, für den kanonische Staatsanalysen üblicherweise allein auf die demokratische Verfasstheit und deren Verfahren verVgl. Foucault 2004 I, S. 20 ff., 27 f., 53 ff, 161 ff; vgl. Lemke 1997; Demiroviþ 2008; Reckwitz 2010. Vgl. Foucault, Bd. 3, 2003 (Paris 1994), S. 796–825, bes. S. 799–801. 68 Vgl. Foucault, Bd. 3 2003 (Paris 1994), S. 819 f. 66 67
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weisen. Demgegenüber zeigt sich hier das Produktive eines Blicks, der Machtprozesse als mehrschichtig auffasst.69 Die Liebe zum Staat Analysen von Staat und Staatlichkeit konzentrieren sich auf deren „Logik“. Wo aber bleiben dabei Eigen-Logik und Eigen-Dynamik des Emotionalen ? Sie ¿nden sich überall. Ein Feld wäre die Kontrolle dessen, was etwa als „öffentlicher Alkoholkonsum“ zunehmend (oder erneut) von lokalen Autoritäten als „Ordnungswidrigkeit“ eingestuft und exemplarisch mit starker Polizei-Präsenz und auch physischer Härte verfolgt wird.70 Aus (vor- oder halb-)konstitutionellen Kontexten sind die Gummiparagraphen der „Aufruhr“-Bestimmungen und ihrer massiven Gewaltdrohung zu nennen. Denn hier wie dort ging es um diszipliniert‚vernünftigen‘ Umgang mit scheinbar ungezügeltem oder wildem Verhalten – mit angeblich ausschließlich emotionalen Ausbrüchen. Dementsprechend galten die Akteure als Unmündige, vergleichbar Kindern oder Frauen, denen man ‚Vernunft‘ beibringen müsse, sehr wohl auch durch Schläge, Einsperrung oder andere körperliche Pein. Offen bleiben hier die Gefühle derer, die als „Beherrschte“ galten oder doch behandelt wurden. Angetippt ist diese Frage, in dem was Michel Foucault mit dem Hinweis aufgenommen hat, es gebe „heute eine Faszination [für] die Liebe zum Staat“ – freilich gehe sie parallel mit „dem Erschrecken vor dem Staat“.71 Sein Argument sucht zu zeigen, dass sich seit dem 18. Jahrhundert die Gewichtung von der Durchsetzung von Souveränität und der mit ihr weithin verbundenen Disziplin und Disziplinarmacht verschoben habe zur Kalkulation, Regulierung und „Führung“ der Bevölkerung (im nationalen Rahmen). De¿zitär bleibt gleichwohl die Frage nach Gewaltandrohung und Gewaltpraxis. Der Hinweis Foucaults, Disziplin sei nicht erledigt, lässt alles Weitere offen Es sind die Fragen nach der „Liebe zum Staat“, die jenes Element markieren, das in den Staats-Debatten am Rande oder ganz ausgeblendet bleibt: Sehnsucht nach „Führung“. Sie ist verpönt – in Deutschland aus Haftung für die jüngste Geschichte, aber auch aus political correctness; letztere fordert ‚selbstbestimmt‘starke Männer und Frauen. Genau dies aber ist ein Aspekt, den Foucault in anderen Zusammenhängen entfaltet hat: das Modell der „Führung einer Herde“, des Schafhirten72 – gleichermaßen attraktiv für Akteure in den Institutionen wie Zum 19. und vor allem 20. Jahrhundert vgl. Foucault 2004 II, S. 260–299; Bröckling 2007. Vgl. Berlina 2006; Glasze/Pütz/Rolfes 2005. 71 Vgl. Foucault, Bd. 3, 2003, S. 796–825, bes. S. 821. 72 Vgl. Foucault, Bd. 4 2005, S. 165–198. 69
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für ihre Klientel. Ist dieses Sehnen nach Führung ein (über)mächtiger Antrieb, ‚Staat‘ zu akzeptieren, zumindest auf seiner Seite ab und an mitzumachen ? Mehr noch: gründen nicht Staatsgewalt, aber auch andere institutionelle Gewalten auf der Reichweite und ‚Härte‘ solcher Sehnsüchte ? Ihre Gewalt wäre dann immer auch „pastorale Macht“, ermöglicht oder begünstigt von „Liebe zum Staat“. Zu den Beiträgen Die folgenden Beiträge versammeln Texte aus der Kooperation des „Interdisziplinären Arbeitskreises Innere Sicherheit (AKIS)“ mit dem „Arbeitskreis Polizeigeschichte“, der seit 1990 ein jährliches Kolloquium zur Polizeigeschichte ausrichtet. Ausgehend von einer ersten gemeinsamen Tagung in Erfurt im Sommer 2001, zu „Gewalt und Polizei in der Moderne“ sind aus dieser Zusammenarbeit in den folgenden Jahren eine Reihe von Untersuchungen entstanden, die in den hier versammelten Beiträgen, als eine vorläu¿ge Bilanz, vorgelegt werden. Sie zeigen das Potential handlungs- und akteursbezogener Analysen; sie dokumentieren nicht nur den sozial- und alltagsgeschichtlichen Perspektivenwechsel in der Polizeigeschichte, sondern treiben ihn voran. Die Polizei repräsentiert wie keine andere Institution das staatliche Gewaltmonopol nach innen. Doch was ist damit konkret gemeint ? Der historische Blick zeigt, dass das, was jeweils unter „Polizei“ oder „Gewaltmonopol“ verstanden wurde oder werden konnte, höchst unterschiedlich war. Dies betraf die Formen wie die Reichweite polizeilicher Autorität und Durchsetzungsmacht. Es galt ebenfalls für die Frage, welche Instanzen die Befugnis hatten oder haben sollten, Polizeiaufgaben und damit auch Gewalt anzudrohen oder anzuwenden. Flächendeckende, allgemein anerkannte und rechtlich kodi¿zierte Polizeiapparate bildeten sich in Deutschland und Österreich keineswegs in linearen Prozessen heraus, wie die Beiträge von Helmut Gebhardt und Ralf Pröve deutlich machen. – Gebhardt nimmt einen ‚langen‘ Zeitraum in den Blick in seiner Analyse der „Rolle von Polizisten und Gendarmen im Wandel der österreichischen Staatssysteme des 19. und 20. Jahrhunderts“. Zu den Anfängen einer staatlichen Polizei im Habsburger Reich gehörte es, in den größeren Städten Polizeiwachen anzulegen, deren Personal, Selbstverständnis und Organisationsstrukturen vorwiegend militärisch geprägt waren. Obgleich die Beamten über nahezu unbeschränkte Befugnisse verfügten und zudem in ein umfangreiches Spitzelsystem einbezogen waren, blieb ihre Autorität oftmals prekär. Zwar entstand nach 1848 mit der Gendarmerie ein Polizeiverband, der nach der AuÀösung der Grundherrschaft große Teile der auf dem Land lebenden Bevölkerung erstmals mit dem
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staatlichen Machtanspruch konfrontierte; dessen konsequente Durchsetzung blieb jedoch schwierig. Entscheidender als die Konstitutionalisierung der Habsburger Monarchie seit den 1860er Jahren (mit rechtlicher Einhegung polizeilicher Befugnisse) waren die alltäglichen Aushandlungsprozesse zwischen Gendarmen und Polizierten „vor Ort“. Gebhardt betont, dass trotz der zahlreichen politischen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – von der Monarchie zur Ersten Republik, den „Austrofaschismus“ und dann den Nationalsozialismus bis zur Gründung der Zweiten Republik – die polizeilichen Handlungsmuster, besonders im Umgang mit Straßenprotesten, bemerkenswerte Kontinuitätslinien zeigten. Erst seit den 1980er Jahren trafen sie verstärkt auf öffentliche Kritik. So sehr sich der Staat als Träger des Gewaltmonopols durchsetzte: Gebhardts zäsurenübergreifender Blick zeigt, dass diese Entwicklung nicht einlinig verlief. Zu den Ansätzen einer Alternative gehörten 1848 in zahlreichen Orten so genannte Bürgergarden, die polizeiliche Aufgaben wahrnahmen. Dieser Form der „Volksbewaffnung“ widmet sich Ralf Pröve in seinem Beitrag über „Bewaffnete Bürger und vorkonstitutionelle Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert.“ Die Diskussionen um die Aufstellung von Bürgerwehren als Ordnungsinstanzen setzten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein. Einerseits entstand eine neuartige Öffentlichkeit, die staatliche Machtansprüche kritisch zu hinterfragen begann, andererseits versuchten Staat und Verwaltung in immer umfassenderen Maße auf die Bevölkerung zuzugreifen. Ihren Höhepunkt erreichten die Debatten um die „Volksbewaffnung“ 1848, wobei sich an das Konzept der Bürgerwehr zwei weithin konträre Erwartungen knüpften: Zum einen sollte sie die Sicherheit des wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertums gewährleisten; zum anderen galt die Bürgerwehr als „Waffe der Revolution“ gegen das stehende Heer, das den monarchischen Herrschaftsanspruch repräsentierte. In der Realität waren solche revolutionären Hoffnungen freilich der staatlich-militärischen Übermacht nicht gewachsen. Zudem erwies sich die Praxis der Bürgerwehren, deren Einsatzbereitschaft rapide nachließ, als äußerst ernüchternd. Pröve resümiert, dass die Bürgerwehren und generell das Konzept der Volksbewaffnung an einer Allianz aus alten Eliten, Militär und Konservativen, aber auch an der Paralyse eines frustrierten und verängstigten Besitzbürgertums scheiterte. Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols erfolgte also nicht ausschließlich „von oben“, sondern entsprach auch den Bedürfnissen eines großen Teils jener Akteure, die zeitweise in Opposition zur Obrigkeit gestanden hatten. Die Praktiken von Staatsgewalt folgen weniger aus dem Pro¿l des politischen Systems; vielmehr gründen sie weithin auf polizeilichen Wahrnehmungsund Handlungsweisen, die aus Interaktionen mit den Polizierten resultieren. Dies jedenfalls unterstreicht auch Belinda Davis in ihrem Aufsatz „Polizei und Gewalt auf der Straße. KonÀiktmuster und ihre Folgen im Berlin des 19. und 20. Jahr-
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hunderts“. Sie verweist auf die bemerkenswerten Kontinuitätslinien. Misstrauen zwischen Polizei und Bürgern führte bei den Polizisten auf unterschiedlichen Hierarchieebenen zu einer „Festungsmentalität“. Aus dieser Haltung ergaben sich stark ritualisierte Auseinandersetzungen, auf deren Verlaufsformen auch Veränderungen des politischen Regimes nur begrenzten EinÀuss hatten. Vielmehr wurde die „Festungsmentalität“ der Polizei dadurch gefördert, dass die Bevölkerungsexplosion Berlins zwischen 1871 und 1910 zu einer Zunahme von Verhaltensweisen im öffentlichen Raum führten, die mit den Ordnungsvorstellungen der Beamten kollidierten. Nach Davis prägten Territorialverhalten sowie die Inszenierung von „Männlichkeit“ die KonÀiktdynamiken auf beiden Seiten, über alle politischen Umbrüche hinweg. So gelang es auch der Polizei im nationalsozialistischen Staat in weitaus geringerem Maße als bisher angenommen, öffentliche Räume zu kontrollieren. Dies änderte sich auch nach 1945 nicht. In ihren Versuchen, „Ruhe und Ordnung“ gegenüber Halbstarken und Gammlern durchzusetzen, die als notorische „Störer“ identi¿ziert wurden, unterschieden sich die Praktiken der Volkspolizei im Osten der Stadt und der West-Berliner Polizei kaum. Nimmt Belinda Davis besonders die Kontrolle nicht explizit politischer Gruppen und Strömungen in den Blick, die den Ansprüchen der Staatsmacht auf „Ruhe und Ordnung“ zuwiderliefen, widmet sich Michael Dutton dem „Polizieren des Politischen in der Volksrepublik China“. Die Politik der chinesischen KP war vor und nach ihrer Machtübernahme im Jahr 1949 von der Furcht vor Abweichlern, Verrätern und inneren Gegnern geprägt. Diese Wahrnehmung wies Analogien zu der von Carl Schmitt vorgenommenen binären Freund-Feind-Unterscheidung auf. Die Verknüpfung von Klassenkampf und totalem Staat führten zu ungemein gewalttätigen Polizierungspraktiken. Die Geschichte des Maoismus lässt sich demnach als der gescheiterte Versuch bezeichnen, einerseits die politische Intensität der Freund-Feind-Kategorisierung zu stärken, andererseits diese zu begrenzen, um die Dimensionen der daraus resultierenden Gewalt zu einzuhegen. Ein Wandel trat erst nach dem Tod Maos im Jahr 1976 ein. Die über Jahrzehnte hinweg vorgenommene polare Unterscheidung zwischen dem „Volk“ und seinen „Feinden“ verlor an Bedeutung, die Zahl der als „konterrevolutionäre Verbrecher“ Beschuldigten sank erheblich. Indessen richtet sich die Gewalt der Polizei nun gegen jene die als „sozialer Abschaum“ gelten. Mit Polizierungs- und Kontrollpraktiken im Staatssozialismus befassen sich auch die Beiträge von Gerhard Sälter und Karin Hartewig. Gerhard Sälter analysiert in seinem Beitrag die Verhörpraktiken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) während der 1950er Jahre. Sein besonderes Interesse gilt dabei der „instrumentellen Verwendung struktureller Gewalt und sprachlicher Übermächtigung“. Anders als Galtung versteht Sälter unter „struktureller Gewalt“ nicht ein Bündel gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse und Asymmetrien, sondern ein in
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den Untersuchungsgefängnissen des MfS zielstrebig ausgebautes System, das den Zweck hatte, gewaltsam auf Körper und Psyche der Inhaftierten einzuwirken, um diese allmählich zu zermürben. Hierzu zählten in den 1950er Jahren die vollkommene Isolierung der Gefangenen ebenso wie Dauerverhöre, Schlafentzug und die Verweigerung von Schreibmaterial, aber auch die sprachliche Übermächtigung. Aussagen wurden in Verhörprotokollen stark komprimiert und im Duktus der Staatssicherheit niedergeschrieben, der propagandistischen Parteijargon mit hermetischen polizeilichen Terminologien verknüpfte. Die Protokolle enthielten somit womöglich tatsächliche Aussagen der Verhörten, aber in den ¿ktionalen Erzählungen des MfS. In diesem Kontext konnte es durchaus vorkommen, dass Untersuchungsgefangene die Unterschrift unter das ihnen vorgelegte Protokoll verweigerten und in einem Aushandlungsprozess mit dem verhörenden Beamten eine neue Fassung entstand. Dieses Prozedere konnte freilich auch von der Staatssicherheit intendiert sein: Der Gefangene sollte dazu verleitet werden, am Festschreiben eines erdachten Tathergangs selbst mitzuwirken. Um die visuelle Konstruktion verdächtiger Akteure geht es in Karin Hartewigs Beitrag über die „DDR-Opposition in den Fotogra¿en des Ministeriums für Staatssicherheit“. Doch auch hier rücken die Wahrnehmungen und Praktiken der – zwar nicht polizeilichen, wohl aber geheimdienstlichen – Akteure in den Mittelpunkt. Konstitutiv für das Selbstverständnis des MfS war ein alles beherrschendes dichotomes Freund-Feind-Raster. Das zentrale Medium, mit dessen Hilfe das MfS aus diffusen Feindbildern konkrete Gegner der SED-Herrschaft konstruierte und zugleich die eigene Ef¿zienz belegte, war die Fotogra¿e. Folgte in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR der Einsatz der Fotogra¿e beim MfS vor allem konventionellen kriminalpolizeilichen Vorstellungen (gerichtet auf die Dokumentation von Spuren und Beweismitteln), veränderte sich der interne Gebrauch von Bildern seit den 1970er Jahren. Im Rahmen der Strategie, „oppositionelle und subkulturelle Gruppen zu zersetzen“, kam deren visueller Überwachung immer größere Bedeutung zu. Hartewig charakterisiert diese Formen des Zugriffs durch die „operative Fotogra¿e“ als „anonyme Gewalt“. Dieser „visual turn“ in den Praktiken der Staatssicherheit bedurfte gleichwohl der Kreativität der einzelnen MfS-Mitarbeiter, die dazu angehalten waren, im Rahmen ihrer Observationen jeglichen Formalismus zu vermeiden. Die „operative Fotogra¿e“ war nach Hartewig konstitutiv für einen visuellen Panoptismus, der die Allmachtsphantasien des MfS ebenso förderte wie er zur massiven Verunsicherung der „Zielpersonen“ beitragen konnte. Die Erscheinungsformen und Ausprägungen des staatlichen Gewaltmonopols, das zeigen die Beiträge von Sälter und Hartewig ebenso, wie die Aufsätze von Gebhardt, Pröve und Davis, werden wesentlich von den polizeilichen bzw. geheimdienstlichen Akteuren und deren Wahrnehmungen bestimmt. Dabei können wiederum Gewalterfahrungen eine zentrale Rolle spielen und zwar in
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zweierlei Hinsicht. Zum einen treten Polizisten als Gewaltanwender auf; zum anderen werden sie aber auch zu Zielen oftmals massiver, bisweilen sogar tödlicher Gewalt. Gerhard Fürmetz unternimmt eine Annäherung an diese „Alltägliche Gewalt gegen Polizisten im frühen Nachkriegsdeutschland“. Fürmetz macht auf ein breites Spektrum körperlicher Widersetzlichkeiten gegen die Staatsmacht aufmerksam, die sich, zumal auf dem Land, meist aus alltäglichen Situationen ergaben, in denen es den Beteiligten darum ging, ihre Lebenswelt gegen das als unzulässig empfundenes polizeiliches Einschreiten zu verteidigen. In einer Phase jedoch, in der es nach 1945 der Polizei darum ging, ihre Autorität wiederherzustellen, mussten Attacken auf einzelne Beamten als Angriffe auf den gesamten Polizeikörper gelten. In dieser polizeilichen Selbst-Wahrnehmung geriet freilich aus dem Blick, dass die Staatsmacht ihrerseits im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu massiver Gewaltanwendung tendierte: Der Schusswaffeneinsatz galt ganz offensichtlich als legitimes Mittel zur Aufrecherhaltung der staatlichen Ordnung. Erst während der 1950er Jahre ging der Gebrauch von Schusswaffen deutlich zurück – Beleg für eine zunehmende Professionalisierung der Polizei, aber auch für die Konsolidierung ihrer Autorität. Diese war freilich in der Bundesrepublik bis zum Ende der 1970er Jahre ausschließlich männlich konnotiert. Erst zwischen 1979 und 1990 wurden Frauen in den uniformierten Polizeidienst eingestellt. Anne Mangold geht in ihrem Beitrag über die „Praxis der Deeskalation aus der Sicht von Männern und Frauen im Streifendienst“ der Frage nach, wie Geschlechterverhältnisse und der Umgang mit Gewalt in der Polizei miteinander verbunden sind. Auf der Grundlage einer im Jahr 2001 durchgeführten empirischen Untersuchung am Beispiel der Brandenburger Polizei kommt Mangold zu dem Ergebnis, dass es nach wie vor Bereiche polizeilicher Tätigkeit gibt, die als „Männerarbeit“ betrachtet werden. Nicht selten unterscheiden vor allem männliche Beamten in ihrer Wahrnehmung zwischen „normalen Aufträgen“ und Situationen, in denen es „zur Sache geht“ und in denen maskuline, gewaltförmige Kompetenzen gefragt sind. Demgegenüber neigen Polizisten dazu, das Feld der „Gefühlsarbeit“, beispielsweise bei der Bewältigung von FamilienkonÀikten, den Kolleginnen zu überlassen. Derartige Arbeitsteilungen werden als die Folge des „natürlichen“ Unterschieds zwischen Männern und Frauen betrachtet, wobei durch diese Zuschreibungen die Geschlechterunterschiede erst hergestellt werden. Thomas Ohlemacher widmet sich in seinem Aufsatz den Entstehungskontexten von und den Reaktionen auf „Gewalt gegen Polizeibeamte in der Bundesrepublik Deutschland“. Seine Befunde und Thesen resultieren aus einer umfangreichen empirischen Studie, die im Jahr 2000 durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen im Auftrag der Innenministerkonferenz und der Gewerkschaft der Polizei durchgeführt wurde. Deren Ausgangspunkt bildeten Wahrnehmungen, die auch in der Gegenwart von Politikern, Medienvertre-
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tern und Polizeibeamten bzw. polizeilichen Interessenorganisationen öffentlich reklamiert werden: Gewaltdelikte gegen Polizisten seien signi¿kant gestiegen. Zweifellos ist die Wahrscheinlichkeit für Polizisten, mit Tötungsabsicht angegriffen zu werden, erheblich höher als bei „normalen“ Bürger. Dennoch ist, wie Ohlemacher feststellt, das Risiko eines Polizeibeamten infolge eines Angriffs getötet zu werden, niedriger als für andere Bürger. Auch ein weiterer Befund scheint weitverbreiteten Klischees zu widersprechen. So werden die meisten Angriffe mit Tötungsabsicht auf Polizisten in eher bürgerlichen Vierteln verübt, die gemeinhin als eher ungefährlich galten. Die Täter sind überwiegend männlich, deutsch und oftmals alkoholisiert. Die Übergriffe ereignen sich meist in Alltagssituationen, wie beispielsweise Verkehrskontrollen. Besonders dieser Umstand mag – neben einer oftmals sensationsheischenden medialen Berichterstattung – dazu beitragen, die Dimensionen der Gewaltanwendung gegen Polizeibeamte zu dramatisieren. Eine Folgewirkung scheint die Bekräftigung nicht-ziviler polizeilicher Handlungsmuster. Beispielsweise ist die Hälfte der für die Studie befragten Beamten der Auffassung, der Schusswaffengebrauch durch die Polizei sei zu restriktiv reglementiert. Ferner wird kritisiert, dass die Bürgerorientierung der Staatsmacht zu weit ginge, während die straf- und disziplinarrechtlichen Überprüfungen des polizeilichen Verhaltens oftmals als Zumutungen empfunden werden. Diese Wahrnehmungen verweisen auf das Fortwirken einer polizeilichen „Festungsmentalität“, die Thomas Lindenberger vor allem für die preußische Polizei in der Zeit des Kaiserreichs konstatiert. Er vergleicht in seinen „Lektüren physischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhundert“ polizeiliche Gewaltpraktiken in Deutschland zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts. Er fragt dabei nicht, ob die Gewaltanwendung durch die Polizei in quantitativer Hinsicht im Sinne einer zunehmenden „Zivilisierung“ der Staatsmacht rückläu¿g gewesen ist. Vielmehr richtet Lindenberger seinen Blick auf die Art der zu unterschiedlichen Zeiten zugelassenen bzw. gesellschaftlich akzeptierten physischen Gewaltformen. Im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts versuchten Polizisten dem proletarisch geprägten Publikum durch ihr polizeiliches Einschreiten bürgerliche – oder eben „ordentliche“ Verhaltensweisen aufzuzwingen. In diesem Kontext kam nicht selten der Säbel zum Einsatz, der erhebliche Verletzungen hervorrufen konnte, aber auch als symbolisch aufgeladenes Instrument sozialer Distinktion fungierte; der Säbel stand für das Gewaltprivileg, das die Herrschenden für sich beanspruchten. Indessen verteidigten die Angehörigen der Unterschichten auf der Straße hartnäckig ihre Lebensweisen und stellten mitunter sehr handfest die Legitimität polizeilichen Handelns in Frage. Der Einsatz von Blankwaffen geriet aber auch klassenübergreifend in die Kritik; der polizeiliche Hieb mit dem Säbel galt zunehmend als „barbarischer Skandal“. Für das Ende des 20. Jahrhunderts kon-
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statiert Lindenberger keine grundsätzliche Abkehr von körperlicher Gewalt, verweist aber auf den Wandel der kulturellen Codierung von Gewaltausübung – auch und besonders auf Seiten der Polizei. Als Referenzpunkt ¿rmiere nicht mehr das Idealbild des Körpers im militärischen Großverband, sondern die Vorstellung des Einzelkämpfers in einer sich individualisierenden Gesellschaft. Der Beitrag von Lindenberger verweist darauf, dass vor allem die Straße der Ort ist, an dem Polizei und Bürger konÀikthaft aufeinandertreffen. Diese Auseinandersetzungen stärken Feindbilder und Mythen – die sich verschärfend auf die Gewaltbereitschaft beider Seiten auswirken können. Der mikrologische Blick des Beitrags von Daniel Schmidt bestätigt dies für die Spätphase der Weimarer Republik: „Sozialraumstrategien und politische Gewalt im Ruhrgebiet“. Mit dem von Thomas Lindenberger geprägten Begriff der „Straßenpolitik“ widmet sich Schmidt den hochgradig gewaltgeprägten KonÀiktlinien zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten und Polizei in Dortmund. Den drei Gruppen ging es darum, den öffentlichen Raum nicht nur symbolisch, sondern auch durch uniformierte physische Präsenz zu beherrschen. Während die KPD besonders in der proletarisch geprägten Dortmunder Nordstadt mit sozialräumlicher Dominanz ihre organisatorischen Schwächen zu kompensieren suchte, war die „gelebte Gewalttätigkeit“ auf der Straße der Dreh- und Angelpunkt des Politikverständnisses der SA. Die Inszenierung einheitlicher Marschkörper wurde hier wie dort zur Metapher für die imaginierte Volksgemeinschaft, während die Konfrontationen mit dem politischen Gegner dazu beitrugen, heroische Mythen zu entwerfen oder zu stützen. Nicht zuletzt ging es darum, sich „feindliches Terrain“ handfest anzueignen. Die Polizei erhob ihrerseits den Anspruch, die Nordstadt systematisch zu „befrieden“. Dieses Ziel sollte mit resolutem Einschreiten umgesetzt werden; allerdings nahm ein Großteil der Bewohner des Stadtteils die Beamten als Besatzungsmacht wahr und begegnete ihnen entsprechend feindselig. Lindenberger und Davis betonen, dass die kollektive Mentalität der Polizei des Kaiserreichs stark von einer „Festungspraxis“ (Alf Lüdtke) geprägt gewesen sei; Schmidt bestätigt dies im Hinblick auf die Endphase der Weimarer Republik. Demgegenüber untersucht Melanie Becker die „Organisationskultur der NS-Sicherheitspolizei“ unter organisationspsychologischen Aspekten. Der Ausgangspunkt des Beitrags ist die These, dass die Verbrechen der Sipo zwar Ausdruck und Resultat konformen Verhaltens der Beamten innerhalb eines bürokratischen Apparates gewesen seien, die Kategorien eines rationalistischen Organisationsbegriffs jedoch nicht ausreichen, um die Handlungsmuster der Sipo-Angehörigen zu erklären. Becker plädiert daher dafür, auch im Hinblick auf die Sicherheitspolizei besonders die nichtrationalen Aspekte der Organisation, nämlich deren Organisationskultur bzw. deren organisationale Identität in den Blick zu nehmen. Hierfür spielte das Leitbild eines elitären Staatsschutzkorps von „politischen Soldaten“ eine zentrale Rolle. Obgleich dessen Umsetzung größ-
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tenteils eine Utopie blieb, erwies es sich doch für die Führungskräfte der Sicherheitspolizei als handlungsleitend. Selbstbild und Korpsgeist dieser Beamten waren durch einen imaginierten Dauer-Ausnahmezustand, totale Herrschaftsansprüche sowie permanente Leistungsorientierung gekennzeichnet. Entscheidend für die Wirkungsmächtigkeit dieses Selbstbildes waren aber weniger ideologische Indoktrinierungen als die konkreten Praktiken „vor Ort“. Sie gründeten auf einer Vermischung „traditioneller“ polizeilicher Denk- und Handlungsmuster mit den sozialtechnologischen Programmen der Rassenhygiene. Um die Bedeutung von Selbstbildern und Gruppenidentitäten geht es auch im Aufsatz von Klaus Weinhauer über „Polizeieinsätze gegen Jugend- und Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre“. Das polizeiliche Auftreten bei studentischen Demonstrationen und den „Beatkrawallen“ im Umfeld etwa von Rolling Stones- und Beatleskonzerten seit Mitte der 1960er Jahre war durch die Versuche gekennzeichnet, Tatkraft, Mut und Entschlossenheit zu zeigen. Diese Haltung resultierte zum einen daraus, dass viele Polizisten aus dem Arbeiter- und Handwerkermilieu stammten, in dem Männlichkeitsvorstellungen dominierten, die Disziplin und Aktivität idealisierten. Zum anderen waren hier polizeiliche Leitbilder wirkmächtig, die den Schutz des Staates überhöhten und die eigene Dienstgemeinschaft als „Todesgemeinschaft“ stilisierten. Allerdings stellten die bei Demonstrationen und Protestaktionen agierenden Polizisten keine homogene Gruppe dar, sondern entstammten verschiedenen Alterskohorten mit jeweils spezi¿schen Erfahrungen. So wiesen beispielsweise die Revierbeamten einen höheren Altersdurchschnitt auf als die eben erst in den Polizeidienst eingetretenen Bereitschaftspolizisten. Für die Revierbeamten – oftmals noch durch die Bürgerkriegsszenarien der Weimarer Republik geprägt – konstatiert Weinhauer resignativ-defensive Gruppenbildungen: härteres Durchgreifen gegenüber Demonstranten sei angebracht. Unter den jungen Bereitschaftspolizisten herrschte eher ein offensiv-kämpferisch Selbstverständnis: sich in den ersten Einsätzen bewähren. Im Laufe der 1960er Jahre wichen Einsatzkonzepte zur Bewältigung bürgerkriegsähnlicher Bedrohungsszenarien neuen Ansätzen eines „protest policing“, die sich an deeskalierenden Handlungsmustern orientierten. Die Ausübung physischer Gewalt blieb jedoch auch in der Folgezeit fester Bestandteil polizeilichen Einschreitens bei Protesten und Demonstrationen, wie Michael Sturm am Beispiel der Geschichte und Verwendung des Polizeischlagstocks zeigt. Der Beitrag nimmt zwei Aspekte in den Blick: Erstens skizziert er die Entwicklung polizeilicher Hiebwaffen und ihrer Verwendung, vom Kaiserreich von 1871 bis in die jüngste Gegenwart. Zweitens geht es um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Emotionen, die mit dem Schlagen und Geschlagen-Werden verbunden waren und sind. Sturm vertritt die These, dass sich im Laufe der Jahrzehnte polizeiliche Gewaltpraktiken zwar verändert haben, diese Entwicklung jedoch keinen linearen Weg hin zur
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vielfach behaupteten Minimierung physischer Gewalt durch die Polizei markiert. Die nunmehr zivileren, „sportlichen“ polizeilichen Ausrüstungsgegenstände, wie beispielsweise der Mehrzweckeinsatzstock, repräsentieren weiterhin ein erhebliches Droh- und Gewaltpotential, sowohl in „praktischer“ Hinsicht als auch in den Wahrnehmungen und Ängsten derjenigen, die mit diesen Einsatzmitteln konfrontiert sein könnten. Dank Der vorliegende Band war keine ganz „leichte Geburt“; sein Erscheinen hat sich mehrfach verzögert. Die Gründe mögen vielfältig sein, die Verantwortung hierfür liegt ausschließlich bei den Herausgebern. Dass dieses Buch dennoch jetzt vorliegt – und hoffentlich anregende Einblicke in die polizeigeschichtliche Forschung der vergangenen zehn Jahre ermöglicht – ist in erster Linie den Autor/ innen, ihrer Geduld und ihrem Engagement zu verdanken. Großer Dank gebührt aber auch Prof. Dr. Hans-Jürgen Lange, der den Band in die von ihm herausgegebene Reihe „Studien zur Inneren Sicherheit“ aufgenommen hat. Er hat das Buchprojekt stets mit Interesse begleitet und mit Beharrlichkeit auf dessen Fertigstellung gedrängt. Mehreren engagierten Kolleg/innen ist es zu verdanken, dass die Beiträge dieses Bandes schließlich ihren Platz zwischen Buchdeckeln gefunden haben: Rebekka Haffner, Ruven Hein und Dr. Daniel Schmidt waren an der Redaktion einzelner Manuskripte beteiligt. Ein besonderer Dank gilt Kathleen Loock, M. A.; ihr Anteil am Gelingen des Projekts ist nicht hoch genug einzuschätzen. Alf Lüdtke/Herbert Reinke/Michael Sturm, im März 2011 Literatur Algazi, Gadi 1996: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter: Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main Amnesty International 2010: Täter unbekannt. Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland, Bonn Balakrishnan, Gopal 2005: „States of War“, in: New Left Review, 2nd series, No. 36, S. 5–32 Bayart, Jean-François 2004: Le gouvernement du monde. Une critique politique de la globalisation, Paris Behr, Rafael 2000: Cop Culture. Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur der Polizei, Opladen
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II Staatliches Gewaltmonopol – und sein Ende?
Die Rolle der Polizisten und Gendarmen im Wandel der österreichischen Staatssysteme des 19. und 20. Jahrhunderts Helmut Gebhardt
Einleitung Die Polizei als Träger des staatlichen Gewaltmonopols nach innen ist stets sehr eng mit den staatlichen Gewalten und Regierungen verknüpft. Die Staatsgewalt bestimmt zunächst, was unter Sicherheit und Ordnung zu verstehen ist, sie gibt aber auch den Handlungsrahmen vor und de¿niert insbesondere die Grenzen für das Einschreiten der staatlichen Ordnungshüter. In Österreich vollzogen sich im 19. und 20. Jahrhundert mehrfache grundlegende Umbrüche der Staatssysteme: von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie, dann weiter von der demokratischen Republik zur faschistischen Diktatur und schließlich über die beschränkte Souveränität in der Besatzungszeit bis zur heutigen freien demokratischen Republik. Vor diesem Hintergrund der mehrfachen Systemwechsel im österreichischen Staatswesen soll mit dem vorliegenden Beitrag die Rolle und Bedeutung der Polizisten und Gendarmen im jeweiligen Staatssystem beleuchtet werden. Als Ausgangspunkt dient die Epoche des Vormärz, ehe dann an Hand der wesentlichen Eckdaten der weiteren österreichischen Staatsgeschichte vorgegangen wird. Entscheidende Jahreszahlen in dieser staatlichen Entwicklung waren zunächst im 19. Jahrhundert das Revolutionsjahr 1848 und das Jahr 1861 mit der Einsetzung eines Parlaments, das dann 1867 eine umfassende Verfassung für die Doppelmonarchie beschloss. Im 20. Jahrhundert brachten schließlich die bewegten Jahre 1918, 1938 und 1945 einschneidende staatliche Umbrüche. Da es nicht möglich ist, mit diesem kurzen Beitrag die ganze Breite des Themas mit einer Zeitspanne von rund 200 Jahren auszuloten, sind Straffungen unvermeidlich. Auf manche Epochen kann deshalb nur ganz kurz eingegangen werden; und eine Periode musste überhaupt ausgeklammert werden. Denn es ist wohl kaum sinnvoll, die Zeit des Nationalsozialismus mit nur wenigen Stehsätzen abzuhandeln. Außerdem gab es damals auf dem Gebiet des heutigen Österreich keine für dieses Thema wirklich fundamentalen Unterschiede zur Situation im gesamten nationalsozialistischen Staat. A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_2, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Aufgeklärter Absolutismus und Vormärz Zunächst blenden wir also in der historischen Entwicklung zurück an den Beginn bzw. in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – in das Zeitalter, das man in der österreichischen Geschichtsschreibung unter der Überschrift „Aufgeklärter Absolutismus und Vormärz“ abhandelt. Zunächst ein paar allgemeine Worte zur Organisation des damaligen österreichischen Sicherheitswesens: Der wesentliche Grundstein zu einer staatlichen Polizei wurde in der Habsburgermonarchie bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gesetzt – in den Regierungszeiten der beiden aufgeklärten Herrscher Maria Theresia und Joseph II. Damals wurden in den größeren Städten des Reiches staatliche Polizeibehörden eingerichtet. Man hat sich dabei am Modell der Pariser Polizeiorganisation orientiert. Es gab also in diesen Städten jeweils einen Polizeidirektor, dem zunächst die Beamten der Polizeidirektion untergeordnet waren. Das waren zum Großteil Juristen, die vor allem die administrativen und leitenden Kompetenzen der Polizei wahrnahmen. Neben diesen Direktionsbeamten gab es noch die Polizeiwache als Exekutivorgan. Diese Wache war im Wesentlichen militärisch organisiert und unterstand im Innendienst nicht nur dem Polizeidirektor, sondern auch den Hierarchien der kaiserlichen Armee.1 Die weitere Organisation des Polizeiwesens sah folgendermaßen aus: Die Polizeidirektionen unterstanden jeweils dem Provinz-Gouverneur; und die Spitze des Polizeiwesens in der Habsburgermonarchie bildete die sogenannte Polizeihofstelle, die direkt dem Kaiser unterstand. Dieser Zentralbehörde oblag auch der gesamte Bereich der Zensur mit eigenen Zensurbehörden, weshalb sie die of¿zielle Bezeichnung „Polizei- und Zensurhofstelle“ führte.2 Geprägt wurde das Erscheinungsbild der damaligen Polizei also vor allem von den uniformierten Polizisten der militärisch organisierten Polizeiwache. Das Personal rekrutierte man aus der allgemeinen Armee. Dabei wurden Soldaten zum Polizeidienst abkommandiert, die nur über allgemeine militärische Erfahrung verfügten und keine spezi¿sche Vorbildung für den Dienst als Ordnungshüter aufwiesen. Zudem kamen dabei nicht voll taugliche Soldaten zum Einsatz, sondern sogenannte „halbinvalide“ Soldaten – also Armeeangehörige, die nicht mehr voll für den Gefechtsdienst einsetzbar waren. Das waren Männer mit di-
1 Zur damaligen Polizeiorganisation und zum Folgenden vgl. Gebhardt 1992; Hinterleitner 1979; Jäger 1990, S. 23 ff.; Mayer 1985; Oberhummer 1938, S. 47 ff. Ein kurzer Überblick ¿ndet sich außerdem bei Gebhardt 1993, S. 34–38. 2 Zur Organisation der Polizeihofstelle ist noch immer relevant die schon ältere Arbeit von Benna 1953, weiter vgl. Schwendenwein 1990.
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versen körperlichen Gebrechen – mit Verletzungen, die aus dem Kriegsdienst resultierten, oder mit sonstigen gesundheitlichen Problemen.3 Positiv war, dass alle Polizisten eine militärische Ausbildung absolviert hatten und damit in der Lage waren als Repräsentanten der staatlichen Macht – nötigenfalls mit Waffengewalt – einzuschreiten. Von Nachteil waren allerdings die körperlichen Behinderungen, die teilweise dem Ansehen sehr schadeten. Denn es war für die Polizisten aus diesem und auch aus anderen Gründen nicht immer leicht, sich in der Bevölkerung durchzusetzen. Zum einen gab es immer wieder Probleme mit anderen Armeeangehörigen. Reguläre Soldaten waren zum Teil nicht bereit, Entscheidungen ihrer ehemaligen Kameraden, die außerdem als nicht vollwertig betrachtet wurden, zu respektieren. Auch Angehörige des Adels bzw. der höheren Gesellschaft hatten große Probleme, die Autorität der staatlichen Polizisten anzuerkennen. Aber auch die übrigen Bevölkerungsschichten verhielten sich nicht immer autoritätsgläubig. Es kam deshalb regelmäßig vor, dass Verhaftungen oder sonstige Amtshandlungen von einzelnen Polizisten nicht durchsetzbar waren. Erst die Unterstützung durch ein zahlenmäßig stärkeres Auftreten der Polizeiwache führte dann zum Erfolg. Ein weiteres Problem war die Bestechlichkeit der Polizisten. Auf Grund des sehr geringen Gehalts kam es sehr häu¿g zur Annahme von Geldgeschenken, die dazu führten, dass Amtshandlungen nicht immer korrekt vorgenommen wurden oder einfach unterblieben. Andererseits muss man hier aber auch darauf hinweisen, dass unzählige Polizeiberichte davon Zeugnis ablegen, dass den Polizisten die sozialen Ursachen der Kriminalität durchaus bewusst waren. Deshalb ging man nicht immer mit der vollen Strenge der eingeräumten Amtsgewalt vor. Außerdem muss man hier auch erwähnen, dass die damaligen Polizisten auch friedensrichterliche Aufgaben erfüllten. Bei kleineren Streitigkeiten oder Rechtsproblemen konnte sich die Bevölkerung an die Polizei wenden. Damit war es ohne Einschaltung eines Gerichts möglich, durch diese polizeiliche Schiedsstelle zu einer ausgleichenden Entscheidung zu kommen. Neben diesen durchaus positiven Ansätzen bei den Kompetenzen der Polizei gab es auch massive negative Aspekte, die nach außen hin zu einem insgesamt negativen Image der damaligen Polizisten beitrugen. Dazu zählte insbesondere der gesamte geheimpolizeiliche Bereich. Zur Aufrechterhaltung des damaligen absolutistischen Staates gab es ein ausgeklügeltes System von Überwachungsmaßnahmen, das jeden Ansatz von staatskritischen Umtrieben unterdrücken und verhindern sollte. Strenge Ausweiskontrollen und genaueste Überwachung von öffentlichen Plätzen, von Versammlungen, sonstigen Veranstaltungen und Wirtshäusern zählten zu den Routineeinsätzen der Polizei. Es gab außerdem viele
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Zur Situation der Militär-Polizeiwache vgl. Steinwender 1992; Gebhardt 1992, S. 63 ff. und 196 ff.
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Spitzel in der Bevölkerung, die man vielleicht mit Stasi-Mitarbeitern der ehemaligen DDR vergleichen könnte. Diese sogenannten „Vertrauten“ wurden für ihre Mitarbeit entlohnt und hatten die Aufgabe, jede irgendwie geartete kritische Meinung an die Polizei weiterzugeben. Und dann schritt die Polizei unerbittlich ein. Es gab in diesem sogenannten „Polizeistaat“ keine rechtlichen Schranken des Polizeihandelns. Verhaftungen oder Hausdurchsuchungen konnten jederzeit vorgenommen werden und liefen ohne irgendwelche Beschränkungen ab. Die Polizei wurde damit zum sichtbaren Repräsentanten des damaligen Unterdrückungs- und Überwachungsstaates.4 Revolution und Neoabsolutismus 1848–1860 Als im Jahre 1848 die Revolution viele Zentren der Habsburgermonarchie erschütterte, stand insbesondere die Polizei im Visier der Revolutionäre. Die Abschaffung des Polizeistaates mit Zensur und Überwachung zählte zu den Hauptforderungen. Und viele wollten die Polizei als Repräsentant der staatlichen Macht überhaupt abschaffen. In den Wochen und Monaten nach der Märzrevolution wurden in fast allen Städten Bürgergarden aufgestellt, die den Sicherheitsdienst wahrnahmen. Die eigentlichen Polizisten mussten sich Anpöbelungen, Verletzungen und massive Behinderungen von Amtshandlungen gefallen lassen – so weit ging der Zorn der Bevölkerung gegen diese verhassten Staatsorgane. An einen regulären Polizeidienst war jedenfalls vorläu¿g nicht zu denken.5 Erst im Herbst 1848 beruhigte sich die Situation wieder, und der Polizeiund Sicherheitsapparat wurde dann schrittweise reorganisiert. Zwar knüpfte man nicht ganz an die Strukturen des Vormärz an, aber bald erblühte der Polizeistaat in alter Frische. Zunächst waren die Sicherheitsagenden noch dem neu errichteten Innenministerium übertragen worden, aber ab 1852 gab es wiederum eine eigene Sonderbehörde für das Sicherheitswesen – nämlich die sogenannte „Oberste Polizeibehörde“, der wiederum die einzelnen Polizeidirektionen in den größeren Städten der Habsburgermonarchie untergeordnet waren.6 Inzwischen war ja der revolutionäre Elan erlahmt. Die Ruhe im Habsburgerreich war wieder hergestellt worden. In den besonders sensiblen Teilen des Reiches – wie etwa in Oberitalien und besonders in Ungarn – waren die Unruhen mit massiver Waffengewalt niedergeschlagen worden. Der damals noch junge Kaiser Franz Joseph I. war jedenfalls nicht bereit, demokratische Strukturen zuzulassen,
Forcher 1966, S. 128 ff.; Gebhardt 1992, S. 144 ff und 178 ff.; Oberhummer 1938, S. 77 ff. Steinwender 1992, 1. Bd., S. 77 ff. 6 Jäger 1990, S. 68 ff.
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sondern kehrte zur absolutistischen Staatsform zurück. Diese neoabsolutistische Periode dauerte dann rund zehn Jahre bis 1860. Das kaiserliche Regime war damals fest entschlossen, jeden revolutionären Ansatz im Keim zu ersticken. Dazu wurde der Polizei- und Sicherheitsapparat massiv ausgebaut. Positiv zu vermerken ist, dass damals erstmals Rechtsvorschriften für die Polizeiorganisation und für das Vorgehen der Polizei erlassen wurden.7 Diese Verordnungen waren allerdings geprägt vom Geist des Absolutismus. Deshalb kam dem geheimpolizeilichen Sektor wieder ganz zentrale Bedeutung zu.8 Das führte dazu, dass sich in dieser Periode das schlechte Image der Polizei gegenüber der Zeit des Vormärz sogar noch massiv verstärkte. Besonders dazu beigetragen hat auch eine völlig ausufernde Versetzungspraxis innerhalb des Polizeiapparates.9 Die Polizisten wurden jeweils bereits nach ein bis zwei Jahren von einer Polizeidirektion zur anderen versetzt, und zwar quer durch die Monarchie. In diesem Vielvölkerstaat führte das natürlich zu ganz massiven Problemen. Denn die Polizisten beherrschten kaum oder überhaupt nicht die jeweilige regionale Landessprache und waren auch nicht mit den lokalen Gegebenheiten vertraut. Das führte zu großen Kommunikationsproblemen mit der Bevölkerung, einhergehend mit polizeilichen Übergriffen und Gewaltanwendungen, die das bis dahin gehandhabte Maß deutlich überstiegen.10 Neben der Polizei existierte seit dem Jahre 1849 auch eine zweite Sicherheitstruppe in der Monarchie. Als Ergebnis der AuÀösung der Grundherrschaften am Lande war die aus Frankreich stammende Gendarmerie in der gesamten Monarchie eingeführt worden. Damit gab es nun einen Àächendeckenden Sicherheitsapparat, der jeden Landstrich erfasste. Die Gendarmerie war ebenfalls militärisch organisiert. Doch im Gegensatz zur Polizei wurden bei der Gendarmerie nicht halbinvalide Soldaten eingesetzt, sondern da wurden nur die besten und voll tauglichen Männer übernommen. Das war auch notwendig, denn die Gendarmen mussten körperlich voll ¿t sein – schließlich gehörten zu ihrer Alltagsarbeit vor allem stundenlange Patrouillen, die zum Großteil zu Fuß zu absolvieren waren.11 Die Einführung der Gendarmerie hatte mehrere Aspekte. Ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt war, das nunmehr weite Teile der Bevölkerung mit den Gendarmen erstmals in Kontakt mit einem Repräsentanten der staatlichen Macht gerieten. Zuvor gab es ja als Autoritätspersonen nur die Bediensteten der privatKaiserliche Entschließung für die Organisation der Polizeibehörden vom 10. Juli 1850; Erlass des Ministeriums des Innern über den Wirkungskreis der Polizeibehörden vom 10. Dezember 1850. Dazu vgl. Gebhardt 1992, S. 239 f. 8 Zur damaligen Geheimpolizei vgl. Deak 2001, S. 77–80. 9 Zu dieser Versetzungspraxis vgl. Oberhummer 1938, 2. Bd., S. 91 ff. 10 Jäger 1990, S. 62 ff. und 200 ff. 11 Zur Einführung der Gendarmerie vgl. Gebhardt 1997, S. 28 ff; F. Hesztera 1994, S. 9 ff.; Hopfner 1999, S.28–32. 7
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rechtlich organisierten Grundherrschaften. Aber jetzt existierte ein Wachorgan, das die kaiserliche Autorität darstellte – ein Organ, das am Helm den kaiserlichen Adler führte, bewaffnet war und für die unmittelbare Beachtung der staatlichen Normen sorgte. Außerdem wurde mit den schon erwähnten Patrouillengängen eine allumfassende Präsenz der Gendarmerie gewährleistet. Die Gendarmerie hatte zunächst ein recht gutes Image, das aber relativ schnell ins Wanken geriet. Die Gendarmen, die schnell das Vertrauen der Bevölkerung gewannen, wurden nämlich bald zu geheimpolizeilichen Erhebungen herangezogen. Ein vertrauliches Gespräch mit einem Gendarmen, das vielleicht am Rande auch regimekritische Töne enthielt, konnte deshalb bald unliebsame Konsequenzen nach sich ziehen. Und als im Jahre 1860 – als Folge von militärischen Niederlagen des Habsburgerreiches – die Periode des Neoabsolutismus zu Ende ging, wurde auch die Abschaffung der Gendarmerie gefordert.12 Konstitutionalismus 1861–1918 Ab 1861 gab es in der Habsburgermonarchie mit dem „Reichsrat“ endlich ein funktionierendes Parlament und damit begann die konstitutionelle Phase, die bis 1918 andauern sollte. Im Reichsrat diskutierte man sehr bald auch Fragen der Sicherheitsorganisation. Die liberale Mehrheit der Abgeordneten wollte die allmächtige Polizei und Gendarmerie in ihren Möglichkeiten deutlich beschränken. Zunächst schob man rechtliche Schranken in die Alltagsarbeit des Sicherheitsapparates ein. Es wurden grundrechtliche Absicherungen eingeführt und insbesondere die Vornahme von Hausdurchsuchungen und Verhaftungen rechtlich beschränkt. Bald wurde auch die Oberste Polizeibehörde abgeschafft und die Kompetenzen des Sicherheitswesens im Innenministerium konzentriert.13 Dann stand aber vor allem die grundsätzliche Organisation der Polizei zur Debatte, die sich dann über mehrere Jahre hinzog. Viele Politiker sprachen sich dabei für die Dezentralisierung des Sicherheitswesens aus. Die Kompetenzen sollten zu den einzelnen Kronländern und zu den Gemeinden verlagert werden. Bald wurden Teile dieses Konzeptes auch in die Tat umgesetzt. Im Jahre 1866 wurden nämlich fast alle staatlichen Polizeidirektionen aufgelöst. Nur mehr in den ganz großen Zentren der Monarchie – wie etwa in Prag, Lemberg, Krakau oder Wien – blieben staatliche Polizeibehörden erhalten. In allen anderen Provinzstädten wurden die Polizeiangelegenheiten den dortigen Stadtverwaltungen untergeordnet. Die Verstaatlichung der Polizei, die Joseph II. eingeleitet hatte,
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Janetschek 1999, S. 36 f.; Gebhardt 1997, S. 81 f. Gebhardt 1997, S. 87 f.
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wurde damit wieder zurückgenommen. Bis zum Jahre 1918 war also das Sicherheitswesen in den meisten Städten in den Händen der Stadtmagistrate.14 Bei der einzigen staatlichen Polizeibehörde auf dem Gebiet des heutigen Österreichs – der Polizei in Wien – gab es teilweise erhebliche organisatorische Veränderungen, die vor allem um das Jahr 1873 vorgenommen wurden. In diesem Jahr fand die Internationale Weltausstellung in Wien statt. Und auf diesen Großeinsatz mit Besuchern aus aller Welt bereitete man sich sehr gezielt vor. Erstmals wurde eine eigene Kriminalpolizei mit nichtuniformierten Polizisten eingerichtet und die bis dahin militärisch organisierte Polizeiwache wurde in eine zivile Sicherheitswache umgewandelt. Damit wurden letzte EinÀussmöglichkeiten des Militärs beseitigt, und die Polizisten unterstanden nun allein den Beamten der Polizeidirektion. Die Polizisten agierten allerdings weiterhin nach Mustern aus der Zeit des Absolutismus. Gegen wilde Ausschreitungen, Straßentumulte oder politische Kundgebungen ging man sehr energisch vor und zeigte kaum Verständnis für die sozialen Anliegen der Demonstranten. Relativ schnell wurde von der Waffe Gebrauch gemacht, wodurch es immer wieder zu vielen Verletzten und zwischendurch auch Toten kam.15 Die Gendarmerie wurde zunächst nach 1860 personell und organisatorisch sehr stark beschnitten. Erst rund 20 Jahre später wurde der Gendarmerieapparat allmählich wieder ausgebaut. Es kam zu einer Verdichtung der Standorte (Gendarmerieposten) und einer damit einhergehenden Aufstockung des Personals. Die Gendarmerie blieb jedoch bis 1918 weiter eine militärisch organisierte Truppe. Das hatte vor allem für den einzelnen Gendarmen Konsequenzen. Die Gendarmen lebten in eigenen Kasernen, durften in der Regel nicht heiraten und wurden im Rahmen ihrer Ausbildung vor allem mit militärischem Wissen und Fähigkeiten vertraut gemacht. Auf das Vorgehen beim eigentlichen Sicherheitsdienst wurden sie kaum vorbereitet. Das hatte zur Konsequenz, dass die Gendarmen bei kritischen Situationen – wie etwa bei größeren Unruhen und Ausschreitungen – allzu leicht von ihrer Waffe Gebrauch machten.16 Im Parlament gab es mehrere Bestrebungen diese militärische Ausrichtung abzuschaffen. Doch letztlich wurde immer wieder das Argument vorgebracht, dass ein Gendarm auf dem Land sehr oft auf sich allein gestellt sei und kritische Situationen meistern muss. Man glaubte eben, dass die dann notwendige Autorität nur gewährleistet sei, wenn der Gendarm über derartige militärische Fähig-
Dazu vgl. Gebhardt 1998. Zu den Reformen der Polizei in Wien vgl. Steinwender 1992, 1. Bd., S. 122 ff. 16 F. Hesztera 1999 (a), S. 38–47; Gebhardt 1997, S. 107 ff. 14
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keiten verfügt, damit er sich nötigenfalls allein gegenüber einer aufgebrachten Menschenmenge behaupten kann.17 Die Gendarmerie bildete deshalb weiter die Verkörperung der staatlichen Autorität auf dem Lande und wurde in dieser Hinsicht auch zu einem wichtigen Eckpfeiler der dörÀichen Struktur. Neben dem Pfarrer und dem Lehrer gehörte der Dorfgendarm zu den geachtetsten Persönlichkeiten eines Ortes. Probleme gab es allerdings auf Grund des Nationalitätenproblems in den sensibleren Gegenden der Habsburgermonarchie. Die Gendarmen waren zwar verpÀichtet, Kenntnisse in der jeweiligen Landessprache aufzuweisen, doch diese Sprachenkenntnisse waren nicht immer und überall ausreichend. Zahlreiche Missverständnisse und national begründete Ressentiments kamen deshalb recht häu¿g vor.18 In den Hauptstädten der Provinzen gab es – wie schon kurz erwähnt – städtische Sicherheitswachen. Bei diesen Wachkörpern gab es keine einheitlichen Verhältnisse. Insgesamt agierten die größeren Städte der Habsburgermonarchie während dieser Zeit durchaus selbstbewusst. Der starke Bevölkerungszuwachs, den man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei so gut wie allen Städten verzeichnen konnte, trug dazu ganz wesentlich bei. Insgesamt kann man jedoch sagen, dass sich die städtischen Sicherheitswachen im Allgemeinen nicht bewährten. Die Polizei unterlag zum einen sehr stark den Fährnissen der lokalen Politik. Die personelle Ausstattung, die Ausrüstung und die Ausbildung waren recht unterschiedlich und hingen von den Prioritäten der städtischen Finanzplanung ab. Auch die konkreten Überwachungsaufgaben sowie das Vorgehen gegenüber der Bevölkerung waren sehr schwankend. Im Allgemeinen kann man außerdem behaupten, dass es um die Autorität der städtischen Polizisten eher schlecht bestellt war. Um es kurz zu machen – es gab bei fast allen städtischen Sicherheitswachen Probleme und Reformbedarf. Die meisten Städte fühlten sich letztlich auch überfordert, die Sicherheitskompetenzen in zweckentsprechender Weise zu lösen. Deshalb wurde um die Jahrhundertwende der Ruf laut, die städtischen Wachen wieder zu verstaatlichen. Die Diskussionen darüber zogen sich allerdings in die Länge und führten bis zum Ersten Weltkrieg zu keinem abschließenden Ergebnis.19 Insgesamt kann man zusammenfassend für diese Periode des Konstitutionalismus festhalten, dass der verfassungsrechtliche Wandel kaum prägende Spuren im Bereich der Sicherheitsorgane hinterließ. Polizei und Gendarmerie sahen sich weiterhin vor allem als Repräsentanten des Kaisers. Die Verfassung mit den Zu den Parlamentsdebatten und der Entwicklung der rechtlichen Grundlagen der Gendarmerie vgl. Metzinger 2004; Gebhardt 1997, S. 115 f. 18 Diese nationalen Ressentiments kulminierten dann zuweilen kurz vor und am Beginn des Ersten Weltkriegs. Dazu vgl. Moll 2000, S. 39–73. 19 Gebhardt 1998, S. 159–162; Jäger 1990, S. 83 ff. 17
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Grundrechten hatte auf die praktische Arbeit keine wirklich grundlegenden Auswirkungen. Die wenigen Rechtsvorschriften für das Sicherheitswesen stammten zudem weiter aus der Zeit des Absolutismus und sollten die Zeit der Monarchie überdauern.20 Erste Republik 1918–1938 Große Umwälzungen, wesentliche Einschnitte und vor allem gewaltige Herausforderungen brachte dann die Zeit nach 1918. Die große Unsicherheit nach dem Ersten Weltkrieg und die allgemeine Umbruchsstimmung führten zu relativ raschen Ergebnissen. Wichtige Reformen erfolgten deshalb bereits kurz nach der Errichtung der Republik. Zunächst wurde bereits im Jahre 1918 die Gendarmerie in eine Zivilwache umgewandelt. Die Unterstellung unter die militärischen Befehlshaber und die internen militärischen Strukturen wurden damit aufgelöst. Bald wurden weitere wichtige Reformen in der Ausbildung sowie in den internen Strukturen der Gendarmerie vorgenommen. Es kam zu einer deutlichen Vermehrung der Gendarmerie-Dienststellen und zur Errichtung von Kriminalabteilungen.21 Auch bei der Polizei gab es gewaltige Veränderungen. Dabei ist vor allem auf die Wiedererrichtung von staatlichen Polizeidirektionen zu verweisen. Im Laufe der 1920er Jahre wurden nämlich in insgesamt zwölf österreichischen Städten Polizeibehörden eingerichtet. Die Periode der kommunalen Polizeiverwaltung, die bereits in der Zeit der Monarchie reformbedürftig geworden war, wurde also nun beendet, und die Polizei in den Kompetenzbereich des Bundes eingegliedert.22 Diese Maßnahme ist vor dem Hintergrund der damaligen innenpolitischen Konfrontationen zu sehen. Die beiden großen politischen Kräfte des damaligen Österreichs gingen nämlich immer mehr auf Konfrontation: Das waren zum Einen die Christlichsoziale Partei, die zusammen mit kleineren deutschnationalen Gruppierungen durchwegs die Regierung stellte, und auf der anderen Seite die oppositionelle Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Beide Lager standen sich fast unversöhnlich gegenüber und verfügten vor allem über große bewaffnete Verbände. Diese Parteitruppen zeigten sich zunächst nur bei Aufmärschen, ginZur rechtlichen Situation vgl. Szirba 1995. Janetschek 1999; PerÀer 1999. Einen kurzen Überblick bietet Gebhardt 1995. 22 Österreichs Polizei und Gendarmerie waren besonders in den 1920er Jahren Vorbild für viele Staaten der Welt. Weltweite Anerkennung erfuhr man besonders durch den Wiener Internationalen Polizeikongress 1923, der auf Initiative des Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober stattfand. Zu dessen Person vgl. Hubert 1990; Hochenbichler 1982. Zu den Polizeireformen vgl. Gebhardt 1997, S. 230 f.; Jäger 1990, S. 140 ff.; Steinwender 1992, 1. Bd., S. 234 ff. 20 21
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gen dann aber in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre immer mehr auf Konfrontationskurs. Die Zwischenfälle häuften sich. Es gab immer wieder Verletzte und bald auch Tote. Inmitten dieses bedrohlichen innenpolitischen Machtkampfes stand der staatliche Sicherheitsapparat. Polizei und Gendarmerie gerieten also zwischen die Fronten der Parteien und bald wurde ihnen Einseitigkeit vorgeworfen. Diese Vorwürfe waren sehr massiv und wurden vor allem von sozialdemokratischer Seite geäußert. Polizei und Gendarmerie wurden also zum Feindbild stilisiert. Man könnte lange diskutieren und Argumente pro und contra vorbringen, ob diese Vorwürfe zu Recht erhoben wurden. Tatsache ist jedenfalls, dass Polizei und Gendarmerie auf Grund der Kompetenzlage im EinÀussbereich der Bundesregierung standen, die dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen war. Trotzdem gab es auch sozialdemokratische Sympathisanten innerhalb von Polizei und Gendarmerie, und die wurden von diesen pauschalen Vorwürfen vor den Kopf gestoßen und wechselten dann oft ihre politische Ausrichtung – vielfach auch in Richtung Nationalsozialismus. Dazu kam noch, dass die damalige rechtsgerichtete Bundesregierung innerhalb des Polizeiapparates eine Ausschaltung sozialdemokratischer Beamter betrieb.23 Im Februar 1934 kam es dann zu einem mehrere Tage andauernden Bürgerkrieg zwischen den Sozialdemokraten und den Regierungskräften, wobei der Ausgang dieses Kräftemessens vor allem auf das Verhalten des staatlichen Exekutivapparates zurückzuführen war. Polizei, Gendarmerie und das Bundesheer schritten auf Seiten der Regierung ein und schossen auch auf demonstrierende Arbeiter. Unmittelbare Folgen dieser verhängnisvollen Tage waren das Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die endgültige Abkehr Österreichs vom demokratischen Weg.24 Im Juli 1934 kam es dann noch zu einem Putschversuch der Nationalsozialisten, bei dem auch der damalige österreichische Bundeskanzler getötet wurde. Auch in diesem Machtkampf standen Polizei und Gendarmerie vor einer harten Bewährungsprobe. Doch letztlich wurden die Nationalsozialisten, die vom Deutschen Reich massiv unterstützt wurden, besiegt. Daran anschließend kam es zu Massenverhaftungen und großangelegten Vorsichtsmaßnahmen, um einem neuerlichen Putsch vorzubeugen.25 Es gab Alarmpläne mit genauen Anweisungen für das Vorgehen bei einer neuerlichen kritischen Situation. An diesen Plänen wurde eigentlich bis in die Tage vor dem sogenannten „Anschluss“ im März 1938
Dazu vgl. Winkler 1983, S. 21 ff.; Mähner 1990, S. 31 ff. Zum Vorgehen von Polizei und Gendarmerie vgl. Gebhardt 1997, S. 260 ff.; Steinwender 1992, 2. Bd., S. 57 ff. 25 Gebhardt 1997, S. 267 ff.; Steinwender 1992, 2. Bd., S. 98 ff. 23
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festgehalten. Polizei und Gendarmerie waren also eigentlich bestens vorbereitet, um eine Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich zu verhindern.26 Doch bereits in den Tagen vor dem Anschluss deklarierten sich viele Polizisten und Gendarmen als Sympathisanten der Nazis.27 Man kann also behaupten, dass quer durch den Sicherheitsapparat – wie in der gesamten österreichischen Bevölkerung – tiefe Risse bestanden. Auf der einen Seite gab es große Begeisterung, auf der anderen Seite standen aber auch viele, die bereit gewesen wären, für ein unabhängiges Österreich zu kämpfen. Tatsache ist jedenfalls, dass dann von den Nazis rund 20 Prozent der österreichischen Gendarmen und Polizisten strafversetzt oder überhaupt entlassen wurden. Besonders unter die Räder kamen jene Polizisten und Gendarmen, die vor 1938 mit besonderem Nachdruck gegenüber illegalen Nationalsozialisten vorgegangen waren.28 Zweite Republik Da die Periode des Nationalsozialismus, wie schon einleitend bemerkt, in diesem Beitrag nicht behandelt wird, soll zum Abschluss noch ein kurzer Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geworfen werden. Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur wurde im Frühjahr 1945 der österreichische Staat wieder errichtet und auch der Sicherheitsapparat reorganisiert. Man knüpfte dabei im Wesentlichen an die Zeit vor 1938 an – allerdings zunächst mit großen Beschränkungen.29 Österreich war ja nach dem Krieg bis zum Jahre 1955 ein vierfach besetzter Staat, und die Verhältnisse in den vier Besatzungszonen waren recht unterschiedlich. Am strengsten gingen dabei die Sowjets vor, die in ihrer Zone eigentlich bis 1955 dem Vorgehen von Polizei und Gendarmerie Beschränkungen auferlegten und Übergriffe vornahmen. Die westlichen Besatzungsmächte mischten sich in den Sicherheitsapparat nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein. Später ließen sie den Exekutivkräften in der Alltagsarbeit weitgehend freie Hand. Alle Besatzungsmächte verfolgten zunächst insbesondere das Ziel, den Sicherheitsapparat von ehemaligen Nationalsozialisten zu säubern. Es gab deshalb in den unmittelbaren Jahren nach dem Krieg einen gewaltigen personellen Umbruch. Dabei schleusten die Sowjets in die frei werdenden Schaltstellen ihrer Besatzungszone
Schmidl 1999, S. 148–153. Eine Unterwanderung des Polizeiapparates durch die NSDAP wurde bereits seit dem Jahre 1930 betrieben. Vgl. Winkler 1983, S. 253 ff. 28 Eine interessante Untersuchung bezüglich Salzburg ¿ndet sich bei Fuchs 1999. 29 Zu den Rechtsproblemen bei der Neuorganisation des Sicherheitsapparates vgl. Davy, S. 46 ff. 26 27
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vielfach Kommunisten ein. Bald gelang es jedoch, diesen kommunistischen EinÀuss schrittweise wieder auszuschalten.30 Eine besondere Bewährungsprobe hatten Polizei und Gendarmerie im Herbst 1950 zu bestehen. Die kommunistische Partei organisierte damals vor allem in der sowjetischen Besatzungszone groß angelegte Streikmaßnahmen, die zum Generalstreik gegen die Regierung führen sollten. Dabei wurden die Kommunisten auch von den Sowjets unterstützt. Bis heute ist nicht ganz geklärt, ob dahinter nicht etwa das Ziel steckte, einen kommunistischen Putsch zu organisieren. Es ist jedenfalls auch dem entschlossenen Auftreten von Polizei und Gendarmerie zu verdanken, dass es damals letztlich nicht zu einem politischen Umsturz in Österreich kam. Nicht vergessen darf man aber in diesem Zusammenhang die Mithilfe, das Engagement und entschlossene Auftreten der Gewerkschaften und der westlichen Besatzungsmächte.31 Eine Folge dieser Vorfälle war auch, dass innerhalb der Gendarmerie, vor allem mit Unterstützung der Amerikaner, eine schwer bewaffnete Truppe unter der Bezeichnung „B-Gendarmerie“ aufgestellt wurde, die zum Vorläufer des Bundesheeres werden sollte, das allerdings erst nach dem Abzug der Besatzungstruppen im Jahre 1955 organisiert werden konnte.32 Ab den 1960er-Jahren kam es dann allmählich zu verschiedensten Umbrüchen in der Tätigkeit von Polizei und Gendarmerie. Einerseits gab es eine neue Gewichtung und Erweiterung des Einsatzspektrums – von der immer mehr an Bedeutung gewinnenden Verkehrsüberwachung über die zunehmenden Einsätze bei Großveranstaltungen bis hin zu neuen Formen der Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung. Dies führte zu einer immer stärkeren Spezialisierung innerhalb des Sicherheitsapparates. Auf der anderen Seite ergaben sich auf Grund der Verbesserungen bei der technischen Ausstattung völlig neue Dispositions- und Einsatzmöglichkeiten für die Ordnungshüter. Statt beschwerlicher Patrouillengänge dominierten nunmehr Funkstreifeneinsätze zunehmend den Alltag. Diese Modernisierungen machten den rationelleren Einsatz der Sicherheitskräfte möglich, wodurch es zu teils massiven Streichungen bei den Dienststellen kam. Vor allem in den kleineren Orten am Land ging mit der AuÀassung von Gendarmerieposten und dem Verschwinden des dort stationierten Gendarmen oft ein Eckpfeiler der dörÀichen Struktur verloren.33 Trotz dieser teils umwälzenden Veränderungen in der internen Organisation, den Kompetenzen und in der Ausstattung des österreichischen Sicherheitsappa30 Zur Situation von Gendarmerie und Polizei in den Nachkriegsjahren vgl. Brettner 1997; Brettner 1999; Hager 1999; Holinka 2000, S. 30–32; Theimer 1995; Tweraser; Wetz 1971; Steinwender 1992, 2. Bd., S. 296 ff. 31 Zu diesem Streik vgl. Ludwig/Mulley/Streibel (Hg.) 1991; Garstenauer 2000. 32 Blasi 2002; G. Hesztera 1999, S. 190 f.; F. Hesztera 1999 (b); Reis 1994. 33 Zu diesem Aspekt des Landgendarmen vgl. auch Gebhardt 2001, S. 112 ff.
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rates gab das Handeln von Polizei und Gendarmerie in Alltagssituationen und vor allem auch bei kritischen Einsätzen immer wieder Anlass zu Kritik.34 Denn die Ordnungskräfte agierten noch sehr lange nach althergebrachten Mustern und Taktiken, die großteils bereits im 19. Jahrhundert üblich waren. Erst ab Mitte der 1980er Jahre kam es dann schrittweise zu Veränderungen in der praktischen Polizeiarbeit, die vor allem durch eine verbesserte Grundausbildung, ein regelmäßiges Einsatztraining und umfassende taktische Planungen erreicht wurden. Dazu kam noch, dass die Rechtsgrundlagen des österreichischen Sicherheitsapparates noch immer zum Großteil aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammten – also aus der Zeit des Absolutismus. Dabei war vor allem das Vorgehen in staatspolizeilichen Angelegenheiten äußerst problematisch und lief weitgehend ohne Kontrollen ab. Die Behebung dieses rechtsstaatlichen De¿zits ließ sehr lange auf sich warten.35 Erst 1969 gab es die ersten rechtlichen Regelungen für den Waffengebrauch; und erst im Jahre 1991 wurde das Sicherheitspolizeigesetz erlassen, das rechtsstaatliche Grundsätze im gesamten Polizeibereich einführte.36 Obwohl also der kaiserliche Absolutismus schon längst in der geschichtlichen Versenkung verschwunden war, prägten seine rechtlichen Normen teilweise bis in die jüngste Vergangenheit den Alltag von Polizei und Gendarmerie in Österreich. Literatur Benna, Anna Hedwig 1953: Organisierung und Personalstand der Polizeihofstelle (1793– 1848), in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 6, S. 197–239 Blasi, Walter 2002: Die B-Gendarmerie. Keimzelle des Bundesheeres 1952–1955, Wien Brettner, Friedrich 1997: Für Heimat, Volk und Ehre. Gendarmen der ersten Stunde, nicht Beruf, sondern Berufung. Die Gendarmerie in Niederösterreich von 1945–1955, Mattighofen Brettner, Friedrich 1999: Der Wiederaufbau der Österreichischen Bundesgendarmerie 1945 bis 1950, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 182–187
Bei den Großeinsätzen ist in diesem Zusammenhang zunächst auf Vorfälle bei verschiedenen Demonstrationen im Umfeld des Wiener Opernballs in den 1980er und 1990er Jahren hinzuweisen. Einschneidend waren aber besonders die Vorfälle vom Dezember 1984 in der Hainburger Au bei Wien. Damals gab es schwere Auseinandersetzungen zwischen den Polizeikräften und den Aubesetzern, die gegen einen Kraftwerksbau demonstrierten. Dazu vgl. Stenitzer 1994. 35 Zu diesbezüglichen legislativen Bemühungen vgl. Schwarz 1979. 36 BGBl.Nr. 149/1969 und BGBl.Nr. 566/1991. Zu den rechtsstaatlichen De¿ziten und zur Entstehung des Sicherheitspolizeigesetzes vgl. Funk 1994; Wagner 1991. 34
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Davy, Ulrike 1990: Die Geheime Staatspolizei in Österreich. Organisation und Aufgaben der Geheimen Staatspolizei im „Dritten Reich“ und die Weiterführung ihrer Geschäfte durch österreichische Sicherheitsbehörden, Wien (= Österreichische Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 8) Deak, Agnes 2001: Staatspolizei und Kon¿dentenwesen im Kaisertum Österreich in der Periode des Neoabsolutismus (1849–1859), in: Fazekas, I./Ujvary, G. (Hg.): Kaiser und König. 1526–1918. Eine historische Reise. Österreich und Ungarn, Wien, S. 77–80 Forcher, Michael 1966: Die geheime Staatspolizei im vormärzlichen Tirol und Vorarlberg, Diss., Innsbruck Fuchs, Gernod 1999: Gendarmerie 1938 und 1945 am Beispiel Salzburgs, in: Hörmann, F./ Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 172–177 Funk, Bernd-Christian 1994: Das neue Sicherheitspolizeirecht. Kodi¿kation und Reform einer klassischen Verwaltungsmaterie, in: Juristische Blätter, S. 137–152 Garstenauer, Berthold 2000: Gendarmen meisterten 1950 hochbrisante Einsätze, in: Landesgendarmeriekommando für Oberösterreich (Hg.): 150 Jahre Gendarmerie in Oberösterreich, Wien, S. 48–52 Gebhardt, Helmut 1992: Die Grazer Polizei 1786–1850. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Sicherheitswesens im aufgeklärten Absolutismus und im Vormärz, Graz (= Grazer Rechts- und Staatswissenschaftliche Studien, Bd. 48) Gebhardt, Helmut 1993: Die österreichische Polizeibürokratie im Vormärz, in: Archiv für Polizeigeschichte 4, H. 10, S. 34–38 Gebhardt, Helmut 1995: Die Österreichische Gendarmerie 1918–1938. Zwischen politischer Gewalt und Reform, in: Archiv für Polizeigeschichte 6, H. 17, S. 38–46 Gebhardt, Helmut 1997: Die Gendarmerie in der Steiermark von 1850 bis heute, Graz Gebhardt, Helmut 1998: Die Polizei- und Sicherheitsorganisation in Graz von 1867 bis 1919, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 27/28, S. 145–164 Gebhardt, Helmut 2001: Die Gendarmerie im Bezirk Deutschlandsberg 1850–2001, in: Tscherne, W./Gebhardt, H.: Geschichte der Bezirkshauptmannschaft Deutschlandsberg. Verwaltung – Gendarmerie – Schulwesen, Deutschlandsberg, S. 95–118 Hager 1999, Hubert: Die Polizei in Linz-Urfahr 1945–1950. Diss., Salzburg Hesztera, Franz 1994: Die Kommandostrukturen der Gendarmerie von 1850 bis 1993, Wien Hesztera, Franz 1999 (a): Die sozialen Aspekte im Gendarmeriekorps bis 1918, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 38–47 Hesztera, Franz 1999 (b): Von der Gendarmerie zur B-Gendarmerie. Der Aufbau des Österreichischen Bundesheeres 1945 bis Herbst 1952, Mattighofen Hesztera, Gerald 1999: Das Heer der Besatzungszeit. Die Gendarmerie als „Mutter“ des Bundesheeres, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 190–191 Hinterleitner, Reinhold 1979: Die Linzer Polizeidirektion in der Ära Metternich. Ihre politische und soziale Bedeutung im Vormärz von 1815–1848, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz, S. 11–78
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Hochenbichler, Eduard 1982: Johann Schober als Polizeipräsident, in: Wandruszka A. u. a. (Hg.): Festschrift zum 50. Todestag von DDDr. h. c. Johannes Schober, Wien, S. 98–104 Holinka, Hannes 2000: Gendarmen der ersten Stunde in der 2. Republik, in: Landesgendarmeriekommando für Oberösterreich (Hg.): 150 Jahre Gendarmerie in Oberösterreich, Wien, S. 30–32 Hopfner, Thomas 1999: Gründung der Gendarmerie, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien 1999, S. 28–32 Hubert, Rainer 1990: Schober – „Arbeitermörder“ und „Hort der Republik“. Biographie eines Gestrigen, Wien/Köln Jäger, Friedrich 1990: Das große Buch der Polizei und Gendarmerie in Österreich, Graz 1990 Janetschek, Kurt 1999: Die Gendarmerie von 1859 bis 1867, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 36–37 Janetschek, Kurt 1999: Die Gendarmerie von 1922 bis 4. März 1933, in: Hörmann, F./ Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 138–143 Ludwig, M./Mulley, K. D./Streibel, R. (Hg.) 1991: Der Oktoberstreik 1950. Ein Wendepunkt der Zweiten Republik. Dokumentation eines Symposions der Volkshochschulen Brigittenau und Floridsdorf und des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Wien Mähner, Peter 1990: Die Rolle der Polizei in der Konstituierungsphase des Austrofaschismus. Dipl.-Arbeit, Wien Mayer, Ingeborg 1985: Studien zum Polizeiwesen in Wien und Niederösterreich von seinen Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Diss., Wien Metzinger, Andreas 2004: Die Gendarmeriegesetze der Jahre 1850, 1876 und 1894 im Vergleich. Dipl.-Arbeit, Graz Moll, Martin 2000: Hochverrat und „serbophile Umtriebe“. Der Kriminalfall Maria-Rast als Beispiel der Verfolgung slowenischer Steirer zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Blätter für Heimatkunde 74, S. 39–73 Oberhummer, Hermann 1938: Die Wiener Polizei, Bd. 1, Wien PerÀer, Arnold 1999: Soziale Entwicklung, Dienstzeit, Unterkünfte, von 1919–1971, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 48–111 Reis, Arthur 1994: Die B-Gendarmerie. Dipl.-Arbeit, Wien Schmidl, Erwin A. 1999: Zwischen Bürgerkrieg und „Anschluß“: Die Österreichische Gendarmerie 1934 bis 1938, in: Hörmann, F./Hesztera, G. (Hg.): Zwischen Gefahr und Berufung. Gendarmerie in Österreich, Werfen/Wien, S. 148–153 Schwarz, Ingeborg 1979: Zur Geschichte und Inhalt der Regierungsvorlage eines österreichischen Polizeibefugnisgesetzes, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 8, S. 465–481 Schwendenwein, Margit 1990: Die Hofräte der Polizeihofstelle, in: Scrinium. Zeitschrift des Verbandes österreichischer Archivare 43, S. 173–184
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Steinwender, Engelbert 1992: Von der Stadtguardia zur Sicherheitswache. Wiener Polizeiwachen und ihre Zeit, Bd. 1, Graz Stenitzer, Elisabeth 1994: Der KonÀikt um Hainburg. Eine Chronologie der Ereignisse und deren Auswirkungen auf das politische System Österreichs, Dipl.-Arbeit, Wien Szirba, Rudolf 1995: Die Tätigkeit der Polizei im Dienste der Strafjustiz vor und nach der Strafprozeßordnung 1873, in: Weinzierl, E./Rathkolb, O./Ardelt, R. G./Mattl, S. (Hg.): Justiz & und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976–1993, Bd. 2, Wien, S. 355–378 Theimer, Gerald 1995: Die Wiener Staatspolizei in den Jahren 1945–1947, Diss., Wien Tweraser, Kurt 1995: Sicherheitspolitische Aspekte der amerikanischen Besatzung in Oberösterreich-Süd 1945–1950, Linz (= US-Militärregierung Oberösterreich, Beiträge zur Zeitgeschichte Oberösterreichs 14) Wagner, Michael 1991: Die Regierungsvorlage des Sicherheitspolizeigesetzes als Lösung des bisherigen Rechtsstaatsde¿zits auf dem Gebiet der Sicherheitspolizei, Diss., Salzburg Wetz, Ulrike 1971: Geschichte der Wiener Polizeidirektion vom Jahre 1945 bis zum Jahre 1955 mit besonderer Berücksichtigung der Zeit vor 1945, Diss., Wien Winkler, Elisabeth 1983: Die Polizei als Instrument in der Etablierungsphase der austrofaschistischen Diktatur (1932–1934) mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Polizei. Diss., Wien
Bürgergewalt und Staatsgewalt. Bewaffnete Bürger und vorkonstitutionelle Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert Ralf Pröve
Zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich gravierende Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Diese Veränderungen waren europaweit zu beobachten, wenngleich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und verschiedenen Entwicklungsstufen, zudem sektoral gestaffelt. Die Forschung hat denn auch von einer Doppelrevolution gesprochen (E. Hobsbawm) und damit die politische wie die ökonomisch-technische Dimension dieser Entwicklung thematisiert. Allmählich setzt sich zugleich die Erkenntnis durch, dieses Jahrhundert als Epoche ganz eigenen Charakters, als Epoche des Übergangs, zu verstehen. Reinhart Kosellecks geÀügeltes Wort von der Sattelzeit oder Überlegungen von Rudolf Vierhaus, die Zeit zwischen 1763 und 1830 als Einheit zu begreifen, zielen in diese Richtung: In einem mehrere Generationen übergreifenden Prozess wurden die großen Maximen ebenso wie der Alltag der Menschen tiefgreifend umgepÀügt: Aus einer frühneuzeitlichen Ständegesellschaft bildete sich eine bürgerliche Klassengesellschaft heraus, industrielle Revolution und die Aufhebung der Zunftökonomie markierten neue wirtschaftsliberale Marktbedingungen; vor allem aber veränderten sich die Bedingungen und Voraussetzungen von Herrschaft. Im Kern ging es um das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft. Beide Sektoren trennten sich in einem langwierigen und schmerzhaften Prozess, eine neuartige Öffentlichkeit nahm staatliches Handeln kritisch wahr, und die Diener des Staates wiederum sahen sich politisch initiativ handelnden Staatsbürgern gegenüber – zugleich beanspruchten Staat und Verwaltung einen nunmehr extrem erweiterten Zugriff auf die Bevölkerung. Die Nahtstelle zwischen den Sektoren bildeten einerseits die Kontrollmechanismen und damit die politische Teilhabe und Mitsprachemöglichkeit des Einzelnen, die sich in Institutionen wie etwa Parlament, Verfassung und Wahlrecht offenbart; andererseits zeigte sich die Nahtstelle aber auch beim unmittelbar handelnden Staat bei seinem Anspruch auf das Gewaltmonopol: Exekutivkräften wie Polizei oder Militär wurden neue Aufgaben zugewiesen und damit der staatliche Regelungsdruck auf die Gesellschaft enorm erhöht. A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_3, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Nirgendwo sonst ist dieses Problem manifester geworden als in der Frage der sogenannten Volksbewaffnung und den damit verbundenen Realisierungen wie Bürgerwehren oder Bürgergarden. Diese ‚civilen‘ Ordnungsformationen prägten 1848 nicht nur das Straßenbild in den großen europäischen Metropolen, sondern auch den Tagesablauf in der Provinz. Die Debatten über Volksbewaffnung setzten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Umfeld von Spätaufklärung und Patriotismusdiskussion ein. Sie reichten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Höhepunkt der Diskussion, als das Thema die Debatten 1848 in den politischen Klubs oder den Parlamenten beeinÀusste. Als die Revolution niedergeschlagen wurde und in den 1860er Jahren auch die sogenannte Wehrvereinsbewegung versiegte, verschwanden Idee und Begriff – ablesbar an dem dramatischen Schrumpfungsprozess der Stichworterläuterungen in den Lexika der 1870er und 1880er Jahre. Schon bei einem ersten intensiveren Zugriff entpuppt sich die gegensätzliche Doppelfunktion, die den Formationen von den Zeitgenossen zugedacht war. Auf der einen Seite sollte die Einrichtung als Sicherungsorgan für Besitzende und Reiche dienen, um Übergriffe der ärmeren Bevölkerung auf Grundeigentum und Besitz zu verhindern. Auf der anderen Seite sollten Bürgerwehren als bewaffneter Arm der Revolution fungieren. Damit verbunden war ihre Funktion als Verfassungsschutz und machtpolitischer Kontrahent des Stehenden Heeres. Bürgerwehren und andere civile Ordnungsformationen fungierten auf mehreren Ebenen als emp¿ndlicher Seismograph, an dem die politischen und gesellschaftlichen Probleme unmittelbar abzulesen sind. Die politischen Ordnungsvorstellungen greifen über die Formel von der Volksbewaffnung in das dichotomische Verhältnis von Staat und Gesellschaft ein. Je nach ‚Volks‘-De¿nition und machtpolitischer Befugnis sowie organisatorisch-institutioneller Kon¿guration reichte die Bandbreite von abhängigen Milizeinheiten (bestehend aus ehemaligen Soldaten oder Besitzbürgern unter militärischem Oberbefehl wie zum Beispiel bei der Landwehr) bis hin zur roten Tagelöhnergarde Marx-Engelscher Prägung. Zudem wurden auf kommunaler Ebene die Ordnungsformationen zu Trägern und Vehikeln bestimmter Leitbilder politisch-gemeindlicher Ordnung.1 Eng damit verbunden war die Bestimmung des Personenkreises, also die Frage, welche männlichen Einwohner in der Stadt Aufnahme in die Bürgerwehren ¿nden sollten. Der Begriff Bürgerwehr verweist ja nicht nur auf den Stadtbürger, sondern auch auf den Staatsbürger.2
1 2
Hierzu ausführlich Pröve 2000 (a). Vorliegender Aufsatz basiert im wesentlichen auf Pröve 2000 (b). Zur geschlechtergeschichtlichen Ausdeutung der Ordnungsformationen vgl. Pröve 1998, S. 103–120.
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Historiographische De¿zite Ungeachtet dieser vielfältigen Perspektiven hat die Forschung das Phänomen bisher stiefmütterlich behandelt. Dies ist um so bedauerlicher, gilt doch die Zeit zwischen der Mitte des 18. und dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts als epochale Phase fundamentaler Umwälzungen. Wenn auch die sattelzeitliche Forschung immer wieder vielen zeitgenössischen und historiographischen Mythen erlag und vor allem der Inselcharakter vieler Entwicklungen nicht immer angemessen erkannt wurde, so ist doch vor allem die von Historikern gerne eingenommene Perspektive der Sieger dafür verantwortlich, dass Ambiguität und Komplexität des Vormärz oftmals nicht ausreichend erkannt worden sind. Zu den unzureichend behandelten Feldern gehört in besonderem Maße das Phänomen der Volksbewaffnung. Zeitweise eine echte Alternative zum obrigkeitsstaatlichen Modell mit seinen Stehenden Berufstruppen und auf dem Höhepunkt der Entwicklung Gegenstand einer Diskussion, deren Teilnehmer aus einem breiten sozialen und politischen Spektrum kamen, unterlagen Grundidee (der Volksbewaffnung) wie Realisierungskonzepte schließlich dem siegreichen preußischen Militär- und Obrigkeitsstaat – mit verheerender Wirkung für die Wahrnehmung nachfolgender Historikergenerationen. Die dem Wunschbild vom starken Staat verpÀichtete borussophile Forschung im Kaiserreich wie in den folgenden Jahrzehnten, hat die Idee von der autarken Bürgerbewaffnung als politisch suspektes, letztlich der Französischen Revolution entlehntes, Hirngespinst verleumdet. Allzu bereitwillig wurde Treitschkes Charakterisierung von der lächerlichen Soldatenspielerei der Bürger übernommen.3 Im Dritten Reich wurde die Idee von der Volksbewaffnung zwar aufgegriffen und positiv besetzt, nun jedoch ideologisch aufgeladen und auf das völkische Modell vom wehrhaften Germanen reduziert.4 Ähnlich wie im Kaiserreich wurden die politischen und gesellschaftlichen Implikationen negiert oder einzelne, oft fragmentarisch herausgegriffene Elemente als „artfremd“, etwa französischen Ursprungs, denunziert. Nach 1945 verhinderte vor allem die nicht wirklich erkannte Komplexität des Problems, dass Protestforschung, aber auch Bürgertums-, Liberalismus- oder gar Militärgeschichte den Gegenstand angemessen beleuchteten. Die Militärgeschichte, die ohnehin bis vor wenigen Jahren an der universitären Abstinenz litt, fasste das Phänomen lediglich unter dem Aspekt Allgemeine WehrpÀicht und Landwehr, sie ignorierte die weiteren gesellschaftlichen und politischen Implika-
Treitschke 1907–1912, hier Bd. 4, S. 279. Mit weiteren Beispielen, auch für die Übernahme dieses Bildes Grothe 1996, bes. S. 435 f. 4 Höhn 1940; Höhn 1938, oder etwa Huber 1938. 3
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tionen.5 Die Liberalismusforschung fokussierte im allgemeinen nur auf die Ebene der Konzepte (wie der von Karl v. Rotteck und Ludwig Welcker), ohne die Forderung nach Volksbewaffnung als Kern des liberalen Wunschzettels und vor allem die Bandbreite der Vorschläge wirklich zu erkennen.6 Die Bürgertumsforschung verbuchte aufgrund ihres oftmals starr gewordenen Blickes auf vermeintliche Modernität und positive Zukunftserwartungen Bürgermilizen und Volksbewaffnungsidee unter antimodernistischen Gesichtspunkten und tradierte somit, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, das Treitschkesche Verdikt. Unterfüttert wurde diese Nicht- oder Missachtung von der in den 1970er und 1980er Jahren Àorierenden Protestforschung, die Bürgerwehren und Milizen lediglich in ihrer hilfspolizeilichen Funktion wahrnahm und einseitig als Gegenspieler der demokratischen Volksbewegung betrachtete.7 Im Folgenden sollen deshalb die Komplexität der gesellschaftlichen und politischen Faktoren angedeutet und der Gang der Diskussion nachgezeichnet werden. Positionen und Debatten um 1800 Die Diskussionen in den Jahren der Reformperiode lassen vier sich überschneidende Grundpositionen erkennen. Zum einen dominiert, vor allem aus den Reihen der Militärs und aus der konservativen Beamtenschaft, eine tiefe Abneigung gegen jede Form einer Volksbewaffnung. Sie sahen darin die Gefahr eines Umsturzes der gesellschaftlichen Ordnung und damit verbunden einer Beschneidung ihrer Privilegien und Besitzstände. Sie favorisierten deshalb das als revolutionsimmun geltende Berufsheer. Insbesondere die Heeresreform wurde als „Opfer, welches dem allerliebsten Zeitgeist gebracht wurde“, diffamiert, die allgemeine WehrpÀicht als „das ungerechteste Ding von der Welt“ umschrieben und das preußische Kantonsystem des 18. Jahrhunderts in vollen Zügen gelobt. Das „alberne Institut der freiwilligen Jäger“, so der preußische General von der Marwitz, gelte ebensowenig wie die „Tollheit der jetzigen dreijährigen Dienstzeit“.8 Immerhin lobte der General den „Wehrgeist“ von 1813, um im gleichen Atemzug die Selbständigkeit der Landwehr vom Stehenden Heer in der Verordnung von 1815 als „Hauptfehler“ scharf zu attackieren. Die Aufhebung der Kantonsbeschrän-
5 Lange Zeit wurde der Forschungsstand widergespiegelt von Messerschmidt 1983. Erst seit wenigen Jahren hat eine jüngere Generation begonnen, sich dem Thema unbefangener zu widmen und die Forschungsdesiderate abzubauen. Vgl. etwa konkret zu Vormärz und Revolution: Müller 1999. Zum generellen Forschungsstand vgl. auch Pröve 2000 (c). 6 Vgl. etwa Langewiesche 1991. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen bei Kaschuba 1988. 7 Vgl. hier zum Beispiel Husung 1983. 8 Marwitz 1908/1913, hier Bd. 1, S. 513, S. 497, S. 509 f. und S. 506.
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kungen und der Aufbau einer Landwehr wollte diese Gruppe höchstens als Notund Zwischenlösung, ähnlich wie die Verfassungsversprechen, akzeptieren. Eine weitere – zweite – Grundposition wurde von jenen vertreten, die vor dem Hintergrund des Herderschen Volksbegriffes das ‚nationale‘ und ‚völkische‘ Moment der Volksbewaffnung herausgriffen. In romantischer Verklärung des Mittelalters versuchte man, an die alten Wehrformen und späteren Defensionssysteme anzuknüpfen, und konstruierte eine lange Traditionslinie der „uralten und löblichen Sitte“ des Volksheeres, die lediglich durch die Stehenden Heere des Absolutismus unterbrochen worden sei. Ähnlich wie Gottlieb Fichte und Friedrich Ludwig Jahn rief Ernst Moritz Arndt zum Volkskrieg auf und forderte die „Bewaffnung des ganzen Volkes zu einem großen und heiligen Kriege“.9 Er pries den „soldatischen Geist“, der Landwehr und Landsturm auszeichne, und lehnte jedes Konskriptionssystem nach französischem Muster, aber auch jede Politisierung strikt ab: Nur in einem besonderen „treuen, gemeinsamen und brüderlichen Sinn allein darf eine Volkswehr aufgerufen und eingerichtet werden“. „Treue“, „Sittlichkeit“ und „Volksemp¿nden“ standen über dem republikanischen Freiheitsbegriff der Französischen Revolution. Auch Jahn zog den wahren, idealistischen und patriotischen „Landsturm“ eines Wilhelm Tell dem als „unseligen Pöbelkrieg“ umschriebenen Bauernkrieg vor.10 So wird auch die Verbindungslinie zu den alten Wehrformen verständlich; sie ermöglichte es, einerseits eine Volksbewaffnung zu legitimieren und andererseits dieselbe von den politischen Inhalten zu trennen. Die konservative Geschichtsschreibung um 1900 ist dieser konstruierten Tradition weitgehend gefolgt. Eine dritte Gruppe sah die Volksbewaffnung als vollkommen neue Einrichtung und zog folglich daraus unmittelbare politische Konsequenzen. Sinn und Zweck des Landsturms sei es nicht nur, so Ludwig Wieland, zur Vertreibung der Franzosen beizutragen oder Schutz vor Marodeuren und Nachzüglern zu gewähren, sondern vor allem als „Wächter des gemeinsamen Vaterlandes“ zu fungieren. Mit unverhüllter, einer Erpressung gleichkommenden Drohung machte er die Landsturmmänner zu Garanten einer bald zu verabschiedenden Verfassung.11 In einer vierten Gruppe lassen sich jene Stimmen zusammenfassen, die auf der einen Seite eine wie auch immer geartete Volksbewaffnung durchaus befürworteten, zugleich jedoch auf der anderen Seite weder den ‚Wehrertüchtigungs- oder Nationalerziehungsgedanken‘ proklamieren wollten, noch mit der Verfassungsfrage verbanden und politische Schlussfolgerungen zogen. Statt dessen stand unter eher technisch-administrativen Vorzeichen der Sicherheitsaspekt zusätzlicher Formationen im Vordergrund der Überlegungen. Landwehr, LandArndt 1813, S. 3.; Jahn 1810, S. 296. Vgl. auch Jahn 1884. Jahn 1810, S. 306 f. 11 Vgl. Wieland 1815, hier S. 337. 9
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sturm oder Bürgergarden galten als ideale Ergänzung des Stehenden Heeres, die es mit ihrer Präsenz ermöglichten, schnell und kostengünstig große Teile der männlichen Bevölkerung zu mobilisieren.12 „Volksbewaffnung“: Für und Wider Die Volksbewaffnungsdiskussion in jener Phase wurde vor allem vom damals aufsehenerregenden Preußischen Wehrgesetz von 1814 bestimmt, das über die meist üblichen Konskriptionssysteme mit Stellvertreterwesen weit hinaus ging und zudem mit Landwehr und Landsturm scheinbar die Volksbewaffnung realisiert hatte. Obwohl die Mehrheit das Gesetz und vor allem die Aufhebung der adligen Vorrechte, aber eben auch die Aufnahme aller Staatsbürger in den Militärdienst als richtungsweisend begrüßte, störten sich aus ganz unterschiedlichen Motiven Liberale wie Konservative an dem nun bedingungslos alle Männer verpÀichtenden Charakter, wollten vor allem die Liberalen keinen Zwang, sondern Freiwilligkeit, bejahte man das Prinzip der allgemeinen WehrpÀicht, nicht jedoch deren Umsetzung. Allein die Bezeichnung „Kriegsdienst“ stieß auf Kritik, suggerierte sie doch alte Abhängigkeiten und Nötigungen. Man erbat sich zumindest eine Milderung der Bestimmungen, erhoffte sich wenigstens für die Verrichtung aufwendiger Wachdienste die Erlaubnis zur Stellvertretung. Kritiker befürchteten eine Bedrohung der persönlichen Freiheit, unermesslichen Schaden für Wissenschaft und Kunst – überhaupt den Niedergang des bürgerlichen Erwerbslebens. Es schien, als seien die mühsam abgerungenen bürgerlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf das Stehende Heer mit gravierenden Nachteilen erkauft worden, ja man gewann den Eindruck, als ob das Stehende Heer die allgemeine, auf Freiwilligkeit beruhende Volksbewaffnung konterkarierte.13 Analog zu seiner semantischen Vertiefung unterlagen der Debatte – und den damit verbundenen vier Grundhaltungen – differierende politische Positionen und vor allem unterschiedliche Auffassungen von Freiheit, Volk, Gesellschaft und Staat. Anhänger der alten Ordnung hielten an der Untertänigkeit der Menschen und der Absolutsetzung fürstlich-monarchischer Gewalt fest: Staat und Gesellschaft bildeten danach eine organische Einheit, die Beziehungen zwischen König und Untertan waren paternalistisch geprägt. Gerade für konservative Militärs bedeutete Volksbewaffnung daher allenfalls ein neuer patriotischer Kampf-
In diesem Sinne etwa: Plan zu einer militärischen Nationalbildungs-Anstalt der Teutschen, mit besonderer Beziehung auf die Sachsen, in: Nemesis 4 (1815), S. 561–584. 13 Über stehende Heere und Volksbewaffnung, in: Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte 3 (1814), S. 77–97. Vgl. auch Mürmann 1910. 12
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geist oder maximale Zugriffsrechte auf die zivile Bevölkerung unter Umgehung bisheriger bürgerlicher Schutzbestimmungen. Militärreformer oder die Vertreter der Wehrertüchtigung, erstere im Zeichen der Spätaufklärung, letztere im Bann der Romantik und des Herderschen Volksbegriffes, akzeptierten zwar die Koexistenz von Staat und Gesellschaft, wollten aber nur einen sittlich-moralischen Freiheitsbegriff anwenden und damit lediglich die ‚innere‘ Einstellung der Menschen ändern. Eine nach ‚außen‘ gerichtete radikale Umwälzung der Staatsverfassung oder die Verkündung des politisch partizipierenden Staatsbürgers stand nicht zur Disposition. Erst vor dem Hintergrund des politischen und republikanischen Freiheitsbegriffs geriet die Formel von der Volksbewaffnung zur staatskritischen Variante. Die weitere Diskussion um Volksbewaffnung wurde vom entstehenden Frühliberalismus und der einsetzenden Restaurationsphase geprägt. Es war vor allem die bereits 1815 verfasste Schrift Karl von Rottecks über Stehende Heere und Nationalmiliz, die die weitere Diskussion erheblich beeinÀusste und ihre Richtung bestimmte.14 Rotteck nahm die alten Argumente gegen das Stehende Heer auf, präzisierte und verstärkte sie. Er prangerte einen „dreyfach verderblichen Jammer“ an, den die „Miethstruppen“ verursachten, und diagnostizierte einen außenpolitischen, einen ökonomischen und einen innenpolitischen Faktor. Statt Konskription und Zwang forderte Rotteck das Prinzip der Freiwilligkeit, eine VerpÀichtung zum Kriegsdienst entstünde lediglich im Falle der „Noth“ oder wenn der „Nationalwille ihn heischt“. Entscheidende Funktion habe der „Volkswille“, komme der Verfassung zu. Haben Öffentlichkeit, Parlament und Regierung den „Nationalkrieg“ erklärt, sei der Kriegsdienst damit eine „ehrenvolle VerpÀichtung“, werde es an freiwilligen „Streitern“ also nicht fehlen. Rotteck schlug die Erstellung einer „Nationalkriegsverfassung“ vor, in der jeder Bürger zugleich „Glied des Nationalheeres“ sei. Die „Volksrepräsentation“ bestimmte über Einberufung, Einsatz und Dauer des Dienstes. Of¿ziere würden frei gewählt und von den Ortsbehörden ernannt. Wende 1830: Bürgergarden – Bürgerbewaffnung ? Das Jahr 1830, als im Gefolge der Julirevolution in Frankreich auch Unruhen in einigen deutschen Staaten ausbrachen, brachte eine deutliche Wende. In Sachsen und Kurhessen, aber auch in Hannover und Braunschweig kam es zur Einrichtung von Bürgergarden. Zwar schliefen diese Formationen nach wenigen Jahren
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Siehe hierzu: von Rotteck 1816.
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zumindest in den Augen der Außenstehenden wieder ein,15 immerhin hatte man aber nach den Erfahrungen von 1813 zum ersten Mal diesbezügliche liberale Forderungen umsetzen und eine Volksbewaffnung realisieren können, die völlig losgelöst vom Militärapparat stand. Die weitere Diskussion wurde vor allem von zwei Faktoren bestimmt. Zum ersten wurde nun für alle überdeutlich demonstriert, wie sehr Verfassungsfrage und Beteiligung der Bürger an der staatlichen Exekutive miteinander verknüpft waren – wie intensiv die Maxime von der politischen Mitbestimmung, vom gleichberechtigten Staatsbürger alle Bereiche des öffentlichen Lebens erfassen konnte. Die Verankerung der Bürgergarde in die kurhessische Verfassungsurkunde hatte dies nachdrücklich unterstrichen und die Ängste der Konservativen vor einem Umsturz nachhaltig geschürt. Beängstigend war in ihren Augen vor allem die Tatsache, dass die Liberalen von der bisher favorisierten Idee der Landwehr, die man wenigstens ansatzweise als militärische Korporation noch akzeptieren konnte, abrückten, und nunmehr in Form von Bürger- und Kommunalgarden rein bürgerliche, vom Militär völlig abgekoppelte und eigenständige Schutzeinrichtungen proklamierten.16 Zudem wurden diese Bürgergarden nicht mehr wie zwischen 1809 und 1813 als königlicher Gnadenakt huldvoll geduldet, sondern mit teilweise gewaltsamen Maßnahmen förmlich von der Regierung erpresst. Der wenig präzise und polemisch gebrauchte Sammelbegriff „Volksbewaffnung“ hatte damit eine weitere Variante bekommen: Neben den vor allem in den Befreiungskriegen gespeisten Konnotationen – ‚allgemeine WehrpÀicht‘ bzw. ‚Konskription‘ auf der einen, formellen Formationen wie Landwehr oder Landsturm auf der anderen Seite – kam nun mit der autarken Bürgerbewaffnung eine weitere und radikalere Version hinzu. Die Forderung nach Bürgerbewaffnung, die jetzt etwa auch Rotteck und Welcker stärker betonten,17 gehörte nunmehr zum Repertoire von gemäßigten wie entschiedenen Liberalen, von Demokraten und Radikalen. So forderte der demokratische Publizist Friedrich Wilhelm Schulz 1832 nach dem kurhessischen Vorbild „in allen deutschen Ländern, wo noch keine Bürgergarden sind […] dem Volke die Waffen in die Hände“ zu geben. Da „wehrloses Volk […] gleich dem Sperlinge in den Klauen des Habichts“ sei, habe jeder das Recht, sich eine Waffe
Im Conversations-Lexikon der Gegenwart, Bd. IV 1841, S. 278, wurde dies so formuliert: „ist das Institut mehr und mehr, wenn nicht entschlafen, doch eingeschlafen“. 16 Vgl. dazu W. Schulz 1833, der die ‚modernen‘ kurhessischen Bürgergarden der großherzoglichhessischen Landwehr aus den 1810er Jahren deutlich voranstellte. Betont wurden die besondere Nähe von Verfassung und Bürgergarde und dementsprechend die Ferne von Reformen und dem „Uebel“ der Landwehr, vgl. S. 3 ff. 17 Vgl. dazu: Welcker 1836; von Rotteck 1836. 15
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zu besorgen.18 Schulz rief damit indirekt zum Verfassungskampf, zum bewaffneten Schutz von Freiheit und Verfassung auf. Ein zweiter, die weitere Diskussion bestimmender Faktor war die Sorge vor einem sozialen Umsturz, vor einer Gefährdung des besitzbürgerlichen Eigentums durch den immer zahlreicher werdenden „Pöbel“. Zwar hatte man bürgerliche Schutzformationen, wie etwa in Preußen vornehmlich in den Jahren von 1806 bis 1813, auch und insbesondere als Ordnungsmacht nach ‚innen‘ zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eingesetzt. Doch hatte man hierbei vornehmlich an die sozialen Folgekosten der napoleonischen Okkupation und die AuÀösung der Grande Armée gedacht, an französische Deserteure oder Marodeure, an jenes bunte Völkergemisch aus ganz Europa, das nach AuÀösung der napoleonischen Herrschaft, größtenteils alter Bindungen entwurzelt, in größeren Gruppen plündernd durch die Lande zog.19 Die Vorfälle der Jahre 1830 und 1831 in Kurhessen und Sachsen, die Erstürmungen von Bäckerläden und Lebensmittelständen, die Demolierung von Fenstern und Häusern hatten demgegenüber den Besitzbürgern mehr denn je in erschreckender Deutlichkeit klar gemacht, dass ihnen nicht nur Gefahr ‚von oben‘ durch absolute Monarchie und Stehendes Heer drohte, sondern auch ‚von unten‘ durch spontane Hungerunruhen und Revolten unterbürgerlicher Schichten, die in zunehmendem Maße auch sozialrevolutionäre Forderungen artikulierten und deren Aktivitäten bald von einer radikalpolitischen und sozialistischen Publizistik begleitet wurden. Nach 1830 verhärteten und verdichteten sich die Positionen vor allem im Hinblick auf eine offene Frontstellung zum Staat. Eine allmähliche politische Lagerbildung bewirkte je nach Radikalität des Verfassungs- und Gesellschaftsentwurfes die weitergehende Auffächerung der Volksbewaffnungsvarianten. Die Möglichkeit, Milizen und Ordnungsformationen nunmehr auch gegen protestierende Unterschichten einzusetzen,20 führte nicht nur dazu, dass selbst bisherige strikte Gegner der Volksbewaffnung sich mit konstruktiven Vorschlägen zu Wort meldeten. Zugleich rief dies eine Spaltung des liberalen Blocks hervor. Da gab Siehe F. W. Schulz 1979. Vgl. hier die zeitgenössische Diskussion z. B.: Wie sollten sich Magistratspersonen kleiner Städte jetzt im Kriege gegen Freund und Feind benehmen ? und wie haben sie sich benommen ? besonders in Schlesien, in: Neue Feuerbrände 1.2 (1807), S. 118–124; vgl. auch: Was thut jetzt Not ? Oder Vorschläge zu unfehlbarer Sicherstellung des Eigenthums gegen Diebe und Räuberbanden, in: Intelligenzblatt zu den Neuen Feuerbränden 2 (1808), S. 289–315, wo von umherstreifenden Räuberbanden gesprochen wird. 20 Vgl. etwa Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, hier Bd. XII 3 1831–1836, S. 20, wo die Einrichtung der Bürgergarden 1830 vornehmlich zu dem Zweck gebildet worden seien, „um Freiheit und Eigenthum gegen die Gesetzlosigkeit zu schützen“.
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es jene, die unterbürgerliche Schichten von politischen Entscheidungsprozessen weiterhin ausschließen und damit am Ideal der gebildeten bürgerlichen Sozietät und der Grundbesitzergesellschaft festhalten wollten, sowie jene, noch wenigen Stimmen, die das Modell vom partizipierenden Staatsbürger auf alle Männer übertragen und damit im Kern nicht nur politische und verfassungsrechtliche Änderungen, sondern grundlegender noch, sozioökonomische Wandlungen im Besitzgefüge durchführen wollten. Die im Gefolge der Julirevolution aufgestellten, am bürokratischen Staatsapparat nur locker angebundenen und vom Militär völlig losgelösten Bürger- oder Kommunalgarden waren nicht nur Ausweis einer zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise extremen Form der Volksbewaffnung, sondern auch Anknüpfungspunkt für Leitbilder kommunaler Ordnung. 1848: Höhe- und Wendepunkt Die Jahre 1848 und 1849 markieren den Höhe- und Wendepunkt des Volksbewaffnungsgedankens. Im Frühjahr duldeten viele Konservative – und selbst die Armee – die Einrichtung von Bürgerwehren als notwendiges Übel, schien sie doch zunächst eine geeignete Maßnahme zu sein, die weitere Radikalisierung der Revolution zu verhindern. Noch im Frühsommer schwebte ihnen deshalb eine Ef¿zienzsteigerung der Bürgerwehr vor, eine intensivere Militarisierung und ein freizügigerer Einsatz der Gewehre, um in Zukunft alle Demonstrationen und Tumulte energischer auseinander treiben zu können. Andere Konservative, wie Ernst Ludwig von Gerlach, störten sich dennoch an dem unmilitärischen Bild der Bürgerwachen, an der mangelnden Disziplin der Männer und ihrer Unzuverlässigkeit und bedachten die Formationen deshalb bald mit Hohn und Spott.21 Die Anfeindungen wurden schärfer, als im Spätsommer und Herbst die Bürgerwehren zum einen ihren hilfspolizeilichen Aufgabenbereich immer weniger erfüllen wollten oder konnten, zum anderen offenen politischen Widerstand leisteten. So argwöhnte Friedrich Julius von Stahl, dass der Schutz des Eigentums nur ein Vorwand gewesen war, die Wehren zu errichten, und dass man vielmehr damit „eine Gewalt gegen den König“ bezwecke. Auf diese Weise könnte das Volksheer als „Parlamentsheer“ fungieren und eine zweite Macht neben dem Stehenden Heere bilden.22 Als sich die Ereignisse in Berlin im Oktober und November zuspitzten, wurde die Besetzung der Stadt durch Militär und die Entwaffnung und AuÀösung der Bürgerwehr gefordert. Zumindest aber sei es nötig, 21 So notierte Gerlach am 31.5.1848 über die in der Hasenheide übende Berliner Bürgerwehr: „Die Berliner witzeln: Die Hasen-(Bürger)wehr exercirt in der Bürger=(Hasen)-Heide“; vgl. von Gerlach 1903, Bd. I, S. 531 f. 22 Stahl 1868, bes. S. 75 f.
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so ein Bericht in der konservativen Kreuzzeitung vom 7. November 1848, „dem guten Geiste der Bürgerwehr die Oberhand über die derselben beigemischten schlechten Elemente zu verschaffen“. Aus einer „bürgerlichen Einrichtung zum Schutze der gesetzlichen Ordnung“ sei auf diese Weise „eine Art prätorianischer Garde für die Partei des Umsturzes“ geworden.23 Die Liberalen hatten die Märzverordnungen, die nunmehr endlich im ganzen Deutschen Bund eine Volksbewaffnung ermöglichten, zunächst durchweg freudig begrüßt. Die Erfahrungen mit der Bürgerwehr in den folgenden Monaten und die weitere politische Entwicklung im Sommer und Herbst 1848 blieben nicht ohne Rückwirkung auf den Volksbewaffnungsdiskurs. Es lassen sich vor allem drei Schwerpunkte erkennen: die Frage nach dem Aufgabenbereich der Ordnungsformationen, also im engeren Sinne die Dichotomie ‚Hilfspolizei‘ vs. ‚Verfassungswacht‘; die Frage nach dem potentiellen Mitgliederkreis und die Frage nach der Bindung an die Obrigkeit. Zum ersten: Wie bereits die kurhessischen Ereignisse der 1830er Jahre offenbart hatten, blieb der doppelte Aufgabenbereich der Bürgerwehren ein ständiger Reibungspunkt, der nun, im Jahre 1848, besonders brisant wurde. Verstanden sich die Ordnungsformationen in erster Linie als Hilfspolizei, sahen die Bürger also ihre Hauptaufgabe darin, für die Einhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen, so drohten sie mit der Veränderung der politischen Großwetterlage zu einem Instrument der Reaktion zu werden; hielten die Bürgerwehrmänner aber an ihrer verkündeten Verfassungsschutzfunktion fest, so gerieten sie in die Gefahr, als Revolutionäre und Umstürzler bezeichnet zu werden. Unklar war ja vor allem, was denn unter öffentlicher Ruhe oder gesetzlicher Ordnung zu verstehen sei.24 In diesem Jahr der rasch verkündeten Gesetze und Verordnungen, die oft ebenso so schnell wieder aufgehoben oder geändert wurden, musste zwangsläu¿g ein unvereinbarer Widerspruch zwischen polizeilichen Maßregeln und verfassungsmäßiger Freiheit bestehen. Carl Schwebemeyer hat diese Problematik so umschrieben: „Welche Rolle wird die Bürgerwehr hier spielen ? Wird sie sich der Empörung anschließen ? Dann handelt sie im Widerspruch mit ihrer Bestimmung, […] die öffentliche Ruhe, die gesetzliche Ordnung zu schützen. Wird sie die Empörung unterdrücken ? dann allerdings handelt sie jener Bestimmung gemäß, andrerseits aber wird sie dadurch der Sache der Volksfreiheit schaden, dem Absolutismus und der Tyrannei Vorschub leisten“.25
23 Herr Rimpler und die Bürgerwehr, in: Neue Preußische Zeitung [Kreuzzeitung] Nr. 111 vom 7.11.1848. 24 Vgl. zu diesem Problem auch Knöbl 1998. 25 Schwebemeyer 1848, S. 6.
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Dieses an die Geschwindigkeit der Revolution gekoppelte Dilemma trug wesentlich zur vielbeklagten „schlechten Stimmung“ bei. Freilich verliefen solche Prozesse nicht einheitlich; vielmehr überlagerten sich die unterschiedlichen politischen Voraussetzungen und sozioökonomischen Gegebenheiten in den Ländern, Regionen und Städten mit der jeweils aktuellen tagespolitischen Entwicklung. Die Konservativen jedenfalls waren an einer ausschließlich hilfspolizeilich orientierten, revolutionsimmunisierten Bürgerwehr interessiert, schien diese doch in der ersten Zeit sogar ein geschmeidigeres Instrument zur Unterdrückung von Unruhen zu sein als das Militär. Als jedoch die Bürgerwehren in den Augen der Konservativen sowohl ihre Fähigkeit als auch ihre Bereitwilligkeit zur Niederschlagung von Demonstrationen oder Protesten verloren, bestanden sie – parallel zum Siegeszug der Reaktion – auf einer AuÀösung aller diesbezüglichen Formationen. Schwieriger war die Haltung der Liberalen. Einerseits wussten die Besitzbürger spätestens seit 1830, wie nützlich eine solche Ordnungsformation sein konnte, wenn man selbst zum Ziel von Protesten wurde und sein Eigentum bedroht sah. So hatte man sich im Frühjahr deshalb ausdrücklich zum Ordnungsaspekt bekannt – nicht zuletzt um die Fürsten und Anhänger der alten Ordnung auf die eigene Seite zu ziehen. Andererseits wollte man sich aber auch nicht zum ständigen Büttel der Polizeiorgane degradieren lassen. Insbesondere die radikaleren Publizisten prangerten dies als unannehmbare Einschränkung an. So stufte Friedrich Wilhelm Alexander Held im Juli 1848 den Ordnungsaspekt lediglich als „secundären Zweck“ ein und strich demgegenüber die Aufgabe der Bürgerwehr als Schutz der „Volksfreiheit“ heraus.26 Als im Herbst 1848 in Preußen das Bürgerwehrgesetz erlassen wurde, das den hilfspolizeilichen Charakter noch stärker heraushob, erhielt das Innenministerium eine Reihe von Protestnoten. Der Tenor lautete ähnlich; es seien mit diesem Gesetz nicht die „Forderungen des Volkes, das Recht der Bürger, die Freiheit und Verfassung des Vaterlandes mit den Waffen zu vertreten“ erfüllt worden. Vielmehr sei die Bürgerwehr nun „eine gehässige ZwangspÀicht zur Handhabung der Polizei und zur Befestigung einer despotischen Verwaltung geworden“. Das Volk sei somit „zum Schergendienst gegen sich selbst [Hervorhebung R. P.] verdammt“.27 – Neben dieser eher politisch orientierten Kritik mehrte sich auch Unmut bei den einfachen Bürgern über den reinen Sicherungsund Ordnungsdienst, der sehr aufwendig und zeitintensiv war. Eine Folge war, dass wegen der starken Arbeitsbelastung eine stärkere Einbindung der Polizei gefordert wurde, und außerdem, dass nicht wenige Bürger sich dem Dienst in der Bürgerwehr zu entziehen suchten. Förderer der Bürgerwehr argwöhnten hin26 27
Held 1848. Greifbar sind diese Protestschreiben in GSTA Berlin Rep. 77, Titel 244 a, Nr. 1, S. 161 ff.
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ter den vielen obrigkeitlichen „Requisitionen“ und der so verursachten „Vielgeschäftigkeit“ den systematischen Versuch, das ganze Institut zu sabotieren.28 Die Sozialisten und Frühkommunisten schließlich lehnten den Ordnungscharakter der Bürgerwehr überhaupt ab und forderten volle Souveränität und das allgemeinpolitische Mandat. Die zweite Grundposition, die sich in der Volksbewaffnungsdebatte manifestierte, war die Frage nach dem geeigneten Personenkreis, der Anfang 1848 eine deutliche Erweiterung erfahren hatte. Hinter diesem Problem verbargen sich wiederum verschiedene Gesellschaftskonzeptionen. Die Konservativen wollten nur „die guten Elemente“, also das politisch konforme Besitz- und Beamtenbürgertum in der Bürgerwehr vertreten wissen. Jede Beteiligung des „Pöbels“, der unterbürgerlichen Schichten, wurde strikt abgelehnt. Diese Stimmen hielten nicht nur weitgehend an einem ständischen Gesellschaftsmodell rechtlicher Ungleichheit fest, sondern propagierten auch ein Untertanenverhältnis von Staat und Bevölkerung, das Mitsprache möglichst ausschloss oder zumindest stark beschnitt. Die Haltung der Liberalen zu diesem Problem war uneinheitlich, stand man doch zwischen abstrakten politischen Überzeugungen auf der einen und den konkreten, persönlichen Ängsten auf der anderen Seite. Jene, die einen sozialen Umsturz durch die schrankenlose Aufnahme aller Männer befürchteten, richteten ihre Stimmen allerdings kaum noch pauschal gegen einen bestimmten Stand oder eine de¿nierte Bevölkerungsgruppe. Die Kriterien reichten vielmehr von rechtlichen Hürden (Bürgerrecht), wirtschaftlichen Anforderungen (Selbständigkeit), bestimmten Besitzstandards (Immobilienbesitz oder ein genügendes Einkommen oder Vermögen), moralischen Aspekten (‚politisch unreif‘), polizeilichen Stigmatisierungen (‚aufrührerisch‘) oder schlicht einer vorgeschriebenen Haltung und Lebenseinstellung bis hin zu einem gewissen Mindeststandard an Kleidung und Ausstattung. Wenn damit auch in spätaufklärerischer Tradition einfachen Menschen wegen ihres vermeintlichen niedrigen Bildungsstandes, ihrer vorgeblich fehlenden sittlichen Erziehung oder schlicht wegen ihrer scheinbaren mangelnden ökonomischen Selbständigkeit das Recht der politischen Mitsprache vorerst noch verweigert wurde, basierten diese Überlegungen letztlich doch sowohl auf der Zielvorstellung von der bürgerlichen Gesellschaft als auch auf dem politischen Staatsbürgermodell. Immerhin ließen die verschwommenen Kriterien durchaus bewusst die sukzessive Berücksichtigung von Gesellen, Tagelöhnern oder Fabrikarbeitern zu.
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Vgl. etwa: Nachrichten, in: Nationalzeitung Nr. 58 vom 28.5.1848 Beilage S. 2.
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Die Diskussion um den gewünschten Personenkreis zwang denn auch vor allem, zur Problematik ‚Bürger‘ Stellung zu beziehen und das Bürgertum als Klasse negativ wie positiv zu de¿nieren. So problematisierte der schon erwähnte Held die Bezeichnung Bürgerwehr, die offen ließe, ob man damit den Staatsbürger oder den Stadtbürger meine. Eine andere Bezeichnung schlug der Berliner Bezirksvorsteher Struve vor: Da eben auch Nichtbürger in der Bürgerwehr ihren Dienst versähen, müsse man vielmehr von einer „Stadtwehr“, einer „Volkswehr“ oder einer „Staatsbürgerwehr“ sprechen.29 Auch unter dem Volksbegriff differierte unter den Autoren je nach politischem Standpunkt der potentielle Personenkreis. Verstanden die einen „Volk“ als Synonym für die „untern Classen der Glieder einer Nation“, so fassten andere darunter alle Personen oberhalb eines Mindeststandards an sozialem Ansehen und ökonomischer Basis sowie moralisch-sittlicher Vorbildung; beliebt war deshalb das Kriterium der beruÀichen Selbständigkeit.30 Entscheidend war ohnehin, dass neben diesen Überlegungen im tagespolitischen Schrifttum auf liberaler Seite die Stimmen überwogen, die sich generell gegen einen Ausschluss bestimmter Männer aussprachen. Dies gab nicht nur die Gesellschaftskonzeption vor, sondern hatte vor allem auch taktische Gründe: Schließe man die Arbeiter aus, wie es in der Nationalzeitung hieß, würde die Bürgerwehr „in die Lage gebracht, den Arbeitern feindlich gegenüber zu stehen“.31 Damit verband sich die Sorge vor einer den Rechten in die Hände spielenden Trennung des ‚Volkes‘ „in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager“, in „eine sogenannte Bourgeoisie und einen Arbeiterstand“, die die Bürgerwehr zum Schauplatz sozialer Auseinandersetzungen und damit handlungsunfähig machen würde.32 Entschiedene Demokraten wie Karl Gutzkow warnten sogar ganz dezidiert davor, die Bürgerwehr nur den Besitzenden, nur der „Eitelkeit der Begüterten“ zu überlassen und plädierten für eine breite soziale Öffnung der Ordnungsformationen.33 Sozialisten und Frühkommunisten favorisierten ohnehin statt der „Bürgerwehr“ die „Volksbewaffnung“. So bezeichnete Friedrich Engels die Erstürmung des Berliner Zeughauses durch Arbeiter und Gesellen lobend als notwendige „Selbstbewaffnung des Volkes“. Besonders die „schiefe
Vgl. das Memoria vom 15.9.1849 „Über die Organisation oder Nichterrichtung einer sogenannten Bürgerwehr im Kgl. Preuß. Staate“; GSTA Berlin Rep. 77, Titel 244 a, Nr. 1, S. 186–191. Vgl. etwa auch Röckel 1848, S. 6, der ebenfalls „vom Institute der Volkswehr“ sprach. 30 Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Brunner/Conze/Koselleck 1972–1997, hier Bd. 7, 1992, S. 141–431, bes. S. 314 (Zitat). 31 Was soll die Bürgerwehr ?, in: Nationalzeitung Nr. 21 vom 21.4.1848 Beiblatt S. 1. 32 Schwebemeyer, Volksbewaffnung, S. 4. 33 Gutzkow 1850, S. 114. 29
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Stellung“ der Bürgerwehr zum „Volke“ sei für die „unglückseligen Zustände“ im Herbst 1848 verantwortlich gewesen.34 Dritter und letzter Schwerpunkt der Diskussion war die Frage nach der administrativen und organisatorischen Bindung an die Obrigkeit im weiteren Sinne. Die Konservativen wünschten eine straffe Anbindung an die örtlichen Behörden oder sogar an militärische Dienststellen. Dadurch sollte den Formationen eine passive Rolle zugewiesen werden und jene nur auf besondere obrigkeitliche Anforderung zusammentreten dürfen. Eine Selbstalarmierung oder autarke Einberufungsbefugnis und damit einen Einsatz der Bürgerwehren nach Gutdünken der Beteiligten sollte so ausgeschlossen werden. Reaktionäre Kritiker wollten zivile Behörden sogar völlig ausschließen, da ihnen jeder „militärische Sinn“ fehle. Die Liberalen lehnten eine solche Einschränkung strikt ab und bestanden auf einer unabhängigen Stellung der Ordnungsformationen, die eine eigenständige Einsatzplanung erlaubte. Neben dieser sogenannten Requisitionsfrage, die in den 1830er Jahre etwa in Kurhessen oder Sachsen schon umstritten war, wurde auch die Frage der Vorgesetztenwahlen kontrovers diskutiert. Für Liberale und Radikale waren freie Wahlen der Of¿ziere und Unterof¿ziere durch die einfachen Bürgergardisten unabdingbare Voraussetzung, galt doch die Selbstergänzung der Führer als fundamentaler Ausweis der spezi¿schen Staatsbürgerlichkeit der Formationen. So leugnete man auch nicht die Vorwürfe, dass die Wahlen „Garantieen für demokratische Tendenzen“ und dass mit „dem Wahlsystem eine Beschränkung des EinÀusses der Regierung“ verbunden seien.35 Vertreter der Reaktion lehnten zwar in der Regel nicht prinzipiell den Wahlmodus ab, wollten aber einige Sicherungsbarrieren errichtet wissen, die eine von der Obrigkeit unkontrollierte Eigenbesetzung der Chargen verhinderte. Extreme Rechte oder Militärs wie etwa der preußische Of¿zier Andreas von Schepeler lehnten die Selbstergänzung der Anführer jedoch völlig ab; bedeuteten sie doch einen Beginn „der politischen Cholera“, da man doch nicht nur charakterlich gefestigte, sondern vor allem eingeübte und ausgebildete Bürgerof¿ziere brauche. Solche Männer aber gäbe es unter den Bürgern nicht.36 Durch den Krieg mit Dänemark (1848) erhielt die Frage der Volksbewaffnung eine besondere und spezi¿sche Zuspitzung. Insbesondere aktive und ehemalige Militärs griffen den strategischen Aspekt der Bürgerformationen auf, lobten den „an sich unbezweifelten Werth der Bürgerwehr“ und entwarfen – unter bewusster Auslassung der freiheitlich-politischen Implikationen und innenNeue Rheinische Zeitung Nr. 20 vom 20.6.1848. Vgl. von Griesheim 1848, hier S. 133. 36 Vgl. von Schepeler 1848, S. 22. 34 35
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politischen Aufgabenbereiche – das militärische Wunschbild einer breiten und straff geführten Reservearmee zur Unterstützung der Stehenden Truppen. Es wurden Vorschläge für zukünftige „Kriegsordnungen“ unterbreitet und neben den notwendigen technisch-organisatorischen Überlegungen die jeweils maximal erreichbare Armeestärke hochgerechnet, die man letztlich auch zum Wohle der Staats¿nanzen erzielen könne. Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurde die außenpolitische Bedrohung entsprechend krass gezeichnet. Zum Teil knüpften diese Überlegungen an die Zeit um 1814 an, als eine Gruppe von Militärreformern unter dem Blickwinkel von Ef¿zienz und Einsatzfähigkeit die neuen Milizen betrachtete und systematisch eine Entpolitisierung der Volksbewaffnung betrieb. Jene Autoren erhielten nun allerdings im Herbst 1848 und im Jahre 1849 Verstärkung von enttäuschten Gemäßigt-Liberalen, die aus Sorge vor den „Pöbel-Garden“,37 vor einem politischen und sozialen Umsturz, jene zu diesem Zeitpunkt genuin konservativen Pläne unterstützten. Ende der Revolution – Ende von Volksbewaffnung und Bürgerwehr Mit dem Ende der Revolution wurde auch das Sterbeglöcklein von Volksbewaffnung und Bürgerwehr geläutet.38 Die Gründe für dieses Scheitern ebenso wie für das Aufkommen liegen in den Besonderheiten und Spezi¿ka der Sattelzeit begründet, in der Altes mit Neuem rang und die kommende staatliche und gesellschaftliche Ordnung erst in Ansätzen erkennbar war. Dass die Idee jahrzehntelang überhaupt so erfolgreich war, lag an dem attraktiven Modell von der klassenlosen Bürgergesellschaft, an dem Wunschbild eines harmonischen Zusammenlebens selbständiger Bürger und einer spezi¿schen bürgerlichen Ordnungsvorstellung. Die beginnenden sozialen und ökonomischen Spannungen in der Stadt sollten mit den Werkstoffen Bürgergeist und Gemeinsinn und dem dafür nötigen Werkzeug Ordnungsformation abgebaut werden. Dieser Sicht nach ‚innen‘ stand in der Perspektive nach ‚außen‘ eine klaffende Sicherungslücke gegenüber. In seiner Umbruchphase vom Ancien Régime zum modernen staatlichen Institutionengefüge standen dem Staat kaum geeignete Exekutivmittel zur Verfügung, um Unruhen und Eigentumsdelikten wirkungsvoll zu begegnen. Begünstigten diese Entwicklungen die Gründung von Bürgerwehren, so bewirkte die politische und sozioökonomische Doppelkrise wiederum deren Scheitern. Das wiedererstarkte Militär hatte im Herbst 1848 seinen militärischen wie Lehmann 1848, S. 4. Auch wenn man in den 1860er Jahren und selbst noch zu Beginn der 1870er Jahre im Rahmen der Wehrvereinsbewegung am grundsätzlichen Gedanken einer anderen Wehrverfassung noch festhielt, bedeutete 1848/49 doch das faktische Ende einer autarken Bürgerbewaffnung. 37
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politischen Siegeszug angetreten. Weitaus gravierender aber war, dass mit der rapiden Zunahme der sozioökonomischen Verwerfungen in den 1840er Jahren und vor allem 1848 die durch Klassengegensätze und diametrale Interessen von Tagelöhnern und Besitzbürgern ausgelösten Risse nicht mehr gekittet werden konnten. Bereits im Frühjahr 1848 kam es zu alternativen, miteinander konkurrierenden Klassen-Ordnungsformationen, bestehend jeweils aus Tagelöhnern und Arbeitern oder aus Besitzbürgern, in ein und derselben Stadt. Gemeingeist und Bürgersinn oder die innere und äußere Freiheit der Heimatstadt hatten ihre Zugkraft weitgehend verloren; für die Besitzbürger stand einzig die Sicherung ihres Eigentums im Vordergrund. Das Besitzbürgertum Àoh in Scharen aus dem Ideen-Gebäude einer unsicher gewordenen kommunalen und autarken Bürgergesellschaft unter das sichere Dach des militarisierten und autokratischen Staates. Diesem absoluten Scheitern der Volksbewaffnungsidee insgesamt im Gefolge von 1848 stand im Dunstkreis alltäglicher Probleme das relative Scheitern einzelner Ordnungsformationen in den Jahren davor gegenüber. Angesichts der wortreichen Bekundungen und vollmundigen Versprechungen der Liberalen in Festreden und Versammlungen, aber auch angesichts der Prahlereien einzelner Beteiligter in den Kneipen, sah nämlich die nächtliche Realität in den Straßen und an den Stadttoren oftmals recht ernüchternd und kläglich aus. Die Euphorie über den politischen Erfolg und der Stolz über den eigenen Statuszugewinn verÀogen schnell während eines 24-stündigen Wachdienstes. Alkohol im Dienst, schlafende Wachposten oder verwaiste Tore und Mauern gehörten zum Alltag – und waren im übrigen für die Gegner der Einrichtung willkommene Argumentationshilfen. Sowie der Reiz des Neuen verÀogen war, ließen Elan und Einsatzbereitschaft rapide nach, was zunächst die Aufnahme von Männern aus unterbürgerlichen Schichten beförderte, auf längere Sicht aber zu einer de facto-AuÀösung der Ordnungsformation hinauslief. Es war jene unheilvolle Allianz von alten Eliten, Militärs und Konservativen auf der einen, frustrierten und verängstigten Besitzbürgern und Liberalen auf der anderen Seite, die das Konzept einer autarken Bürger- oder Volksbewaffnung scheitern ließen und damit dem Weg in eine stärker politisierte und demokratisierte Gesellschaft eine Absage erteilten. Statt dessen wurde das Militär viel mehr als zuvor zum einzigen Instrument sozialer und politischer Ordnung aufund ausgebaut und zur alleinigen Stütze der alten Eliten, gerichtet gegen Arbeiter und Demokratie, zugeschnitten.
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Literatur Arndt, Ernst Moritz 1813: Was bedeutet Landsturm und Landwehr ? Nebst einer Aufforderung an teutsche Jünglinge und Männer zum Kampfe für Teutschlands Freiheit von Justus Gruner, o. O. Brunner, O./Conze, W./Koselleck, R. (Hg.) 1972–1997: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart Conversations-Lexikon der Gegenwart, 4 Bde., Leipzig 1838–1841 Gerlach, Ernst Ludwig von 1903: Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795– 1877, 2 Bde., hg. v. J. von Gerlach, Schwerin Griesheim, Karl Gustav Julius von 1848: Über den schädlichen EinÀuß der für die Landwehr in Aussicht gestellten Wahlen der Vorgesetzten durch die Untergebenen, in: Beiheft zum Militair-Wochenblatt Oktober, S. 123–134 Grothe, Ewald 1996: Verfassungsgebung und VerfassungskonÀikt. Das Kurfürstentum Hessen in der ersten Ära HassenpÀug 1830–1837, Berlin Gutzkow, Karl 1850: Vor- und Nach-Märzliches, Leipzig Held, Friedrich Wilhelm Alexander: Bürgerwehrgesetz. Entwurf bei Gaslicht betrachtet, in: Locomotive, Nr. 87 vom 18.7.1848 Herr Rimpler und die Bürgerwehr, in: Neue Preußische Zeitung [Kreuzzeitung] Nr. 111 vom 7.11.1848 Höhn, Reinhard 1938: Verfassungskampf und Heereseid. Der Kampf des Bürgertums um das Heer (1815–1850), Leipzig Höhn, Reinhard 1940: Der Soldat und das Vaterland während und nach dem Siebenjährigen Krieg, Weimar Huber, Ernst Rudolf 1938: Heer und Staat in der deutschen Geschichte, Hamburg Husung, Hans-Gerhard 1983: Protest und Repression im Vormärz. Norddeutschland zwischen Restauration und Revolution, Göttingen Jahn, Friedrich Ludwig 1810: Deutsches Volksthum, Lübeck Jahn, Friedrich Ludwig 1884: Das patriotische Vermächtnis Friedrich Ludwig Jahns an die Deutsche Nation, bearb. und hg. v. H. Hoffmeister, Berlin Kaschuba, Wolfgang 1988: Zwischen Deutscher Nation und Deutscher Provinz. Politische Horizonte und soziale Milieus im frühen Liberalismus, in: Langewiesche, D. (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen, S. 83–108 Knöbl, Wolfgang 1998: Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozeß. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700–1914, Frankfurt am Main Langewiesche, Dieter 1991: Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, Teil II, in: Archiv für Sozialgeschichte 31, S. 331–443 Lehmann, Friedrich Wilhelm 1848: Grundzüge zur Bildung einer deutschen Bürgerwehr und eines deutschen Heerwesens mit Rücksicht auf die preußische Heerverfassung, Bonn
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Marwitz, Friedrich August Ludwig von der 1908/1913: Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, hg. v. F. Meusel, 2 Bde., Berlin Memoria vom 15.9.1849 „Über die Organisation oder Nichterrichtung einer sogenannten Bürgerwehr im Kgl. Preuß. Staate“; GSTA Berlin Rep. 77, Titel 244a, Nr. 1, f. 186–191 Messerschmidt, Manfred 1983: Die politische Geschichte der preußisch-deutschen Armee, in: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648–1939, Bd. 2, München, S. 9–380 Müller, Sabrina 1999: Soldaten in der deutschen Revolution von 1848/49, Paderborn Mürmann, Adolf 1910: Die öffentliche Meinung in Deutschland über das preußische Wehrgesetz von 1814 während der Jahre 1814–1819, Berlin Nachrichten, in: Nationalzeitung Nr. 58 vom 28.5.1848 Beilage S. 2 Neue Rheinische Zeitung Nr. 20 vom 20.6.1848 Plan zu einer militärischen Nationalbildungs-Anstalt der Teutschen, mit besonderer Beziehung auf die Sachsen, in: Nemesis 4 (1815), S. 561–584 Pröve, Ralf 1998: „Der Mann des Mannes“. ‚Civile‘ Ordnungsformationen, Staatsbürgerschaft und Männlichkeit im Vormärz, in: Hagemann, K./Pröve, R. (Hg.): Landsknechte, Soldatenfrauen und Nationalkrieger. Militär, Krieg und Geschlechterordnung im historischen Wandel, Frankfurt am Main, S. 103–120 Pröve, Ralf 2000 (a): Stadtgemeindlicher Republikanismus und „Macht des Volkes“. Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen Pröve, Ralf 2000 (b): Alternativen zum Militär- und Obrigkeitsstaat ? Die gesellschaftliche und politische Dimension civiler Ordnungsformationen in Vormärz und Revolution, in: Werner Rösener (Hg.): Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen, S. 204–224 Pröve, Ralf 2000 (c): Vom Schmuddelkind zur anerkannten Subdisziplin ? Die „neue Militärgeschichte“ der Frühen Neuzeit. Perspektiven, Entwicklungen, Probleme, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51, S. 597–612 Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, hrsg. von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten, 12 Bände, Köln 3 1831–1836 Röckel, August 1848: Die Organisation der Volksbewaffnung in Deutschland, mit besonderem Bezuge auf Sachsen. Eine Denkschrift an die deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt und an alle deutschen Regierungen. Auf Grund der Beratungen einer vom deutschen Vaterlandsvereine zu Dresden berufenen Commission, Dresden Rotteck, Carl von 1816: Über stehende Heere und Nationalmiliz, Freiburg/Brsg. Rotteck, Carl von 1836: Conscription, in: Rotteck C. von/Welcker, C. (Hg).: Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 3, Altona, S. 732–756 Schepeler, Andreas von 1848: Volksbewaffnung und Republik, Aachen Schulz, Friedrich Wilhelm 1979: Das Recht des deutschen Volkes und die Beschlüsse des Frankfurter Bundestages vom 28ten Juni 1832, in: Hartwig Brandt (Hg.), Restauration und Frühliberalismus 1814–1840, Darmstadt, S. 418–423
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Ralf Pröve
Schulz, Wilhelm 1833: Über Bürgergarden, Landwehr und noch einiges Andere, was damit in Verbindung steht. Ein Wort zur Beherzigung an Bürger und an Bauern, Hanau Stahl, Friedrich Julius 1868: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, Neunundzwanzig akademische Vorlesungen, Berlin2 Schwebemeyer, Carl 1848: Die Volksbewaffnung, ihr Wesen und Wirken, Wriezen/Oder Treitschke, Heinrich von 1907–1912: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde., Leipzig Über stehende Heere und Volksbewaffnung, in: Nemesis 3 (1814), S. 77–97 Was soll die Bürgerwehr ?, in: Nationalzeitung Nr. 21 vom 21.4.1848 Beiblatt S. 1 Was thut jetzt Not ? Oder Vorschläge zu unfehlbarer Sicherstellung des Eigenthums gegen Diebe und Räuberbanden, in: Intelligenzblatt zu den Neuen Feuerbränden 2 (1808), S. 289–315 Welcker, Carl Theodor 1836: Heerwesen. Landwehrsystem, in: Rotteck C. von/Welcker, C. (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 3, Altona, S. 589–607 Wieland, Ludwig 1815: Gedanken über den Landsturm in Teutschland. Alten Landsturmmännern gewidmet, in: Nemesis 5, S. 322–339 Wie sollten sich Magistratspersonen kleiner Städte jetzt im Kriege gegen Freund und Feind benehmen ? und wie haben sie sich benommen ? besonders in Schlesien, in: Neue Feuerbrände 1 (1807), S. 118–124
Polizei und Gewalt auf der Straße. KonÀiktmuster und ihre Folgen im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts Belinda Davis
Berlin war seit dem frühen 19. Jahrhundert eine Stadt, in der immer wieder gewalttätige Straßenkämpfe ausgetragen wurden. Dazu gehörten KonÀikte zwischen Polizisten und der zivilen Bevölkerung der Stadt. Die enormen Veränderungen von Rolle wie Bedeutung der Stadt zementierten die Muster dieser KonÀikte. Auch die „Modernisierung“ von Staat und Staatlichkeit in Deutschland veränderte dies nicht; ebenso wenig wie die Vielfalt der Akteure, die an diesen Auseinandersetzungen beteiligt waren. Gewalttätige Auseinandersetzungen auf den Straßen kennzeichneten freilich auch weitere deutsche Städte – aber auch andere europäische Metropolen, insbesondere die Hauptstädte. Die Formen der Auseinandersetzung in Berlin und ihre vielfache Wiederholung zeigten Merkmale, die auch anderswo zu ¿nden waren; in Berlin waren sie jedoch besonders intensiv. In mancher Weise lässt sich die Neigung zu einer „Kultur des KonÀikts“ in Beziehung setzen mit dem besonders aggressiven, auf Auseinandersetzungen gerichteten Verhaltenspro¿l vieler Einwohner der Stadt; zumindest ist dies ein Aspekt, den Berliner selbst immer wieder als spezi¿sch hervorgehoben haben. Dabei war stets auch wichtig das fortdauernde Gefühl der ungerechten Behandlung, wenn nicht Entrechtung. Viele Berliner sahen sich seit dem frühen 19. Jahrhundert an der Hintertür des Zentrums einer aufstrebenden Macht und ihrer Kontrollabsichten, wie sie in den unausgesetzten Versuchen der Polizeibeamten erkennbar wurden, Herrschaft über die Straße sicherzustellen.– Das folgende stützt sich ganz überwiegend auf Forschungen Dritter. Inhaltlich soll zweierlei deutlich werden: das hohe Maß an Kontinuität der KonÀiktmuster; aber auch, wie diese Muster spektakuläre Massenproteste mit den Alltagstumulten und „kleinen Protesten“ verknüpften. Die Pointe ist, dass die aus der Sicht der Obrigkeiten erfolgreiche Unterdrückung der Massenproteste bei der Unterdrückung von begrenzteren und häu¿geren „kleinen Protesten“ ebenfalls angewandt oder kopiert wurde.
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_4, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Berlin als „Festungsstadt“ Der enorme Wandel der Rolle Berlins wie der Bevölkerung der Stadt förderte bei den Polizeibeamten eine „Festungs“-Mentalität.1 Diese Mentalität wurde von Beamten auf allen Ebenen geteilt. Sie war wesentlich von der Erfahrung und der Praxis auf den Straßen angetrieben. Für die Polizei blieb die Sicherung von Stadt und Staat untrennbar verknüpft mit ihrer eigenen Sicherheit. Als besonders gefährlich galten spontane, zunächst eher geringfügige Unordnungen, die ebenso häu¿g wie unvorhersehbar schienen – daraus entstanden mitunter große Streiks oder Demonstrationen, in jedem Fall aber stärkten sie Besorgnisse vor Unsicherheit und Gefahr. Für die Polizei wie für alle anderen Berliner bekam die Neigung zur öffentlichen und vielfach gewalttätigen Auseinandersetzung eine mythische Qualität, zugleich wurde sie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die KonÀikte verliefen zunehmend ritualisiert und hielten sich in dieser Form in der Erinnerung der Vielen im 19. wie im 20. Jahrhundert. Die Wechsel der politischen Regimes erhöhten freilich nicht die niedrige Schwelle, jenseits derer Polizeibeamte eine Bedrohung sahen – und deshalb allen Grund, nachdrücklich zu reagieren. Die Regime-Wechsel hatten keinen EinÀuss auf die konsequent aggressive Form der polizeilichen Antworten, die ihrerseits Gewalt anregten, auch Gewalt gegen die Polizei selbst. Zugleich aber machte die Polizei nur selten Gebrauch von Schusswaffen. Deshalb fürchteten die zivilen Straßenbenutzer diese Auseinandersetzungen nicht so, dass sie davon abließen. Vielmehr schrieb die große Mehrheit der Bevölkerung ihr Fortdauern dem begrenzten Gesichtskreis der Polizei und ihrer Unfähigkeit zu, öffentlichen Plätzen und Straßen mehr als nur einen beschränkten Verkehrszweck zuzuerkennen. Diese Straßenauseinandersetzungen fanden stets ein breites Publikum. Das reichte von den direkten Zuschauern, von denen nicht wenige zu Teilnehmern wurden, bis zu denen, die über Presseberichte indirekt „zuschauten“, oder die über Gerüchte und andere Formen der Kommunikation dabei waren. Die Straßen in Berlin wurden eine Bühne für solche Szenen, die immer wieder die Aufmerksamkeit in Preußen, in Deutschland und darüber hinaus erregten. Es war eben diese Aufmerksamkeit, die die Zwangsläu¿gkeit dieser Auseinandersetzungen zu bestätigen schien. Höhere Stellen warnten die Polizei vor Aktionen, die derart nachhaltige Beachtung fanden – auch dann, wenn die Polizei die Unterstützung des Publikums ¿nden sollte. Solche Vorfälle lösten unangenehme Fragen aus, nicht zuletzt nach Dies ist eine gekürzte und zugleich wesentlich veränderte Fassung meines Textes: Davis 2005. – Über Festungsmentalität und ihre administrativen Folgen in der polizeilichen „Festungspraxis“ vgl. Lüdtke 1982, S. 323–347; Funk 1986; Albrecht/Backes (Hg.) 1990; Fulbrook 1995; Lange (Hg.) 2000.
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der Nutzung der öffentlichen Räume und den einschlägigen rechtlichen Regelungen. Polizei hatte die Aufgabe, das zu beseitigen, was sie als „Störung der öffentlichen Ordnung“ wahrnahm. Das hieß einerseits, Gewalt einzusetzen oder anzudrohen – in einem Maße, das die Menschen von der Straße brachte, ob sie nun einen triftigen Grund hatten oder nicht sich dort aufzuhalten, während gerade dieser Gewalteinsatz (oder die Gewaltandrohung) möglichst wenig öffentliche Aufmerksamkeit ¿nden sollte. Dabei galt zugleich, dass die Mehrheit des „Publikums“ relativ viel Polizeigewalt hinzunehmen bereit war. In jedem Fall trug das Polizeiverhalten dazu bei, eben dieses Muster von Gewaltandrohung und -einsatz immer wieder zu erneuern. Hier wird der Versuch gemacht, auf der Basis der Literatur und bezogen auf Berlin und Deutschland, aber mit Blick auf den internationalen Vergleich, diese Kontinuität von Erfahrung wie von Orientierung und Praxis zu zeigen.2 Dabei ist der Fokus ein anderer als in den bisher vorliegenden Arbeiten zum Polizieren in Berlin. Diese konzentrieren sich zu Recht auf einzelne Kontexte und begrenzte Zeiträume. Demgegenüber scheint es mir bemerkenswert, dass Wahrnehmungsweisen, Erwartungen und konkrete Verhaltensformen ein hohes Maß an Ähnlichkeit und Kontinuität zeigen, vielleicht gerade wegen aller Wechsel der politischen Regime wie der Dynamiken wirtschaftlicher Konjunkturen und sozialer Prozesse. Dabei halte ich drei Aspekte für entscheidend: administrativ-polizeiliche „Festungspraxis“, zweitens eine Erinnerung an KonÀikte, die nicht nur kurzfristig wirkte, drittens eine Mythologisierung von „Berlin“ – bei Polizeibeamten wie bei anderen, die „auf der Straße“ waren. Hier war eine ‚Angst-Spirale‘ wirksam: Die Polizisten hatten Sorge, die Kontrolle zu verlieren, während die Bewohner sich vor den aus dieser Sorge resultierenden vermehrten Polizeikontrollen fürchteten. Für beide wurde der Wandel der Stadt (und in der Stadt) zu einem vielfach angstbesetzten Auslöser wie Symbol dieser Ängste. Aus den polizeihistorischen Studien werden die entscheidenden Momente für die Kontinuität von Orientierung und Praxis erkennbar, ungeachtet unterschiedlich organisierter (und uniformierter) Polizeien. Dazu gehört das hohe Maß an Kontinuität des Personals, über alle Regimewechsel hinweg: Ein erheblicher Anteil der Polizisten blieb jeweils weiterhin im Dienst (anders nur in den ersten drei bis vier Jahren der SBZ nach 1945). Im Rahmen dieser Studien sind Ansätze von Demilitarisierung und ist Professionalisierung ein zentrales Thema. Allein die Tatsache, dass beide Prozesse jeweils erneut mit der Neuorganisierung der Polizei im jeweiligen politischen Regime einsetzten, verweist auf die relative Dauerhaftigkeit dieser Probleme – mit einer relativ anhaltenden starken Militarisierung und einer sehr spezi¿schen
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Zur Kontinuität von Gewaltsamkeit vgl. insgesamt Schumann 1997.
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Professionalisierung. Für jede der behandelten Kontexte zeigen die Autoren eine Verteidigungshaltung bei der Polizei: Man sah sich als Institution wie auch individuell unter Druck, wenn nicht gar in einer Belagerungssituation – selbst wenn Statistiken verdeutlichen, dass die Beamten keineswegs in besonderer physischer Gefahr schwebten. Diese Studien zeigen zugleich die Mehrdeutigkeit der polizeilichen Aufgabenstellung, vor allem machen sie die fortwährenden Spannungen, wenn nicht die Unfähigkeit bei Polizisten deutlich, Mehrdeutigkeiten in ihrem Berufsalltag miteinander zu vereinbaren – ob es der Schutz des Staates, die Sicherheit, oder die „allgemeine Wohlfahrt“ waren; ob die Ordnung des nationalsozialistischen „Führerstaats“ zu schützen oder der „demokratische Staat“ zu sichern war, oder die Herrschaft, die den Sozialismus ermöglichen sollte: Wie war hier wie dort als „Freund und Helfer“ zu agieren ? Aus diesen Spannungen und Widersprüchen resultierte zu häu¿g und nur zu selbstverständlich ein Hinnehmen des of¿ziellen „Weltbildes“ (oder auch ein aktives Annehmen). Dabei betonen viele dieser Studien, dass parallel eine bestimmte Sicht von „Männlichkeit“ prägend war. Sie diente der Orientierung und motivierte für aggressive und potentiell gewalttätige Vorgehensweisen. Zugleich zeigen diese Arbeiten die Vielfalt von Regeln, Anweisungen und Befehlen – ebenso wie deren Leerformeln, die die Polizisten „vor Ort“ wahrzunehmen oder umzusetzen hatten. Insgesamt blieb die Aufgabe der Polizei selbst vieldeutig. Dabei gehörte stets das „pÀichtgemäße Ermessen“ zum Kern der Handlungsanweisungen, auch nach den Polizeigesetzen in der Weimarer Republik wie der Bundesrepublik. Parallel war Berlin ein Ort, an dem sich ein Muster besonders deutlich zeigte: das ‚Muster der Provokation‘ Das war insbesondere in der Zeit nach 1945 ein Resultat der Rolle Berlins als einer immer wieder umstrittenen und bedrohten Hauptstadt, aber auch ein besonderes Element der Mythen, die gerade dieser Stadt zugeschrieben wurden. In den folgenden Überlegungen geht es insbesondere um die Schutzpolizei. Gefragt wird also nach den Polizeiinstitutionen, Polizeieinheiten und Polizisten, deren Aufgabe es war, die Ordnung im öffentlichen Raum (wieder-)herzustellen und zu bewahren. Ihre Präsenz auf den Straßen und Plätzen war zentrales Merkmal der Tätigkeit dieser Polizei. Anders als in manchen deutschen Städten stammten jedoch die Streifenpolizisten in Berlin nur sehr selten aus den Stadtteilen, in denen sie Patrouille gingen. Die KonÀikte mit den Berlinerinnen und Berlinern, d. h. mit den „Zivilisten“ ereigneten sich aber ganz überwiegend zwischen diesen Polizisten und den Bewohnern der jeweiligen Quartiere oder „Kieze“. Dabei lässt sich kein eindeutiges topographisches Muster erkennen. Vielmehr ereigneten sich solche Auseinandersetzungen – im Laufe der Zeit – fast überall in der Stadt. Sie bedeuteten auch für die allermeisten der Bewohner weder einen Widerspruch zu ihrem grundsätzlichen Respekt vor den Autoritäten, noch
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schlossen sie eine verbreitete Zufriedenheit mit dem Auftreten der Polizei in der Öffentlichkeit aus. Zentral sind „Unordnungen“, also vielfach spontane und „eigensinnige“ Aktionen. Dabei ging es nicht ausdrücklich um Politik. Meistens waren es zunächst nur relativ wenige Personen, die in eine Auseinandersetzung verwickelt waren. Daraus wurde nicht selten eine „Unordnung“, wenn Polizisten bei Verhaltensweisen einzuschreiten versuchten, die ihnen als „ungeordnet“ oder „ruhestörend“ erschienen. Entscheidend war, was die Polizisten als „groben Unfug“ ansahen. Gegen die polizeilichen Intentionen setzten sich nicht nur die zur Wehr, die zur Ruhe gebracht werden sollten, sondern häu¿g machten Nachbarn und Anwohner mit ihnen gemeinsame Sache. Dabei gaben die „Ruhestörer“ und ihre Sympathisanten meistens angesichts von Gewaltandrohung bzw. tatsächlicher Gewalt (etwa bei Verhaftungen) auf. Mitunter zog sich aber auch die Polizei zurück. Bisweilen begannen Bewohner eines Kiezes den Streit mit der Polizei, um ihre „Rechte“, die Straße zu nutzen, auszudrücken, die Bewohner rührten sich Anwohner aus Trotz gegenüber der Polizei – oder aus Rache für einen früheren Zusammenstoß. Vielerlei trug dazu bei, diese Muster zu befestigen. Dazu gehörte wechselseitiges Misstrauen. Es ist dieses Misstrauen, das für beide Seiten die beste Verteidigung gegenüber Überraschungsangriffen zu bieten schien. Weil aber beide „Seiten“ wechselseitiges Misstrauen, wenn nicht Furcht voreinander hatten, war vieles vorhersagbar. Das führte zu weitgehend ritualisierten Auseinandersetzungen und regelmäßigen KonÀikten, die fast immer höchst intensiv und sehr häu¿g gewalttätig abliefen. Wenn sich aber diejenigen, die sich von der Polizei angegriffen oder verfolgt sahen, hätten vorstellen müssen, von Säbel oder Pistole tödlich getroffen zu werden, wären sie womöglich mit ihren in aller Regel schwächeren Waffen sehr viel zurückhaltender beim „Zurückschlagen“ gewesen. Es gibt Hinweise, dass die Menschen auf den Straßen dies durchaus bedachten.3 – Die Zahl derer, die sich gegen die Polizei bzw. Polizisten stellten, überwog häu¿g eindeutig die der einschreitenden Vertreter der Staatsmacht. Allein dies bestärkte die nervöse Haltung der allermeisten Polizisten. Weiter: Anwohner, die sich gegen die Polizei wandten, „schnauzten“ als Berliner zurück, wenn sie sich von Polizisten angegriffen sahen. Bereits dadurch stellten sie Annahmen oder Forderungen der Polizei in Frage, die von ihnen, den Bürgern, Respekt, wenn nicht Unterordnung verlangten. Diese Wahrnehmungen und die daraus resultierenden „Fiktionen“ waren Teil der jeweiligen Alltagswirklichkeit – und trugen sehr konkret dazu bei, sie zu befestigen, aber auch zu verändern. Vgl. u. a. Lindenberger 1995, S. 132, 144 ff, mit Belegen dafür, dass Berliner Straßenpassanten einen Sinn dafür entwickelten, wie die Polizei mit der schieren Präsenz ihrer großen Zahl und ihrer Körper zu überwältigen sei – eine Sicht, die sich kaum verbreitet hätte, wären die Menschen auf der Straße auf Tötungsgewalt gefasst gewesen. 3
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Die hier skizzierte relative Kontinuität von Wahrnehmungsweisen und Verhaltensformen sollte nicht verdecken, dass die Bezugspunkte und Anlässe, ebenso wie das Pro¿l der Teilnehmer alles andere als kontinuierlich waren. Schutzpolizisten und ihre Vorgesetzten konzentrierten sich im mittleren und späteren 19. Jahrhundert auf die „Besitzlosen“, die „Armen“ und die „Vaganten“ als Objekte ihrer misstrauischen Wachsamkeit. In derselben Zeit wurden freilich auch Gruppen der Bevölkerung von der Polizei in den Kreis der Verdächtigen einbezogen, die bis dahin nicht zu ihren herkömmlichen Zielgruppen gehörten. Unter ihnen fanden sich sozialökonomisch relativ abgesicherte gelernte Arbeiter, aber auch manche, die in der sozialen Hierarchie weiter oben rangierten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gerieten Händler und kleine Gewerbetreibende – pauschal: der alte gewerbliche Mittelstand – vergleichsweise häu¿g in Auseinandersetzungen mit der Polizei, vielleicht deshalb, weil sie sich der eigenen Position wie der „Rechte“, die ihnen zustünden, sicher glaubten.4 Und dabei kam es dann sehr rasch zu ganz ähnlichen Szenen wie bei den KonÀikten mit unstet Beschäftigten und Armen. In jedem Fall suchten die Obrigkeiten in Berlin den Vorrang der „Sicherheit des Staates“ gegen alle „inneren Feinde“ zu verteidigen, zumal diese sich womöglich mit „äußeren Feinden“ verbünden würden. Das bedeutete, dass „Fremde“ wie zum Beispiel Migranten oder Saisonarbeiter – Polen, Kaschuben oder „Welsche“ – unabhängig von ihrer sozialen Position, aber auch Jugendliche aus allen sozialen Gruppen der besonderen und in der Regel misstrauischen Aufmerksamkeit der Polizei unterlagen. Von 1815 bis 1870 war Berlin das Zentrum preußischer Politik, auch wenn die Stadt im Vergleich mit anderen europäischen Hauptstädten vergleichsweise randständig und verschlafen erscheinen mochte. Die Konzentration von staatlicher Gewalt, ab 1871 das Zentrum des neuen Kaiserreiches – zugleich die fortdauernde und genaue polizeiliche Berichterstattung über alle Vorkommnisse in Berlin: Dies bedeutete, dass „ordnungswidrige“ Aktivitäten auf den Straßen „unübersehbar“ waren.5 Berlin war die zentrale Garnisonstadt einer der seinerzeit modernsten Armeen der Welt. Es war zugleich Hauptort der 1848 errichteten, seither expandieren professionellen Polizei, der „Schutzmannschaft“, deren Auftrag darin bestand, die ‚Festung Staat‘ gegen jeden inneren Feind zu bewahren.6 Auf dem „platten Land“ hatte parallel die Gendarmerie, eine militärisch organisierte Polizei, die jedoch von zivilen Obrigkeiten eingesetzt wurde, den Auftrag, Ruhe und Ordnung zu bewahren oder durchzusetzen. Berittene Gendarmen waren auch in den Städten im Einsatz, in relativ geringer Zahl, aber ihre AufVgl. Gailus 1990, S. 149 ff; Lindenberger 1995, 118 ff. Dazu Gailus 1990, S. 306 ff. 6 Lüdtke 1982, S. 53, 159 passim; zu den vorherrschenden Zielen polizeilicher Aktivität; zur Allgegenwärtigkeit von Protesten Gailus 1990, u. a. S. 364–369. 4
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merksamkeit galt besonders „Vagabunden“, Unbeschäftigten und wandernden Händlern (unter ihnen nicht wenige Juden) – all jenen, deren Aufenthalt an öffentlichen Plätzen als fragwürdig galt: Sie schienen unkontrollierbar und würden womöglich Unruhe stiften. Die Gendarmerie suchte die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns wie des Staates insgesamt herzustellen mit Hilfe der obrigkeitlich gewährten Macht, mit Androhung und Einsatz physischer Gewalt. Es war dieses Muster, das sich unverändert über die verschiedenen politischen Regimes hielt, ungeachtet aller „Demilitarisierung“ und „Professionalisierung“. In Berlin ritten die Gendarmen im Vormärz mit blankgezogenem Säbel in die Menge, wobei sie die scharfe Seite zeigten, als fühlbare Demonstration ihrer Gewalt. Ihre Vorgesetzten ermahnten die Gendarmen, „angemessen“ zu reagieren. So erhielten die Gendarmen Gewehre, aber strikte Regeln für die Verwendung von scharfer Munition.7 Diese Praxis trug freilich in hohem Maße dazu bei, die Berliner zu Widersetzlichkeit anzustacheln. Zugleich hatten die Gendarmen immer wieder das Paradox zu gewärtigen, dass sie gleichermaßen mächtig und machtlos waren, ausgeliefert einem der „funktionalen De¿zite der Repressionsseite“.8 Mir scheint, dass in ihrem häu¿g vorbeugenden Reagieren auf mögliche Bedrohung die Polizei in Berlin in hohem Maße beitrug, die Intensität von Straßenaktivität und Protest immer wieder neu anzufachen. Ein Beispiel unter vielen ist eine kleine Auseinandersetzung im Jahre 1845, die aber weitreichende Konsequenzen hatte: Ein Bauarbeiter blies einem Gendarmen demonstrativ Rauch ins Gesicht, als dieser gerade vorbeiging.9 Ohne Frage war dies eine Reaktion auf das kürzlich verhängte Rauchverbot auf den Straßen. Und fraglos bedeutete dies eine ausdrückliche Missachtung der Autorität des Gendarmen. Die Kollegen des Arbeiters, die dabeistanden, erhöhten die Herausforderung und konnten allein durch ihre Zahl für den Gendarmen als Bedrohung erscheinen. Der Gendarm schwang drohend seinen Säbel, worauf alle losschlugen. „Verbündete“ mischten sich auf beiden Seiten ein – der Kampf wurde nur dadurch beendet, dass die herbei beorderte Polizeiverstärkung alle Anwesenden festnahm. In den Jahren des Vormärz wurde die Gendarmerie erweitert. Dieser Ausbau verstärkte nur die skeptischen oder aggressiven Reaktionen der Zivilisten auf Straßen und Plätzen. Und umgekehrt wurden die Polizisten immer aggressiver, wenn auch nur die Spur einer „Unruhe“ oder gar eines Angriffes erkennbar wurde: Die Spirale gewaltsamer Zusammenstöße zwischen Polizei und zivilen Berlinern beschleunigte sich. Lüdtke, „Gemeinwohl“, Polizei und „Festungspraxis“, S. 294 ff. Gailus 1990, S. 309. 9 Dazu: Gailus 1988, S. 11–42, hier S. 12; vgl. Gailus 1990, S. 358.
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Umwälzungen in Berlin – Wiederkehr des Gleichen auf den Straßen Das Berlin des Vormärz lässt sich kaum mit dem Berlin des Kaiserreichs, der Weimarer Republik oder späterer Perioden vergleichen. Das gilt allerdings nicht für die Hauptmerkmale der Auseinandersetzungen auf der Straße – sie zeigten sich in ähnlicher Form über viele Jahre und Jahrzehnte. Sie blieben eingebettet in zunehmend angespannte Beziehungen und in eine Gleichzeitigkeit von wechselseitigem Misstrauen, scharf unterschiedlichen Ansichten und Mythen der Großstadt, wie sie in den jeweils wechselnden Gruppen der Berliner Bevölkerung, aber auch den unterschiedlichen Polizeien, die in den Straßen patrouillierten, wie bei ihren Vorgesetzten vorherrschten. Geringe oder gänzlich fehlende Planung, also ein sehr hohes Maß an Spontaneität sowie häu¿ge Gewalt, wie sie im Vormärz erkennbar ist, blieb auch charakteristisch in den folgenden Jahrzehnten. Weitgehend ähnlich blieb auch das Verhalten einzelner oder einer „Menge“, die Antwort auf mehr und mehr vorbeugende und gewaltsame Polizeiaktionen der „Schutzmannschaft“, die zumindest in Berlin die Gendarmerie ablöste.10 Die Schutzmannschaft war eine zivile Polizei, ohne jene direkte Anbindung an das Militär, wie sie für die innere Organisation und Disziplinargewalt bei der Gendarmerie galt. Zugleich rekrutierte sich diese neue Polizei in hohem Maße aus ausgedienten Soldaten, die die Verhaltensweisen von Gendarmen teilten, nicht zuletzt deren Festungsmentalität.11 Wesentliche Momente, die diese Mentalität bestimmten, waren: die Zunahme der Menschen auf den Straßen, Ausdruck des rapiden Bevölkerungswachstums der Stadt seit den 1860er Jahren; die Zunahme gewaltsamen Verhaltens zwischen den Straßenbenutzern; die Vermehrung und Intensivierung formeller politischen Zuordnungen und Abgrenzungen, die auch informelle Protest- und Ausdrucksformen auf den Straßen nutzten, wenn nicht vereinnahmten. In den 1850ern und 1860ern, die in anderen europäischen Großoder Hauptstädten relativ ruhig waren, hielten in Berlin spontane Straßenproteste und -auseinandersetzungen an. Dazu gehörten 1861 die „Revolte an der Königsmauer“ oder 1869 die Mieterunruhen in verschiedenen Kiezen. Schutzmänner reagierten darauf in den folgenden Jahren, der „Gründerzeit“ der 1870er, mit vermehrter aktiver Abwehr – und dies vor allem in der Hauptstadt Berlin, aber auch insgesamt in Preußen.12 Berlin war vielleicht diejenige unter den europäischen Großstädten, die am stärksten durch Handel und Austausch geprägt war. Das trug wesentlich dazu bei, die Spannungen und Reibungen zwischen Polizisten und anderen StraßenVgl. dazu Funk 1986, S. 47 ff; Lüdtke 1993, S. 33–55, S. 47. Avé-Lallemant 1998, S. 275, betonte aus zeitgenössischer Sicht, wie kontraproduktiv das aggressive Auftreten der Schutzmannschaft sei. 11 Dazu Funk 1986 und Jessen 1991; zur Festungsmentalität bzw. Festungspraxis Lüdtke 1982. 12 Dazu Funk 1993, S. 56–70. 10
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benutzern zuzuspitzen. Als wesentlich durch Initiative und Druck Preußens die Reichseinigung von 1871 zustande kam, galt Berlin für viele Zeitgenossen als eine gemachte oder „künstliche“ Hauptstadt, die gerade nicht in diese Rolle hineingewachsen war.13 Darin spiegelten sich auch die Sorgen führender Vertreter der alten Machtelite Preußens; für sie unterschied sich Berlin von anderen Kaiser- oder Hauptstädten. Das trug dazu bei, die Abwehrhaltung der Beamten im Kaiserreich zu verstärken, eine Orientierung, die ebenfalls für die Schutzmänner wesentlich wurde. Zwischen 1871 und 1910 explodierte die Bevölkerungszahl von 827.000 auf 2.010.000; bis 1910 waren die 43,3 km2 des Stadtgebietes die dichtest besiedeltsten in der Welt. Die Einwanderer kamen vom „platten Land“, aus der brandenburgischen und neumärkischen Umgebung, aber auch aus Ostpreußen, aus Polen, Galizien und anderen Regionen des europäischen Ostens und Südostens, freilich auch (in kleineren Gruppen bzw. kleinen Zahlen) aus anderen Weltregionen. Dies ergab eine besonders „bunte Mischung“. Jedenfalls führte dies zu der Stadt mit der heterogensten Bevölkerung unter den deutschen Großstädten. Für die Schutzmänner ließ sich diese Gemengelage offenbar nur dann „unter Kontrolle“ halten, wenn sie rigoros zwischen „äußeren“ und „inneren“ Feinden unterschieden; zu den letzten gehörten insbesondere polnische Arbeiter, aber auch „fahrradfahrende russische Anarchisten“. Unabhängig von solchen Versuchen der Unterscheidung: In jedem Fall sahen Polizisten jugendliche Städter als mögliche Feinde. Nicht allein die starke Zunahme der Bevölkerung zeigte sich auf den Straßen. In den von Armen oder Ärmeren bewohnten Nachbarschaften und Kiezen lebten zudem viele soweit wie möglich auf den Straßen und Plätzen, zumindest dann, wenn sie keiner Erwerbsarbeit nachgingen, oder wenn sie schliefen.14 Geselligkeit fand vor allem auf den Straßen statt, Gemeinsamkeit mit Mitbewohnern und Nachbarn wurde im „Kiez“ erfahren und praktiziert.15 Die starke zahlenmäßige Steigerung der Schutzmannschaft, zugleich die Einführung neuer Polizeikräfte (etwa die der Kriminalpolizei, ab 1879) erzeugten in vielen Kiezen bei den Bewohnern das Gefühl, wiederum von der Staatsmacht in Gestalt der Polizei „überrannt“ zu werden. Angehörige der Schutzmannschaft hatten ähnliche Emp¿ndungen, wenn sie die zunehmende Zahl der Kollegen auf den Straßen sahen. Ungeachtet aller Ansätze zur „Entmilitarisierung“, d. h. der Versuche, den militärischen Kampf gegen Feinde nicht mehr als alleiniges Muster der Polizei zu nehmen, forderten sie mehr Möglichkeiten, Gewalt anzudrohen oder einzusetzen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurden sie daraufhin schließlich mit Pistolen ausgestattet, zusätzlich zu den bisherigen Säbeln und Siehe Alter 1993, S. 7 ff. Dazu Lindenberger 1995, S. 49 ff. 15 Rosenhaft 1984, S. 11; Wirsching 1999, S. 83–88, S. 137–160. 13 14
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Knüppeln.16 Höhere Polizeibeamte de¿nierten „öffentliche Unruhe“ zunehmend in unklaren und unscharfen Formulierungen. Und damit trugen sie faktisch dazu bei, die Wahrscheinlichkeit von Auseinandersetzungen nicht zu vermindern, sondern zu vermehren. Es kann nicht überraschen, dass Auseinandersetzungen zwischen Schutzmännern und anderen Berlinern, zumindest in bestimmten Nachbarschaften und Kiezen, zwischen 1906 und 1914 um ein Mehrfaches zunahmen.17 Auch wenn sich in diesen Jahren besonders zahlreiche und auch erbitterte KonÀikte ereigneten: in ihren Abläufen zeigten sich dennoch Muster, die in der Stadt bereits vorhanden und eingeschliffen waren. Zum Beispiel versuchten Bewohner von Arbeiterbezirken, wie etwa dem Wedding, ihren Raum „zu schützen“ und ihr Recht, sich auf den Straßen aufzuhalten, gegen die Polizei zu behaupten. Die Polizei wiederum setzte alles daran, das Treiben auf den Straßen zu kontrollieren und die Gefahren im öffentlichen Raum „zu beseitigen“ oder „zu säubern“.18 Bei einer Auseinandersetzung zwischen Bewohnern und Polizei setzten die Bewohner alle Taktiken und Mittel ein, um die Polizei aus der Fassung zu bringen. Die Bewohner „verschwanden“ plötzlich oder gingen in der Menge auf. Die Bewohner suchten aber auch ihre große Zahl einzusetzen, ebenso wie die Waffen, die gerade zur Hand waren, von PÀastersteinen bis zu Blumentöpfen; aber auch Messer oder Fäuste gehörten dazu. Wie in anderen deutschen und europäischen Städten wurde der PÀasterstein – ein Element wie ein Symbol moderner Straßen – eine vielfältig eingesetzte Waffe. Zunächst wurde er vielfach eingesetzt, um Fensterscheiben von Geschäften einzuschmeißen (nicht selten begleitet von Diebstählen oder Plündereien). Um die Jahrhundertwende wurden PÀastersteine auch häu¿ger gegen Polizisten geworfen. Die Bewohner setzten zugleich ihre Körper unmittelbar ein, um als „Menge“ oder „Masse“ ihre Ansprüche gegen polizeiliche Zugriffe durchzusetzen – um ihr Potential zu zeigen, momentane Ruhe in „Unruhe“ zu verwandeln. Die Polizei zögerte in aller Regel nicht, ihre Absichten mit direkter Gewalt durchzusetzen. Zugleich war sie angewiesen, Schusswaffen bzw. Pistolen nicht sofort einzusetzen, selbst wenn diese neuen „Instrumente“ die Möglichkeit eröffnen mochten, jede Unruhe auf den Straßen augenblicklich zu beenden.19 Parallel zu den NachbarschaftskonÀikten beanspruchten ausdrückliche politische Aktionen, in diesem Fall Demonstrationen seitens der SPD gegen das Lindenberger 1995, S. 156 ff. Lindenberger 1995, S. 107–172. 18 Diese Sprache war typisch und hielt sich lange, siehe Davis 2000, S. 83; Kurz 1988, S. 40, 59. 19 Das heißt nicht, dass Tötungsgewalt hier nachträglich zu empfehlen wäre. Hingegen zeigt die Analyse des verbreiteten Verhaltens und der Wechselwirkung zwischen beiden KonÀiktparteien, dass die Abläufe bzw. eingesetzten Mittel und Methoden offenbar dazu beitrugen, die KonÀikte zu verlängern oder zu wiederholen. 16 17
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preußische Drei-Klassen-Wahlrecht, Raum wie Öffentlichkeit.20 Der Polizeipräsident v. Jagow reagierte im Februar 1910 mit seiner berühmt-berüchtigten Verfügung: „Es wird das Recht auf die Straße verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“21 Eine solche „Festungs“-Antwort, die in ihrer Zuspitzung auch die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts übertrafen, verweist auf zeitgenössische Ansichten zur „Masse“, zu ihrer Bedrohlichkeit wie ihrer „Irrationalität“ – Vorstellungen, die Obrigkeiten im gesamten weiteren Jahrhundert in hohem Maße teilten.22 Zugleich aber sahen sich die Vertreter der Staatsmacht wie die der Kommunen verpÀichtet, zumindest den Anschein zu wahren, Bürgerrechte zu beachten und den „Rechtsstaat“ aufrecht zu erhalten. Jagow verwies auf den zeitgemäßen Vorrang von öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu anderen Bürgerrechten. Verstärkte Präsenz und verstärktes Eingreifen von Polizei provozierte zugleich den Ruf nach „Rache“ bei den anderen Straßennutzern: Weitere und vermehrte „Unordnung“ war die Folge. Demonstrationen und Aufmärsche von SPD und sozialistischen Gewerkschaften waren dabei nur ein kleinerer Teil solcher Vorkommnisse, im Vergleich sowohl mit den informellen KonÀikten als auch andererseits mit den großen und organisierten Straßenaufmärschen, etwa im März 1910 gegen das Drei-Klassen-Wahlrecht, deren mehr als 150.000 Teilnehmer sich offenbar von Äußerungen wie der oben zitierten v. Jagows nicht einschüchtern ließen. Andere politische Parteien mieden hingegen Massenaufzüge auf den Straßen, sogar zu „patriotischen“ Anlässen und solche, die den Kaiser feierten. Allerdings organisierten radikal-nationalistische Gruppen ihrerseits manchmal Massenaufzüge, etwa zur Unterstützung der (Flotten-)Aufrüstung und der Kolonialpolitik.23 Aber solche Straßen-Aktionen lösten bei den Obrigkeiten offenbar kaum Besorgnis und dementsprechend weniger vorbeugende Polizeigewalt aus. So waren die Zahl der Teilnehmer und deren Spontaneität nicht immer entscheidend. Das spontane „Zeppelin¿eber“ von 1910 brachte etwa eine Viertelmillion Menschen auf die Beine, in enthusiastischer Unterstützung für die „nationale Sache“. Ein derart großes und unvorhersehbares Ereignis war jedoch eine Ausnahme und entsprach nicht den üblichen Kontakten oder Auseinandersetzungen mit der Polizei, wobei bei einem Anlass wie diesem die Polizei großes Wohlwollen zeigte: Weder die Polizei noch die Menschen in der Menge bezogen sich hier auf die hergebrachten Muster. Denn dies war etwas ganz Unvergleichliches. Bei 20 Lindenberger 1995, S. 339; der sozialdemokratische „Vorwärts“ hatte am 13.1.1908 den Anspruch der Arbeiter unterstrichen, damit auch „die Straße zu erobern“. 21 Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 30, Titel 95, Nr. 15994, Blatt 32. 22 Ein Bezugspunkt war und blieb dafür Le Bon 1961. 23 Dazu Chickering 1984, S. 152–157; Eley 1980, S. 206–235. Shevin-Coetzee 1990, S. 46–49; der „Deutsche Wehrverein“ gewann auch deshalb breite Unterstützung, weil er den „unpolitischen“ Charakter der eigenen Aktivitäten betonte.
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einem solchen Anlass war es ähnlich wie bei den großen Massenversammlungen in den ersten Jahren der Bundesrepublik – wie etwa beim Ersten Mai in den frühen 1950er und frühen 1960er Jahren in Westberlin:24 So etwas galt nicht als eine Situation, für die vor allem die Schutzpolizei zuständig war. Es spricht also Vieles dafür, dass ungeachtet der Unkontrollierbarkeit einer solchen Masse das Fehlen jeder Sorge vor möglicher Bedrohung wesentlicher war. Vorgesetzte wie Zuschauer oder Passanten erwarteten auch keine unangenehmen oder negativen Rückwirkungen. Deshalb war der Erwartungsdruck an die Polizisten vor Ort entschieden geringer (für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen bzw. die Menge so rasch wie möglich zu zerstreuen). Zunehmend gewalttätigere KonÀikte Kleinere Zusammenstöße ereigneten sich weiterhin; auch die Ereignisse während des Ersten Weltkrieges änderten gerade daran nichts.25 Bekannt ist hingegen, dass (vielfach gewalttätige) StraßenkonÀikte in Berlin während der Weimarer Republik entschieden zunahmen – wobei die Anforderungen an die Legitimität des Staates wie der Polizei vor Ort nicht allein wegen der größeren Zahl größer wurden. Gleichzeitig freilich stieg auch die Zahl der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Bewohner von Wohngebieten und Kiezen untereinander hatten, nicht zuletzt das Maß und die Intensität der physischen Gewalt, die dabei eingesetzt wurde. In den ersten Jahren der Weimarer Republik trug der Zusammenschluss bis dahin unabhängiger Dörfer und Städte zu „Großberlin“ (1920) wesentlich dazu bei, dass die Bewohner „ihr Gebiet“ nachdrücklicher markierten und verteidigten, in zum Teil bitteren Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Nachbarn. Physische Alltagsgewalt wurde zugleich direkter mit formalen politischen Zuschreibungen verknüpft, zumindest „von oben“. Daraus entwickelte sich so etwas wie eine Dreiecksbeziehung zwischen der Polizei einerseits, unterschiedlichen Gruppen von Kiez-Bewohnern, die sich ihrerseits als Unterstützer oder aber als Opponenten bestimmter politischer Gruppen sahen bzw. von diesen in der einen oder anderen Hinsicht wahrgenommen oder reklamiert wurden. Auch die Intensität und die Formen des Polizierens veränderten sich. Dazu gehörte zum einen 1919 der Übergang von der alten Schutzmannschaft zur neuen Schutzpolizei; zum zweiten war die Wiedereinführung der politischen Polizei Teil der Veränderungen. Die politische Polizei sollte, wie bei ihrer Ersteinführung 1871, alle „politischen“ Verbrechen verfolgen, d. h. solche Taten, die von „inneren Feinden“ von Staat und Nation geplant oder begangen würden. Drittens wurden im Zusammenhang der 24 25
Dazu Rucht 2003, S. 33. Vgl. Davis 2000.
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revolutionären Bewegungen 1918/19 lokale „Einwohnerwehren“ aufgestellt, so etwas wie eine bürgerlich formierte, staatlich tolerierte Bürgermiliz.26 Auch für Neuformierungen und Aktivitäten wie die der Bürgermiliz waren KonÀikte in und zwischen Nachbarschaften bedeutsam – wie diese ihrerseits von vermehrter Polizeipräsenz (oder deren Androhung) beeinÀusst waren. Zunahme und Intensivierung gewaltsamer Auseinandersetzungen lassen sich nicht nur für Berlin beobachten. Zeitgenossen wiesen darauf hin, dass es „kaum einen Tag gab, an dem nicht irgendwo in Deutschland irgendjemand erschossen wurde, jemandem der Schädel eingeschlagen wurde, oder jemand erstochen wurde, weil diese Person angeblich oder tatsächlich andere politische Anschauungen hatte.“27 Insgesamt aber fanden Intensität wie Zahl der sich regelmäßig ereignenden Fälle in diesem Zeitraum in der Hauptstadt anderswo keine Parallele.28 Aber die Kontinuitäten mit früheren KonÀiktformen (und auch die entsprechenden Erinnerungen bei Teilnehmern wie Beobachtern) scheinen mir eben doch stärker, als es bisher wahrgenommen oder vermutet worden ist. Dazu ein Blick auf Zusammenstöße im Umfeld des „Blutmais“, der Auseinandersetzungen vom 1. bis 4. Mai 1929. Dieser Berliner „Blutmai“ gilt häu¿g als Symbol des Eintauchens in eine Gewalt, die für die Jahre bis 1933 kennzeichnend gewesen sei. Der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Zörgiebel sah sich unter starkem Druck des Magistrats wie der Berliner Einwohner, Stärke und Kontrollfähigkeit zu demonstrieren. Im Dezember 1928 erließ er ein Verbot aller „Demonstrationen“, um zu zeigen, dass er „Herr der Straßen und der Situation“ war. Die KPD-Führung konterte mit der Kampagne, die „Straßen frei für das Proletariat“ zu machen29, auch in der Hoffnung, bei diesem Thema, das so viele Berliner umtrieb, neue Anhänger zu gewinnen. Dazu gehörten auch Pläne der Parteiführung, die jährliche Maidemonstration in ausdrücklicher Missachtung dieses Erlasses durchzuführen. Während die Analysen des „Blutmai“ auf eben diese Ansätze und Verhaltensweisen der KPD-Führung gerichtet waren, hat Peter Leßmann gezeigt, dass die außerordentlich blutigen Auseinandersetzungen angesichts der Sicherheitsmaßnahmen und Kontrolle durch die Polizei nur konsequent waren.30 Die Polizei ging gewaltsam und unverhältnismäßig auch gegen Kiezbewohner vor, die keine eindeutige politische Zuordnung oder Absicht hatten – und eben dadurch provozierte dieses Auftreten der Polizei massiven Widerwillen und gewalttätige Gegenaktionen der Anwohner und Nachbarn. Auf beiden Seiten Vgl. zu den Vorläufen im 19. Jahrhundert den Beitrag von Reinhard Pröve in diesem Band. Zitiert in Kurz 1988, S. 13. 28 Birkholz 1987; Broszat 1960. 29 Kurz 1988, S. 22. 30 Leßmann 1989. 26 27
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schien es unerlässlich, „Männlichkeit“ zu zeigen31 – gerade dadurch trugen viele zu jener vorbeugenden Polizeigewalt bei, wie Historiker ebenfalls für die Nazizeit und die Nachkriegsjahre (zumindest in den Westzonen) betonen. Schutzpolizisten demonstrierten diese aggressiv-provozierende, vorbeugend gemeinte Haltung in Neukölln, aber auch in anderen Bezirken und Kiezen bereits vor Beginn der of¿ziellen Demonstration. Arbeiterjugendliche, insgesamt Jugendliche aus diesen Quartieren reagierten ihrerseits mit Beleidigungen gegen Polizisten und Versuchen, den Verkehr zu blockieren. Einzelne Polizisten zogen Pistolen und drohten zu schießen. In einem Fall griff ein Jugendlicher einen der Beamten körperlich an, fraglos in der Annahme, dass nicht mit Tötungsgewalt reagiert würde – unter dem Beifall der Zuschauer. Unverkennbar waren dies weitgehend vertraute Verhaltensweisen bei den Akteuren auf der einen wie auf der anderen Seite. Verängstigte Beamte, die gewiss verunsichert waren durch die Beteiligung der KPD, aber auch von anderen öffentlichen Vorwürfen und Anklagen, schossen nun in die Luft, wobei sie Zuschauer verwundeten (offenbar durch Splitter und Querschläger), Sachen gingen zu Bruch. Die Menschen auf der Straße rückten gegen die Beamten vor. Diese schossen ihrerseits in die sich verdichtende Menschenmenge erregter und zorniger Personen. Die Polizisten gingen offenbar nun davon aus, dass es keine Rückzugsmöglichkeit gäbe und schossen mit ihren Pistolen und später vor allem mit Karabinern und sogar MGs wahl- und ziellos in die Menge. Am Ende der vier Tage, die diese Auseinandersetzungen anhielten – nicht zuletzt, weil die Nachricht sofort andere Kieze erreichte, so dass die Polizei sich von den Anwohnern belagert sah –, hatten die Polizisten 10.981 Schuss scharfer Munition verschossen; 33 Menschen waren getötet und 198 verletzt.32 Ungeachtet der in dieser Form erstmaligen Dimension eines polizeilichen Einsatzes blieb dennoch die Zahl der Opfer – im Verhältnis zur verschossenen Munition – vergleichsweise begrenzt. Für Leßmann markiert dieser Polizeieinsatz vom Mai 1929 das Öffnen der Büchse der Pandora: Damit sei mental der Weg geebnet worden für staatlich lizenzierte Polizeigewalt, wie sie in der Nazizeit in vieler Weise zunehmend Teil polizeilichen Alltags wurde. Zugleich bleibt festzuhalten, dass dieses überwiegend wahllose Schießen zu einer neuen Form von Gewaltsamkeit führte – dass damit aber auch in der Intensivierung und Zuspitzung ein seit langem integriertes Muster überschritten oder verlassen wurde, ein Muster, das seit langem zum Selbstbild von Polizei wie großen Teilen der Bevölkerung in Berlin geworden war.
Rosenhaft 1995, S. 261–270. Für die Zeit nach 1945 für die Westzonen bzw. die BRD vgl. Weinhauer 2003, S. 102–120. 32 Leßmann 1989, S. 271 ff. 31
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Diese Kontinuität zeigte sich auch innerhalb der Polizei selbst. Die Schutzpolizei oder „Schupo“ war 1919 errichtet worden in der Absicht, mit den Formen des Polizierens und der Polizei des Kaiserreichs zu brechen und ein ganz neues Konzept von Polizei durchzusetzen. Leßmann verweist darauf, dass das Verhalten 1929 nicht nur zu tun habe mit den Entwicklungen der 1920er Jahre. Vielmehr sei hier auch die Rolle früherer Sicherheitspolizisten und deren Bedeutung innerhalb der Schutzpolizei zu bedenken: Für die Sicherheitspolizisten waren die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen von 1920 und 1921 prägend, in denen sie als gegenrevolutionäre Einheiten zum Schutz der Republik agierten. Daraus resultierte eine „Militarisierung“ der Schutzpolizei, nicht zuletzt wegen der besonderen Notwendigkeiten, die man in und für Berlin sah.33 Während die Vorgesetzten das Ziel der Demilitarisierung proklamierten, handelten die Polizisten auf der Straße und auf der Wache, d. h. im konkreten Einsatz militärisch oder militärähnlich. Und ihre Vorgesetzten intervenierten nicht. Zudem gab es Kontinuitäten beim Personal, zwischen der Schutzmannschaft und der Schutzpolizei, wie überhaupt in der preußischen Zivilverwaltung (und ähnlich in den Verwaltungen der anderen deutschen Staaten). In Preußen dürfte die Übernahme früherer Sipo bzw. Sicherpolizei-Of¿ziere und Beamte diese Mischung zugespitzt und in gewisser Weise re-militarisiert haben. Hinweise auf diese Kontinuität sollen aber nicht bedeuten, dass sich der preußische Militarismus unverändert gehalten hätte. Vielmehr geht es darum, dass ungeachtet aller Regimewechsel bestimmte Erfahrungen, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen wirksam blieben. Sie trugen dazu bei, vertraute Muster weiterzuführen – oder erneut einzuführen, unabhängig von ihrer Ef¿zienz, gebunden hingegen an den besonderen Ort und seine symbolischen (Be-)Deutungen. Wenn es Kontinuitäten zwischen Vor- und Nachkriegsgewalt gab, dann wurde die bittere Erfahrung des „Blutmai“ wiederum rasch zu einem fortdauernden Symbol. Für die Bewohner war es dann nur noch ein winziger Schritt von Weimar zur Nazizeit, zumindest bei der physischen Gewalt auf den Berliner Straßen.34 Fraglos wurden die erweiterten und zahlenmäßig erheblich vermehrten Polizeikräfte in der Nazizeit weit enger mit Gewalt und Terrorakten verbunden, aus ihrer Sicht gerechtfertigt für die „innere Sicherheit“.35 In der zentralisierten Polizeiverwaltung in der Nazizeit (zunächst auf der Ebene der Länder, ab 1936 im Rahmen des Reichsinnenministeriums unter EinDazu Rosenhaft 1978. Siehe Leßmann 1989, S. 349–382; Mallmann 1996, S. 366–377, mit Betonung der andauernden Gewalttätigkeit auf den Straßen in den späten 1920er und den frühen 1930er Jahren in der Weimarer Republik, zumal zwischen Nazis und Kommunisten. 35 Dazu Wildt 2002, S. 209–282; auch Jessen 1995, S. 19–43; Rusinek 1993; Kenkmann (Hg.) 1996; vgl. Linck 2000. 33
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setzung Heinrich Müllers als Chef der Gestapo – oder, kurz: „Gestapo Müller“) – in dieser veränderten Situation wurden Polizeikontrollen und -zugriffe um ein Vielfaches erweitert, während zugleich externe Kontrollen der Polizei ent¿elen. Allerdings lassen sich Zentralisierung sowie Verminderung von Kontrollanstrengungen bereits vor 1933 beobachten.36 Eine stärkere Kontinuität zeigt sich beim Personal: Der übergroße Teil der Beamten der Weimarer Zeit blieb nach 1933 weiter im Polizeidienst. Während die Behörden und Autoritäten im NS-Staat eine bisher nicht gekannte Kontrolle der öffentlichen Räume durchzusetzen suchten, waren dennoch kleine Zusammenstöße auf Straßen und Plätzen „nicht selten“, jedenfalls in Berlin. Und dazu gehörte auch, dass Jugendgruppen und Jugendbanden ihren Kiez zu „verteidigen“ suchten.37 Auseinandersetzungen und Schlägereien auf den Straßen verbreiteten sich in diesen Jahren offenbar immer mehr in der Stadt, von Weißensee bis Spandau.38 Die neuere Forschung hat aber gezeigt, dass ungeachtet der Erweiterung und Vermehrung der verschiedenen Polizeikräfte (und parallel steigender Verhaftungszahlen)39, die „deutsche Polizei“ die öffentlichen Räume weit weniger umfassend regulierte und kontrollierte als lange Zeit angenommen worden ist. Die „Ordnungspolizei“, d. h. die 1936 umbenannte Schutzpolizei, war bzw. blieb für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig – in Formen und mit Aufmerksamkeitsschwellen, die den seit langem gewohnten ähnelten. An ihre Stelle trat nicht notwendigerweise eine verschärfte Wachsamkeit, um etwa den Versprechungen der Nazis umgehend nachzukommen, die „Straßen zu säubern“.40 Auch die nationalsozialistischen Obrigkeiten drängten sich nicht, in der Öffentlichkeit auf Menschen zu schießen, zumal wenn diese Menschen nicht generell als Feinde galten. Selbst wenn es keine größeren Demonstrationen gegen die NS-Herrschaft gab, ist das Bild der „Friedhofsruhe“ nicht angemessen, jedenfalls nicht für Berlin – die Stadt, die mehr als je zuvor der Sitz der Staatsgewalt und der Herrschaftsort geworden war.41 Die Nazis vermochten es nicht, die Symbolik der Reichshauptstadt vollständig zu besetzen. Wenn Nazisympathisanten die Stadt weiterhin mit Skepsis wegen ihres Rufes der Widerborstigkeit betrachteten, galt die Stadt vielen Bewohnern umso mehr als besonders geeigDazu Jessen 1995, S. 21. Dazu Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.) 1983; auch Sander 1983, S. 36. Das betrifft nicht nur Berlin: vgl. Peukert 1980. 38 Dazu u. a. Brücker 1983, S. 42–48; Klages 1983, S. 131 ff. Roth 2000, S. 37 f, zu Streiks in Spandau. 39 Wildt 2002, S. 209–282. 40 Dazu 2002, S. 141; vgl. auch Wildt 1997; Wildt 2001. 41 Dazu Reinke 2000, S. 51–63; zur Gewaltpraxis und ihrer Allgegenwärtigkeit bzw. allgegenwärtigen Drohung Przyrembel 2003. Michael Wildt hat darauf aufmerksam gemacht, dass zumindest in den ersten Jahren des NS-Regimes die Polizeiaktivität vor allem auf die politischen Feinde im Sinne der anderen oder feindlichen Parteien und Gruppierungen gerichtet war, siehe Wildt 2002, S. 217. 36 37
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neter Ort, Opposition oder Nicht-Zustimmung eben auch zur neuen Staatsgewalt auszudrücken.42 Die Geschichte der Widersetzlichkeiten in Berlin, aber auch die Beziehungen dieser Widersetzlichkeiten zu den Mythen der Stadt blieb ein Quell der Beunruhigung für Beamte und NS-Funktionäre. Parallel-Muster in BRD und DDR – oder: Muss es so immer weiter gehen ? Insofern bedeutete die Nazizeit keinen absoluten Bruch mit bisherigen Orientierungen, Praktiken und Mustern. Aber auch nach der Zerschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft gab es keine vollständige Abkehr von den eingefahrenen Verhaltensweisen und Orientierungen. Auch wenn die beiden neuen Berliner „Halbstädte“, die sich um 1950 zunehmend deutlicher herausbildeten, sich in vielem von dem Berlin vor 1945 unterschieden, blieb vieles von dem, was sich mit dem Namen der Stadt an Mythen und Projektionen verband, weiterhin wirksam. Die Vielschichtigkeit, z. T. Widersprüchlichkeit dieser Symbole steigerte sich eher in der Zeit, in der sich die beiden neuen Berlins „normalisierten“, also zwischen den 1950er und den 1980er Jahren. Dabei nahm die Bedeutung der Beobachter „von außen“ im besonderen Maße zu. Aber auch das Vorzeigen und Einsetzen von Tötungsgewalt, wie die der Roten Armee und ihrer DDR-Helfer im Juni 1953, hatte nur begrenzte Folgen. Jedenfalls wurden Krawalle auf den Straßen dadurch keineswegs auf Dauer verhindert.43 Mitte der 1950er Jahre nutzten „Unruhe stiftende Rowdys“ oder „Halbstarke“ in Ost- wie in Westberlin insbesondere die Straße, um ihre Ablehnung der deutschen Nachkriegskulturen zu zeigen: Sie tanzten, blockierten den Verkehr, „gammelten herum“. Dem entsprach, dass in den 1950er, aber auch den 1960er und 1970er Jahren die Westberliner Schutzpolizei beinhart dagegen vorging. Dieses Vorgehen unterschied sich kaum von dem der Schutzpolizei der 1920er und der Ordnungspolizei ab 1936, aber auch nicht von dem der „Deutschen Volkspolizei“ im Ostteil der Stadt. Norbert Steinborn und Hilmar Krüger verweisen auf die Spannung bei der Westberliner Schutzpolizei, die „freiheitlichdemokratische Grundordnung“ zu verteidigen, aber dafür vornehmlich Methoden der Ordnungssicherung und Disziplinierung einzusetzen.44 Es dominierte noch die Vorstellung, Polizei sichere den Staat, wenn sie „Ordnung“ in der Öffentlichkeit und auf den Straßen durchsetzte – und damit zugleich Philipp 2001, S. 153. Vgl. dazu Poiger 2000, S. 130 sowie passim. Dies betraf wiederum nicht ausschließlich Berlin, obwohl sie dort an¿ ngen; für Leipzig siehe Wierling 1997; allgemeiner Lindenberger (Hg.) 1999; ders s. 2002; Henke et al. (Hg.) 1999. 44 Steinborn/Krüger 1993, S. 107; 193 passim; Fürmetz/Reinke/Weinhauer (Hg.) 2001. 42 43
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die eigene Stärke und Macht der Polizeibeamten zeigte. Und das bei einem Staat, der sich „demokratisierte“. Reaktionsweisen und nicht zuletzt gewalttätiges Vorgehen bei der Westberliner Polizei verstärkten sich in den 1960er und 1970er Jahren, verschärft durch die Inselsituation, zumal nach der Errichtung der Mauer. Polizisten schritten massiv gegen jede noch so kleine Gruppe auf den Straßen ein, sobald sie in irgendeiner Weise „störend“ schien. Die Polizei bemühte sich dabei immer, die Verbindungen zum „äußeren Feind“ zu belegen, und das waren in dieser Zeit natürlich vor allem „die Kommunisten“.45 Klaus Weinhauer hat darauf hingewiesen, dass seit den 1960er Jahren die Polizeiausbildung in der Bundesrepublik und Westberlin zunehmend Grundsätze polizeilicher Integration in die Gesamtgesellschaft betonte. Fraglos zeigt sich hier ein – zumindest faktisches – Bemühen, lang existierende Distanzen und Spannungen zwischen Polizei und der jeweiligen lokalen Gesellschaft zu vermindern.46 Die polizeiliche Alltagspraxis folgte solchen neuen Grundsätzen freilich mit erheblichen Verzögerungen. Die Folgen veränderten Ausbildung und sind nur schwer zu belegen. Immerhin zeigen sie sich in der neuen Hauptstadt des vereinten Deutschlands. Gewiss lässt sich argumentieren, dass Freizügigkeit auf den Straßen inzwischen in Deutschland ebenso unstrittig ist wie anderswo. Das betrifft insbesondere das Umgehen mit mehr oder weniger spontanen Gruppen und Aktionen, mit unterschiedlichen politischen Ausdrucksweisen in der Öffentlichkeit – überhaupt mit anderen oder „fremden“ Verhaltensweisen – und das alles in der Hauptstadt.47 Berlin steht nach den Umbrüchen von 1989/90 weniger im Zentrum besonderer Aufmerksamkeit als im Kalten Krieg und vor der Maueröffnung vom November 1989. Insgesamt haben sich die zivilen Bewohner ebenso wie die Polizei jeweils unterschiedlich, aber dennoch gemeinsam von den jeweiligen Erfahrungen und der beinahe zwanghaften Wiederholung negativer Muster abgesetzt. Allerdings gibt es gute Gründe, hier genau hinzuschauen. Es ist eindeutig, dass sich die Polizeien in Berlin, aber auch – je unterschiedlich – in der DDR und der Bundesrepublik von den Positionen ein Stück entfernt haben, die sie in den 1970er Jahren jeweils einnahmen. Dennoch zeigen einzelne Fälle in den 1990er Jahren, dass die Besorgnis, Polizei wie Anwohner würden nur zu leicht wieder in die Gewalt-Rituale verfallen, begründet ist. Das gilt z. B. für die Kiez-Unruhen, die mehr oder weniger ausdrücklich mit den Hausbesetzungen verbunden waren, wie in Friedrichshain in den frühen 1990er Jahren. Zumindest ist Berlin – ange-
Vgl. dazu Weinhauer 2003; Gössner 1995; siehe auch Davis 2006a. Schutzpolizei 2003, S. 190–196 passim; ders. 2001. 47 Vgl. dazu Davis 2002; dies. 2006b. 45
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sichts der weit heterogeneren Bevölkerung als je zuvor – gewiss keine Großstadt, die heute „leichter“ zu kontrollieren wäre als vor hundert Jahren. Das Polizeimodell, das sich in Deutschland durchgesetzt hat, entspricht nach der Analyse von Martin Winter dem etablierten Polizeikonzept der angloamerikanischen Tradition, das lange als Gegenbild zu dem der kontinentaleuropäischen Polizeikräfte galt.48 Allerdings ist es keineswegs sicher, wieweit dieses Polizeikonzept tatsächlich im angloamerikanischen Kontext durchgesetzt ist und befolgt wird. Mindestens für die letzten Jahrzehnte wäre auch zu prüfen, ob nicht das deutsche Polizeikonzept ein positives Gegenbeispiel für das sein könnte, was in Großbritannien und insbesondere in den USA zur Regel geworden ist.49 Zwar konzentriert sich dieser Text auf den Fall Berlin. Zugleich aber geht es nicht allein um Berlin und auch nicht einmal um Deutschland. Bei den Auseinandersetzungen um die Kontrolle der städtischen Straßen und Räume steht zudem die Staatsgewalt in Frage: Es ist ein weit gespannter und häu¿g heiß umstrittener Gegenstand, auf beiden Seiten des Atlantiks. Das Konzept, Polizei handle, um den öffentlichen Raum für individuelle und politische Aktivitäten zu sichern, ist nicht ganz neu. Aber die Bürger haben bisher kaum stets und überall damit rechnen können, dass diese Vorstellung in ihrem Alltag Realität ist, nicht allein, aber insbesondere in Deutschland. Die Beziehungen zwischen Polizei und „Publikum“ bei der Nutzung und Aneignung öffentlichen Raumes, beim Wahrnehmen von Bürgerrechten haben sich ebenso wie insgesamt das Verhältnis zwischen Polizei und Öffentlichkeit erheblich verändert. Die Möglichkeiten für Auseinandersetzung, aber auch für das Beenden solcher Kontinuitäten sind wesentlich erweitert. Ob solcher Wandel freilich dauerhaft ist, bleibt eine offene Frage. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Alf Lüdtke Literatur Albrecht, Peter-Alexis/Backes, Otto (Hg.) 1990: Verdeckte Gewalt. Plädoyer für eine „Innere Abrüstung“, Frankfurt am Main Alter, Peter 1993: Einleitung, in: Alter, P. (Hg.): Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren, Göttingen, S. 7–20 Avé-Lallemant, Friedrich C. B. 1998 [1858]: Das deutsche Gaunertum in seiner sozialpolitischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande, Bd. 1, Wiesbaden Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.) 1983: Spurensicherung. Alltag und Widerstand im Berlin der Dreißiger Jahre, Berlin
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Vgl. Monkkonen 1981; Richardson 1975; McPhail 1998. Vgl. Fine/Millar (Hg.) 1985; Coulter/Miller/Walker 1984.
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Das Regiment der Gewalt: Polizieren des Politischen in der Volksrepublik China Michael Dutton
Einführung: Die Gewalt, die von den Freunden kommt In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren begann die Forschungsabteilung des Ministeriums für öffentliche Sicherheit in China mit einem umfangreichen historisch-ethnographischen Forschungsprogramm. Die Provinzbehörden sollten die Archive durchforsten und historisches Material zu Fragen der öffentlichen Sicherheit zusammenstellen. Polizeiverordnungen und andere Anordnungen, aber auch Parteiberichte wurden gesammelt, hinzu kamen Reden und Äußerungen der lokalen Partei- und Polizeigewaltigen. Außerdem kontaktierte man ehemalige Mitglieder der Behörden und Parteistellen und ermunterte sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben oder zu erzählen. Solche Erinnerungstexte wurden vorliegenden Biographien angefügt – das unsystematische Tagebuch, das daraus entstand, war der Grundstock für das umfassende Archiv der Polizei und des polizeilichen Handelns im revolutionären China. Das Resultat waren über dreißig Bände mit Materialien; aus einem stammt die folgende Geschichte. Es folgt hier nicht ein Edikt oder eine Stellungnahme eines Führers, sondern der Tagebucheintrag eines einfachen Parteigenossen aus dem Sicherheitsapparat, der dadurch außergewöhnlich ist, dass er in einer sehr routinierten und technischen Weise von revolutionärer Gewalt berichtet. Für einen Augenblick wollen wir diesem Tao Jian folgen und sehen, wie er die Seiten seiner eigenen Erinnerung umblättert und dabei auf die dunklen Seiten der Revolution stößt: „31. Dezember 1943. Ich war in der Taihang Gebietsparteischule und nahm am Ausrichtungsunterricht teil, als eine Anordnung des Gebietsparteikomitees zwei Genossen und mich anwies, zu unserem Bezirkskomitee zurückzukehren. Dort wäre das Sicherheitsbüro in die Hände der [feindlichen] Kuomintang gefallen. Das Parteikomitee entschied, uns sofort zurück zu senden, um das einzusetzen, was wir an der Gebietsparteischule gelernt hatten, über „Ausrichtung“. Damit sollten wir helfen, die Dinge für die Genossen der Gebietsparteileitung zu klären. So setzten wir drei uns am Neujahrstag 1944 in Bewegung. Als wir ankamen, beriefen wir ein großes Treffen aller Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung ein. DaA. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_5, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Michael Dutton mit begann der Ausrichtungsprozess in unserem Gebiet […] Zu dieser Zeit gab es mehr als 20 Genossen, die in dem Hauptquartier der Sicherheitsabteilung arbeiteten. Nachdem wir alle zusammengeholt hatten, leiteten wir sie an, die Texte des Zentralkomitees der Partei zur Säuberung zu studieren. Das allein dauerte 10 Tage. Danach begannen wir daran zu arbeiten, die persönliche Geschichte jedes Einzelnen und jeder Einzelnen zu klären. Entscheidend für uns war dabei herauszu¿nden, auf welche Weise diese Menschen in der Revolution aktiv geworden waren. Wir brachten sie dazu, uns ganz genau zu erzählen, wie sie in das Taihang-Basislager gekommen waren. Zu Anfang gab uns jeder einen mündlichen Bericht; danach ordneten wir an, dass sich jeder mit einem Schreiber hinzusetzen hatte, der alles aufschrieb, was sie berichteten. Dann verglichen wir die schriftliche Version mit unseren eigenen Notizen, die wir während des mündlichen Berichts gemacht hatten. Wir versuchten herauszu¿nden, ob es irgendwelche Unstimmigkeiten in den bzw. zwischen den jeweiligen Geschichten gab. Mehrere der Genossen, die befragt wurden, gaben ziemlich widersprüchliche Berichte. Und andere berichteten in einer Weise, die höchst verdächtig war. Mehrere gehörten der [feindlichen] Kuomintang an, oder sie waren als Studenten in der Kuomintang aktiv gewesen. Wieder andere hatten Verwandte, die immer noch Funktionäre in der Partei waren. Es waren genau diese Fragen, auf die wir uns konzentrierten oder zu denen wir immer wieder zurückkehrten. Wir forderten immer weitere Informationen – und wir machten das, indem wir diese Menschen dazu brachten, ihre eigene persönliche Situation zu untersuchen und zu klären. Aber nur dann, wenn wir sie wirklich nötigten und bedrängten, wenn wir Gewalt anwandten, geschah es, dass sie beichteten – und, natürlich, wenn sie beichteten, glaubten wir alles was sie sagten. Dieser Prozess des Erzwingens eines Geständnisses und dieses dann glauben bzw. akzeptieren, gilt in Polizeikreisen als bi-gong-xin. Das Endresultat dieser Verwendung von bi-gong-xin war, dass mehr als 90 Prozent aller Funktionäre im Hauptquartier der Sicherheitsabteilung angeklagt wurden, Spezialagenten der ‚CC-Fraktion‘ zu sein.1 Auf der Grundlage von Anordnung des Zentralkomitees und des Nord-Büros musste das Taihang-Parteibezirkskomitee unverzüglich unsere Arbeit unterbrechen. Der Grund war, dass wir bi-gong-xin benutzt hatten. Deshalb wurde das ganze Unternehmen gestoppt. Aber vor 1943 war es eine ganz andere Geschichte. Zu der Zeit, in dem Kampf gegen Spürhunde, beriefen wir uns ohne jede Skepsis auf die sowjeti-
Bi-gong-xin meint wörtlich Foltern (bi), dann ein Geständnis herauszupressen (gong), und schließlich diesem Geständnis, dieser Beichte zu glauben (xin). – Die CC-Fraktion wurde so genannt, weil sie von zwei CC’s angeführt wurde, Chen Guofu und Chen Lifu. Sie hatten die „neue Leben-Bewegung“ 1934 gegründet und wollten damit China retten, und zwar indem sie zu konfuzianischen Tugenden zurückzukehren trachteten. Dies war eine dominierende Gruppe in der Nationalistischen Partei während der gesamten Kriegsjahre. Wegen der starken konfuzianischen Prägung betrachteten ihre Angehörigen die Kommunisten nicht nur als Gesetzlose, sondern als moralische Sünder, deren Ansichten den chinesischen Kernwerten völlig fremd waren. Vgl. Harrison 1972, S. 267. 1
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schen Erfahrungen und folgten strikt der fehlerhaften bi-gong-xin-Methode und genau wegen dieser Methode wurde der Kampf immer heftiger, und dies führte dazu, dass viele gute Genossen gezwungen wurden, sich als Spione bezeichnen zu lassen. Dann lasen wir Maos Schrift über die Politik der neun Punkte2. Und danach, nach peinigenden Überprüfungen unserer Arbeitspraxis, war es uns schließlich möglich, unsere Polizei- und Sicherheitsarbeit wieder auf den richtigen Pfad zurückzubringen, auf den Pfad, der zurück zur Massenlinie führte.“3
Polizeistatistiken aus dieser Zeit sind höchst unzuverlässig. Aber Tao Jians eigene Erinnerung sagt, dass die „Ausrichtung“ zu über 3.000 Verhaftungen und Hinrichtungen allein in seinem Arbeitsbereich führte.4 Wenn man davon ausgeht, dass zu ihrem Höhepunkt die Polizei in Taihang nicht mehr als 3.500 Polizisten hatte5 wird deutlich, welche Macht dem bi-gong-xin zukam. Eine solche Macht, so scheint mir, wurde weder im Ärger noch im Triumph, sondern in großer Furcht praktiziert: Furcht trieb die kommunistische Funktionäre von der Säuberung zum Revanchismus, von der „Massenlinie“ zur Gewalt. Die Politik der „Massenlinie“, von der Tao Jian und andere mit den gewalttätigen Säuberungen angeblich abgewichen waren, war im Februar 1943 eingeführt worden: Mao hatte in einer Rede die Notwendigkeit begründet, den Arbeitsstil der Partei zu korrigieren.6 Danach resultierte die Notwendigkeit, die Partei zu säubern, aus dem spektakulären Wachstum der Partei nach der Kriegserklärung an Japan 1937. Die unzureichende politische Bildung der neuen Parteimitglieder, aber auch ihr Klassenhintergrund machte in den Augen der Führung politische Erziehung dringlich.7 Die Sorge war groß, die neuen Parteimitglieder würden ohne ein besseres Verständnis der Partei-Linie schwerwiegende Fehler machen, mehr noch: die Partei würde „unsaubere“ Elemente aufnehmen.
2 Veröffentlicht im August 1943; darin wurde die bi-gong-xin-Methode als falsch bzw. gegründet auf einer falschen Linie bezeichnet, Mao Tsetung 1975, Bd. III, S. 52. 3 Tao Jian 1993, S. 198. 4 Tao Jian 1993, S. 201. 5 Zhao Zhongtian 1993, S. 205. 6 Mao Tsetung 1975, Bd. III, S. 35. 7 In den Kriegsjahren hat es ein enormes Wachstum in den Lagern und bei der Parteimitgliedschaft gegeben. Zwischen 1937 und 1940 hatte sich die Zahl der Parteimitglieder vervielfacht, von etwa 40.000 Personen 1937 auf etwa 800.000 1940, vgl. Li Jinping 1993, S. 129. Das Wachstum war so rasant, dass das Politbüro 1939 beschloss, die „Sturmkampagnen für neue Mitglieder“ auszusetzen. Die aktuelle Linie dieser Zeit war die der Konsolidierung, aber die Zahlen stiegen weiter an. Seit der Einheitsfront hatte die Partei über 700.000 neue Mitglieder bekommen (vgl. CCA, Dokument 14, 1992, S. 20). Das Problem war, dass etwa 90 % dieser neuen Parteimitglieder aus „kleinbürgerlichen“ Verhältnissen stammten, wobei die große Mehrheit einen intellektuell-akademischen oder bäuerlichen Hintergrund hatte (Harrison 1972, S. 323).
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Maos „Ausrichtungs-Rede“ führte einen neuen Typ politischer Kampagnen ein. Sie sollten die Anwendung von Gewalt durch Überzeugung und Erziehung ersetzen. Die„Ausrichtungskampagne“ („Zurück zur richtigen Linie“) konzentrierte sich nicht auf die physische Vernichtung, sondern auf die Veränderung des Denkens. Zentrales Ziel, das bereits zuvor die nationalistische und antijapanische Position der Partei bestimmt hatte, war die Einheit. Politisch führte diese Kampagne eine Methode ein, mit der die Erweiterung des Einheits-Diskurses für einen neuen Typ von Kampagne genutzt werden konnte. „Einheit – Kritik – Einheit“ war deshalb der Schlachtruf. Die Rückkehr zur „richtigen“ Linie bzw. die Ausrichtung der Linie zielte darauf, Gewalt zu begrenzen – durch ein reÀektiertes Verstehen von Widersprüchen und Unterschieden, im Gegensatz zur These der unaufhebbaren und allein bestimmenden Polarität von Freund und Feind. Unterschiede galten nicht länger als eine Tarnung verborgener Feinde. Ebenso wie die Einheitsfrontpolitik gegenüber den Japanern die eigene Basis erheblich erweitert hatte – sehr viel mehr Menschen konnten nun „Freunde“ sein –, bedeutete die Konzentration auf „Ausrichtung“ ein Mittel zur Verminderung jener Gewalt, die sich gegen die Feinde richtete. Jetzt wurde betont, Unterschied bedeute nicht notwendig „Abweichung“. Das war zumindest eine Differenzierung, die in der „Ausrichtung“ angelegt schien. Was allerdings konkret geschah, als die Kampagne in Gang gesetzt wurde, hatte nichts mit solchen Erwägungen zu tun. Ungeachtet der Versuche, eine differenziertere Wahrnehmung von Widersprüchen zu entwickeln, verharrte die „Ausrichtungs“-Kampagne dennoch in der zweipoligen Logik des Klassenkampfes. Es blieb deshalb stets möglich, zur Gewalt zurückzukehren, zumal als sich das relativ offene und freizügige Klima des Jahres 1942 zu ändern begann. 1943 war dieser Umschwung in vollem Gange; entsprechend veränderte sich die Bedeutung von „Ausrichtung“. Die Gründe für diesen Umschwung lagen auf der Hand. Zunächst hatte die japanische Armee, die 1937 in China eingefallen war, 1943 die Kommunisten zu ihrem Hauptfeind erklärt. Angesichts unausgesetzter japanischer Angriffe auf die kommunistischen Basislager bestimmte mehr und mehr die Furcht vor einem „inneren Feind“ die Sprache und Logik der „Ausrichtung“. Noch bedeutsamer war – zweitens –, dass die mühsame Verbindung zwischen Kommunisten und den nationalistischen Parteien brüchig wurde. Gewiss zeigten sich beide einig im Kampf gegen die Japaner. Parallel aber war die Kuomintang (KMT) zunehmend beunruhigt durch das enorme Wachsen der kommunistischen bewaffneten Kräfte. 1943 entschied sich die Führung der KMT zu handeln: Sie blockierte kommunistische Lager und intensivierte ihre Spionageaktivitäten. Das aber steigerte Angst und Sorge bei den Kommunisten: vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen beiden Parteien seit den frühen 1920er Jahren eine verständliche Reaktion auf kommunistischer Seite.
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Die Kommunisten hatten in diesen Jahren große Verluste erlitten und waren durch die In¿ltration und auch Verrat seitens der KMT hart getroffen worden. Als die kommunistische Partei und die KMT ihre erste Einheitsfront 1927 formiert hatten, war die kommunistische Partei beinahe ausradiert worden: Ihr Alliierter – eben die KMT – massakrierte in Schanghai Tausende Mitglieder der KP.8 Es folgte ein unentschiedener Bürgerkrieg, der fortgeführt wurde bis die japanische Invasion eine Weiterführung unmöglich machte. Ungeachtet wechselseitigen Misstrauens formierten die beiden Parteien nun erneut eine Allianz gegen die Japaner. Es war diese zweite Einheitsfront, die ab 1943 zunehmend unter internen Druck geriet. Vor diesem historischen Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Kommunisten skeptisch, wenn nicht misstrauisch gegenüber der KMT waren. Vor allem wollten sie auf keinen Fall die Fehler wiederholen, die zum SchanghaiMassaker geführt hatten. Wenn Selbstschutz bedeutete, härtere und schärfere Maßnahmen zu treffen, um die „inneren Feinde“ auszuschalten, dann schienen sie unvermeidlich. Dies war die Ausgangsbedingung dafür, dass die „weiche“ Ausrichtung, für die das kommunistische Basislager in Yanán später berühmt wurde, nun „gehärtet“ wurde.9 „Ausrichten“ wurde umgesetzt als Prüfen der Kader. Bei denen, die man als feindliche Agenten erkannte oder zu erkennen meinte, wurde aus dem „Ausrichten“ Vernichten. Angesichts des Feindes an den Toren und vermeintlicher oder tatsächlicher versteckter Feinde in den eigenen Reihen entwickelte der Leiter der kommunistischen „Sicherheit“, Kang Sheng, die Verfahren, die den Übergang zurück zur Gewalt rechtfertigen sollten. „Ausrichten = Prüfen der Kader = die Vernichtung der Konterrevolutionäre“ – so pÀegte er den Prozess zusammenzufassen.10 Tao Jian und seine drei Genossen waren also nur Bauern in einem weit größeren Spiel. Die Säuberungen in Tao Jians Taihang-Bezirk wiederholten sich in allen Bezirken, die die Kommunisten zu der Zeit kontrollierten. Verdächtige wurden gefoltert und gequält, sie verhungerten oder wurden durch das Vortäuschen von Exekutionen psychisch gemartert. All das geschah im Rahmen der Revolution.11 Vom Standpunkt der Kader der „Sicherheit“ waren alle Aktionen gerechtfertigt, die die Partei schützten. Schließlich mochte ein einziges erzwungenes Geständ8 Das Massaker wird herkömmlich als Ende der kommunistischen Partei in den Städten gedeutet. Die Partei Àoh in abgelegene ländliche Regionen an den Grenzen der Jiang Xi-Provinz, wo sie kleine Basen organisierten, die als Sowjets bzw. Räte bekannt wurden. 9 In China, aber auch im Westen galt die „Ausrichtungs“-Kampagne von Yanán als leuchtendes Beispiel des Denkens von Mao Tsetung. Sie erschien also als Alternative zu den gewalttätigen Säuberungen Stalins; „Ausrichtung“ bekam eine Schlüsselrolle in den westlichen Deutungen, insbesondere nach der bedeutenden Studie von Selden 1971. 10 Lin Qingshan 1988, S. 103. 11 Gao Hua 2000, S. 504 f.
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nis den Unterschied zwischen Fortbestand und Untergang der Revolution bedeuten. Unter solchen Vorzeichen überrascht es nicht, dass die Weigerung, eine bi-bong-xin zu vollziehen, als Zeichen mangelnder politischer Ernsthaftigkeit und politischen Engagements gelten konnte. Denn wahres Engagement bedeutete, die Grenzen der Alltagsmoral zu überwinden. Wenn die Sicherheits-Kader Schlafentzug praktizierten, wenn sie Verdächtige rund um die Uhr verhörten und physische Gewalt anwandten, um Geständnisse zu erzwingen – dann gingen sie immer davon aus, dass sie sich moralisch absolut integer verhielten. Solange es „Ratten“ innerhalb der Reihen der Partei gab, hatten sie offenbar gar keine Alternative. Es war Kang Shang, der den Weg wies und den Sicherheitskräften klarmachte, was gute „Rattenfänger“ tun würden und tun mussten: Man solle die feindlichen Agenten als „Ungeziefer“ behandeln. „Das erste, was man tun muss, ist eine wirklich große männliche Ratte fangen. Und wenn Du sie gefangen hast, stecke ihr hinten eine Sojabohne rein und dann nähe es zu. Nach einigen Tagen wird sie gewaltig angeschwollen sein und das wird sie verrückt machen und sie wird von einem Rattenloch zum nächsten gehen und die Gesellen tot beißen. Und wenn sie alle anderen erledigt hat, wird sie selbst verenden. Und genauso sollten wir es machen beim Vernichten der Kampagnen der Verräter !“12
Kang Shangs „Rattenkampagne“ von 1943 dauerte nicht lange. Genauso wie das Shanghai-Massaker aus Sicht der kommunistischen Partei die Notwendigkeit revolutionärer Wachsamkeit unterstrichen hatte, so führten auch Gewaltexzesse, Gruppenbildungen und paranoide Säuberungskampagnen, wie sie auf dieses Massaker folgten, zu anderen Lehren. Welche aber waren das ? Als die kommunistische Partei nach 1927 gezwungen wurde, sich aus Shanghai zurückzuziehen, wandte sie sich wortwörtlich den Hügeln zu, den abgelegenen und gebirgigen ländlichen Grenzregionen von Jiang Xi. Hier errichtete die Partei kleine kommunistische Räte, die gerade überlebensfähig waren. Umgeben von KMT-Truppen, die sie ausradieren wollten, waren diese Gruppen nahezu bewegungsunfähig. Keine Furcht plagte die Kommunisten mehr als die Furcht vor Verrat. Die „Wachsamkeit“ der Sicherheitskräfte der Partei verstärkte aber nur noch die Wahrnehmung dieser Gefahr. Und die bi-gong-xin-Techniken der Sicherheitskräfte führten nicht allein zum Entdecken von Feinden; sie produzierten sie zugleich. Verschwörungen, die nur in der Vorstellung existierten, gab es in allen Lagern und bei allen örtlichen Räten; und stets vergrößerten oder überzeichneten sie die Gefahren, die den Kommunisten drohten.
12
Lin Quing Shan 1988, S. 115.
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Die Kommunisten begannen, ihre eigenen Leute zu „fressen“. Die – unvollständigen – Statistiken aus den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft in Jiang Xi zeigen das auf der Grundlage von taiwanesischen Schätzungen, die inzwischen durch Forschungen in der Volksrepublik weitgehend bestätigt sind.13 Aus diesen Arbeiten wissen wir, dass die Säuberungskampagnen, die die kommunistischen Sicherheitskräfte in den Jiang Xi-Räten durchführten, ebenso viele kommunistische „Verräter“ innerhalb der Partei vernichteten wie die KMTMilitäraktionen kommunistische Soldaten in den militärischen Kämpfen töteten. In einer Reihe anti-kommunistischer „Umzingelungs- und Vernichtungs“-Kampagnen, die die KMT-Armee zwischen 1931 und 1934 unternahm, wurden danach etwa 50.000 kommunistische Soldaten getötet. In derselben Zeit hatten die KP-Sicherheitskräfte eine gleiche Zahl von Personen getötet oder fälschlich eingesperrt.14 In den ländlichen Rätegebieten von Jiang Xi nahmen die Repressalien ein derartiges Ausmaß an, dass selbst Mao Tsetung, der zunächst als besonders eifriger Teilnehmer an solchen Maßnahmen in Erscheinung getreten war, sich schließlich gegen diese Aktionen wandte.15 Von Mao Tsetung wird berichtet, er habe einem der Kommandanten eines der Basislager erklärt: „Wenn dieses [Töten] weitergeht, sind Attacken des Feindes nicht mehr notwendig, denn wir werden uns selbst die Kehle durchgeschnitten haben“.16 Die Furcht vor dem inneren Feind, die alles überschattete, führte zu einer Situation, in der Verletzungs- und Vernichtungsgewalt entschuldbar – in denen sogar Exzesse als unvermeidlich erschienen. Es war diese Furcht, die schließlich zum erneuten Auftreten von Gewalt selbst im Rahmen der moderaten „Ausrichtungs“-Kampagne führte. In vieler Hinsicht war es sogar diese Furcht, die die Kommunistische Partei Mao Tsetungs de¿nierte – und die darüber hinaus das revolutionäre Unternehmen insgesamt in vielfacher Weise bestimmte, gerade auch für die Zeit nach dem Sieg der Partei 1949.
Huang Jingping 1988, 2, S. 77. Gao Hua 2000, S. 260. 15 Mao Tsetungs Teilnahme an diesen Säuberungskampagnen ist intensiv in den chinesischen wie den englischsprachigen Materialien und der entsprechenden Literatur diskutiert worden. Wichtige Arbeiten in Englisch sind Averill 1995, Seybolt 1986 und Suleski 1969. Sie konzentrieren sich vor allem auf Maos Partizipation an einem Vorfall, der als Fu-t’ien-Zwischenfall bekannt geworden ist. Schätzungen gehen davon aus, dass dabei mindestens 14.000 Menschen ihr Leben verloren (Sima Lu 1981, S. 55). Ein Problem dieser Arbeiten ist freilich, dass sie den Fu-t’ien-Zwischenfall isoliert von allen anderen Ausrichtungsaktionen und -Kampagnen behandeln, die parallel stattfanden. Damit wird die Rolle Mao Tsetungs herausgestellt – allerdings das generelle Thema und Problem revolutionärer Gewalt ausgeklammert oder nicht angemessen behandelt. Demgegenüber versuche ich, eine umfassende Kontextualisierung in meiner Studie, vgl. Dutton 2005. 16 PSHM 1990, Bd. 2, V 16, S. 109. 13 14
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Freund und Feind „Wer sind unsere Feinde ? Wer sind unsere Freunde ?“, so hatte Mao Tsetung 1926 gefragt.17 Es war diese spezi¿sche Frage, die die KP Chinas und ihre revolutionäre Zukunft bestimmen sollte. Und insofern war es unvermeidlich, dass das polizeiliche Umsetzen der Frage nach Freund und Feind die Aktionen und Verhaltensweisen der „Sicherheit“ der Partei fortan bestimmten. Mehr noch, diese Frage markiert die beiden Pole des radikalen politischen Experiments von Maos China. Denn die radikale „Viererbande“ hatte eben diese Worte auf den Lippen, als sie schließlich von der Bühne der Geschichte gestoßen wurde.18 Und eben deshalb war der Staat Maos in einem sehr grundsätzlichen Sinne prinzipiell „politisch“ – politisch zugleich im Sinne Carl Schmitts. Dass dieser Staat „politisch“ war, mag selbstverständlich scheinen. Aber weshalb ich diesen Zustand zugleich auf Carl Schmitt beziehe, erfordert weitere Erläuterungen. Beinahe zwei Jahre nachdem Mao Tsetung seine „revolutionäre Frage“ zuerst gestellt hatte, formulierte der deutsche Staatsrechtler und politische Theoretiker Carl Schmitt auf seine Weise die Frage nach Freund und Feind – in seiner seither vielfach zitierten, mitunter gefeierten und jedenfalls immer wieder diskutierten Studie „Der Begriff des Politischen“.19 In diesem Buch war die Frage nach Freund und Feind nicht von Belang für die Revolution – aber sie betraf das Zentrum alles dessen, was wir ‚politisch‘ nennen. Für Schmitt war das Politische in der Tat nichts anderes als die polare Unterscheidung von Freund und Feind. Und weil dieser zweipolige Rahmen „politische Intensitäten“ antrieb, überführte er alle Aspekte des Lebens in schlichte Entweder-oder-Entscheidungen. Für Schmitt war Politik deshalb in einer Weise bestimmend, die kein anderer Lebensbereich je erreichen konnte. Allein die polare Ausdrucksform des Politischen produzierte „Intensität“, und allein diese „Intensität“ vermochte in einem existentiellen Sinne ganze Gesellschaften in den Krieg zu treiben und jeden einzelnen zu motivieren, ohne persönlichen Hass zu töten. Kein anderer Bezugsrahmen hatte dieses lebensbedrohende Potential. Allein diese politische Unterscheidung, darauf beharrte Schmitt, entschied alles; sie war unverzichtbar und unaufhebbar. In dieser Sicht sind die Erinnerungen an Maos Revolution und die Sicherheitskräfte, die ihre Gewaltgrenzen regulierten, mehr als historische Erzählungen. Mao Tsetung 1975, Bd. 1, S. 13; hier wird dieser Text auf März 1926 datiert. Schram und Hodes haben ihn auf den 1. Dezember 1925 datiert (Schram/Hodes 1994, S. 249). Ich folge hier jedoch der of¿ziellen Datierung auf 1926. 18 Mehr zu den letzten Worten der Viererbande in meiner Studie: Dutton 2005. 19 Carl Schmitt war für kurze Zeit so etwas wie Hitlers „Kronjurist“. Seine konkreten Beziehungen zum Nationalsozialismus, aber auch seine konzeptuellen und ideologischen Nähen wie Distanzen sind ein eigenes Thema, vgl. Gottfried 1990, S. 57; Blasius 2001. 17
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Sie erweisen sich vielmehr als empirische und historische Rechenschaftsberichte über den Versuch eines Nationalstaates, als politischer Staat im Sinne Carl Schmitts zu existieren. Allein die Maoistische Revolution brachte Institutionen und Praktiken hervor, die darauf angelegt waren, die gewaltförmige „Intensität“ so zu regulieren und zu polizieren, dass sie nicht zu Exzessen führte. Insofern können die realen Erfahrungen der Mao-Zeit als eindringlicher Beitrag zur Theorie des Politischen betrachtet werden. Im Blick auf diese Zeit lässt sich der Grad der Veränderbarkeit des Politischen (im Sinne Carl Schmitts) erkunden. Im Lichte von Maos Revolution wird erkennbar, dass im Banne der politischen Zweipoligkeit alles Leben notwendig gewaltförmig wurde. Die Geschichte von Mao Tsetungs Revolution lässt sich somit als ein lang dauernder, fortwährender, schließlich aber gescheiterter Versuch verstehen, die politische Intensität der Freund-Feind-Unterscheidung zu stärken – sie aber zugleich so zu begrenzen, dass sie nicht unkontrollierbare und exzessive Formen annimmt und damit kontraproduktiv wird. Die chinesische Revolution erlaubt somit neue Einsichten in das, was sich als „das Schmittsche Dilemma“ bezeichnen lässt. Das Schmittsche Dilemma Was ist dieses Dilemma ? Im Kern handelt es sich um das Dilemma einer Politik des Engagiertseins. Wenn Politik uns dazu bringt, ohne Hass zu töten – wie lässt sie sich dann so „normalisieren“ oder disziplinieren, dass es möglich wird, nicht allein im Zustand von Ekstase oder VerzweiÀung zu leben ? Chantal Mouffe hat eine Antwort vorgeschlagen. Sie argumentiert, die „entscheidende Unzulänglichkeit der Freund-Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt ist, dass er zwar KonÀikte als Grundmuster des Politischen bestimmt, zugleich aber unterschiedliche Dimensionen dieser KonÀikthaftigkeit nicht zulässt“.20 Anders als Schmitt besteht Mouffe auf der Möglichkeit, Nichtübereinstimmung in anderen Formen zu zeigen als im Kampf gegen einen „Feind“, der zu vernichten sei. Schmitt vergesse die Rolle des „Gegners“; damit ignoriere er „Möglichkeit von KonÀikten, welche den Kampf zwischen Feinden (Antagonismus) vermeiden“.21 Diese dritte Position des „Gegners“ öffnet in dieser Sicht einen Ausweg aus der – extensiven – Gewaltsamkeit, die in der Polarität von Carl Schmitt angelegt ist. Wenn man dies auf die revolutionäre Vergangenheit Chinas bezieht, tritt zunächst die alles überragende Figur des Vorsitzenden Mao Tsetung hervor. Er operierte innerhalb der Logik der politischen (Freund-Feind-)Dyade; dennoch versuchte Mao, die Intensität der Gewaltsamkeit des Kampfes zwischen Freund 20 21
Mouffe 1999, S. 4 f. [Übersetzung AL]. Mouffe 1999, S. 4 [Übersetzung AL].
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und Feind zu vermindern – und zwar durch Einführung der Unterscheidung zwischen „Feinden“ und „Gegnern“. Zum ersten Mal wurde diese Differenz 1957 formuliert, unter der Überschrift der nicht-antagonistischen Widersprüche; aber schließlich erwies sich diese Überlegung als kontraproduktiv.22 Denn Maos Versuch, die enge Verknüpfung von Feind und Gegner dadurch zu lockern, dass er antagonistische und nicht-antagonistische Widersprüche unterschied, führte nicht zur Verminderung von Gewalt. Mao blieb bei einer Konzeption des Staates, die Schmitts Theorie des Politischen spiegelte. Gewaltförmige „Intensitäten“ prägten auch seine differenzierteren und liberaleren Ansätze. In einer Situation, in der die Schmittsche Bestimmung des Politischen faktisch weiterhin dominierte, beförderten Maos nicht-antagonistische Widersprüche keineswegs eine Verminderung von Klassenkampf und Gewalt. Sie ermunterten vielmehr ihre Ausbreitung, durchaus im Gleichklang mit Schmittschen Positionen.23 Deshalb kann es nicht überraschen, dass die Vorstellung von nicht-antagonistischen Widersprüchen im gesellschaftlich-politischen Alltag nur zu einer Erweiterung des Gefängnissyndroms (um mit Michel Foucault zu sprechen) führte. Während dieses, also das „Reform durch Arbeit“-Strafsystem der konkrete Ort war, Feinde zu inhaftieren, gaben die nicht-antagonistischen Widersprüche die theoretische Basis für eine auf „Verbesserung“ gerichtete Parallelinstitution. Im Jahr 1957 wurde das Strafsystem „Reform durch Arbeit“ um eine reformistische, nicht auf Strafen gerichtete Komponente erweitert; sie zielte auf das „Umerziehen“ von „Gegnern“. Diese (freilich auch zwanghafte) Umerziehung in und durch Arbeit hieß „Reform durch Erziehung“. Im Zuge der Intensivierung des Klassenkampfes (im Zusammenhang der Kampagne gegen „Rechte“) wurden beide allerdings rasch ununterscheidbar. Faktisch führte das „Reform durch Erziehung“-Programm also nur dazu, die Inhaftierung weiterer Hunderttausender „Gegner“ zu ermöglichen. Sie kamen nun zu den Millionen von „Feinden“ ebenfalls hinter Gitter: kein ermutigender Beginn für eine Alternative zur Schmittschen zweipoligen politischen Logik ! Alternativ hat der politische Philosoph Paul Hirst eine andere Lösung für die Zweipoligkeit zur Diskussion gestellt. Sein Vorschlag basiert auf einem Widerspruch, den er in Schmitts eigenem Argument sieht. Im Grunde, so Hirst, sei für Schmitt die Freund-Feind-Polarität nicht zu überwinden; sie könne nur kontrolliert und reguliert werden. Dies sei der Grund dafür, dass die Macht des Souveräns in Schmitts Weltsicht zu dominant sei. Für Hirst war Schmitt ein Autoritärer, der einen totalen Staat hochschätzte und glaubte, dass es die besondere PÀicht aller Bürger sei, zu gehorchen. Für Hirst aber ist ein solcher totaler Staat notwendig in KonÀikt mit dem Konzept 22 23
Mao Tsetung 1977, Bd. 5, S. 385. Schmitt 1996, S. 26–28, 45–54; vgl. Mehring 2003.
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einer zweipoligen Politik. Der totale Staat sei gerade dadurch bestimmt, dass alles „politisch“ werde – dies aber führe dazu, dass das Politische selbst gleichsam „in¿ziert“ werde von den Folgen eines „totalen“ (oder totalisierenden) Wirtschaftsmanagements sowie einer „totalen“ (oder totalisierenden) sozialen Organisation. In dem Maße, in dem Bürokratien anwachsen, um die vielfältigen Aufgaben von Verwaltung und Regierung zu meistern, reduziere „der Staat die Reichweite des Entweder-Oders von Entscheidungssituationen, und zwar gerade dadurch, dass die Agenda der öffentlichen Geschäfte enorm ausgeweitet wird. Der Staat ist nicht länger der ‚souveräne‘ Körper und Gestalter des politischen Kampfes, sondern vielmehr zunehmend ein riesiger Komplex schlecht koordinierter öffentlicher Dienstleistungsagenturen“.24 Seine These ist: Bürokratie unterbinde die Einzigartigkeit von – politischer – Intensität, und zwar dadurch, dass sie zahllose Rivalitäten zwischen Abteilungen des Staatsapparates, gesellschaftlichen Sektoren und verschiedenen Interessenten anrege oder befördere. Ein erneuter Blick auf den politisierten „totalen Staat“, wie er in China während der Schlussphase der Kulturrevolution existierte, zeigt, dass hier die Wirkungen von Bürokratie ihrerseits von den konkreten Politiken der Führung abhingen. Im Jahr 1975 dominierte in China ausschließlich die politische Dyade, „der Klassenkampf als Schlüssel“ ( jieji douzheng weizhu). Gleichzeitig sollten die „schlecht koordinierten öffentlichen Dienstleistungsagenturen“, aus denen nach Hirst die chinesische Staatsbürokratie bestand, als eine „umfassende Diktatur des Proletariats“ funktionieren (quanmian wuchanjieji zhuanzheng). Ausgehend von der Vorstellung, der Klassenkampf sei der Schlüssel, sahen die radikalen Theoretiker der Kulturrevolution alle Unterteilungen in der Bürokratie als ein Symptom des Klassenniedergangs. Mit anderen Worten: Die enge Verknüpfung von totalem Staat und Klassenkampf führte zu einer Intensivierung, nicht aber zu einer Verminderung der Freund-Feind-Dyade. In dieser Deutung des Politischen galt jede bürokratische Spezialisierung und Unterteilung als Niedergang – und Niedergang war in dieser Sicht nur eine andere Erscheinungsform des Revisionismus, also ein neuer Anlass, den Kampf zu intensivieren. Wenn die Zweipoligkeit von Politik alle Lebensaspekte dominiert, kommt es also nicht darauf an, ob Feinde als Gegner oder als Ergebnis schlecht koordinierten bürokratischen Handelns gelten. Keine der beiden Lesarten vermag die Begeisterung für exzessive politische Feindschaft zu dämpfen oder eine Rückkehr zu Gewalt und Exzess zu verhindern. Die Geschichte der chinesischen Revolution scheint zu zeigen, dass jeder Versuch, gewaltförmige exzessive Intensität des Politischen herunterzufahren, nur dazu führt, politisches Handeln erneut anzu-
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Hirst 1999, S. 14 [Übersetzung AL].
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stacheln und Gewalt und Exzesstaten zu ermuntern. Sobald sich die Logik des politischen Entweder-Oder durchsetzt, gibt es offenbar im Rahmen des Politischen keine Möglichkeit, Gewaltexzesse zu verhindern oder einzugrenzen. Zu erwarten, dass es möglich sei, das Politische von innen zu überlisten und politische Intensität einzugrenzen, um sie auf produktive Ziele zu lenken, heißt nur, den maoistischen Traum fortzuträumen. Es ist dieser Traum, der Mao über Schmitt hinaustrieb und zwar bis zu dem Punkt, an dem es unausweichlich schien, die Grenzen des politischen Engagements jedes Einzelnen zu testen. Für Schmitt war das Politische weitgehend das Resultat dessen, was Foucault die „souveräne Macht“ genannt hat – und diese Macht wurde aufgenommen oder aufgefangen im totalen Staat, dem die Bürger nunmehr zu gehorchen hatten. Aber Mao Tsetung wollte mehr als Gehorsam. Sein Staat forderte Engagement und Mitmachen. In Maos China führte dieses Ziel dazu, Technologien zu entwickeln oder zu nutzen, die Foucault fraglos „disziplinarisch“ genannt hätte. Dazu gehörte die Serie „disziplinierender“ politischer Kampagnen, die die MaoPeriode von 1949 bis 1976 durchzogen und mit denen Funktionäre, Arbeiter und Bauern in die Vorstellungswelt der revolutionären (Selbst-)VerpÀichtung unterwiesen und eingeführt wurden. Im Alltagsleben der chinesischen Arbeitskollektive wurde das politische Mitmachen und Sich-Engagieren zu einer Form von politischem Kapital, das die Kampagnen verstärken und wiederum die Massen vermehrt politisieren sollte. In dem Maße, in dem die Freund-Feind-Polarität immer wieder alle Grenzen durchbrach, erfanden die Vertreter des Maoismus immer neue Techniken, um die damit verbundenen Gewaltexzesse zu verhindern oder zu überwinden. Von hier aus kann die Geschichte der chinesischen Revolution als ein andauernder Kampf verstanden werden, Mittel und Formen zu ¿nden, das Politische einzuhegen. Klassenkampf und fortwährende Revolution (buduan geming) waren zwei zentrale maoistische Mechanismen, um die Revolution in Bewegung zu halten – durch fortwährendes Ermuntern und Vorantreiben von politischer Intensität. „Ausrichtung“, „nichtantagonistische Widersprüche“ und die Macht, die sowohl die Parteikomitees wie die Organe der „Massenlinie“ hatten, waren einige der Instrumente, die Mao verwandte, um politische Intensität für produktive Ziele anzuregen, zugleich aber auch einzuhegen. Die stete Spannung zwischen Ermuntern und Einhegen der Intensität des Politischen markiert das Zentrum des revolutionären Dilemmas von und für Mao; deshalb war dies für ihn stets eine zentrale Frage der Revolution. Die fehlgeschlagenen Disziplinierungen des maoistischen revolutionären Staates zeigen zentrale Probleme einer solchen „commitment politics“, der Politik des Engagements und Mitmachens – und diese heilsamen Warnungen waren erkennbar von Anfang an, das heißt seit der Begründung der Räte in Jiang Xi.
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„Wir fürchten nicht den Himmel, wir fürchten nicht die Hölle, wir fürchten nur, wenn wir zu einen Gespräch mit dem [Sicherheits-]Agenten gerufen werden“ (Tian bu pa, di bu pa jiu pa tepaiyuan zhao wo tan hua).25 Dies skandierten die Massen in der Zeit der Exzesse, während der Jiang Xi Räte. In den Jahren, die den Säuberungen in den Jiang Xi-Räten der frühen 1930er Jahre folgten, versuchte Mao diesen Rufen zu entsprechen und den Massen die Furcht vor den Sicherheitskräften zu nehmen. Beginnend mit der Zeit in Yan’an ab Mitte der 1930er Jahre bis zum Sieg 1949 war die Frage, wie Exzesse und Ausschreitungen zu kontrollieren seien, stets zentral für das Denken in der kommunistischen Partei. Nach 1949 sahen sich die Kommunisten jedoch mit einer anderen Frage konfrontiert. „Wir fürchten nicht den Himmel, wir fürchten nicht die Hölle, unsere einzige Furcht ist, wenn die kommunistische Partei Milde verkündet“ (Tian bu pa, jiu pa Gongchanang jiang kuanda)26 – das war in der ersten Hälfte des Jahres 1950 zu hören. Diejenigen, die jahrelang gekämpft hatten, um ihr Land von der KMT und den „Imperialisten“ zu befreien – diese Unterstützer der KP wollten nun Rache. In dieser Situation rief die Partei nicht mehr nach Milde. Im Oktober 1950 hatte die Partei bereits wieder eine neue Jagd nach „konterrevolutionären“ Feinden begonnen. In der Parteiführung war man (überwiegend fälschlich) überzeugt, dass in den Jahren in Yan’an das anscheinend moderate „Korrektur“-Programm Maos die Strukturen und Ansichten ausreichend verändert hatte, so dass Exzesse begrenzt würden, wenn gleichzeitig „revolutionärer Nachdruck“ im Kampf gefordert wurde.27 Sie waren zugleich davon überzeugt, dass die Reformen Maos in den Yan’an-Jahren taugliche Institutionen geschaffen hatten, um die Dynamik der politischen Polarität zu kontrollieren. Maos Vorstellung der „Massenlinie“ zusammen mit seiner Forderung, die weithin gefürchteten Sicherheitsagenturen unter die Kontrolle der lokalen Parteikomitees zu stellen (also nicht allein unter die Leitung durch das Zentralkomitee), galten als zwei gängige Methoden, um rechtzeitig vor Exzessen zu warnen und sie dann unterbinden zu können. Das Vertrauen in diese institutionellen Regelungen erwies sich jedoch als ungerechtfertigt. Gleichwohl waren diese Vorkehrungen rasch zu Ecksteinen der Parteiorthodoxie und des Staatsbildungsprozesses geworden. Die revolutionäre Volksrepublik von 1949 gründete sogar fast ausschließlich auf maoistischen Disziplinierungstechniken – die die gewaltsame Freund-Feind-Unterscheidung Huang Jingping 1988, Bd. 2, S. 77. Masses Press 1992, The Campaign, S. 20. 27 In Yan’an führte Mao Tsetung entscheidende Reformen ein, mit denen er hoffte, die Wahrscheinlichkeit von Gewaltexzessen, wie sie in der Partei durch die Besuche von Sicherheitsagenten in der Zeit in Jiang Xi ausgelöst worden waren, verhindert oder begrenzt würden; vgl. Dutton 2005. 25
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regulieren, aber auch anfeuern und dann erneut begrenzen sollten. Im Zusammenhang der Kampagne von 1950, „Konterrevolutionäre“ (zhenfan) auszuschalten, verknüpften sich diese Techniken mit den ad hoc-Strukturen der Massenlinie und verfestigten sich zu einer einzigartigen Form von „Gouvernementalité“. Wenn man sich auf die 1950er Jahre konzentriert und insbesondere auf die Formierung des revolutionären Staates, dann wird klar, dass die verbreiteten Strukturen der „Massenlinie“ kaum mehr waren als ein Kondensat der FreundFeind-Dichotomie. Die Sicherheitskräfte waren entscheidend für die Umsetzung der jeweiligen Herrschaftstechniken, denn sie kontrollierten und organisierten die politischen Kampagnen, richteten die Organe der „Massenlinie“ ein, sorgten aber auch für die Begrenzung von Kampagnen oder Auseinandersetzungen, die aus dem Ärger oder der Enttäuschung der „Massen“ entstanden waren. Die Sicherheitsorgane waren damit beauftragt, intensivierte politische Gefühle in die Institutionen der „Massenlinie“ zurückzulenken; sie hatten dafür zu sorgen, dass sie hier produktiv wurden. Damit wurde die Dichotomie, die das Politische bestimmte, zugleich eine Dichotomie der Lebensweise insgesamt. Die Organe der „Massenlinie“ waren die Grundorgane des Kontrollsystems des Staates für die Gesellschaft. Zugleich waren diese Institutionen in das GeÀecht von Herrschaft und Regierung unmittelbar einbezogen. Sie sorgten dafür, dass die absolute Notwendigkeit einer Politik der Unterscheidung – zwischen Freund und Feind – Teil der konkreten und alltäglichen Zusammenhänge an den Arbeitsplätzen und in den sozialen Gemeinschaften Chinas wurde. Politik wurde mehr als alles andere die entscheidende Form „symbolischen Kapitals“ nach der Revolution: Die politische Haltung jedes einzelnen wurde zentral, sie war überall greifbar, nicht zuletzt in den alltäglichen Verhaltens-, Ausdrucks- und Kommunikationsformen. Das „Politische“ wurde nicht allein in Äußerungen der Führung formuliert – wobei diese die Notwendigkeit des Klassenkampfes unterstrichen. Es zeigte sich vielmehr in alltäglicheren und wesentlich unspektakuläreren Formen. Die Menschen nannten sich vielfach nicht mehr „Herr“, „Frau“ oder „Fräulein“, sondern „Genossen“. Sie blickten nicht mehr herab auf die armen, ungelernten Arbeiter, sondern nannten sie „shifu“ oder „Alter Meister“. Schließlich wählten viele bei der Namensgebung der Kinder politische Namen wie Neues China Wang (Wang Xinhua), Errichte die Nation Gao (Gao Jianguo) , Sieg Chang (Chang Shengli): Sie alle wurden überaus populär in dieser Zeit. Abkürzungen für Begriffe wie „Dem Imperialismus entgegen treten“ ( fandi) oder „Amerika widerstehen“ (kangmei) wurden ebenfalls weit verbreitete Vornamen. Sogar die Bezeichnungen politischer Kampagnen wurden Kindern als Namen gegeben.28
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Dutton 1998, S. 169; Yan Dongping 1994, S. 267 f.
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Es war die Freund-Feind-Unterscheidung, die fortwährend jene Spannungen und „Intensitäten“ reproduzierte, welche die politischen Kampagnen in China antrieb: Die „Erziehung der Massen“ ebenso wie die politischen Handlungen der Einzelnen wurden nach diesem Maßstab bewertet, diszipliniert und gegebenenfalls verändert. Zugleich war das aber ein Leben, das ausdrücklich auf einer unsicheren Unterscheidung gegründet war, einer Unterscheidung, die niemals endgültig ¿xiert werden konnte. Allein im Kennenlernen des Feindes und im Kampf gegen den Feind lernte man sich selbst kennen – oder in weniger maoistischen Begriffen, die hingegen an Carl Schmitt orientiert sind: „Der Feind ist die Frage an uns selbst als eine Figur“.29 Was freilich nach Mao geschah – das ist jedoch, wie man sagt, eine andere Geschichte. Wirksame Grenzen für politische Exzesse entwickelten sich erst, als das Politikmonopol gebrochen war. Und es war die Periode der „ökonomischen Reform“ nach 1978, die dieses Monopol überwand. Erst in dieser Nach-Mao-Ära entfaltete sich eine Form von Staatlichkeit, in der nicht alles nur politisch bewertet wurde. Dennoch war die Verminderung der politischen Intensität und das AuÀösen der politischen Unterscheidung von Freund und Feind nicht möglich ohne die vermittelnden Denk-Figuren und rhetorischen Tropen des Marxismus. Ironischerweise zeigte sich hier die Stärke des marxistischen Diskurses, die Rhetorik des Klassenkampfes mit der Notwendigkeit zu verbinden, die wirtschaftlichen Kräfte zu entwickeln. Dies war auch die Voraussetzung dafür, dass sich die politische Zuspitzung, wie sie Resultat des Klassenkampfes und seiner bipolaren Logik gewesen war, allmählich auÀöste. Das Ergebnis war schließlich eine Zeit, die sich als „unpolitisch“ beschreiben lässt. Die Ära des „Unpolitischen“ Mao starb 1976 und das Zeitalter politischer Intensität starb mit ihm. Seit Dezember 1978 entfaltete sich eine sehr andere Form von Politik. Und wenn auch der Nachfolger Maos als Vorsitzender, Hua Guofeng, alle neuen Dinge in die Sprache des früheren Vorsitzenden kleidete, so war dennoch der Umbruch offenkundig. Maos Worte wurden benutzt, um das Ende seiner Politik zu bemänteln. „Umfassende und sehr turbulente Klassenkämpfe, welche die breiten Massen einbezogen, sind im wesentlichen beendet worden“,30 so Hua Guofeng 1978. Zwar gebrauchte er die Worte, die Mao in seiner berühmten Rede von 1957 geprägt hatte;31 die Bedeutung unterschied sich freilich wesentlich. Das China Huas und später Teng Xiaopings war nicht länger dasselbe China wie das des „großen Meier 1998, S. 44. Peking Review 21, H. 52 vom 29.12.1978, S. 11. 31 Mao Tsetung 1977, Bd. 5, S. 395. 29
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Steuermanns“ Mao Tsetung;32 China wurde nicht länger beherrscht von der Rhetorik einer „Politik auf Befehl“ (zhengzhi wei zhu). Vielmehr verwandte man die Aufmachung „der 1950er Jahre“ und die Worte von Mao Tsetung, um eine neue Zeit einzuläuten, in der die Ökonomie, nicht aber die Politik das Sagen haben würde.33 Hua selbst zögerte nicht, sein eigenes ökonomisches Modernisierungsprogramm, das einen entschiedenen Bruch bedeutete, den „Auslandssprung“ zu nennen. Damit erwies er bei aller Wendung nach ‚außen‘ zugleich Mao und seinem „großen Sprung“ die Referenz. Hier ist nicht der Ort, um die Ereignisse zu rekapitulieren oder von den Versuchen des Vorsitzenden Hua zu berichten, auszusehen wie der Vorsitzende Mao und sich so anzuhören, sich so zu verhalten wie dieser, und zwar mehr als Mao selbst. Wichtiger ist, in welcher Weise diese nachahmende Umformung Maos eingesetzt wurde, um das China der ökonomischen Reform auf den Weg zu bringen. Dieser Prozess der nachahmenden Umformung verhüllte die allerersten Versuche, die zweipolige Politik von Mao Tsetung und den Klassenkampf durch ökonomische Reform zu ersetzen. Auf längere Sicht waren solche „Wiederholungen, aber mit einem Unterschied“ nicht notwendig, denn die politischen Strategien, mit denen die Wirtschaft vorangebracht werden sollte, entfalteten eine eigene Logik und Dynamik. Und dabei lösten sie die enge Verknüpfung, die Politik in der Ära Maos an das Alltagsleben gebunden – und den Alltag mit Leidenschaft und Intensität aufgeladen hatte. Das Wiederbeleben eines alten marxistischen Arguments über die Zentralität der Produktivkräfte war der erste Ansatz, den die Parteiführung verwandte, um die Aufmerksamkeit von der Politik auf die Ökonomie zu lenken. Damit war es möglich, sowohl eine Kontinuität mit der marxistischen Lehre zu behaupten, zugleich aber darauf hinzuweisen, wie notwendig es sei, den „objektiven Gesetzen der Ökonomie“ zu folgen.34 Diese Bewegung schränkte den Raum für politische Aktionen ein. Denn es war das Gesetz von Gewinn und Verlust und nicht das politische „Gesetz“ von Freund und Feind, das nun die wirtschaftliche Strategie bestimmte. Die Wirtschaft aber war nicht das einzige Handlungsfeld, das seine spezi¿sche Zweipoligkeit umformte, um eine Verminderung der Politik zu erreichen. So wurde zum Beispiel im Bereich der Kunst die offenkundige politische Dringlichkeit im selben Maße zurückgenommen, in dem Raum für Dieser Ausdruck vom „großen Steuermann“ war einer der Termini, mit denen Mao Tsetung während der Kulturrevolution benannt wurde. 33 Ich habe von einer Form der „Wiederholung mit einem Unterschied“ bereits geschrieben, vgl. Dutton 1995. In dieser Arbeit habe ich mich am Beispiel der Polizei damit beschäftigt, wie die Umwandlung der politischen Vergangenheit aus Maos Zeiten dadurch erleichtert wurde, dass Wörter und Formen der Vergangenheit verwendet wurden, um die radikalen Veränderungen, die es nun gab, zu bemänteln. 34 Regler 1985, S. 190. 32
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andere, stärker ästhetisch gegründete Urteile und Bewertungen (nach Schönheit oder Hässlichkeit) Resonanz fanden. Zugleich wurden Moralität und Ethik zunehmend von Maos zweipoligem Politikkonzept abgekoppelt. Und das war nirgends deutlicher erkennbar als in der Kampagne gegen „die Verunreinigung durch böse Gedanken“ von 1983. Innerhalb weniger Monate nach Beginn dieser Kampagne – die der Frage der „geistigseelischen Verunreinigung“ galt – war eine vorsichtige Veränderung der Debatte erkennbar: Vom Kampf gegen seelische Verunreinigung veränderte sich die Kampagne rasch zu einer, in der es um die Kultivierung des Selbst ging – um sicherzustellen, dass alle Bürger eine „geistig-seelische Zivilisation“ erreichen könnten.35 Wenn es möglich war, Kunst und Moral so radikal von der Politik zu entfernen, dann kann nicht überraschen, dass im Bereich des Rechts und der Polizei dasselbe möglich war. Die Wirtschaftsreformen erforderten ausländische Investitionen; zur Absicherung waren entsprechende Gesetze erforderlich. Als es in der chinesischen Industrie üblich wurde, Wirtschaftsverträge abzuschließen, war es unabdingbar, formale Gesetzmäßigkeiten sicherzustellen, um das Einhalten der Verträge zu garantieren. Und wie der chinesische Rechtsgelehrte Zhang Shuyi argumentiert hat, war der entscheidende Grund für die Entwicklung des chinesischen Rechtssystems seit 1979 die Unterstützung und Entwicklung der sozialistischen Warenwirtschaft. Zhang Shuyi führte aus: „Das Rechtssystem wurde in enger Übereinstimmung mit der Warenwirtschaft errichtet, und es wurde weiterentwickelt in engster Übereinstimmung mit der Entwicklung der sozialistischen Warenwirtschaft“.36 Für die wirtschaftliche Entwicklung war verlässliche Rechtsförmigkeit nicht nur notwendig, um ausländische Investitionen zu sichern; sie hatte darüber hinaus ein Klima der Stabilität zu signalisieren wie zu garantieren. Soziale Stabilität erforderte ihrerseits ein stabiles Rechtssystem und gerade nicht jene rechtliche Elastizität, welche die maoistische Vergangenheit charakterisiert hatte. In den frühen 1980er Jahren erhielt China nicht nur sein erstes Strafgesetzbuch. Die Verfassung von 1982 verdeutlichte vielmehr: Der Bezugspunkt war nicht länger die Polarität zwischen dem „Volk“ und seinen „Feinden“.37 In dieser Phase war Chinas grundlegende juristische Zeitschrift „Rechtsforschung“ (Faxue Yanjiu) gefüllt mit Kritiken der „rechtlichen Elastizität“38 und deren
35 Weil die erste rhetorische Figur dieser Kampagne der Kampf gegen seelische Verunreinigung war, verschob sie sich rasch in eine neue diskursive Form, bei der sie sich nicht mehr auf die Entwicklung eines Feindes richtete; im einzelnen dazu Perraca/Mong 1990; Dutton 1992 und Jing Wang 1996. 36 Nach He Qinghua 1991, S. 51. 37 Peng Zhen 1991, S. 311. 38 Das läuft in China unter der Rubrik der „Herrschaft des Menschen“ (renzh) bzw. „Gesetzesherrschaft“ ( fazhi).
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Darstellung als Instrument der Klassendiktatur.39 Anstelle des „proletarischen Gesetzes“, das jedes erdenkliche Mittel vorsah, um jeden Feind auszulöschen, beschäftigten sich reformorientierte Juristen nun mit dem sozialistischen Gesetz als Verkörperung aller sozialen Bedürfnisse und der umfassenden Repräsentation des Gemeinwohls.40 Solche Veränderungen im Denken waren nicht auf das Reich der Begriffe begrenzt. Es veränderte sich auch die Praxis des Polizierens. Im starken Gegensatz zur Mao-Ära sank in den Reformjahren die Zahl der Personen dramatisch, die mit dem Vorwurf konterrevolutionärer Verbrechen überzogen wurden. In der ersten Phase der Reformzeit betrafen nicht mehr als 0,1 % aller Anklagen das, was als „konterrevolutionäre Verbrechen“ galt. Und selbst diese vergleichsweise kleine Zahl verminderte sich: 1979 ging es bei etwa 1000 Strafverfahren ganz oder zum Teil um „konterrevolutionäre Verbrechen“, wohingegen in den Gefängnissen über 7 % aller Häftlinge als politische Gefangene galten. 1990, das heißt selbst nach den Verhaftungen im Anschluss an die Proteste auf dem Tian’anmenPlatz (vor und) am 4. Juni 1989 wurden nur etwa 400 Anklagen konterrevolutionären Verhaltens erhoben, nur 4 % der Gefängnisinsassen insgesamt waren wegen konterrevolutionärer Taten angeklagt bzw. verurteilt worden. Überhaupt ist besonders bemerkenswert bei den Ereignissen des 4. Juni 1989, wie sehr die chinesische Regierung nun bereit war, jedes WiederauÀeben der politischen Zweipoligkeit der Vergangenheit zu unterbinden. Protestierende, die während der Aktionen von 1989 verhaftet worden waren, wurden kriminalisiert – das war aber weit entfernt von einem Wiedererwachen „des Politischen“. Ungefähr 30 % aller bei den Protesten Verhafteten waren nach Polizeianalysen „nicht gebesserte“ Wiederholungstäter; weitere 50 % wurden klassi¿ziert als „sozialer Abschaum“, während weitere 3 % als Pro¿teure und korrupte Beamte galten. Nur eine „kleine aber aktive Zahl“, so die Polizei, waren Spione und Geheimagenten ausländischer Mächte.41 Der Begriff des „konterrevolutionären Verbrechens“ verschwand fast vollständig aus dem Gebrauch. Folgerichtig wurde er in den Ergänzungen des Strafgesetzbuches von 1997 fallengelassen.
Zhou Fengju 1980, S. 39; Wu Buyun 1980, S. 11. He Qinghua 1991, S. 17, 36. 41 Yang Zhaoming/Wang Gongfan 1990, Bd. 1, S. 10. So sehr Zweipoligkeit auf der Regierungsseite fehlte, so mangelte es auch an konkreten Reibungspunkten auf der anderen Seite, die ‚Intensität‘ hätten anregen können. Giorgio Agamben hat notiert: „Was besonders bemerkenswert bei den Demonstrationen im chinesischen Mai [1989] war, war die weitgehende Abwesenheit eines bestimmten Inhalts ihrer Forderungen (Demokratie und Freiheit sind Begriffe, die zu allgemein und zu breit gefasst sind, als dass sie den konkreten Gegenstand eines KonÀiktes begründeten, und der einzigen konkreten Forderung – die Rehabilitation von Hu Yao-bang [sic] – wurde unverzüglich entsprochen).“ Vgl. Agamben 1993, S. 85 [Übersetzung AL]. 39
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Politische Bewertungen, die auf der Freund-Feind-Unterscheidung basierten, waren in dieser Phase überwiegend eine Sache der Vergangenheit. Das soll nicht heißen, dass Gewalt und Exzess in China nicht mehr anzutreffen gewesen wären. Aber revolutionärer Überschwang und revolutionäre Intensität, die lange die Revolution, aber auch Exzesse angetrieben hatten – ihr Monopol war aufgehoben. Schlussbemerkungen: Neue Formen von Gewalt Mit dem Aufbrechen der politischen Landschaft in China zeigen sich neue Formen von Gewalt. Mit Foucault lassen sie sich wohl am besten beschreiben als Gewalt der „Bio-Macht“. Biopolitische Gewalt ist nicht die Gewalt jener, die auch ihr Leben geben würden für die große Sache oder die töten ohne Hass. Biopolitisch ist vielmehr eine Gewalt des Alltags, eine Gewalt, die sich im Verhalten einer unkalkulierbaren Polizei oder in Regierungskampagnen zeigt, die von populistischen Vorstellungen und den Massenmedien angeregt sind. Gewalt ist nicht länger Instrument im Interesse der Revolution. Vielmehr gehört sie zur alltäglichen Agenda von „law and order“. Diese Form der Gewalt unterscheidet sich grundlegend von der der Vergangenheit. Diese Gewalt „wirft uns nicht nach vorne“ oder dient der Selbstvergewisserung, es ist keine Gewalt des Hier und Jetzt, in der (in Anlehnung an Martin Heidegger) das In-der-WeltSein greifbar wird. Die Gewalt heute ist die Gewalt derer, die keine VerpÀichtung sehen oder haben. Da, wo es keine Feinde gibt, die geopfert werden können, gibt es nicht mehr die Gewalt, die sich um gefürchtete und gefährliche Feinde dreht. Vielmehr ist es eine Gewalt, die sich etwa mit denen beschäftigt, die von der Polizei sozialer Abschaum genannt werden (shehui zhapi). Mit einer Formulierung von Giorgio Agamben ließe sich auch von einer Gewalt des „nackten Lebens“ sprechen. Damit bezieht Agamben sich auf eine Welt, in der die Individuen „getötet, aber nicht geopfert werden“.42 In dieser Welt ist Gewalt nicht mehr im Gewand des Heroischen zu ¿nden, sie ist nicht mehr verstrickt in irgendeine VerpÀichtung. Gewiss mag Gewalt zum Tode führen, aber dieser gilt nicht (oder nicht mehr) als Opfer. Mit anderen Worten: In der Weise, in der die revolutionären Formen der Vergangenheit dahinschwinden, zeigt sich das Ende jener Ära, in der sich „göttliche Gewalt“ durchsetzte.43 Diese Wendung von „göttlicher Gewalt“ zur Profanität alltäglicher Polizeigewalt in den Straßen Chinas ist gewiss nicht „heroisch“; es ist aber auch kein Agamben 1993, S. 8. Benjamin 1977, S. 249 f. „Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos.“
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Grund, darüber zu klagen. Es ist vielmehr ein Zeichen, dass jene Gewalt, die einst das Polizieren der Gesellschaft unter Mao kennzeichnete – die zugleich einen an Carl Schmitt angelehnten Politikbegriff entsprach – keine Gundlage mehr hat. Gewiss weckt diese Geschichte des Wandels von einer „göttlichen“ in eine alltägliche Gewalt Zweifel über die theologische Antwort, die Martin Buber in seiner Überlegung anbot, „besser noch Gewalt am real erleben Wesen, als die gespenstische Fürsorge an antlitzlosen Nummern !“44 Kritik der entfremdeten und entwurzelten Gegenwart muss nicht gänzlich aufgegeben werden, aber die Geschichte Chinas in der Zeit, in der exzessive „göttliche Gewalt“ dominierte, weckt Zweifel an Bubers Urteil. Vielleicht erforderte die politische Erschöpfung, die dem Maoismus nach seinem ausgiebigen Flirt mit „göttlicher Gewalt“ folgte, doch ein wenig „gespenstische Einsamkeit“ ? Vielleicht ist es auch produktiver, sich genauer mit den Vorstellungen wie Erfahrungen politischer Erschöpfung zu befassen, als das Schmittsche Dilemma durch erneute große politische Statements lösen zu wollen ? Die Wahl zwischen diesen – jeweils unbefriedigenden – Alternativen bringt uns zurück an den Ausgangspunkt. Damit sind wir jedoch nicht nur in ein verändertes China zurückgekehrt. Es öffnet sich zugleich der Blick auf unsere Welt insgesamt, geprägt von den Intensitäten und zumal dem Terror gewalthafter VerpÀichtungen wie Antworten (oder „Gegenschläge“). Übersetzung aus dem Englischen: Alf Lüdtke Literatur Agamben, Giorgio 1993: The Coming Community, Minneapolis Averill, Stephen C. 1995: The Origin of the Futian Incident, in: Saich T./van de Ven, H. (Hg.): New Perspectives on the Chinese Communist Revolution, New York, S. 79–115 Benjamin, Walter 1977: Zur Kritik der Gewalt (1921), in: Ders., Gesammelte Schriften Vol. II, 1, Frankfurt am Main, S. 179–203 Blasius, Dirk 2001: Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen Buber, Martin 1954: Ich und Du, Heidelberg CCA, Central Committee Archives (Hg.) 1992: Doc. 14, Selection of Documents from the Central Committee of the Chinese Communist Party (zhonggong zhongyang wenjian xuan di 14 ji), Beijing Chesneaux, Jean 1979: China. The People’s Republic, 1949–1976, Sussex Dai Wendian (Hg.) 1991: Basic Theoretical Research on the Chinese Public Security (gong’an jichu lilun yanjiu), Beijing Dutton, Michael 1992: Policing and Punishment in China. From Patriarchy to ‚the People‘, Melbourne 44
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III Die Polizei als Akteur – und als Opfer von Gewalt: Männer und Frauen in Uniform
„Besondere Gefährdung der Polizeibeamten“ – Alltägliche Gewalt gegen Polizisten im frühen Nachkriegsdeutschland Gerhard Fürmetz
Gewalt gegen Polizeibeamte – ein heikles Thema Ist von „Polizei“ und „Gewalt“ die Rede, so geht es meist um spezi¿sche Formen der Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols bzw. um die Anwendung von legitimer oder exzessiver Gewalt durch Organe der Polizei. Körperliche „Gegengewalt“, bei der Polizisten selbst zum Opfer werden – sei es in Form von aktivem Widerstand gegen polizeiliche Handlungen oder von mehr oder weniger spontanen Aggressionsakten – wird dagegen nur selektiv wahrgenommen.1 In der Regel ¿ndet sie nur dann das Interesse der Forschung, wenn es sich um kollektive Gewaltaktionen gegen Polizisten im Rahmen von Massenereignissen wie zum Beispiel Demonstrationen handelt. Gewalt gegen Polizeibeamte kann sich aber auch in alltäglichen Situationen ereignen: etwa beim Ertapptwerden bei kriminellen Handlungen, anlässlich von polizeilichen Kontrollen auf der Straße, bei der Begegnung in Gaststätten oder gar in Form eines mutwilligen Angriffs oder Überfalls. Wie aus den Ergebnissen einer bundesweiten Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen Juli Mai 2002 hervorgeht, ist das Risiko eines Polizeibeamten, mit Tötungsabsicht angegriffen zu werden, erheblich höher als das eines Normalbürgers – bei allerdings geringerem Risiko, infolge des Angriffs tatsächlich ums Leben zu kommen. Attacken auf Polizisten ¿nden laut dieser Studie mehrheitlich bei Dunkelheit, im öffentlichen Raum und in eher bürgerlichen Vierteln statt, und sie passieren fast immer überraschend. Als Täter ließen sich ganz überwiegend allein aktive, alkoholisierte deutsche Männer feststellen, die den betroffenen Beamten zuvor meist unbekannt waren.2 Vgl. aber Jäger 1988; Sherman 1980. Zur Kultur der Erinnerung an im Dienst getötete Polizeibeamte vgl. Weinhauer 2003, S. 85–97. 2 Für die von der Innenministerkonferenz und der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Auftrag gegebene Studie „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte“ wurden über 4.000 Angriffe gegen Polizisten in den Jahren 1985 bis 2000 ausgewertet und 2.300 Beamte befragt (vgl. URL: http://
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A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_6, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Freilich ist in vielen solcher Fälle auch auf Seiten der beteiligten Polizisten körperliche Gewalt im Spiel. Eine strikte Trennung nach Akteuren bei der Annäherung an die Frage, welche Rolle individuelle Gewalt in der Beziehung zwischen Polizei und Publikum spielt, wäre nicht nur schwierig, sondern geradezu widersinnig. Die folgenden Beobachtungen, die einem größeren Forschungszusammenhang entstammen,3 beziehen sich allerdings nicht auf die Gegenwart, sondern auf die frühe Nachkriegszeit von 1945 bis in die 1950er Jahre, eine Phase, in der das Gefährdungspotential für Polizisten besonders hoch war.4 Herangezogen werden zwar ausschließlich Beispiele aus Bayern, gleichwohl scheint eine generelle Aussagekraft gegeben, die über den regionalen Kontext hinausweist. Konkret soll es um drei Fragenkomplexe gehen: ƒ ƒ ƒ
die Bandbreite tätlicher Angriffe gegen Polizeibeamte und die daraus ablesbaren Ursachen, Täterpro¿le und Tatformen; die quantitative Entwicklung der Gewaltausübung gegen und durch Polizisten, und zwar – quellenbedingt – im Hinblick auf Gewaltakte mit Todesfolge; charakteristische Merkmale von Gewalteskalationen zwischen Polizisten und ihren individuellen Kontrahenten, hier dargestellt an zwei Beispielfällen.
Hinzuzufügen ist, dass das verwendete Material wie so häu¿g bei polizeigeschichtlichen Untersuchungen in erster Linie aus der Überlieferung der zuständigen Polizei- und Verwaltungsbehörden stammt, freilich punktuell ergänzt durch die Berichterstattung in der Presse. Systematisch registriert wurden Übergriffe auf Polizeibeamte eben lediglich durch die Polizei selbst. Zeitungen berichteten in der Regel nur über das jeweilige Einzelereignis.
www.kfn.de/versions/kfn/assets/gewaltgegenpolizei2a.pdf, zuletzt aufgerufen am 21.12.2010; vgl. auch Ohlemacher u. a. 2003). 3 Vgl. mein Dissertationsprojekt „Ordnungsmacht und Unsicherheitsfaktor: Bayerns Polizei im städtischen und ländlichen Nachkriegsalltag 1945–1955“. 4 Allein in den Besatzungsjahren 1945 bis 1949 verloren 28 bayerische Polizeibeamte durch Rechtsbrecher ihr Leben, während in der langen Folgezeit bis 1995 „nur“ 25 Todesopfer im Dienst gezählt wurden (vgl. Bayerisches Staatsministerium des Innern 1996, S. 37). Ähnliche Relationen gelten z. B. für Hamburg (vgl. Lütcke 1989).
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Tätliche Angriffe auf Polizisten und die Folgen Im Zuge der Vorarbeiten für ein grundlegend neues Polizeiaufgabengesetz, das auch die „Anwendung unmittelbaren Zwanges“ durch die bayerische Polizei regeln sollte,5 verlangte das bayerische Innenministerium Ende Februar 1953 von allen Dienststellen der für Gemeinden unter 5.000 Einwohner zuständigen Landpolizei (LP) detaillierte Übersichten über „besondere Gefährdungen der Polizeibeamten“ seit 1946. Daraufhin erstellte jede Landpolizeiinspektion für ihren Landkreis eine vorstrukturierte Liste, in die alle noch erinnerbaren tätlichen Angriffe auf Polizeibeamte in ihrem Dienstsprengel eingetragen wurden.6 Im Landkreis München-Land, der die bayerische Hauptstadt umschließt, wurden beispielsweise 31 Fälle registriert. Anlass war in etwas mehr als der Hälfte (16) eine geplante polizeiliche Maßnahme (Festnahme, Durchsuchung, Personenkontrolle, Ermittlung, Razzia). In den übrigen Fällen wurde die Polizei durch akute Sicherheits- und Ordnungsstörungen auf den Plan gerufen, unter anderem bei Raufereien, Einbrüchen, Ruhestörungen, Trunkenheit und Hausfriedensbruch. In 13 von 31 Fällen erfolgte der Angriff unbewaffnet, in acht Fällen wurden Schusswaffen gegen die Polizisten gerichtet, in neun Fällen verwendeten die Angreifer Hieb- und Stichwaffen oder Wurfgeschosse – meist Alltagsgegenstände –, und in einem Fall wurde ein Hund auf die Beamten gehetzt. Mehr als zwei Drittel der registrierten Täter waren Deutsche (21), der Rest ausländische Displaced Persons (DPs) (6) und US-Soldaten (2). Nur ein einziges Mal taucht eine Frau als Angreiferin auf: Sie trotzte mit einem gefüllten Kaffeetopf einer Hausdurchsuchung. In den meisten Fällen gingen die Attacken für die betroffenen Beamten glimpÀich aus: 38 Polizisten blieben unverletzt, acht wurden leicht, einer schwer verletzt, aber auch zwei Beamte starben (bei einem KonÀikt mit einer Gruppe bewaffneter DPs im Februar 1947). Im stärker ländlich geprägten Gebiet um Ingolstadt ging es in neun der registrierten 15 Fälle um KonÀikte mit Betrunkenen und Einsätze bei Schlägereien, bei vier weiteren Gelegenheiten um die Überwachung von Sperrstunden und Tanzveranstaltungen. Mit zwei Ausnahmen wurden die Polizisten stets von einheimischen Männern angegriffen, und zwar meistens mit Fäusten – nur in vier Fällen wurden Prügel, Schlagringe, Steine oder BierÀaschen verwendet. Während zehn der beteiligten Beamten unversehrt blieben, zogen sich neun Kollegen
5 Das Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei in Bayern (PAG) wurde schließlich am 16.10.1954 erlassen (zur Anwendung unmittelbaren Zwanges vgl. Art. 38–44); Bayerisches Gesetzund Verordnungsblatt (BayGVBl) 1954, S. 237–245, hier v. a. S. 240 f. 6 Vgl. die Berichte der Landpolizeiinspektionen des Regierungsbezirks Oberbayern vom März 1953, in: Staatsarchiv München, Polizeipräsidium Oberbayern 1107.
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zum Teil schwere Verletzungen zu, vor allem beim Versuch, in Gaststätten Sperrstunden durchzusetzen oder Raufereien zu stoppen. Im oberbayerischen Landkreis Mühldorf wiederum resultierten neun von 21 tätlichen Angriffen aus polizeilichen Routinehandlungen, drei aus der Konfrontation mit Wilderern und Forstfrevlern, zwei aus Mordfällen und vier aus Begegnungen mit Betrunkenen, Ruhestörern oder mutwillig aggressiven Personen. In einem Fall vom Januar 1951 vermerkt der Bericht, drei Gaststättenbesucher hätten einen Hauptwachtmeister gar „ohne Grund, nur weil LP-Beamter“, geschlagen. Hinzu kamen noch drei körperliche Attacken anlässlich von Zwangseinweisungen in Privatwohnungen, eine davon gemeinsam von einem Paar „mit Beil, Spazierstock und Zaunlatte“ verübt. Fast alle Angreifer waren Deutsche aus der Gegend, darunter aber nur zwei Frauen. Sechs von 27 angegriffenen Polizisten erlitten Blessuren, einer wurde von einem Wilderer lebensgefährlich niedergestochen. Was sagen diese Befunde aus ? Sie deuten zunächst auf ein breites Spektrum körperlicher Widersetzlichkeit gegen polizeiliche Eingriffshandlungen hin, das sich nur zum Teil aus der spezi¿schen Nachkriegssituation erklären lässt. Polizisten waren keine sakrosankten Vertreter der Staatsautorität, sondern stießen in zahlreichen Fällen an Grenzen, speziell auf öffentlich umkämpftem Terrain wie den zahlreichen Dorfgaststätten. Besonders gefährlich waren offenbar Interventionen in alltägliche KonÀikte zwischen Dritten; hier wurden die Polizisten schnell selbst zur Zielscheibe der Aggression. Gerade im ländlichen Kontext gerieten die Beamten häu¿g mit Menschen in körperlichen KonÀikt, die nicht aus klassischen kriminellen Milieus stammten, sondern die ihre eigene Lebenswelt auszugestalten oder impulsiv zu verteidigen suchten und dementsprechend wenig Scheu und Unrechtsbewusstsein zeigten, wenn sie mit einem Hoheitsträger zusammentrafen, der in ihren Bereich eingriff. Der Konsum von Alkohol setzte die Schwelle der Gewaltbereitschaft in der Regel noch weiter herab. Ferner ist anzunehmen, dass manchem Gewaltakt provozierende oder zumindest Widerstand herausfordernde Amtshandlungen oder Redeweisen vorausgingen, der Übergriff auf die Beamten also durchaus Produkt einer individuellen Eskalation im Verhältnis zwischen Polizist und Poliziertem sein konnte. Hierzu schweigen zwar die summarischen Berichte der Landpolizeiinspektionen von 1953, der genauere Blick auf Einzelfälle im letzten Teil des Beitrags belegt dies jedoch. Die Rede vom „staatlichen Gewaltmonopol“ muss jedenfalls stets berücksichtigen, dass in der Praxis ein Monopol der Polizei auf Gewaltausübung zum Erreichen eines Zieles nicht existiert, ebenso wenig ein Monopol zum Einsatz von Hilfsmitteln wie Waffen aller Art. Betrachtet man einzelne Tätergruppen näher, wird dies noch deutlicher. Spürbare Grenzen erlebten die Polizisten der frühen Nachkriegszeit vor allem bei der Konfrontation mit Ausländern, die der deutschen Polizei nicht selten mit phy-
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sischer Gewalt, zum Teil sogar bewaffnet gegenübertraten und dabei ihren speziellen Rechtsstatus ausnutzten. Dies gilt sowohl für ehemalige Zwangsarbeiter aus Osteuropa und jüdische DPs,7 als auch für Angehörige der Besatzungsmächte. So barg etwa das öffentliche Auftreten amerikanischer GIs ein besonders hohes KonÀiktpotential, waren die Zugriffsrechte deutscher Polizisten hier doch bekanntermaßen beschränkt. Wie an anderer Stelle gezeigt wird, zogen bayerische Polizeibeamte vor allem im Umfeld von Kasernen und Übungsplätzen bei gewaltsamen Zusammenstößen mit US-Soldaten bis Mitte der fünfziger Jahre häu¿g den Kürzeren.8 Wichtig ist schließlich eine weitere Erkenntnis: Obwohl die Beamten in den meisten Fällen keinen persönlichen Schaden erlitten, wurden körperliche Widerstandshandlungen akribisch festgehalten – und zwar ungeachtet des Umstands, dass die Meldung, Opfer einer Tätlichkeit geworden zu sein, als „unmännlicher“ Akt hätte interpretiert werden können. Dies hat nicht nur mit dem vor Gericht relevanten Tatbestand des „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ zu tun, sondern auch mit dem Bestreben der Sicherheitsbeamten, männliche Attacken auf den individuellen Polizistenkörper wie auch auf den Polizeikörper insgesamt als besonders schweren Frevel zu kennzeichnen. Gerade in einer Zeit, in der die Wiederherstellung der staatlichen Kontrolle über die öffentliche Ordnung hohen Stellenwert genoss, mussten tätliche Angriffe auf die „Hüter der Ordnung“ wie ein Fanal wirken und die Anwendung wirksamer Gegenmaßnahmen – wie etwa die Ausrüstung mit mehr und besseren Waffen – herausfordern, um Autorität zu produzieren. So verwundert es kaum, wenn die frühen Nachkriegsjahre in der Erinnerung von Polizeibeamten oftmals traumatische Eindrücke hinterlassen haben. Die Erfahrung, jederzeit selbst Opfer werden zu können, wog offenbar weitaus schwerer als die Kriegserfahrung, in der sich viele Polizisten in Täter verwandelt hatten. Die Einschätzung der Besatzungsjahre als Zeit der Demütigung und des Gewalterleidens durchzieht bezeichnenderweise auch nahezu sämtliche, von Polizeibeamten verfasste Darstellungen zur Geschichte der eigenen Institution nach 1945.9 Im Dienst getötet – Polizisten als Opfer und Täter Eine zweite Erhebung mit dem Ziel, einen Überblick über Gewaltakte gegen Polizeibeamte zu gewinnen, wurde vom bayerischen Innenministerium im Dezember 1954 veranlasst. Dabei ging es allerdings nur nachrangig um die Frage, „wie Vgl. Stepién 1989, S. 151–164; Schulze Wessel 1998, S. 181–201. Vgl. Fürmetz 2011. 9 Vgl. z. B. Hamacher 1989, S. 50–67; Bleck 1977.
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viele Polizeibeamte seit 1945 im Dienst erschossen oder sonst getötet wurden“. Der primäre Zweck bestand vielmehr darin zu erfahren, „in wie vielen Fällen und unter welchen Umständen seit dem Jahre 1945 die Anwendung der Schußwaffe durch Polizeibeamte im Dienst zum Tode der beteiligten Staatsbürger geführt hat“.10 Hintergrund dieser Doppelumfrage knapp zehn Jahre nach Kriegsende war die damalige öffentliche Debatte über den polizeilichen Schusswaffengebrauch, die sich durch einen spektakulären Fall aus München vom November 1954 extrem zugespitzt hatte.11 Offensichtlich sollten Fälle von Waffengebrauch gegen Polizeibeamte deshalb miterfasst werden, um der Kritik an der häu¿gen Verwendung scharfer Waffen seitens der Polizeiorgane mit dem Argument begegnen zu können, auch Polizisten seien unablässig körperlicher Gewalt mit oftmals tödlicher Konsequenz ausgesetzt. Angriffe auf Polizeibeamte mit weniger schlimmem oder gar harmlosem Ausgang blieben deshalb in der zweiten Datenerhebung außen vor, und Anlässe wie polizeiliche Schlichtungsversuche von Privatstreitigkeiten tauchen praktisch kaum auf. Die Ergebnisse der beiden Umfragen sind also nur bedingt vergleichbar. In der Antwort des Landpolizeipräsidiums wurden für den Zeitraum zwischen Mai 1945 und Juli 1955 insgesamt 61 Fälle getöteter Landpolizisten aus ganz Bayern aufgelistet.12 Darunter waren unerwarteterweise 47 Unfälle: hauptsächlich im Straßenverkehr (36),13 aber auch beim Sport (3), bei sonstigen Dienstverrichtungen (5) oder durch irrtümliche Schüsse von Kollegen bzw. USSoldaten (3). Bei den restlichen 14 Fällen handelte es sich um Mordtaten, die sämtlich in den Jahren bis 1949 passiert und mindestens zur Hälfte von ausländischen DPs verübt worden waren. In neun Fällen hatten Polizisten den oder die Täter auf frischer Tat betroffen, zweimal war eine Verfolgung missglückt, und dreimal hatten sich verhaftete Personen beim Transport durch Töten der sie begleitenden Polizisten befreien können. Tendenziell ähnlich sah es bei den kommunalen Polizeien aus, die in Bayern damals in allen Orten über 5.000 Einwohner existierten. Dort wurden den Meldungen an das Innenministerium zufolge zwischen Mai 1945 und Anfang Bayerisches Staatsministerium des Innern (BayStMI) an die Präsidien der Bayerischen Landund Grenzpolizei und die Bezirksregierungen vom 15.12.1954, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), MInn 91838. 11 Bei einer Kontrolle von Schwarzhändlern erschoss der zivil gekleidete städtische Sicherheitswachtmeister Heinz K. am 4.11.1954 den Hilfsarbeiter Oskar C., als ihn dieser tätlich angriff; vgl. Ermittlungsberichte in: BayHStA, MInn 91838. Fast zeitgleich kam es auch in Nordrhein-Westfalen zu polizeilichen Todesschüssen, die ebenfalls in der Öffentlichkeit heftig diskutiert wurden; vgl. Noethen 1997. 12 Sämtliche Antwortberichte in: BayHStA, MInn 91838 bzw. 91835 (Nachträge). 13 Angesichts der chaotischen Verkehrsverhältnisse im Nachkriegsbayern kaum verwunderlich (vgl. Fürmetz 2001). 10
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1955 19 tödliche Gewalttaten gegen Sicherheitskräfte verübt, davon allein sieben in München. Da in den Berichten nur von drei Unfällen und einem irrtümlichen Todesschuss die Rede ist, ist freilich anzunehmen, dass die Städte und größeren Gemeinden bei weitem nicht alle Unfälle gemeldet hatten. Bei sechs der 19 nachgewiesenen Polizistenmorde waren die Gewalttäter beim Ausführen einer Straftat ertappt worden, in sieben Fällen hatten die betroffenen Beamten Verdächtige kontrolliert, und weitere sechsmal hatten Gefangene oder Festgenommene erfolgreich auszubrechen bzw. während des Abführens zu Àüchten versucht. 15 von 19 Polizeibeamten starben während der Militärregierungszeit, davon allein zehn im Jahr 1946. Jeweils siebenmal wurden Deutsche und DPs als Mörder gezählt, einmal ein Besatzungsangehöriger, und in vier Fällen blieben die Täter unbekannt. Aufschlussreich ist nun ein Vergleich mit den Zahlen, die im anderen Teil der Umfrage ermittelt wurden. Für die Landpolizei sieht die Relation folgendermaßen aus: Auf den ersten Blick scheinen zwischen 1945 und 1955 von der Polizei um rund 13 Prozent weniger „Zivilpersonen“ erschossen worden zu sein, als Polizisten ums Leben kamen. Allerdings ereignete sich in sämtlichen 53 Fällen von polizeilichem Schusswaffengebrauch mit Todesfolge wirklich ein Gewaltakt, während wie erwähnt 47 der 61 getöteten Polizeibeamten nicht Opfer von Verbrechen wurden, sondern verunglückten. Nach Angaben des Präsidiums töteten Angehörige der Landpolizei je zur Hälfte deutsche Staatsbürger (26) und Ausländer (27), letztere ausschließlich in den Jahren 1945 bis 1948. Bemerkenswerterweise passierten in diesem Zeitraum die weitaus meisten Einsätze mit Todesfolge (49) – mit einem klaren Höhepunkt 1946 (23). In knapp 60 Prozent der Fälle bis 1948 (29) trafen die Polizisten am Ort des Geschehens auf Eigentumsstraftäter, die entweder vom Tatort Àüchten wollten (14) oder Widerstand leisteten (15). Delinquenten, die aus der Haft entweichen wollten (8), auf der Straße kontrolliert oder nach Ermittlungen festgenommen wurden (5), machten zusammen knapp 27 Prozent der bis 1948 von der Polizei Getöteten aus (13). Neben zwei irrtümlichen Todesschüssen ent¿el der Rest mit ca. zehn Prozent auf mutwillige Angreifer (4) und Landfriedensbrecher (1). Für die Zeit ab 1949 wurden dagegen nur mehr vier Fälle verzeichnet – und zwar ausschließlich bei drei Fahndungsfestnahmen (1949, 1952, 1955) bzw. im Rahmen einer Rauferei (1950). Aus dem Bereich der Kommunalpolizeien wurden für den Zeitraum 1945 bis 1954 ähnlich viele Todesschussfälle gemeldet (50), davon allein zwei Drittel aus den Großstädten München (23), Nürnberg (5), Regensburg (4) und Augsburg (1). Auch hier ist mit 62 Prozent ein deutliches Übergewicht der Besatzungsjahre bis 1948 festzustellen (31), wenngleich weniger stark ausgeprägt als im ländlichen Raum. Während es dort ab 1949 nämlich kaum mehr zu tödlichen Schüssen kam, starben in Bayerns Städten in den frühen fünfziger Jahren immerhin noch 19 Personen „durch polizeiliche Tätigkeit“, wie es im Bericht aus München heißt. Auch unterschieden sich, anders als auf dem Land, die Umstände, die in
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den späteren Jahren zu den Todesschüssen geführt hatten, nicht signi¿kant von der Besatzungsphase. In 50 Prozent aller Fälle (25) waren es Personenkontrollen oder gezielte Festnahmeversuche, in deren Verlauf Menschen von Polizistenhand zu Tode kamen. Als Folge frisch verübter Eigentumsdelikte starben dagegen in den Orten mit eigener Polizei nur 30 Prozent der Straftäter (15). Fünfmal – also zu zehn Prozent – resultierten die polizeilichen Tötungshandlungen aus persönlichen Angriffen auf die Beamten, und lediglich dreimal wurden aus festem Gewahrsam Fliehende erschossen. Abweichungen vom Land, die mit der Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur zusammenhängen, gab es auch bei den Opfern der Todesschüsse: Die Zahl der getöteten Ausländer (18) war insgesamt um ein Drittel niedriger als die der Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit (27); während der Besatzungszeit lagen beide Gruppen freilich in etwa gleich auf. Versucht man eine Gesamtinterpretation der Doppelumfrage von 1954/55, so lassen sich mehrere Befunde herausarbeiten. Zu betonen ist zunächst, dass an sämtlichen KonÀikten mit Todesfolge ausnahmslos männliche Protagonisten beteiligt waren. Stets ging es um individuelle Konfrontationen, niemals dagegen um Zusammenstöße geschlossener Polizeiverbände mit größeren Menschenansammlungen, wie zuvor in der Weimarer Republik noch häu¿g der Fall.14 Davon abgesehen weisen beide Aufstellungen – die der ums Leben gekommenen Polizisten wie die der polizeilichen Todesschützen – übereinstimmend die Besatzungsjahre als besonders reich an schwerer körperlicher Gewalt aus. Allerdings fällt auf, dass sich die Situation auf dem Land ab 1949 merklicher entspannte als in den Städten. Außerordentlich gewaltsam gestaltete sich hauptsächlich in den ländlichen Gebieten, aber auch in den größeren Kommunen des Freistaates das Verhältnis zwischen ausländischen DPs und deutscher Polizei, ein Umstand, auf den schon hingewiesen wurde. Physische Auseinandersetzungen mit Ausländern endeten ungleich häu¿ger tödlich als Gewalttätigkeiten zwischen Polizisten und Deutschen. Dies hat einerseits mit der höheren Gewaltbereitschaft einzelner Ausländergruppen zu tun, andererseits aber auch mit einer von den Sicherheitskräften praktizierten selektiven Kriminalitätswahrnehmung und -bekämpfung.15 Auffällig ist weiter, dass trotz notorischer Klagen der Polizei über ihre ungenügende Bewaffnung und ihre eingeschränkten Rechte die Zahl aller von Polizisten getöteten Personen (103) mehr als dreimal höher lag als die der Gewaltopfer in den Reihen der Polizei (33). Dieses unerwartete Resultat der Erhebung nötigte selbst das bayerische Innenministerium dazu, von einer „Verwertung der ermittelten Zahlen durch schlichte Gegenüberstellung“ abzusehen. Eine Offenlegung der Ergebnisse würde „kein günstiges Bild für die bayerische Polizei ergeben“, so
14 15
Vgl. z. B. Leßmann 1989; Schumann 2001. Vgl. Fürmetz 1997, S. 45–49; Zorn/Link 2002.
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der auswertende Ministerialbeamte.16 In vielen Fällen ähneln sich zwar die KonÀiktsituationen, die zum Tod von Zivilisten und Polizeibeamten führten, dennoch sind neben den quantitativen auch qualitative Unterschiede feststellbar. Nicht nur für heutige Verhältnisse erscheinen die Tatbestände, durch die polizeiliche Todesschüsse ausgelöst wurden, oftmals banal. Häu¿g ging es um minderschwere Eigentumsdelikte, und von einer Verhältnismäßigkeit der Mittel konnte kaum die Rede sein. Im Schlussbericht des Innenministeriums heißt es dazu wörtlich: „Es läßt sich wohl nicht leugnen, daß in einer nicht unerheblichen Zahl der Fälle ein Schußwaffengebrauch, in der Art wie erfolgt, nicht gerechtfertigt war. Zu Bedenken geben vor allem die Fälle Anlaß, bei denen trotz Anwesenheit mehrerer Polizeibeamter gegen einen einzelnen Täter (ohne Schußwaffe) auf nächste Entfernung von der Schußwaffe mit tödlichem Ausgang Gebrauch gemacht wurde. […] In einigen Fällen war auch die zu Grunde liegende Straftat ihrem Unrechtsgehalt nach gering. Es geht nicht an, daß im Falle des Verdachts einer einfachen Hehlerei, eines einfachen Diebstahls usw. bei Flucht des noch nicht festgenommenen Täters mit tödlicher Wirkung geschossen wird.“17
Tatsächlich ergibt eine genaue Aufschlüsselung, dass 44 der 103 in Bayern von der Polizei getöteten Personen „auf der Flucht erschossen“ wurden. In den meisten übrigen Fällen lagen mehr oder weniger eindeutige Notwehrsituationen vor (56), wobei die durchwegs knappen Fallschilderungen vereinzelt Zweifel aufkommen lassen, ob die behauptete reale bzw. vermeintliche Bedrohung durch den Rechtsbrecher glaubhaft ist. Die Nachprüfung der Todesschüsse durch die Gerichte scheint ausgesprochen lax gewesen zu sein; zumindest wurde nur in einem Fall davon berichtet, dass von juristischer Seite eine PÀichtverletzung festgestellt worden sei. Der Griff zur Waffe blieb demnach für die Polizisten in aller Regel nicht nur ohne Folgen, sondern wurde gleichsam zum legitimen Mittel im Ringen um Ordnung. Ob dafür aber in erster Linie die nur in Dienstvorschriften festgehaltenen, zum Teil ungenau formulierten Waffenbestimmungen der unmittelbaren Nachkriegszeit verantwortlich waren,18 muss bezweifelt werden. Maßgeblich für die hohe polizeiliche Gewaltbereitschaft der ersten Jahre nach 1945 scheinen andere Faktoren gewesen zu sein. So avancierte der Besitz von Schusswaffen bereits Aktenvermerk des BayStMI vom 19.4.1955, in: BayHStA, MInn 91838. Ebd. 18 So z. B. Stammler 1947. Auch vor 1945 waren die entsprechenden Vorschriften in Bayern unzureichend und uneinheitlich ¿xiert; zu Beginn der Weimarer Zeit hatte es aber eine Verschärfung der polizeilichen Befugnisse gegeben, Waffen einzusetzen (vgl. Upmeyer 1935). Das Schusswaffengebrauchsrecht der Polizei ist in Deutschland traditionell Sache der Länder (vgl. Sundermann 1984, S. 8–20). 16 17
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kurz nach Kriegsende zum Symbol neuer polizeilicher Autorität – und das trotz ungewohnter Leihwaffen aus dem Bestand der Siegermächte, unzureichender Ausbildung und der Unerfahrenheit vieler Polizisten in ihrem neuen Amt. Auch die noch frische Erfahrung des Krieges trug dazu bei, die Hemmschwelle des Waffeneinsatzes wie überhaupt der Ausübung körperlicher Gewalt niedrig zu halten. Im Wissen um die „besondere Gefährdung der Polizeibeamten“ durch Kriminelle konnte sich zudem eine „Er-oder-ich-Haltung“ entwickeln, die den raschen und kompromisslosen Gebrauch der Dienstpistole bzw. des Karabiners nahe legte – schwere Gewalt gegen Polizisten und deren eigener Waffeneinsatz bedingten sich gegenseitig. In gewisser Hinsicht erscheint die schutzpolizeiliche Verbrechensbekämpfung der späten 1940er Jahre – insbesondere im KonÀikt mit ausländischen DPs – als modi¿zierte Fortsetzung von Handlungsweisen, die zuvor an der Front und im Zweiten Weltkrieg bei der gewaltsamen „Befriedung“ eroberter Gebiete erlernt worden waren.19 Als Ende 1950 in Bayern wie in den übrigen Bundesländern erstmals eine gesetzliche Regelung über den polizeilichen Schusswaffengebrauch geschaffen wurde,20 hatte sich bereits ein neues Ordnungsgefüge in Staat und Gesellschaft etabliert. Der Rückgang der Zahl der Todesopfer bei Konfrontationen zwischen Polizisten und Straftätern in den frühen 1950er Jahren ist somit nicht primär als Folge geänderter Rechtsvorschriften zu interpretieren, sondern erklärt sich eher aus der gewandelten Rolle und Professionalität der Polizei, aus der Verbesserung der Lebenssituation der Bevölkerung und aus stabiler werdenden sozialen Beziehungen. Zwei Angriffe mit Todesfolge – Zur Eskalation der Gewalt Gewaltsame Attacken auf Polizeibeamte provozieren in der Regel körperliche Gegengewalt der Angegriffenen. Individuellen GewaltkonÀikten liegen deshalb häu¿g Selbstverteidigungs- und Notwehrtatbestände zugrunde, wobei nicht immer zweifelsfrei zu klären ist, ob bei den Polizisten eine tatsächliche, eine vermeintliche (sog. putative) oder eine unrechtmäßige Notwehrsituation vorlag. Wie rasch und folgenschwer selbst scheinbar harmlose Auseinandersetzungen eskalieren können, soll abschließend an zwei Beispielfällen mit jeweils tödlichem Zur „Bandenkampftradition“ in der bundesdeutschen Schutzpolizei der 1950er und 1960er Jahre vgl. Weinhauer 2003, S. 165 f. 20 Vgl. Art. 5 des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch die Polizei vom 22.11.1950; BayGVBl 1950, S. 239–240. Schon damals wurde unterschieden zwischen „körperlicher Gewalt […] mit oder ohne Anwendung von Hilfsmitteln“ und dem Gebrauch von „Hieb-, Stoß- und Schußwaffen“ (Art. 2). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde dagegen erst im PAG von 1954 verankert (Art. 43, Abs. 2); BayGVBl 1954, S. 241. 19
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Ausgang verdeutlicht werden. Dabei geht es vor allem darum, exemplarisch „die Praxis physischer Gewalt im sozialen Alltag bzw. allgemeiner die Kultur des Umgangs mit Körper und Körperrisiken“ zu schildern, denn nur so ist nach Thomas Lindenberger zu verstehen, wie Gewalt zwischen Polizisten und Bürgern konkret funktioniert.21 Die beiden Fälle entstammen absichtlich einer Zeit, in der sich die Gewaltkultur Westdeutschlands wandelte. Bereits die Umfrageergebnisse des bayerischen Innenministeriums zeigen, dass die für die Besatzungszeit typischen schweren Einzelübergriffe im Zusammenhang mit Kapitalverbrechen und Eigentumsdelikten ab 1950 stark zurückgingen. Stattdessen zeichneten sich die 1950er Jahre – entgegen der verbreiteten Annahme, damals habe allenthalben „Ruhe und Ordnung“ geherrscht22 – vor allem in den Städten durch ein hohes Maß an kollektiver Gewalt zwischen Polizei und Publikum aus, speziell bei MassenkonÀikten wie Demonstrationen und Streiks23 – von der bedrohlich zunehmenden Straßenverkehrsgewalt einmal ganz zu schweigen.24 Kennzeichnend für das Jahrzehnt sind aber auch Protesthandlungen junger Männer, die bewusst den gewaltsamen KonÀikt mit Vertretern der Staatsautorität suchten, um sich innerhalb ihrer sozialen Gruppe zu pro¿lieren oder um ihre Aggressionen an einem Hassgegner auszulassen, den sie unter anderen Umständen nicht zu attackieren gewagt hätten. Es handelt sich dabei um extrem männlich konnotierte Gewaltformen, die insbesondere bei den „Halbstarken“-Krawallen der Jahre 1956 bis 1958 eine Rolle spielten.25 Die erste Fallgeschichte trug sich in der oberbayerischen Kleinstadt Aichach rund 60 Kilometer westlich von München zu.26 Am 13. August 1955, zum Auftakt des einwöchigen Aichacher Volksfestes, kam es nach der mitternächtlichen Sperrstunde zunächst zu kleineren Schlägereien junger, meist alkoholisierter Festbesucher untereinander. Aus einem Schlichtungsversuch der beiden Dienst habenden Kommunalpolizisten heraus entwickelte sich dann gegen zwei Uhr morgens vor zahlreichen Zeugen der Zusammenstoß zwischen einem 25-jährigen, ortsansässigen Maurer und einem sieben Jahre älteren Kommissär der Stadtpolizei. Als der Beamte den lautstarken Wortführer einer Gruppe junger Burschen mit auf die Wache nehmen wollte, widersetzte sich dieser, wich dem Gummiknüppel aus und schlug mit Fäusten auf den körperlich unterlegenen Polizisten
Lindenberger 2003, S. 22. So z. B. Winter 2000, S. 205. 23 Vgl. für München Sturm 2001; Fürmetz 2002. 24 Vgl. Fürmetz 2001. 25 Vgl. Grotum 2001. 26 Vgl. zum Folgenden den Ermittlungsbericht des Bayerischen Landeskriminalamtes vom 31.8.1955, in: BayHStA, MInn 91835. 21
22
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ein. In seiner Notlage griff der Beamte zur Dienstwaffe, einem US-Revolver, und gab aus geringer Entfernung einen tödlichen Schuss ab. Wie die Ermittlungen des Landeskriminalamtes ergaben, hatte der junge Maurer schon in den Stunden zuvor im Bierzelt zwei ihm bekannte Landpolizisten mit Gewalt bedroht: „Fürchten tu ich euch nicht, schlagen tu ich euch, wie ihr’s braucht, mit jedem einzelnen von euch nehm ich’s auf, eure Pistolen könnt ihr ruhig haben, die fürcht ich nicht.“ Mit seinen Freunden habe er – so ein anderer Zeuge – sogar vereinbart, „daß sie die Polizei heute noch verprügeln wollen“. Prompt fand sich nach Volksfestende ein nichtiger Anlass, um einen der Ordnungshüter herauszufordern. Damit ließen sich nicht bloß aufgestaute Aggressionen abreagieren – der junge Handwerker konnte vor seinen Altersgenossen auch außergewöhnlichen Mut beweisen. Der Polizeibeamte wiederum wollte nicht zulassen, dass seine Autorität auf lokalem Terrain und in aller Öffentlichkeit missachtet wurde. Obwohl sich offenbar alle Beteiligten kannten, eskalierte der von Männlichkeitsbildern geprägte Streit, zumal beide Kontrahenten auch noch unter AlkoholeinÀuss standen. Noch spektakulärer geriet ein Jahr später – im August 1956 – der brutale nächtliche Überfall eines Brüderpaares auf drei Streifenpolizisten im Münchner Vorort Allach.27 Ohne erkennbaren Grund stießen die beiden Täter, 19 und 29 Jahre alt, beim Heimweg von einer Tanzveranstaltung einen der Beamten vom Fahrrad. Der fälligen Kontrolle entzogen sie sich, indem sie auf die überraschten Polizisten einprügelten und ihnen schwere Kopfverletzungen zufügten. Beim Versuch, die Brüder trotzdem zu verfolgen, wurden zwei der drei Polizisten erneut zusammengeschlagen, worauf einer der beiden Beamten mit Schüssen aus seiner Dienstpistole zuerst den einen, dann den anderen Angreifer niederstreckte. Von polizeilicher Autorität kann in keinem der beiden Fälle die Rede sein. Vielmehr handelt es sich hier um Aggressionen gegen personi¿zierte Vertreter der herrschenden Ordnung, erkennbar an Machtinsignien wie Uniform und Schusswaffe. Diese symbolbehafteten Figuren zu provozieren und zu attackieren, passt ins Bild einer für die 1950er Jahre festgestellten „Remaskulinisierung“ der bundesdeutschen Gesellschaft.28 Auf der anderen Seite ging es für die Polizisten nicht nur darum, ihre körperliche Unversehrtheit zu retten, sondern den erreichten Ordnungsstand zu verteidigen. „Besondere Gefährdungen der Polizeibeamten“ – wie es im eingangs zitierten Rundschreiben des bayerischen Innenministeriums heißt – waren (und sind) immer zugleich eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung.
27 28
Vgl. Münchner Merkur vom 20.8.1956 und Süddeutsche Zeitung vom 22.8.1956. Vgl. Moeller 1998/99.
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Die friedfertige Polizistin ? Die Praxis der Deeskalation aus der Sicht von Männern und Frauen im Streifendienst Anne Mangold
Die Vorstellung, dass Frauen körperliche Gewalt anwenden, besonders innerhalb von Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols, ist in unserem Kulturkreis immer noch für viele befremdlich. Dass sich auf dem Gebiet von Gewalt traditionelle Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit noch sehr hartnäckig behaupten, spiegelt sich sowohl in frauenfeindlichen als auch in feministischen Diskursen und Praxen wider. So war und ist die Frage, ob Frauen sich mit Waffen an KonÀikten beteiligen oder stattdessen zur Verhinderung gewalttätiger Auseinandersetzungen beitragen sollten, ein wichtiges Thema feministischer Debatten. Während dabei einige die besondere Fähigkeit und VerpÀichtung von Frauen zur Verhinderung von Gewalt hervorheben und durch biologistische Zuschreibungen, durch historisch gewachsene Geschlechterverhältnisse oder durch die gesellschaftliche Rolle als Mütter zu begründen suchen, entlarven andere die vermeintliche Friedfertigkeit als „patriarchalen Mythos“. Letztere wenden u. a. ein, dass es viele historische Beispiele gibt, in denen Frauen sehr wohl auch Gewalt anwendeten oder unterstützten. Zudem machen sie darauf aufmerksam, dass der Ausschluss von Frauen von der Waffengewalt diese von bedeutenden gesellschaftlichen Institutionen und Ressourcen (wie Bildung, Arbeit und politische EinÀussnahme) fernhält. Nicht zuletzt kritisieren sie am Rückgriff auf die vermeintliche Friedfertigkeit von Frauen, dass solche Argumentationen bestimmte stereotype Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit aufrecht erhalten, mit denen Benachteiligungen von Frauen und gewalttätiges Handeln von Männern legitimiert werden.1 Auch im Zusammenhang mit der Institution Polizei spielen solche Annahmen über die „Friedfertigkeit“ von Frauen eine bedeutende Rolle. In der öffentlichen und polizeiinternen Diskussion um die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit weiblicher Polizisten werden solche stereotypen Zuschreibungen als Pro- und ContraArgumente genutzt. Hier spiegelt sich die Ambivalenz der Polizeiarbeit wider:
1
Vgl. Peach 1997, Maltry 1994.
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_7, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wird die Funktion der Polizei als Gewaltanwenderin betont, dann wird um die physische und psychische Dienstfähigkeit der Frauen gestritten. Geht es jedoch um den konÀiktschlichtenden, deeskalierenden und dienstleistenden Aspekt der Arbeit, werden die Frauen fast einhellig für die besseren Polizisten gehalten. Seit den 1970er Jahren erhofften Polizeiführungskräfte durch die schrittweise Aufhebung des Ausschlusses von Frauen aus vielen bundesdeutschen Polizeibereichen positive Effekte hinsichtlich Gewaltvermeidung, Kommunikation, Motivation, Akzeptanz bei der Bevölkerung etc. Bemerkenswert ist, dass diese Aspekte nun in gegenwärtigen Reformbestrebungen für die Polizei an Bedeutung gewinnen. Die bundesweit ähnliche Umorientierung in Richtung „Dienstleistungsunternehmen Polizei“ steht im Kontext allgemeiner Reformen der öffentlichen Verwaltung. In ihnen geht es einerseits um ein neues Verständnis gegenüber den BürgerInnen, die die PolizistInnen im Idealfall wie KundInnen betrachten und an deren Bedürfnisse sie die eigene Arbeit orientieren sollten. Andererseits – und hier liegt der Schwerpunkt der Umgestaltungen – geht es um die verstärkte Berücksichtigung von wirtschaftlichen Aspekten um die knappen ¿nanziellen und personellen Ressourcen besser nutzen zu können.2 Vor diesem Hintergrund sind auch die Überlegungen von Polizeiführungskräften zu sehen, bei denen es um die Anwendung des so genannten Deeskalierenden Einsatzmodells durch StreifenpolizistInnen, das heißt BeamtInnen im Wach- und Wechseldienst, geht. Neben einer Verstärkung von „positiven Inhalten“, wie Auskünfte und Hilfestellungen, soll in eher konÀiktgeladenen Situationen das Bemühen um Deeskalation an Bedeutung gewinnen. Damit wird nicht nur angestrebt, das Ansehen in der Bevölkerung zu verbessern, sondern auch organisatorische Gründe sprechen dafür: Durch Vermeidung von Eskalationen wird erhofft, Zeit einzusparen (etwa durch einen geringeren Verwaltungsaufwand und weniger Gerichtstermine), den Personalausfall durch in Einsätzen verletzte, dienstunfähige PolizistInnen zu verringern und Einsätze erfolgreicher durchzuführen. Um dies zu erreichen, sollten die StreifenbeamtInnen ihre Aufträge eher kommunikativ als mit Einsatz physischer Gewalt erfüllen und, wenn möglich, potentiell eskalierende Situationen nicht entstehen lassen.3 In diesem Beitrag werde ich der Frage nachgehen, wie Geschlechterverhältnisse in der Organisation und der Umgang mit Gewalt verbunden sind und wie sich dies konkret in der Praxis ausgestaltet. Hierbei soll es nicht darum gehen zu 2 Zur allgemeinen Reform siehe Jann 1998, Lange/Kersting/Kißler 2000, speziell zur Polizei: Schmidt 2000, Wehe 1999, Posiege/Steinschulte-Leiding 1999. Inwieweit dieser DienstleistungsAnsatz für den politischen Bereich, und dort speziell in der Polizei, überhaupt sinnvoll ist, kann hier aus Platzgründen nicht diskutiert werden. Vgl. hierzu auch König 1995, Adamaschek 1998, Reis/ Schulze-Böing 1998 und Pütter 1999. 3 Geck 1996, S. 251 ff.
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zeigen, ob Frauen qua Geschlecht im Vergleich zu Männern friedfertiger sind. Stattdessen geht es eher darum, ob ein bestimmter Umgang mit Gewalt dazu genutzt wird, sich als Mann oder Frau darzustellen und zu fühlen sowie asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen zu (re-) produzieren, zu legitimieren oder auch abzubauen. Konkret werde ich anhand von Beispielen der Frage nachgehen, welche Bedeutung Deeskalation und physische Gewalt im Alltag von PolizistInnen des Wach- und Wechseldienstes hat. Lassen sich die oben geschilderten Erwartungen an die Frauen, die Polizeiführungskräfte äußerten, in den Erfahrungen von StreifenpolizistInnen wieder¿nden ? Oder erscheinen Arbeitsziele wie Kommunikation und Gewaltvermeidung jetzt als „geschlechtsneutral“ und somit auch für Männer relevant ? Welche Auswirkungen hat dies für die Stellung der Polizistinnen in der Organisation ? Um diese Fragen beantworten zu können, werde ich einleitend vor dem Hintergrund einiger theoretischer Grundlagen zum Thema „Geschlecht und Organisation“ kurz die Entwicklungen des Integrationsprozesses von Frauen in die Polizei skizzieren. Danach werde ich einige Ergebnisse einer eigenen Untersuchung in Brandenburg vorstellen. Diese zeigen, welchen Stellenwert Gewalt aus Sicht von StreifenpolizistInnen im Alltag hat und wie sie diese aktiv vermeiden (können). An den Beispielen der Zusammensetzung der Streifenteams und den Einsätzen bei familiären KonÀikten werde ich erläutern, wie wichtig Gewalt für die Wahrnehmung und Bewertung von Männern und Frauen in der Polizei und Arbeitsteilungen unter weiblichen und männlichen Polizisten ist. Organisation und Geschlecht Die folgenden Überlegungen basieren auf Erkenntnissen der Geschlechterforschung. Diese hat schon vor Jahren gezeigt, dass nicht davon auszugehen ist, dass es überhistorisch und kulturell unabhängig bestimmte Merkmale gibt, die alle Männer grundsätzlich von allen Frauen unterscheiden. Stattdessen ist das, was Frauen und Männer jeweils ausmacht, kultur-, zeit- und kontextspezi¿sch verschieden. Zudem ist Geschlecht im Verhältnis zu anderen Ordnungskategorien (wie Alter, Herkunft, Hautfarbe, Bildung etc.) unterschiedlich bedeutsam und kann mehr oder weniger starke Hierarchisierungen der Genusgruppen zur Folge haben. Geschlecht ist nicht etwas Naturgegebenes, sondern wird immer wieder in sozialen Prozessen produziert und für das eigene Selbst, für das Zusammenleben und soziale Strukturen erst bedeutsam gemacht. So wird Geschlecht beispielsweise durch eine bestimmte Art der Kleidung, der Sprache, des Umgangs mit dem eigenen Körper und des Ausführens bestimmter Tätigkeiten erst selbst
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erlebt und für andere wahrnehmbar.4 Dazu kann eben auch gehören, Gewalt anzuwenden oder sie zu vermeiden. Doch dies geschieht immer eingebettet in bestimmte Kontexte. Organisationen, wie die Polizei, können dabei eine große Rolle spielen. Sie beeinÀussen sowohl die De¿nition dessen, was als männlich oder weiblich gilt, als auch die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, sie bergen gegenüber der Gesamtgesellschaft ein eigenes Potential zur Herstellung, Stabilisierung oder auch zu Veränderung und Abbau von Asymmetrien in den Geschlechterverhältnissen. „Geschlecht und Organisation“ ist bereits ein wichtiges Thema der Frauenund Geschlechterforschung, an das ich hier anschließen kann.5 Diese Arbeiten zeigen, dass Frauen historisch aus vielen Organisationen und Berufen sowie von bedeutenden Positionen ausgeschlossen waren. Viele Studien lassen erkennen, dass sich die Aufteilung in Männer- und Frauenberufe nicht durch die Arbeitsinhalte erklären lässt, da sie historisch und kulturell unterschiedlich ausgestaltet ist. Statt der Inhalte ist der Status der Berufe ausschlaggebend: Frauenarbeit bedeutet im Allgemeinen weniger Prestige, schlechtere Bezahlung, ungünstigere Arbeitszeiten, unsichere Arbeitsverträge, niedrigere Positionierung in Hierarchien etc.6 Die deutsche Polizei ist in dieser Hinsicht besonders interessant, da hier seit den 1970er Jahren starke Veränderungen statt¿nden. Frauen waren zwar seit jeher in der Polizei tätig, beispielsweise als Schreibkräfte, Köchinnen oder Putzfrauen, die mitunter auch Tätigkeiten wie die Durchsuchung von Festgenommenen durchführten.7 Die Arbeit als Polizistinnen in der Schutzpolizei wurde ihnen jedoch in der BRD bis teilweise in die 1990er Jahre – je nach Region und Polizeieinheit zeitlich und inhaltlich unterschiedlich – verwehrt.8 Entscheidend für die Öffnung vieler Bereiche der Polizei für Frauen waren nicht etwa Gerechtigkeits- und Gleichberechtigungsfragen sondern Ef¿zienzabwägungen. Befürchtete Nachwuchsprobleme waren hier die Hauptantriebskraft.9 Das Ende des breiten Frauenausschlusses steht aber auch im Zusammenhang mit allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen, wie der steigenden Frauenerwerbstätigkeit und rechtlichen Veränderungen, die dem Ausschluss und der Diskriminierung von Frauen entgegenwirken sollen.
Vgl. z. B. Lorber 1999, Hirschauer 1994, Tyrell 1986, West/Zimmermann 1987. Grundlegend dazu siehe Acker 1991, Überblicke über Entwicklungen in der Frauen- und Geschlechterforschung bei Gottschall 2000 und Wilz 2002. 6 Vgl. Cockburn 1991, Knapp 1993, Gildemeister/Wetterer 1992, Lorber 1999, Gottschall 1995. 7 Vgl. Herrnkind 1999, zu ersten Frauen in der deutschen Kriminalpolizei siehe Nienhaus 1999. 8 Vgl. z. B. Werdes 1996, Würz 1993, Rother 1999, Franzke 1997, für internationale Entwicklungen siehe Manneke 1998. 9 Walter 1999, S. 356.
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Die Situation von Frauen in der Volkspolizei der DDR ist meines Wissens nach wissenschaftlich noch weitgehend unerforscht.10 In den neuen Bundesländern wurden die Polizeiorganisationen nach dem Ende der DDR sowohl personell als auch strukturell mit Hilfe der alten Bundesländer und nach westlichem Vorbild grundlegend neu organisiert. Seit der Wende gibt es für Männer und Frauen die gleiche Ausbildung und keine of¿ziellen Beschränkungen für bestimmte Tätigkeiten oder Positionen.11 Trotz rechtlich gleicher Möglichkeiten und erster gleichstellungspolitischer Maßnahmen sind gegenwärtig Frauen in bestimmten Polizeieinheiten und in Führungspositionen noch stark unterrepräsentiert. Doch auch hier sind Veränderungen sichtbar. In der gesamten brandenburgischen Polizei beispielsweise steigt der Frauenanteil seit der Wende kontinuierlich und lag zum Zeitpunkt meiner Untersuchung im Jahre 2001 bei 18,5 %.12 In dem von mir untersuchten Polizeipräsidium lag er mit 20,7 % leicht darüber und war speziell im dortigen Wach- und Wechseldienst mit 32,6 % sogar noch höher. In Hinblick auf die Hierarchieebenen ist die Tendenz jedoch ambivalent. Einerseits stieg auf den mittleren Hierarchieebenen der Frauenanteil besonders stark. Dies ist darauf zurückzuführen, dass bei den neu ausgebildeten PolizistInnen, unter denen besonders viele Frauen zu ¿nden sind, der Anteil des gehobenen Dienstes sehr hoch liegt. Andererseits ist der Frauenanteil im höheren Dienst, also auf den oberen Hierarchieebenen, teilweise rückgängig.13 Forschungen zu Organisation und Geschlecht haben auch gezeigt, dass jenseits von of¿ziellen Verboten andere Mechanismen wirken, die Frauen benachteiligen oder ausschließen. Solche lassen sich auch für die Polizei ausmachen: So sind beispielsweise Merkmale von Arbeitsplätzen, Arbeitszeit- und Laufbahnregelungen, die Organisation der Weiterbildung etc. auf typische männliche Lebenssituationen und Biographien zugeschnitten. Dadurch benachteiligen sie Personen, die Familienangehörige betreuen und pÀegen – also meist Frauen.14 In der Polizei als Männerdomäne haben sich zudem männerbündische Strukturen, Umgangsformen und Verhaltensweisen etabliert, die den Frauen die Arbeit erschweren können. Dass Polizistinnen laut einer Studie von 199715 die am häuErste Anhaltspunkte bietet jedoch die sehr kleine Studie von Gütges 1997. Tielemann 1993. 12 Einschließlich Kriminalpolizei, ohne Fachhochschule der Polizei. 13 Quelle: Auskünfte der Pressestelle des Polizeipräsidiums (16.01.2002) und des Innenministeriums Brandenburg (12.12.2001) und eigene Berechungen nach info 110, H. 4/1997. Auch in anderen Bundesländern sind Frauen in höheren Führungsfunktionen der Polizei stark unterrepräsentiert; vgl. Pluta 2010. 14 Allgemein für bürokratische Organisationen siehe Di Luzio 2000, speziell für die Polizei siehe Murck/Werdes 1996. 15 Holzbecher et al. 1997, S. 262. 10 11
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¿gsten von sexueller Belästigung betroffene Berufsgruppe ist, ist sicher nur ein besonders eklatanter Ausdruck dessen. Ein weiterer wichtiger Mechanismus, der zu Benachteiligungen führen kann, ist, dass in Organisationen (oder Teilen dieser) bestimmte Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert werden, die EinÀuss auf Verhaltenserwartungen und Identitätskonstruktionen haben.16 Gelten hier bestimmte Tätigkeiten, Sprachund Verhaltensweisen, Mimik etc. als weiblich bzw. männlich, sind die Möglichkeiten, sich als Mann bzw. Frau darzustellen und zu fühlen vorstrukturiert. Dies hat Folgen für die sozial akzeptierten Handlungsmöglichkeiten der Organisationsmitglieder. So legen Untersuchungen (fast) ausschließlich aus Männern bestehender Polizeieinheiten nahe, dass das Drohen mit Gewalt oder deren Anwendung eine wichtige Ressource zur Darstellung und Bestätigung der eigenen männlichen Identität sein kann. Diese Funktion können aber auch andere Aspekte der Polizeiarbeit wie Schutz, Verantwortung oder Gemeindebezug erfüllen.17 Neuere Studien zeigen jedoch zudem, dass Geschlecht nicht immer und in jeder Situation für die Handlungsmöglichkeiten und die Zuweisung von sozialen Chancen der Organisationsmitglieder relevant ist und sich die Situation von Frauen eher als ambivalent und nicht als durchgehende Benachteiligung beschreiben lässt.18 Gerade in Phasen verstärkten Wandels von Organisationen sind Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen möglich. Verändert sich in der Organisation Polizei das Verhältnis zur Anwendung physischer Gewalt, kann dies weitreichende Folgen haben: Es können sich neue Arbeitsinhalte ergeben, formelle und informelle Arbeitsteilungen zwischen Polizisten und Polizistinnen können sich wandeln, Verschiebungen in den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen sind möglich und andere Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit können entstehen. Ob es solche Veränderungen in der Praxis wirklich gibt und ob Frauen dabei Status und Handlungsspielraum gewinnen oder verlieren und welche Rolle Geschlecht bei der Verteilung und Ausübung von Arbeit spielt, dies habe ich empirisch erforscht.
In funktional stark ausdifferenzierten Organisationen wie der Polizei können durchaus verschiedene konkurrierende Männlichkeitsbilder und Formen der Diskriminierung von Frauen nebeneinander existieren. Vgl. Behr 2000, Behr 2004, am Beispiel des Militärs Barrett 1999. 17 Für die bundesdeutsche Polizei siehe Behr 2000, Hüttermann 2000, für internationale Erfahrungen siehe auch Martin/Jurik 1996, Messerschmidt 1993. Dass Gewalt auch außerhalb von Institutionen wie der Polizei eine wichtige Rolle für Männlichkeitskonstruktionen hat, zeigen u. a. Kersten 1995, Meuser 1999 und Messerschmidt 1993. 18 Nadai 1999, Kuhlmann et al. 2002. 16
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Deeskalation aus Praxissicht Die empirische Untersuchung über den Zusammenhang von Organisationsentwicklungen und Geschlechterverhältnissen am Beispiel der Polizei in Brandenburg, auf die ich mich im folgenden beziehen werde, führte ich im Jahr 2001 durch. Sie basierte auf einem akteurszentrierten, organisationssoziologischen Ansatz19 und war qualitativ angelegt. Das von mir gewählte sehr offene Vorgehen bot sich auch deshalb an, weil das Thema Geschlecht und Polizei in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt kaum untersucht war.20 Mit Einverständnis der Polizeiführung befragte ich während der Dienstzeit auf 2 Wachen in einer größeren brandenburgischen Stadt insgesamt 5 Frauen und 4 Männer, die sich freiwillig zu einem Gespräch bereit erklärten. Die von mir geführten teilstandardisierten, leitfadengestützten Interviews dauerten zwischen 40 und 90 Minuten und konzentrierten sich inhaltlich auf neuere Polizeientwicklungen am Beispiel von „Bürgernähe“, den Arbeitsalltag und die Zusammenarbeit von Frauen und Männern. Die transkribierten Interviews wertete ich anlehnend an die „Grounded Theory“21 aus. Die Interviews geben keine Auskunft über die realen Handlungen der Befragten, sie ermöglichen jedoch den Blick auf die die Handlungen anleitenden Einstellungs- und Deutungsmuster, Interessen, wahrgenommenen Handlungsspielräume, Erfahrungen und SelbstreÀexionen. Einige Ergebnisse der Analyse dieser Interviews möchte ich nun im Folgenden darstellen. Die deutschen Polizeiorganisationen sind jeweils länderspezi¿sch aufgebaut und in sich stark ausdifferenziert.22 Hier werde ich mich auf einen kleinen, relativ homogenen Ausschnitt konzentrieren. Die befragten PolizistInnen gehören der Schutzpolizei an und sind dort speziell im Wach- und Wechseldienst tätig. Die jüngeren haben nach ihrer Ausbildung in der Polizeischule die erste Dienstzeit (bis zu zwei Jahre) in der Bereitschaftspolizei verbracht, die vor allem in Großeinsätzen wie bei Demonstrationen oder Sportereignissen aktiv wird. Die dienstälteste Befragte war schon zu DDR-Zeiten in der Polizei tätig. Die anderen sind Vgl. Türk 1995, 1999. Erste Anregungen über die Konstruktion von Männlichkeit in der Polizei können die Arbeiten von Rafael Behr 2000, 2001 liefern, obwohl dieser sich ausdrücklich nicht als Geschlechterforscher versteht. Über die Situation von Frauen in der Polizei bieten seine Arbeiten jedoch kaum Erkenntnisgewinne. Auch Bettina Franzke 1997 konzentriert sich in ihrer Befragung auf Männer. Ein großer Schritt zur Verkleinerung der sozialwissenschaftlichen Forschungslücke machte das im Jahr 2004 abgeschlossene DFG-Forschungsprojekt „Geschlechterkonstruktion im Organisationswandel am Beispiel der Polizei“ unter der Leitung von Ursula Müller und Waltraud Müller-Franke an der Universität Bielefeld; vgl. Müller 2004. 21 Glaser/Strauss 1998, Strauss 1987, Strauss/Corbin 1996. 22 Zum Aufbau bundesdeutscher Polizeiorganisationen siehe Winter 1998.
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Quereinsteiger, haben nach der Wende den Beruf gewechselt um Arbeitslosigkeit zu vermeiden, und arbeiteten bis zum Zeitpunkt der Interviews nur im Wachund Wechseldienst. Der Arbeitsalltag der untersuchten StreifenpolizistInnen ist vor allem durch (meist unspektakuläre) Einsätze im Funkstreifenwagen geprägt. Dabei arbeiten sie in der Regel zu zweit ihnen zugeteilte Aufträge ab oder werden selbständig aktiv. Daneben verbringen sie einige Zeit auf der Wache, um beispielsweise Schreibarbeiten auszuführen.23 Gewalttätige Auseinandersetzungen spielen zwar in den Polizeigesetzen und Vorschriften sowie in der Ausbildung eine große Rolle, sind im Alltag jedoch selten. Obwohl sich StreifenpolizistInnen am unteren Ende der Polizeihierarchie be¿nden, also als BefehlsempfängerInnen bei wichtigen Entscheidungen kaum einbezogen sind, ist ihre tägliche Arbeit von viel Autonomie geprägt. Gerade für den Umgang mit der Bevölkerung sind die Kontrollmöglichkeiten der Vorgesetzten äußerst gering. Das Verhältnis zwischen PolizistInnen und der Bevölkerung stellt sich als sehr ambivalent dar: Einerseits sind sie gefragt als Unterstützung, wenn BürgerInnen ihr Recht verletzt sehen und/oder Hilfe benötigen, andererseits können die BürgerInnen selbst durch PolizistInnen als unrechtmäßig Agierende angesehen und in einem bestimmten Rahmen bestraft werden. Die Interaktion von PolizistInnen mit nichtpolizeilichen Akteuren ist asymmetrisch, d. h. Polizisten haben in ihr mehr Macht.24 Dies ist auf die ihnen zur Verfügung stehenden polizeispezi¿schen Ressourcen zurückzuführen. Sie verfügen über kulturelles Kapital25 (in Ausbildung und Praxis erworbene besondere Kenntnisse und Fähigkeiten) und über soziales Kapital, denn sie können gegebenenfalls auf die Hilfe anderer PolizistInnen und Teilen der Bevölkerung zurückgreifen. Zudem pro¿tieren sie von spezi¿schen (materiellen und symbolischen) Kapitalien der Organisation Polizei, sie nutzen deren Ausstattung mit Arbeitsgeräten, Waffen, Räumlichkeiten etc. und haben die Legitimation, in bestimmten Situationen physische Gewalt anzuwenden. Deeskalation bedeutet in diesem Zusammenhang, von „Gewaltanwendung“ abzusehen und stattdessen andere Ressourcen (wie kommunikative Kompetenz) einzusetzen, um KonÀikte zu vermeiden beziehungsweise gewaltfrei zu lösen.
23 Die Arbeitsinhalte des Wach- und Wechseldienstes differieren bspw. nach Bundesland, Urbanisierungsgrad oder Soziallagen in den Einsatzgebieten. Allgemeine Informationen siehe Geck 1996. Vgl. auch Behr 2000, Aden 1998. 24 Macht wird hier verstanden im Sinne von Max Weber als „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“, Weber 1972, S. 28. 25 Zum Begriff Kapital siehe Bourdieu 1983.
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Wahrnehmung von Gewalt Die Befragten meiner Studie berichten in ihren Erzählungen über den Wach- und Wechseldienst alle von einem sehr gespannten Verhältnis zu Teilen der Bevölkerung und von vielen potentiell eskalierenden Situationen. Offene Gewaltausübung ist in ihren Ausführungen dagegen sehr selten. In den Interviews zeigen sich jedoch große Unterschiede: Gewalt wird von einigen als durchaus wichtig eingeschätzt. So beschreibt sich ein Befragter als durch seine Position als Streifenpolizist nicht selten von Teilen der Bevölkerung bedroht und manchmal gezwungen, Gewalt einzusetzen. Seine im gleichen Aufgabengebiet arbeitende Kollegin, die Dienstälteste meines Samples, sagt dagegen zum Thema Gewaltanwendung: „da habe ich keine Erfahrung, weil ich’s ja nie hatte“. Die unterschiedliche Wahrnehmung von Gewalt legt nahe, nicht nur das Verhalten in Gewaltsituationen zu untersuchen, sondern die Entstehungsbedingungen solcher Situationen genauer zu betrachten und dabei die spezi¿schen Wahrnehmungen, Interessen und erfahrenen Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen polizeilichen AkteurInnen zu beleuchten. Alle Befragten sind sich bewusst, dass ihr eigenes Handeln entscheidend zum Gelingen einer friedlichen Interaktion zwischen Polizei und Bevölkerung beiträgt und verweisen auf Kollegen, deren unangebrachtes Verhalten zur Entstehung gewalttätiger Auseinandersetzungen geführt hat. Für die eigene Ablehnung eines solchen Verhaltens sprechen aus Sicht der Befragten einerseits spezi¿sche Gründe in der Position als StreifenbeamtIn, wie der erhöhte Arbeitsaufwand (Schreibarbeiten) und drohende Konsequenzen für die eigene Berufskarriere (durch Dienstaufsichtsbeschwerden). Andererseits sind sie in der Regel auch persönlich an einer freundlichen Interaktion mit dem polizeilichen Gegenüber interessiert. Ein kurzer Vergleich der Ausführungen des Polizeimeisters Erik L.26 (Mitte zwanzig) und seiner Kollegin, der Polizeiobermeisterin Simone K. (Mitte vierzig), soll nun kurz verdeutlichen, wie trotz gleichem Aufgabengebiet unterschiedliche Sichtweisen auf die Relevanz von Gewalt für den eigenen Arbeitsalltag zustande kommen können. Simone K. antwortete auf meine Frage zum Thema Gewaltanwendung im Dienst: Körperliche Auseinandersetzungen sind selten. Also ich persönlich habe sie selten gesehen. Wie gesagt, das ist halt eben auch immer so ein bisschen persönlichkeitsabhängig, weil jeder Kollege reagiert anders. Und meine persönliche Erfahrung dazu ist, ich kann den Leuten körperlich nicht viel entgegensetzen, maximal dass ich mit
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Die Namen der Personen sind frei erfunden.
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Anne Mangold einem Überraschungseffekt irgendwas starten könnte, aber wenn der daneben geht, ist sowieso Sense. Also folge dessen verlasse ich mich lieber auf meine Überredungskunst. Damit komme ich dann auch eher klar.
Hier wird deutlich, dass die wahrgenommenen persönlichen Fähigkeiten sehr entscheidend für das Auftreten der PolizistInnen in potentiell eskalierenden Situationen ist. Simone K. unterstreicht ihr besonderes Können im Bereich des Redens. Auf ihre hohe kommunikative Kompetenz führt sie die Seltenheit körperlicher Auseinandersetzungen zurück. Dagegen ist physische Gewalt für sie keine Handlungsalternative, da sie sich dem körperlich nicht gewachsen sieht. Auch Erik L. bezeichnet Sprache als das „höchste Gut, was wir als Polizisten haben, weil mit Sprache regelt man alles“. Doch in anderen Interviewpassagen ist zu erkennen, das er auf diesem Gebiet mit De¿ziten zu kämpfen hat. So hütete er sich vor Streitgesprächen, denen er sich oft nicht gewachsen fühlt: Dann hat man viele Streitgespräche auf der Straße wo man im Endeffekt dann sich nach einer gewissen Zeit, wenn man oft gestritten hat, dann lässt man das irgendwann sein. Dann zieht man seine Maßnahmen durch. Weil das bringt nichts. Man zerredet die ganze Sache und im Endeffekt kommt das so, dass einem das Wort im Mund umgedreht wird, beziehungsweise dann die ganze Sache umgedreht wird. Und dann liegt wieder eine Beschwerde hier.
Hier wird ein weiterer Aspekt deutlich, der für Kommunikation und Gewaltanwendung bedeutsam ist. Erik L. zieht seine Maßnahmen durch, geht also keine Kompromisse ein und nutzt stattdessen die ganze ihm in seiner Funktion als Polizist zur Verfügung stehende Breite der Handlungsmöglichkeiten, bis hin zu Gewaltanwendung aus. So berichtet er auf meine Frage nach Gewaltanwendungen im Streifendienst auch von einer gewaltsamen Festnahme eines aggressiven Verkehrssünders. Demgegenüber erzählt Simone K. nicht nur, dass sie mit „einem mehr oder weniger längeren Gespräch“ fast immer erfolgreich aufgebrachte und gewaltbereite Personen zu Ruhe und Einsicht bringen kann, sondern auch, dass sie zu diesem Zweck auf die vollständige Durchsetzung ihrer Interessen in ihrer Funktion als Polizistin verzichtet. So versucht sie „da ’n gesundes Mittelmaß zu ¿nden zwischen dem, was man erreichen will und zwischen dem Anliegen, was der Bürger hat“. Während Erik L. Gewalthandeln als Handlungsalternative in Betracht zieht (im Interview sogar nicht ohne Stolz Beispiele dafür erzählt), somit nur bestimmte Kompromisse eingehen muss und De¿zite in der Kommunikationsfähigkeit überdecken kann, sieht Simone K. diese Handlungsoption für sich nicht. Stattdes-
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sen erfährt sie kommunikative KonÀiktlösung als erfolgreiche Strategie, zu der sie für sich keine Alternativen sieht. Auch die anderen Fälle bestätigen, was hier an den beiden Fällen Simone K. und Erik L. exemplarisch dargestellt wurde: Gewaltvermeidung ist eng mit persönlichen Kompetenzen und der Bereitschaft zum Verzicht auf Teile der eigenen Handlungsmacht verbunden. Aufgrund des geringen Umfanges meines Untersuchungssamples lassen sich aber keine statistischen Aussagen darüber machen, ob sich Frauen und Männer in dieser Hinsicht unterschiedlich verhalten. Zwar lassen sich bei den von mir Befragten sehr wohl geschlechtsspezi¿sche Tendenzen in der Wahrnehmung und im Verhalten vermuten, von typischen Arbeitsweisen „der Frauen“ oder „der Männer“ lässt sich aufgrund starker Unterschiede innerhalb der Genusgruppen jedoch nicht sprechen. So distanziert sich auch ein älterer Befragter von physischer Konfrontation, in seinen Erzählungen über die eigene Arbeit spielt sie auch kaum eine Rolle. Für andere dagegen ist Gewaltanwendung ein wichtiger Teil des eigenen Berufsverständnisses. Dementsprechend sagt sein etwas jüngerer Kollege, dass es gewalttätige Situationen gibt, „wo dann eben ganz einfach auch mal das Gehirn wegschaltet und ganz einfach man mal rein geht“. Die deutlichsten Distanzierungen gegenüber Gewalthandeln als Handlungsalternative sind zwar bei den befragten Frauen zu ¿nden, dies liegt allerdings nicht immer in der Wahrnehmung der eigenen körperlichen Fähigkeiten begründet. So schätzt sich beispielsweise eine Polizeikommissarin (Mitte zwanzig) als körperlich gleich stark wie ihre männlichen Kollegen ein, distanziert sich jedoch ausdrücklich von Gewalthandlungen: „Ich bin hier nicht auf Arbeit, um irgendwelchen Leuten die Fresse zu polieren oder irgendwelche Zwangsmaßnahmen durchzuführen“. Ebenso lassen sich auch das kommunikative Verhalten und die Kompromissbereitschaft nicht als männlicher oder weiblicher Arbeitsstil pauschalisieren. Alle Befragten betonen, dass es wichtig ist, gute sprachliche Fähigkeiten zu besitzen. Vor allem bei den Männern erscheinen die geschilderten Gespräche jedoch eher standardisiert, einseitig und als unangenehm empfunden. Dennoch gibt es auch Verweise auf männliche Kollegen, die sich gern und geschickt mit der Bevölkerung unterhalten. Kompromisse werden nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern geschildert (auch sie drücken mal ein Auge zu), sie werden jedoch von den Frauen noch stärker betont. Eine jüngere Polizeikommissarin geht in ihrer Einschätzung sogar noch weiter als Simone K.: „Es gibt auch Sachen, wo man einfach sagen muss, ok, dann verliere ich halt. Das muss man auch können, man kann nicht immer gewinnen. Also man muss da auch zurückstecken können“. Diese Aussage zeigt, dass die Unterschiede in der Handlungsmacht zwischen PolizistInnen und BürgerInnen erheblich relativiert werden. In der Interaktion kann es nicht nur zu einer Kompromisslösung kommen, im Ex-
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tremfall kommen die Interessen der PolizistInnen gar nicht mehr zum Tragen, die PolizistIn verliert. Es lässt sich also resümieren, dass aus Sicht der Befragten für deeskalierendes Handeln große kommunikative Fähigkeiten, die Bereitschaft zu Kompromissen und Machtverzicht auf Seiten der PolizistInnen nötig sind. Die allgemeinen Erzählungen über Gewaltanwendung lassen neben Gemeinsamkeiten auch tendenzielle Unterschiede zwischen Männern und Frauen erkennen. Im nächsten Schritt soll gezeigt werden, welche Rolle Gewalt für Arbeitsteilungen und geschlechtliche Zuschreibungen, also Erwartungen an die Fähigkeiten und Handlungsweisen von Frauen und Männern spielt. Dies wird besonders bei den Themen Frauenstreifen und Einsätzen bei Familienstreitigkeiten deutlich. De¿zitdiskurs: Frauenstreifen Reine Frauenstreifen sind in der untersuchten Stadt keine Seltenheit. Trotzdem stellen einige Befragte fest, dass die Vorgesetzen bei der Zusammenstellung der Streifenteams Unterschiede zwischen Frauen und Männern machen. Einige sowohl männliche als auch weibliche InterviewpartnerInnen waren der Meinung, nachts sollten Frauen nicht ohne männliche Begleitung arbeiten. Damit übereinstimmend berichtet der Polizeiobermeister Torsten W. (Anfang 30), der als stellvertretender Wachdienstführer teilweise auch selbst Streifenteams zusammenstellt, dass in der Regel nachts keine reinen Frauenstreifen organisiert werden. Dies begründet er folgendermaßen: Was wir ungern machen, ist Frauen zusammen fahren lassen, weil da ist wieder das Problem Gewalt. Richtig Gewalt lösen können Männer ein bisschen besser. Ganz einfach weil wir gewalttätig auch werden können, als Frauen. Mit dem Quatschen ist in Ordnung, aber wenn es eben zur Sache geht und die stehen da beide da, kann es natürlich ’n bisschen ärgerlicher aussehen, als wenn ein Mann dazwischen steht Und darum machen wir das ungern. Am Tag ja, am Tag wenn sie normale Aufträge fahren, ist das normal. Und da wie gesagt alles gleichberechtigt. Aber sonst, in der Nacht, machen wir das ungern, weil dort das Gewaltpotential ganz einfach höher ist, durch trinken und so weiter.
Frauen können also, wie hier behauptet wird, anders als Männer, nicht gewalttätig werden. Ihre kommunikative Kompetenz wird zwar durchaus anerkannt, die Wortwahl „Quatschen“ macht jedoch deutlich, dass sie aus Sicht von Torsten W. weniger Wert hat als das Gewalthandeln. In für wichtig erachteten Bereichen, da, wo es zur Sache geht, zählt für ihn die Kompetenz der Männer, also auch
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seine eigene. Geht es nicht zur Sache, handelt es sich nur um normale Aufträge, können auch zwei Frauen zusammen ihren Dienst verrichten. Bei dieser Aufgabenzuweisung fällt erstens auf, dass im Umgang mit potentiellen Gewaltsituationen die Fähigkeit zur Gewaltvermeidung (und die dazu notwendigen Kompetenzen) weniger ausschlaggebend sind als die Fähigkeit zur Gewaltanwendung (die bei erfolgreicher Deeskalation gar nicht nötig wäre). Zweitens wenden Torsten W. und seine KollegInnen das individuelle Kriterium Gewaltfähigkeit hier nicht individuell, sondern verallgemeinernd für ganze Gruppen an. Sie nehmen keine Rücksicht darauf, ob der einzelne Mann oder die einzelne Frau diesen Kriterien wirklich entspricht. Die in den Ausführungen weiter oben offensichtlich gewordenen Unterschiede zwischen Frauen und Männern untereinander werden in diesem Kontext nicht beachtet. Neben der Zusammenstellung der Streifenteams wird, so zwei männliche Befragte, auch bei der Vergabe von Aufträgen durch die Leitstelle, die telefonisch eingegangene Notrufe weiterleitet, auf das Geschlecht der PolizistInnen geachtet. So erklärt Erik L., dass bei einer potentiell eskalierenden Situationen nicht zwei Frauen allein entsandt werden. Stattdessen schickte die Leitstelle, „entsprechende Leute hin wo sie sagen die werden damit fertig“. Wiederum werden Frauen als unfähig für Gewaltanwendungen angesehen. Frauenstreifen werden dadurch abgewertet, dass ihnen ein hoch bewerteter Teil der Polizeiarbeit verwehrt wird. Eine potentielle Symbolfunktion der Frauenstreife wird so unmöglich gemacht: Dass Frauen auch ohne die Hilfe von Männern als vollwertige PolizistInnen arbeiten können, erscheint in diesem Licht unmöglich. Am weitesten geht Peter S. mit der Annahme, dass nicht nur Frauenstreifen besondere Aufgaben verwehrt bleiben, sondern dass sogar gemischte Streifen gesondert behandelt werden: „Wenn wir jetzt bestimmte Aufträge kriegen, und der Einsatzbearbeiter der der weiß, na Schlägerei, was weiß ich fünf Mann, dann schickt er eben nicht ’n Wagen wo ’ne Frau mit drauf ist“. Hier wird der an anderer Stelle gelobte deeskalierende Beitrag von Frauen überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen. Stattdessen wird ein Bereich von ‚Männerarbeit‘ geschaffen, zu dem Frauen keinen Zugang haben. Ob diese Geschichten den realen Arbeitszuweisungen entsprechen ist an dieser Stelle nicht zu prüfen, ihre symbolische Bedeutung ist jedoch offensichtlich. Dieser Ausschluss von Frauen aus bestimmten Arbeitsbereichen und der begrenzte Einsatz von Frauenstreifen stößt auf die Zustimmung vieler Frauen. Auch eine junge Polizeikommissarin, die sich selbst durchaus als zur Gewaltanwendung fähig beschreibt, lehnt Frauenstreifen mit den gleichen Stereotypisierungen über Frauen und Männer ab, von denen sie sich selbst jedoch ausschließt. Für sie ist es „besser mit also mit ’nem Mann zu fahren, als mit ’ner Frau, also ich fühle mich dann auch mehr beschützt“. Fraglich bleibt, wie weit sich Frauen diesem Konsens über die verminderte Gewaltfähigkeit von Frauen auch entziehen können.
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Positivdiskurs: Arbeitsteilungen bei familiären KonÀikten Neben diesen Ausführungen, in denen es um die Nachteile durch verminderte Gewaltfähigkeit von Frauen geht, ¿nden sich in den Interviews auch Beispiele für besonders positive Einschätzungen der Anwesenheit von Frauen im Polizeidienst, vor allem bei Familienstreitigkeiten. Einsätze bei familiären KonÀikten kommen in den frei erzählten Alltagserzählungen dreier Frauen vor, nicht aber in denen der Männer. Angesprochen auf das Thema Frauen und Männer in der Polizei greifen aber auch drei der männlichen Befragten und eine weitere Frau auf dieses Thema zurück. Dies kann auf Arbeitsteilungen und unterschiedlichen Stellenwert dieser Tätigkeiten für das eigene Berufsverständnis hinweisen. So wird das polizeiliche Vorgehen in solchen Einsätzen auch sehr unterschiedlich geschildert. Auffällig ist, dass die befragten Männer von Handlungsroutinen berichten, in denen die Rollen von Männern und Frauen relativ starr festgelegt sind. In der konkreten Ausgestaltung sind diese Routinen jedoch teilweise vollkommen gegensätzlich. Der Polizeiobermeister Peter S. (Mitte 40) schildert die Arbeitsteilung folgendermaßen: Die Situation haben wir oft, wenn wir jetzt zum Beispiel Ehestreitigkeit haben oder so. Wenn da jetzt ein Kollege und eine Kollegin hinfährt, meistens ist es dann so, dass die Kollegin dann mit dem Mann, dass die den runter holt und ich dann mit der Frau, das trennen wir dann so. Ja, gibt es auch, die Erfah rung haben wir auch schon gemacht, wenn da eine Frau bei ist, okay, dann machen sich manche Sachen leichter.
Bei Peter S. spricht die Kollegin mit dem Mann, holt ihn runter. Der Ehemann wird also als aggressiver Part angesehen, der durch die Arbeit der Polizistin beruhigt wird. Damit wird versucht, Gewalteinsatz zu vermeiden und die Fallbearbeitung, auch für ihren männlichen Kollegen, leichter zu machen. Unterdessen beschäftigt sich der Polizist mit der Ehefrau. Anders schildern seine drei Kollegen die Arbeitsteilung. Torsten W. führt aus: Ja, die Frau redet mit der Frau. Das ist das Einfachste, also, gerade so bei Streit zwischen Mann und Frau, wo wir eigentlich nicht zuständig sind, was rein Zivilrecht. Aber man muss sie ja versuchen zu beruhigen, da redet eben der Mann mit dem Mann und die Frau mit der Frau. Weil es redet sich einfacher. Weil der Mann, der gerade mit seiner Frau gesprochen hat, kann nicht von einer Frau angesprochen werden. Dann oder in seltensten Fällen, dann kriegt er gleich wieder „eh was willst du denn“. Das ist normal. Und das ist schon ganz angenehm, wenn eine Frau da ist, die dann eben die Frau weg nimmt. Weil die öffnet sich dann auch bei einer Frau eher.
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Beim Mann, dann sagt sie vielleicht, es war gar nichts. Aber mit einer Frau dann geht das. Das ist schon vorteilhafter. Gerade in solchen Situationen, wo dann also gerade Frauen Geschädigte sind oder Frauen beteiligt sind, sagen wir mal beteiligt sind. Da ist es eigentlich sehr gut, dass eine Frau oder öfters bei ist, das ist schon ganz angenehm, weil sie eben besser untereinander reden können, als wir.
Torsten W. behauptet, dass er eigentlich für Familienstreitigkeiten nicht zuständig sei.27 Auch wenn diese Arbeit nicht in sein Verständnis von Polizeiarbeit passt, kann er sich dieser aber trotzdem nicht entledigen. Wie in der Schilderung von Peter S. wird auch hier kommunikativ versucht zu beruhigen, jedoch nicht nur den Ehemann. Im Gegensatz zu Peter S.‘ Routine sprechen hier die Männer und die Frauen jeweils untereinander. Eine andere Konstellation hält Torsten W. für unpraktikabel, da erstens ein streitender Ehemann die Autorität einer Polizistin selbstverständlich nicht anerkennen würde (Das ist normal). Zweitens wird die Kommunikation mit Frauen als problematisch erfahren. Die Tatsache, so von der Interaktion mit Frauen entlastet zu sein und unter Männern arbeiten zu können, emp¿ndet er als angenehm. Ähnlich wie Torsten W. schildern auch zwei weitere junge Kollegen die Arbeitsteilung bei familiären KonÀikten. Die Gegenwart einer Frau wird als positiv bewertet, weil sie den Männern die Interaktion mit Frauen abnimmt.28 Im Unterschied zu Torsten W. betonen die beiden jedoch, dass Frauen oft die Opfer solcher KonÀikte sind, mit denen besonders sensibel umgegangen werden sollte. Und eben dieses „gefühlsbetonte Eingehen“ wird den Kolleginnen übertragen. Dafür wird den Polizistinnen auch mehr „Verständnis“ und „Einfühlungsvermögen“ zugeschrieben. An anderer Stelle sagt auch Torsten W.: Eine Frau hat auch eine gewisse weichere Ader teilweise, so dass es geht. Bei uns ist es halt ein bisschen – man ist auch ab und zu weich, aber nicht ganz so doll. Die verstehen denn ab und zu auch den Bürger und dann wird mal Händchen gehalten Entgegen den Äußerungen von Torsten W. kann auch eheliche Gewalt strafrechtliche Konsequenzen haben. Durch seine juristische Auslegung der Situation schwächt er den Status der (meist weiblichen) Opfer. 28 In diesem Bereich, und fast nur hier, wird explizit von Frauen als nichtpolizeiliche Interaktionspartnerinnen gesprochen. Ansonsten wird in der männlichen Form (der bzw. die Bürger) erzählt, mit der aber, wie im verbreiteten Sprachgebrauch üblich, auch Frauen gemeint sein können. Dies kann einerseits darauf hindeuten, dass die Interaktion mit männlichen Bürgern besonders konÀiktträchtig ist, andererseits ist es möglich, dass eventuell vorhandene KonÀikte mit Bürgerinnen nicht so deutlich wahrgenommen und erzählt werden. Obwohl laut Polizeistatistik die meisten Straftaten von Männern ausgeübt werden, machen Frauen jedoch ein Fünftel der tatverdächtigen Personen aus (LDS Brandenburg 2000, S. 528). Ihr Anteil bei den Verkehrsvergehen wird wesentlich höher sein. Internationalen Untersuchungen zufolge gehen Angriffe gegen PolizistInnen zu 16 % von Frauen aus (siehe Ohlemacher/Rüger 2003). 27
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Anne Mangold und dann ist die Welt in Ordnung. Das sieht immer- für uns ist das, als Mann macht man das nicht so gern.
Obwohl Torsten W. auch in seiner Arbeit Elemente erkennt, in denen er weich ist, verortet er diese Eigenschaft eher bei den Frauen. Trösten und das Aufbringen von Verständnis macht er nicht so gern, denn dies widerspricht seinem Konzept von Männlichkeit. In der Variante von Peter S. ¿ndet diese Art der Selbstdarstellung als „harter“ und emotionsloser Mann kaum Platz, hier steht das Ringen um eine Deeskalation im Vordergrund. Die beschriebenen Regelungen der drei anderen Polizisten ermöglichen es ihnen dagegen, ihre Arbeit als eine Arbeit unter Männern zu präsentieren und sich darin als konform mit ihren Männlichkeitsidealen darzustellen. Dies tun sie, indem sie sich in ihren Geschichten von Frauen als die Anderen und Gefühlvolleren abgrenzen. Da solche „Gefühlsarbeit“ mit Opfern von einigen Befragten als emotional belastend beschrieben wird, würde eine Regelung, die diese Arbeit pauschal den Frauen zuteilt, in der Praxis die Arbeit von Polizistinnen sehr anstrengend machen.29 Zudem werden Männer nicht angehalten, sich wichtige soziale Kompetenzen anzueignen und diese einzusetzen. Ganz anders wird das Vorgehen in Familienstreitigkeiten von den befragten Polizistinnen geschildert. Auch die Polizeikommissarin Yvonne D. (Mitte zwanzig) schätzt die Möglichkeit einer „Rollenverteilung“, wenn sie mit einem männlichen Streifenpartner zusammenarbeitet. Dies erachtet sie besonders bei „Familienstreitigkeiten zwischen Mann und Frau“ als wichtig. Die Rollenverteilung hängt von zwei Faktoren ab: einerseits von ihrem Kollegen und andererseits von den betroffenen BürgerInnen. Zum ersten Faktor sagt sie, dass es keiner expliziten Aushandlungsprozesse bedarf: „Man muss sich da nicht groß absprechen, man das ist irgendwie drinnen, ich weiß mit dem kann ich so und so mit dem kann ich so und so und der macht lieber so und so und so so geht das“. Während in den Erzählungen der Männer die Interessen und Fähigkeiten der Kolleginnen keine Rolle spielen, wird die hier erzählte Rollenverteilung von den konkreten Kollegen abhängig gemacht. Neben den Kollegen richtet sich das von Yvonne D. erzählte Vorgehen auch nach den beteiligten BürgerInnen: Man merkt auch alleine, wenn man schon vor der Tür steht, zu wem wenden sich die Bürger mehr. Es gibt Leute, die sehen dann an dem einen mehr Verständnis als an dem andern. Und dann unterhalten sie sich mit dem halt besser. Dann weiß der andere genau, okay und kümmert sich um die anderen Leute und fertig.
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Zu solchen Ergebnissen kamen auch Franzke und Wiese 1997.
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Hier beschreibt sie es als ein potentielles Bedürfnis der BürgerInnen, lieber mit einem Mann oder einer Frau zu sprechen. Dies erleichtert die Kommunikation und die BürgerInnen fühlen sich besser verstanden. Als eine mögliche Konstellation, die besonders zur Deeskalation beitragen kann, beschreibt sie das Gespräch zwischen der Polizistin und dem Ehemann: Man kann zum Beispiel als Frau diese ganze Spannung nehmen. Wenn man sich mit dem Mann unterhält, kann man den zum Beispiel von seiner Gewaltbereitschaft runterbringen. Wenn man da zum Beispiel einen Mann mit einem Mann gegenüberstellt, kann es schon sein, dass die anfangen, ihre Kräfte da gegenseitig zu messen. Da bist du als Frau dann doch schon ein bisschen, na kannst schon das so ein bisschen runter rücken. Das ist mitunter ganz angenehm.
Yvonne D. beschreibt ihren eigenen deeskalierenden EinÀuss, den sie im Umgang mit Männern anwendet, die Gewaltbereitschaft zeigen. Doch die Ursache für Gewaltausbrüche sieht sie nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei ihren Kollegen: Diese beteiligen sich möglicherweise an einem Kräftemessen unter Männern. Damit sagt sie implizit, dass sie sich an solchen Kämpfen nicht beteiligt. Bei der beschriebenen Deeskalation arbeitet Yvonne D. also an zwei Fronten: mit gewaltbereiten Bürgern und Kollegen. An dieser Gewaltvermeidung hat sie eigene Interessen, sie kann ihre Arbeit mitunter ganz angenehm machen. Auch ihre Kolleginnen beschreiben die Einsätze bei Familienstreitigkeiten als sehr Àexibel. Um einen möglichst komplikationslosen Ablauf des Einsatzes zu gewährleisten, richten sie sich nach den Bedürfnissen der BürgerInnen. Da diese Schilderungen sich stark von denen der Männer unterscheiden, jedoch in diesen Situationen Männer und Frauen zusammenarbeiten, wird bedeutend, wer seinen Arbeitsstil in der jeweiligen Situation durchsetzten kann. Yvonne D. ist noch sehr jung, beschreibt sich an anderer Stelle als relativer Neuling und als daran interessiert, von älteren, praxiserfahrenen Kollegen lernen zu können. Auch im obigen Zitat zeigt sich, dass sie sich oft nach ihren Kollegen richtet. Auf den untersuchten Wachen sind die Frauen im Durchschnitt neun Jahre jünger30 und Neulinge haben häu¿g Schwierigkeiten, sich gegen ältere Kollegen durchzusetzen. Daher ist davon auszugehen, dass Frauen oftmals auch weniger Chancen haben, ihre Interessen und Arbeitsweisen im Zusammenspiel mit ihren Kollegen zu verwirklichen.31 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass gemischtgeschlechtliche Teams in bestimmten Situationen von Frauen und Männern als besonders vorteilhaft Auskunft der Pressestelle des Polizeipräsidiums vom 16.01.2002. Ob Frauen, auch wenn sie nicht jünger als ihre männlichen Kollegen sind, bei der Durchsetzung ihrer Interessen Nachteile habe, ließ sich in meiner Untersuchung nicht näher explorieren. Dies wäre jedoch eine wichtige Frage für weitere Forschungen. 30 31
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angesehen werden. Während hier für die Männer Geschlecht immer bedeutend bei der Arbeitsteilung von männlichen und weiblichen StreifenbeamtInnen ist und diese Arbeitsteilung festen Mustern folgt, wird Geschlecht bei den Frauen als ein potentiell einsetzbarer Unterschied angesehen und die Arbeitsteilung eher als Àexibel geschildert. Die Bedeutung des Geschlechts der PolizistInnen bei der Konfrontation mit familiären KonÀikten ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass hier die Gefahr eskalierender Gewalt besonders stark wahrgenommen wird. Mit Hilfe der Streifenkollegin können Polizisten also sowohl Gewalt vermeiden, indem sie ihre Kollegin zur Deeskalation einsetzen, als auch Gewalt ermöglichen, indem die Polizistin einen ungestörten Kontakt unter Männern gewährleistet. Frauen sehen hier Möglichkeiten, ihre deeskalierenden Fähigkeiten anzuwenden. Allerdings ist dieser Einsatzbereich von viel ‚Gefühlsarbeit‘ mit den Opfern und Gesprächen mit Frauen geprägt. Diese emotional teilweise stark belastende Arbeit übertragen Männern gern ihren weiblichen Kollegen. Die geschilderten Arbeitsteilungen werden nicht gleichberechtigt zwischen Männern und Frauen vereinbart. Stattdessen scheinen Frauen auch die Interessen ihrer Kollegen zu berücksichtigen, während Männer sich kaum nach ihren Kolleginnen richten. Damit haben Polizistinnen weniger Möglichkeiten, ihre favorisierte Arbeitsweise durchzusetzen. Fazit Abschließend fasse ich die hier vertretenen Thesen kurz zusammen: Gewaltvermeidung ist tägliche Praxis der befragten Männer und Frauen. Trotz Erzählungen über Einzelfälle und der teilweisen zentralen Stellung von Gewaltanwendung für das eigene Berufsverständnis, ist Gewaltanwendung im Alltag der Befragten sehr selten. Dies ist jedoch eher auf pragmatische Gründe zurückzuführen als auf fundierte Kenntnisse von und Interesse an von der Polizeiführung anvisierten Veränderungen. Voraussetzung für Deeskalation ist aus Sicht der StreifenbeamtInnen kommunikatives Geschick, Kompromissfähigkeit und der Verzicht auf autoritäres Auftreten. Die befragten Frauen stellen sich in den Interviews auch tatsächlich als kommunikativer, Àexibler und kompromissbereiter dar und werden auch so von ihren Kollegen beschrieben. Jedoch bemühen sich auch männliche Streifenbeamte in unterschiedlichem Ausmaße um friedliche Interaktionen mit der Bevölkerung. Trotz gewaltfähiger Frauen und Männern, die nicht an Gewaltanwendung interessiert sind, wird Gewaltfähigkeit pauschal Männern und Deeskalation verallgemeinernd Frauen zugeschrieben. So wird die Darstellung als männlicher Mann durch einzelne Gewaltanwendungen möglich. Auffällig ist in diesem Zu-
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sammenhang, dass bei Männern, die ihr eigenes Bemühen um gewaltlose KonÀiktlösung herausstellen, Gewalt dann wieder wichtig wird, wenn es um die Abgrenzung und Abwertung von Frauen geht. In den Interviews wird von informellen und formellen geschlechtsspezi¿schen Arbeitsteilungen berichtet. In den geschilderten Verfahren zur Zusammenstellung der Streifenteams und bei der Auftragsvergabe wird mit dem Verweis auf Gewaltfähigkeit, nicht jedoch auf Fähigkeiten zur Deeskalation, auf das Geschlecht geachtet. Frauen erscheinen hier als de¿zitäre Polizisten, an deren Einsatzfähigkeit Zweifel geäußert werden, Männer als die qua Geschlecht Fähigeren. Trotz der unterschiedlichen Zuschreibungen von Fähigkeiten zu Männern und Frauen und bei einigen Polizisten erkennbaren Nachholbedarf hinsichtlich kommunikativer Kompetenzen ¿ndet sich kein De¿zitdiskurs über reine Männerstreifen. Gemischte Streifenteams werden in bestimmten Situationen sowohl von Polizistinnen als auch von Polizisten als vorteilhaft wahrgenommen. In ihren Geschichten ist auch zu erkennen, dass es ein Bedürfnis der Bevölkerung sein kann, zwischen weiblichen und männlichen Polizeibeamten als AnsprechpartnerInnen wählen zu können. Polizisten in gemischten Streifenteams pro¿tieren in einigen Situationen bewusst von deeskalierenden Kolleginnen, in anderen Fällen nutzen sie die Anwesenheit weiblicher Kolleginnen auch dazu, sich von der unbeliebten und emotional belastenden Arbeit mit Frauen, Kindern und Opfern zu entledigen und „unter Männern“ zu arbeiten und dabei autoritär (und selten auch gewalttätig) auftreten zu können. Sollten solche Arbeitsteilungen tatsächlich statt¿nden, wäre damit ein Prozess wirksam, den man mit Erving Goffman als „institutionelle ReÀexivität“32 bezeichnen könnte: Arbeitsteilungen werden als natürliche Folge des Unterschiedes zwischen den Geschlechtern angesehen, wobei sie eigentlich Mittel zur Anerkennung und Schaffung dieses Unterschiedes sind. Indem Frauen und Männern unterschiedliche Aufgaben zugewiesen werden, können sie sich auf unterschiedlichen Gebieten beweisen und sich unterschiedliche Fähigkeiten aneignen. Somit werden Differenzen zwischen Frauen und Männer geschaffen und sichtbar, die dann wiederum geschlechtsspezi¿sche Arbeitsteilungen legitimieren. Für den Status von Frauen in der Organisation hat die Zuschreibung von Deeskalation zu Frauen eher negative Auswirkungen. Denn erstens ist diese Zuschreibung meist gepaart mit der Annahme, dass Polizistinnen zur Gewaltanwendung auch nicht fähig wären. In einem Umfeld, in dem noch immer die Vorstellung vorherrscht, dass ein vollwertiger Polizist bereit und fähig ist, Gewalt anzuwenden, bedeutet dies, dass Polizistinnen als zweitklassig angesehen
32
Goffman 2001.
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werden. Zum zweiten funktioniert Deeskalation nur durch einen Verzicht auf große Teile der Handlungsmacht als PolizistIn. Wird dies vor allem von Polizistinnen verlangt und ausgeübt, bleiben Machtasymmetrien zwischen Männern und Frauen unangetastet. Zwar gibt es in den Interviews auch andere Argumente, mit denen Abwertungen und Ausschlüsse von Frauen legitimiert werden (mögliche Schwangerschaften, Elternschaft, geringeres Alter), am bedeutendsten ist hierfür jedoch das Kriterium der Gewaltfähigkeit, dass eigentlich im Alltag nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Überbewertung dieses Kriteriums kann aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer diskriminieren, die einem solchen Männlichkeitsideal nicht entsprechen. So stellte eine der Befragten in diesem Zusammenhang fest, bei der Bereitschaftspolizei würden „kleine ältere Männer […] dann auch nicht so akzeptiert“. Trotz der Verbindung von Deeskalation mit Weiblichkeit wird die Existenz weiblicher Polizisten keine all zu große Auswirkung auf die Bewertung der Deeskalation im Polizeidienst haben. Denn Polizistinnen werden einerseits von vielen potentiellen Gewaltsituationen ausgeschlossen bzw. meiden diese. Andererseits arbeiten sie hauptsächlich in Begleitung von Männern, wobei nicht zu erkennen ist, dass sie sich dort (auch ihrem oft jüngeren Alters geschuldet) mit ihrem Arbeitsstil durchzusetzen vermögen. Allein die Anwesenheit von Frauen im Polizeidienst verändert also nicht den polizeilichen Umgang mit Gewalt. Dazu wäre stattdessen nötig, Ungleichbehandlungen zwischen Polizistinnen und Polizisten abzubauen und eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen zu fördern. Zudem wären neben institutionellen auch kulturelle Veränderungen nötig, die eine verstärkte Anerkennung sozialer Kompetenzen und die Abwertung von unnötiger Machtdemonstration bewirken. Dann wären auch für Männer Chancen und Notwendigkeiten da, sich stärker soziale Kompetenzen anzueignen und mit diesen dann physische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Literatur Acker, Joan 1991: Hierarchies, Jobs, Bodies. A Theory of Gendered Organizations, in: Lorber, J./Farell, S. A. (Hg.): The Social Construction of Gender, London/New Delhi, S. 162–179 Adamaschek, Bernd 1998: Hoheitsverwaltung und/oder Dienstleistungsunternehmen, in: Bandemer, S. von/Blanke, B./Nullmeier, F./Wewer, G. (Hg.): Handbuch zur Verwaltungsreform, Opladen, S. 32–41
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„Bilder vom Feind“. Die DDR-Opposition in den Fotogra¿en des Ministeriums für Staatssicherheit1 Karin Hartewig
Der Bilderberg Langsam, die Reihe fast geschlossen, bewegen sich die sommerlich Gekleideten auf den Platz zu. Einige von ihnen haben sich untergehakt. Alle tragen große Pappschilder vor sich, die ihre Oberkörper vollständig bedecken. Die Schilder zeigen Ausschnitte einer backsteinfarbenen Mauer, die von einem doppelten Stacheldraht gesichert ist. Die Demonstranten erregen öffentliche Aufmerksamkeit. Sie waren sich im Voraus dessen wohl bewusst gewesen. Aber nun blicken sie unsicher zur Seite. Kurze Zeit später werden sie „Mauer und Stacheldraht“ abnehmen und zerstören.
Abbildung 1
Demonstration gegen Mauer und Grenze, Budapest 13.8.1989
Zur Geschichte der geheimpolizeilichen Observation, zu den heimlichen Selbstbildern und zur ImagepÀege des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, siehe meine Studie: Hartewig 2004.
1
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_8, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Unter den Aufnahmen, die nach der Wende im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit gefunden wurden, be¿ndet sich auch das Polaroid-Foto der demonstrierenden DDR-Bürger, die am 13. August 1989, dem Jahrestag des Mauerbaus, in Budapest aufgenommen wurden. Es gehört zu einer ganzen Serie von Aufnahmen. Auf welchem Weg die Fotos aus Ungarn nach Ostberlin gelangten, ist nicht bekannt. Man darf aber zu Recht vermuten, dass noch im Sommer 1989 der lange Arm der Staatssicherheit in Gestalt brüderlicher Amtshelfer beim ungarischen Geheimdienst ohne Mühe bis in das ‚sozialistische Lager‘ reichte. Kooperationen und Absprachen waren unter den Geheimpolizeien seit den 1980er Jahren verstärkt worden.2 Nach dem Untergang der Diktatur zeigte die Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit, dass viele Befürchtungen von Oppositionellen und Nonkonformisten über das Ausmaß geheimpolizeilicher Aktivitäten gegen eine kritische oder sozial auffällige Minderheit wohlbegründet waren.3 Seit den 1970er Jahren hatte das MfS die mutmaßlichen Feinde der Republik, aber auch so genannte negativ-dekadente oder feindlich-negative Personen, zunehmend mit den Mitteln der Fotogra¿e ins Visier genommen. Die Stasi häufte auf diese Weise einen beträchtlichen Bilderberg an.4 Der Tätigkeitsbericht der „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU) verzeichnet nach dem Stand des Jahres 2009 insgesamt etwa 1.447.000 Fotopositive, -negative und Dias sowie rund 2.750 Filme und Videos.5 Der weitaus größte Teil dieser Bilder umfasst Observations- und Ermittlungsfotos, Bilddokumentationen, Schulungsmaterial und Übungsfotos sowie Fotos zur Identi¿zierung und Registrierung. Fotogra¿en ¿nden sich in nahezu allen Hauptabteilungen oder „Linien“, wie sie das MfS nannte,6 insbesondere aber auf der Linie II (Spionageabwehr), der Linie VI (Grenze, Tourismus und Passkontrolle), und der Linie XX (Kirche, Opposition, Kunst und Wissenschaft). Bei 2 Etwa HA VIII: „Ergebnisse von Arbeitsberatungen zwischen Delegationen der Hauptabteilung VIII und der Sicherheitsorgane der UdSSR, der VR Ungarn und Bulgarien, der CSSR sowie der VR Polen“, 14.7.1988, in: BStU, MfS-HA VIII 1897, Bl. 373–390. 3 Die Forschungen zur Geschichte des MfS in der DDR sind inzwischen zahlreich. Die beste Überblicksdarstellung: Gieseke 2001. Ferner: Koehler 1999; Childs/Poppwell 1996; Fulbrook 1995. 4 Dabei handelt es sich nahezu ausschließlich um Material der geheimpolizeilichen Abteilungen, die in die DDR-Gesellschaft hineinwirkten, Das Material der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), also des Geheimdienstes der DDR, ist in der Wendezeit weitgehend vernichtet worden. 5 Neunter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik 2009, S. 130. Neueste Informationen über die Behörde der Bundesbeauftragten und über das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit der DDR unter www.bstu.de. 6 Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit. Vorläu¿ger Aufriss nach dem Erkenntnisstand von Juni 1993. Hg. von der BStU. Reihe A, Dokumente (2/93), Berlin 1993.
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den Fotos handelte es sich meist um Auftragsarbeiten der Hauptabteilung VIII, die für Observationen, Ermittlungen und Verhaftungen zuständig war und der Hauptabteilung IX, dem strafrechtlichen Untersuchungsorgan des MfS. Hinzu kamen Aufnahmen der „Inof¿ziellen Mitarbeiter“ (IM), von denen zuletzt 174.000 für das MfS tätig waren.7 Diese Vertrauensleute und Informanten lieferten nicht nur die bekannten Spitzelberichte, sondern mitunter auch Fotos von den Personen, auf die sie angesetzt worden waren. Sie gaben auf diese Weise oppositionellen Gruppen und Sympathisierenden ein Gesicht und trugen so zu ihrer schnelleren Identi¿zierung und zur effektiveren Observierung der Szenen und Milieus bei. Hinzu kamen schließlich Fotos aus dem privaten Leben der Verdächtigten, die sich das MfS durch Beschlagnahmung oder während einer heimlichen Wohnungsdurchsuchung, verschaffte. Was hatte es mit diesen Fotos auf sich ? Wozu dienten sie ? Wie war die Fotogra¿e eingebunden in den Repressionsapparat der Stasi ? Veränderte sich dieser Apparat in vierzig Jahren und wenn ja in welcher Weise ? Und schließlich: Welches Feindbild glaubte die Staatssicherheit in den Konterfeis zu erkennen ? Das Freund-Feind-Denken Konstitutiv für die marxistische Ideologie, wie auch für die politische Praxis des MfS als „Schild und Schwert der Partei“ war ein strenge Zweiteilung der Welt in Freunde und Feinde und die moralische und emotionale AuÀadung dieser Dichotomie.8 Die Arbeiterklasse und die neue Heimat des Sozialismus standen danach einem globalen Feind, nämlich der Bourgeoisie, dem Faschismus in der Bundesrepublik, dem Imperialismus, dem Kapitalismus gegenüber. Diese Grundkonstellation galt sowohl in den Zeiten des Kalten Krieges wie auch in der Phase der Entspannungspolitik seit den 1970er Jahren. Die Behauptung, im Sozialismus selbst, seien die antagonistischen Klassenstrukturen aufgehoben, hatte weitreichende Konsequenzen für die De¿nition und Einschätzung des Feindes: Er wurde letztlich immer als äußerer Feind imaginiert, der im Innern der DDR allenfalls „willige Werkzeuge“, „Helfer und Helfershelfer“ fand, die zum falschen Tun verführt wurden oder sich aus niederen Motiven anstiften ließen. Auf diese Weise externalisierte und kriminalisierte die Staatssicherheit jede Form des politischen Widerstands gegen die SED-Herrschaft in der jungen DDR, aber auch alle späteren Formen des politischen und gesellschaftlichen Dissenses: 7 Zum IM-System des Ministeriums für Staatssicherheit ist zu empfehlen: Gieseke 2001, Kap. 4: Der Inof¿zielle Mitarbeiter – Denunziant neuen Typs, S. 108 ff.; Sauerland 2000, hier: Die IM – das Kernstück des Sicherheitsdienstes, S. 100 ff.; Miller 1999. 8 Baule 1993, S. 170–184; Bergmann 1997, S. 27–34; Schumann 1997, S. 177 ff.
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die Bürgerbewegung, Friedens- und Umweltgruppen oder jugendliche Subkulturen. Sie alle waren in den Augen der Staatssicherheit keine originären Gewächse der DDR, sondern letztlich ferngelenkte Importartikel aus dem Westen. Der äußere Feind „inspirierte“ und „organisierte“, was „feindliche Kräfte“, „feindliche personelle Stützpunkte“, „negative Elemente“ dann im Innern „realisierten“. Daher sprach das MfS auch mit dem Erstarken einer vielfältigen, aber meist systemimmanenten Regimekritik und mit dem Aufkommen der Bürgerbewegungen despektierlich stets nur von der „sogenannten inneren Opposition“, von „Menschenrechtlern“, „Friedensaposteln“ und der „sogenannten Umweltbewegung“. Daran war soviel richtig, dass sich die Bewohner der DDR, die vom MfS „unsere Menschen“ genannt wurden, beharrlich am westlichen Nachbarn orientierten. Private und verwandtschaftliche Kontakte, Rundfunk und Fernsehen und nach 1972 die politisch erwünschte Annäherung der beiden deutschen Staaten ließen Moden, Konsum- und Kulturgüter, aber auch die politischen Ideen der neuen sozialen Bewegungen zirkulieren.9 Dennoch greift eine Analyse der sozialen Bewegungen, Subkulturen und politischen Opposition in der DDR zu kurz, wenn man sie lediglich als Imitation westlicher Vorstellungen begriffe. Jenes denkwürdige Amalgam aus marxistischem Revisionismus, Sozialdemokratie, grünen und friedensbewegten Themen und linkem Protestantismus hatte mindestens ebenso viele Ideen osteuropäischer Dissidenten aufgenommen; und es antwortete auf die Verhältnisse in der DDR. Der ideologische Filter des Freund-Feind-Denkens führte zu beträchtlichen Verzerrungen der Wahrnehmung. Kennzeichnend war die verbreitete Vorstellung, der Klassenfeind sei gleichsam ubiquitär und omnipotent, und er kenne keine logistischen Probleme, um seine konterrevolutionären Aktivitäten auszudehnen und unter der Bevölkerung Zweifel, Kritik und Unruhe zu säen.10 Dazu gehörte auch die Fehlwahrnehmung, sämtliche Haltungen und Handlungsweisen in der pluralistischen westlichen Demokratie gehorchten letztlich einer zentralen strategischen Steuerung. So vergrößerte sich in den Augen der Staatssicherheit in 40 Jahren DDR die Zahl der Feinde beständig. Ihre Tarnungen, Masken und Verkleidungen schienen unerschöpÀich. Umgekehrt gelang es dem MfS, von sich selbst den Eindruck eines stets präsenten und hochgradig ef¿zienten Apparates zu erzeugen. Auf lange Sicht bestand vielleicht einer der größten Erfolge der Geheimpolizei in der DDR darin, dass sie in ihrer vermeintlichen Allgegenwärtigkeit überschätzt wurde. Nicht wenige DDR-Bürger vermuteten, von der 9 Augenfälligster Ausdruck des Warenstroms von West nach Ost, der immer auch ein Lebensgefühl transportierte, war das „Westpaket“. Siehe Härtle/Kabus 2001. 10 Auch die spätstalinistischen Säuberungen innerhalb der SED gegen „Trotzkismus“, „Zionismus“, „Sozialdemokratismus“ und „Agenten des Imperialismus“ folgten in den fünfziger Jahren Verschwörungstheorien. Vgl. hierzu meine Ausführungen in: Hartewig 2000, S. 364–372.
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Stasi observiert zu werden. Der allgemeine Verdacht, es gebe eine Àächendeckende Beobachtung, beförderte ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und der Selbstzensur. Doch über 40 Prozent derer, die nach der Wende einen Antrag auf Einsicht in „ihre Akte“ stellten, mussten feststellen, dass gar keine Akte über sie existierte.11 Der Repressionsapparat und seine Arbeit am Feind Unter dem Schutz der sowjetischen Berater widmete sich das MfS in den ersten Jahren der Gegnerbekämpfung mit brutaler Gewalt und Ef¿zienz. Schnelle Verhaftungen, stalinistische Verhörmethoden, physische Gewalt und pseudorechtsförmige Geheimprozesse prägten das Bild eines Sicherheitsapparates, der über nur wenige Mitarbeiter verfügte.12 Doch der Volksaufstand des 17. Juni 1953, die tiefste politische Krise der DDR, änderte alles. Nachdem man die Aufständischen in einer Welle von Verhaftungen isoliert und den politischen Widerstand gegen die SED-Herrschaft in den fünfziger Jahren mit Erfolg ausgeschaltet hatte,13 konzentrierte sich die Staatssicherheit darauf, ihr Informationssystem zu verbessern. Man wollte in Zukunft frühzeitig vor Ereignissen dieser Art gewarnt sein.14 Die SED forderte im Herbst 1953 von ihrer Geheimpolizei „ein objektives Bild über die wirkliche Lage in den Betrieben, unter der Bevölkerung und beim Feind“. In den Parteien und Massenorganisationen, in der FDJ, in den volkseigenen Betrieben, in der Landwirtschaft, im Transportwesen, in allen Einheiten der Volkspolizei, in der Kirche wollte man die „Schädlingstätigkeit, Sabotage und Diversion“ aufspüren. Das MfS antwortete mit der stetigen Ausdehnung des Apparates und der Zahl seiner Zuträger und Informanten. Seit dem Mauerbau verdoppelte sich der Personalbestand der Hauptamtlichen etwa alle zehn Jahre: 1961: 20.000; 1971: 45.000 und 1982 schließlich mehr als 85.500. Bis zum Ende der DDR brachte es die Staatssicherheit zu einer beträchtlichen Entfaltung ihres Überwachungsapparates: Sie hatte zuletzt knapp 91.000 Hauptamtliche Mitarbeiter, 174.000 Inof¿Erster Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1993, S. 52. Bis dahin waren 600.000 Anträge gestellt worden. 1995 waren 50 Prozent der Antragsteller (950.000) vom MfS nicht erfasst. Vgl. Zweiter Tätigkeitsbericht, Berlin 1995, S. 11. 12 Das MfS hatte 1950 2.700, im zweiten Jahr 4.500 hauptamtliche Mitarbeiter. 1953: 12.630 Hauptamtliche und 18.760 GI; 1954: 14.000 Hauptamtliche und 30.000 GI. Sie wurden seit 1968 IM genannt. Siehe Gieseke 2000, S. 552. 13 Im Zusammenhang mit dem 17. Juni kam es zu 7.663 Verhaftungen. Davon wurden 1.240 Personen verurteilt, zwei von vier Todesurteilen wurden vollstreckt. 14 Gieseke 2001, S. 62 ff. 11
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zielle Mitarbeiter (IM), eine durchaus erwünschte Fluktuation unter den IM von etwa 10 Prozent jährlich und eine „IM-Dichte“ von einem IM pro 100 Bewohner der DDR.15 Mit dem Ausbau des Sicherheitsapparates leitete das MfS eine Verschiebung vom Repressions- zum Kontrollorgan ein. Auf den ersten Blick ist es verwunderlich, dass die Geheimpolizei auch nach 1961 so stark expandierte. Doch das Debakel des 17. Juni blieb der Staatssicherheit bis zum Untergang der DDR gegenwärtig. Nichts pointierte das Trauma der Niederlage besser als eine Dienstbesprechung im Büro Erich Mielkes, dem langjährigen Minister für Staatssicherheit, im Herbst 1989. Mielke stellte die bange Frage: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht ? !“ Die Antwort, die ihm ein hochrangiger Militär des MfS gab, schien ihn kaum zu beruhigen: „Der ist morgen nicht, der wird nicht statt¿nden, dafür sind wir ja auch da.“16 Opposition, jede Form moderater Kritik außerhalb der SED und selbst nonkonformistisches Verhalten berührten in der DDR sofort die Frage nach der politischen Legitimität des zweiten deutschen Staates. Zu den größten Herausforderungen des MfS wurden in den folgenden Jahren aber Ereignisse anderer Art: der Prager Frühling 1968, die Entspannungspolitik Willy Brandts, der KSZE-Prozess und das Erstarken der Friedens- und Umweltbewegung in den achtziger Jahren.17 Während des Prager Frühlings bekämpfte die Staatssicherheit jede Perspektive eines dritten Weges, die den Sozialismus grundsätzlich bejahte, aber verändern wollte.18 Man fürchtete eine Kritik an der führenden Rolle der SED und man sah eine schleichende „Sozialdemokratisierung und „Liberalisierung“ der sozialistischen Gesellschaft heraufziehen. Die Entspannungspolitik Willy Brandts, die seit dem Grundlagenvertrag von 1972 eine Vielzahl an Kontaktmöglichkeiten zwischen den Bewohnern der beiden deutschen Staaten schuf, wurde in den Augen der Staatssicherheit vollends zum Sicherheitsrisiko, weil nun die Möglichkeiten der getarnten feindlichen EinÀussnahme dramatisch wuchsen. Andererseits erschwerten die „neuen Bedingungen des Klassenkampfes“ eine brachiale oder spektakuläre Antwort der Stasi auf solche „feindlichen Angriffe“. Schließlich war der SED-Führung daran gelegen, den politischen Dialog in Zeiten des „Wandels durch Annäherung“ nicht abreißen zu lassen. Darüber hinaus hatte die DDR endlich einen nennenswerten Gipfel diplomatischer Anerkennung erklommen, als sie 1975 die Schlussakte von Helsinki unterzeichnete. Darin verpÀichtete sie sich, die Menschenrechte und auch das Recht auf Freizügigkeit, zu achten und auf politische Verfolgung zu verzichten. Man schätzt, dass in 40 Jahren insgesamt mindestens 600.000 Personen eine Zeit lang als IM für die Staatssicherheit tätig gewesen waren. Siehe Müller-Enbergs 1996, S. 7. 16 Protokoll der Dienstbesprechung des Ministers am 31.8.1989, zitiert nach Thomas Auerbach: Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Internierungslager des MfS. Hg. vom BStU, Reihe B: Analysen und Berichte, Berlin 1994, S. 7. 17 Siehe Poppe u. a. 1995; Neubert 1998. 18 Die bekanntesten Beispiel sind Robert Havemann und Rudolf Bahro, vgl. Neubert 1998., S. 201 ff. 15
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Der innenpolitische Preis für den außenpolitischen Erfolg war beträchtlich. Die Zeit der schnellen Verhaftungen und kurzen Prozesse war passé. Gefragt waren von nun an die geheimpolizeilichen Instrumente der Prophylaxe, Prävention und Vorbeugung und die subtileren Methoden der lautlosen, nichtöffentlichen Repression im Vorfeld einer Verhaftung und vor einem möglichen, aber oftmals politisch unerwünschten Strafprozess. Der „Maßnahmenstaat“ veränderte sein Gesicht, und sein Exekutivorgan, das MfS, berief sich dabei zunehmend auf eine pseudodemokratische CamouÀage: die „sozialistische Gesetzlichkeit“.19 Obwohl es auch in den 1970er Jahren immer wieder zu Verhaftungen kam, kann als zentrale Strategie des MfS im Abwehrkampf gegen soziale und politische Abweichung in der Honecker-Ära die „Zersetzung“ gelten.20 Die Staatssicherheit versuchte fortan, subkulturelle Milieus wie die Rocker, Punker oder die Skinheads, neue soziale Bewegungen und die politische Opposition zu disziplinieren, einzuschüchtern und jegliche Gruppenbildung und Vernetzung zu atomisieren, und unwirksam zu machen, also zu zersetzen. Doch zunächst musste sie ihre Gegner kennen und erkennen. Unter den angewandten Methoden und Maßnahmen kam der visuellen Überwachung, also der „operativen Fotogra¿e“ eine herausragende Bedeutung zu. Sie war Teil jener anonymer, Kontrollansprüche, die sich gleichwohl gezielt gegen einzelne richtete, weil die Vertreter der Staatsmacht mit der Persönlichkeit, der Privatsphäre, dem sozialen Umfeld und mit den Gewohnheiten des mutmaßlich verdächtigen Individuums vertraut waren. Öffentliche und geheime Bilder vom Feind Frühzeitig ging die Staatssicherheit in die bildpropagandistische Offensive und suchte ihr Heil in der Konterpropaganda. Eine Strategie, die später etwas euphemistisch Öffentlichkeits- und Traditionsarbeit genannt wurde, nahm in den 1950er Jahren ihren Anfang. Plakate warben nach dem 17. Juni 1953 für öffentliche Ausstellungen der Staatssicherheit. In diesen Ausstellungen präsentierte sich das MfS als entschlossener, hoch motivierter, dynamischer und erfolgreicher Abwehrdienst gegen alte Nazis und SS-Leute, gegen westliche Spione, Saboteure und Brandstifter und schließlich gegen sogenannte konterrevolutionäre Terrororganisationen wie das Ostbüro der SPD, den „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ oder die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“. Gezeigt wurden in diesen Leistungsschauen neben erbeuteten Objekten und vermeintlichen Beweismitteln vor allem Ermittlungsfotos und Fotos der Angeklagten in StrafproZur Ritualisierung der Scheinparlamente im Sozialismus siehe Patzelt 2001. Zum Nebeneinander von Maßnahmen und Normenstaat bezogen auf das „Dritten Reich“, siehe Fraenkel 1974 [1940]. 20 Vgl. Pingel-Schliemann 2002.
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zessen, die mit kurzen Zitaten und Zeitungsausschnitten kombiniert wurden. Öffentlich präsentierte sich das MfS niemals – auch in späteren Jahren nicht – als Geheimpolizei gegen die eigene Bevölkerung, sondern stets als Abwehrdienst gegen äußere Feinde oder als Kundschafter im Dienste des Sozialismus, sofern die Auslandsspionage gemeint war. Stets bediente sich die Staatssicherheit der althergebrachten Bildwelten von feindlichen Agenten, Spionen und gerade noch entlarvten Saboteuren aus dem Westen.
Abbildung 2
Plakatwerbung des MfS nach dem 17. Juni 1953, 1955
Eine Ausstellung zum 35. Jubiläum des MfS, „Dem Feind keine Chance“, bewegte sich auch im Jahre 1985 ganz auf der Ebene traditioneller Abwehrarbeit. Kritiker und Oppositionelle der 1970er und 1980er Jahre waren in der Öffentlichkeit nicht bildwürdig. Im Gegenteil als Staatsfeinde ver¿elen sie der „damnatio memoriae“, die jegliche Namensnennung oder eine Präsentation von Fotos vermied.21 Fotos von aufgegriffenen „RepublikÀüchtlingen“ konnten hingegen gezeigt werden, weil sie zur Propaganda gegen westdeutsche „Menschenhändlerbanden“ taugten. 21 Seit der römischen Antike wurden Staatsfeinde mit der Verbannung, manchmal mit dem Tode bestraft. Ihr Vermögen wurde eingezogen, gelegentlich wurde ihr Haus zerstört. Ferner wurden Memoriastrafen (Bildstrafe, Namensstrafe) angewandt. Der Staatsfeind durfte nicht in heimischer Erde bestattet werden, und es war verboten, um ihn zu trauern. Siehe Vittinghoff 1936.
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Im Gegensatz zum öffentlichen Gebrauch veränderte sich der interne Einsatz der Fotogra¿e in vierzig Jahren. In den ersten beiden Jahrzehnten blieb die Fotogra¿e im Wesentlichen auf die klassischen Anwendungsbereiche der kriminalpolizeilichen Arbeit beschränkt. Für Ausbildungszwecke fasste ein Text aus dem Jahr 1952 ihre Einsatzmöglichkeiten zusammen.22 Die Fotogra¿en von Häftlingen und die Einrichtung einer Häftlingskartei wurden darin als Mittel zu ihrer späterer Identi¿zierung empfohlen. Bei dieser Gelegenheit wies der Autor darauf hin, dass Häftlinge nicht unrasiert oder „durch Kopfverletzungen (Verbände) entstellt“ zu fotogra¿eren seien. Das MfS als pseudostrafrechtliches Untersuchungsorgan bediente sich der traditionellen erkennungsdienstlichen Methode nach dem „System Bertillon“. Zur Inventarisierung des Menschen hatte der Pariser Polizeipräfekt Alphonse Bertillon im 19. Jahrhundert ein Verfahren erfunden, das bald seinen Namen tragen sollte. Die Katalogisierung der sogenannten ‚unveränderlichen Merkmale‘, und die Fotogra¿e des Verhafteten mit einer speziellen Täterlichtbildkamera – rechtes Pro¿l, en face, linkes Halbpro¿l – dienten seitdem der Identi¿zierung von Kriminellen.23 Konventionell kriminalpolizeilich zu nennen ist auch der Einsatz der Fotogra¿e zur Sicherung von Beweismitteln und Spuren und zur Dokumentation von Tat- und Ereignisorten, die mit Orientierungsfotos beginnen sollte, um nach den Übersichtsfotos bei den Detailfotos zu enden. Für die erkennungsdienstliche Praxis wurde die besondere Bedeutung der sogenannten „stummen Zeugen“ und ihre fotogra¿sche Sicherung und Auswertung betont. Da auf Zeugenaussagen kein Verlass sei und „selbst Geständnisse keine sicheren Beweise sind“, wurde die besonders gründliche Dokumentation von Ereignisorten empfohlen. Denn: „Agenten, Spione und Saboteure schrecken nicht vor den gemeinsten und verbrecherischsten Mitteln wie Mord, Brandstiftung, Sprengstoffanschlag, Attentate und den verschiedensten Fälschungen zurück.“ Und da der Feind geschult sei und über wissenschaftliche und technische Kenntnisse und Mittel verfüge, könne eine erfolgreiche Bekämpfung durch das MfS ebenfalls nur in der „Anwendung und Ausnutzung wissenschaftlicher und technischer Hilfsmittel“ bestehen.24 Konventionelle Polizeiarbeit wurde auf diese Weise zur „sozialistischen Kriminalistik“ aufgewertet.25 Und sie wurde letztlich defensiv, als ideologische Notwehr legitimiert.
„Anwendungsmöglichkeiten der Fotogra¿e und einige Hinweise bezüglich der Anwendung erkennungsdienstlicher Maßnahmen.“ 11.3.1952, in: BStU, MfS-JHS 50151. 23 Siehe: Regener 1999, S. 131 ff.; Cole 2001, S. 32 ff. 24 Anwendungsmöglichkeiten, Bl. 49 f. 25 So auch der Titel des späteren Standardlehrbuches für Universitäten und Hochschulen der DDR: Sozialistische Kriminalistik 1986. Band 1 befasste sich mit Kriminaltaktik. 22
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In allen Abteilungen des MfS kam der Einübung in die Techniken der Identi¿zierung eine zentrale Bedeutung zu. Erkennen, Beschreiben, Klassi¿zieren und Wiedererkennen wurden in der Schule des Sehens mit Hilfe von physiognomischen Musterbüchern, zunehmend aber auch an beliebigen Porträt- und Gruppenfotos geübt. Dabei kam dem Training von Personenbeschreibungen, eine besondere Bedeutung zu. Identi¿zierte Feinde wurden in Bildermappen gesammelt. Ein solches Album voller Porträtfotos stellte die Staatssicherheit von Funktionären und Mitgliedern der „Zeugen Jehovas“ 1952 zusammen. Die Religionsgemeinschaft war 1951 in der DDR verboten worden, weil die SED sie als mutmaßliches Einfallstor amerikanischer „Agenten“ betrachtete. Auch von oppositionellen Gruppen fertigte das MfS in den achtziger Jahren Fotoalben an. Zwar fehlte der Staatssicherheit das kriminalanthropologische Interesse eines Cesare Lombroso, der nach dem „geborenen Verbrecher“ suchte.26 Doch mangelte es ihr nicht an jener Form von Sozialrassismus, der Nonkonformisten und politisch Andersdenkende schnell als „Asoziale“ und „negativ-dekadente Elemente“ abstempelte. Als die Staatssicherheit ihren Apparat zum Kontrollorgan ausbaute, setzte zeitgleich eine Verwissenschaftlichung der geheimpolizeilichen Fertigkeiten ein. Aus der praktischen Arbeit heraus entstanden Diplomarbeiten und seit 1968 sogar Dissertationen an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule. In vielen Quali¿kationsarbeiten entwickelten die Kursteilnehmer Methoden zum effektiveren Einsatz der Fotogra¿e, etwa bei der Personenbeobachtung, bei heimlichen Wohnungsdurchsuchungen oder bei der Kontrolle westlicher Botschaften in der Hauptstadt der DDR. Bei der „operativen Fotogra¿e“ konnten die Mitarbeiter der Staatssicherheit ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Ja, sie waren dazu angehalten, „jeglichen Schematismus zu vermeiden und einen originellen, der Situation angepaßten Weg auszuarbeiten“. Dies galt als „schöpferischer Prozeß“. Der Einsatz der offenen und maskierten Fotogra¿e wurde als vielseitige und selbständige Tätigkeit begriffen. Sie verlangte Reaktionsvermögen und Gespür für geheimpolizeilich bedeutsame Situationen. „Handlungen lesen können“ nannte man das. Auch bei den technischen Kräften war Phantasie gefragt. Die Kamera-Tarnungen – Kleidungsstücke, Handtaschen, textile Einkaufsbeutel, Aktentaschen, Motorradhelme oder Autos –, die vom operativ-technischen Sektor (OTS), einer Spezialabteilung des MfS, präpariert wurden, waren oft Prototypen. Jederzeit willkommen waren aber auch Verbesserungen und Ideen aus den Reihen der SchnüfÀer, die „Neuerervorschläge“. Die Er¿ndungen, die nicht selten zu Ehren eines SED-Parteitags in der
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Zu Cesare Lombrosos Verbrecheralben des 19. Jahrhunderts, siehe Regener 1999, S. 174 ff.
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Abteilung „Neuererwesen“ der HA VIII eingereicht wurden, waren Geld wert und wurden prämiert. Ganz unter dem Vorzeichen der „Verwissenschaftlichung des Sozialismus“ stand die allmähliche Professionalisierung des geheimpolizeilichen Beobachtens. Der Autor einer Diplomarbeit, die 1969 an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam angenommen wurde, gab folgendes Beispiel aus der Praxis: „Das Objekt war über das Wochenende auf einem Campingplatz zu beobachten, wobei alle Kontaktaufnahmen zu anderen Personen fotogra¿sch zu dokumentieren waren. In Vorbereitung der Beobachtung wurde dazu in der Nähe des Zeltes vom Objekt ein Zelt für die Beobachter aufgebaut. Das Zelt diente den Mitarbeitern als Unterkunft und gleichzeitig als getarnter Aufenthaltsort. Aus ihm konnte in verschiedene Richtungen sowohl beobachtet, als auch fotogra¿sch dokumentiert werden (offene Kamera mit Teleobjektiv). Aus einem anderen Blickwinkel kam eine abgeparkte Krad-Beiwagenmaschine mit zwei eingebauten Kameras – mit Normal- und Teleobjektiv – zum Einsatz. Die Kameras konnten aus dem Zelt mit Fernsteuerung ausgelöst werden. Ein Mitarbeiter, legendiert als Landschaftsmaler (mit entsprechenden Fachkenntnissen), kam in ca. 40 m Entfernung vom Objekt zum Einsatz. Seine Tätigkeit als Maler war so legendiert, daß er sich dort längere Zeit aufhalten konnte. In seinem Malerkoffer befand sich eine eingebaute Kamera mit Teleobjektiv. Der Koffer übernahm gleichzeitig die Funktion eines Fotostativs. Weiterhin standen den Beobachtern die Fotomodelle ‚Sturzhelm‘, ‚Feldstechertasche‘ und ‚Strandtasche‘ zur Verfügung.“27
Der Hauptmann war bestrebt aufzuzeigen, wie die Mitarbeiter des MfS alle sich bietenden Möglichkeiten zur fotogra¿schen Dokumentation „allseitig nutzen“ können. Auch in der alltäglichen Praxis der Beobachtung stiegen die Anforderungen. Unter Anleitung ihrer Vorgesetzten schwärmten die unteren und mittleren Chargen aus, um das Handwerk des konspirativen Fotogra¿erens zu erlernen und zu trainieren. Die anschließende Auswertung erbrachte, wie es scheint, anfangs mehr Kritik als Lob. Der häu¿gste Kommentar der Schulungsleiter lautete „Zielen üben !“. Bereits 1972 war man an der Juristischen Hochschule des MfS, der Meinung, eigentlich dürfte es keinen operativ tätigen Mitarbeiter geben, der nicht fotogra¿eren kann. Ein Dozent pointierte dies in seiner Vorlesung wie Hptm. Weißbach: „Die Mittel und Methoden der fotogra¿schen Dokumentation und ihre Anwendungsmöglichkeiten bei der Durchführung von Beobachtungen an Personen in der Bewegung“, 1969, in: BStU, MfS-GVS 160–236/69, Anlage 6, S. 3 f. 27
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folgt: „Die Fotokamera in der Hand des Tschekisten ist eine wichtige Waffe im Kampf gegen den Feind, die häu¿ger, u. U. auch effektiver eingesetzt werden kann als die Dienstwaffe, die wir ständig tragen und deren Handhabung wir ständig trainieren.“28 Fotogra¿eren anstatt zu schießen, geduldig beobachten, ermitteln, kontrollieren und zersetzen anstatt mit brachialer Gewalt schnell zuschlagen und verhaften – die Staatssicherheit griff zu subtileren Methoden. Visual Turn Seit den 1970er Jahren wandte die Geheimpolizei zunehmend geheimdienstliche Mittel zur „Informationsgewinnung“ an: Neben den IM, der Postkontrolle, der Telefon- und Raumüberwachung kam vermehrt die Fototechnik zum Einsatz. Es kam zum „visual turn“. Seitdem die Politik des „Wandels durch Annäherung“ eine Übersiedlungsbewegung ausgelöst hatte, nahm die Zahl der „Vorkommnisse“ an der Grenze und die Zahl der Fluchtversuche zu. Insbesondere die Berliner Mauer erschien in den überaus zahlreichen Fotogra¿en der Staatssicherheit als Raum, den „Demonstrativtäter“ von West und Ost zur politischen Provokation missbrauchten. Menschliche Tragödien und politische Happenings ereigneten sich an der Grenze, die – von beiden Seiten aus – unablässig fotogra¿ert wurde. Jede einzelne gescheiterte RepublikÀucht wurde vom MfS als Straftat in Berichten und Bildern dokumentiert. Für die Aufnahmen wurde die Tat nachgestellt, als ob die Aussagen und Geständnisse noch nicht genügten. Da sitzen zwei Personen, denen die Flucht über die Ostsee misslang, in einem Schlauchboot. Doch das Schlauchboot ist in einer Garage plaziert. Menschen krümmen sich im Kofferraum von Autos. Seltsame und groteske Schauspiele für die Staatssicherheit waren dies. Die Beweisaufnahme wurde zur Demütigung, bevor es ins Untersuchungsgefängnis des MfS ging, aus dem der Weg in den Westen meist nur durch den „Häftlingsfreikauf“ führte.29 Aufgrund von ersten Verdachtsmomenten oder Hinweisen sammelte der Sicherheitsapparat Informationen über politisch oder sozial auffällige Personen.30 Dabei ging es keineswegs um eine Àächendeckende Beobachtung – eine Aufgabe, die gar nicht zu leisten gewesen wäre. Man konzentrierte sich auf „Schwerpunkte“. In den 1960er Jahren waren dies noch immer die besonders zu sichernden Institutionen des sozialistischen Gemeinwesens, in die sich der Feind eingeschlichen 28 Oberstleutnant Siebert: Vorlesung „Die mit Hilfe der Fototechnik in der operativen Arbeit zu lösenden Aufgaben und einige sich daraus ergebende Probleme des Einsatzes spezieller fotogra¿scher Mittel und Methoden“, 1972, in: BStU, MfS- JHS 866/72, Bl. 16 f. 29 Rehlinger 1991. 30 Raschka 2001, S. 21 ff.; Herz 1996.
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haben konnte: die volkseigenen Betriebe, das Verkehrs- und Nachrichtenwesen, der Staatsapparat, die gesellschaftlichen Organisationen, die Landesverteidigung. Eine Veränderung markierte in den sechziger Jahren die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit für die Jugend, die vor den vielfältigen verderblichen EinÀüssen des Klassenfeindes geschützt werden sollte. Mit der Öffnung der DDR zum Westen kam es schließlich zu einer explosionsartigen Ausdehnung der Schwerpunkte. Nun standen vor allem die Sicherung der Grenze und umgekehrt die „Fluchtund Ausreisebewegung“, der „Polittourismus in die DDR“, zunehmend aber auch Künstler und Literaten, die allenthalben sprießenden subkulturellen Milieus, die Kirche und die politischen und sozialen Bewegungen im Zentrum des Interesses.
Abbildung 3
Heimliche Observation von Wolf Biermann, Berlin 1970er Jahre. Sig. BStU HA XX Fo 144
In „Operativen Personenkontrollen“ (OPK) sollte festgestellt werden, ob man es bereits mit Gegnern der SED-Regimes zu tun hatte. Persönlichkeitsbild, Ansichten, Gewohnheiten, Aktivitäten und Freundschaften wurden „aufgeklärt“. Entwendete Passfotos zur Identi¿zierung der Betroffenen und Observationsfotos der HA VIII, reicherten die Akten an. Die „OPK“ stellte ein erstes Instrument der Feindbekämpfung dar. Hier wurde vor allem breit gesammelt. Das Ergebnis dieser Sammelwut war aber noch offen, weil am Ende die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, oder die Überführung der „OPK“ in einen „Operativen Vorgang“ (OV), oder sogar eine Anwerbung des Betroffenen als Inof¿zieller Mitarbeiter stehen konnte. In den 1980er Jahren brachte es das MfS auf jährlich etwa 8.000 operative Personenkontrollen, von denen ca. 700 schließlich in einen „operati-
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ven Vorgang“ mündeten.31 Die allermeisten der „operativen Vorgänge“ wurden jedoch eingeleitet, ohne dass zuvor eine förmliche „OPK“ angesetzt worden war. Auf der Grundlage so genannter „Eröffnungsberichte“ ergänzte die Staatssicherheit darin gezielt die vorhandenen Bausteine zur Biographisierung des Feindes. Sie sammelte weiteres Material zur Person, Familienverhältnissen und beruÀichem Werdegang und differenzierte das Pro¿l feindlicher Aktivitäten durch IMBerichte und Observationsfotos. Auch private Fotos gelangten in die Akten. So belieferte z. B. IM „Karin Lenz“, die seit 1983 Mitglied der Berliner Gruppe „Frauen für den Frieden“ war, ihren Führungsof¿zier mit Aufnahmen von der jährlichen Friedenswerkstatt und von Festen der Gruppe, die sie als begeisterte Foto-Amateurin angefertigt hatte.32 In „politisch-operativen Zielstellungen“ wurde genau beschrieben, welche Paragraphen des Strafgesetzbuches gegen die Observierten in Anwendung gebracht werden sollten, welche Beweise hierzu auf welche Weise gesammelt oder ¿ngiert und welche „Zersetzungsmaßnahmen“ ergriffen werden sollten, um einen Gruppenzusammenhang zu zerstören oder einzelne Personen psychisch zu terrorisieren. Von Zeit zu Zeit hielt das MfS die Ergebnisse der Arbeit in „Sachstandsberichten“ und Fotodokumentationen fest, bis die Zersetzungsarbeit im Sinne des MfS erfolgreich zur Neutralisierung des Gegners oder, seltener, zu seiner Verhaftung führte. In den achtziger Jahren wurden etwa 5.000 operative Vorgänge jährlich bearbeitet, von denen vermutlich 20.000 bis 25.000 Personen betroffen waren.33 Noch immer diente die Fotogra¿e der klassischen Identi¿zierung, der Sicherung tatsächlicher Beweismittel und der Dokumentation von Tatorten und Ereignisorten. Doch zugleich wurde sie zum herausragenden Medium der Ausforschung. Den Fotos der Verdächtigten kamen mitunter geheimnisvollere Qualitäten zu, die hinter der Evidenz des Sichtbaren zu liegen schienen. Nicht wenige Aufnahmen enthielten für das angestrengte Auge des geheimpolizeilichen Betrachters Botschaften wie diese: „Noch ist nichts zu sehen …“ oder „Auf den ersten Blick sieht es harmlos aus, aber …“ Die Fotogra¿e und eine hochgradig distanzierte und verschleiernde Sprache der Bürokratie verhalfen der Staatssicherheit zu einem kalten Blick auf den Gegner, für dessen Ausschaltung andererseits so starke Emotionen eingefordert wurden: „Abscheu“, und „Hass“ gegen den Feind zu hegen und „Unversöhnlichkeit“ im Klassenkampf zu üben, gehörte zu den feststehenden Topoi der internen wie der öffentlichen Agitation. Die zunehmende Verbreitung des Mediums Fotogra¿e in der geheimpolizeilichen Praxis – etwa bei heimlichen Wohnungsdurchsuchungen – diente darüber hinEisenfeld 1995, S. 157–176; hier S. 161. Siehe Havemann/Kukutz 1990. 33 Eisenfeld 1995, S. 161. 31
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aus im doppelten Sinne einem visuellen Panoptismus. Einerseits steigerte sich die Allmachtsphantasie der Staatssicherheit bis zur totalitären Vorstellung von der Inventarisierung des lebenden und toten Inventars der gesamten DDR in prophylaktischer Absicht.34 Andererseits konnten sich die Objekte der Beobachtung – ganz wie im Jeremy Bentham’schen Modell des Beobachterhauses – nie sicher sein, wann sie überwacht und fotogra¿ert wurden und wann sie sich selbst überlassen blieben. Aus dieser Grundstimmung wurde allzu schnell die Vermutung einer allgegenwärtigen Staatssicherheit. End-Spannung In ihren ideologischen Einschätzungen blieb die Staatssicherheit bis zuletzt befangen in Verschwörungs- und Agententheorien, die tendenziell zu einer Überschätzung oppositioneller Gruppierungen führten. Zugleich wurde sie mit den Jahrzehnten immer professioneller in der empirischen Arbeit der geheimpolizeilichen Beobachtung und Ermittlung. In der realen Verfolgungspraxis waren der Stasi in den 1970er und 1980er Jahren jedoch aus Gründen der Parteiräson die Hände gebunden. Als „Schild und Schwert der Partei“ hatte sie den Primat des Politischen, den die SED zur Maxime erhob, loyal mitzutragen. Die Spannung, die in dieser Konstellation angelegt war, entlud sich auf unterschiedliche Weise. Einen politischen Ausweg aus dem Dilemma eröffnete die Möglichkeit der Abschiebung missliebiger Personen in den Westen gegen Devisen, wovon zunehmend Gebrauch gemacht wurde. Die MfS-Zentrale hingegen vertraute auf die stetige Expansion und Modernisierung des Apparates. Und sie setzte auf die Perfektionierung seiner Arbeit als Organ der Beobachtung, Ermittlung, Untersuchung und Zersetzung. Eine solche Berufsauffassung war aber in der Spätzeit der DDR den Mitarbeitern auf Bezirks- und Kreisebene immer schwerer zu vermitteln. Frustration breitete sich aus. Die Rede des Leiters des MfS-Untersuchungsorgans (HA IX), Generalmajor Fister, die dieser auf einer erweiterten Leitungssitzung der Grundorganisation der SED-Kreisleitung im November 1987 gehalten hatte, verdeutlicht diese Friktion. Mit dem Anwachsen der Friedensbewegung auf der ganzen Welt und der neuen Politik Gorbatschows sei auch die Stasi konfrontiert. Die tschekistische Arbeit sei komplizierter geworden. Und er führte aus: „Im Prinzip bejaht z. B. jeder politische oder ökonomische Kompromisse im Interesse der Erreichung strategischer Ziele. Aber wenn aktuelle Kompromisse oder erfor34 Zur Idee der Verwandlung von Disziplinarprogrammen des Ausnahmezustands in politische Technologie, vgl. Foucault 1977, Kap. III.3: Der Panoptismus, S. 251 ff.
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Karin Hartewig derliche politisch-taktische Festlegungen zu Konsequenzen in der tschekistischen Arbeit führen, dann gibt es Fragen, zeitweilige Unklarheiten bis zu Unverständnis und Unsicherheit. […] Fragen in den Bezirken: Wann schlagen wir endlich wieder gegen übersiedlungsersuchende Erzwinger los ?“ Wir wollen doch revolutionär gegen Feinde vorgehen, warum bremst uns die Zentrale ? Warum sperren wir den provokatorischen Liedermacher KRAWCZIK [Stephan Krawczyk] nicht ein ? […] Die Aufgabe steht: besser, klüger, besonnener, überlegener arbeiten, die Vorbeugung verstärken; alles rechtzeitig erfahren und geeignete, die Politik der Partei unterstützende und nicht ihr schadende Maßnahmen überlegen, konzipieren und Schäden verhindern. Lieber 3 x messen, ehe man schneidet ! Klassische tschekistische Arbeit !“35
Die Anwendung physischer Gewalt durch die Militärs der Staatssicherheit dürfte in den letzten beiden Jahrzehnten die große Ausnahme gewesen sein, nicht aber der Einsatz psychischer Repression, wie die Maßnahmepläne zur Zersetzung, aber auch die Erfahrungen von Oppositionellen in Untersuchungshaft bezeugen. In dieser Situation nahmen manche der hauptamtlichen Mitarbeiter ZuÀucht zum Zynismus.
Abbildung 4
Geburtstagsfeier von Siegfried Hähnel, 9.6.1984. BStU BV Berlin Trad.kabinett 14
35 Diskussionsbeitrag des Gen. Generalmajor Fister zur erweiterten GO-Leitungssitzung am 19.11.1987, in: BSTU, MfS-SED-KL 5133, Bl. 1–12; hier Bl. 5–7.
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Zum 50. Geburtstag des „Stellvertreters Operativ“ und späteren Leiters der Berliner Bezirksverwaltung des MfS, Siegfried Hähnel, im Juni 1984, verkleideten sich Mitarbeiter der Linie XX für die Gratulation: Sie schlüpften in die Kostümierungen ihrer Überwachungsobjekte. Und sie ließen sich in diesem Aufzug fotogra¿eren. Für einen Moment statteten sie sich mit den Attributen des Gegners aus, tauschten die Rollen und inszenierten eine „verkehrte Welt“. Das boshafte Lachen half – unmittelbarer als jede Agitation – die Gemeinschaft im Kampf gegen den Feind zu festigen. Die Parodie und die karnevaleske Inszenierung erklären aber die Aufnahmen noch nicht vollständig. Die Per¿die der Szene liegt darin, dass die Objekte der Observation, die sich als „Typen“ präsentieren, demjenigen gratulieren, der im wirklichen Leben die operativen Maßnahmen gegen solche wie sie leitet. Diese Art von Pfannenfreundschaft der Gänse mit dem Fuchs suggeriert einen Akt lustvoller Unterwerfung und freudiger Dankbarkeit, der anstößig wirkt. Beständig hatte das MfS seit seiner Gründung die „allseitige und tiefe Verbundenheit des Volkes“ mit seiner Staatssicherheit beschworen. Die Geburtstagsfotos für den „Leiter Operativ“ zeigen die kongeniale Inszenierung dieser märchenhaften Wunschvorstellung, von der andererseits alle Beteiligten wussten, dass sie illusionär war. Literatur Baule, Bernward 1993: Die politische Freund-Feind-Differenz als ideologische Grundlage des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in: Deutschland Archiv (DA) 26, H. 2, S. 170–184 Bergmann, Christian 1997: Zum Feindbild des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 50, S. 27–34 Childs, David/Poppwell, Richard 1996: The Stasi. The East German Intelligence and Security-Service, London Cole, Simon A. 2001: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identi¿cation, Cambridge, Mass./London Eisenfeld, Bernd 1995: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken und Analysen des MfS, in: Klaus-Dietmar Henke/Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin, S. 157–176 Foucault, Michel 1977: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main Fraenkel, Ernst 1974: Der Doppelstaat [1940], Frankfurt am Main/Köln Fulbrook, Mary 1995: Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR. 1949–1989, Oxford Gieseke, Jens 2000: Die Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin
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Karin Hartewig
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Gewalt gegen Polizeibeamte in der Bundesrepublik Deutschland, 1985–2000: Entstehungskontexte, Reaktionen, Paradoxien1 Thomas Ohlemacher
Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft und ihrer politisch-administrativen Institutionen Deutschland im Sommer 2000: Mehrere Polizisten sind durch Angreifer getötet worden – und immer war es dieselbe Form der öffentlichen Aufmerksamkeit, welche die Taten fanden. Unmittelbar nach den Ereignissen verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Auf den Bildschirmen der Nachrichtenredaktionen erschien eine Eilmeldung der Nachrichtenagenturen, die Nachricht selbst gelangte bis in die Hauptnachrichtensendungen. Die Aufbereitung geschah je nach Temperament der unterschiedlichen Sender: Während die öffentlich-rechtlichen Sender eher sachlich-zurückhaltend berichteten, wurden in den privaten Sender eher dramatisierend wirkendes Bild- und Textmaterial gesendet. Auf dem Markt der Medien waren üblicherweise: Aussagen des Pressesprechers der betroffenen Polizeieinheit, Statement des Innenministers des jeweiligen Bundeslandes, Filmmaterial zum Tatort, erste Äußerungen von „Experten“. In den Tagen danach verändert sich die Nachrichtenlage. Es dominieren nunmehr Hintergrundberichte: Berichte zu den Trainingsmöglichkeiten der Beamtinnen und Beamten, Aussagen von Politikern zu beabsichtigten Änderungen (z. B. Strafrechtsverschärfungen, Schutzwesten beschaffen). Prominent wird noch einmal von der Beerdigung der Opfer berichtet. Allmählich verklingt aber die öffentliche Aufmerksamkeit, so wie es für die „Erregungskurve“ bei einem solchen, große Aufmerksamkeit erzeugenden Thema, das viele Nachrichtenwertfaktoren mit sich führt (u. a. Gewalt, Personi¿zierbarkeit, Plötzlichkeit, Emotion), nicht unüblich ist. Es sei denn: Mehrere Ereignisse überlagern sich und verhindern ein Abebben der öffentlichen Erregung. So geschah es eben im Sommer 2000 als innerhalb kurzer Zeit in Nordrhein-Westfalen drei Beamtinnen und Beamte getötet Dieser Beitrag basiert in Teilen auf der Buchveröffentlichung Ohlemacher et al. 2003 – und diskutiert die dort dokumentierten empirischen Ergebnisse unter der für diesen Sammelband leitenden, weil analytisch interessierenden Perspektive.
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A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_9, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Thomas Ohlemacher
wurden. Die Medien zeichneten einen Trend, sie vermuteten „amerikanische Verhältnisse“. Die Politiker sahen sich in Folge dessen zunehmend unter starkem Handlungsdruck. Die Medien kamen nicht „zur Ruhe“. Es musste etwas geschehen – eben um Handlungsbereitschaft und -fähigkeit von Politik und Polizeiführung zu belegen. Diskutiert wurden konkret im Arbeitskreis II (AK II) als dem zuständigen politisch-administrativen Gremium direkt unterhalb der Innenministerkonferenz des Bundes und der Länder (IMK) u. a. Prüfungen der rechtlichen Möglichkeiten, der technischen Einsatzmittel und der Einsatzrichtlinien. Die IMK und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) haben sich im Rahmen der angeschobenen Aktivitäten u. a. entschlossen, ein Forschungsprojekt des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) ¿nanziell und strukturell zu unterstützen. Hierbei stimmten IMK und GdP der Forderung des KFN zu, keine Auftragsforschung zu ¿nanzieren, sondern einen Vertrag mit dem KFN auf Basis einer Forschungsförderung zu schließen. Diese Vertragsgestaltung sicherte dem KFN nach einer kurzen Frist die vollen Verfügungsrechte über die Daten und Analysen der Studie. In diesem Sinne kann dieses Projekt als „Forschung über die Polizei“ in einem besonders sensiblen Bereich polizeilicher Tätigkeit (Gewaltanwendung gegen und durch Beamte, fehlerbehaftetes Verhalten, Korpsgeist etc.) angesehen werden. Forschungsstand, Datengrundlage und Ergebnisse eines empirischen Projektes Die bisherige Forschung hat sich des Themenkomplexes ‚Gewalt und Polizei‘ unter verschiedenen Perspektiven angenommen. Mehrheitlich wurde dabei die Gewaltanwendung durch die Polizei ins Blickfeld gerückt.2 Dem gegenüber befassen sich – sowohl international als auch für Deutschland – nur relativ wenige Untersuchungen mit der Gewalt gegen die Polizei. Für die Bundesrepublik Deutschland stellen die von 1977 bis 1994 von der Polizei-Führungsakademie (PFA) – heute Deutsche Hochschule der Polizei – unter Leitung von Joachim Jäger unternommenen Untersuchungen das umfangreichste Forschungsunternehmen dieser Art dar. Im Rahmen dieser Studien wurden jeweils ca. 500–800 Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte schriftlich befragt, die infolge eines Angriffs für mehr als sieben Tage dienstunfähig waren.3 Die jüngste in diesen Bereich fallende Untersuchung – im Jahr 2000 herausgegeben Vgl. dazu etwa Phillips und Smith 2000, Vrij et al. 1994, Falk 1986, Kania und Mackey 1977, Milton et al. 1977 sowie Hudson 1970. 3 Zusammenfassend Jäger 1988, 1994. 2
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von der Fachhochschule Villingen-Schwenningen – befasst sich mit Widerstand gegen Polizeibeamtinnen und -beamte in Baden-Württemberg im Jahr 1997.4 Bei dieser Analyse wurden 1514 Ermittlungsakten ausgewertet sowie 1318 Polizisten schriftlich befragt, die in diesen Akten als Betroffene aufgeführt sind. Zwar geht Widerstand gegen die Polizei nicht zwangsläu¿g mit Angriffen einher. Dennoch gibt diese Untersuchung einen Einblick in konÀikthafte Polizei-Bürger-Begegnungen und ist aus diesem Grund für den Themenkomplex Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten von Interesse. Darüber hinaus liegt eine Aktenanalyse von Sessar et al. (1980) zu 232 Fällen versuchter und vollendeter Tötung zum Nachteil von Polizeibeamten vor. In dieser Untersuchung wurden Fälle vollendeter Tötungen aus dem Zeitraum 1950–1977 und Fälle versuchter Tötung aus den Jahren 1970–1977 einbezogen. Eine zeitlich weiter zurückliegende Aktenanalyse von Stührman (1965) beschäftigt sich mit Widerstand gegen Polizeibeamte im Amtsgerichtsbezirk Kiel mit einer untersuchten Zahl von 123 entsprechender Vorfälle aus den Jahren 1958–1962. Für das konkrete empirische Projekt wurden dem KFN Kurzinformationen zu über 4.000 Fällen von Angriffen gegen Beamtinnen und Beamte aus den Jahren 1985–2000 zur Verfügung gestellt. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse der Analyse dieser Daten sowie die Resultate einer repräsentativen Befragung bei einer realisierten Stichprobe von ca. 1.100 dieser Beamtinnen und Beamten vorgestellt. Darüber hinaus werden die Ergebnisse von Aktenanalysen zu den Angriffen sowie einer Befragung von Hinterbliebenen zu Fürsorgeaspekten präsentiert. Grunddaten Der Tod von acht Polizistinnen und Polizisten im Jahr 2000 infolge von Angriffen ist bezogen auf die letzten fünf Jahre ein außerordentlich hoher Wert. Ähnlich hohe Zahlen von getöteten Polizisten gab es jedoch bereits in einzelnen Jahren zu Beginn und Mitte der 1990er Jahre (vgl. Abbildung 1). Die Höchstwerte der Jahre 1972 (15) und 1975 (9) sind jedoch bislang nicht wieder erreicht worden. Von deutlichen zeitbedingten EinÀüssen – wie etwa die des Linksterrorismus in den siebziger Jahren – kann in den 1980er und 1990er Jahren auf den ersten Blick nicht gesprochen werden: Nach unseren Recherchen kamen zwischen 1972 und 1980 mindestens neun Angehörige der Polizei durch Aktivitäten linksgerichteter Terroristen zu Tode,5 in den 1990er Jahren – einer Zeit vermehrter rechtsgerich-
4 5
Fachhochschule Villingen-Schwenningen 2000, Falk 2000. Vgl. auch BKA 1977, S. 331 ff.; Jesse/Backes 1985, S. 245, 368 sowie Backes 1991, S. 209.
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teter Gewalttaten – kam nach Zählung des BKA ein Polizist durch rechtsextremistische Handlungen zu Tode.6 Die Zahl der verletzten Beamten infolge tätlicher Angriffe ist in der zweite Hälfte der neunziger Jahre geringer als in der Mehrzahl der Jahre, für die in den 1980er und 1990er Jahren vergleichbare Daten erhoben wurden. Die von Bund und Ländern dem KFN gemeldeten Zahlen belegen einen Anstieg der Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz von 1985 bis 1994, danach sinken diese Zahlen. Trotz eines neuerlichen Anstiegs im Jahr 2000 (Basis: Zahlen des ersten Halbjahres 2000) ist der Höchstwert von 1994 aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreicht worden. Dies stimmt in großem Maße mit der allgemeinen Entwicklung der Tötungsdelikte bezogen auf die Gesamtbevölkerung überein. Auch die absolute Zahl von Angriffen mit Schusswaffen gegen Polizeibeamte sinkt seit 1995, steigt aber im Jahr 2000 an. Das Risiko eines Beamten, mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz angegriffen zu werden, ist erheblich höher als das eines Normalbürgers. Das Risiko eines Beamten, im Dienst infolge eines Angriffs getötet zu werden, ist jedoch in einem durchschnittlichen Jahr geringer als das Risiko eines Normalbürgers, Opfer eines tödlichen Angriffs zu werden. Allgemein wird jeder dreizehnte Beamte, der mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz angegriffen wird, getötet. Dieses Verhältnis verbessert sich in den neunziger Jahren deutlich gegenüber den achtziger Jahren. 85 % der getöteten Beamten wurden mit Schusswaffen oder Messern angegriffen.
Abbildung 1
6
Durch Angreifer getötete Polizisten, Bundesrepublik Deutschland 1972–2000
Schriftliche Mitteilung des BKA vom 19.1.2001.
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Wir haben in der Bundesrepublik bislang keine „amerikanischen Verhältnisse“, was das Tötungsrisiko eines Polizeibeamten angeht. Das Risiko eines US-Polizisten, durch einen Angriff im Dienst zu Tode zu kommen, ist immer noch um ein Vielfaches höher.7 Dies gilt trotz der Verringerung der Zahl der getöteten US-Polizisten um etwa ein Drittel im Vergleich der Jahre 1999 und 1998 (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
Durch Angriffe getötete Polizisten Deutschland und USA im Vergleich (pro 100.000 Beamtinnen und Beamte, aufgerundete Zahlen, ohne BGS)
Befragung der angegriffenen Beamtinnen und Beamten Das KFN hat aus der Gesamtzahl von über 4.000 angegriffenen Beamten (mit oder ohne Tötungsabsicht bzw. -vorsatz) ca. 2.300 Beamte systematisch bzw. zufällig ausgewählt und schriftlich zu ihren Erfahrungen befragt. Über 50 % der Angeschriebenen haben geantwortet, über 1.000 der Bögen waren einschlägig und auswertbar. Die Sample sind, was ihre Zusammensetzung angeht, repräsentativ für die Grundgesamtheit aller Angegriffenen. Die Angriffe ¿nden weit überwiegend bei Dunkelheit, im öffentlichen Raum und in eher bürgerlichen Vierteln statt (vgl. Abbildung 3). Die Mehrzahl der Angriffs-Orte galt zuvor als ungefährlich. Die Beamten waren zum Angriffszeitpunkt mehrheitlich als Funkstreife eingesetzt. Die Täter waren weit überwie-
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FBI 2002.
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gend deutscher Nationalität, fast ausschließlich männlich und allein. Sie waren zu großen Teilen alkoholisiert und fast zur Hälfte bereits polizeibekannt, den Beamten jedoch persönlich unbekannt. Der Angriff erfolgte fast immer überraschend. Bei Angriffen mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz gilt: Im Vergleich zu anderen Angriffen entwickeln sich überproportional viele Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz aus Fahrzeugkontrollen und Situationen ohne vorherigen Körperkontakt. Die Angreifer sind zu fast 100 % Männer, sie sind eher älter und weniger oft alkoholisiert. In ca. der Hälfte aller Fälle sind die Täter mit Schusswaffen bewaffnet, in ca. 2/3 dieser Fälle liegt illegaler Waffenbesitz vor.
Abbildung 3
Charakter des Stadtgebiets, Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz ohne Folgen und mit Folgen
Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz und gravierenden Folgen ereignen sich überproportional häu¿g bei Überprüfungen von verdächtigen Personen, beim Verhindern einer Flucht, beim Ansprechen und bei der Verfolgung von Personen. Wenn Tötungsabsicht bzw. -vorsatz vorliegt, gestalten sich zudem Durchsuchungen und Identitätsfeststellungen besonders gefährlich. Die Täter sind in noch weniger der Fälle alkoholisiert. Sie werden von den Beamten vor dem Angriff nicht als besonders aggressiv wahrgenommen. Schutzwesten helfen entscheidend, Verletzungen zu verringern. Auch der kontrollierte Umgang mit der Dienstwaffe (d. h. ständiges Mitführen, Einsatz von Warnschüssen, Androhung und Einsatz gezielter Schüsse) helfen das Risiko einer Verletzung der Polizisten, aber auch das Tötungsrisiko auf Seiten des Angreifers zu verringern. Besonders gefährlich ist die Vereinzelung der Beamten – sowohl beim Einschreiten als auch bei der Suche/Verfolgung. Nicht die explizite Absprache vor dem Einsatz, sondern
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längere gemeinsame Arbeit vermindert das Risiko einer Verletzung. Jahrelange Zusammenarbeit birgt jedoch auch die Gefahr, dass sich unter Umständen gefährliche, ja „tödliche Routinen“ einschleifen. Wird auf der Dienststelle weniger Wert auf Eigensicherung gelegt, führt dies zu einem erhöhten Risiko gravierender Verletzungen. Allerdings gibt es offenbar konkrete Einsatz-Situationen, in denen es Beamten nicht möglich war, sich an die Richtlinien der Eigensicherung zu halten. Dies betrifft vor allem Schlägereien als Anlass des Einschreitens sowie Vereinzelungssituationen bei der Verfolgung und/oder Suche. Wir ¿nden bei den mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz und gravierenden Folgen Angegriffenen hohe Werte für dem Angriff nachfolgende Probleme im beruÀichen und privaten Alltag (z. B. Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen etc.). Aus dem Erlebten ergeben sich aus Sicht der Beamten eine Fülle von praxisnahen Forderungen und Vorschlägen zur Ausstattung und Ausbildung (vor allem zur körperlichen Abwehr und zum Umgang mit der Dienstwaffe). Trotz des hohen Ausbildungs- und Übungsstands haben die Beamten ein ausgeprägtes Bedürfnis nach mehr psychologischer Schulung und Nachbetreuung, aber auch nach Ausbildung im Bereich der KonÀikthandhabung. Die Hälfte der Befragten fordert ein Überdenken der ihres Erachtens zu restriktiven Regelung zum Schusswaffeneinsatz. Im Rahmen unserer Studie konnte jedoch nicht geklärt werden, ob die Beamtinnen und Beamten ihre rechtlichen Möglichkeiten korrekt einzuschätzen wissen. Die Mehrheit beklagt zudem eher häu¿g auftretende Unvereinbarkeiten zwischen den Richtlinien zur Eigensicherung und der alltäglichen Praxis, allerdings bewähren sich die Richtlinien in der überwiegenden Mehrheit der berichteten Fälle (insbesondere bei Tötungsversuchen trifft dies zu). Darüber hinaus hat ein Teil der befragten Beamten und Beamtinnen die Gelegenheit zu detaillierten Informationen und Anmerkungen am Ende des Fragebogens genutzt. Diese Anmerkungen sind somit nicht verallgemeinerbar. Sie stellen Meinungsäußerungen aus der innerpolizeilichen Diskussion heraus dar, können jedoch für die Aus- und Fortbildung hilfreich sein. Bei diesen weiteren und offenen Anmerkungen heben die kommentierenden Beamtinnen und Beamten neben ungünstigen Umweltbedingungen (Dunkelheit, enge Räume etc.) das Unvorhersehbare der Angriffe hervor. Viele von den Beamten angeführte individuelle Aspekte (wie z. B. fehlende Fitness und unzureichender Informationsstand) werden von ihnen aber auch auf Gründe zurückgeführt, die ihrer Ansicht nach in der Organisation Polizei liegen. Hier wird von den Befragten auf Probleme, Widersprüche und Dilemmata hingewiesen, welche die Eigensicherung im polizeilichen Alltag erschweren. Dies sind (in der Reihenfolge der Häu¿gkeit der Nennungen, die diesen Aspekten zugeordnet werden können): ƒ
eine zu starke Bürgerorientierung der letzten Jahre. Sie verhindere eine effektive Eigensicherung. Eigensicherung könne sogar zum Karriererisiko für
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ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Thomas Ohlemacher den Beamten und auch den Vorgesetzten werden („fasse ich jemand zu hart an, kriege ich Ärger mit dem Vorgesetzten, der seine Karriere gefährdet sieht“). Des weiteren wird genannt das Streben nach vordergründiger Ef¿zienz des Handelns, welche des öfteren über die Eigensicherung gestellt wird („solange es gut geht und der Beförderung dient“). Bemängelt werden zudem zu formale, starre und damit der Praxis nicht angemessene Regelungen („jeder Fall ist anders“) und das Fehlen fester Arbeitspartner („mit dem ich eingespielt bin und auf den oder die ich mich verlassen kann“). Genannt werden aber auch die fehlende Erfahrung junger Beamter (und manchmal der systematisch behinderte Erwerb derselben) und die Erfahrung von Überforderung in der Situation („in Sekundenschnelle entscheiden“) und einer als überzogen empfundenen Überprüfung („… und dann sitzen die monatelang zusammen und bewerten dein Verhalten“). Auch fehle es bisweilen an der Einsatzfähigkeit und Vorbildfunktion älterer Beamte (angesprochen werden mangelnde Fitness, aber auch die Inszenierung von „Erfahrung“ und „Unverwundbarkeit“ durch ältere Beamte – und eine sich infolgedessen u. U. entwickelnde „tödliche Routine“).
Ein GrundkonÀikt, der hinter den Äußerungen sowohl im standardisierten Teil als auch in den offenen Anmerkungen sichtbar wird, ist der zwischen Instinkt/ Erfahrung auf der Ausführungsebene vs. der Idee der Planbarkeit allen Verhaltens auf der Führungsebene.8 Die Tragik des Nicht-Gelingens liegt wohl letztlich in dem Unplanbaren – und dem Umgang damit. Die mögliche Lösung könnte in einem Training bestehen, das auf das Erleben des Unvorhersehbaren vorbereitet – und damit ein Set von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, das in der Situation automatisiert abläuft und damit die Handlungsfähigkeit aufrechterhält. Die Überzeugung, das alles planbar ist, macht es unmöglich, mit den Unvorhergesehenen souverän umzugehen. Bislang scheint zudem ein regelmäßiger Austausch über gefährliche Situation und die Probleme des Umgangs damit in der Polizei nur ungenügend vorhanden zu sein – auch weil „Fehler“ das individuelle Fortkommen, sprich den organisationsinternen Aufstieg behindern. „Fehler“ sind somit nicht primär auf der Ebene des Individuums, sondern eher auf der Ebene der fehlenden Fehlerkultur in der Organisation („wir machen keine Fehler – und wenn, dann reden wir nicht darüber“) zu suchen. Eben jene fehlende Fehlerkultur könnte einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Professionalität im Bereich der Eigensicherung entgegenstehen.
8
Vgl. hierzu die instruktive Unterscheidung von Polizisten- und Polizeikultur in Behr 2000.
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Aktenanalysen Teil des Forschungsprojektes „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte“ des KFN ist darüber hinaus eine Analyse von Justizakten zu sämtlichen Angriffen mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz gegen bundesdeutsche Polizisten und Polizistinnen aus den Jahren 1985 bis Mitte 2000. Das De¿nitionskriterium für die Auswahl der Akten ist der polizeiliche Tatvorwurf gegen die Täter bzw. Täterinnen. Ziel der Untersuchung ist einerseits die Analyse der juristischen Aufarbeitung solcher Angriffe und andererseits die Analyse der sozialen und personenbezogenen Merkmale der Angriffssituationen. Bis zum 27.11.2001 konnten dem KFN 373 Akten für die Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Diesen konnten Angaben zu 578 Angriffen gegen einzelne Beamtinnen und Beamte entnommen werden. Einige dieser Fälle mussten jedoch aus der Analyse entfernt werden, da die Polizei bei diesen keinen Tatvorwurf wegen eines Tötungsdeliktes erhoben hatte, sodass 479 Angriffe für die Untersuchung verblieben. In die Analyse der juristischen Aufarbeitung konnten letztlich 383 Angriffe einbezogen werden, da in den anderen Fällen die Täter entweder unmittelbar getötet wurden, entkamen, vor der Anklageerhebung starben oder unbekannt blieben, so dass hier eine Analyse des Verlaufs der juristischen Aufarbeitung nicht möglich war. Im Verlauf der juristischen Aufarbeitung ist vielfach eine Reduktion des ursprünglich von der Polizei erhobenen Tatvorwurfs eines Tötungsdeliktes zu beobachten. Dieser Befund zeichnet sich bereits auf der staatsanwaltschaftlichen Ebene ab, da nur knapp die Hälfte (49,1 %) der Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz eine Anklage wegen eines Tötungsdeliktes zur Folge hatte. Auf der Ebene der Gerichte setzt sich die Einschränkung des Tatvorwurfs fort: Lediglich 43,1 % der Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft ein Tötungsdelikt gegeben sah, führte auch zu einer entsprechenden Verurteilung. Somit erfolgte in lediglich 21,1 % der Fälle, in denen von Polizeiseite der Tatvorwurf eines Tötungsdeliktes erhoben wurde, auch tatsächlich eine Verurteilung wegen eines solchen Deliktes.9 Knapp die Hälfte der untersuchten Angriffe hatte eine Verurteilung ausschließlich aufgrund von Delikten zur Folge, die nicht zur Gruppe der Tötungsdelikte gehören. Unter denjenigen Fällen, bei denen die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht ein Tötungsdelikt gegeben sah, kann im Verlauf der juristischen Aufarbeitung ein Anstieg des Anteils von vollendeten Tötungen (gegenüber versuchten Tötungen) festgestellt werden. Die Zeitdauer zwischen Angriff und Verurteilung weist keine Auffälligkeiten auf, etwa hinsichtlich einer besonders langandauernden Bearbeitung solcher Taten durch die Justiz.
9
Zu ähnlichen Zahlen bei Anklagen von Tötungsdelikten allgemein vgl. Sessar 1981.
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Die Merkmale der Angriffsituationen können auf Basis der Aktenanalyse (unter Einschluss der getöteten Beamtinnen und Beamten) wie folgt zusammengefasst werden: Die angegriffenen Beamten waren deutlich überwiegend männlich, im Funkstreifendienst eingesetzt und schwerpunktmäßig zwischen 21 und 40 Jahren alt. Als besonders riskant erwiesen sich Einsätze wegen Straftaten, zur Überprüfung verdächtiger Personen/Sachen und (vorläu¿ge) Festnahmen. Straftaten als Anlass des Einschreitens waren vor allem solche, die KonÀikte zwischen Bürgern betrafen (Bedrohung, Raub, Körperverletzung usw.). Der Anteil derer, die im Rahmen einer Verkehrskontrolle oder bei Streitigkeiten eingeschritten sind, ist unter den getöteten Beamtinnen und Beamten deutlich höher als unter den überlebenden. Mehrheitlich kam es im Verlauf des Angriffs nicht zum Schusswaffengebrauch durch die Beamtinnen und Beamten (59,2 %). Allerdings haben die Polizisten und Polizistinnen häu¿ger gezielt geschossen, ohne zuvor einen Schusswaffengebrauch anzudrohen oder einen Warnschuss abzugeben, was darauf hindeuten kann, dass die Angriffe auf die Beamtinnen und Beamten vielfach sehr plötzlich ausgeführt wurden. Zudem haben die überlebenden Polizistinnen und Polizisten häu¿ger die Dienstwaffe benutzt als die getöteten Beamtinnen und -beamten. In rund einem Drittel der Fälle konnten schwerwiegendere körperliche Folgen auf Seiten der Beamtinnen und Beamten durch deren eigenes Verhalten (Abbruch einer Handlung, Flucht etc.) oder andere polizeiliche Maßnahmen (Hilfe durch Kollegen etc.) verhindert werden. Die Täter handelten zum größten Teil allein, waren männlich und besaßen die deutsche Staatsangehörigkeit. Überwiegend gehörten sie der Altersgruppe der 21–40jährigen an. Zudem waren sie größtenteils zum Zeitpunkt des Angriffs bereits vorbestraft, in der Hauptsache wegen Diebstahls- und Gewaltdelikten. Die analysierten Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz ereigneten sich vielfach in Situationen, die aus Sicht der Täter eine gewisse „Endgültigkeit“ besaßen, wie dem Verhindern einer Flucht, Verfolgungen und (vorläu¿gen) Festnahmen. Allerdings kam es häu¿g bereits vor oder während der Kontaktaufnahme durch die Beamtinnen und Beamten zum Angriff, was erneut als Hinweis auf die Plötzlichkeit und das Überraschende vieler solcher Taten gewertet werden kann. Beinahe sämtliche Angriffe (97,6 %) erfolgten unter Einsatz von Waffen oder ähnlichen Gegenständen, wobei besonders häu¿g Schusswaffen, Kraftfahrzeuge (bei Überfahrversuchen) und Messer benutzt wurden. Führten die Angreifer Schusswaffen mit, so handelte es sich in der deutlichen Mehrheit um illegalen Waffenbesitz. Ein weiterer Bestandteil des Forschungsprojektes „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte“ des KFN ist eine Analyse von Justizakten zu Fällen, in denen Polizeibeamtinnen und -beamte im Zeitraum 1985 bis Mitte 2000 in Notwehr- und Nothilfesituationen oder aufgrund hoheitlicher Befugnisse von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hatten und den Täter dabei verletzten oder töte-
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ten. Im Rahmen dieser Untersuchung werden zum Einen situative Umstände und unmittelbare Folgen des polizeilichen Schusswaffengebrauchs und zum Anderen die justizielle Aufarbeitung solcher Ereignisse mit Blick auf die juristischen Folgen und die Dauer der Verfahren gegen die Beamtinnen und Beamten analysiert. Für 353 als einschlägig gemeldete Fälle konnten dem KFN bis Ende März 2002 lediglich 138 Akten für die Analyse des polizeilichen Schusswaffengebrauchs in Notwehr- und Nothilfesituationen zur Verfügung gestellt werden. Diese Akten enthielten Angaben zu 93 für die Untersuchung relevanten Fällen. Die Aktenanalyse erbrachte folgende Ergebnisse: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ
Die überwiegende Mehrheit der Täter überlebte den Schusswaffengebrauch durch die Beamtinnen und Beamten. Die deutliche Mehrheit der Schussabgaben erfolgte zur Abwehr eines Angriffs (80,6 %). Mehrheitlich hatten die Polizistinnen und Polizisten den Schusswaffengebrauch nicht mündlich angedroht, was hauptsächlich in einem Mangel an Zeit begründet lag. Rund ein Fünftel gab einen Warnschuss ab. Rund 80 % der Schüsse wurden auf eine Entfernung von maximal sechs Metern zum Täter abgegeben. Trotz des bestehenden Zeitmangels schossen die Polizistinnen und Polizisten in der Mehrzahl auf die Gliedmaßen. In rund der Hälfte der Fälle setzten die Täter ihre ursprüngliche Handlungen trotz der polizeilichen Schussabgabe fort.
Zur justiziellen Aufarbeitung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs ergaben sich folgende Befunde: ƒ ƒ ƒ ƒ
Mehr als jedes vierte Verfahren gegen die Beamtinnen und Beamten wurde bereits im Rahmen der Vorermittlungen eingestellt. Im deutlich überwiegenden Teil der Verfahren kam es spätestens auf der Ebene weiterer Ermittlungen zur Einstellung. Nur in 9 % der Fälle erfolgte eine Anklage. Lediglich rund 1 % der dem KFN vorliegenden Fälle von Schusswaffengebrauch führte zu einer Verurteilung des Beamten bzw. der Beamtin. Etwas weniger als die Hälfte der Verfahren dauerte bis zu einem halben Jahr. Mehr als zehn Prozent erstreckte sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr.
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Hinterbliebenenbefragung Der abschließende Teil der Studie „Gewalt gegen Polizeibeamte und -beamtinnen“ des KFN ist die Befragung von Hinterbliebenen von Polizeibeamten und -beamtinnen, die infolge von Angriffen getötet wurden. Die sogenannte Hinterbliebenenbefragung ging der Frage nach, in welchem Umfang und in welcher Art und Weise der Staat Fürsorgeleistungen gegenüber Hinterbliebenen gewährt hat. Darüber hinaus konnten die Befragten aus ihrer Sicht fehlende Unterstützungsleistungen benennen. Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung wurden zur Erfassung gewährter oder fehlender Fürsorgeleistungen des Staates 12 Interviews mit Hinterbliebenen von Polizeibeamten und -beamtinnen geführt, die in den Jahren 1985 bis 2000 durch Angriffe in der Ausübung ihres Dienstes getötet wurden. Die Hinterbliebenen hatten sich auf Anfrage des KFN hin über die ehemaligen Polizeidienststellen der getöteten Beamtinnen und Beamten zu einer Teilnahme an der Befragung bereit erklärt. Die Interviews wurden gemäß den Regeln der qualitativ orientierten empirischen Sozialforschung transkribiert, anonymisiert, zusammengefasst, nach Aussageinhalten geordnet und schließlich ausgewertet. Die Auswertung der Interviews ergab, dass Hinterbliebene den gewaltsamen Tod des Angehörigen als grundlegend lebensverändernde Erfahrung wahrnehmen. Auf Basis der Angaben der Befragten lassen sich unterscheiden: (a) eine Schockphase, die in dem Moment einsetzte, in dem die Hinterbliebenen vom Tod des Angehörigen erfuhren, und die wesentlich dadurch bestimmt ist, dass die Hinterbliebenen den Tod des Angehörigen nicht wahrhaben wollen und um eine Aufrechterhaltung der Lebenssituation vor dem Tod bemüht sind, (b) eine Phase, in der die Hinterbliebenen sich „bewusster“ mit den Auswirkungen des Todes konfrontiert sahen, sowie (c) eine Phase, in der sich die Hinterbliebenen mit ihrer Rolle als „indirektes“ Opfer einer Gewalttat identi¿zieren. Weiterhin ergab die Auswertung, dass die Hinterbliebenen einen Hilfebedarf bei allen Personen sehen, die mit dem Getöteten in enger familiärer Bindung standen. Die Hilfen sollten zum Ziel haben, durch ¿nanzielle, psychologische und bürokratisch-organisatorische Hilfeleistungen das (Über-)Leben der Hinterbliebenen zu sichern und eine Neugestaltung des Lebens (insbesondere durch die Herausbildung einer neuen Perspektive) nach dem Tod des Angehörigen zu ermöglichen. Die Befragten gaben an, dass ausreichend ¿nanzielle Hilfen insbesondere für Partner/innen und Kinder vorhanden waren. Es fehlten jedoch psychologische und bürokratisch-organisatorische Hilfestellungen. Zur Art und Weise der gewährten Hilfen ergab sich aus der Auswertung, dass die Hinterbliebenen in Zukunft eine professionellere Gewährleistung von Hilfen wünschen, die folgende Kriterien erfüllen sollte: (a) die Zuständigkeit und Verantwortung für die Gewährleistung von Hilfen für Hinterbliebene sollte eindeutig bei staatlichen
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Stellen liegen und dort organisatorisch eindeutig identi¿zierbar sein, (b) den Hinterbliebenen sollten in Zukunft Ansprechpartner bei der Polizeibehörde als Koordinatoren der Hinterbliebenenbetreuung zur Verfügung stehen, (c) ¿nanzielle, psychologische und organisatorisch-bürokratische Hilfen sollten in Zukunft professionell und umfassend auf Basis eines differenzierten (u. a. auf der Grundlage der hier gemachten Vorschläge) zu erarbeitenden Konzeptes gewährt werden, (d) die Hilfeleistungen sollten in der Art und im Umfang immer am individuellen Bedarf eines Hinterbliebenen orientiert sein. Auch sollten Hilfeleistungen immer nur in Absprache mit den Hinterbliebenen und im Respekt vor der Lebenssituation und den Erfahrungen der Hinterbliebenen erfolgen („Unterstützung ohne Entmündigung“). Diskussion der Resultate Es sind zwei Aspekte, die im Folgenden in der Perspektive dieses Sammelbandes interessieren: Zum einen ist die Frage zu diskutieren, wie valide und zuverlässig die vom KFN ermittelten Daten sind. Zum anderen bleibt die Frage, was wir aus diesen Daten für das Verhältnis Bürger-Staat in einer sich als zivil verstehenden Gesellschaft bzw. nach dem Ideal der Zivilität strebenden Gesellschaft lernen können. Wie valide sind die Daten ? Die hier versammelten Daten unterliegen selbstverständlich den Problemen aller empirischen Projekte: Daten sind immer nur Annäherungen an die Wirklichkeit. Stichprobenprobleme, zu geringe Rückläufe, Verzerrungen bei den Antworten im Sinne sozialer Erwünschtheit – dies sind nur einige der vielfältigen Einschränkungen der theoretischen und empirischen Validität solcher Projekte. Generell können die allgemeinen (gleichsam oberÀächlichen) Qualitätsmerkmale unseres Projektes als befriedigend bis gut bezeichnet werden: Rücklaufquoten von über 50 % und eine hohe Motivation bei den Befragten können als gute Voraussetzungen für die empirische Validität bezeichnet werden. Problematisch ist jedoch (a) die Stichprobengenerierung: Es handelt sich hierbei um von der Polizei de¿nierte Tötungsdelikte (etwa im Sinne der PKS-Standards der „Ausermittlung“ eines Deliktes). Dass diese De¿nition im Sinne des Standards der PKS nicht von allen weiteren Instanzen des Strafverfahrens geteilt wird, dies zeigt alleine die dramatisch zu nennende Reduktion des Tatvorwurfs durch staatsanwaltschaftliches und richterliches Handeln – so wie sie auch bei unseren Analysen dokumentiert werden konnte (vgl. oben). Zudem mussten die Daten (b) von
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einigen Bundesländern retrospektiv erhoben bzw. ermittelt werden: Nicht alle Länder verfügten über eine Erhebungsroutine für die von uns gewünschten Daten. Das heißt: Das Projekt war von der „Erinnerungsfähigkeit“ der Organisation abhängig. Und hier dürfte gelten: je weiter zurück(reichend), um so schwieriger (dürfte die Erinnerungsfähigkeit zu mobilisieren sein). Auch könnte es (c) sein, dass „problematische Fälle“ zu Reaktanz von Organisationen und/oder Individuen führen. Soll heißen: die Organisation könnte „belastende“ Fälle nicht erinnern, Befragte könnten solche Ereignisse verdrängt haben (oder befürchten, dass ihre Angaben im Fragebogen mit ihren Aussagen im früheren Verfahren abgeglichen werden – was durch die perzipierte Relevanz u. a. für versorgungsrechtliche Fragen mehr als problematisch sein dürfte). Auch die Annäherung an die Hinterbliebenen enthielt (d) einen Filter, der unter Umständen für die Organisation problematische Fälle mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen haben könnte: Um für Hinterbliebene belastende Kontakte zu vermeiden, wurde zwischen KFN und Behörden vereinbart, dass die letzte Dienststelle des getöteten Beamten darüber entscheiden sollte, ob eine Annäherung an die Partner(innen) und/oder Verwandten durch Mitarbeiter des KFN statt¿nden könnte. Sollte die Dienststelle Furcht vor Kritik oder KonÀikten gehabt haben, wäre eine mögliche Handlungsoption, den Kontakt KFN-Hinterbliebene präventiv als potenziell „belastend“ einzustufen. All diese Punkte schränken die Validität der Aussagen selbstverständlich ein. Trotzdem kann gelten, dass dieses Projekt eine weitreichende, substanzielle Annäherung an die gesellschaftliche Wirklichkeit und an die öffentlichen und privaten Folgen von Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte darstellt – und damit Lernmöglichkeiten für Öffentlichkeit, Polizeiorganisation und Einzelpersonen eröffnet. Lernpotenziale einer zivilen Gesellschaft Generell kann zunächst festgehalten werden, dass die „öffentliche Erregung“ als Indikator der Mobilisierung der Zivilgesellschaft zumeist größer, weil dramatischer ist als die Kennziffern der tatsächlichen Lage: So wurde die Zahl der getöteten Beamten im Jahr 2000 als zahlenmäßige Spitze einer Entwicklung von immer mehr Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten gesehen. Dies ist jedoch, dies zeigen die Zahlen der Getöteten, Verletzten und Angegriffenen, in dieser Eindeutigkeit nicht der Fall. Zivile Gesellschaften bleiben trotz aller inhärenter Rationalität eben doch „Erregungsgemeinschaften“ (Peter Sloterdijk). Sie werden in ihren Aufmerksamkeitsregeln entscheidend bestimmt von Massenmedien – und damit notwendigerweise von „Nachrichtenwertfaktoren“ wie Emotionalität, Personi¿zierbarkeit, Gewalt etc.
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Weiterhin zeigen die Daten überraschende Befunde: Es sind nicht die „unzivilisierten“ Bereiche der Gesellschaft, die für die Hüter des Zivilen gefährlich sind, sondern eben jene „bürgerlichen Wohngebiete“, welche die Studie als vorrangige Orte des Angriffs identi¿ziert hat. Also auch hier ist Raum für (auf der individuellen Ebene durchaus auÀösbare) Paradoxien. Des weiteren kann man die öffentlichen Reaktionen auf Tötungen als eine gleichsam öffentliche Inszenierung mit dem Ziel der „Einhegung des Nicht-Zivilen“ verstehen: Nach dem Tod eines Beamten, einer Beamtin kommt es zu dem immergleichen Ablauf der öffentlichen (hier vor allem politischen) Betroffenheit und der Behauptung eines politisch-administrativen Handlungswillens. Dies erscheint als eine Art Gemeinschaftsbildung bzw. -simulation innerhalb einer modernen Gesellschaft notwendig und sinnvoll. Aus der in ihren Ergebnissen vorgestellten Hinterbliebenenbefragung lässt sich jedoch erkennen, dass es so etwas wie einen „Inszenierungsüberschuss“ gibt, der auf Kosten der Angehörigen der Beamtinnen oder Beamten geht: Politiker und Polizeiführer, die all zu stark in Richtung der Öffentlichkeit denken und handeln, kränken und demütigen unter Umständen die Angehörigen. Und in dieser Kränkung liegt wiederum ein Potenzial für die Legitimation „inzivilen“ Verhaltens anderer Beamter oder Beamtinnen (z. B. in Form der Rechtfertigung abweichenden Verhaltens von Polizisten). Es bestehen somit die Gefahr einer Unterstützung von Handlungspotenzialen, die in nicht-zivile Richtung(en) weisen – eben durch „gut gemeintes“, öffentliches Handeln in Reaktion auf inziviles Verhalten. Dieser Dynamik paradoxer, nicht-intendierter Effekte sollten sich Politiker, Polizeiführer und Polizisten (be)ständig bewusst sein. Literatur Backes, Uwe 1991: Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, Erlangen/Bonn/Wien Behr, Rafael 2000: Cop Culture. Der Alltag des Gewaltmonopols, Opladen BKA 1977: Auszug aus der Chronik des Terrorismus, in: Funke, M. (Hg.): Terrorismus. Untersuchungen zur Struktur und Strategie revolutionärer Gewaltpolitik, Kronberg/ Taunus, S. 331–365 BKA/KI 16 1982: Vorsätzliche Tötungen und Tötungsversuche an Polizeivollzugsbeamten, in: Forschung und Entwicklung, Beilage zum Bundeskriminalblatt 224, H. 3, S. 1 Falk, Ekkehard 2000: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Ein praxisbezogenes Forschungsprojekt (Texte der Fachhochschule Villingen-Schwenningen, Hochschule für Polizei, Bd. 25), Villingen-Schwenningen Falk, Gerhard 1986: Violence and the American Police. A Brief Analysis, in: International Review of History and Political Science 23, S. 23–34 Fachhochschule Villingen-Schwenningen (Hg.) 2000: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Villingen-Schwenningen
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IV Gewalttätige Polizei – gewalttätige Gesellschaft?
Vom Säbelhieb zum „sanften Weg“ ? Lektüren physischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhundert1 Thomas Lindenberger
Die beiden im Folgenden geschilderten Fälle polizeilicher Gewaltanwendung in Deutschland aus dem ersten und letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts haben eines gemeinsam: Sie wurden für die Zeitgenossen als „Übergriff“, als „Amtsmissbrauch“ zum Skandal und zogen die Aufmerksamkeit der Presse auf sich. Daher sind sie auch verhältnismäßig gut überliefert und ragen aus der Masse der vielen, „alltäglich“ gebliebenen und noch immer bleibenden Fälle polizeilicher Gewaltanwendung heraus. Das gibt uns die Möglichkeit, sie als „Sonden“ in die öffentlichen Gewaltverhältnisse ihrer Zeit zu nutzen: Anhand der konkreten Umstände und der beteiligten Akteure lässt sich, so die Überlegung, untersuchen, wie sich Legitimation und Ausübung staatlicher Herrschaft, die öffentliche Auseinandersetzung und Konsensbildung über staatliche Gewaltanwendung und die von sozialkulturellen Erfahrungshintergründen abhängigen Standards alltäglich erfahrener bzw. Mitmenschen zugefügter Gewalt miteinander verbanden. Beim Vergleich unterschiedlicher Gewaltverhältnisse, so wird zu zeigen sein, kann es nicht nur darum gehen, ob „mehr“ oder „weniger“ Fälle von Gewaltanwendung zu konstatieren sind. Für eine umfassende historische Einordnung ist die qualitative Dimension ebenso bedeutsam: Die Art der in solchen KonÀikten zugefügten und – sofern es Polizeieinsätze betrifft – zugelassenen Gewaltformen verweist auf Unterschiede in der zu verschiedenen Zeiten in einer Gesellschaft und ihrer Lebensweise akzeptierten Umgang mit Körpern und deren Gefährdungen. Vom großen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Fällen können wir zum einen eine gewisse Kontrastwirkung erhoffen, die Einsichten in das das 20. Jahrhundert umgreifende Spannungsverhältnis von Kontinuität und Bruch im Verhältnis von Staatsgewalt und Bürgern ermöglicht. Zugleich ist die Beschränkung auf das späte Kaiserreich und die Bundesrepublik nach Beendigung des Kalten Krieges auch dem Erfordernis der Vergleichbarkeit geschuldet: Ich konzentriere
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Nachdruck aus WerkstattGeschichte 12 (2003), S. 7–22.
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_10, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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mich mit diesen beiden Fällen bewusst auf Zeiten nicht nur äußeren, sondern auch relativen inneren Friedens in Deutschland. Ich überspringe also gewissermaßen jene lange, mittlere Phase des 20. Jahrhunderts, in denen Ausnahmezustände aller Art: Krieg, offener oder latenter Bürgerkrieg, nationalsozialistische Diktatur, Besatzung und auch der Kalte Krieg das alltägliche Verhältnis zwischen Bürgern und Polizei in der Öffentlichkeit zugunsten einer mehr oder weniger unkontrollierten und kaum anzufechtenden Gewaltanwendung der jeweiligen Exekutive prägten. Weder im späten Kaiserreich noch in der Bundesrepublik der neunziger Jahre stellten paramilitärische und miteinander konkurrierende gewaltbereite Verbände politischer Bewegungen das staatliche Gewaltmonopol in Frage. In beiden Gesellschaften kann von einem Funktionieren öffentlicher Polizeikritik ausgegangen werden: „Funktionieren“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich die für die Polizei verantwortliche Exekutive mit dieser Kritik auseinandersetzen musste, da Polizeipraxis im Alltag von einem Mindestmaß an Legitimitätsglauben seitens der Bürger abhing. Trotz der politischen und sozialen Gräben, die die Kontrahenten trennten, verband sie die positive Vorstellung von einer „angemessenen“, den Frieden im öffentlichen Raum zum Nutzen der Allgemeinheit sichernden Staatsgewalt. Freilich: Darüber, was diesen Frieden ausmachte und wer den Nutzen der Allgemeinheit zu bestimmen hatte, konnten die Ansichten kaum unterschiedlicher sein. Dennoch wähnten sich die Kontrahenten eindeutig nicht im Bürgerkrieg oder Krieg – und das grenzt die hier näher betrachteten Zeitabschnitte von den dazwischenliegenden Dauerkrisen und Exzessen staatlicher Gewaltausübung ab.2 Fallbeispiel 1: Die abgehauene Hand des friedlichen Arbeiters, oder: Polizeigewalt in der Klassengesellschaft Berlin, im Hochsommer des Jahres 1906, in einem der damaligen Arbeiterviertel mit ihren überfüllten Mietskasernen, dem heutigen Kreuzberg, am Wochenende: „Einen größeren StraßenauÀauf gab es in der Nacht zum Sonntag in der Reichenberger Straße. Als der Schutzmann Reichenbach die Menge zum Auseinandergehen aufforderte, wurde er von dem Arbeiter Karl Schade aus der Reichenberger 2 Hinsichtlich des späten Kaiserreichs stütze ich mich im Folgenden vor allem auf eine frühere, auf Archivquellen und Tageszeitungen gestützte Untersuchung, siehe Lindenberger 1995. Der zweite Fall aus den 90er Jahren hingegen kann hier nur anhand von veröffentlichtem Material rekonstruiert werden, bei dessen Recherche mir die Informations- und Dokumentationsstelle des Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit e. V. an der FU Berlin dankenswerter Weise behilÀich war.
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Straße 149 beschimpft, so dass dieser auf der Wache festgestellt werden sollte. Auf dem Wege dorthin bemühten sich der Arbeiter Wilhelm Rau aus Köpenick und der Arbeiter Paul Haase aus Niederschöneweide, ihren Genossen mit Gewalt zu befreien. Als das nicht glückte, hetzte Haase am Kottbusser Damm die Menge auf den Schutzmann mit den Worten ‚Wir sind doch nicht in Breslau mit der abgehauenen Hand‘ und fügte hinzu: ‚Der ‚Blaue‘ müsse den Schade freigeben.‘ Das war das Zeichen für die Menge, den Beamten mit Steinen zu bewerfen.“3
In derselben Nacht kam es auf der anderen Seite der Spree, im Strahlauer Viertel am Grünen Weg, anlässlich eines Feuerwehreinsatzes auf einem Fabrikhof zu einem Krawall, der in einer regelrechten Straßenschlacht mit Angriffen auf die Polizisten mündete. Insbesondere der berittene Einsatzleiter, Polizeihauptmann Kubon, war das Ziel wütender Attacken. Während der Räumung des Strausberger Platzes, so die Vossische Zeitung, „erhielt er Steinwürfe, von denen einer seine Schulter traf und das Achselstück herunterriss. Gleichzeitig wurde er von einer Rotte Burschen, die unmittelbar auf ihn zu kamen, angegriffen, so dass er den vordersten von ihnen, der als der Schlächter Schumann festgestellt wurde, im Augenblick, als er einen PÀasterstein auf ihn schleudern wollte, mit einem Säbelhieb kampfunfähig machen musste …. Sofort verbreitete sich das Gerücht, die Polizei habe einem Menschen den Arm abgeschlagen, und mehrere Exzedenten brüllten sofort: ‚Rache für Biewald !‘. Der verletzte Schumann wurde in einem Wagen zur Unfallstation geschafft. Unterwegs wurde der Schutzmann, der den Transport begleitete, tätlich angegriffen und musste von seinem Säbel Gebrauch machen. Erst als mehrere Köpfe bluteten, ließen die Rowdys von dem Beamten ab. Der Krawall nahm in dessen einen immer größeren Umfang an und hätte zu den allerschlimmsten Folgen führen können, wenn nicht im Augenblicke der höchsten Gefahr die telephonisch herbeigerufene Verstärkung erschienen wäre.“4
Zur Verletzung des Schumann können wir dem sozialdemokratischen Vorwärts entnehmen: Durch den Säbelhieb, der den Schumann getroffen habe, als er sich nach seinem Hut gebückt habe, seien diesem „das Handgelenk, die Sehnen und die Schlagadern vollständig durchgehauen“ worden, eine Amputation sei jedoch nicht erforderlich gewesen.5 Im Rahmen der langen Tradition des alltäglichen Kleinkriegs zwischen Polizei und Angehörigen der Unterschichten in den Straßen der Hauptstadt lassen sich diese beiden Ereignisse als im vordergründigen Sinne „unpolitische“ KraVossische Zeitung 1906, 327. Vossische Zeitung 1906, 334. 5 Vorwärts 1906. 3
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walle einordnen. Anhand meiner gut 400 dem Lokalteil der Vossischen Zeitung entnommenen Untersuchungsfälle lässt sich zeigen, dass diese Gegnerschaft aus den unterschiedlichsten Anlässen zu direkten, von körperlicher Gewalt begleiteten Konfrontationen führen konnte. Dem Zeitgenossen waren solche Episoden durchaus vertraut. Wir ¿nden sie als Alltags-Spektakel im Lokalteil der Hauptstadtpresse, als mehr oder weniger selbstverständliche Bestandteile der Rubrik „Vermischtes“. Im Kern ging es dabei zum einen um Maßstäbe und Normen „ordentlichen“ Verhaltens in der Straßenöffentlichkeit und zum anderen um das angemessene Einschreiten gegen Störungen der öffentlichen Ordnung. Polizisten versuchten, dem proletarischen Publikum bürgerliche Normen des ruhigen und unauffälligen Verhaltens aufzuzwingen und stießen auf die hartnäckige Verteidigung einer Lebensweise der Unterschichten, in der die Straßenöffentlichkeit als Sozialisations- und Kommunikationsraum eine zentrale Funktion innehatte. Angehörige der Unterschicht wiederum stellten die Legitimität konkreter polizeilicher Handlungen in Frage, da sie sie als soziale Diskriminierung, sei es durch Überreaktion und Kleinlichkeit gegen Ihresgleichen, oder durch Unterlassen und Milde im Umgang mit „Höhergestellten“, interpretierten. Diese Form der öffentlichen Adhoc-Kritik konnte sich dabei auf kollektive, örtlich und sozial de¿nierte Identitäten berufen: Im ersten Fall bedeutete „Wir sind doch nicht in Breslau …“: ‚Hier in Berlin, im Arbeiterkiez der Luisenstadt, haben wir das Sagen, mit uns Berlinern man nicht so umspringen wie mit denen in der Provinz.‘ Die Wahrscheinlichkeit der gewaltsamen Eskalation derartiger Zwischenfälle zu regelrechten Straßenschlachten, wie sie im zweiten Fall vorlag, beruhte aber darüber hinaus auf der Möglichkeit einer spielerischen Verselbständigung von Gewalt aus im Ursprung gewaltfreien Anlässen: Im Rahmen etwa von Feuerwehreinsätzen kam es immer wieder zu Angriffen auf die Schutzmannschaften, ohne dass dem ein expliziter NormenkonÀikt als Auslöser zu Grunde lag. In diesem Fall zitierten die Aufrührer erst im Verlauf des KonÀikts die Parole „Rache für Biewald !“. Doch wofür standen diese Parolen „Wir sind doch nicht in Breslau mit der abgehauenen Hand“ und „Rache für Biewald“ ? Welche Bedeutungen und welches Wissen sollten sie bei den Beteiligten aufrufen ? Franz Biewald war ein (mit einiger Wahrscheinlichkeit der Sozialdemokratie angehörender, auf jeden Fall ihr nahestehender) Arbeiter in Breslau. Dort kam es im April 1906 im Rahmen einer hartnäckigen Streikauseinandersetzung zu mehreren Polizeieinsätzen gegen streikende Arbeiter. Diese zogen, für damalige Verhältnisse nicht ungewöhnlich, auch an der Lohnauseinandersetzung nicht Beteiligte, wie jenen Biewald, in Mitleidenschaft. Vor mit gezogenem Säbel heranstürmenden Schutzleuten Àoh er in ein Treppenhaus. Ein Polizist folgte ihm und hieb ihm mit einem Säbelhieb eine Hand ab – ein auch für das die Härte preußischer Schutzleute gewöhnte Publikum des Jahres 1906 unerhörter Vorgang.
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Binnen kurzem avancierte dieser Vorgang in ganz Deutschland in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit und damit in Arbeiterkreisen von Groß- und Industriestädten wie Berlin zum Sinnbild für das preußische Polizeiregime. In Partei- und Gewerkschaftsorganisationen wurde, vermutlich auch um seine Unterstützung zu ¿nanzieren, eine Postkarte vertrieben, die das Polizeiopfer Biewald zeigt: ordentlich gekleidet, im Anzug mit Fliege und sorgfältig gezogenem Scheitel, die Friedlichkeit in Person, den verbundenen Armstumpf vorweisend. Zwei Wochen vor dem heißen Wochenende im Juli 1906 hatte in Breslau der Schadensersatzprozess Biewald gegen den preußischen Staat begonnen, den die überregionale sozialdemokratische Presse natürlich genauestens verfolgte. Allein die Tatsache, dass es zu diesem Prozess kam, stellte nach zeitgenössischer Praxis ein Eingeständnis der Polizei dar, dass Biewald zu Unrecht Opfer polizeilicher Maßnahmen geworden war. Spätestens jetzt war die „abgehauene Hand von Breslau“ zum populären Symbol für das preußische Polizeiregime in seiner brutalsten und blutrünstigsten Form geworden. Polizeigegner, die es zur Rechtfertigung ihrer Widersetzlichkeit bemühten, konnten sich der Zustimmung des Arbeiter-Publikums sicher sein: jeder zog sofort die Verbindung zwischen einem blankgezogenen Schutzmannssäbel und der vor allem gegen unschuldige Arbeiter gerichteten Willkür, die in Verstümmlungen und tödlichen Verletzungen enden konnte. Wie um letzte Unklarheiten über die körperlichen Risiken, die ein friedlicher Bürger im Angesicht der preußischen Polizei zu gewärtigen hat, zu beseitigen, bestätigte ein im Rahmen des besagten Schadensersatzprozesses erstelltes medizinisches Gutachten ein Jahr später die potentielle Gefährlichkeit dieser Waffe. Unter dem Titel „Experimentelles über die Wirkung zweier Schutzmannssäbel“ berichtete ein Dr. Victor Mertens in seinem Gutachten, nachdem er das Abschlagen einer Hand mit Schutzmannssäbeln anhand einer Leiche nachgestellt hatte: Biewald war die Hand, die er im übrigen sorgfältig in Pergament verpackt mit in die Unfallstation gebracht hatte, mit einem scharf geschliffenen Säbel abgeschlagen worden.6 Derartige Quellentexte dokumentieren das zeitgenössische Wissen um die speziellen Risiken, die damit verbunden waren, wenn man oder frau durch welchen Zufall auch immer, Opfer der Staatsgewalt wurde. Dieses Risiko war in der wilhelminischen Klassengesellschaft für die Unterschichten wesentlich größer als für bürgerliche und höhere Kreise; insbesondere war die Arbeiterschaft davon betroffen. Dennoch wurde klassenübergreifend in diesen Jahrzehnten gerade der Säbel als Polizeiwaffe zunehmend als barbarischer Skandal empfunden, und der scharf geschliffene erst recht. In Zeiten ohne Penicillin und Schutzimpfungen
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Mertens 1907, S. 537 ff.
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waren Säbelverletzungen potentiell lebensbedrohlich, offene Wunden konnten todbringend sein. Zugleich repräsentierte der Säbel die Bedrohungsängste der polizeilichen Ordnungshüter und ihrer Auftraggeber. Die hartnäckige Beibehaltung dieser militärischen Waffe als polizeiliches Handwerkszeug war eine Folge der äußerst prekären Legitimationsgrundlage des preußischen Staates und seiner Exekutive und reproduzierte sie zugleich. Als antirevolutionäre, gegen die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft gerichtete Ordnungstruppe war die Schutzmannschaft im Herbst 1848 aus dem Militär rekrutiert worden und behielt selbstverständlich die Insignien der königlichen Staatsgewalt bei: Helm und Säbel mit Porte d’epée. Diesem gegenrevolutionären Ursprung war sie über all die Jahrzehnte hinweg verhaftet geblieben: Im KonÀiktfall galt die Schutzmannschaft nicht als „Bürgerpolizei“ oder „Polizei des Volkes“, und in den Augen der semiabsolutistischen Obrigkeit des Königreichs Preußen sollte sie das auch gar nicht sein. Die bestehende Ordnung, die sie zu schützen hatte, schloss Monarchie, Dreiklassenwahlrecht und die Eigentumsverhältnisse ein. Bestrebungen, diese – ob im Kleinen oder im Großen – in Frage zu stellen, hatte sie sofort und energisch entgegenzutreten. Infragestellungen dieser Ordnung drohten in der Wahrnehmung der Obrigkeit überall und zu jeder Zeit. Die Schutzmänner auf der Straße wussten aus ihrem Arbeitsalltag: Nur durch gutes Zureden, aufgrund der Autorität des Amtes, konnten sie in vielen Fällen, vor allem bei KonÀikten im öffentlichen Raum und am Wochenende, wenn oftmals Alkohol mit im Spiel war, wenig ausrichten. Die Bereitschaft des Publikums, in KonÀikten mit der Polizei zur Gegenwehr mittels Steinwürfen oder Prügel überzugehen, schien immer vorhanden. Kippte eine Situation in dieser Weise um, waren die Schutzleute fast immer bei weitem in der Unterzahl und mussten, zumeist völlig auf sich gestellt, mit dem Säbel um sich hauen, um sich eine andrängende Menge vom Leibe zu halten. Die mit dieser Bereitschaft zur schnellen und potentiell lebensgefährdenden Gewaltausübung verbundene Belagerungs-Mentalität durchdrang die gesamte Exekutive des preußischen Staates: Sie prägte die Weisungen und Instruktionen von oben ebenso wie die Praxis der einfachen Schutzleute vor Ort. Alf Lüdtke hat beschrieben und analysiert, wie sich diese Mentalität der Festungspraxis der preußischen Obrigkeit im Lauf des 19. Jahrhunderts ausbildete und zum unhinterfragbaren Habitus einer militärisch ausgerichteten Ordnungserzwingung wurde.7 Diese Festungspraxis verpÀichtete die Eliten in Preußen auf die Aufrechterhaltung der semiabsolutistischen Staatsverfassung und Gesellschaftsordnung. Aus diesem Grund konnte jeder kleinere ArbeitskonÀikt, bei dem es etwa zu Ausein-
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Lüdtke 1982.
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andersetzungen zwischen Streikenden und Arbeitswilligen kam, binnen kurzem zu einem größerem Krawall eskalieren, bei dem Berittene und Fußschutzleute „blankzogen“ und mehr oder weniger wahllos mit der scharfen Klinge „einhauten“, wie dies in besonders eklatanter Weise in Breslau geschehen war. Wohl gab es im Alltag auch weniger gefährliche Verwendungsweisen des Polizeisäbels, die man demgegenüber als „verhältnismäßig“ oder gar im heutigen Sinne „polizeitaktisch“ bezeichnen könnte: So konnte er etwa in der Scheide verbleibend zum Abdrängen von Menschenmengen eingesetzt werden, so wie das die heutige Polizei mit den langen Abdrängstäben, der modernen Version des Polizeiknüppels, bei Demonstrationen macht. Auch blankgezogen blieb noch eine Anwendungsstufe unterhalb des „scharfen Dreinhauens“: Das Schlagen mit der Àachen Seite. Außerdem sollte der Säbel in normalen Zeiten nicht scharf geschliffen sein, bei zu erwartendem Widerstand der Polizeigegner hingegen schon. Das Straßenpublikum wusste natürlich um diese im Extremfall lebenswichtigen Unterschiede und forderte, unterstützt von einer liberal-aufgeklärten Presse, nicht nur eine höÀiche und gerechte, sondern auch eine mit Verhältnismäßigkeit einschreitende Polizei. Diese Erwartungshaltung zog aber nun keineswegs den Verzicht auf gewaltsamen Widerstand nach sich. Im Gegenteil: Solange in zugespitzten Situationen Polizeieinsätze immer wieder zu blutigen Säbelverletzungen von Zivilpersonen führten, griff ein Teil des Straßenpublikums (in der Regel junge Männer) zu Steinwürfen, Messern, Knüppeln und bisweilen auch Schusswaffen, um dagegen zu halten. In den Augen aufgeklärter Zeitgenossen offenbarte sich in solchen Szenen öffentlicher Un-Ordnung die politische Rückständigkeit des in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bereits „modernen“ Preußen. Die pure Tatsache des polizeilichen Säbeleinsatzes, ob „blank gezogen“ oder nicht, galt ihnen als grotesker Atavismus, der den sich in dieser Zeit herausbildenden, zunehmend klassenübergreifenden Wunsch-Vorstellungen von einer dezidiert nicht-militärischen, vorzugsweise am englischen Beispiel ausrichteten Polizeipraxis Hohn sprach. Zugleich hinterließen gerade diese Gewalterfahrungen tiefe Spuren in der sozialdemokratischen Bewegungskultur: Diese war in ihren Umgangsformen, in ihrer Selbst-Darstellung auf die Vermeidung von Gewalt um jeden Preis festgelegt. Die Funktionäre hatten ihre liebe Müh und Not, ihrer Klientel die zu diesem Verhalten erforderliche Selbstbeherrschung beizubringen. Ein eigenes Ordnersystem und akribische Organisation von An- und Abmarsch sorgten für eine mustergültige, auch die öffentliche Anlagen schonende Verwendung des öffentlichen Raumes für politische Demonstrationen. Im Ergebnis zeichnete sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung durch die ostentative Friedlichkeit ihrer politischen Demonstrationen aus. Äußerliche Ordnung und Respektabilität zielten darauf, die polizeiliche Gewalt, polizeiliche Gewaltdrohung und mit ihr den undemokratischen Obrigkeitsstaat zu delegitimieren. Der zivile Habitus
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von hunderttausenden von Arbeitern im Sonntags-Anzug mit weißem Hemd und Krawatte erfüllte dabei einen doppelten Zweck: Er sollte im Moment der Demonstration selbst schützen, da erfahrungsgemäß Schutzmänner gegen bürgerlich Gekleidete weniger scharf vorgingen. Zugleich stellte er eine symbolische Attacke auf das militärische Staats- und Ordnungsverständnis der Herrschenden dar. Er zeigte: öffentliche Ordnung geht auch anders, nämlich zivil, auf Grundlage der Selbst-Beherrschung der vielen Gleichen und Gleichberechtigten – ein Sinnbild der zukünftigen Ordnung, des Volksstaats.8 Die anachronistischen Polizeimethoden des Obrigkeitsstaats hingegen lieferten den Stoff für unzählige Karikaturen und sarkastische Kommentare. Der säbelschwingende Schutzmann war ein beliebtes Sujet führender Satireblätter, sei es des linksliberalen Simplizissimus oder des sozialdemokratischen Wahren Jakob, und zeitigte auch im Breslauer Fall von 1906 einige ganzseitige Bildgeschichten und Karikaturen (Abb. 1). Die Vorstellung vom preußischen Schutzmannssäbel als dem Sinnbild des rückschrittlichen Preußentums ging auch in die Folklore der sozialdemokratischen Bewegung ein: 1908 berichtete ein Berliner Polizeispitzel, dass auf einem sozialdemokratischen Sommerfest in einem kleinen Polizei-Gruselkabinett neben diversen Polizeiutensilien auch eine Nachbildung der „abgehauenen Hand“ von Breslau ausgestellt wurde.9 Derartige ironische Verarbeitungen dieses im Einzelfall ja ganz und gar nicht „komischen“ Sujets zeigen einen breiten gesellschaftlichen Konsens in der ansonsten durchaus heterogenen Öffentlichkeit des Kaiserreichs an. Bitterer Sarkasmus und verspielte Grusel-Phantasien signalisierten dabei zweierlei: Sowohl ein Wissen um die realen Gewaltverhältnisse auf Preußens Straßen und deren akute Gefahren, wie auch die Zuversicht einer großstädtischen, politische Partizipation anstrebenden Öffentlichkeit, der die Beseitigung derartiger Anachronismen nur noch eine Frage der Zeit schien. Doch auch auf der anderen Seite, an der Spitze der Exekutive, interpretierte man Vorfälle wie den in Breslau oder Arbeiterunruhen wie die in Moabit im Jahre 1910 zunehmend als Infragestellung der herkömmlichen Weise, öffentliche Ordnung herzustellen. Den Klassenkampf als Bürgerkrieg antizipierend, begriffen moderne Konservative wie der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow, dass allein mit Säbeln gegen eine tatsächliche Revolution, sollte sie denn einmal kommen, wenig auszurichten war. Die Konsequenzen begannen sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg abzuzeichnen, indem jeder Polizist eine Schusswaffe bekam. Die innenpolitischen KonÀikte nach dem Ersten Weltkrieg brachten dann eine konsequente Modernisierung der Polizei als militärischer Eingreiftruppe: Sie wurde für den kriegerischen Einsatz im Landesinnern mit Maschinengeweh8 9
Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen (Hg.) 1986. Lindenberger 1995, S. 156.
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ren, Panzerfahrzeugen und Artillerie ausgebaut – eine Standardausrüstung, die ihr in beiden Teilen Deutschlands bis weit in die sechziger Jahre erhalten blieb.10 Von einem an rechtsstaatlichen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit orientierten polizeitaktischen Gewalteinsatz, wie wir ihn heute selbstverständlich erwarten, konnte für Polizeiapparate dieser Jahrzehnte eher als Ausnahme die Rede sein.
Abbildung 1
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„Wie werde ich tüchtig ? Reichhaltige und zu besserem Verständnisse illustrierte Anleitung, ein tüchtiger und brauchbarer Schutzmann zu werden. Praktische Ausbildung an der Lederpuppe im Händeabhacken, sowie in jeder Art von Hieb und Stich. Ein Handbuch für jeden preußischen Polizisten, verfasst von Herrn von Borries, Polizeipräsidenten in Berlin.“ Simplizissimus Nr. 11, 6. August 1906, S. 312.
Leßmann 1989; Weinhauer 2003; Lindenberger 2003.
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Fallbeispiel 2: Der umgedrehte Fuß des kritischen Journalisten, oder: Polizeigewalt in der Erlebnis-Gesellschaft ? Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, erscheinen uns Episoden wie die von der „abgehauenen Hand“ aus Breslau wie Gräuelgeschichten aus einem fernen Land, gewissermaßen aus der Steinzeit des Polizei- und Versammlungsrechts. Sie stehen für Zustände, die in Deutschland nach langwierigen, kriegerischen und Bürgerkriegs-Auseinandersetzungen, nach einer erfolgreichen Verwestlichung unserer politischen Kultur, die auch in unserem Polizeiwesen bürgerfreundliche Ergebnisse gezeitigt hat, wenigstens dem Prinzip nach überwunden sind. Wohl kommt es auch im Zeitalter der modernen Polizeitaktik zur missbräuchlichen Verwendung der Waffe, und dies je nach politischem Kontext mit weitreichenden Konsequenzen. Die tödliche, sogenannten Putativ-Notwehr mit der Schusswaffe, wie sie etwa der Berliner Polizist Kurras für sich in Anspruch nahm, nachdem er am 2. Juni 1967 in Berlin den Studenten Benno Ohnesorg während des Einsatzes gegen eine Anti-Schah-Demonstration erschossen hatte, setzte eine Spirale der Gewalt und Gegengewalt in Gang, die binnen weniger Jahre in den gespenstischen Szenarien einer von ein paar Dutzend Terroristen belagerten „Festung“ Bundesrepublik mündete.11 Dass aber die regulär bei Demonstrationen einzusetzenden polizeilichen Gewaltmittel, und das wären seit etwa vierzig Jahren in erster Linie Polizeiknüppel, Wasserwerfer und Tränengas, in ähnlicher Weise unmittelbare Verstümmelungs- und tödliche Risiken mit sich bringen können oder sollen, wie der Polizeisäbel unter Kaiser Wilhelm, erscheint den meisten Menschen, die sich heute dazu entschließen, an einer Demonstration teilzunehmen, unwahrscheinlich, und dies unabhängig davon, ob diese im Voraus verboten wurde oder nicht. Trotz der von Polizeikritikern immer wieder zu Recht rekonstruierten und veröffentlichten Fälle missbräuchlicher Gewaltanwendung zum Beispiel gegen Ausländer oder linke Demonstranten unterstellen wir heutzutage grosso modo eine relative „Zivilisierung“ polizeilicher Gewaltanwendung im Sinne einer nicht an militärischen Gesichtspunkten ausgerichteten Verhältnismäßigkeit der Mittel: Demnach soll und darf nur soviel Gewalt eingesetzt werden, wie für die Abwehr einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit unbedingt erforderlich ist, mehr nicht. Im übrigen ist die Polizei in Folge der in den siebziger Jahren einsetzenden Debatten über neue Konzepte der „inneren Sicherheit“ ihrem Selbstverständnis nach nicht mehr in erster Linie auf den „Schutz des Staates“, sondern auf den der Bürgerrechte einschließlich dem auf Versammlungsfreiheit verpÀichtet, und kann daher ihren Gewalteinsatz gegen Demonstrationen nicht
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Aust 1998.
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mehr aus einer Gefährdung der Staatsautorität oder des Staates als solchem legitimieren (wie das noch bis in die sechziger Jahre durchaus selbstverständlich war).12 Doch was heißt in unseren Tagen „verhältnismäßig“ und „erforderlich“ ? Und wie sieht diese „zivilere“ Gewalt aus ? Hamburg, den 30. Mai 1994: Der Journalist Oliver Neß, der verschiedentlich bereits über Misshandlungen von Ausländern durch die Hamburger Polizei berichtet hat, beobachtet auf dem Gänsemarkt in der Innenstadt eine rechte Kundgebung, auf der der österreichische Politiker Jörg Haider reden soll. Da sich Gegendemonstranten angekündigt haben, wird die Kundgebung von einem umfangreichen Polizeiaufgebot zur Verhinderung von Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Demonstranten begleitet. Darunter sind auch mehrere Gruppen ziviler, „leger“ gekleideter Polizisten, die massiv gegen linke sog. „Störer“ vorgehen und sie in kleinere „Schlägereien“ verwickeln. Der eine solche Schlägerei lediglich beobachtende Neß wird von einem uniformierten Polizisten angegriffen und zu Boden gestoßen. Nachdem er sich aufgerappelt hat, wird er von einem Nichtuniformierten mit einem Griff am Hals und einem Tritt in die Beine ein zweites Mal zu Boden gerissen, und dann von dem ersten Angreifer mit den Knien auf dem Oberkörper am Boden ¿xiert. Zugleich greift ein weiterer uniformierter Polizist ein: Er kniet sich zu den Füßen von Neß auf den Boden und wendet einen „Fußdrehhebel“ an: ein Mittel – so zwei Jahre später das Hamburger Landgericht – das er in einem Lehrgang „gelernt hatte und mit dem auf dem Boden liegende, Widerstand leistende Personen unter Zufügung dosierter Schmerzen auf die Weise in Rücken- oder Bauchlage gebracht werden können, dass bei gestrecktem Bein ein Fuß bei der Ferse und im Vorderfußbereich gepackt und unter Fixierung der Ferse mit einer Hand der Vorderfuß mit der anderen Hand in die gewünschte Drehrichtung umgebogen wird“. Zunächst misslingt dieser „Hebel“, da der Schuh des Neß abrutscht. Daraufhin greift der Polizist noch einmal zu „und bog unter Fixierung des Fersenbereichs mit der einen Hand den Vorderfuß des Zeugen Neß mit der anderen Hand bei einer Kraftentfaltung von mindesten 25 Kilopond so schnell nach innen um, dass der noch halb auf der rechten Seite liegend, im Rückenbereich von [einem weiteren Polizisten] behinderte Zeuge Neß seine Körperhaltung der erzwungenen Drehbewegung des rechten Fußes nicht schnell genug anpassen und den Körper in die Rückenlage drehen konnte“. In Folge wurde „der Bänderapparat des aus nur 1 mm starken Bändern bestehenden rechteren oberen
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Winter 2000, S. 203–220.
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Thomas Lindenberger Sprunggelenks des Zeugen Neß erheblich beschädigt. U. a. rissen zwei der drei Außenbänder“.13
Das Ende vom Lied: Neß muss sich zunächst einer komplizierten Operation und einer mehrere Jahre dauernden Rehabilitationstherapie unterziehen, bevor sein zerrissenes Fußgelenk wieder einigermaßen hergestellt ist. Der Fall Neß schafft es in den folgenden Jahren immerhin auf die Liste der von der Londoner Zentrale von amnesty international monierten Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen in Deutschland. Die in der Hamburger Innenbehörde übliche Kumpanei verhindert eine angemessene strafrechtliche Aufklärung des Falles, in letzter bundesgerichtlicher Instanz werden 1998 die zwei uniformierten Polizisten freigesprochen.14 Dass Neß selbst Opfer einer rechtswidrigen Attacke wurde, bescheinigten ihm selbst diese polizeifreundlichen Urteile. Ob es sich – wie Neß und sein Anwalt Rolf Gössner in verschiedenen Publikationen behaupten – tatsächlich um einen Racheakt einer bestimmten Polizeieinheit gegen den unliebsamen Polizeikritiker mit dem Ziel, ihm genau diese Verletzung zuzufügen, handelte, oder um eine fahrlässige Köperverletzung im Rahmen einer rechtswidrigen Festnahme, muss an dieser Stelle offen bleiben. Einige der Indizien, die Neß berichtet hat, sprechen durchaus für seine Interpretation und bestätigen somit ein beträchtliches „Restrisiko“ staatlicher Gewaltausübung für polizeikritische Minderheiten auch seitens einer Staatsgewalt, die sich im Grundsatz auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stützen kann. Anders als im Fall des Arbeiters Biewald steht der Journalist Neß nicht für eine durch die Staatsexekutive im Alltag gezielt diskriminierte und zudem ziemlich große Bevölkerungsgruppe, die ihrerseits eine habituelle Distanz zur Polizei praktizierte. Vielmehr ist es sein relativer Außenseiterstatus als Journalist, der sich bei seiner Polizeikritik ausgerechnet zugunsten von statusschwachen Polizeiopfern einsetzt, die ihn zur Zielscheibe einer gezielten Vergeltung im Rahmen der der Polizei heutzutage gegebenen Möglichkeiten der Gewalteinwirkung gemacht hat. Auf diese aktuellen Formen der Gewaltausübung durch die Polizisten in Uniform und Zivil will ich mich im Folgenden konzentrieren. An ihr lässt sich der Wandel der Anwendung physischer Gewalt in solchen Konfrontationen diskutieren, und damit zugleich der Wandel der mit physischer Gewaltanwendung verknüpften, in der Gesellschaft verbreiteten Normen und Praxen im Umgang mit Körpern und Körperrisiken. Zunächst zwei Beobachtungen zur Polizeigewalt in Hamburg 1994: Landgericht Hamburg (1996), S. 26 ff.; die Rekonstruktion der übrigen Ereignisse während der Versammlung ist ebenfalls diesem Urteil entnommen. 14 Gössner (u. Mit. v. Neß) 1996. 13
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Die Polizei tritt in zweifacher Form auf: Uniformiert, teilweise mit zusätzlichem Schutz (Helme, Lederjacken, Stiefel) und sogenannten Abdrängstab ausgestattet. Daneben treten zivile Kräfte, die betont leger und locker, um nicht zu sagen sportlich gekleidet sind und ihre Arbeit mit den Händen verrichten. Diese beiden Polizistentypen verrichten wohl koordinierte Teamarbeit in Kleingruppen. Sie fallen nicht wie ehedem noch in der Weimarer Republik oder in den sechziger Jahren bei geschlossenen Einsätzen anzutreffen, in ungeordneten Horden über ihre Gegner her. Neben dem Abdrängstab, der auch zum Schlagen eingesetzt wird, besteht das Hauptmittel der polizeilichen Gewaltanwendung in der Anwendung von bestimmten Griffen und Hebeln etwa am Hals, Beinstellen, Stößen mit der Hand, dem Einsatz des Körpergewichts und schließlich dem Anbringen jenes verhängnisvollen „Fußdrehhebels“. Der unmittelbare Körperkontakt spielt ein zentrale Rolle. In Abwandlung der Rede von der Face-to-face-interaction (Goffman)15 ließe von einer intensiven Body-to-body-Interaction sprechen. Für die der Attacke gegen Neß vorangegangenen Interaktionen zwischen Zivilpolizisten und linken Kundgebungsteilnehmern wissen die Richter des Hamburger Landgerichts denn auch keine andere als die ausgesprochen „unjuristische“ Bezeichnung „Schlägerei“: Man traktiert sich mit bloßen Händen – seitens der Polizei aber keineswegs spontan, aus dem Moment heraus, sondern eingeübt und wohlvorbereitet. „Bein stellen“ und „Fußdrehhebel“ verweisen auf ein eigenes Register der Anwendung körperlicher Gewalt ohne zusätzliche Instrumente: auf Kampfsport. Wie ich mir von einem Kollegen mit langjähriger Judo-Erfahrung habe erläutern lassen, ist jener „Fußdrehhebel“, im Fachjargon auch „Buslenker“ genannt, eine Ringern wie Ju-Jutsu-Kämpfern geläu¿ge Technik.
Kampfsportelemente haben natürlich keineswegs erst in jüngster Zeit, gewissermaßen im Zuge der bundesrepublikanischen Zivilisierung der Polizeipraxis, Einzug in die Polizei gefunden. Im Gegenteil: Über bestimmte Griffe und als empfohlene, aber nicht obligatorische Körperertüchtigung waren die traditionellen japanischen Kampfsportarten Jiu-Jitsu und Judo schon seit längerem in der deutschen Polizei verbreitet. Dabei lag das Schwergewicht aber in erster Linie auf elementaren Grifftechniken, nicht auf dem Erwerb umfassender und notwendigerweise mit viel Zeitaufwand immer wieder zu übenden Kampftechniken.16 Parallel dazu ist jedoch etwa seit den siebziger, zunehmend in den achtziger Jahren eine systematischere und umfassendere Einbeziehung fernöstlicher Kampfsportarten in die Polizeiausbildung, jenseits des eben auch von Polizisten 15 16
Vgl. Goffman 1982. Röhrig 1989, S. 17 f.
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betriebenen Wettkampfsports in Sportarten wie Judo, Karate, Taekwon-Do, Ninjutsu etc. festzustellen.17 In einer vor über dreißig Jahre neu kreierten und mit dem üblichen Reglement wie Gürtelprüfungen, Meisterschaften etc. versehenen Kampftechnik, dem Ju-Jutsu, wurden Elemente verschiedener Kampfsportarten zusammengeführt und vor allem von Polizeisportlehrern popularisiert.18 Insbesondere aus den USA kommen regelmäßig neue Varianten und Schulen, die in Polizeisportvereinen speziell auf die dienstlichen Bedürfnisse abgestimmte Trainingsprogramme anbieten.19 Hervorzuheben ist hierbei jedoch: Die zunehmende Empfänglichkeit für fernöstlichen Kampfsport über das traditionell in der Ausbildung begrenzt gelehrte Jiu-Jitsu hinaus ist keineswegs eine Besonderheit von Polizisten. Die Begeisterung für Karate, Taekwon-Do, Kung-Fu und all die anderen Kampfsportarten mit ihrem jeweiligen Zubehör an Esoterik und Ritualen durchzieht die ganze Gesellschaft, insbesondere – aber keineswegs nur – den heranwachsenden männlichen Teil derselben, aus dem immer noch die meisten Polizisten rekrutiert werden. Natürlich hat dieser verstärkte Einzug des Kampfsports in Polizeiausbildung und -einsatzformen den Gebrauch der herkömmlichen Polizeiwaffen (Schusswaffe, Schlagstock, Wasserwerfer) nicht beseitigt. Im Gegenteil: Vereinzelt führte er sogar zur Einführung neuer fernöstlicher Waffen und deren spezielle Anwendungstechniken wie etwa dem Tonfa, dem langen Schlagstock mit rechtwinklig abstehendem kurzem Griff. Dennoch besteht zwischen diesem heutigen, dezidiert nicht der Militärtechnik unserer Tage entnommenen Waffenarsenal und dem zu Kaisers oder Weimarer Zeiten ein entscheidender Unterschied: Der Säbel als die Polizeiwaffe schlechthin symbolisierte und exekutierte eine enorme sozio-kulturelle Distanz zwischen Herrschaftsordnung und großstädtischem, überwiegend den Unterschichten angehörendem Publikum. Der Säbel war nicht nur äußerst gefährlich, als nur dem Of¿zier zustehende Waffe symbolisierte er zugleich das Gewaltprivileg eines abgehobenen Standes. Die dem Arsenal der Kampfsportarten entlehnten Körper-zu-Körper-Techniken hingegen sind Bestandteil von kulturellen Praxen und Erfahrungen, die unter den Bedingungen des international vermarkteten Sports allgemein zugänglich sind und die die Kontrahenten miteinander teilen. Während die Martial Arts in den Polizeisportverein boomten, begab sich die alternative Szene, und darunter auch viele Frauen, in ihren eigenen Dojos, geleitet von eigenen Meistern auf die Suche nach „SelbstHanisch 1979, S. 15 ff. Süddeutsche Zeitung (1979); Osterkorn 1982; Krüger 1989, S. 7 ff. 19 Anderson 1994, S. 24–26. Zu den jüngsten derartigen auf angebliche oder tatsächliche PolizistenBedürfnisse abgestellten Kampfsportangebote gehört das Ninjutsu, das sich auf die Tradition der legendenumwobenen und durch etliche Martial-Arts-Filme bereits popularisierten Ninja-Kämpfer beruft; siehe Tagesspiegel 1999, Ninjutsu Dojo Berlin 2002. 17
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erfahrung“ und „Selbstverteidigung“. Den Körper als Kampfmittel, wie er im Sport, insbesondere in den fernöstlichen Kampfsportarten und ihren Derivaten, vor allem von jungen Männern trainiert wird, kultivieren „linke“ Street¿ghter/ innen ebenso wie junge Ordnungshüter.20 Physische Gewalt am Anfang und am Ende der 20. Jahrhunderts: eine kontrastive Lektüre Die früher populärste der fernöstlichen Kampfsportarten, das Judo, warb immer mit der Lehre vom „sanften Weg“, wonach diese Kampfweise die Kraft des Gegners gegen diesen lenken würde. Dieses betont defensive, auf die Kunst der Selbstverteidigung zielende Image ist seit jeher ein zentrales Argument der zahlreichen Kampfsport-Verfechter. Auch Polizisten bedienen sich dieses Arguments, um ihre Kollegen etwa in Fachzeitschriften davon zu überzeugen, dass Ju-Jutsu eine Kampftechnik darstelle, um „unter Ausnutzung der Kraft eines Angreifers verhältnismäßig zu reagieren“, anstatt ihn „auszuschalten“ – also um „polizeilich“ statt „militärisch“ zu handeln. Im Kontrast zu den säbelschwingenden Schutzmännern aus Kaisers Zeiten oder den schießwütigen Polizeireservisten etwa des Berliner Blutmai 192921 scheint der direkte Body-to-body-Einsatz von heute in der Tat zunächst einmal weniger gefährlich, weniger blutig, kontrollierter. Dennoch kann er nicht ohne weiteres als Fortschritt gelten, der Verzicht auf körperliche Gewalt in innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen bedeutet. Entscheidend ist der Wandel des kulturellen Codes, der Gewaltausübung formt und normiert. Diese ist abhängig von gesellschaftlich gegebenen und von den Individuen vorgefundenen Leitbildern und Erfahrungsräumen, die sich zugleich über lange Zeiträume hinweg verändern. Zu Beginn des Jahrhunderts erfolgte die Kultivierung und zugleich Disziplinierung männlicher Aggressionsbereitschaft nach militärischen Mustern, im Turnen und im militärischen Drill, in denen zudem Stereotype einer überständigen „Ritterlichkeit“, verkörpert im Säbel als Hoheitszeichen, konserviert wurden. Ob die Herren der höheren Stände mit Säbeln oder Schusswaffen Ehrenhändel austrugen oder der Pöbel niederzuhalten war, man blieb auf Distanz und fügte einander blutende Wunden zu.22 Das entsprach im Übrigen zugleich einer alltäglichen Ubiquität von Verletzungsrisiken 20 (Selbst-)Kritische Auseinandersetzungen mit dem Gewaltkult in der überaus heterogenen, Polizisten, Leistungssportler, Zuhälter, Fitness- und Selbsterfahrungsbedürftige sowie andere normale Menschen einschließende Kampfsportszene sind mir bei meinen Recherchen kaum begegnet. Eine Ausnahme stellt die Abrechnung eines Karate-Aussteigers dar, siehe Goldner 1992. 21 Leßmann-Faust 2000, S. 11–27. 22 Zum Duell in Deutschland s. die klassische Studie von Frevert 1991.
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etwa am Arbeitsplatz, der beim „normalen“ Arbeiter ebenfalls zum unwiederbringlichen Verlust von Gliedmaßen führen konnte und vor dem er nach heutigen Maßstäben nur mangelhaft geschützt war. In der von öffentlicher Wohlfahrt und umfassender Vorsorge durchdrungenen Wohlstandsgesellschaft unserer Tage hingegen nimmt der Wert der körperlichen Unversehrtheit, ja des „nachhaltigen“ Umgangs mit unseren Körpern einen ungleich höheren Stellenwert ein. Der Unfallschutz ist drastisch verbessert, die medizinischen Möglichkeiten, Schäden zu minimieren auch. (Heutzutage wäre Biewald die Hand mit einigen Erfolgschancen wieder angenäht worden, wenn auch zu exorbitanten Kosten, die wir eben für angemessen halten.) Der für das zeittypische Polizeiopfer unserer Tage zuständige Facharzt ist – etwas spekulativ zugespitzt – nicht nur der Unfallchirurg, sondern auch der Orthopäde und Sportmediziner, und zu seiner langwierigen Rehabilitation gehört ausführliches Lauftraining unter ärztlicher Anleitung. Die zum Grundkonsens unserer Gesellschaft gehörende, umfassende, auch im pekuniären Sinne, Wert-Schätzung des Körpers ¿ndet in Geboten zu unserer Lebensführung ihre Fortsetzung: Wir werden unentwegt angehalten, ihn möglichst lang gesund zu halten und dafür viel Zeit und Geld aufzuwenden: Nicht nur durch Verzicht auf Drogenkonsum und übermäßiges Essen, sondern auch durch qualitativ hochwertige Ernährung, durch systematischen Schutz vor Verletzungen und natürlich durch Zeit für körperliche Bewegung, am besten Sport. Anders als zu Kaisers Zeiten ist dieser Sport nicht auf die Eignung der jungen Männer für den militärischen Großverband ausgerichtet, sondern auf das „gesunde“ Individuum beiderlei Geschlechts, das als Einzelkämpfer physisch und psychisch im Kampf ums bürgerliche Dasein bestehen kann. Dieser unserer Lebensweise zugehörige Code, so würde ich als vorläu¿ge These formulieren, färbt auch auf die Gewalt in den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bürgern ab, zumindest wenn wir uns an das Handlungsfeld „Straßendemonstrationen“ halten: Wir können seit Beginn der achtziger Jahre eine Art „Versportlichung“ auf beiden Seiten beobachten. Der 1. Mai in Berlin bietet dazu reichlich Anschauungsmaterial.23 Etwa seit der Hausbesetzerbewegung der achtziger Jahre gehört der aus jungen, durchtrainierten, sportlich gekleideten Zivilpolizisten gebildete Greiftrupp, der blitzschnell in eine Menschenmenge vorstößt, um einzelne Demonstranten zu überwältigen und aus der Menschenmenge zu entfernen, zur festen polizeilichen Einsatzstrategie bei Demonstrationen. Und seit dem Auftauchen derartiger Spezialtrupps wird gelegentlich von deren brutalen Übergriffen gegen Unbeteiligte berichtet, die von einer ausgesprochenen Lust auf „sportliche“ Abenteuer zeugen. In dieser Hinsicht ste-
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Rucht (Hg.) 2003.
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hen die polizeilichen Street¿ghter ihren Szenekontrahenten in Nichts nach.24 Die regelmäßige Randale am 30. April und 1. Mai in Kreuzberg ist daher nicht nur als ein Jahr für Jahr zu beklagender Gewaltexzess zu lesen, ihre sprichwörtliche Ritualisierung verweist zugleich auf Standards der Gewaltanwendung (Angriff auf Läden, Plündern, Steinewerfen und Autos anzünden; gezielte Festnahmen, Stockeinsatz, Tränengas) mit genau festgelegten Rollen der beteiligten Akteure (alternatives Publikum und örtliche Ladeninhaber, Lokalpolitiker, gewaltbereite Jugendliche, polizeiliche und politische Ordnungshüter, kritische bis sensationslüsterne Medien). Seit Jahren hat sich dafür die Rede vom gezielt inszenierten Katz-und-Maus-Spiel etabliert, wobei „Spiel“ den politischer Bezugnahmen weitgehend entledigten Selbstzweck-Charakter dieses getreulich befolgten „protocol of riot“ zutreffend fasst. Abschließend will ich versuchen, den Ertrag des hier vorgenommenen kontrastiven Vergleichs zusammenzufassen. Den Arbeiterprotesten im Kaiserreich wie den KonÀikten zwischen Polizisten und „Linken“ unserer Tage lagen und liegen ritualisierte Abläufe der Polizei-Bürger-Interaktion zugrunde. Damals trat das politisierte proletarische Publikum gegen eine „königliche“ Schutzmannschaft, heute die kritische Großstadtöffentlichkeit und ihre jugendlichen Aktivisten gegen eine polizeitaktisch „gezähmte“ und sich „bürgernah“ gebende Polizei an. So unterschiedlich die den Beteiligten geläu¿gen Gewaltformen im Einzelnen waren, zu beiden Zeiten existierte die Vorstellung eines polizeilichen Gewaltexzesses, der als Übermaß polizeilicher Gewalt Anlass zu Skandal, Kritik und Protest gab. Diese Vorstellung von einer in Zeiten relativer innerer Ordnung und Berechenbarkeit öffentlicher Zustände das Maß des Erträglichen unzweifelhaft überschreitenden Gewaltanwendung war Teil einer in der Öffentlichkeit damals wie heute geführten Diskussion über die Legitimität von Staatsgewalt und konkreten Polizeieinsätzen. Daneben sticht natürlich das Trennende ins Auge: Anhand der jeweiligen Vor-Geschichten des staatlichen Gewaltmonopols, insbesondere seiner gesellschaftlichen Legitimität und damit der beteiligten politischen und sozialen Akteure lassen sich völlig unterschiedliche „Einsätze“ konstatieren: Aus der Sicht der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits überständigen Festungspraxis des preußischen Obrigkeitsstaats und ihrer auf umfassende Bürgerrechte drängenden Gegner ging es „um alles“, um die De¿nition legitimer Herrschaft in Staat und Gesellschaft und um die in diesem Kampf legitimerweise einzusetzenden Machtmittel. Am Ende des 20. Jahrhundert hingegen liegt den Auseinandersetzungen ein selbstverständlicher Konsens über die Legitimität des modernen Rechtsstaats mit einer auf den Schutz von Bürgerrechten verpÀichteten Exekutivgewalt zu-
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Ein Beispiel siehe Schmidt 2000.
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grunde: KonÀikte entstehen und eskalieren im Rahmen dieses Konsenses, weil auch dieser gegebene Rahmen missbräuchliche und an partikularen Eigeninteressen orientierte Polizeigewalt in der Praxis nicht ausschließt. Die Polizeikritik im späten Kaiserreich war Teil einer wesentlich umfassenderen Fundamentalkritik an den verrotteten politischen Zuständen vor allem in Preußen; in dem Maße, wie die angegriffenen Oligarchien die Unverbrüchlichkeit ihrer Machtstellung mit der gesellschaftlichen Ordnung überhaupt identi¿zierten, rüttelte diese Kritik tatsächlich an den Grundlagen des politischen Systems. Die Polizeikritik unserer Tage hingegen ist integraler und als notwendig anerkannter Bestandteil einer pluralen Demokratie; sie zielt kaum auf das System an sich, als auf seine Performanz im konkreten Einzelfall. Um zu verstehen, wie Gewalt zwischen Polizisten und Bürgern in diesen gegensätzlichen Situationen konkret funktionierte, sind Kenntnisse über die Praxis physischer Gewalt im sozialen Alltag bzw. allgemeiner die Kultur des Umgangs mit Körper und Körperrisiken, also das gesellschaftlich konditionierte Verhältnis zur körperlichen Unversehrtheit erforderlich.25 In den Aggregatzustand historischer Gewaltverhältnisse gehen historisch gegebene mentale Voraussetzungen ein: Im späten Kaiserreich war die Prügelstrafe von Eltern, Dienstherren und Vorgesetzten an Kindern und Untergebenen (bei letzteren zumindest bis ins Rekrutenalter) eine bare Selbstverständlichkeit, während höhergestellten Standesgenossen „ehrbare“ Waffenhändel als Form der gewaltsamen KonÀiktaustragung selbstverständlich war. Unser Gesellschaft hingegen fordert und fördert nicht nur den umfassenden Gewaltverzicht zwischen Individuen, sondern auch ein Gesundheits- und Fitnessideal, das jeden und jede einschließen soll, zugleich jedoch unter dem Label des „Sports“ den legitimen Rahmen für die Kultivierung neuer, hybridisierter Formen des ritterlich-männlichen Kampfes abgibt. Unter modernen Bedingungen arbeitsteilig und professionell ausgeübter Staatsgewalt repräsentiert die öffentliche Polizei eine der zentralen Schnittstellen zwischen politisch legitimer Herrschaft und den Lebenswelten der Individuen. Angesichts der rechtlich-institutionellen und gesellschaftlichen Kontinuität dieser Institution sollten wir am Schluss nicht darauf verzichten, auch nach historischen Veränderungen in ihrer Gerichtetheit zu fragen: Zweifellos lässt sich für das 20. Jahrhundert in Deutschland eine langfristige „Zivilisierung“ der Polizeigewalt feststellen. Dies zu tun heißt nun nicht einen teleologisch hergeleiteten, unumkehrbaren Modernisierungsprozess zu unterstellen. Wir haben es vielmehr mit dem Produkt einer Sedimentierung von konkreten Erfahrungen im Umgang mit Gewalt zu tun – den Erfahrungen jener Generationen, die in der hier nicht behandelten Phase einer von tatsächlichem oder drohendem Krieg und Bürgerkrieg,
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Popitz 1992, insbes. Kap. „Gewalt“, S.43–78.
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von Diktaturen und extremen Notzeiten, bestimmten Gewalt, ausgeübt durch staatliche und nicht-staatliche Akteure, handeln. So weit diese mittlerweile auch zurückliegen, dienen sie heutigen Zuständen immer noch als Negativfolie – als das, wohin keiner mehr zurück will. Literatur Anderson, Arnold 1994: „Marshaling“ an Old Art. Matrial Arts in Police Training, in: FBI Law Eforcement Bulletin 63, H. 10, S. 24–26 Aust, Stefan 1998: Der Baader-Meinhof-Komplex, München Frevert, Ute 1991: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München Goffman, Erving 1982: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main Goldner, C. G. 1992: Fernöstliche Kampfkunst, München Gössner, Rolf 1996: Polizei im Zwielicht: Gerät der Apparat außer Kontrolle ?, Frankfurt am Main Hanisch, Peter 1979: Spezialfortbildung für Greif- und Festnahmetrupps in den Einsatzabteilungen und -bereitschaften, in: Bereitschaftspolizei – heute 9, H. 4, S. 15–18 Krüger, Rolf 1989: Die Selbstverteidigungsschutzausbildung im Bundesgrenzschutz, in: Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes (BGS) 16, H. 6, S. 7–9 Landgericht Hamburg 1996: Urteil in der Strafsache gegen O. H., O. A. wegen Körperverletzung im Amt pp, am 26. Juni 1996, (Az. 614 KLs 22/95; 830 Js 194/94), S. 26–28, Informations- und Dokumentationsstelle des Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit e. V. an der FU Berlin Leßmann, Peter 1989: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik. Streifendienst und Straßenkampf, Düsseldorf Leßmann-Faust, Peter 2000: „Blood May“. The Case of Berlin 1929, in: Bessel, R./Emsley, C. (Hg.): Patterns of Provocation. Police and Public Disorder, New York/Oxford, S. 11–27 Lindenberger, Thomas 1995: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin, 1900–1914, Bonn Lindenberger, Thomas 2003: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat, Köln Lüdtke, Alf 1982: „Gemeinwohl“, Polizei und „Festungspraxis“. Staatliche Gewaltsamkeit und innere Verwaltung in Preußen, 1815–1850, Göttingen Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, (Hg.) 1986: Als die Deutschen demonstrieren lernten. Das Kulturmuster „friedliche Straßendemonstration“ im preußischen Wahlrechtskampf 1908–1910. Begleitband zur Ausstellung des Tübinger Schlosses vom 24. Januar bis 9. März 1986, Tübingen Mertens, Victor E. 1907: Experimentelles über die Wirkung zweier Schutzmannssäbel, in: Zeitschrift für Medizinalbeamte 20, S. 537–539
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Ninjutsu Dojo Berlin 2002: Ninjutsu Dojo Berlin im Polizei-Sport-Verein Berlin e. V., URL: http://www.ninjutsu-dojo-Berlin.de/ninja.htm, [15.04.2002] Osterkorn, Thomas 1982: Ein Griff, und der Mann mit dem Messer fällt auf die Nase. Hamburgs Polizisten über die waffenlose Selbstverteidigung, in: Hamburger Abendblatt, 20.11.1982 Popitz, Heinrich 1992: Phänomene der Macht, 2Tübingen, S.43–78 Röhrig, Lothar 1989: Eingriffstechniken. Das Zauberwort heißt: GRA, in: Deutsches Polizeiblatt 7, H. 3, S. 17–18 Rucht, Dieter (Hg.) 2003: Berlin 1. Mai 2002. Politische Demonstrationsrituale, Opladen (Bürgergesellschaft und Demokratie, 11) Thoma, Ludwig/Heine, Th. 1906: Der Breslauer Krawall oder die abgehackte Hand !! Flugblatt des Simplizissimus, Einlage in: Simplizissimus 11, 16.07.1906 Schmidt, Werner 2000: Von Kollegen angezeigt: Zivil-Polizisten verprügelten unbeteiligte Passanten. Bodyguards des Polizeichefs schlugen in Kreuzberg wild um sich, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 11.5.2000 Weinhauer, Klaus 2003: Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und innerer Sicherheit: Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn Winter, Martin 2000: Polizeiphilosophie und Protest policing in der Bundesrepublik Deutschland – von 1960 bis zur staatlichen Einheit 1990, in: Lange, H.-J. (Hg.): Staat, Demokratie und innere Sicherheit in Deutschland, Opladen, S. 203–220 Beförderung durch einen Karateschlag. Kriminologe regt verstärkte Ausbildung der Polizisten in Selbstverteidigung an (dpa-Meldung), Süddeutsche Zeitung, 25.10.1979 Kampfkunst-Seminar in der Polizeischule [US-amerikanischer Polizeiausbilder stellt Ninjutsu vor], Tagesspiegel, 08.04.1999 Vorwärts, Nr. 163, 17.07.1906, 2. Beilage Vossische Zeitung, Nr. 327, 16.7.1906, 2. Beilage Vossische Zeitung Nr. 334, 20.7.1906, 1. Beilage
Die Straße beherrschen, die Stadt beherrschen. Sozialraumstrategien und politische Gewalt im Ruhrgebiet 1929–1933 Daniel Schmidt
Am Morgen des 16. Oktober 1932 befanden sich die ausgedehnten Arbeiterquartiere der Dortmunder Nordstadt in heller Aufregung – von Süden kommend näherten sich mehrere Kolonnen uniformierter SA-Männer, insgesamt etwa 800 Nationalsozialisten, die von einigen Hundertschaften Polizei begleitet wurden.1 Am Vorabend hatte die NSDAP in einer öffentlichen Versammlung die „Wiedereroberung“ des „roten Nordens“ angekündigt. Nicht zufällig fand diese Veranstaltung in der Gastwirtschaft „Börse“ am Viehmarkt statt, also in unmittelbarer Nähe des bevorzugten Versammlungsplatzes der Kommunisten – nicht nur das Vorhaben selbst, auch der Ort seiner Verkündung stellte also eine ungeheure Provokation dar. Als sich die Nationalsozialisten am folgenden Sonntagmorgen sammelten und auf den Weg in Richtung Norden machten, wurden sie dementsprechend bereits erwartet: Die Häuserschutzstaffeln der KPD waren alarmiert, um die Invasion der „Faschisten“ abzuwehren. Zahlreiche Menschen versammelten sich auf den Straßen – aus Neugier, aus Furcht oder um sich der SA entgegenzustellen. Nachdem sie in ihrem Zielgebiet eingetroffen waren – of¿ziell, um Flugblätter zur kommenden Reichstagswahl zu verteilen – setzten die Nationalsozialisten alles daran, die ohnehin angespannte Lage eskalieren zu lassen: Einzelne Trupps drangen in Häuser ein, belästigten Passanten und zettelten Schlägereien an. Verbale Auseinandersetzungen spitzten sich zu, schließlich Àogen Steine. Nachdem eine SA-Kolonne beschossen und zwei Männer schwer verletzt worden waren, entwickelte sich eine regelrechte Straßenschlacht, bei der die SA allerdings nur noch eine Nebenrolle spielte: Im unübersichtlichen urbanen Terrain Àammten an verschiedenen Stellen Kämpfe zwischen Polizisten und Kommunisten auf, bei heftigen Schusswechseln wurden zwei Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt. Unter den Getöteten befand sich auch eine unbeteiligte junge Frau, die von einer Polizeikugel getroffen wurde, als sie aus dem Fenster Zum Folgenden: Landesarchiv NRW – Abteilung Westfalen [STAMS] Staatsanwaltschaft [StA] Dortmund 1154; Generalanzeiger vom 17., 18. und 20.10.1932; Klotzbach 1969, S. 78 f.; Schmidt 2006, S. 267 f.
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A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_11, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ihrer Wohnung schaute. Der Dortmunder Norden kam erst zur Ruhe, nachdem die Polizei die SA-Kolonnen zusammengefasst und aus den proletarischen Vierteln hinaus eskortiert hatte. Obwohl dieser Abgang alles andere als ruhmreich erscheint, feierte die NSPresse die Ereignisse als großen Sieg.2 Tatsächlich hatte die Dortmunder SA unter Beweis gestellt, dass sie dazu in der Lage war, die halbe Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Obwohl von der angekündigten Eroberung des Nordens weit entfernt, handelte es sich nach den Maßstäben der Nationalsozialisten um einen symbolträchtigen Erfolg. Auch die Kommunisten verkündeten stolz einen Sieg auf der ganzen Linie: Sie hatten im „Dortmunder Wedding“ ihre Herrschaft behauptet und die „Faschisten“, also SA und Polizei, verjagt.3 Auf Seiten der Dortmunder Polizei jedoch gab es keinerlei Anlass zur Freude. Trotz eines beträchtlichen Kräfteansatzes war es nicht gelungen, Ruhe und Ordnung auf den Straßen zu gewährleisten. Im Gegenteil: Der „Dortmunder Blutsonntag“ verstärkte vielmehr den Eindruck, dass die Polizei die Kontrolle über Teile der Stadt verloren hatte. Um diesem Anschein entgegenzuwirken, rückten am folgenden Morgen erneut mehrere Hundertschaften Polizei in die Nordstadt ein und durchkämmten sie. Diese Razzia verfolgte weniger den Zweck, tatsächlich Waffen zu ¿nden oder Heckenschützen zu verhaften, es handelte sich vielmehr um einen Akt symbolischer Gewalt, der den Bewohnern des Aufruhrgebiets schockartig die Überlegenheit der Staatsmacht vor Augen führen sollte.4 Die großangelegte Aktion ist also als Versuch der Polizei zu verstehen, sich eines verloren geglaubten Terrains rasch wieder zu bemächtigen und so dem eigenen Gewaltmonopol erneut Geltung zu verschaffen. Ausgehend von den Ereignissen des 16. Oktober 1932 möchte ich im Folgenden die Macht- und Straßenkämpfe in der Ruhrgebietsmetropole Dortmund, einer Gewalthochburg der frühen 1930er Jahre, untersuchen. Dabei knüpfe ich zum einen an eine Reihe wichtiger Studien an, die im vergangenen Jahrzehnt zur politischen Gewalt in der Weimarer Republik erschienen sind5, setze aber zum anderen sowohl in regionaler als auch in konzeptioneller Hinsicht neue Schwerpunkte. Während sich die einschlägige Forschung zumeist auf die Perspektive der Militanten auf beiden Seiten des politischen Spektrums konzentriert und den Staat, obwohl in Gestalt seiner Polizisten zentraler Akteur, tendenziell en passant behandelt, ist es das Anliegen dieses Beitrags, die Polizei stärker in die Analyse politischer Gewalt einzubinden. Im Mittelpunkt stehen also die Gewaltstrategien Vgl. Rote Erde vom 17.10.1932 Vgl. Der Kämpfer vom 1.11.1932 4 Sofsky 1997, S. 109 ff. 5 Vgl. u. a. Schmiechen-Ackermann 1998; Wirsching 1999; Schumann 2001; Reichardt 2002; Swett 2005 2
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und -praktiken von Polizisten, Kommunisten und Nationalsozialisten in ihrer gegen- und wechselseitigen Bedingtheit. Besondere Bedeutung kommt dabei der sozialräumlichen Dimension der Auseinandersetzungen zu.6 Da diese markante territoriale Signatur eine Konsequenz der zunehmenden Politisierung des öffentlichen Straßenraums in der Moderne war, bildet das Konzept der Straßenpolitik den Ausgangspunkt meiner Überlegungen.7 Straßenpolitik Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderten die Straßen der Städte sowohl ihre Funktion als auch ihre Bedeutung: Sie entwickelten sich vom Ort sozialer Kommunikation zum Ort politischer Artikulation und Mobilisation, vom Ort herrschaftlicher Repräsentation zum Ort politischer Manifestation und Konfrontation.8 In der „Politik-Arena“ Straße9 wurde nun um die Macht im Staat und die Gestaltung des politisch-sozialen Systems gekämpft. Straßenpolitik, verstanden als breites Spektrum physisch-symbolischer Auseinandersetzungen auf der Straße und um die Straße, vollzog sich als KonÀikt zwischen einerseits dem Staat und seinen Institutionen und andererseits denjenigen sozialen Gruppen, die von der Teilhabe an der Herrschaft ausgeschlossen waren.10 Dementsprechend ist also zwischen einer Straßenpolitik von oben und einer Straßenpolitik von unten zu unterscheiden. Der Staat verfolgte zwei wesentliche straßenpolitische Ziele: Zum einen diente ihm der Straßenraum zur Repräsentation und Visualisierung von Macht, indem beispielsweise eine an obrigkeitlichen Inszenierungsbedürfnissen orientierte bauliche Gestaltung vorgenommen oder aber bei Militärparaden das staatliche Gewaltpotential vorgeführt wurde.11 Zum anderen strebte die Obrigkeit nach der alltäglichen Kontrolle des Straßenraums. Zu diesem Zweck setzte der Staat seine Gewaltmittel – vor allem seine Polizeikräfte – ein, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, die Bevölkerung zu disziplinieren und somit gleichzeitig eine potentielle Opposition niederzuhalten.12 Dem staatlichen Willen zur Suprematie stellte sich eine Straßenpolitik von unten entgegen, die ebenfalls zwei Dimensionen aufweist. Erstens handelt es sich um die Summe zahlreicher vor- bzw. nur implizit politischer Straßenereignisse und –zusammenstöße zwischen Angehörigen Vgl. Schmiechen-Ackermann 1996, S. 255 Vgl. Gailus 1990; Lindenberger 1995 8 Vgl. Scharfe 1983, S. 174 f.; Kaschuba 1991, S. 68 ff. 9 Vgl. Lüdtke 1982, S. 339 f. 10 Vgl. McElligott 1983, S. 83; Gailus 1990, S. 37 f.; Lindenberger 1995, S. 12 ff. 11 Vgl. Hobsbawm 1969, S. 113; Lefèbvre 1991, S. 85; Münkler 1995, S. 218 ff.; Lindenberger 1995, S. 60 ff. 12 Vgl. Lefèbvre 1991, S. 282; Foucault 1994, S. 274 f.; Lindenberger 1995, S. 13 f. 6
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städtischer Unterschichten und der Polizei, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie dem staatlichen Machtanspruch auf die Straße zuwiderlaufende Interessen artikulieren.13 Zweitens beinhaltet Straßenpolitik von unten kollektive und direkte Aktionen mit explizit politischen Zielen, die sich vor allem durch den Grad ihrer Gewalthaftigkeit unterscheiden. Es kann sich also sowohl um revolutionäre Straßengewalt als auch um friedliche Straßendemonstrationen handeln.14 Straßenpolitische Akteure streben also danach, den öffentlichen Raum zu besetzen oder zu behaupten – und folgen dabei symbolpolitischen Strategien. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich Straßenpolitik stets als Terrainkampf, der beispielsweise bereits während der Revolution von 1848/49 oder im Rahmen der preußischen Wahlrechtskämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist.15 Nach dem Ersten Weltkrieg spitzten sich die KonÀikte um die öffentliche Repräsentation von Macht und Stärke zu. In Gestalt der kommunistischen und faschistischen Bewegungen formulierten neue Akteure neue Ziele und etablierten neue Methoden zu deren Erreichung. Es galt, das Straßenbild nicht nur mit Flaggen und Plakaten zu beherrschen, sondern auch und vor allem durch (uni-) formierte physische Präsenz.16 Diese „zunehmende Visualisierung, Dramatisierung und GewaltauÀadung des Politischen“17 in Verbindung mit dem Auftreten neuer, untereinander konkurrierender sozialer Bewegungen veränderte die straßenpolitischen Rahmenbedingungen nachhaltig. Staat und Polizei waren herausgefordert, auf diesen fundamentalen Wandel zu reagieren. Die polizeiliche Durchdringung des Ruhrgebiets In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand im Rahmen eines beispiellosen Prozesses das Ruhrgebiet, ein industrieller Ballungsraum ersten Ranges, der durch eine zutiefst polarisierte Gesellschaftsstruktur gekennzeichnet war. Das daraus resultierende KonÀiktpotential – und die entsprechenden Ordnungsprobleme – waren von Bürgertum und Obrigkeit schon früh als enorme Sicherheitsrisiken identi¿ziert worden. Konsequenterweise begleitete der preußische Staat die industrielle Expansion mit einem sukzessiven Ausbau der Polizei, die als „Disziplinierungsagentur“18 für die Industriebevölkerung fungieren sollte.
Vgl. Kaschuba 1991, S. 75 f.; Lindenberger 1995, S. 16 f. Vgl. Kaschuba 1991, S. 68 f.; Lindenberger 1995, S. 304 f. 15 Vgl. Gailus 1990, S. 411 ff.; Warneken 1986, S. 71 ff. 16 Vgl. Schumann 2001, S. 143 ff.; Reichardt 2005, S. 219 17 Reichardt 2007, S. 395 18 Jessen 1991, S. 23 13 14
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Um eine möglichst weitreichende Überwachung zu gewährleisten, wurden die Städte des Ruhrgebiets seit dem späten 19. Jahrhundert mit einem Àächendeckenden System von Stützpunkten und Beobachtungsposten überzogen. Dieser Ausbau der polizeilichen Infrastruktur bedeutete eine strategische Durchdringung des öffentlichen Raumes, die sowohl sicherheits-, als auch symbolpolitischen Erwägungen folgte.19 So scheuten die staatlichen Polizeiverwaltungen des Ruhrgebiets in den 1920er Jahren weder Mühen noch Kosten, sich durch repräsentative, moderne und funktionale Bauvorhaben als ebenso machtvolle wie moderne Behörden zu inszenieren.20 Vor diesem Hintergrund erinnerten die neu errichteten Polizeiämter und Polizeipräsidien in ihrer architektonischen Gestaltung an Festungen und führten so einer potentiell renitenten Bevölkerung den Herrschaftsanspruch des Staates symbolisch vor Augen. Dementsprechend war es kein Zufall, dass die Dortmunder Polizei im Jahr 1928 eines der modernsten Polizeigefängnisse Europas am Viehmarkt errichten ließ, also im – symbolischen, nicht geographischen – Zentrum des von den Kommunisten dominierten Nordens der Stadt.21 Im nördlichen Stadtgebiet Dortmunds ballten sich, eingerahmt von gewaltigen Hütten- und Stahlwerken und zahlreichen Zechen, dicht besiedelte Arbeiterquartiere, die insbesondere in den 1920er Jahren eine fortschreitende Tendenz zur Deklassierung und Verelendung aufwiesen. Bedingt durch jahrelange öffentliche Vernachlässigung und schwere sozioökonomische Krisen staute sich ein Frustrationspotential an, dessen Folgen in einer deutlich erhöhten Kriminalitätsrate und einer verstärkten Tendenz zu politischem Radikalismus bestanden.22 Die Dortmunder Nordstadt, als sozial prekär und politisch unzuverlässig stigmatisiert, wurde sehr viel stärker poliziert als andere Bezirke der Stadt: Während sich in vergleichbaren Vierteln in Süden, Westen oder Osten der Stadt jeweils ein Polizeirevier befand, war die Zuständigkeit für den Norden auf vier Reviere aufgeteilt.23 Ausgehend von diesen Basen spannte die Polizei ein engmaschiges Netz von Posten und Streifen auf, deren dichte Präsenz ein hohes Maß an Kontroll- und Präventionskapazität gewährleisten sollte. Diese „kleinräumige revierzentrierte und fußstreifengestützte Organisationsform“24 implizierte ein permanentes KonÀiktpotential, da die Bewohner der als Ordnungs- und Sicherheitsrisiko eingestuften Viertel die patrouillierenden Polizisten als stetige Provokation wahrnahmen. In einer Arbeitergegend wie dem Hoeschviertel rund um Vgl. Lefèbvre 1991, S. 57 f.; Foucault 1994, S. 272 f.; Schmidt 2008, S. 103 f. Vgl. Leßmann-Faust 2001, S. 112 21 Vgl. Bohrisch 1996; Schmidt 2008, S. 104 22 Vgl. Klotzbach 1969, S. 21; Schmiechen-Ackermann 1998, S. 117 ff. 23 Vgl. Schmidt 2008, S. 105 24 Weinhauer 2003, S. 211
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den Borsigplatz bestand für einschreitende Polizisten stets die Gefahr, dass sich die Polizierten solidarisierten. Die Folge konnten spontane Gewaltausbrüche sein. So sah sich eine Polizeistreife am Abend des 4. Juli 1930 in der Borsigstraße plötzlich mit einer Menge von fast 2.000 Menschen konfrontiert, die für einen jungen Arbeiter Partei ergriff, den die Beamten kurz zuvor wegen einer Tätlichkeit festgenommen hatten und nun zur Wache bringen wollten. Als ein Überfallkommando sowie acht Beamte des 6. Reviers mit Gummiknüppeln eingriffen, eskalierte die Situation, es Àogen Steine und BierÀaschen aus der Menge und aus den Fenstern. Mehrere Beamte wurden abgedrängt und umzingelt. Erst als die Polizei Schreckschüsse abgab, liefen die Menschenmassen auseinander. Zwei Polizisten wurden durch Steinwürfe leicht verletzt.25 Vor dem Hintergrund solcher latenten Alltagsrisiken, aber auch der aus den frühen 1920er Jahren stammenden Bürgerkriegserfahrung, begriffen die Polizisten ihren urbanen Einsatzraum vorwiegend als potentiell feindliches Terrain, das es systematisch zu befrieden galt. Dessen alltägliche Durchdringung folgte exakten Regularien, d. h. ausgefeilten Streifenplänen, deren unbedingte Einhaltung streng kontrolliert wurde. Dem disziplinierenden Auftrag entsprach also ein rigides internes Disziplinierungsregime im täglichen Dienstbetrieb.26 Die strikte bürokratische Routine staatlicher Straßenpolitik konterkarierte die in der zeitgenössischen Polizeitheorie immer wieder betonte Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, zu der die Polizisten erzogen werden sollten.27 Der Versuch, den öffentlichen Raum möglichst planmäßig zu durchdringen, begrenzte zudem die Erfolgschancen der Polizeiarbeit, da es angesichts der genau zu befolgenden Vorgaben kaum Möglichkeiten gab, auf unerwartete Vorkommnisse zu reagieren. Dennoch galt die disziplinierte Straßenpräsenz der Polizisten als Schlüssel zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, da sie nicht nur staatliche Allgegenwart suggerierte, sondern der Öffentlichkeit auch ein bestimmtes Bild der Polizei vermittelte. Die „körperliche Rhetorik“28 des straffen, sauberen und korrekt uniformierten Polizisten diente als Ausweis seiner inneren, soldatischen Haltung. Nachlässigkeiten in Kleidung oder Hygiene deuteten nach dieser tief in der Gesellschaft verankerten Sichtweise hingegen auf Charakterschwäche hin.29 Während also im Falle eines Polizisten der perfekte Zustand seiner Uniform auf seine moralische Integrität, Autorität und Legitimation verwies, wurde das Vgl. STAMS Regierung Arnsberg 29743; Tremonia v. 6.7.1930; Schmidt 2008, S. 117 f. Vgl. Schmidt 2008, S. 110 ff. 27 Vgl. Andrae 1929, S. 67; Palm 1933, S. 68 28 Foucault 1994, S. 174 29 Vgl. Mosse 1997, S. 35 ff.; Weinhauer 2003, S. 144 25
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verwahrloste Äußere eines Arbeitslosen als Ausdruck der durch ihn verkörperten Gefährdung der Prinzipien von Sicherheit und Ordnung gedeutet. In den Augen eines entsprechend sozialisierten Polizisten wurde der Deklassierte so schnell zum Lumpen, den normengerecht zu behandeln überÀüssig war. Dies verweist auf ein wesentliches Kennzeichen der Polizei im Ruhrgebiet in der Zwischenkriegszeit: Polizisten nahmen die Wirklichkeit durch den Filter eines dichotom angelegten Weltbildes wahr und entwickelten eine spezi¿sche Sichtweise des pauschalen Verdachts. Sie unterteilten ihr Gegenüber anhand bestimmter Merkmale wie Wohnsitz, Aussehen etc. in „normal“ bzw. „abweichend“.30 Ganze Stadtviertel, komplette soziale Gruppen wurden auf diese Weise generalisierend als verdächtig de¿niert.31 Derartige kategorische Perzeptionen und kulturelle Dispositionen32 führten zu festgefahrenen Handlungsmustern, das heißt zu vorgeblich bewährten und für die entsprechende Klientel als angemessen betrachteten Praktiken. Da die De¿nitionsmacht eines Polizisten, d. h. seine „sozial vorstrukturierte Chance, eine Situation für andere verbindlich zu de¿nieren“33, weit über seine rechtlich abgesicherten Kompetenzen hinausgeht, sind ihm im Rahmen seines dienstlichen Handelns weit gefasste Spielräume ermöglicht. In der Konsequenz mussten Angehörige der stigmatisierten Gruppen im Umgang mit der Polizei deutliche Nachteile in Kauf nehmen, insbesondere auch weil ihre potentielle Beschwerdemacht gering war.34 Polizeiliche Vorurteile und Feindbilder rekurrierten nicht nur auf soziale bzw. sozialräumliche Deutungsmuster, sie waren auch weltanschaulich akzentuiert. Vor allem aus den Wirren der Nachkriegszeit, insbesondere aus den Märzkämpfen von 1920 und den ersten Monaten des Ruhrkampfs 1923, bezog die Polizei des Ruhrgebiets ein nahezu unerschöpÀiches Arsenal an Mythen und Erzählungen.35 Diese kollektiv geteilten stilisierten Erinnerungen an die Nahvergangenheit überhöhten und heroisierten zum einen den polizeilichen Kampfeinsatz, zum anderen dämonisierten sie den Gegner, also die „Roten“ bzw. die „Bolschewisten“: Diese hätten sich durch eine ausgesprochen hinterhältige und grausame Kampfesweise ausgezeichnet.36 Solche Deutungsmuster prägten sich nicht nur bei den direkt beteiligten Polizisten aus der Front- und Freikorpskohorte ein – sie wurden von diesen älteren Beamten auch an ihre jüngeren Kameraden weitergegeben. So festigte sich nicht nur das soldatische Selbstverständnis innerhalb der Polizei, es vererbten Vgl. Feest/Blankenburg 1972, S. 56 f.; Jessen 1995, S. 33 Vgl. Schmidt 2008, S. 114 ff. 32 Vgl. Lüdtke 1992, S. 20 33 Feest/Blankenburg 1972, S. 19 34 Vgl. Feest/Blankenburg 1972, S. 46 ff. 35 Vgl. Schmidt 2008, S. 391 ff. 36 Vgl. Roden 1934, S. 50 f. 30 31
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sich auch Feindbilder, deren Wirksamkeit durch die polizeilicher Wahrnehmung inhärente Tendenz zur Stereotypisierung begünstigt wurde. Mithin wirkte die Erinnerung an die Auseinandersetzungen aus der Frühphase der Republik auch ein Jahrzehnt später handlungsleitend. In Verbindung mit den in der Ausbildungspraxis und auf informellen Wegen implementierten Vorstellungen über wehrhafte Männlichkeit und einer nur oberÀächlich gezügelten Gewaltbereitschaft ergab sich eine spezi¿sche kriegerische Mentalität. Geführt von Polizeiof¿zieren, die der Republik aus einem militärisch geprägten Selbst- und Weltbild heraus überwiegend ablehnend gegenüber standen37, operierten zu Beginn der 1930er Jahre nicht nur die in Krieg und Nachkrieg antibolschewistisch imprägnierten älteren Schutzpolizisten, sondern auch die Angehörigen der jüngeren Polizistenkohorte, die in den Polizeibereitschaften Dienst taten, im mentalen Bürgerkriegsmodus. Ihre straßenpolitische Praxis folgte mithin nicht ausschließlich den Vorgaben von oben, sondern besaß eine eigene Dynamik, die regelmäßig in Überschreitungen und exzessive Misshandlungen mündete. Am 22. Juni 1930 beispielsweise wurden im Anschluss an eine gewalttätig verlaufene Demonstration in Dortmund mehrere Kommunisten im Hof des 5. Polizeireviers, wegen seiner Lage am Steinplatz als „Steinwache“ bekannt und nach 1933 als Gestapogefängnis und „Hölle Westdeutschlands“ berüchtigt, derart zusammengeschlagen, dass ein unbeteiligter Zeuge von Szenen „unbeschreiblicher Bestialität“ sprach.38 Auch berichtete die liberale Presse mit beißender Ironie von den „Heißspornen“ in der Polizei, „die eine frischfröhliche Attacke gerne mitmachen“, wenn es gegen die Kommunisten gehe.39 Vor allem aber starben in den letzten drei Jahren der Republik in Deutschland 170 Kommunisten und zahlreiche Unbeteiligte durch Polizeiwaffen, die den Faschismus-Thesen der KPD so traurige Plausibilität verliehen.40 Mit ihrer Kombination aus martialischen Männlichkeitsbildern, Imaginationen soldatischer Kameradschaft und klaren Feindbilder stand die gelebte Polizistenkultur41 in einem diametralen Gegensatz zu den zivilen und demokratischen Leitbildern of¿zieller preußischer Polizeipolitik.42 In deren Mittelpunkt stand das Idealbild milden und angemessenen polizeilichen Handelns, getragen von Beamten, die sich, so der Bochumer Polizeipräsident Georg Stieler, als „Freund und Berater der Bevölkerung, [als] Vertrauensmann für jeden Volksgenossen“43
Vgl. Schmidt 2008, S. 226 ff. Vgl. Generalanzeiger vom 27.2.1931 39 Vgl. Generalanzeiger vom 5.5.1930 40 Vgl. Weber 1982, S. 69 41 Vgl. Behr 2000 42 Vgl. Bessel 1992, S. 328 f.; Schmidt 2008, S. 93 f. 43 Bochumer Anzeiger vom 27.10.1925 37
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verstehen sollten. Die Idee einer modernen „wahren Volkspolizei“44, die vor allem mit dem preußischen Innenminister Carl Severing und seinem Staatssekretär Wilhelm Abegg verbunden ist, wurde in der Mitte der 1920er Jahre, vor allem in Gestalt der Großen Berliner Polizeiausstellung von 1926, offensiv an die Öffentlichkeit getragen. In der polizeilichen Praxis jedoch waren diesem „Freund-undHelfer“-Konzept enge Grenzen gesetzt. Kommunistische Straßenpolitik Eine frappierende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit kennzeichnete auch die Kommunisten im Ruhrgebiet, erstens hinsichtlich ihrer organisatorischen Stärke und zweitens in ihrer Gewaltstrategie und ihren straßenpolitischen Praktiken. Auf den ersten Blick musste die KPD den Zeitgenossen gerade im Ruhrgebiet als kraftstrotzende Organisation erscheinen – je nach Standpunkt, als enorme Bedrohung für die bestehende Ordnung oder als verlässliche Garantin einer besseren Zukunft. Bei den Wahlen zu Beginn der 1930er Jahre etablierte sich die KPD in vielen Städten des Ruhrgebiets als stärkste Partei. Allein in Dortmund wählten am 6. November 1932 fast 100.000 Menschen kommunistisch – die Stadt erwies sich somit neben Berlin und Gelsenkirchen als bedeutendste Hochburg der KPD.45 Die tatsächliche Schlagkraft der Kommunisten im Bezirk Ruhrgebiet entsprach jedoch weder ihren beeindruckenden Wahlerfolgen noch ihrer beträchtlichen Mitgliederzahl von etwa 30.000 Menschen.46 So charakterisierte im März 1932 ein Mitglied der KPD-Bezirksleitung in Essen seine Partei wie folgt: „Nach außen mächtige Fassaden und innen hohl.“47 Eine tatsächliche Massenbasis in den Betrieben konnte ebenso wenig geschaffen werden, wie es gelang, die sehr volatile Mitgliederschar dauerhaft zu binden.48 Dieses Problem betraf insbesondere die kommunistischen Wehrorganisationen wie den „Kampfbund gegen den Faschismus“ (KBF) oder den „Roten Massenselbstschutz“.49 So wird die beachtliche Zahl von etwa 3.100 kommunistischen Kampfbündlern in Dortmund Ende 193150 – dies bedeutete zu diesem Zeitpunkt eine mehr als dreifache Überlegenheit gegenüber der SA – durch eine hohe Fluktuationsrate relativiert. Zudem Severing I 1950, S. 317 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 382, Berlin 1932; Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 434, Berlin 1935; Bahne 1974, S. 350 46 Vgl. Peukert 1980, S. 48 ff. 47 Zitiert nach: Mallmann 1996, S. 365 48 Vgl. Bahne 1974, S. 321 ff.; Fischer 1991, S. 161 49 Vgl. Rosenhaft 1983, S. 92 ff. 50 Vgl. STAMS Polizeipräsiden 25 44 45
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versäumte es die KPD, die potentielle Militanz ihrer Anhänger effektiv zu organisieren: Statt in Nachfolge des 1929 verbotenen Rotfrontkämpferbundes (RFB) eine neue einheitliche Parteiarmee zu bilden, verzettelten sich die Kommunisten in diversen Parallelgründungen. Auch die illegalen Strukturen der Partei, der legendenumwobene „Apparat“, litten an mangelnder Koordination.51 In dieser organisatorischen Schwäche wurzelte die strukturelle Unterlegenheit der kommunistischen Kampfbünde gegenüber der SA.52 Sowohl die Geheimorganisationen als auch die of¿ziellen Wehrverbände der KPD bildeten dennoch einen fruchtbaren Nährboden für kontrollierte und unkontrollierte Gewalt gegen den „faschistischen“ Gegner. Dies hing vor allem mit ihrer jeweiligen subkulturellen Beschaffenheit zusammen. In den illegalen Strukturen dominierten kommunistische Kader, die sich dem „Ideal des harten, selbstlosen, bolschewistischen Berufsrevolutionärs“53 verpÀichtet sahen und somit die Notwendigkeit von Gewaltausübung internalisiert hatten. Erwerbslosenkolonnen, Massenselbstschutz und KBF rekrutierten sich überwiegend aus jungen Arbeitslosen mit Zeit und Freiräumen, um sich in den politischen Kampf zu stürzen – die einen hatten dabei eine vermeintlich bessere Zukunft im Sinn, andere suchten das Gemeinschaftserlebnis oder aber eine halbwegs gesicherte Versorgung in der Gegenwart, die die paramilitärischen Ableger von KPD und auch NSDAP versprachen.54 Dementsprechend war die Gewalttätigkeit dieser jungen Männer keineswegs nur an politische Ziele gekoppelt, sondern stellte auch eine verlockende Möglichkeit dar, die Grenzen alltäglichen Verhaltens zu überschreiten und so als Ventil für den eigenen Frust zu dienen.55 Dabei folgten die kommunistischen Straßenkämpfer sozialräumlichen Vorstellungen. Es ging ihnen darum, bestimmte Straßenzüge und Stadtviertel, ihr Revier, gegen den Feind zu behaupten. Der Feind waren die „Faschisten“, zu denen neben den Kapitalisten und der Sozialdemokratie insbesondere die SA und die Polizei als Träger „faschistischer“ Gewalt zählten. Im Falle der Polizei verband sich die Faschismusanalyse der Komintern mit dem glühenden, oftmals auf vorpolitischen Motiven fußenden Polizistenhass vor Ort, der auf eine jahrzehntelange Geschichte von Konfrontation und KonÀikt zurückging. Somit korrespondierten die Wahrnehmungsmuster auf Seiten der Polizei mit den Feindbildern der Arbeiterbevölkerung, die die staatlichen Sicherheitsorgane vor allem als Kontroll- und Disziplinierungsagentur der Obrigkeit wahrnahm. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich der Eindruck, es mit Vgl. Peukert 1980, S. 73 ff.; Schmidt 2007, S. 76 f. Vgl. Fischer 1991, S. 146; Schmiechen-Ackermann 1998, S. 393; Schumann 2001, S. 92 f. 53 Vgl. Peukert 1980, S. 57 54 Vgl. Fischer 1991, S. 145 f.; Swett 2005, S. 173 ff. 55 Vgl. Rosenhaft 1983, S. 155 ff. 51
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einer Besatzungsmacht zu tun zu haben. Mit dem Einzug schwer bewaffneter Formationen kriegserfahrener Veteranen in regelrechte Polizeikasernen wurden die Ruhrgebietsstädte ab 1919 gleichsam zur Garnison. Die Ereignisse des Frühjahrs 1920 vertieften die Gräben: Die enorme Brutalität der Kämpfe und die zahlreichen Opfer standen seitdem nicht nur zwischen der Polizei und ihren kommunistischen Gegnern, sondern auch zwischen der Polizei und weiten Teilen der Bevölkerung.56 Den staatlichen Ambitionen, die sozialräumliche Durchherrschung des Ruhrgebiets in den 1920er Jahren zu forcieren, stellte die kommunistische Straßenpolitik einen eigenen Gestaltungswillen entgegen. Die Partei und ihre Vorfeldorganisationen betrieben gezielt den Ausbau einer eigenen Infrastruktur, um ihren Anspruch auf bestimmte urbane Räume zu dokumentieren. Diese galt es als „Symbol und Manifestation kollektiv geteilter Werte und Gefühlslagen“57 unbedingt zu verteidigen. Das Ringen um die Straßen, die zugleich wesentlicher Bestandteil und symbolischer Träger einer ebenso sozial wie ideologisch fundierten Gruppenidentität waren58, fand als Symbolkampf statt: Wer seine Farben, Fahnen und Uniformen unangefochten auf der Straße zeigen konnte, beherrschte sie. Dementsprechend ging es den Kontrahenten sowohl darum, ihre Farben in das Terrain des Gegners zu tragen, als auch darum, den Gegner gerade daran zu hindern, auf diese oder auf andere Weise einen Herrschaftsanspruch auf das als eigenes Territorium verstandene Gebiet zu stellen. Vor diesem Hintergrund gingen kommunistische Kampfgruppen in Dortmund in Hochzeiten politischer Auseinandersetzungen dazu über, den von ihnen reklamierten Norden der Stadt so weit wie möglich für Nationalsozialisten zu sperren. Dabei kam ihnen der Verlauf der Eisenbahntrassen und Bahndämme entgegen, die die Stadt zerteilen: Die kommunistischen Straßenkämpfer besetzten die wenigen Unterführungen. Indem sie dort weitgehend ungehindert von der Polizei Kontrollen durchführten, konnten sie die Präsenz uniformierter SA-Leute in der Nordstadt zeitweise unterbinden. Bedeutender als ihr tatsächlicher Effekt war die symbolische Dimension solcher Handlungen, mit denen die Kommunisten ihr Terrain absteckten und ihre durch die überforderte Polizei kaum einzudämmende Herrschaft unter Beweis stellten.59 Im Alltag dokumentierten die kommunistischen Straßenkämpfer ihre Dominanz durch regelmäßige nächtliche Überfälle auf Nationalsozialisten, die in der Nordstadt wohnten. Zwar versuchte die SA, ihre Männer zu schützen, meist Vgl. Schmidt 2008, S. 73 ff. Weichhart 1990, S. 39 58 Vgl. Rosenhaft 1983, S. 55; Weichhart 1990, S. 71 f.; Schmiechen-Ackermann 1998, S. 374 f.; Swett 2005, S. 25 ff. 59 Vgl. Rote Erde vom 7.7.1932; Beck 1938, S. 301; Schmidt 2007, S. 78 56 57
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jedoch vergebens. In der Nacht zum 6. Dezember 1930 begleitete ein Trupp von etwa 20 Männern zwei SA-Angehörige zu ihren Wohnung im Norden, die kurz zuvor einen ihrer Nachbarn, den sie für einen politischen Gegner hielten, krankenhausreif geprügelt hatten und nun Vergeltung fürchteten. Auf dem Rückweg geriet die Gruppe mit Kommunisten aneinander, es ¿elen Schüsse, ein Nationalsozialist wurde in den Kopf getroffen und starb am folgenden Tag.60 Die permanente Gefährdung führte dazu, dass zahlreiche exponierte SA-Leute ihre Wohnungen in der Nordstadt verließen.61 In ihrem Streben nach sozialräumlicher Dominanz erzielten die Kommunisten vor 1933 Erfolge, die ihnen bei ihrer doktrinären Strategie des „organisierten Massenkampfes“ versagt blieben.62 Während bei kommunistischen Massenaktionen, beispielsweise den Bergarbeiterstreiks von 1931 und 193263, der bombastische Organisationsaufwand in keinem Verhältnis zum Mobilisierungsertrag stand, pro¿tierte die sozialräumliche Durchdringungspraxis von einem weitaus intensiveren Engagement der oftmals lokal verwurzelten Straßenkämpfer und deren Bedürfnis, Handlungsräume gegenüber Polizei und SA zu behaupten. Somit verfehlten die zentral angeordneten und gesteuerten Akte des „Massenterrors“, neben Streiks vor allem Erwerbslosenproteste und Hungermärsche, ihr Ziel. In kleinräumigen Zusammenhängen vor Ort jedoch gelang es Kommunisten, die SA fast völlig aus dem Geschehen zu drängen und gleichzeitig das staatliche Gewaltmonopol erfolgreich zu torpedieren.64 Die Erfolge kommunistischer Straßenpolitik belegt ein Befehl des Kommandeurs der Dortmunder Schutzpolizei, Polizeioberst Karl Schneider, vom 2. Februar 1933, in dem es heißt: „Es darf nicht vorkommen, dass KPD-Anhänger sich in den engen Straßen der inneren Stadt als die alleinigen Herren betrachten.“65 Aus dieser Weisung geht zweierlei hervor: Zum einen die – wenn auch vorläu¿ge – Akzeptanz der kommunistischen Herrschaft auf den Straßen der Außenbezirke, zum anderen das beachtliche Ausmaß, in dem sich die Polizei auf die Terrainkämpfe der Kommunisten eingelassen hatte: Offenbar ging es den staatlichen Organen nun vor allem darum, begrenzte Territorien zu behaupten. Den Anspruch, das Gewaltmonopol umfassend durchzusetzen, hatte die Dortmunder Polizei zu diesem Zeitpunkt aufgegeben.
Vgl. Westfälische Allgemeine Volkszeitung vom 2.12. und 8.12.1930 Vgl. Schmidt 2006, S. 270 f. 62 Vgl. Rosenhaft 1982, S. 406; Weber 1982, S. 17 ff. 63 Vgl. Bahne 1974, S. 344 f.; Müller 1988, S. 147 ff.; Schmidt 2007, S. 78 ff. 64 Vgl. Swett 2005, S. 294; Schmidt 2007, S. 88 65 STAMS Polizeipräsidien Sammlung Primavesi 153 60 61
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Die SA im Kampf um die Straße Während die Kommunisten verschiedene Schauplätze von Politik im Blick hatten, insbesondere den Betrieb, betrachteten die Nationalsozialisten stets die Straße als ihr zentrales Handlungsfeld: „Wir haben dem Marxismus beizubringen, daß der künftige Herr der Straße der Nationalsozialismus ist, genauso wie er einst der Herr des Staates sein wird.“66 Obwohl von einer verhältnismäßig schwachen sozialen Basis aus agierend, etablierten sich die nationalsozialistische SA in den frühen 1930er Jahren auch im Ruhrgebiet als treibende straßenpolitische Kraft. Trotz ihrer in gewissem Rahmen proletarischen Prägung fehlte es ihr zwar an Rückhalt im traditionellen Arbeitermilieu67, diesen Nachteil glich die SA jedoch durch organisatorische Stärke und bedingungslosen Aktivismus aus – ihre gelebte Gewalttätigkeit bestimmte die straßenpolitische Praxis des Nationalsozialismus. In Gestalt des „Marxismus“ legte Hitlers SA-Befehl Nr. 1 ein klares Feindbild fest, gegen das sich die konkrete Gewalt zu richten hatte. Mit Erfolg – obwohl die proletarisch geprägte SA des Ruhrgebiets die bürgerlichen „Spießer“ aus den Gartenstädten und die „Systempolizei“ mit gleicher Inbrunst hasste wie die Kommunisten, konzentrierte sie ihre Gewalttaten im Regelfall auf Kommunisten und Sozialdemokraten. Dies hatte den unschätzbaren Vorteil, dass die Nationalsozialisten ihre begrenzten Kräfte nicht im Kampf mit verschiedenen Gegnern verzettelten. Das konkrete Ziel bestand darin, die Macht in den Arbeitervierteln des Ruhrgebiets zu erringen, also beispielsweise im Essener Segeroth, im Gelsenkirchener Olgaviertel, rund um den Bochumer Moltkemarkt oder in der Dortmunder Nordstadt. Um die Territorien des Gegners symbolisch einzunehmen und dessen Vorherrschaft ins Wanken zu bringen, favorisierte die SA reichsweit das Mittel der propagandistisch inszenierten und Àankierten Straßenaufmärsche, bei denen ihre Stürme, Sturmbanne und Standarten in proletarische Viertel zogen.68 Die braununiformierte Marschsäule, die in „rotes“ Terrain eindrang, erfüllte vier wesentliche Funktionen: Erstens symbolisierte der einheitliche und formierte Marsch-Körper wesentliche Elemente der faschistischen Sinnwelten. Die ausgerichteten und uniformierten Männer bildeten gleichsam eine Metapher auf die imaginierte Volksgemeinschaft. Sie demonstrierten Dynamik, Stärke, Geschlossenheit und stehen somit in enger Beziehung zum faschistischen Bewegungskult. Gleichzeitig verbanden sich im Vormarsch auf die Hochburgen des politischen Gegners
SA-Befehl Nr. 1 vom 1.11.1926, nach: Balistier 1989, S. 44 Vgl. Reichardt 2002, S. 520 f.; Schmidt 2006, S. 257 ff. 68 Vgl. Longerich 1989, S. 117; Reichardt 2002, S. 116 ff. 66 67
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die für faschistische Bewegungen typischen Elemente symbolhafter und gelebter Gewalttätigkeit.69 Zweitens stabilisierte das Erlebnis des gemeinsamen Vorstoßes in eine feindliche Umgebung den NS-Kampfbund von innen, denn die „heroische“ Bewährung vor dem Feind stiftete Gemeinschaft und Sinn. Wenn es zudem gelang, aus der angedeuteten Gewalt des Marschierens in die tatsächliche Gewalt des Prügelns überzugehen, befriedigte dies die in ihrer erlebnisorientierten Binnenkultur angelegten Grundbedürfnisse der SA.70 Aus der Gewalterfahrung entstanden Geschichten, die, immer wieder aufs Neue erzählt und ausgeschmückt, Feind- ebenso wie Heldenbilder konstruierten. Vor diesem Hintergrund trug die militante Straßenpolitik der Nationalsozialisten wesentlich zur Er¿ndung einer heroischen SA-Tradition bei. Sie produzierte die Märtyrer und die Mythen, die für den faschistischen Totenkult konstitutiv waren. Dementsprechend bemühte sich die nationalsozialistische Propaganda um eine regelrechte Sakralisierung der SA-Straßengewalt.71 Drittens betrachteten die nationalsozialistischen Parteistrategen die Aufund Einmärsche der SA als „eine der stärksten Propagandaformen“.72 Mit ihren Kolonnen im Gleichschritt marschierender und uniformierter Jungmänner knüpfte sie augenscheinlich an militärische Traditionen Deutschlands an, die in bürgerlichen Kreisen sehr geschätzt wurden: Neben dem jung-dynamischen Auftritt der SA wirkten die traditionellen deutschnationalen Wehrverbände und Kriegervereine eher behäbig. Viertens trugen geschlossene SA-Formationen erheblich zur Eskalation der politischen Gewalt bei. Die symbolische Eroberung angeblich „marxistischer“ Straßenzüge schlug regelmäßig – wie am 16. Oktober 1932 in Dortmund – in blutigen Ernst um, da die Kommunisten nicht willens waren, SA-Invasionen in das von ihnen reklamierte Terrain tatenlos hinzunehmen. Dieses raumorientierte Gewaltpotential gezielt aktivierend, gelang es den Nationalsozialisten immer wieder, eine Spirale der Gewalt auszulösen, die Verantwortung dafür aber erfolgreich dem Gegner zuzuweisen. Zudem forcierten die von der SA provozierten Gewaltorgien den Eindruck, der Polizei sei die Kontrolle über den öffentlichen Raum entglitten und könne nicht mehr für Sicherheit und Ordnung garantieren. Somit diente sich die SA, die dem „roten“ Schreckgespenst scheinbar so mutig die Stirn bot, einem bürgerlich-konservativen Publikum als alternative antibolschewistische Schutzmacht an.73 Vgl. Reichardt 2002, S. 25 ff.; Mann 2004 Vgl. Reichardt 2002, S 426 ff. 71 Vgl. Behrenbeck 1996, S. 128 ff.; Wirsching 1999, S. 354 ff.; Reichardt 2002, S. 222 72 SA-Befehl Nr. 3 v. 3.11.1926, nach: Balistier 1989, S. 33 73 Vgl. Reichardt 2002, S. 38; Mann 2004, S. 174 f. 69
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In der Praxis waren diese von der zeitgenössischen NS-Literatur mythisch überhöhten Ereignisse allerdings nicht die Regel. SA-Aufmärsche im Ruhrgebiet und insbesondere in Dortmund waren selten und zudem oft erfolglos – trotz punktueller spektakulärer Aktionen wie am 16. Oktober 1932 waren die Straßenkämpfer des Nationalsozialismus in Dortmund weit davon entfernt, Arbeiterviertel durch geschlossen marschierende Formationen zu erobern.74 Der alltägliche Kampf um die Kontrolle der Straße wurde vor allem in Gestalt kleiner dimensionierter und sozialräumlich orientierter Gewaltakte geführt.75 Dabei beabsichtigten es die Nationalsozialisten zunächst, in Gestalt ihrer Sturmlokale feste Außenposten in den Arbeitervierteln zu etablieren. Solche Versuche erwiesen sich in Dortmund, aber auch in anderen Städten des Ruhrgebiets, vor 1933 als vergeblich. Ab Ende 1930 drängten die Straßenkampfgruppen der Kommunisten die Nationalsozialisten systematisch aus der Dortmunder Nordstadt heraus. War es der SA bis dahin noch möglich, sich in Wirtshäusern im Norden oder in unmittelbarer Nähe zum Norden zu treffen, mussten die Nationalsozialisten schließlich in den Osten oder Süden der Innenstadt ausweichen.76 Der ursprünglich im Norden beheimatete SA-Sturm 83 verlegte im Jahr 1931 seinen Schwerpunkt an den Ostwall und machte die Gaststätte „Zur Wolfsschlucht“ zum neuen Sturmlokal.77 Da es also nicht gelingen mochte, sich in den klassischen Arbeitervierteln des Nordens dauerhaft festzusetzen, entschieden sich die Nationalsozialisten dazu, ihre Infrastruktur in weniger proletarisch geprägten Stadtbezirken auszubauen. Dabei konzentrierten sie sich vor allem auf den Osten der Innenstadt, ein sozial durchmischtes Viertel, in dem der Wählerzuspruch für die NSDAP sehr hoch war. Folgerichtig etablierten die Nationalsozialisten in den Jahren 1931 und 1932 ihre logistische Basis in dem Gebiet um Schwanenwall und Ostwall.78 In der Nachbarschaft einschlägiger Sturmlokale richtete die NSDAP ihre Geschäftsstelle im Haus Schwanenwall 4 ein, an das seit Ende 1931 auch ein SA-Heim angeschlossen war. Nicht weit entfernt befanden sich zudem das Hauptquartier der SA-Standarte 98, die Zeugmeisterei sowie ein geheimes Waffenlager.79 Als Ballungsraum of¿zieller Einrichtungen und informeller Zentren des Nationalsozialismus wurde die östliche Innenstadt Dortmunds zur straßenpolitischen Kampfzone. Sowohl die Verkehrslokale als auch die kasernenartigen SAHeime dienten den nationalsozialistischen Straßenkämpfern als Ausgangspunkt, um die Umgebung durch regelmäßige Gewaltakte in permanenter Unruhe zu Vgl. Schumann 2001, S. 313; Schmidt 2006, S. 265 ff. Vgl. Schmiechen-Ackermann 1998, S. 214 ff.; Schumann 2001, S. 314 ff.; Swett 2005, S. 248 ff. 76 Vgl. Schmidt 2006, S. 268 f. 77 Vgl. Westfälische Allgemeine Volkszeitung vom 12.12.1930; Aussagen Rudolf W., 26.4.1946, und Fritz K., 19.3.1947, STAMS StA Dortmund 1505 78 Vgl. Schmidt 2006, S. 264 f. 79 Aussage Franz K., 9.2.1950, STAMS StA Dortmund 1378; Klotzbach 1969, S. 68 74
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halten und letztlich unter ihre Kontrolle zu bekommen.80 Darüber hinaus fühlten sich die Kommunisten herausgefordert, durch Angriffe auf die Basis der Nationalsozialisten ihre ungebrochene Macht unter Beweis zu stellen. Bereits wenige Tage nach Eröffnung des SA-Heims versuchten etwa 40 kommunistische Kämpfer, es am 8. Dezember 1931 zu erstürmen. Das Unternehmen artete in eine heftige Schlägerei aus und scheiterte letztendlich.81 Die Dortmunder SA beschränkte sich jedoch nicht nur darauf, das von ihr beanspruchte Terrain zu behaupten, sondern versuchte immer wieder, die Gewalt in das Gebiet des Gegners zu tragen. Nachdem sie bei frühen Einmarschversuchen im Jahr 1930 emp¿ndliche Niederlagen eingesteckt hatte, konzentrierte sich die SA nun vor allem darauf, im Rahmen des „Versammlungskleinkriegs“82 gezielt an der Eskalation zu arbeiten. Da sie sich in einer Situation der strukturellen Unterzahl befand, vermied es die Dortmunder SA zumeist, Veranstaltungen des politischen Gegners gezielt zu stören. Die Nationalsozialisten verlegten sich darauf, eigene Versammlungen als Plattform für eine berechnete Gewalteskalation zu nutzen. Indem sie die Orte der Auseinandersetzung bestimmte, verschaffte sich die SA so einen nicht zu unterschätzenden (Heim-)Vorteil. Zudem war es den Nationalsozialisten auf diese Weise möglich, das Geschehen selbst zu bestimmen. So bestanden bei Veranstaltungen in Außenbezirken oder umliegenden Kleinstädten weitaus günstigere Aussichten, denn auf diese Weise konnte die SA dem zahlenmäßig weit überlegenen und in Straßenkampf wie Saalschlacht erfahrenen Gegner in der Nordstadt aus dem Weg gehen. Motivierende Erfolgserlebnisse wurden so wahrscheinlicher. Wenn sie sich stark genug fühlten oder aber zu einem politisch opportunen Zeitpunkt – Wahlkampf, Gauparteitag – ein symbolträchtiges und öffentlichkeitswirksames Ereignis inszenieren wollten, verlegten die Nationalsozialisten ihre Saalveranstaltungen in den Norden – wie beispielsweise am Vorabend des 16. Oktober 1932. Dabei konnten sie darauf zählen, dass sich ihre sozialräumlich denkenden und handelnden Gegner provozieren lassen würden.83 Mit ihrer wachsenden Mitgliederzahl stieg im Laufe des Jahres 1932 auch das Selbstbewusstsein der Dortmunder SA, die ihre zuvor eher reaktiven Methoden der Gewaltanwendung modi¿zierte und erweiterte. So wendete sie sich der Straßenkriegsführung in Gangstermanier zu: In der Nacht zum 9. August 1932 wurden an einer Straßenkreuzung in der Nordstadt aus einer vorbeifahrenden Limousine fünf Schüsse auf einen bekannten kommunistischen Kader abgege-
Vgl. Longerich 1989, S. 127 f.; Schmiechen-Ackermann 1998, S. 380 f.; Reichardt 2002, S. 468 ff. STAMS StA Dortmund 42 82 Schumann 2001, S. 314 83 Vgl. Reichardt 2002, S. 120 ff. 80 81
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ben – der Mann verblutete noch am Tatort.84 Für das Attentat war die Stabswache der Dortmunder SA verantwortlich, eine Truppe ausgesuchter SA-Männer, die gezielte Aktionen gegen politische Gegner durchführte.85 Angesichts der in der NS-Presse im Sommer 1932 immer wieder aufgegriffenen Vergleichen zwischen der Dortmunder Nordstadt und „Chikago“86, liegt die Vermutung nahe, dass die spektakulären Vorgänge während der Bandenkriege in der US-Gangsterhochburg das SA-Terrorkommando zu der Gewalttat aus dem Hinterhalt inspirierten. Der Mordanschlag vom 9. August blieb denn auch kein Einzelfall – bis zum Jahresende folgten zahlreiche weitere nächtliche Drive-byAttacken auf Menschen wie auch auf Lokalitäten.87 Wie sich ein SA-Mann später erinnerte, durfte „sich die SA daraufhin im Norden nicht mehr sehen lassen“.88 Die Terrortaktik der SA trug also wesentlich dazu bei, dass sich die Konfrontationen zwischen den weltanschaulichen Gegnern in der zweiten Jahreshälfte 1932 zuspitzten. Wie sich am 16. Oktober 1932 zeigte, waren die Kommunisten wilder entschlossen denn je, alle Angriffe der SA zurückzuschlagen. Eskalation 1932 Im Krisenjahr 1932 befand sich Dortmund stets hart am Rande eines echten Bürgerkriegs – in einigen Fällen wurde die imaginäre Grenze dieses Zustands tatsächlich überschritten. Politische Gewalt gehörte neben den drängenden Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation zum bedrohlichen Alltag der Bevölkerung, der die Parteipresse der Kommunisten wie der Nationalsozialisten immer wieder die Inkompetenz des Staates vor Augen zu führen suchte: Der Polizei gelänge es nicht, Sicherheit und Ordnung zu garantieren, insbesondere nicht im Terrain des jeweiligen Gegners. Während also die NS-Zeitung „Rote Erde“ die „Chikago“-Verhältnisse im Norden anprangerte, beklagte sich die kommunistische Presse über ungehindert marodierende SA im Osten – beide Seiten kündigten an, die entsprechenden Viertel in naher Zukunft vom Gegner zu säubern.89 Die Zeitungskampagnen begleiteten eine Gewaltpraxis, die zum einen auf die unbedingte Behauptung des jeweils eigenen Territoriums zielte und zum anderen offensive Vorstöße in die feindlichen Viertel vorsah, um die Ansprüche Vgl. Generalanzeiger vom 10.8.1932; Der Kämpfer vom 10.8.1932 Aussagen Franz E., 25.4.1946, Heinz F., 14.6.1946, Franz K., 14.6.1946, STAMS StA Dortmund 1505 86 Rote Erde v. 24.6., 16.7. und 13.8.1932 87 Aussage Franz K., 9.2.1950, STAMS StA Dortmund 1378; Aussage Fritz K., 19.3.1947, STAMS StA Dortmund 1505; Der Kämpfer v. 17.11.1932 88 Aussage Richard S., 19.3.1947, STAMS StA Dortmund 1505 89 Vgl. u. a. Rote Erde vom 16.7.1932; Der Kämpfer vom 28.7.1932 84 85
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des Gegners ad absurdum zu führen. Nicht nur Kommunisten und Nationalsozialisten folgten diesem Aktionsmuster: Die Kampfbünde diktierten vielmehr auch der Dortmunder Polizei einen raumorientierten Handlungsrahmen. Wollte sie ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, musste sie die Kontrolle über die von Kommunisten bzw. Nationalsozialisten reklamierten Viertel zurückgewinnen und dort ihr Gewaltmonopol durchsetzen. Die Konsequenzen lassen sich beispielhaft anhand der Gewaltereignisse am Schwanenwall im Frühjahr und Sommer 1932 vorführen. Nach der Gründung des SA-Heims Ende 1931 wurde die östliche Innenstadt zu einem Schwerpunkt politischer Gewaltkriminalität. Bereits am 9. Februar 1932 wurde das institutionelle Zentrum der Dortmunder SA polizeilich geschlossen – den Anlass bot ein Àüchtiger Doppelmörder, der dort Unterschlupf gefunden hatte, die tiefere Ursache jedoch lag zweifellos in der permanenten Herausforderung, die diese SA-Kaserne für die Polizei bedeutete. Die Adresse Schwanenwall 4 blieb aber weiter ein steter Unruheherd.90 In der erhitzten Atmosphäre der Wahlkämpfe im Frühjahr 1932 spitzte sich die Lage weiter zu und erreichte schließlich am 19. April 1932 ihren Kulminationspunkt.91 Wenige Tage zuvor, am 13. April, war die SA verboten worden – diese Maßnahme sollte das zuletzt entschlossene Vorgehen seitens des preußischen Staates gegen die nationalsozialistische Parteiarmee konsequent abschließen.92 Allerdings galt es nun, dem administrativen Akt auf der Straße Geltung zu verschaffen. Dort verhielten sich SA-Angehörige nun gezielt provokativ, um ihrerseits die Wirkungslosigkeit des Verbots zu demonstrieren. Im Umkreis des Schwanenwalls musste das Überfallkommando der Dortmunder Polizei in den sechs Tagen nach dem 13. April elf Mal eingreifen, um Übergriffe der SA zu unterbinden. Polizisten, die in der östlichen Innenstadt auf Streife gingen, sahen sich zudem permanenten Beschimpfungen und Belästigungen seitens der Nationalsozialisten ausgesetzt.93 Am frühen Abend des 19. April schließlich sollte ein aus sieben Beamten bestehendes Überfallkommando eine Ansammlung von etwa 300 bis 350 Nationalsozialisten zerstreuen, die den Schwanenwall bevölkerten, Passanten anpöbelten und Polizeibeamte beschimpften. Die Räumungsaktion schlug schnell in eine regelrechte, anderthalbstündige Straßenschlacht um, in deren Verlauf die von den Nationalsozialisten mit Rufen wie „Bluthunde !“, „Feigling !“ oder „Schlagt den Hund tot !“ provozierten und entnervten Beamten ausgiebig von ihren Gummiknüppeln Gebrauch machten und dabei auch UnbeVgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [GSTA PK] I. HA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 181 Zum Folgenden: Klotzbach 1969, S. 68 ff.; Dams 1999; Schmidt 2008, S. 304 ff.; STAMS Polizeipräsidien Sammlung Primavesi 368 92 Vgl. Leßmann 1989, S. 331 ff.; Pyta 1989, S. 372 ff.; Reichardt 2002, S. 240 ff. 93 Vgl. STAMS Polizeipräsidien Sammlung Primavesi 80; Generalanzeiger vom 12.8.1932 90 91
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teiligte trafen. Polizisten drangen zudem mehrfach in die NSDAP-Geschäftsstelle ein, die den nationalsozialistischen Straßenkämpfern als Refugium diente, und räumten diese schließlich in wenig zimperlicher Art und Weise, nachdem es dort zu – in amtlicher Terminologie – Widerstandshandlungen größeren Ausmaßes gekommen war. Die Dortmunder Nationalsozialisten stilisierten sich im Nachgang zu Opfern von Polizeiwillkür und initiierten eine regelrechte Kampagne gegen die Polizei, an deren Ende ein reichsweit als skandalös empfundenes Urteil gegen die beteiligten Beamten stand: Das Landgericht Dortmund schenkte den offensichtlichen Falschaussagen mehrerer Nationalsozialisten Glauben und verurteilte am 10. August 1932 acht Polizisten wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung im Amt zu mehrmonatigen Haftstrafen, die zugleich die Entlassung der Betreffenden zur Folge hatten. Diese tendenziöse Rechtsprechung verbesserte in den folgenden Monaten die Position der SA gegenüber der Polizei, die bei entsprechenden Einsätzen in Anbetracht eventuell drohender juristischer Konsequenzen gehemmt war.94 Jenseits des juristischen Nachspiels und dessen polizeipraktischen Konsequenzen demonstriert die „Schwanenwall-Affäre“ vor allem den Zusammenstoß der sozialräumlich orientierten Gewalt der SA mit einem ebenfalls auf die Durchdringung und Behauptung von Räumen ausgerichteten Polizeikonzept, bei dem die Schutzpolizei an ihre Grenzen stieß. Trotz immensen Aufwandes gelang es der Dortmunder Polizei nicht, die östliche Innenstadt im Sommer 1932 unter Kontrolle zu bekommen. Vor allem nach der Aufhebung des SA-Verbots am 17. Juni 1932 konnte die nationalsozialistische Parteiarmee nicht daran gehindert werden, ihrem hegemonialen Anspruch durch ausufernde Gewalt Nachdruck zu verleihen, die sich vor allem gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch vermehrt gegen Unbeteiligte richtete.95 Ohne von der Polizei gehindert zu werden, dominierten SA-Leute nicht nur das Straßenbild, sondern maßten sich auch Polizeibefugnisse an, indem sie wahllos Passanten durchsuchten. Parallel zur Vorherrschaft der Kommunisten im Norden, war es den Nationalsozialisten also gelungen, ein ganzes Stadtviertel zu durchdringen und dort das staatliche Gewaltmonopol erfolgreich zu unterminieren. Die Situation am Ende des Jahres 1932 stellte sich in Dortmund wie folgt dar: Die Kommunisten konnten davon ausgehen, die Arbeiterviertel der Nordstadt, den „Dortmunder Wedding“, weitgehend uneingeschränkt zu beherrschen. Trotz wachsender Zustimmung fehlten aber die Kräfte, sich südlich der Bahndämme festzusetzen. Die Nationalsozialisten hatten sich im Osten der Stadt festgesetzt,
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Vgl. Leßmann 1989, S. 347 Vgl. Schmidt 2006, S. 274 f.
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waren aber bislang nicht in der Lage gewesen, das „soziale Gelände“96 der Arbeiterbewegung unter ihre Kontrolle zu bringen: Jahrelange Bemühungen hatten keine dauerhaften Stützpunkte in den Arbeitervierteln des Nordens erbracht, die „rote Hochburg“ Dortmund blieb vorerst ungeschleift. Auch die Straßenpolitik des Staates erwies sich in dieser Hinsicht als erfolglos: Im Kampf um die Straße war der Polizei die Initiative abgenommen worden. Zwar konnte die Polizei bei Großeinsätzen wie am 16. Oktober 1932 punktuell die Oberhand behalten, in einigen Stadtvierteln war es ihr aber nur noch eingeschränkt möglich, alltägliche staatliche Kontrolle auszuüben. Obwohl die Polizei einen beachtlichen Aufwand betrieb, um diese Situation zu ändern, konnten sowohl Kommunisten als auch Nationalsozialisten wachsende Freiräume erkämpfen. Der Autoritätsverlust fraß am Selbstbewusstsein der Polizisten. Fazit Um die Jahreswende 1932/33 schien die Machtstellung der Kommunisten in Dortmund ungefährdet zu sein, kaum vier Wochen später jedoch hatte sich die Lage fundamental zu ihren Ungunsten verschoben. Durch die Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler und Görings zum preußischen Innenminister fanden sich SA und Polizei plötzlich als straßenpolitische Partner im gleichen Lager wieder. Trotz teilweise heftiger Aversionen gegeneinander, die sich in Jahren der Konfrontation aufgebaut hatten97, begriffen beide Seiten die erzwungene Kooperation als Chance. Mit Unterstützung staatlicher Machtmittel konnte die SA nun darauf hoffen, ihre straßenpolitische Mission zu erfüllen und die „marxistischen“ Arbeiterviertel tatsächlich zu erobern. Die schmerzliche „Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ der SA schien so überwunden werden zu können.98 Auf Seiten der Polizei wiederum wurden die von den neuen Machthabern erheblich erweiterten Kompetenzen als Möglichkeit begriffen, dem eigenen Gewaltmonopol auch in „roten“ Vierteln wieder uneingeschränkt Geltung zu verschaffen: Niederlagen und Demütigungen aus der Vergangenheit konnten auf diese Weise vergessen gemacht werden. Diese Aussicht trug nicht unerheblich dazu bei, Verwirrung, HilÀosigkeit und Überforderung zu überwölben, die sich innerhalb der Polizei im Februar 1933 zunächst ausbreiteten, als in Gestalt der SA ein alter Feind als neuer Herr auftrat.99 Straßenpolitische Frustrationserlebnisse
Schmiechen-Ackermann 1996, S. 254 Vgl. Schmidt 2008, S. 291 ff., S. 302 f. 98 Vgl. Schumann 2001, S. 332 f. 99 Vgl. Schmidt 2008, S. 336 ff. 96
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fanden ihr Ventil in einem beispiellosen Gewaltausbruch, der innerhalb weniger Wochen zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr führte. Sowohl SA als auch Polizei wurden in ihren Aktionen also von Abrechnungsmentalität und Kompensationsbedürfnis geleitet. In dem Maße wie sich die SA-Praxis, befreit von jeglicher polizeilichen Kontrolle, brutalisierte, radikalisierte sich auch, befreit von jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle, das Handeln der Polizisten: Es galten nun Dinge als machbar, von denen so mancher Beamte wenige Wochen zuvor nur geträumt hatte. Willkürliche Verhaftungswellen und Razzien wurden zu den bevorzugten Instrumenten derart enthemmter polizeilicher Straßenpolitik. So bedeutete jede Razzia den plötzlichen Einfall Hunderter schwerbewaffneter Polizisten in ein abgesperrtes Gebiet, das sie Hand in Hand mit uniformierten SA-Männern nach Personen, Waffen oder Propagandamaterial durchkämmten. Im Gegensatz zu republikanischen Zeiten, als es noch konkreter Anlässe für großangelegte Durchsuchungsaktionen bedurft hatte, war die Razzia nun beliebig wiederholbar und somit auch das mit ihr verbundene Schockerlebnis jederzeit reproduzierbar. Um die Kontrolle zurückerlangen, die sie vor 1933 partiell eingebüßt hatte, setzte die Polizei diesen Effekt gezielt ein. Die Niederlagen, die die Kommunisten so auf ihrem eigenen Terrain hinnehmen mussten, führten innerhalb kurzer Zeit zu ihrer vollständigen Demoralisierung.100 Indem der Staat willkürlich Angst und Schrecken verbreitete, um die eigene Macht zu demonstrieren, adaptierte er die straßenpolitischen Methoden seiner vormaligen Gegner. Im Terrorfeldzug des Frühjahrs 1933 fanden also Straßenpolitik von oben und Straßenpolitik von unten zusammen. Literatur Andrae, Alexander 1929: Polizei und Heer, Berlin Bahne, Siegfried 1974: Die KPD im Ruhrgebiet in der Weimarer Republik, in: Reulecke, Jürgen (Hg.): Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal, S. 315–353 Balistier, Thomas 1989: Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA, Münster Beck, Friedrich Alfred 1938 : Kampf und Sieg. Geschichte der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei im Gau Westfalen-Süd von den Anfängen bis zur Machtübernahme, Dortmund Behr, Raphael 2000: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Opladen
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Vgl. Peukert 1980, S. 91 ff.¸ Schmiechen-Ackermann 1998, S. 406 f.
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Die Straße beherrschen, die Stadt beherrschen.
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Organisationskultur der Sicherheitspolizei im Nationalsozialismus Melanie Becker
Einleitung Die NS-Sicherheitspolizei, d. h. der organisatorische Zusammenschluss von Kriminalpolizei und Gestapo, zeichnet verantwortlich für einige der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts: Sie organisierte die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, verfolgte Roma und Sinti, politisch Oppositionelle und jene, die dazu erklärt wurden. Auch sogenannte ‚Berufsverbrecher‘ und ‚Asoziale‘, Prostituierte und autonome Jugendliche ¿elen ihrem Plan der rassereinen Volksgemeinschaft zum Opfer, die weder fremdes Blut noch abweichendes Verhalten in ihren Reihen duldete. Im folgenden sollen die Verbrechen der Sicherheitspolizei (kurz: Sipo) unter einer organisationspsychologischen Perspektive betrachtet werden. Die Organisationspsychologie liefert mit ihrem analytischen Instrumentarium zur Erklärung und Beschreibung des Handelns, der Kognitionen und Emotionen von Menschen in Organisationen eine Deutungsvariante, die bislang in der Forschung über die staatsterroristische Verbrechen der NS-Zeit weitgehend unbeachtet geblieben ist. Folgende Überlegungen lassen einen Organisationspsychologischen Zugang als fruchtbar erscheinen: ƒ
ƒ
Die Verbrechen der Sicherheitspolizei waren keine Handlungen von autonomen oder isolierten Individuen. Vielmehr fanden sie in einem kollektiven und organisierten Kontext statt, der, wie aus der Gruppenpsychologie bekannt ist, menschliches Verhalten in spezi¿scher Weise prägt. Den Verbrechen der Sicherheitspolizei kommt nicht die Eigenschaft zu, die Verbrechen üblicherweise zugeschrieben wird: Es handelt sich hierbei nicht um abweichendes, sondern um konformes Verhalten. Die Mehrzahl der Polizisten handelten in Übereinstimmung oder Vorwegnahme von normativen Bestimmungen ihrer Organisation.
Die Prämisse, von der aus die Organisationspsychologie als theoretischer Zugang gewählt wurde, lässt daher kurz wie folgt formulieren: Bei den Verbrechen der
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_12, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Melanie Becker
NS-Sicherheitspolizei handelt es sich um konformes Verhalten von Menschen in Organisationen. In der klassischen Organisationslehre werden Organisationen als rationaler Zusammenschluss von Individuen zur Erreichung eines spezi¿schen Zieles beschrieben. Dieses ‚rationalistische‘ Organisationsmodell lenkt das Augenmerk auf formale und strukturelle Charakteristika von Organisationen. Die Verbrechen der Sicherheitspolizei können unter dieser Perspektive als ‚Verwaltungsmassenmord‘ beschrieben werden: Arbeitsteiligkeit, Rationalisierung und Aktenförmigkeit der Vorgänge, lange Befehlsketten, räumliche und emotionale Distanz erscheinen als Bedingungen polizeilichen Handelns. Die psychologischen Mechanismen, die in einem bürokratischen, ef¿zienzorientierten Apparat die Konformität der Mitglieder bestimmen, lassen sich wie folgt beschreiben: Verantwortungsdiffusion durch die Mediatisierung von Handlungsschritten, Vorherrschaft einer Funktionsmoral, emotionale und kognitive Abkopplung von Handlungen und ihren Konsequenzen, Gehorsam gegenüber unmoralischen Befehlen sowie verfahrensmäßige und sprachliche Dehumanisierungs- und Neutralisationsprozesse. Trotz seiner Eignung zur Herausstellung dieser wichtigen Determinanten für die Konformität der Sicherheitspolizisten ist die Erfassung der NS-Sicherheitspolizei mit einem rationalistischen Organisationsbegriff nicht hinreichend. Das klassische bürokratische Organisationsmodell nimmt die Selbstbeschreibung von Organisationen – die Rationalitätsfassade – allzu sehr für bare Münze und vernachlässigt wichtige soziale Dimensionen einer Organisation. Das Interesse der neueren Organisationspsychologie gilt daher auch weniger der Untersuchung formaler Organisationsstrukturen, sondern vielmehr den informellen und nichtrationalen Aspekten von Organisationen. Diese werden in der organisationspsychologischen Forschung mit den Begriffen der Organisationalen Identität bzw. der Organisationskultur erfasst. Organisationale Identität wird in einem Prozess der Selbst-ReÀexion und Standortbestimmung einer Organisation entwickelt und ist mithin nicht mit der externen Beschreibung des Ist-Zustandes einer Organisation zu verwechseln. Die Frage nach der Identität einer Organisation taucht üblicherweise in Situationen des Umbruchs und des Wandels auf. Erst, wenn Herausforderungen anstehen, die organisationalen Wandel erforderlich machen, wird die Frage nach der Identität bedeutsam. Diese Standortbestimmung kann dann über die Formulierung eines Leitbildes organisationalen Wandel initiieren und neue Handlungsroutinen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster innerhalb der Organisation hervorbringen. Diese handlungs- und kognitionsleitenden Muster und Routinen können mit dem Begriff der Organisationskultur erfasst werden. Zunächst soll versucht werden, die organisationale Identität der Sicherheitspolizei als ‚Staatsschutzkorps‘ zu beschreiben und auf seine Leitbildfunktion für die Polizeiführung hin zu untersuchen. Anschließend soll nachgezeichnet
Organisationskultur der Sicherheitspolizei im Nationalsozialismus
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werden, auf welche Weise und mittels welcher Strategien dieses Leitbild die Organisationskultur(en) von Kripo und Gestapo beeinÀusste bzw. organisationskulturellen Wandel initiierte. Abschließend wird untersucht, welche Implikationen die spezi¿sche organisationale Identität und Organisationskultur der Sicherheitspolizei für die Motivation v. a. der Führungskräfte zur Planung und Durchführung der staatsterroristischen Verbrechen hatte. Organisationale Identität der NS-Sicherheitspolizei ? Die deutsche Polizei war nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten umfassenden Wandlungs- und Entgrenzungsprozessen unterworfen: Zentralisierung der Befehlsgewalt und organisatorische Umstrukturierungen; Herauslösung aus der staatlichen Verwaltung und Angliederung an die SS, Ausweitung der Aufgabenbereiche und der territorialen Zuständigkeiten, Neuformulierung der Leitbilder und der Ziele und eine damit einhergehende Entbindung aus rechtlich ¿xierten Vorgaben waren Elemente einer durchgreifenden Änderung der Organisation.1 Die Verwaltungsabteilungen der Polizei waren mit der Aufgabe konfrontiert, einen Spagat zwischen bürokratischer Tradition und neuen Herausforderungen des Maßnahmenstaates zu bewältigen. Um die Loyalität der aus dem Weimarer Polizeiapparat übernommenen Beamten nicht zu gefährden, durfte sie alte Identi¿kationsgrundlagen nicht vollständig zerstören. Auch mit der Bevölkerung – dem Volk, in dessen Dienst sich die neue Polizei zumindest dem Programm nach stellte – durfte sie nicht durch undurchsichtigen und das Vertrauen brechenden Wandel auf Konfrontationskurs gehen, da sie strukturell auf deren Mithilfe bei Kriminalisierung und Aufklärung angewiesen war. Zugleich musste sie jedoch verbindliche neue Identi¿kationsgrundlagen und Handlungsmuster schaffen, die Stabilität und Sinnhaftigkeit zu vermitteln in der Lage waren, um ihre neu gesteckten Ziele mithilfe weltanschaulich motivierter und eigeninitiativer Führungskräfte zu erreichen. Vor allem aber mussten Kriminalpolizei und Gestapo sowohl nach innen wie auch nach außen ihre Fähigkeit zur Anpassung an eine sich ändernde Umwelt demonstrieren, um ihre Machtstellung im polykratischen Gefüge des NS-Staates zu sichern und auszubauen. Daher war die Polizeiführung mit einem grundlegenden Problem adaptiver Organisationen konfrontiert: der gleichzeitigen Etablierung von Stabilität und Wandel: „like individuals, who engage in interpretations and practices intended to maintain the continuity of self-concepts over time and place, organizations work at the appearance of consistency in value and action; paradoxically, they also work at maintaining an aura of adaptability“.2 1 2
Vgl. Mallmann/Paul 2000. Whetten/Godfrey 1998, S. 22.
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Ein von Werner Best im Oktober 1936 ins Leben gerufener ‚Ausschuss für Polizeirecht der Akademie für deutsches Recht‘, der mit dem Ziel gegründet wurde, Begriff, Aufgabenstellung und Positionierung der Polizei im Staatsgefüge zu bestimmen, kann als Versuch verstanden werden, ein einheitliches und verbindliches organisationales Leitbild für die Sicherheitspolizei zu entwickeln. Die Ergebnisse der von den Mitgliedern des Ausschusses erstellten Gutachten zur Frage ‚Welcher Begriff der Polizei erwächst aus der nationalsozialistischen Auffassung von Volk und Staat ?‘ reproduzierten in ihrer Uneinheitlichkeit und Unvereinbarkeit zunächst das Bild einer begrifÀich und formal nicht eingrenzbaren Organisation. Selbst nach einer halbjährigen Beratungszeit konnte eine Einigung auf eine mehr als allgemein gehaltene De¿nition Bests nicht erreicht werden. Als Ergebnis der Beratungen formulierte Best demnach folgerichtig das Ziel, dass eine formalrechtliche Festlegung der Ziele und Aufgaben der Sicherheitspolizei unbedingt abzulehnen sei. Auf die Formulierung eines ‚Reichspolizeiverwaltungsgesetzes‘, die ursprünglich als Ergebnis aus den Beratungen des Ausschusses resultieren sollte, wurde verzichtet: „Nicht eine neue kodi¿zierte Ordnung schuf der Nationalsozialismus, erkannte Best, sondern Dynamik, stete Veränderung mache sein Wesen aus.“3 Die von Best konstatierte Unmöglichkeit, eine formalrechtliche Festlegung des Wesens der Sicherheitspolizei zu bestimmen, führte jedoch nicht zu einem Verzicht auf die Bestimmung der zentralen Merkmale der organisationalen Identität, sondern resultierte in der Entwicklung eines Leitbildes für die Führungskräfte. Als Leitbild für die Führung der Sicherheitspolizei sollte das Ideal des ‚Staatsschutzkorps‘ und seiner ‚politischen Soldaten‘ dienen. Das Staatsschutzkorps – ein Leitbild für die Führung Mallmann und Paul geben zu bedenken, dass „das von Heydrich präferierte Ideal eines Staatsschutzkorps weitestgehend Utopie [blieb]“,4 unterschätzen damit jedoch möglicherweise die handlungsleitende Macht einer solchen Selbstde¿nition als Identi¿kationsgrundlage für die Führungskräfte: Das Leitbild wirkte weniger durch seine Verwirklichung in formalen Strukturen, sondern vielmehr darüber, dass es die Identi¿kation der Führungskräfte mit ihrer Organisation, also die Kongruenz zwischen organisationaler und personaler Identität fördern sollte. Von Identi¿kation eines Individuums mit einer Organisation kann gesprochen werden, wenn zentrale Merkmale der organisationalen Identität in die Konstruktion der personalen Identität integriert werden: „organizational identi¿cation 3 4
Herbert 1996, S. 179. Mallmann/Paul 2000, S. 615.
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occurs when an individual’s beliefs about his or her organization become selfreferential or self-de¿ning [im Original kursiv]“.5 Die Elemente des organisationalen Leitbildes, mit dem die Polizeiführer (als SS-Männer und Mitglieder des Staatsschutzkorps) sich identi¿zieren sollten, werden im folgenden dargestellt. Eine häu¿g praktizierte Methode zur Etablierung eines organisationalen Selbstverständnisses ist der Rekurs auf Metaphern und Vergleiche. Diese sind geeignet, die zentralen Merkmale einer Organisation herauszustellen und schaffen soziale Identität durch Abgrenzung und Integration. Eine bedeutsamer und häu¿g verwendeter Vergleich war die Gleichstellung der Sicherheitspolizei mit dem Militär: Genauso wenig wie die Wehrmacht bei ihrem Kampf gegen die äußeren Feinde rechtlichen Bindungen unterworfen werden könne, dürfe die Staatspolizei bei ihrem Vorgehen gegen die inneren Feinde rechtlich beschränkt werden. Im Bild des Staatsschutzkorps, das den Krieg gegen den ‚inneren Feind‘ führen sollte, verwirklicht sich das Ideal des ‚totalen Krieges‘. Die totale Mobilmachung richtete sich nicht nur gegen den äußeren Feind, sondern auch gegen all jene im Inneren, die die Wehrfähigkeit des deutschen Volkes aufgrund ihrer ‚Minderwertigkeit‘ zu behindern schienen: „In einer Bevölkerungspolitik, die auf Vernichtung all jener zielte, die für die ‚Wehrgemeinschaft‘ als unbrauchbar eingestuft werden, ¿elen nationalsozialistische rassen- und nationalsozialistische Leistungsideologie zusammen“.6 Eine weitere, häu¿g verwendete Metapher war die Darstellung der Sicherheitspolizei als ‚Arzt am deutschen Volkskörper‘. Organische Bilder der Gesellschaft als ‚Volkskörper‘, als eigenständiger Entität, die biologischen Gesetzmäßigkeiten folgt und die Darstellung abweichenden und unerwünschten Verhaltens als ‚Krankheit‘ an diesem Organismus prägten das rassenhygienische Denken. Die Metapher der Sicherheitspolizei als Mediziner der Volksgemeinschaft war damit an allgemeine nationalsozialistische Semantiken anschlussfähig. Die Metapher bot eine direkte Anknüpfung an die zentralen Aspekte sicherheitspolizeilicher Arbeit: Überwachung, Diagnose, zweckdienliche und effektive Behandlung. Der Vergleich sicherheitspolizeilicher Arbeit mit der Arbeit eines allein an biologischen Gesetzmäßigkeiten orientierten Arztes rationalisierte damit auch die De¿nitionsmacht der Sicherheitspolizei über den Gegner: Zur Überwachung des Gesundheitszustandes des deutschen Volkes und zur Erkennung und Bekämpfung von ‚Zerstörungskeimen‘ müsse der Sicherheitspolizei jedes geeignete Mittel unabhängig von rechtlicher Fixierung zur Verfügung stehen. Die Sicherheitspolizei war somit mit der umfassenden Aufgabe betraut, „das deutsche Volk als organisches Gesamtwesen, seine Lebenskraft und seine Einrichtungen gegen
5 6
Pratt 1998, S. 172. Bröckling 1997, S. 263.
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Zerstörungen und Zersetzung zu sichern“.7 Diese Aufgabe war sowohl defensiver wie offensiv-präventiver Art: Neben der unmittelbaren Gefahrenabwehr hatte die Sicherheitspolizei auch für die Erforschung und Prävention möglicher zukünftiger Gefahren Sorge zu tragen. Die wissenschaftlich verbrämten und mit kriegerischen und medizinischen Metaphern versehenen äußeren Ziele der rassenhygienischen Ideologie sollten sich in der Person des SS-Führers mit einem soldatischen Habitus und mit der affektiven und auf Handlung drängenden Motivation zu ihrer Durchsetzung verbinden. Der Ausnahmezustand des ständigen Angespanntseins und der ständigen Erwartung des Gegners sollte die Wahrnehmung der ‚politischen Soldaten‘ prägen. Der SS-Führer war als Gegenbild zum Beamten konzipiert, der sich von der Eigenlogik der Bürokratie leiten ließ. Aufgrund seiner weltanschaulichen Durchdringung und Weitsicht, also aufgrund seiner vollständigen Identi¿kation mit den Zielen des Nationalsozialismus sollte er in der Lage sein, die gewünschte Flexibilität und Dynamik der Organisation der Polizei zu gewährleisten.8 Treue, Gehorsam und Kameradschaft waren die zentralen Werte, die das Verhältnis der leitenden Polizisten zu ihren Vorgesetzten und zum ReichsführerSS prägen sollten. Treue und Gehorsam waren absolut gesetzt, die Bindung, die durch sie eingegangen werden sollte, war unwiderruÀich und beinhaltete die unhinterfragte Übernahme der von den Führern gestellten Aufgaben und Zielde¿nitionen. So ¿ndet sich der Traum von der totalen Herrschaft9 auch in der Binnenperspektive der Organisation: Totale Kontrolle und Beherrschung waren Voraussetzung für die Stabilisierung und Befreiung von jeglicher subjektiven Unwägbarkeit: „Die Treuebindung garantierte völlige Stabilität der Grundemp¿ndung, zugleich auch innere Unbeweglichkeit“.10 Gehorsam bildete das praktische und dynamische Pendant zur Treuebindung. Nicht nur affektive Übereinstimmung und Determinierbarkeit, sondern auch ständige Leistungsbezeugungen waren gefordert: „Die Treuebindung war unveränderbar und statisch, die GehorsamspÀicht verlangte beständige Bewegung und Leistung“.11 Mit der auf Gehorsam verpÀichtenden Leistungsideologie verknüpfte sich direkt der Eliteanspruch der SS: „Die ‚bessere Rasse, das ‚gute Blut‘ setzte sich Bröckling 1997, S. 167. Vgl. Banach 1998, S. 90. 9 Die Objektivierung von Menschen ist ein Merkmal der totalen Herrschaft, die sämtliche gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Nicht nur die Opfer des totalitären Systems, auch die Täter sollten in einer Weise geformt werden, dass ihre Reaktionsweise determinierbar war: „Erst wenn dessen Verhalten nicht mehr durch die allfälligen Möglichkeiten für bewußte oder unbewußte Entscheidungen kontingent ist, sondern in der Zurichtung auf gewünschte und vorhersehbare Reaktionen vollständig kontrollierbar, kann die Probe darauf beginnen, was tatsächlich möglich ist“ (Welzer 1993, S. 90). 10 Birn 1986, S. 366. 11 Birn 1986, S. 374. 7
8
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im Lebenskampf durch, also war der überlegene auch der Bessere. Aus der Umkehrung dieses Schlusses erfolgte für die SS die Notwendigkeit, beständig am ‚Kampf‘ teilzunehmen und durch ihre Leistung das gute Blut, das in ihr lebte, zu beweisen“.12 Die Identität der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps war in erster Linie ein Leitbild für die weltanschauliche Ausbildung und die kollektive Gleichschaltung der Führungsschichten. Daher richteten sich die Instrumente der organisatorischen Verklammerung der Polizei mit der SS zu einem Staatsschutzkorps vor allem auf jene Aspekte, die direkt mit den Aufgaben und Funktionen der PolizeiFührungselite zusammenhingen. Das Führerideal, das die SS propagierte und in den Reihen der höheren Polizeibeamten durchzusetzen plante, war eine ganzheitliche „Managementkonzeption“, die die zum Führer heranzubildende Person in ihrer Gesamtheit, ihrem Charakter, ihrer Weltanschauung, Lebensführung und in ihren sozialen Bezügen erfasste. SS-Führer zu sein bedeutete weit mehr als Techniken der Leitung und Kontrolle von Menschen und Organisationen zu beherrschen. Die Bindung des Führers an die Organisation des Staatsschutzkorps sollte eine direkte, unge¿lterte Übertragung und Internalisierung der spezi¿schen Normen und Leitbilder gewährleisten. Enkulturation der Führungsschichten: Vom Leitbild zur Handlung Die dargestellte organisationale Identität der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps kann als grundlegende Rahmung des polizeilichen Handelns erfasst werden. Organisationskultureller Wandel setzt eine solche Standortbestimmung und Richtungsvorgabe über einen selbstreferentiellen Prozess voraus, der neue Zielund Sinndeutungen ermöglicht, traditionelle Handlungsformen umdeutet und neue Betätigungsfelder und Arbeitsweisen initiieren kann. Die leitbildgesteuerte Neuausrichtung sicherheitspolizeilicher Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sollte über die Polizeiführung als ‚Cultural Agents‘ erfolgen. Welcher Maßnahmen und Strategien sich Himmler, Heydrich und Best sich bedienten, um die geforderte Ausrichtung der höheren Polizeibeamten am Leitbild des Staatsschutzkorps zu erreichen, soll im folgenden dargestellt werden. Die wichtigsten Strategien zur Durchsetzung des organisationalen Leitbildes des Staatsschutzkorps waren Erziehung und Auslese. Diese beiden Strategien spielten im NS-Staat allgemein eine bedeutende Rolle. Durch Erziehung sollte nationalsozialistisches Gedankengut in den einzelnen Mitgliedern der Volksgemeinschaft verankert werden, durch Auslese sollten diejenigen Personen ermittelt
12
Birn 1986, S. 374.
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werden, denen Führungspositionen anvertraut werden konnten. Die Kombination dieser beiden Elemente stellte das Komplement zu negativer Auslese und Vernichtung dar und diente dem Ziel der Herstellung der Volksgemeinschaft. Auslese und Erziehung in speziell zu diesem Zweck eingerichteten Führerschulen und Führerlagern stellten daher auch für die Ausbildung leitender Polizeikräfte ein wichtiges Instrument der Personalentwicklung dar. 1937 wurde das Polizeiinstitut Charlottenburg, das seit 1927 als Ausbildungsstätte für die preußische Kriminalpolizei diente, zur ‚Führerschule der Sicherheitspolizei‘. Vor allem die Kriminalkommissarsanwärter der Gestapo hatten strengen Anforderungen an die politische Zuverlässigkeit zu genügen, ihre Ausbildung bei der Kriminalpolizei sollte sie zusätzlich mit fachlichem Können und Wissen versorgen. Sowohl für die Gestapo als auch für die Kripo galten ab 1936 reichsweit die gleichen, bislang preußischen Vorschriften über Einstellung, Ausbildung und Beförderung. Gestapo- und Kripokommissarsanwärter besuchten gemeinsam die Ausbildungslehrgänge. 1938 wurde im Zuge vorläu¿ger Laufbahnrichtlinien für den SD auch eine Angleichung der Einstellung und Ausbildung der Sicherheitspolizei und des SD eingeführt. Bei den Lehrgängen wurden Kriminaltaktik und Kriminalistik gelehrt, aber auch Rechts- und Staatsbürgerkunde sowie ab 1936 nationalsozialistische Weltanschauung. Ab 1938 kamen SS-mäßige Erziehung hinzu, mit dem Kriegsbeginn erweiterte sich die Themenpalette um Ostkunde, Auslandskunde, besetzte Gebiete, Ausländer im Reich, Bandenbekämpfung, Menschenführung.13 Die geschlossene Unterbringung, die UniformpÀicht für Lehrer und Schüler seit 1938 und die militärische Verwaltungsstruktur der Schule prägten den Lagercharakter der Ausbildungsstätte. Nur SS-Führer mit besonderer charakterlicher, weltanschaulicher, fachlicher und persönlicher Eignung wurden als Lehrpersonal der Führerschule zugelassen.14 Neben der umfassenden weltanschaulichen Erziehung sollten die Führerlehrgänge auch einen Beitrag zur Eingliederung der Kommissarsanwärter in die SS leisten, ab 1937 wurden alle Lehrgangsteilnehmer zum Beitritt in die SS angehalten – eine Aufforderung, der man sich jedoch widersetzen konnte.15 Die Verschmelzung der Ausbildung der Sicherheitspolizeiführung mit der SS-Indoktrination wurde durch weitere, ab 1940 eingerichtete Lagertypen forciert: Ab 1940 wurden SS-Führerlager für diejenigen Angehörigen der Sicherheitspolizei eingerichtet, die sich zum SS-Führer befördern lassen wollten. Vor Beginn oder nach Beendigung des Ausbildungslehrganges zum Kriminalkommissar mussten SS-Führerprüfungen abgeleistet werden;16 die Lager dienten also zugleich der Banach 1998, S. 270. Vgl. Banach 1998, S. 112. 15 Banach 1998, S. 272. 16 Banach 1998, S. 272 f. 13 14
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Ausbildung und der Auswahl geeigneten Nachwuchses. Die Führerlager sollten der „Erweiterung und Festigung des weltanschaulichen und politischen Wissens und der Stärkung der Kameradschaft unter den SS-Führern der Sicherheitspolizei und des SD“17 dienen. Es war geplant, dass SS-Führer der Sicherheitspolizei regelmäßig ein solches Führerlager besuchen sollten. Ab 1942 sollten auch für mittlere Beamte, die nicht Mitglieder der SS waren, sogenannte ‚Führerlager der Sicherheitspolizei statt¿nden‘, deren Absolvierung Voraussetzung für eine Beförderung in höhere Positionen sein sollte. Besondere Bedeutung erhielt die weltanschauliche Schulung18 in den besetzten Gebieten, denn „die politischen und militärischen Ereignisse seit Kriegsbeginn hatten nach Meinung des RSHA eine Fülle neuer politischer Fragen‘ aufgeworfen“.19 Die weltanschauliche Schulung war breit angelegt und umfasste u. a. die Themen Rassenkunde, nationalsozialistische Bewegung, Geschichte der SS und der Polizei, deutsche Geschichte, aktuelles politisches Wissen. Diese Inhalte sollten nicht nur der Wissensanhäufung, also rein kognitiven Zwecken dienen, sondern sollten die Lehrgangsteilnehmer vor allem motivieren, im nationalsozialistischen Sinne zu handeln und zu fühlen und ihre alltäglichen Erlebnisse mit Hilfe eines herrschaftlich erwünschten kognitiven Schemas einzuordnen und zu bewerten.20 Seit 1940 wurden sogenannten ‚Ausleselehrgänge für Sicherheitspolizei und SD‘ eingerichtet, um geeignete Bewerber für leitende Positionen in der Sicherheitspolizei zu ermitteln. Eine weitere wichtige Maßnahme, die die Bindung der Polizeiführung an das Staatsschutzkorps fördern sollte, war der Einsatz von Strategien der Personalrotation und der Gruppenbildung. Wie Paul ausführt, praktizierte die Gestapo eine Personalpolitik der Rotation, Gestapo-Stellenleiter wechselten häu¿g ihre Dienststelle, „wodurch sich die durchschnittliche Verweildauer in einer Dienststelle auf 17 bis 24 Monate reduzierte“.21 Dadurch wurden die Gestapostellenleiter gezielt entwurzelt, also von Bindungen außerhalb des Korps gelöst. Auch der gezielte Einsatz von Arbeitsteams in den Osteinsätzen, die aus Mitgliedern bestanden, die sich „teilweise schon aus jahrelanger Zusammenarbeit kennen- und schätzen gelernt hatten“22, diente der Bindung an das Korps, vertreten durch konkrete Personen, die einander durch die Prinzipien der Treue und Kameradschaft nicht nur emotional, sondern auch weltanschaulich verpÀichtet waren (s. u.).
RdErl. des RSHA vom 4.5.1940, zit. nach: Banach 1998, S. 103. Vgl. Matthäus u. a. 2003. 19 Banach 1998, S. 116. 20 Vgl. Banach 1998, S. 119. 21 Paul 1996, S. 246. 22 Banach 1998, S. 254. 17
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Eng mit der VerpÀichtung auf Treue und Gehorsam zusammenhängend, versuchte die nationalsozialistische Führung das personalpolitische Prinzip der ‚Menschenführung‘ durchzusetzen. Dieses Prinzip ergab sich aus der „Himmlerschen Forderung, dass der SS-Führer ‚führen‘ und nicht ‚verwalten‘ sollte“.23 Die aus dem Prinzip der Menschenführung erwachsende ‚Personalisierung‘ von Verwaltungsakten und Unterstellungsverhältnissen versetzte den einzelnen Polizisten in eine Position direkter Abhängigkeit und VerpÀichtung gegenüber dem jeweiligen Vorgesetzten. Wie Banach zu bedenken gibt, blieb die Ausformulierung und Umsetzung des Prinzips der Menschenführung jedoch unklar, die Begriffsbestimmung unscharf, dies nicht zuletzt, weil „ein Mindestmaß an staatlich geprägter Bürokratie erhalten bleiben [musste], um den Beamten das Gefühl der Kontinuität zu vermitteln und ihm als Teil des anonymisierten Ganzen das Gefühl eines Nicht-Verantwortlichseins für seine Maßnahmen zu geben“.24 Die geschilderten Maßnahmen zur weltanschaulichen Schulung und Bindung der Polizeiführung an das Staatsschutzkorps wurden durch die Einrichtung der Institution der Inspekteure der Sicherheitspolizei Àankiert, denen neben der Aufgabe der weltanschaulichen Schulung auch direkte Kontrollfunktionen zugeteilt waren. Durch einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 9. April 1942 wurden die Inspekteure der Sicherheitspolizei und des SD angehalten, regelmäßig ‚Befähigungsberichte‘ über die Sipo- und SD-Dienststellenleiter anzufertigen; daneben waren die Inspekteure verpÀichtet, regelmäßig Inspektionen, in deren Verlauf Dienstbesprechungen stattfanden, durchzuführen. Diese als ‚Arbeitstagungen‘ institutionalisierten Besprechungen, an denen Gestapo- Kripo und SD-Stellenleiter und ggf. Experten teilnahmen, dienten der Übermittlung von Erlassen des Reichssicherheitshauptamtes, der Erteilung von Weisungen, der Besprechung von allgemeinen und Einzelfragen; auch fanden Vorträge zur Arbeit der Sicherheitspolizei statt.25 Die Arbeitstagungen erfüllten somit mehrere Funktionen zugleich: Sie förderten die weltanschauliche Schulung und Gleichrichtung der Dienstellenleiter und dienten der Koordination der Aufgaben von Gestapo, Kripo und SD; sie forcierten somit die Bindung der Dienstellenleiter an die Organisation der Sicherheitspolizei. Nicht zuletzt aber waren sie ein effektives Mittel zur Kontrolle der Aktivitäten und der weltanschaulichen Verlässlichkeit der Dienstellenleiter.
Banach 1998, S. 240 f. Banach 1998, S. 241. 25 Banach 1998, S. 202. 23
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Organisationskultureller Wandel ‚von oben‘: ‚Vorbilder‘, Inspekteure und Initiationen Dass die geforderte ganzheitliche Identi¿kation mit den Zielen und Leitbildern des ‚Schwarzen Ordens‘ bei den in wilhelminischer und Weimarer Beamtentradition sozialisierten Kriminalkommissaren nicht vollständig gelingen konnte, war Best, Heydrich und Himmler durchaus bewusst. Ein umfassender Kulturwandel im Sinne einer vollständigen und einheitlichen Identi¿kation aller Polizisten mit der SS-Ideologie und dem Leitbild des Staatsschutzkorps stellte zwar ein langfristig anzustrebendes Ziel dar, das jedoch kurzfristig mit dem vorhandenen Personal nicht zu erreichen war.26 Daher gilt es zu klären, auf welchem Wege der von den Führern des Staatsschutzkorps initiierte Kulturwandel statt¿nden konnte und welcher Strategien sich die Führung der Sipo bei der Etablierung neuer Handlungsformen und Deutungsmuster bediente. Mallmann/Paul stellen fest, dass die elaborierten rassenhygienischen Ideologien für die Handlungen und Wahrnehmungen der Polizeibeamten in den regionalen Kripo- und Gestapostellen zumindest in den Anfangsjahren keine dominante Rolle gespielt haben. Die kulturelle Einbettung der SS-Ideologie fand erst im Zuge der Verschmelzung der Polizei mit der Schutzstaffel statt und wurde durch Vorbilder aus den Reihen der SS in den Sipo-Alltag transportiert.27 Die jungen und ambitionierten Gestapostellenleiter bildeten hierbei die personalpolitische Schnittstelle zwischen den sich zunehmend radikalisierenden Anordnungen und Erlassen des Hauptamts Sicherheitspolizei bzw. später des Reichssicherheitshauptamtes und der konsequenten Umsetzung dieser Erlasse vor Ort. Sie stellten durch ihre Machtstellung die Legitimations¿gur für die Durchführung von Maßnahmen dar, sie bestimmten eigenmächtig (trotz teilweise gegenteiliger Anordnung) die Anwendung spezi¿scher Maßnahmen wie etwa der sogenannten verschärften Vernehmung. Neben ihrer faktischen Macht zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik stellten die Gestapostellenleiter als SSFührer auch die Deutungen und Legitimationen für die einzelnen Maßnahmen bereit und versorgten die Beamten und Angestellten mit ideologischen Rahmungen für die sich radikalisierenden Arbeitsformen. Die konkrete Praxis vor Ort wurde durch die ideologisch geschulten Gestapostellenleiter zwar weltanschaulich gerahmt, zu ihrer spezi¿schen Durchführung bedurfte es jedoch weiterer Figuren, deren EinÀuss auf die Handlungsweisen der Polizisten unmittelbarer war. Die Praxis der ‚verschärften Vernehmung‘ etwa, die bis 1941 of¿ziell vom RSHA, später von den Gestapostellenleitern zu geneh-
26 27
Vgl. Browder 1996, S.234. Vgl. Mallmann/Paul 2000, S. 618.
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migen war,28 lag faktisch in der Entscheidungsgewalt jedes einzelnen GestapoBeamten. Nicht für alle Gestapobeamten war die Folter jedoch ein präferiertes Vernehmungsinstrument. Vielmehr scheint es, als habe es bei den regionalen Gestapostellen einzelne Beamte bzw. Angestellte gegeben, die in besonderem Maße zu gewaltsamen Geständniserpressungen neigten. Vor allem die ‚Seiteneinsteiger‘, die ihren Weg in die Gestapo durch den Dienst in der NSDAP, SA oder SS und über ihre Tätigkeit in der Hilfspolizei gefunden hatten und nicht über die herkömmlichen kriminalistischen Fähigkeiten zur Gefangenenvernehmung verfügten, wählten die Folter als Verhörmethode, während die Beamten der höheren Dienstränge sich eher auf ihre kriminalistische Kompetenz verließen. Dieser Unterschied kann einerseits als Hinweis auf die Existenz von organisationskulturellen Unterschieden gewertet werden, andererseits auch als ein Trend zur zunehmenden Deprofessionalisierung, der durch den chronischen Personalmangel vor allem in den Kriegsjahren hervorgerufen wurde und somit das Fehlen kriminalistischer Quali¿kationen ‚kompensierte‘. Neben der direkten Role-model-Funktion von Gestapostellenleitern und brutalisierten SS-Seiteneinsteigern hatte die Polizeiführung jedoch auch eine spezielle Institution geschaffen, die über unterschiedliche persönliche und formelle EinÀussmöglichkeiten verfügte, um Kulturwandel zu initiieren und zu überwachen. Die Institution der Inspekteure der Sicherheitspolizei wurde geschaffen, um die Beamten und Angestellten der regionalen Gestapo- und vor allem auch der Kripostellen auf den neuen sicherheitspolizeilichen Kurs einzuschwören. Mit einem Erlass vom 15.1.1940 wurde die Unterstellung der IdS unter die Verwaltungsbehörden aufgehoben, sie hatten die Aufgabe, bei Kontakten mit der staatlichen Verwaltung allein die Interessen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD zu vertreten. Die Autorität der Inspekteure bei der Verfolgung des Autonomisierungsstrebens der Sicherheitspolizei und bei der EinÀussnahme auf die regionalen sicherheitspolizeilichen Dienststellen bestimmte sich dabei primär durch die Persönlichkeit des jeweiligen Inspekteurs. Ihre Weisungsbefugnis war personalisiert, „die Stellung des Inspekteurs bestimmte sich in hohem Maße durch sein Ansehen und sein Durchsetzungsvermögen innerhalb der regionalen Machtstrukturen“.29 EinÀuss auf die fachliche Arbeit der Beamten hatten die Inspekteure nicht. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass ihr kultureller EinÀuss vor allem im Bereich der Ideologie- und damit der Sinnvermittlung lag, denn zum Aufbau des Staatsschutzkorps aus Sipo und SD trugen die Inspekteure vor allem durch ‚weltanschauliche Schulung‘ bei und ein Erlass vom 9.4.1942 28 29
Vgl. Paul 1996. Banach 2000, S. 84.
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verfügte, dass die Inspekteure regelmäßig ‚Befähigungsberichte‘ über die Leiter der regionalen Sipo-Stellenleiter anzufertigen hatten. Darüber hinaus fanden regelmäßige Inspektionen statt, die von Besprechungen begleitet waren.30 Die Ergänzung formaler Anordnungen und formaler Weisungsgewalt durch eine Institution, die vor allem durch direkte Kommunikation und BeziehungspÀege in wiederholten Inspektionen, Arbeitsbesprechungen und Schulungen EinÀuss auf die Sipo-Beamten nehmen konnte, scheint für die dynamische und entgrenzte Entwicklung der Sicherheitspolizei besonders effektiv gewesen zu sein. Die IdS konnten aufgrund ihrer persönlichen Unterstellung unter die Spitze der Sicherheitspolizei und formell nicht determinierten Weisungsbefugnis Àexibel und rasch auf geänderte Bedingungen reagieren und unmittelbaren EinÀuss auf die Praxis vor Ort nehmen. Neben ‚Vorbildern‘ und Inspekteuren spielte noch eine weitere, führungsgesteuerte Technik der EinÀussnahme eine bedeutsame Rolle bei der Einübung und Einschwörung der Beamten auf neue Handlungsmuster: direkt von Himmler angeordnete Verhaftungsaktionen gegen ‚Berufsverbrecher‘ und ‚Asoziale‘, die unter einer organisationskulturellen Perspektive als Initiationen bezeichnet werden können. Das Instrument der Vorbeugehaft gehörte zwar auch schon vor der Verhaftungsaktion von 2000 Berufsverbrechern im Jahr 1937 zum Repertoire kriminalpolizeilicher Praxis, wurde bis dahin jedoch eher in geringer Quantität angewendet. Mit der durch einen Schnellbrief Himmlers erlassenen Verhaftungsaktion sollten an einem einzigen Tag im gesamten Reichsgebiet etwa 2000 nicht in Arbeit be¿ndliche „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ interniert werden. Die Aktion erfüllte mehrere Funktionen: Sie sollte Arbeitskräfte für die neu zu errichtenden Konzentrationslager beschaffen, die Länder außerhalb Preußens an das Instrument der Vorbeugehaft gewöhnen und – was in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist – die Kriminalisten zu einer kontinuierlichen Praxis der Verhängung von Vorbeugehaft bewegen. Damit verschob sich für die Kriminalbeamten auch der Sinn dieses Instruments: „War es Daluege und Lieber mann von Sonnenberg noch darum gegangen, die Gruppe der Berufsdelinquenten durch selektiven Terror gegen einzelne zu Wohlverhalten zu zwingen, zogen Nebe und Himmler 1937 aus dem Ausbleiben der Marginalisierung von Kriminalität den Schluß, von nun an alle erkannten Angehörigen dieser Gruppe zu internieren, um zum Ziel zu gelangen“.31 Die Vorbeugehaft entwickelte sich durch die Aktion vom Ultima-Ratio-Instrument der Generalprävention durch selektiven Terror hin zum alltäglichen Mittel kriminalpolizeilicher Sanktionierung. 30 31
Vgl. Banach 1998, S. 202. Wagner 1996, S. 255.
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Die ‚Aktion Arbeitsscheu Reich‘ vom April bzw. Juni 1938, bei der Gestapo und Kripo in Zusammenarbeit mit Fürsorgeeinrichtungen und Arbeitsämtern insgesamt etwa 10500 in Konzentrationslager verbrachten (davon ¿elen allein 9000 auf die Verhaftungsaktion der Kripo), erfüllte eine ähnliche Funktion: Die Verhaftung von ‚Asozialen‘ wurde kontinuierliche Praxis, ebenso die Zusammenarbeit mit den Fürsorgeeinrichtungen.32 Die Verhaftungswellen schwenkten Gestapo und vor allem die Kriminalpolizei unmittelbar auf den neuen ideologischen Kurs der Ausmerze Unangepasster ein. Die Aktionen setzten nicht, wie etwa die Schulungsarbeit der IdS, auf kommunikative Indoktrinierung, sondern auf die faktische Wirkung direkter Aktion: Der ‚Erfolg‘ der Aktionen rechtfertigte die weitere Anwendung der Vorbeugehaft und gewöhnte die Polizisten an die neue Praxis. Hinter den mit den Aktionen erreichten Stand an Radikalisierung zurückzufallen, war vom kriminalistischen Standpunkt aus kaum denkbar. Sollte das polizeiliche Vorgehen weiterhin konsistent und konsequent bleiben und dadurch disziplinierend wirken, musste der einmal eingeschlagene Pfad weiter beschritten werden. Die Teilnahme an den Aktionen war öffentlich, eindeutig, unwiderrufbar, und, da die angeordneten Verhaftungszahlen deutlich überschritten wurden, freiwillig. Diese Faktoren machen einen etwaigen Rückzug vom eingeschlagenen Handlungsstrang auch psychologisch kostspielig und damit unwahrscheinlich.33 Auch die Tätigkeit der Sipo-Führungskräfte in den Einsatzgruppen wirkte als Initiation für eine sich zunehmend radikalisierende Vernichtungspraxis. Der ‚Sondereinsatz‘ im Osten war eine Gelegenheit für die abgeordneten SipoFührungskräfte, die an sie delegierte Verantwortung gemäß des nicht explizierten, aber zu erahnenden Führerwillens auszufüllen. Die beteiligten Polizisten erlernten während ihrer Mitgliedschaft in den Einsatzgruppen Probleme, die sich beim massenhaften Töten von Menschen stellten, zu lösen. Dabei stellten sich die Massenerschießungen in Polen und der Sowjetunion für die beteiligten Polizisten einerseits als technisches Problem dar, das nach Kriterien der Ef¿zienz zu lösen war. Im Rahmen der ‚Außerordentlichen Befriedungsaktion‘ vom Mai 1940 ordnete beispielsweise Dr. Eberhard Schöngarth ‚Musterexekutionen‘ an, die den Zweck verfolgten, den untergeordneten Dienststellen die zweckmäßigste Form der Massenerschießung vorzuführen. Durch die dauernde Beteiligung an Massenerschießungen waren die abgeordneten Polizisten jedoch andererseits gezwungen, auch den Umgang mit möglicherweise auftretenden psychischen Hemmungen zu erlernen, wollten sie ihre eigene seelische Gesundheit und Leistungsfähigkeit nicht gefährden. Diese Erfahrungen im technischen und psychischen Umgang mit dem Töten brachten die Gestapostellenleiter bei 32 33
Vgl. Wagner 1996, S. 300. Vgl. hierzu Moser 1995, S. 14.
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ihrer Rückkehr aus den Osteinsätzen mit in die regionalen Gestapostellen. Ihre Gewalterfahrungen trafen dort mit dem oben geschilderten Prozess zunehmender Radikalisierung der Ermittlungsmethoden durch kriminalistisch ungeschulte Kriminalangestellte zusammen, die im Zuge der Versetzung quali¿zierteren Personals in die besetzten Gebiete eingesetzt worden waren: „All dies begünstigte, dass sich auch im ‚Altreich‘ selbst die Grenzziehungen zwischen kriminalpolizeilichen Arbeitsweisen und militärischen Kampfformen verwischten“.34 Selbst-Radikalisierung der Kriminalpolizei Betrachtet man die Entgrenzungs- und Radikalisierungsprozesse der Kriminalpolizei unter dem Aspekt der Organisationskultur, so wird deutlich, dass ein Rekurs auf of¿zielle Muster der organisationalen Identität der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps nur eingeschränkte Erklärungskraft für die Analyse alltäglichen Polizierens hat. Es gilt eher, die funktionale Melange dazustellen, die überkommene Traditionen und Denkmuster und ‚normalisierende‘ bürokratische Handlungsformen mit dem sozialtechnologischen Programm der Rassenhygiene eingingen. Elemente und Deutungs¿guren der Rassenhygienischen Ideologie fanden durchaus Eingang in kriminalistische Praxis; die größtmögliche Nähe zum Programm der Vernichtung ‚Gemeinschaftsfremder‘ ¿ndet sich in den Konzepten der führenden Kriminalisten, die aus ihrem professionellen Selbstverständnis heraus Anschluss an wissenschaftliche Standards der zeitgenössischen Kriminologie, d. h. der Kriminalbiologie suchten. Ihre wissenschaftlichen kriminalistischen Vorstellungen ließen sich angemessen mit der rassistischen SS-Ideologie und den Konzeptionen einer völkischen Polizei kurzschließen und trugen zu einem nicht unerheblichen Teil zur (Selbst)-Radikalisierung der Kripo bei. Auch in Begründungs- und Argumentations¿guren für die Verhängung von Schutzhaft oder für die Anordnung von Deportationen, insbesondere bei speziellen Verfolgtengruppen wie vorbestraften Juden oder bei Sinti und Roma ¿nden sich Rassismen, die direkt der nationalsozialistischen Ideologie entspringen.35 Dennoch bildeten NS-Rassismen nicht die generelle Grundlage für kriminalpolizeiliche Ausgrenzung. Die Praxis der NS-Kripo ging vielmehr zunächst auf organisationskulturelle Handlungsformen und Deutungsmuster zurück, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im alltäglichen Umgang mit Delinquenten und sozial deklassierten Personengruppen entwickelt wurden und spiegelt somit die Radikalisierung genuin kriminalpolizeilicher Organisa34 35
Paul 1996, S. 249. Vgl. Roth 2000b, S. 172.
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tionskultur wider. Wie Wagner und Roth den überlieferten Dokumenten und Protokollen der Duisburger und Kölner Kripostellen entnehmen, sind Deutungs¿guren, die dem Berufsverbrecherparadigma und konventionellen bürgerlichen Disziplinierungsvorstellungen entspringen, dominant. Der Übergang von kriminalistischen Traditionen und Konzepten der Berufsverbrecherbekämpfung und der Sozialdisziplinierung Unangepasster zur Vernichtungspraxis wurde durch die praktizierte Kontinuität der bürokratischen Handlungslogik vereinfacht. Zwar stellten die neuentwickelten Instrumente der planmäßigen Überwachung, der Vorbeugehaft und der damit verbundenen Deportationen durchaus einen Bruch mit bisherigen Mitteln der Verbrechensbekämpfung dar; ihre bürokratische Umsetzung in normierte Verwaltungsakte glättete diesen Bruch jedoch für die Wahrnehmungen der Kriminalisten. Kriminalpolizeiliche Praxis blieb zu einem großen Teil Schreibtischarbeit,36 die Fomalisierung von Handlungsschritten und Vorgängen und die Einführung bürokratischer BegrifÀichkeiten für die neuen Handlungsformen fügte die neuen Maßnahmen rasch in den Alltag der Verwaltungsarbeit ein. Bürokratisierung und Normierung verbrecherischer Maßnahmen des NS-Staates werden zumeist unter dem Aspekt der Verantwortungsentlastung durch Neutralisation bewertet. Unter einer organisationspsychologischen Perspektive leistet die Aktenförmigkeit und die Normierung von Verfahren jedoch einen weiteren, möglicherweise ebenso bedeutsamen Beitrag zur Ermöglichung verbrecherischer Handlungen: Schematisierung ermöglicht Routine und damit praktische Einübung jener ideologischen Basisannahmen, die sich in den Akten und Karteien wieder¿nden. Die Modus-operandi-, Sippschafts- und Jugendlichenkarteien der Kriminalpolizei wurden entlang NS-ideologischer, d. h. v. a. kriminalbiologischer Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit geordnet. Daher sind sie nicht allein Indikator für die (Über-) Bürokratisierung der Organisation der Sicherheitspolizei, sie sind auch ein hochsigni¿kantes kulturelles Artefakt: Im Umgang mit den Kriterien, die der Systematisierung von Personen in Karteiform zugrunde liegen, produzierten, reproduzierten und lernten die Kriminalisten die neuen, von der Polizeiführung importierten organisationskulturellen Prämissen über das Wesen der Kriminalität, die der Anlage der Karteien zugrunde lagen. Das immer komplexer werdende Datenverwaltungssystem, das sich außer in immer umfassenderen Karteien auch in einem Ausbau der Dienststellen für Nachrichtenwesen und Erkennungsdienst äußerte, beschleunigte so „die Anpassung an die
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Vgl. Roth 2000b, S. 168.
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vom Reichskriminalpolizeiamt propagierten Wahrnehmungsmuster und Tätigkeitsfelder, Kriminalitätstheorien und kriminalpolitischen Leitvorstellungen“.37 Die kriminalpolizeiliche Anwendung von Deutungsschemata, die aus alltäglicher Praxis und Common-Sense-Vorstellungen über asoziales Verhalten entsprangen, wurde vor allem mit Beginn des Krieges noch durch Ängste im Zusammenhang mit der drohenden Anomisierung der Gesellschaft und dem damit einhergehenden drohenden Kontrollverlust verschärft. Die kriminalpolizeiliche Disziplinierungsmacht schien durch das zahlreiche und ubiquitäre Auftreten von Kriegsdelikten gefährdet. Angesichts des massenhaften Auftretens von kriminellen Handlungen auch bei ansonsten ‚unauffälligen‘ Bürgern wäre ein Zweifel der Kriminalisten an der Angemessenheit ihrer kriminologischen und kriminalpolitischen Konzeption zu erwarten gewesen, denn „der am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen beginnende zweite Weltkrieg sollte […] mit der aus seinen sozialen Verwerfungen resultierenden Kriminalität sowohl das kriminalbiologische Modell des Reichskriminalpolizeiamtes als auch Heindls Konzept vom ‚Berufsverbrecher‘ gründlich blamieren“.38 Tatsächlich reagierte die Kriminalpolizei angesichts des drohenden Kontrollverlusts durch umgreifende Kriegsdelikte jedoch nicht mit einer Revision ihrer kulturellen Handlungs- und Deutungsmuster, „sondern mit offensichtlicher Verhärtung: der Polizist an der Basis wandelte sich in dieser Phase vom autoritären Erzieher zum Verteidiger eines unweigerlich zusammenbrechenden Normengefüges und zum Kämpfer um den eigenen Kontrollanspruch“.39 Dieses scheinbar widersinnige Phänomen konsistenten und sogar eskalierenden Verhaltens trotz offensichtlicher Unangemessenheit lässt sich unter einer organisationskulturellen Perspektive als Commitment gegenüber einem einmal eingeschlagenen Handlungsmuster verstehen. Gerade angesichts des drohenden Scheiterns des gewählten Handlungsstranges wird eskalierendes Commitment wahrscheinlich. Die Tatsache, dass die Durchsetzung der spezi¿schen kriminalpolitischen Konzeptionen bereits mit hohen Investitionen verbunden war, öffentlich diskutiert und vertreten wurde, und die Tatsache, dass für die Kriminalpolizei weitergehende Interessen – etwa ihre Stellung im Machtgefüge des Staates, die durch ihre Effektivität legitimiert war – auf dem Spiel standen, machte eine Abkehr von kulturellen Mustern undenkbar.40
Roth 2000 (a), S. 308. Wagner 1996, S. 300 f. 39 Roth 2000 (b), S. 172. 40 Vgl. zu diesem kognitiven Prozess Moser 1995, S. 20 f. 37
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Organisationskultur der Gestapo: das „Geheime“ und die Verteidigung des Kontrollanspruchs Hans-Joachim Heuer verwendet bei seiner Analyse der Gestapo den Begriff des ‚Geheimen‘ als Schlüssel zum Verständnis interner geheimpolizeilicher Interaktion und liefert somit einen Ansatz zum Verständnis der Organisationskultur der Gestapo. Der Aspekt des Geheimen bezieht sich dabei zunächst auf Elemente der strukturellen Rahmung des Gestapo-Handelns. Von der Bevölkerung weitgehend unbekannt und der Nachprüfung durch öffentliche Gerichtsbarkeit entzogen, hatte die Gestapo einen Möglichkeitsraum geschaffen, innerhalb dessen das Handeln von externer Kontrolle befreit war. Ein für die Analyse geheimpolizeilicher Organisationskultur bedeutsamerer Aspekt des Geheimen dürfte jedoch in der (strukturell ermöglichten) Herausbildung einer starken Gruppenbindung, der damit einhergehenden Ausarbeitung gruppeninterner Normsysteme und der damit verbundenen Abgrenzung von externen normativen VerpÀichtungen liegen: „Durch das spezi¿sch begrenzte Kommunikationsnetz und der damit einhergehenden inhaltlichen Reduzierung (i. S. von gebrochener Komplexität) der Arbeitswelt entsteht für jedes Mitglied eine exklusive Realität“.41 Der von der Corporate Identity der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps vorgegebene Binnenwert der ‚Kameradschaft‘ hat in einer Organisation, die ihre Interaktionen an der Prämisse der Geheimhaltung orientiert, unmittelbar handlungsrelevante Bedeutung: Nicht der Geheimnisträger als verschwiegenes Individuum ist gefragt, sondern die Gemeinschaft der durch Interna verbundenen Mitglieder ist zur gegenseitigen Loyalität verpÀichtet. Das Bewusstsein, über exklusives und machtvolles Wissen zu verfügen und nach selbstgewählten Methoden selbstgestellte Problemlagen zu bearbeiten, führt zu der Notwendigkeit, dem Problem der internen Integration der Organisationsmitglieder, das sich prinzipiell für jede Organisation stellt, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der angestrebte Korpsgeist, der aus der Ideologie des ständigen Kampfes resultierte und der das unbedingte Einstehen füreinander aufgrund drohender Gefahr beinhaltete, dürfte für den internen Zusammenhalt der Gestapo – und auch der Einsatzgruppen – interaktionsleitend gewesen sein: „Es werden Leistungen erwartet, die in ‚gewöhnlichen‘ Beziehungen nicht erbracht werden müssen. Dies bezieht sich u. a. auf Unterstützung in der Arbeit, Akzeptanz der Anderen, Nichtäußern von Kritik, informelles Verbot der Weitergabe von intimeren Kenntnissen über die Gruppe, ihre Absichten und Weltbilder.“42 Heuer, 1995, S. 164. Heuer 1995, S. 165. Ob die von Heuer postulierte ‚symbiotische Bindung‘ an die Organisation der Gestapo mit ihren weitreichenden Folgen für die Herausbildung personaler und sozialer Identität (S.199 f.) tatsächlich von allen Mitgliedern in gleicher Weise eingefordert wurde, erscheint nach 41
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Die auf die interne Integration der Organisationsmitglieder gerichteten kulturellen Muster ermöglichten der Gestapoführung einen raschen Wechsel von Zielformulierungen und Strategien. Die starke Bindung der Gestapoleute aneinander und an ihre Organisation, die durch die geschilderte Konzeption der organisationalen Identität als Korps vor allem von den jeweiligen Führungspersonen gefordert wurde, stellte einen gewissen ‚Loyalitätskredit‘ auch angesichts immer neuer Zielformulierungen und Methoden dar. Vor allem die zahlreichen Neuzugänge zur Gestapo hatten eine grundsätzliche Bereitschaft zum Commitment zu erweisen, die sich nicht auf konkrete Ziele und Normen bezog, sondern die allgemeine Bereitschaft zur Anerkennung der Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in der Gestapo anzeigte.43 Die Bereitschaft zur normunabhängigen Loyalität dürfte je nach sozialer Herkunft und bisheriger beruÀicher Sozialisation der Gestapobeamten zwar unterschiedlich ausgeprägt gewesen sein, war jedoch bei der Gestapo wahrscheinlich generell größer als bei der Kripo, bei der nationalsozialistische Deutungs- und Handlungsmuster nur insofern befolgt wurden, als sie sich als anschlussfähig an bisherige organisationale Traditionen der kriminalistischen Arbeitsweise erwiesen. Die Zielformulierungen und Gegnerde¿nitionen der Gestapo und die Abschließung und Exklusivität der Gestapo im Staatsschutzkorps bedingten einander. Den Beschreibungen Heydrichs und Himmlers zum Wesen des ‚unsichtbaren Gegners‘ liegen paranoide, direkt von einer Gefährdung der eigenen Organisation ausgehende Befürchtungen zugrunde. Die Gefahr durch Feinde drohte nicht allein der abstrakten Volksgemeinschaft, sondern immer auch zugleich der eigenen Organisation. Juden etwa schienen nicht nur die rassische Substanz des Volkes zu unterminieren, sonders versuchten scheinbar ebenfalls, die staatlichen Institutionen zu unterwandern.44 Der Feind schien somit auch in den eigenen Reihen zu drohen und die Verteidigung des Staates und der Volksgemeinschaft verwandelte sich zunehmend in eine Verteidigung des eigenen Kontrollanspruchs. Das sukzessive selbsterzeugte Gefährdungsszenario wird gegen Ende des Krieges real: Der durch den Rassenkrieg herbeigeholte Fremdarbeiterstrom und die aus der unzufriedenen Bevölkerung wiedererstarkende Widerstandsbewegung bedroht den Repressionsapparat in kaum kontrollierbarer Weise. Die ausufernde Feindde¿nition und die Furcht vor der Zerstörung der eigenen Existenz ließ nur noch äußerste Gewalt als adäquates Mittel der Repression erscheinen: „Mit Zunahme der Zahl potentieller Feinde, die mit herkömmlichen dem oben Gesagten hingegen fraglich und wird daher nicht als konstituierendes Merkmal der Organisationskultur erfasst. 43 Vgl. Heuer 1995, S. 167. 44 Vgl. Heydrich 1936, S. 5 f.
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polizeilichen Mitteln nicht länger kontrolliert werden konnten, wuchs auch der Rückgriff auf immer brutalere Verfolgungs- und Unterdrückungsmethoden“.45 Soziale Identi¿kation und organisationales Commitment Im vorherigen Kapitel wurde bereits geschildert, welche Strategien angewendet wurden, um die Bindung der Sipo-Führer an das Leitbild des Staatsschutzkorps zu initiieren und aufrechtzuerhalten. Es bleibt jedoch noch zu klären, warum diese Strategien – in unterschiedlicher Ausprägung – auf individueller Ebene wirksam werden konnten. Es gilt daher, kollektivbiographischen Erfahrungen, Bedürfnisse und Motive zu ermitteln, die die Identi¿kation und SelbstverpÀichtung gegenüber dem Staatschutzkorps und damit die Voraussetzung zur Begehung von Initiativtaten durch die Führungskräfte der Sicherheitspolizei erklären können.46 Das Führungspersonal der Sicherheitspolizei war kein repräsentatives Sample der deutschen Bevölkerung, das allein durch ideologische Verblendung und Indoktrination dem sicherheitspolizeilichen Leitbild folgte. Durch Personalselektion, die solche Männer in Führungspositionen lancierte, die aufgrund ihres kollektivbiographischen Hintergrundes bereits über kognitive Schemata verfügte, die denen des sicherheitspolizeilichen Leitbildes glichen und durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, die diese latent vorhandene Einstellungsähnlichkeit noch weiter ausbaute, konnte die Führung der Sicherheitspolizei sicherstellen, dass die gewünschte Verschmelzung des Staatsschutzkorpsleitbildes mit dem Habitus seiner Führer gelang. Zunächst einmal ist zu bemerken, dass es sich bei der Führungsschicht der Sicherheitspolizei um eine sehr junge Kohorte handelte. 68 Prozent gehörten den Geburtsjahrgängen nach 1904 an, weitere 24 % waren zwischen 1894 und 1903 geboren.47 Sie waren somit deutlich jünger als die ihnen unterstellten Kollegen, das Durchschnittsalter der Gestapoangehörigen der Gestapostelle Kiel lag nach Angaben von Paul bei etwa 40 Jahren.48 Für die Kriminalpolizei ergibt sich jedoch ein etwas differenziertes Bild: So waren unter den Kriminalkommissaren in Berlin aufgrund einer gezielten Verjüngung des Führungspersonals im Jahr 1937 nur 20 % über 50, in der Provinz betrug das Durchschnittsalter der Kommissare jedoch 55 Jahre.49 Reinke 2000, S. 59. Vgl. Wildt 2002; zur Bedeutung kollektiver Erfahrungen für die Konstruktion der „Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus vgl. auch Wildt 2007 47 Banach 1998, S. 67. 48 Paul 1995, S. 238. 49 Vgl. Wagner 1996, S. 197 f. 45
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Die soziale Herkunft der Sipo-Führungselite war mittelständisch geprägt, die Väter der Unterschicht waren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert,50 ein Drittel der Väter waren Beamte. 70.4 % der Gestapo- und Kripoführer schlossen ihre Schulbildung mit dem Abitur ab. Die meisten der Abiturienten nahm ein Hochschulstudium auf, dominant mit 60 % waren dabei die Staats- und Rechtswissenschaften. Für die Stapostellenleiter betrug der Anteil sogar 87 %.51 Die kollektiven Erfahrungen, mit denen diese Kohorte während ihrer Studienzeit konfrontiert wurde, prägten mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bereitschaft der Studenten, leitende Positionen in der Repressions- und Vernichtungsmaschinerie der Sicherheitspolizei zu übernehmen: Das elitäre Selbstbild, das Akademiker pÀegten und durch das sie sich von der restlichen Bevölkerung abgrenzten, wurde durch die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen zur Zeit der Weimarer Republik bedroht, eine Erfahrung, die zu zunehmender Radikalisierung von Teilen der Studentenschaft führte. Völkisches Denken, ein idealisierender Frontkämpfermythos, Rassismus – vor allem in seiner antisemitischen Ausprägung, Sozialdarwinismus und die wissenschaftliche Untermauerung durch Positivismus, der gerade bei den Jurastudenten in Form eines Rechtspositivismus gepÀegt wurde, waren kognitive Schablonen, die latente Unsicherheitserfahrungen und Ängste vor Statusverlusten zu kompensieren versprachen. Härte gegenüber sich selbst und gegenüber anderen, Idealisierung des Volkes und des Krieges, emotionslose Orientierung am sachlich Gebotenen prägten den Habitus jener Studentenkohorte, aus denen sich die Sipo-Führung rekrutierte. Sie waren bereit und befähigt, die rassistische Utopie der Volksgemeinschaft rational zu organisieren und ohne störende EinÀüsse der von ihnen abgelehnten bürgerlichen Moral ef¿zient, also notfalls auch gewaltsam durchzuführen. Ein eher profaner, aber verstärkender Grund für die Attraktivität der Gestapo für junge Akademiker dürfte in der schlechten Arbeitsmartsituation gelegen haben. Die Studenten in der Weimarer Republik hatten im stärkeren Maße als ihre Kommilitonen im Kaiserreich mit Arbeitslosigkeit zu rechnen. Die Weltwirtschaftskrise führte zu einer Überfüllung der Hochschulen, mehr Studenten erlangten einen akademischen Abschluss, als der Arbeitsmarkt zu fassen vermochte. Karrierewünsche trotz ungünstiger Arbeitsmarktsituation machten vor allem die expandierende Organisation der Gestapo zu einem verlockenden Arbeitgeber, zumal die leitenden Positionen gut bezahlt wurden.52 Die ungewöhnlich hohe Anzahl von Akademikern in Sipo-Führungspositionen kann zum einen mit den Einstellungsbedingungen für die höheren BeBanach 1998, S. 43. Paul 1996, S. 240. 52 Paul 1996, S. 244. 50 51
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amtenlaufbahnen erklärt werden, darüber hinaus dürfte sie aber auch Ausdruck einer gezielten Personalpolitik gewesen sein. Im Gegensatz zu R. Heydrich, der hoffte, einen „neuen politisch-soldatischen Beamtentypus, der sich von der klassischen Bürokratie durch weltanschauliches Bekenntnis, Mobilität und Flexibilität abheben sollte“53 zu etablieren, hielt der Personalchef der Sicherheitspolizei, Werner Best, an den fachlichen Anforderungen an das höhere Beamtentum fest, um eine gewisse „Professionalität in die sich anarchisch zu entwickeln drohende Gestapo [zu] bringen“.54 Best kam es statt auf ideologische Begeisterung eher auf die Fähigkeit der neuen Führungselite an, aus fachlicher Quali¿kation und emotionsloser Sachorientierung heraus den ef¿zienten Ausbau der Sicherheitspolizei zu gewährleisten. Heydrichs Wunsch nach ‚revolutionärer Dynamik‘ und Bests Suche nach ‚unpersönlicher Objektivität‘ bildeten zusammen ein personalpolitisches Anforderungspro¿l, zu dessen Erfüllung die junge, akademisch ausgebildete und völkisch-nationalistisch geprägte Führungselite prädestiniert war. Die relative Homogenität des Führungskorps, die mit einem elitären Wir-Bewusstsein verbunden gewesen sein dürfte, hatte für die engagierte und ef¿ziente Durchführung des Völkermordes einen großen EinÀuss. Durch die kollektiven Erfahrungen mit einem rassistischen, völkischen und rationalistischen Diskurs in der Weimarer Zeit war daher bereits eine Basis für die zu erreichende Identi¿kation der Führungskräfte mit dem Ideal des Staatsschutzkorps gegeben. Wahrscheinlich hing mit dem Eintritt in die SS, den 1944 immerhin 85 % aller Gestapoleiter und 46 % aller Kripoleiter vollzogen,55 eher eine zusätzliche Formalisierung und Emotionalisierung der Bindung an ein gleichgesinntes Kollektiv zusammen als eine weltanschaulicher Neuausrichtung und Gleichschaltung. Neben der kollektivbiographischen Erfahrung des Sipo-Führungskorps dürften jedoch auch weitere Faktoren die Bereitschaft zur Identi¿kation und SelbstverpÀichtung gefördert haben. Diese Faktoren sollen in jenen Motiven und Bedürfnissen verortet werden, die von Organisationspsychologie als grundlegend für die Identi¿kation eines Individuums mit einer Organisation herausgestellt wurden. Die Identi¿kation mit der organisationalen Identität des Staatsschutzkorps konnte die Selbstwahrnehmung der Polizisten als kompetente und konsistente Akteure fördern und ihnen damit ein Gefühl der Sicherheit verschaffen. Der Rekurs auf organisational angebotene Muster der Wirklichkeitswahrnehmung- und Bearbeitung machte die Bedingungen und Ergebnisse des eigenen Handelns kontrollierbar und verlieh ihnen Sinn. Damit eine Organisationale Identität als Paul 1996, S. 240 f. Paul 1996, S. 241. 55 Banach 1998, S. 131. 53
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Grundlage und Verstärkung der eigenen Identität gewählt wird, müssen diese Muster jedoch nicht nur hinreichend plausibel und attraktiv sein, sie müssen einer Organisation zugerechnet werden können, die mächtig genug scheint, um sie dauerhaft stabilisieren und durchsetzen zu können. Die von Sicherheits- und Konsistenzbedürfnissen geleitete Identi¿kation mit einer starken und stabilen organisationalen Identität wird vor allem in Situationen wahrgenommener Bedrohung durch ‚Andere‘ und in Situationen wahrgenommener Ambiguität wahrscheinlich. Identi¿kation mit der eigenen Organisation wäre in diesem Fall ein Schutzmechanismus zur Stabilisierung der indirekt attackierten Sinnwelt durch Verstärkung der Kohäsion. „Identity is felt to be secure if the powers that have certi¿ed it seem to prevail over ‚them‘ – the strangers, the adversaries, the hostile others – construed simultaneously with the ‚we‘ in the process of self-assertion“.56 Die Konstruktion der Bedrohung der eigenen Existenzgrundlagen durch den ‚Volksfeind‘, dessen verschiedene Erscheinungsformen zu bekämpfen das Programm der Sicherheitspolizei war, sorgte in grundlegender Weise für die Identi¿kation der Polizisten mit den Zielen und Leitbildern ihrer Organisation. Die Bedrohung durch den Volksfeind war zunächst nur als abstrakte Gefährdung der Volksgemeinschaft konzipiert und nicht als unmittelbare Reaktion des Gegners auf polizeiliche Maßnahmen. Mit der Eskalation der Verfolgungsund Vernichtungsmaßnahmen schien die Gefährlichkeit des Gegners jedoch in zunehmenden Maße auch aus den dem polizeilichen Vorgehen selbst zu resultieren und wurde damit zur unmittelbaren Bedrohung der eigenen Existenz.57 Es ist denkbar, dass die wahrgenommene Verschiebung der Gründe für die Gegnerschaft des ‚Anderen‘ die Zielrichtung von einer abstrakten Identi¿kation mit der Volksgemeinschaftsideologie hin zu einer konkreteren Identi¿kation mit der eigenen Organisation geführt haben mag. Neben dieser unmittelbaren existentiellen Bedrohung durch Gegner sind jedoch auch die Bedrohungen der Sinnwelten durch verwandte Organisationen mit anderen Leitbildern zu erwähnen. Die zahlreichen Aushandlungsprozesse über Machtbereiche und Kompetenzverteilungen, bei denen die Sicherheitspolizei die von ihr besetzten Bereiche staatlicher Herrschaft zu verteidigen und zu legitimieren hatte, etwa mit Organisationen der inneren Verwaltung, der Justiz, der Wehrmacht und dem SD, konnten als potentielle Bedrohungen des eigenen ‚Claims‘ und damit zu einem erhöhten Kohäsions- und Identi¿kationsdruck der verantwortlichen Führung geführt haben, ebenso wie die internen Kompetenzund RessourcenkonÀikte zwischen Gestapo und Kriminalpolizei.
56 57
Bauman 1999. Vgl. Paul 2000, S. 546.
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Neben der Bedrohung der Organisation durch außen können auch intrapersonale KonÀikte zur Verstärkung der Identi¿kation führen. Abivalente oder widersprüchliche Kognitionen, die im Sinne der Dissonanztheorie von Individuen als unangenehme Spannungen empfunden werden, können durch Verstärkung der Bindung an ein salientes Deutungsschema abgemildert oder aufgelöst werden. Es ist zu vermuten, dass die Parallelität der Erfahrung eines von einer bürokratischen Kultur geprägten Alltags polizeilichen Handelns und die Erfahrung starker körperlicher und psychischer Anspannung und Belastung im ‚Osteinsatz‘, die viele Polizeiführer machten, ambivalente Emotionen und Kognitionen erzeugte, die unter anderem durch eine Verstärkung der Bindung an das Staatsschutzkorps integriert werden konnten. Gerade im Falle der Dissonanzreduktion, die für viele Polizisten (auch der unteren Ränge) in den Mordkommandos der besetzten Gebiete zur Notwendigkeit wurde, um ihre – zumindest zu Anfang der Einsätze auftretenden – physischen Reaktionen der Abscheu und der Übelkeit beim Anblick Erschossener zu überwinden, war Identi¿kation mit dem ideologischen Programm des Staatsschutzkorps eine wahrscheinliche Reaktion. Die Identi¿kation mit der SS-Identität bot die Möglichkeit, gerade in Situationen höchster Anspannung und Ambivalenz ein Gefühl der Stabilität und der Sinnhaftigkeit zu bewahren, da sie Verhaltens- und Bewertungsstrategien zur Verfügung stellte, die menschliche Extremsituationen zur Grundlage hatten: „Dabei stellt sich eine spezi¿sche Verkoppelung her aus der Einsicht in die Notwendigkeit inhumaner Handlungen und dem Gefühl, diese Handlungen nur widerwillig, gegen das eigene mitmenschliche Emp¿nden auszuführen – und gerade diese Verkoppelung bietet die Basis, sich ‚trotzdem‘ als anständig wahrzunehmen“.58 Die geforderte Härte gegenüber sich selbst und gegenüber den Mitmenschen bedeutete eben nicht, keine Anspannung und Abscheu beim Töten zu emp¿nden, sondern nur, diese in einer spezi¿schen Weise zu interpretieren: nicht als ‚Gewissensregung‘, die das Handeln in Frage stellt, sondern als zu überwindende Schwäche. Der Ekel und die Abscheu, die von vielen Polizisten während der Exekutionen empfunden wurden, musste nicht Anlass für grundsätzliche ethisch motivierte Zweifel am eigenen Handeln sein. Der Unsicherheit und Dissonanz erzeugende EinÀuss der empfundenen physischen Erregung konnte durch die Identi¿kation mit einem ideologisierten Persönlichkeitsbild, in dem menschliche Extremsituationen ausdrücklich thematisiert wurden und in dem der Ausnahmezustand bereits als Folie für das alltägliche Handeln diente, aufgehoben werden. Im Zusammenhang mit Tötungshandlungen kann auch das Konzept des ‚sozialpsychologischen Commitments‘59 herangezogen werden, das erklärt, warum das Aufrechterhalten eines einmal eingeschlagenen Handlungsstranges zur Bin58 59
Welzer 1993, S. 118. Vgl. Moser, S. 9 f.
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dung an das Handlungsleitbild führt. Es ist vielfach nachgewiesen worden, dass für Polizisten in den Einsatzgruppen grundsätzlich die Möglichkeit bestand, sich (etwa durch Versetzung) den mörderischen Einsätzen zu entziehen. Geht man davon aus, dass die Polizisten von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machten (was durch die VerpÀichtung zur Kameraderie bzw. der Ablehnung von ‚Feigheit‘ und der Forderung nach ‚Aktion‘ vor allem für die Polizeiführung wahrscheinlich ist), trug gerade die wahrgenommene Freiwilligkeit gemeinsam mit dem Bedürfnis nach Konsistenz dazu bei, die SelbstverpÀichtung gegenüber der einmal begonnenen Handlungsfolge zu verstärken und das Töten fortzusetzen. Ein weiteres naheliegendes Motiv für die Identi¿kation mit einer Organisation ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Vor allem in Situationen sozialer und emotionaler Isolierung wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem ausschlaggebender Faktor für die Identi¿kation mit Gruppen oder Organisationen. In diesen Situationen dürfte der konkrete Inhalt einer organisationalen Identität für den Identi¿kationsprozess eher nebensächlich sein. Situationen emotionaler und sozialer Isolierung bestimmten den Erfahrungsbereich der Gestapo- und Kripoführungskräfte in erheblichem Maße, da die dynamische Anpassung der Sicherheitspolizei an immer neue Aufgabenfelder und die territoriale Expansion ihres Zuständigkeitsbereichs die Flexibilität ihres Führungspersonals voraussetzte: „In einem System sich kumulierender Aufgaben und ständiger Expansion benötigte der Maßnahmenstaat mobile und allseits einsetzbare Organisatoren der Macht und keine an ihrem Schreibtisch klebende und nur an der Wahrung ihrer Privilegien orientierte Beamte“.60 Das Rotationsprinzip in der Personalpolitik, das nur kurze Aufenthalte an der gleichen Dienststelle vorsah, die von Best geleitete zentrale Ausbildung des Gestapo-Führungspersonals in Berlin und die Ungewissheit, welcher Stapostelle man nach Beendigung der Ausbildung zugeteilt würde, aber auch die zahlreichen Abordnungen in die mobilen Einsatzkommandos der besetzten Gebiete schlossen stabile Bindungen außerhalb des beruÀichen Kontextes nahezu aus. Die Bindung an die abstraktere Identität der SS-Gemeinschaft des Staatsschutzkorps konnte diese durch die Personalpolitik forcierte Bindungslosigkeit auffangen – ein Effekt, der von der Personalführung durchaus gewünscht und geplant war: Nicht nur die Flexibilität des sicherheitspolizeilichen Führungspersonals sollte durch die Rotation erhöht werden; die Rotation zielte zugleich darauf ab, das Korpsgefühl der Sipo-Führer zu verstärken, in dem es andere Bindungen kappte und die entwurzelten Männer damit zur Identi¿kation mit ihrer Organisation zwang.61 Verstärkt wurde dieser emotionale Druck zur Identi¿kation mit der SS-Identität durch das bereits dargestellte Prinzip des Einsatzes von Gruppen in den 60 61
Paul 1996, S. 246. Vgl. Banach 1998, S. 247.
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besetzten Gebieten. Durch die Zusammenführung von Sipo- und SD-Führern, die sich bereits aus längerer Zusammenarbeit kannten und einander Sympathie entgegenbrachten, erhielt die eher abstrakt konzipierte Identität des Staatsschutzkorps eine konkrete Gestalt. Die ohnehin schon naheliegende Bindung an die Werte und Ziele der Sicherheitspolizei wurde durch die Bindung an eine sie repräsentierende Gruppe affektiv forciert, „förderte sie doch aus engstem Raum den Identi¿kationsprozess mit der als ‚historisch‘ verstandenen Neuordnungsaufgabe von Sipo und SD“.62 Die Betonung von Kameradschaft und Kameraderie als zentraler Wert der SS-Ordens-Ideologie legte die Verschmelzung affektiver Bindung und weltanschaulicher Gleichrichtung nahe; affektive Bindung an das Korps ohne Identi¿kation oder Internalisierung der gemeinsamen Weltanschauung war nicht denkbar. Die gekoppelten Prinzipien der Kameradschaft und der Treue bildeten dabei den Rahmen, innerhalb dessen die Befriedigung sozialer Bedürfnisse möglich war, andere Formen der affektiven Bindung waren nicht vorgesehen. Die Wahrnehmung der eigenen Gesellungs- und Af¿liationsbedürfnisse war somit durch die in der Identität des SS-Führers vorgesehene Verbindung emotionaler (Kameradschaft) und affektiv aufgeladener weltanschaulicher Identi¿kation (Treue gegenüber den Führerbefehlen) direkt an die Akzeptanz der rassenhygienischen Aufgaben der Sicherheitspolizei gekoppelt. Der gemeinsame Besuch von Schulungslehrgängen, jährliche Treffen der Gestapoleiter, die Distanzierung der SS-Führer von Unterführern und Mannschaften, der homogene geistige und soziale Hintergrund der ‚Gestapojuristen‘ und ähnliche weitere Faktoren taten ihr übriges, Identi¿kationsprozesse auf der Basis affektiver Bindung zu verstärken. Eine weitere wichtige Rolle für die Identi¿kation mit dem StaatsschutzkorpsLeitbild dürfte die Funktion des Leitbildes für die Selbstbestärkung und -aufwertung gespielt haben. Die Einbeziehung der Sicherheitspolizei als prominenter Akteur in einen ganzheitlichen rassenhygienischen völkischen Ordnungsentwurf, der ohne die Behinderung durch formale Beschränkungen verwirklicht werden konnte, war Grundlage der Herausbildung einer elitären organisationalen Identität der Sicherheitspolizei als moderne, fortschrittliche und mächtige Institution. Die ausschließliche VerpÀichtung gegenüber wissenschaftlichen (d. h. vor allem kriminalbiologischen und sozialdarwinistischen) und weltanschaulich/völkisch begründeten ‚Lebensgesetzen‘ als Alternative zur Bindung an als künstlich empfundene rechtsstaatliche Prinzipien verschaffte der Sicherheitspolizei, die sich der Wehrmacht gleichrangig fühlte und nicht länger als Hilfsdiener der Justiz fungierte, ein Selbstverständnis großer historischer Bedeutsamkeit: „Der Eindruck, an einem Projekt aktiv beteiligt zu sein, das die politisch-biologische „Gesun-
62
Banach 1998, S. 254.
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dung“ des deutschen Volkes – und perspektivisch des ganzen Kontinentes – in Angriff nahm und dabei alle bis dahin gekannten Dimensionen sprengte, verlieh den Einzelnen zudem das Emp¿nden von historischer Größe und der Einmaligkeit des Vorhabens sowie ein Gefühl der Dankbarkeit, dabei mittun zu dürfen“.63 Die Förderung des Leistungs- gegenüber dem Anciennitätsprinzips knüpfte als personalpolitische Maßnahme ebenfalls an das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung an. Zwar gelang es Himmler und Heydrich mit Rücksicht auf das Reichsinnenministerium nicht vollständig, die in der staatlichen Bürokratie üblichen Beförderungsrichtlinien aufzuheben und durch leistungsorientierte Beförderungsgrundsätze zu ersetzen, es gelang ihnen jedoch vielfach, sie zugunsten besonders beförderungswürdig erachteter Personen zu durchbrechen. Die frühzeitige und zügige Beförderung in Spitzenpositionen eines Regierungs- oder Kriminaldirektors diente Heydrich und Himmler hauptsächlich dazu, die Schaltstellen der Macht mit jungen, nationalsozialistisch geprägten und verlässlichen Männern zu besetzen.64 Die Karrierewünsche und die Bedürfnisse nach Statuserhöhung der jungen Akademiker konnten zu diesem Zwecke instrumentalisiert werden; die Aussicht auf eine leistungsorientierte Beförderung motivierte zur Identi¿kation im Sinne eines sogenannten austauschbezogenen Commitments, bei dem Identi¿kation als Gegenleitung zu den von der Organisation erhaltenen Vergünstigungen erbracht wird.65 Die Bewerbung bei der Gestapo versprach vor allem für die juristisch ausgebildeten Hochschulabgänger einen raschen sozialen Aufstieg als Gegenleistung für demonstriertes Engagement beim Aufbau des Repressionsapparates. Das reichhaltige Arsenal an offen sichtbaren Zeichen des beruÀichen Erfolges wie Rangabzeichen, öffentliche Belobigungen, Titel und Uniformen, das die Sicherheitspolizei zu vergeben hatte, förderte die Leistungsbereitschaft zusätzlich.66 Auch die Verschmelzung des Polizeiapparates mit der SS, personalpolitisch forciert durch die Ausbildungen zum SS-Führer, und die vereinfachte Aufnahme in die Schutzstaffel im Zuge der ‚Dienstgradangleichung‘ versprach die Aufwertung des sozialen Status und damit des Selbstwertgefühls. Die SS war von Himmler mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, einen neuen ‚Adel‘, eine herrschende Elite für das zu gründende Deutsche Reich zu stellen.67 Neben dem Bewusstsein, einer auserwählten Elite anzugehören, versprach die SS-Mitgliedschaft auch so-
Herbert 1996, S. 174. Vgl. Banach S. 240. 65 Vgl. Moser 1996, S. 7. 66 Vgl. Banach, S. 246. 67 Vgl. Banach 1998, S. 87. 63
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ziale Sicherheit durch die erreichte Position im nationalsozialistischen Machtgefüge und trug so direkt zur Herausbildung der erwünschten sozialen Identität bei68. Organisationspsychologie der ‚Weltanschauungsexekutive‘ ? Die Konzepte der organisationalen Identität und der Organisationskultur, der Identi¿kation und des Commitments sind für die Analyse ‚normaler‘ gegenwärtiger Organisationen (insbesondere von Wirtschaftsunternehmen) formuliert und ausgearbeitet worden. Es kann daher nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass diese Konzepte sich zur Analyse der ‚Weltanschauungsbürokratie‘69 der Sicherheitspolizei eignen. Der Versuch, eine Organisation des Staatsterrors mit einem theoretischen Instrumentarium, dessen hauptsächliches Anwendungsgebiet heutige Wirtschaftsbetriebe sind, zu erfassen, ist eine Gratwanderung zwischen der wünschenswerten Entdämonisierung des nationalsozialistischen Staatsterrors durch Rekonstruktion von ‚Normalität‘ und der zu vermeidenden Gefahr der ‚Normalisierung‘. Das Durckheimsche Postulat, Soziales durch Soziales zu erklären und die Webersche Hoffnung, man könne Handlungen über die verstehende Rekonstruktion des ihnen zugrundeliegenden Sinnes ursächlich erklären, mögen durch das ‚Verweilen beim Grauen‘70 der nationalsozialistischen Verbrechen erschüttert werden. Dieser Zweifel ¿ndet sich in seiner radikalsten Formulierung bei Hannah Arendt, die bei ihrer Analyse der Vernichtungslager vor allem herausstellte, dass diese die bis dato unhinterfragt akzeptierten Grundannahmen über menschliches Sozialverhalten ad absurdum führten.71 Die Rückführung konkreter verbrecherischer Handlungen auf allgemeine, von der Organisationspsychologie beschriebene Mechanismen wird den unterschiedlichen und möglicherweise widersprüchlichen und halbbewussten Interessen, Motivlagen und Wahrnehmungsmustern der Polizisten, die im nachhinein kaum isoliert werden können, nicht gerecht. Aussagen über gruppendynamische Prozesse etwa lassen sich aufgrund der Quellenlage nur mit Einschränkungen rechtfertigen; persönliche und nicht auf Gruppenprozesse oder Organisationsstrukturen rückführbare Nebenmotive und Inkonsistenzen im Verhalten können Vgl. Banach 1998, S. 89. Dass die SS-Mitgliedschaft den jungen Polizeiführern tatsächlich ein attraktives, weil elitäres Selbstbild verschaffte, zeigt sich deutlich in der abwertenden Beurteilung der Dienstgradangleichung, in deren Zuge auch altgediente, den hohen Anforderungen an körperliche Tüchtigkeit nicht immer genügenden „dickbäuchigen alten Polizeikommissare“ (Best 1955, zit. nach: Herbert 1996, S. 190) in die SS eingegliedert wurden. 69 Vgl. Mallmann/Paul 2000. 70 Welzer 1997. 71 Vgl. Welzer 1995, S. 78. 68
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retrospektiv kaum erfasst werden. Gerade diese Ambivalenzen, Widersprüche und Unwägbarkeiten sind jedoch Ausdruck von situativen Bedingungen, die per se nicht wiederholbar sind und somit die externe Validität der im Labor bzw. in ‚normalen‘ Unternehmen getesteten Hypothesen über menschliches Verhalten in Gruppen und Organisationen auf den Prüfstand stellen. Die Frage, inwieweit das analytische Instrumentarium der Organisationspsychologie auf eine Organisation anwendbar ist, deren Ziele nicht in der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen, sondern in der massenhaften Terrorisierung und Ermordung von Menschen bestanden, kann hier nicht abschließend beantwortet werde. Organisationen des Staatsterrors stellen einen Grenzfall dar, an dem die Organisationspsychologie zeigen kann, ob sie ‚mehr‘ ist als eine Hilfswissenschaft für Manager.
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„Den Ablauf der Vernehmung bestimmen nicht Sie.“ Zur instrumentellen Verwendung struktureller Gewalt und sprachlicher Übermächtigung bei Verhören des MfS in den 1950er Jahren* Gerhard Sälter
Herrschaft ist ohne den Einsatz von und die latente Drohung mit Gewalt nicht denkbar.1 Dies gilt, entgegen anders gerichteten Hoffnungen im Gewand der wissenschaftlichen Beschreibung, auch für die Moderne.2 Polizei steht wie kaum eine andere Institution für den legitimen Gewalteinsatz des modernen Staates gegenüber den eigenen Bürgern, wobei politische Polizeien einen Sonderfall bilden, insofern sie den Schutz des Staates selbst vor einigen seiner Bürger gewährleisten sollen. Trotz dieser prinzipiellen Übereinstimmung fällt der tatsächliche Einsatz physischer Gewalt im Kontext divergierender Herrschaftspraxis unterschiedlich aus. Im folgenden Beitrag wird am Beispiel der vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) in den fünfziger Jahren geführten Verhöre dargestellt, wie strukturelle Gewalt als Instrument einer durch Sprache und Schriftlichkeit vermittelten Übermächtigung eingesetzt werden kann. Die Darstellung beruht auf einer Studie über die Strafverfolgung gegen Mitarbeiter des MfS durch das MfS und die Justiz der DDR.3 Bei den untersuchten Fällen handelt es sich um Verratsdelikte. Verurteilt wurden Mitarbeiter des MfS, die sich in den fünfziger Jahren aus unterschiedlichen Gründen in den Westen abgesetzt bzw. das versucht hatten und dann entweder zurückgekehrt oder in die DDR entführt worden sind. Sie wurden in der Regel nicht wegen FahnenÀucht oder RepublikÀucht verurteilt und nur in wenigen Fällen wegen Spionage. Die Urteile der DDR-Gerichte beriefen sich auf Normen gegen staatsgefährdende Danken möchte ich Jakob Nolte und Michael Schröter, die das Manuskript kritisch gelesen haben, Martin Scheutz und Harald Tersch für die freundliche Überlassung eines Vortragsmanuskripts und Gerd Schwerhoff für einige Literaturhinweise. 1 Popitz 1992, S. 43–78; Lindenberger/Lüdtke 1996, S. 8 f. 2 Popitz 1992, S. 54, 63. Siehe auch Lüdtke 1998, S. 280–289. Siehe dagegen den Beitrag von Sieferle, der über Gewalt nicht schreiben mag, ohne ihre zivilisatorische bzw. pädagogische „Eindämmung“ immer mitzudenken; Sieferle 1998, besonders S. 27 f. 3 Sälter 2002. Die Studie wurde im Auftrag des sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen erstellt. Untersucht wurde etwa ein Dutzend Fälle.
*
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_13, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Hetze, Staatsverleumdung und Kriegshetze, die geschaffen worden waren, um unerwünschte politische Äußerungen und Handlungen verfolgen zu können. Die Urteile lauteten regelmäßig auf langjährige Haftstrafen und es wurden außerdem mehrere Todesurteile verhängt und vollstreckt. Die Ermittlungen des MfS und die Gerichtsverfahren waren unter der Kontrolle der SED darauf abgestellt, drastische Strafen mit exemplarischer Wirkung zu erzielen. Quellengrundlage dieses Artikels sind zunächst die Verhörprotokolle des MfS und außerdem Berichte von ehemaligen politischen Gefangenen über die Verhörsituation. Mit dieser Methode können die Relikte des Apparats mit den Selbstzeugnissen seiner Opfer konfrontiert werden. Der Aufsatz gliedert sich in vier Teile: auf die im ersten Abschnitt formulierten methodischen Überlegungen wird zunächst der direkte Einsatz physischer Gewalt bei den Verhören thematisiert, dann wird die Praxis der Untersuchungshaft unter der Fragestellung eines gewaltsamen Einwirkens auf die Häftlinge beschrieben, schließlich werden die Verhöre auf die instrumentelle Wirkung des strukturellen Gewaltzusammenhangs hin untersucht. Strukturelle Gewalt, sprachliche Übermächtigung und Verhörtechnik Der Begriff „strukturelle Gewalt“ bezeichnet im folgenden nicht ein Set ubiquitärer gesellschaftlicher Zwänge, verbunden mit der Konzentration von Macht, sondern ein konkretes Gewaltverhältnis.4 In den Untersuchungsgefängnissen des MfS verdichtete sich die in solchen Institutionen üblicherweise ausgeübte Macht über Menschen und ihre Lebensäußerungen zu einem zielstrebig aufgebauten Gefüge gewaltsamen Einwirkens auf den Körper und die Psyche der Gefangenen. Im Zusammenspiel von materiellen Haftbedingungen, spezi¿schen Verhaltensregeln und Kontrolltechniken wurde die Befriedigung existentieller menschlicher Bedürfnisse erheblich eingeschränkt. Daraus resultierte ein demonstrativ angelegtes Gewaltverhältnis gegenüber den Gefangenen, bei dessen Produktion deren physische und psychische Schädigung nicht nur billigend in Kauf genommen wurde, sondern notwendig war.5 Die in den Gefängnissen institutionalisierte Gewalt diente, wie zu zeigen sein wird, dazu, in der Verhörsituation Gefügigkeit herzustellen gegenüber der Strategie des MfS, gerichtlich verwertbare Schuld in Form von Geständnissen herzustellen. Insofern geht die Inhaftierung über das Anwenden einfachen Zwangs hinaus und rechtfertigt es, in diesem Kontext von 4 Zum bisherigen Gebrauch des Begriffs Galtung 1975; siehe auch Lindenberger/Lüdtke 1996, S. 20; Sieferle 1998, S. 22 ff.; Imbusch 2000, S. 25. 5 „Gewalt ‚produziert‘ Übermächtigung im Zufügen oder Androhen von körperlichem Schmerz, in der Todesdrohung […].“ Lüdtke 1998, S. 282.
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struktureller Gewalt zu sprechen, die instrumentell auf die Verhörsituation hin konzipiert war. Das MfS erzwang dadurch und im Zusammenspiel mit sprachlicher Übermächtigung die Kooperation der Gefangenen bei der Konstruktion ¿ktiver Handlungen und Handlungszusammenhänge, die zur propagandistisch verwertbaren Kriminalisierung genutzt wurden. Strukturelle Gewalt gegenüber Untersuchungshäftlingen wurde auch vorher schon zur Produktion von Geständnissen vor allem bei politischen oder, im weiteren Sinne, Äußerungs- und Gesinnungsdelikten gezielt eingesetzt. Bereits im 13. Jahrhundert experimentierten kirchliche Gerichte in Südfrankreich damit, gezielt schlechte Haftbedingungen in ihren Untersuchungsgefängnissen herbeizuführen, um Verdächtige zum Eingeständnis ihres falschen Glaubens zu nötigen. Diese Technik wurde in der ersten Periode der Ketzerverfolgung der Folter vorgezogen. Dabei fanden ähnliche Methoden Anwendung wie beim MfS: Entzug von Essen und Schlaf, von Wahrnehmungs- und Kontaktmöglichkeiten, etc.6 Bei der Verschriftlichung der Aussagen wurden gleichzeitig Techniken erprobt, bei denen eine Zusammenfassung der Aussagen, die Konzentration auf Details, die direkt für eine vorgefertigte Fallkonstruktion verwendbar waren, und eine sprachliche Formalisierung der Protokolle eine bedeutende Rolle spielten.7 Die so entstandenen Schriftfassungen der Aussagen wurden bereits von Zeitgenossen als Verdrehungen des ursprünglichen Wortsinnes aufgefasst.8 Für die Epoche der Hexenverfolgung ist gezeigt worden, dass durch ähnliche Techniken die Kooperation der Verdächtigen bei der Konstruktion phantasmagorischer Delikte und dazu passender ¿ ktiver Handlungen erzwungen werden konnte.9 Untersucht wurden vergleichbare Methoden für die Moderne vor allem bei autoritären Herrschaftsformen.10 Sprachliche Übermächtigung durch die Justiz im Kontext gerichtlicher Verfahren ist vor allem in dreierlei Hinsicht untersucht worden: Zum einen wurden verfahrenstechnische Konsequenzen analysiert, die sich ergeben, wenn die Gerichtssprache sich von der Sprache der Zeugen und Angeklagten unterscheidet. Außerdem wurden Machtgefälle in der Verhörsituation, darauf reagierende Aussagestrategien von Zeugen und Angeklagten diskutiert. Schließlich wurde die Given 1989, S. 344 ff. Scharf 1999, S. 152 ff. 8 Die Stadtobrigkeit von Narbonne warnte 1299 andere Städte in Südfrankreich vor dieser Praxis der Inquisitoren, indem sie jenen vorwarfen, „d’enfermer le comparant dans des questions pièges qui, quelle que soit la réponse, se retournaient contre lui.“ Cazenave 1977, S. 341 f. 9 Strukturell weist das Vorgehen, wie sie seit dem 15. Jahrhundert in Hexenprozessen üblich war, um die Fiktionen der Verfolger vom Treiben der Hexen in gerichtsverwertbares Material zu transformieren, Ähnlichkeiten mit den im folgenden beschriebenen Verhörstrategien des MfS auf; siehe Jerouschek 1992, S. 90 ff., 100 f. 10 Siehe etwa Richter 2000. 6
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Verschriftlichung der Aussagen in bezug auf die Aussagekraft der überlieferten Quellen thematisiert.11 In diesem Zusammenhang wurde auf die spezi¿schen Bedingungen hingewiesen, unter denen Gerichte und Behörden „Orte gesellschaftlicher Wahrheitsproduktion“ sind: „Gerichtsprotokolle bilden nur ab, was rechtspolitisch gewollt war.“12 Gleixner schlägt vor, deren Aussagen zu dekonstruieren, indem eine Schematisierung des Aufbaus, der Sprache und des Inhalts untersucht würde. Als allgemeine Eigenheiten solcher Protokolle de¿niert sie ihre sprachliche Formalisierung, Reduktion der wiedergegebenen Tatsachen auf für das Verfahren relevante Details und Konzentration auf Aspekte, die sich unter juristische Begriffe subsumieren lassen. Der Einsatz von physischer Gewalt und Folter bei Verhören durch das MfS Das Ministerium für Staatssicherheit war eine relativ komplexe Institution. In ihm waren politische Polizei, Inlands- und Auslandsgeheimdienst und zeitweise auch andere Instanzen der staatlichen Sicherheit zusammengefasst.13 Das MfS erfüllte insofern die Funktion einer politischen Polizei, als es in Strafverfahren mit politischen Hintergründen die Ermittlungen führte.14 Die Hauptabteilung IX, um deren Tätigkeit es im folgenden gehen wird, war spezialisiert auf die Vernehmung von Zeugen und die Verhöre von Verdächtigen. Sie wurde in ein Verfahren eingeschaltet, nachdem Verdächtige in Untersuchungshaft eingeliefert worden waren. Ihre Aufgabe war es, nach den Vorgaben der federführenden Abteilung des MfS geheimdienstlich relevante Fakten aus den Aussagen zu gewinnen. Gleichzeitig war sie unter der – allerdings rein nominellen Kontrolle – der Staatsanwaltschaft für das Ermitteln gerichtsrelevanter Tatumstände zuständig. Die Hauptabteilung IX wurde entsprechend dieser Spezialisierung auch als „Untersuchungsorgan“ bezeichnet. In den meisten Fällen waren Verhöre der Verdächtigen und Vernehmungen von Zeugen die wesentlichen Beweismittel des MfS. Besondere Bedeutung besaß das Geständnis der Angeklagten. Das hängt auch mit der Deliktstruktur zusammen, da Äußerungsdelikte, die Vorbereitung von Handlungen und nicht ausgeführte Handlungen einen wesentlichen Teil der vom MfS untersuchten Delikte ausmachten. In der Forschung spielt bei politisch motivierten Verfahren in der DDR, in denen vom MfS ermittelt wurde, die Frage nach dem Einsatz von Folter eine Behringer 1996; Goethem 1997; Simon-Muscheid 1999; Graf 2000. Gleixner 1995. 13 Zum MfS Gieseke 2000. 14 Zur Rolle des MfS in politischen Strafverfahren Werkentin 1997; Engelmann/Fricke 1998; Rottleuthner 2000; Engelmann 2000; Vollnhals 2000. 11
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nicht unwichtige Rolle. In den Fünnfziger Jahren gehörten nach aktuellem Forschungsstand „Wasser- und Heißzellen, nächtliche Dauerverhöre und andere psychische und physische Foltermethoden zum ständigen Repertoire des MfS“, über deren Verwendung einzelne Berichte vorliegen.15 Im ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen etwa werden den Besuchern Zellen gezeigt, die sich unter Wasser setzen ließen, und Zellen, die für die „chinesische Wasserfolter“ eingerichtet gewesen seien. Unklar bleibt allerdings, in welchem Zeitraum, in welchen Fällen und wie häu¿g diese Methoden zum Einsatz gekommen sind. Die Drohung, Angehörige in Haft zu nehmen, bzw. deren tatsächliche Verhaftung war allerdings ein gebräuchliches Instrument zur Erpressung von Aussagen und Geständnissen. Als gesichert kann gelten, dass in den frühen fünfziger Jahren neben Drohungen physische Gewalt bei den Verhören Verdächtiger unsystematisch, aber häu¿g eingesetzt wurde. Unter physischer Gewalt sind hierbei vor allem Schläge mit der bloßen Hand, der Faust und mit Hilfsmitteln wie Schlagstöcken und ähnlichem zu verstehen. Allerdings wurde festgestellt, dass „selbst in den ¿nstersten 50er Jahren nicht Prügel das herausragende Instrument waren, um falsche Geständnisse zu erlangen“.16 Das MfS versuchte unter seinem ersten Minister Wilhelm Zaisser, soweit sich das bis jetzt ersehen lässt, den Einsatz physischer Gewalt bei Verhören zu minimieren.17 Zaisser erließ einen Befehl mit einem entsprechenden Verbot, der in einem Bericht erwähnt ist.18 Ein Einzelbeispiel mag die Problematik der Gewalt im MfS verdeutlichen. Der als Vernehmer eingesetzte Bruno Krüger wurde 1952 von seinen Vorgesetzten mehrfach gerügt, weil er Häftlinge schlug, um Aussagen zu erzwingen.19 Man wies ihn darauf hin, „daß derartige Vergehen disziplinarisch verfolgt“ würden. Krüger wurde vor allem wegen Gefangenenmisshandlung auf Anweisung des Ministers aus dem MfS entlassen. Zaisser ordnete an, dass er deswegen auch vor Gericht zu stellen sei.20 Gegen diese eindeutige Haltung des Ministers gab es jedoch anscheinend Widerstand auf der mittleren Leitungsebene des MfS. Darauf weist bereits hin, dass gegen den entlassenen Krüger keine gerichtliche Verfolgung eingeleitet wurde. Außerdem lassen einige Passagen der Berichte über ihn auf schlecht verhohlenes Verständnis schließen. So beschrieb Che¿nspekteur Menzel das gewalttätige Verhalten Krügers mit einem gewissen Verständnis, wenn Häftlinge ein „selten erlebtes Verhalten an Gieseke 2000 S. 145. Zu den Wasserzellen siehe die Beschreibung bei Janka 1991, S. 329 f. Zu den Hitzezellen der Bericht eines ungenannten ehemaligen Untersuchungsgefangenen in Hohenschönhausen, 1953; Fricke 1979, Dokument 90, S. 224 f. 16 Werkentin 2001, S. 5. 17 Der Einsatz physischer Folter wurde 1953 verboten; Hilger 2002. 18 Inspekteur Scholz, Abt. IX/3, an HA Personal, 6.8.1952; BStU, GH 108/55, Bd. 7, S. 186 f. 19 Siehe die Berichte über diesen Fall; BStU, GH 108/55, Bd. 7, S. 151 ff., 185, 188 ff., 195–201. 20 BStU, GH 108/55, Bd. 7, S. 186 f.; siehe Sälter 2002, S. 83 f. 15
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den Tag [legten], so daß die Untersuchenden in der Tat sich sehr beherrschen müssen, um nicht zu entgleisen. Noch dazu, wenn es sich um Feinde in den eigenen Reihen handelt. Gerade deswegen wurde aber Krüger vor der Vernehmung ausdrücklich darüber belehrt, wie er sich zu verhalten hat. […] In dieser Vernehmung trat [Name geschwärzt] herausfordernd und provozierend auf. Daraufhin verschaffte sich Krüger mit Schlägen ins Gesicht des [geschwärzt] Respekt. Von diesem Zeitpunkt an gab [Name geschwärzt] Àüssige Antworten auf die an ihn gerichteten Fragen.“ Dieser Häftling brachte sich nach dem Verhör in der Zelle um.21 Seit dem Ende der fünfziger Jahre nimmt der nachgewiesene offene Einsatz physischer Gewalt und Folter in der Produktion von Aussagen und Geständnissen deutlich ab, ist in Einzelfällen aber noch festzustellen. Aber auch für die fünfziger Jahre dürfte physische Gewalt keine so große Bedeutung für den Ausgang der Verfahren gehabt haben. Denn mit der in der Untersuchungshaft materialisierten strukturellen Gewalt, verbunden mit sprachlicher Übermächtigung, stand dem MfS ein Instrument zur Verfügung, das in seinem Sinn sehr gut funktionierte. Dadurch war der direkte Einsatz von Gewalt während der Verhöre eigentlich überÀüssig und dürfte sich auf Gewaltexzesse beschränken, die nach und nach reduziert wurden.22 Strukturelle Gewalt: die Untersuchungshaft in den Gefängnissen des MfS Die Ermittlung in politischen Delikten wurde in der DDR parteilich geführt und ging spätestens ab der Verhaftung nicht von einer Unschuldsvermutung aus. Bei Fällen, in denen das MfS ermittelte, war die Einlieferung des Verdächtigen in ein dem MfS unterstelltes Untersuchungsgefängnis der Regelfall, unabhängig vom Bestehen einer Flucht- oder Verdunkelungsgefahr.23 Die Verdächtigen wurden dadurch unter die Kontrolle der Verfolgungsinstanzen gebracht. Die Untersuchungshaft des MfS beschränkte sich in den fünfziger Jahren (und auch später) nicht auf eine sichere Verwahrung, sondern war durch spezi¿sche Haftbedingungen darauf ausgerichtet, nach den Bedürfnissen der Vernehmer eine möglichst umfassende Kontrolle über die Person des Untersuchungshäftlings, seine täglichen Lebensäußerungen und seine psychische Konstitution zu erlangen. Die BStU, GH 108/55, Bd. 7, S. 153. Dass Gewaltexzesse in der Anfangszeit des MfS die Verhörsituation zu charakterisieren scheinen, hängt auch mit mangelnder Erfahrung und Professionalität der Vernehmer, sowie mit dem EinÀuss der sowjetischen Berater zusammen; Gieseke 2000, S. 110–126; Sälter 2002, S. 17 ff., 23 ff.; Engelmann 1997. 23 Zur Untersuchungshaft des MfS Beleites 2000, 2001. 21
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Zellen selbst und die Überwachung der Gefangenen waren zudem so konzipiert, dass durch eine weitgehende Normierung des alltäglichen Verhaltens die Macht des MfS über das individuelle Schicksal deutlich gemacht wurde. Erich Loest beschreibt die Bedingungen im Leipziger Untersuchungsgefängnis: Die Zelle war drei mal drei Meter groß. Zwei mal drei Meter maß die Pritsche, Holz von Wand zu Wand, vorn abgeschlossen und so hoch, daß einer, saß er darauf, die Füße nicht aufstellen konnte. Die Matratze lag tagsüber quer und durfte nicht benutzt werden. Es war ein hartes Sitzen, erst nach Wochen hatte sich der Hintern ans Holz gewöhnt. Keine Lehne außer der kalten Wand. Wenn einer die Augen schloß, krachte der Posten gegen die Tür: „Penn Se nich !“ Also marschierte der Häftling vor der Pritsche im Dreieck.24
Die Untersuchungshaft war letztlich durch die allgemeinen Haftbedingungen, Isolation und ununterbrochene Überwachung auf das Zermürben der Inhaftierten ausgerichtet.25 In den fünfziger Jahren waren die Gefangenen „von der Außenwelt total isoliert. Sprech- und Schreiberlaubnis wurde ihnen während der Dauer des Untersuchungsverfahrens nicht gewährt.“26 Anwälte wurden in der Regel erst nach der Beendigung der Untersuchung in das Verfahren integriert. Zusätzlich zur Verweigerung von Außenkontakten wurden auch innerhalb der Gefängnismauern keine Kontakte zugelassen und das Übertreten dieses Verbots wurde als „illegale Kontaktaufnahme“ mit Haftverschärfungen geahndet. Die Gefangenen waren in Einzelzellen untergebracht und hatten auch beim Hofgang keine Möglichkeit der Kommunikation mit anderen Gefangenen, da er einzeln durchgeführt wurde. Selbst der Transport über die Gänge der Gefängnisse war so geregelt, dass sich zwei Gefangene nicht begegnen konnten. Die einzige Kontaktmöglichkeit bestand also im Gespräch mit ihren Verhörof¿zieren. Die Isolation von anderen Gefangenen und von der Außenwelt war systematisch darauf ausgerichtet, Entzugserscheinungen hervorzurufen, die in der Psychologie als sensorische und soziale Deprivation beschrieben werden. Der Entzug von Möglichkeiten der Wahrnehmung, von Kommunikation und Emotionen wurde eingesetzt, um eine Fixierung auf den Verhörof¿zier und eine Abhängigkeit von ihm zu erreichen. Die Kontrolle über die einfachsten Bedürfnisse machten die Untersuchungshäft-
Loest 1999, S. 322. Fricke 1994, S. 27 ff.; Beleites 2000, S. 456–464. 26 Engelmann/Fricke 1998, S. 109 f. 24 25
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linge auch für Belohnungen anfällig, die die Vernehmer ihnen in Form von Zigaretten, Essen oder Schlaf zubilligen konnte.27 Nicht nur jede Kommunikation wurde unterbunden, auch die Selbstvergewisserung der Gefangenen über ihre Person und ihre Situation wurde erschwert. Dauerverhöre dienten nicht nur zum Ausüben von direktem Druck, sondern auch zum langfristigen Zermürben. Gefangene verloren dadurch den Überblick über die eigene Aussagestrategie und die Ermittlungsstrategie des MfS, sowie die genaue Erinnerung daran, was bereits gesagt wurde und was nicht. Nachtverhöre waren in ihrer Wirkung für die Gefangenen um so verheerender, da sie von dem in allen Gefängnissen der DDR geltenden Schlafverbot am Tage begleitet wurden.28 Dem selben Ziel diente die Verweigerung von Schreibmaterial, das die Häftlinge in der Untersuchungshaft weder zur Verfügung gestellt bekamen noch besitzen durften. Schriftliche Aufzeichnungen hätte den Verdächtigen eine Möglichkeit geboten, sich der jeweils gemachten Aussagen und der gesamten Situation zu vergewissern. Damit wären sie bis zu einem gewissen Maß in der Lage gewesen, den Fortgang der Ermittlungen zu kontrollieren und eine eigene Strategie für die Verhöre zu entwickeln.29 Jedoch sollte gerade eine ReÀexion der Häftlinge über die allgemeine Tendenz der Verhöre und den Inhalt der bereits gemachten Aussagen verhindert werden, weil das die Kontrolle des MfS über den Ermittlungsprozess gemindert hätte. Die Verbindung von Nacht- und Dauerverhören mit Schlafentzug brach den Widerstandswillen der Gefangenen zudem meist ziemlich schnell und führte bei längerer Anwendung zu einem nachlassenden Interesse am Ergebnis der Untersuchung. Eine Konzentration auf die Verhöre und das kommende Gerichtsverfahren wurde zunehmend unmöglich. Die Kombination von alltäglichem Gefängnisregime aus schikanösen Verboten und strikter Einhaltungskontrolle mit dem Entzug von Möglichkeiten der Wahrnehmung und Memorierung verband sich mit Isolation und spezi¿schen Verhörtechniken zu einem gewaltsamen Einwirken auf die Gefangenen, das auf deren Reduktion auf einen dem MfS unterworfenen und willfährigen Verfahrensgegenstand ausgerichtet war.
Zahn 2001, S. 15–25. Es ist klar, dass die geschilderten Formen der Deprivation bleibende Schädigungen hervorrufen. Einige der von Zahn geschilderten Taktiken, wie etwa das System „guter und böser Vernehmer“, fand anscheinend nicht nur beim MfS Verwendung, da es zum Standardrepertoire amerikanischer Kriminal¿lme gehört. 28 Bericht eines ungenannten ehemaligen Untersuchungsgefangenen über Nachtverhöre in Hohenschönhausen, 1953, bei Fricke 1979, Dokument 90, S. 224 f. Zum prägenden Stil der sowjetischen politischen Polizei in dieser Hinsicht siehe den Erinnerungsbericht von Berger 2000, S. 28 ff. 29 Scheutz/Tersch 2002, S. 124 ff. 27
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Sprachliche Übermächtigung und die Produktion eines ¿ktionalen Tathergangs Auf den in den Untersuchungsgefängnissen der DDR etablierten Strukturen der Gewalt basierte die Strategie des MfS, eine Untersuchung technisch zum erwünschten Ende zu führen. Hierbei spielten die Verhöre eine wichtige Rolle, genauer gesagt das Formulieren und Protokollieren der Aussagen. Die Protokolle der Verhöre weisen zwei wiederkehrende Merkmale auf. Sie weichen erstens stark vom alltäglichen Sprachgebrauch ab; sie sind in Duktus und Stil im Jargon des MfS gehalten. Zweitens besteht zwischen dem Umfang eines Protokolls und der zeitlichen Dauer des Verhörs eine so erhebliche Diskrepanz, dass die Aussagen bei der Niederschrift stark komprimiert worden sein müssen. Diese Merkmale (Sprachgestus und Komprimierung) lassen darauf schließen, dass die Protokolle nicht eigentlich die Aussagen der Gefangenen wiedergeben. Aus der regelmäßigen Wiederkehr dieser Merkmale in allen Protokollen ergibt sich deutlich, dass es sich nicht um ein zufälliges Muster handelt, sondern um eine Strategie des MfS. Ein erster Hinweis auf diese Strategie bietet sich im formalisierten Sprachduktus der Protokolle.30 Dieser bleibt auch dann gleich, wenn sehr unterschiedliche Personen verhört wurden. Er ist der Sprache des MfS angepasst, wie sie auch in internen Berichten und Dienstanweisungen zu ¿nden ist. Außerdem enthalten die Aussagen so eindeutig negative Wertungen der beschriebenen Handlungen, dass sie unmöglich von den Verdächtigen so geäußert worden sein können. Das Beispiel eines aus der DDR geÀüchteten ehemaligen MfS-Mitarbeiters offenbart dieses Verfahren: Frage: Welche Fluchtgründe haben Sie [in Westberlin] angegeben ? Antwort: Ich hatte angegeben, daß ich in Schwerin antidemokratische Propaganda betrieben habe und mit meiner Verhaftung rechnen mußte und telefonisch gewarnt wurde. Frage: Entspricht Ihre Angabe den Tatsachen ? Antwort: Nein, diese Angabe ist eine Verleumdung der Staatsorgane der DDR.31
Die Antworten entsprechen nicht einem im Alltag verwendeten Sprachcode, wie bei einem wörtlichen Protokoll zu erwarten gewesen wäre, sondern wurden umformuliert. Besonders die Formulierungen antidemokratische Propaganda und Sprachliche Formalisierung und unwahrscheinlicher Detailreichtum von Aussagen in Verhörprotokollen des MfS haben bereits Zweifel ausgelöst, dass es sich tatsächlich um wörtlich protokollierte Aussagen der Verdächtigen handelt; siehe Eschebach 1995, S. 67 ff. 31 Protokoll der Verhörs von Sylvester Murau, 26.7.1955, GH 124/55, Bd. 3, S. 3 f. Dieses Protokoll ist weder vom Vernehmer noch von Murau abgezeichnet. 30
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Verleumdung der Staatsorgane in diesem Beispiel entstammen dem aus der Propaganda geborenen of¿ziellen Wortschatz der SED und des MfS.32 Es ist nahezu kurios, sich vorzustellen, wie ein aus der DDR geÀüchteter Mensch gegenüber westdeutschen Beamten antikommunistische Betätigung als Fluchtgrund mit der Formulierung antidemokratische Propaganda beschreibt. Die Behauptung einer drohenden Verhaftung als Verleumdung des Verfolgungsapparats zu bezeichnen, ist einerseits ebenfalls eine typische of¿zielle Redewendung, andererseits sachlich falsch, weil dem Verhörten damals wirklich die Verhaftung drohte und er davor gewarnt worden war. Beides war dem Verhörof¿zier bekannt.33 Die Verhöre wurden von den Protokollführern in einem of¿ziösen Sprachduktus niedergeschrieben, in dem sich propagandistischer Partei- mit hermetischem Polizeijargon verband. Gestützt wird die These einer sprachlichen Überformung der Aussagen durch den Verhörof¿zier im Vergleich mit Aussagen von Verdächtigen, wie sie im Protokoll der Hauptverhandlung vor einem Gericht festgehalten sind. In den dortigen wörtlichen Protokollen lesen sich die Aussagen deutlich anders als in den Protokollen des MfS. Die Verhörstrategie des MfS hinterließ zudem nicht nur in ihren eigenen Akten und denen der Gerichte deutliche Spuren. Auch Beschreibungen der Verhörsituation durch ehemalige Untersuchungsgefangene, die dieser Maschinerie ausgesetzt waren, bestätigen diese Interpretation: Es wurden nämlich nicht meine Aussagen und Worte unverändert protokolliert, sondern in einen verschärfenden SSD-Stil gebracht: statt „Flugblätter“ hieß es „Hetzschriften“, statt „Widerstand“ hieß es „Agententätigkeit“, usw.34
Außerdem wurde das Geschehen während der Verhöre in den Protokollen stark komprimiert wiedergegeben und auf die für das MfS wesentlichen und erwünschten Aussagen reduziert. Dies lässt sich aus dem Missverhältnis zwischen Dauer des Verhörs und Länge des Protokolls schließen. Ein Protokoll von nur zwei oder drei Seiten wird als das Ergebnis oft mehrstündiger Verhöre präsentiert. Die untenstehende Tabelle macht an einem Beispiel deutlich, wie sich die Verhöre vom ersten Nachtverhör, das am Tag der Verhaftung begann, mit kurzen Pausen bis zum späten Nachmittag des folgenden Tages hinzogen. Sie erbrachten kein Resultat im Sinne des MfS, da der Verhörte nur das erzählte, von dem er vermutete, dass es die Verhörof¿ziere bereits wussten. Besonders auffällig ist, dass das am 10. einsetzende sechsstündige Verhör nur eine knappe Seite ergab: noch stritt der Zur of¿ziösen Sprache der DDR Judt 1997; Jessen 1997. Sälter 2002, S. 95 f. 34 Bericht von Karl Heinz Fischer, Ende 1951, bei Fricke 1979, Dokument 91, S. 225 ff., Zitat S. 226. SSD ist die Abkürzung für Staatssicherheitsdienst, wie der MfS seinerzeit im Westen genannt wurde. 32 33
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Verhörte alle für das MfS relevanten Vorwürfe ab. Das sollte nicht detailliert in die Protokolle und damit in die Akten aufgenommen werden, weil sich daraus Widersprüche zu später erzwungenen Aussagen ergeben könnten. Die Nachtverhöre endeten mit zwei umfassenden Aussagen vom 12. und 14. Oktober. Verhöre beim MfS: Rhythmus, Dauer und Protokollierung (1954) Datum
Zeitraum
Dauer
Seiten
35
8. –9.10.
2.00–8.30
6½h
5
9.10.
9.30–13.30
4h
5
9.10.36
unbekannt
unbekannt
3
10.–11.10.
22.45–4.45
6h
1
12.–13.10.
21.45–4.15
6½h
9
14.–15.10.
21.30–4.30
7h
5
Quelle: BStU, GH 108/55, Bd. 1, S. 17–96 (Bruno Krüger). 3536
Viele andere Verhöre weisen dieselbe Diskrepanz zwischen Verhördauer und Umfang des Protokolls auf. Sie wird verständlich, wenn man annimmt, dass viele Detailaussagen, die nicht in das Schema der Verhörof¿ziere passten, nicht protokolliert wurden. Die Aussagen wurden bei der Protokollierung auf bestimmte, verwertbare und zum Plan des MfS passende Aspekte verkürzt: [Loest:] „Nun muß aber auch ins Protokoll, daß wir bereit waren, im Falle einer Konterrevolution an der Seite Ulbrichts zu kämpfen.“ [Vernehmer:] „Kommt noch.“ [Loest:] „Aber es gehört in diesen Zusammenhang !“ [Vernehmer:] „Wir kommen noch drauf zurück. Man kann nicht an einem Tage alles behandeln.“ [Loest:] „Aber gerade hier …“ [Vernehmer:] „Den Ablauf der Vernehmung bestimmen nicht Sie.“ […] [Wochen später] erinnerte Loest: Daß wir mit Ulbricht gemeinsam gegen die Konterrevolution kämpfen wollten, stand immer noch nicht im Protokoll ! Der Hauptmann: „Wir sind ja noch nicht fertig.“37
Tag der Verhaftung. Richterliche Vernehmung. 37 Loest 1999, S. 325, 330. Loest verwendet für seine Person das Kürzel L., was dem besseren Verständnis halber in diesem und den folgenden Zitaten ausgeschrieben wird. 35
36
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Neben Umformulieren, Selektion und Komprimierung war es weiterhin wichtig, in welchem Fragekontext eine Aussage wiedergegeben wurde: Meine Naivität verging mir jedoch bald, als ich mehr und mehr dahinterkam, daß dieser Vernehmer ein falsches Spiel mit mir trieb. Mit gemeinen Tricks versuchte er, mich reinzulegen. Er unterhielt sich z. B. mit mir ganz freundschaftlich, wie ich mir die Reform der Landwirtschaft vorstellte. Ich erklärte ihm bereitwillig meine dahingehenden Auffassungen. Dann nahm er Papier und Feder zur Hand – so, jetzt schreiben wir darüber ein Protokoll. Ich diktierte ihm brav, was ich zu sagen hatte, hie und da korrigiert oder erweitert, was ich manchmal akzeptierte, manchmal nicht. Dann legte er mir die handgeschriebenen Seiten zur Unterschrift vor. Zu meinem Erstaunen las ich oben drüber die von ihm formulierte Frage: „Auf welche Weise wollte die staatsfeindliche, konterrevolutionäre Gruppe die Kollektivierung der Landwirtschaft hintertreiben ?“ Ich natürlich, das unterschreibe ich nicht, denn schon die Fragestellung ist eine böswillige Verleumdung. Er darauf, für die Frage sei ich nicht verantwortlich, nur für die Antwort. Ich darauf, ob er nicht begreifen wolle, daß eine Antwort auf eine solche Frage das Eingeständnis darstelle, daß wir eine Gruppe seien, eine konterrevolutionäre, staatsfeindliche dazu. Außerdem wollten wir natürlich nicht die Kollektivierung hintertreiben, sondern sie nach deutschen Traditionen durchgeführt sehen. Er wurde ungehalten, wütend, weil er wußte, daß er Ärger mit seinem Chef kriegen würde. Aber ich blieb fest, die Frage mußte neu formuliert werden. Und so ging es am laufenden Band in einem zermürbenden Hin und Her, ein oft tagelanges Gezerre um einen Satz. […] Diese Verhöre durchzustehen, nicht zu resignieren, zu kapitulieren, kostete gewaltige Anstrengung.38
Gelegentlich versuchten die Opfer dieser Technik – allerdings vergeblich – die Wiedergabe der Aussagen vor Gericht zu revidieren: Einem Angeklagten wurden in der Hauptverhandlung wiederholt Passagen aus den MfS-Protokollen vorgehalten. Er versuchte sich zu rechtfertigen, indem er darauf verwies, dass es sich nicht um seine Worte handelte und er auf die Diskrepanz zwischen Aussage und Niederschrift bei der Unterzeichnung der Protokolle auch hingewiesen habe: Ich habe dies auch meinem Sachbearbeiter [Vernehmer] gesagt, aber er sagte, es ist schon so, ich solle [das Protokoll] nur unterschreiben.39
38 Just 1990, S. 144. Zu den geschilderten Anstrengungen waren andere Verdächtige, die anders als Loest und Just in den intellektuellen Diskussionen und im Parteijargon weniger bewandert waren, weitaus weniger in der Lage. 39 Bezirksgericht Cottbus, Sitzungsprotokoll der Hauptverhandlung, 14.3.1955; BStU, GH 11/55, Bd. 7, S. 232.
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Das Missverhältnis der im Verhältnis zur Dauer der Verhöre oft sehr kurzen Protokolle ergibt sich nicht nur durch inhaltliche Reduktion. Ein weiterer Aspekt lässt sich nicht aus einer Analyse der Protokolle, sondern nur aus den Aussagen ehemaliger Häftlinge erschließen. Während der Verhöre fand nämlich noch etwas anderes statt als das schriftlicht ¿xierte Spiel von Frage und Antwort. Aussage und Unterschrift sind nur durch wiederholte aufdrängende Darstellung des vom MfS imaginierten Sachverhalts zustande gekommen. Die Verdächtigen sollten zu einem bestimmten Sachverhalt eine bestimmte, den Vernehmer zufriedenstellende Aussage machen und es wurde zunächst längere Zeit gebraucht, um die Verdächtigen dazu zu nötigen. Dann dauerte es vor allem in der ersten Verhörphase einige Zeit, die Verhörten in einer längeren Auseinandersetzung um den Inhalt der Aussage davon zu überzeugen, dass sie die Formulierungen des Protokolls akzeptierten. Sie fanden sich mit einer Niederschrift konfrontiert, in der einzelne, im Verlauf von Stunden gemachte Aussagen in erheblicher Weise den ursprünglichen Formulierungen entfremdet und sinnentstellend verkürzt wiedergegeben waren, weil sie so für die Verwertung vor Gericht geplant waren und benötigt wurden. Es waren nun erhebliche Anstrengungen und häu¿g auch Verhandlungen zwischen Vernehmern und Verdächtigen notwendig, damit sie diese Protokolle mit ihrer Zustimmung in Form einer Unterschrift versahen. Ein ehemaliger Untersuchungsgefangener, der 1953 in Hohenschönhausen verhört wurde, beschreibt diesen KonÀikt, der bereits in einigen Zitaten anklang: Ein Problem für sich sind die Protokolle, die von allen Verhören angefertigt werden. Sie werden in Frage und Antwort verfaßt. Die Fragen stellt der Untersuchende, die Antworten faßt er aus den Aussagen des Verhörten sehr willkürlich und zweckentsprechend zusammen, wobei selbstverständlich alle entlastenden Momente konsequent fortgelassen werden und das Ganze im oft fragwürdigen Deutsch des Protokollierenden das Gegenteil von dem bedeutet, was ausgesagt wurde. Nach Abschluß des Protokolls wird der Verhörte an einen Tisch befohlen. Er darf das Protokoll lesen und soll es dann, jede Seite für sich und dann noch einmal das Ganze, unterschreiben. Weigerungen sind in der ersten Zeit häu¿g und führen meist zu stundenlangem Hin und Her in größter Lautstärke, wobei nicht selten höhere Dienstgrade in Erscheinung treten.40
Als weiteres Beispiel sei noch eine kurze, aber prägnante Darstellung von Erich Loest angeführt. Loest beschreibt den Kampf, den es kosten konnte, die gemachten Aussagen überhaupt im Protokoll wiederzu¿nden, wobei es häu¿g um Kleinigkeiten ging, die von den Vernehmern, standen sie erst einmal im Protokoll,
40
Fricke 1979, Dokument 90, S. 225.
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später wieder hervorgeholt und ausgebaut werden konnten. Bei dem beschriebenen Verhör steht ein Gespräch Loests mit einem Kollegen in Frage: [Loest:] „Hab ihn mal gefragt, ob er gelegentlich einen Vortrag halten wolle.“ [Vernehmer:] „Das Thema ?“ [Loest:] „Haben wir noch nicht besprochen.“ [Vernehmer:] „Doch bestimmt ‚Tauwetter‘ von Ehrenburg !“ [Loest:] „Ich sag eben, wir haben nicht drüber gesprochen.“ Loest hatte vorgeschlagen: einen Vortrag. Im Protokoll stand: Vorträge. Loest bestand auf Änderung, die wurde vorgenommen. Aber im maschinengeschriebenen Protokoll ein paar Tage später stand wieder: Vorträge. Loest unterschrieb nicht. „Wird noch mal abgetippt.“ Es war ein zähes Spiel. Das Protokoll tauchte Wochen später wieder auf: Vorträge.41
In diesen Beschreibungen wird eine Strategie der Einkreisung sichtbar, die darauf abzielte, dass immer mehr für den Verdächtigen nachteilige Formulierungen in die Protokolle aufgenommen wurden. Je weiter die fast täglich geführten Verhöre voranschritten und sich zunehmend auf belastende Details konzentrierten, desto weniger Gelegenheit blieb den Verdächtigen, bestimmte Beschuldigungen und Formulierungen zurückzuweisen, in denen implizite Vorverurteilungen getroffen wurden, weil sie bei vorausgegangenen Verhören in einem anderen Zusammenhang bereits als eingestanden protokolliert worden waren und den Beschuldigten vorgehalten werden konnten. Dass der Erfolg dieser Strategie des Zermürbens und der kleinen Geländegewinne auch auf der Sicherheit basierte, dass der Verdächtige irgendwann einmal müde wurde und innerlich zermürbt in einem Moment der Unachtsamkeit Dinge sagte und Protokolle unterschrieb, die er vor wenigen Minuten noch abgelehnt hatte, zeigt folgende Passage bei Loest: Drei Tage lang: der Abend mit dem Polen. Wer war wann gekommen, wer wann gegangen ? „Am Ende waren wir alle ziemlich blau“, sagte Loest, im Protokoll stand: „Es wurde relativ wenig Alkohol getrunken, die Klarheit der Gedanken wurde dadurch bei keinem der illegalen Teilnehmer getrübt.“ Loest stritt dagegen an. Vorhalt: „Dem Untersuchungsorgan ist bekannt … Äußern Sie sich !“ Die Debatte darum kostete einen Tag. Manchmal setzte Loest Änderungen, Milderungen durch, manchmal unterschrieb er nicht, manchmal merkte er zu seinem Entsetzen, daß er in Nebensächlichkeiten nachgab, Nebensätze durchrutschen ließ. Besonders, wenn er sehr hungrig war.42
41 42
Loest 1999, S. 321. Loest 1999, S. 324 f.
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Die Strategie sprachlicher Übermächtigung des MfS beruhte wesentlich darauf, den Aussagen der Verdächtigen beim Protokollieren einen anderen Gehalt zu geben. Die Protokolle geben also nicht die Aussagen der Verdächtigen wieder, sondern etwas, was man als ¿ktionale Erzählung des MfS über einen Tathergang bezeichnen muss. Diese Fiktion war zwischen den Vernehmern und ihren Vorgesetzten bereits bei der Verhaftung in groben Zügen konzipiert worden. Während der Verhöre selbst bestand die Funktion der Vernehmer darin, die Verdächtigen zu einer Kooperation an der Verfeinerung der Geschichte zu bewegen, indem sie mit Elementen des tatsächlich Geschehenen versetzt und damit plausibel gemacht wurde. Deshalb waren einige von Verdächtigen ertrotzte Änderungen in den Protokollen nicht einmal wirklich ein Gewinn für sie – das gehörte zum System. Die in den Untersuchungszellen des MfS inhaftierten Verdächtigen wurden somit gezwungen, an der Produktion einer justiztauglichen Geschichte von einem erdachten Tathergang mitzuwirken, die vor Gericht ihre Schuld beweisen sollte. Das war schwierig, weil diese gleichzeitig in justizförmige Protokolle gepresst wurde und der Verdächtige bewegt werden musste, dieser Geschichte auch seinen Segen zu geben, indem er unter jede der gemeinsam mit den Vernehmern produzierten Seiten seine Unterschrift setzte. Die Situation der Opfer wurde bei fortschreitender Gesamtdauer der Verhöre immer schwieriger, weil sie sich zunehmend von bereits unterzeichneten Protokollen „umstellt“ sahen. Die Wirkung der Übermächtigung intensivierte sich in der Vernetzung von Fragmenten verschiedener Protokolle. In den ersten Verhören wurde den Beschuldigten noch relativ viel Raum gelassen und sie konnten den Ablauf und den Zusammenhang der Ereignisse aus ihrer Sicht schildern. Doch in der schriftlichen Fixierung des Gesagten lag bereits die Möglichkeit, sie in das Erzählschema des MfS einzupassen. Damit waren die ersten Eckpunkte der Erzählung festgelegt. Aus diesen Texten ergaben sich viele Möglichkeiten der Nachfrage durch die Vernehmer und der Erläuterung von Details. Die Verdächtigen konnten durch weitere bzw. bei Bedarf immer wiederholte Fragen weiter eingekreist werden, wobei jede Unterschrift unter ein Protokoll ein Geländegewinn des MfS war. Wollten Verdächtige ein bereits unterschriebenes Protokoll wieder zurücknehmen, so wurde ihnen das als mangelnde Kooperationsbereitschaft angekreidet und die strukturelle Gewalt des Untersuchungsgefängnisses eingesetzt, um wiederum Bereitwilligkeit zu erzeugen. Diesem System aus Verhörtechnik, ¿ktionaler Protokollierung und Haftbedingungen entkam auf Dauer kein Verdächtiger. Bei dieser Strategie ist das in der Untersuchungshaft hergestellte Gewaltverhältnis eine notwendige Bedingung. Der Druck, der auf die Verdächtigen ausgeübt wurde, um sie zu dieser Form der Kooperation zu bewegen, die eine weitgehende oder vollständige Selbstaufgabe beinhaltete, war enorm. Dass den Gefangenen jegliches systematisches Erinnern an den Gang der Verhöre und damit das Ent-
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wickeln einer eigenen Strategie unmöglich gemacht wurde, lieferte sie dem MfS weitgehend aus. Alle kritischen Punkte des Verhörprozesses im Auge zu behalten, dürfte für die meisten Verdächtigen bei den geschilderten Haftbedingungen schlicht unmöglich gewesen sein. Unter den Bedingungen sozialer Deprivation, zunehmender Fixierung auf den Verhörof¿zier, abnehmender Widerstandsfähigkeit und mehr oder weniger bewusst erlebter psychischer Destabilisierung war es vor allem die Zeit, die gegen den Gefangenen arbeitete. Die Verhörof¿ziere dagegen hatten eine Gesamtübersicht über den Verhörprozess, konnten zwischen einzelnen Segmenten der Protokolle Verbindungen herstellen und sich langfristige Strategien zurechtlegen. Was die Vernehmer also brauchten, war allein ausreichend Zeit und die stand ihnen in den meisten Fällen zur Verfügung. Schluss – strukturelle Gewalt und sprachliche Übermächtigung bei Verhören Bei den Verhören des MfS ging es darum, den umgangssprachlichen Sprachcode der Häftlinge in einen Text umzusetzen, der Schuld suggerierte. Dazu wurden Aussagen in einen normierten of¿ziösen Sprachduktus umformuliert, wobei negativ wertende Formulierungen verwendet wurden, und in einem veränderten Fragekontext selektiv und komprimiert in die Protokollen aufgenommen. Sie und die auf ihnen basierenden Texte des MfS und der Justiz konstruieren Erzählungen von Handlungen, Zusammenhängen und Delikten, die auf eine Verurteilung hin konzipiert worden sind, mit der Realität aber wenig oder nichts zu tun haben müssen. Sie präsentieren ¿ktive Geschichten, die sich im Verlauf des Verhörs in der Vorstellung der Vernehmer als plausibel herausgebildet haben.43 Insofern fügen sie sich ein in die Planung und Steuerung des gesamten Verfahrens und bilden darin ein wichtiges Element. Der Schaden für die Opfer war beträchtlich. Auf die Protokolle wurde der Tatvorwurf gegründet, wie er in den Abschlussberichten des MfS formuliert und vor Gericht durch- und in Urteile umgesetzt wurde. Es ist eine Zitationskette von Formulierungen nachzuweisen, die von den Verhörprotokollen über den Abschlußbericht des MfS, die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bis hin zur Urteilsbegründung des Gerichts in erster und zweiter Instanz und zur Ablehnung der Begnadigung reicht.44 In der sprachlichen In Bezug auf die Inquisition formuliert Given treffend „The inquisitors were not, however, limited to the facts. Their investigatory techniqes allowed them to create their own, tailor-made realities. Through their interrogation procedures, the inquisitors could make manifest the ideas, fears and fantasies that had previously resided only in their minds. In a sense, they could make these phantasms objectively real.“ Given 1989, S. 351. 44 Sälter 2002, S. 172–181; siehe auch Sälter 2009, S. 361–435. 43
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Übermächtigung durch das MfS war also das Urteil bereits angelegt. Um die Kooperation der Verdächtigen an der Produktion einer Delikt¿ktion zu erzwingen, die in sprachlicher Übermächtigung entstand, wurde ein Kontext struktureller Gewalt benötigt, zielstrebig hergestellt und eingesetzt. Die Strategie des MfS war notwendig, weil die Delikte, die es zu bearbeiten hatte, vor allem Äußerungsdelikte und im engeren Sinn Gesinnungsdelikte waren, für die ein Beweis hauptsächlich durch ein Geständnis des Verdächtigen zu erbringen war. Außerdem sollten Verdächtige und Urteile einer Öffentlichkeit präsentiert werden, um Staat und Partei die Propaganda zu bestimmten Themen zu ermöglichen oder um durch die Drohgebärde von exemplarischen Strafen politische Folgsamkeit zu bewirken. Dies ist nicht nur bei den in den Westen entlaufenen Mitarbeitern geschehen, mit denen das MfS erhebliche Probleme hatte.45 In den 1950er Jahren wurden zahlreiche Spionageprozesse geführt, um eine In¿ltrierung durch westliche Agenten darzustellen und die politische Opposition in der DDR als vom Westen gesteuerte Geheimdienstoperation zu diskreditieren.46 Nach dem Mauerbau wurden politische Verfahren inszeniert, um die Verseuchung vor allem der Jugend durch westliche EinÀüsse zu demonstrieren.47 Und natürlich mussten sowohl Äußerungen gegen den Mauerbau wie auch weitere Fluchtversuche öffentlichkeitswirksam bestraft werden.48 Aus dem Zusammenhang von Gewaltkontext, Übermächtigung und Textproduktion ergeben sich auch methodische Probleme der Quellenauswertung.49 Eine historische Rekonstruktion, wenn sie weitgehend auf MfS-Akten basiert, wird methodisch sehr vorsichtig vorgehen müssen, um diese Fiktionen zu hinterfragen. Auch bei Fällen, in denen bestimmte Tatsachen unstrittig sind, kann ohne weitere Hinweise nicht davon ausgegangen werden, dass Einzelheiten, die in diesen Protokollen mehrfach wiederkehren, sich mit Handlungsabläufen wirklich decken und so wie beschrieben stattgefunden haben. Dies gilt noch eindeutiger für Absichten und Motive. Andererseits bieten die Protokolle gerade anhand der sprachlichen Eigenheiten eine Möglichkeit, staatlich geprägte Wahrnehmungsraster und Mentalitäten in der DDR zu dekonstruieren.50 Auch für andere historische Situationen ergeben sich Konsequenzen für die Textanalyse von Verhörprotokollen und justitiellen Texten, die anscheinend eine wörtliche Wiedergabe mündlicher Rede sind. Eine Untersuchung von Polizeiund Gerichtsprotokollen wird immer den Kontext der Verhörsituation berückZur MfS-internen Instrumentalisierung der Verfolgung siehe Sälter 2002, S. 155–161. Engelmann/Fricke 1998. 47 Siehe Ast/Bennewitz 2001. 48 Werkentin 1997, S. 237–246. 49 Siehe François 1995. 50 Eschebach 1995, S. 69 f. Siehe allgemein zu diesem Problem Lüdtke 1997. 45
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sichtigen müssen, um die Aussagen in den Protokollen interpretieren zu können. Auch wenn kein allgemeines staatliches Interesse an einem Fall zu unterstellen ist, können rechtspolitische Hintergründe, das Interesse der ermittelnden Personen am Abschluss eines Verfahrens und ihre Vorstellungen von Schuld und Tathergängen ihr Verhalten in Verhören beeinÀussen. Darüber hinaus können Mechanismen struktureller Gewalt und sprachlicher Übermächtigung eine Rolle spielen. Zwischen einem Vernehmer und dem Verdächtigen besteht immer ein gewisses Machtgefälle und der Vernehmer kann es für die Aussageproduktion instrumentalisieren. Diese durch eine Inhaftierung noch gesteigerte Ungleichheit ist generell bei Verhörsituationen in Rechnung zu stellen.51 Deshalb ist es relevant für die Textanalyse, wann ein Verdächtiger üblicherweise in Haft genommen wird, wie die Haftbedingungen sind und wer auf sie EinÀuss nehmen kann. Auch der Prozess der Verschriftlichung kann Verzerrungen nach sich ziehen und ¿ktive Elemente integrieren. Schon der Sprachcode der Niederschrift wird sich in den meisten Fällen von demjenigen der Verhörten unterscheiden. Eine wiederkehrende Differenz zwischen Alltagssprache und dem schriftlichen Text weist auf ein Umformulieren hin. Werden Aussagen beispielsweise in einem speziellen Polizeijargon abgefasst oder lehnen sie sich stark an juristische Formulierungen an, so ist zu vermuten, dass Aussagen auch selektiv und komprimiert wiedergegeben werden. Literatur Ast, Jürgen/Bennewitz, Inge 2001: Revolte am Ostseestrand – Die wahre Geschichte der „Glatzkopfbande“, Fernseh¿lm des MDR Behringer, Wolfgang 1996: Gegenreformation als GenerationenkonÀikt oder Verhörsprotokolle und andere administrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte, in: Schulze, W. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin, S. 275–293 Beleites, Johannes 2000: Der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, in: Engelmann, R./Vollnhals, C. (Hg.): Justiz im Dienst der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, 2Berlin, S. 433–465 Beleites, Johannes 2001: Schwerin, Demmlerplatz. Die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Schwerin, Schwerin Berger, Siegfried 2000: „Ich nehme das Urteil nicht an“. Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem sowjetischen Militärtribunal, 2Berlin (Schriftenreihe des LStU Berlin, Bd. 8) Bei Reinhard 2000, S. 289, ¿ ndet sich die überraschende Feststellung, dass im 20. Jahrhundert die Anwendung von Folter „in den meisten Staaten üblich ist und es keinen geben dürfte, wo nicht wenigstens der Folter verwandte Verhörmethoden angewandt werden.“ 51
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Staatsgewalt, Massen, Männlichkeit: Polizeieinsätze gegen Jugend- und Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre Klaus Weinhauer
Gewaltforschung be¿ndet sich momentan im Aufwind. Dies gilt sowohl für sozial- als auch für geschichtswissenschaftliche Untersuchungen. Stand noch in den 1980er Jahren die Analyse struktureller Gewalt hoch im Kurs, so haben inzwischen Mikroperspektiven größere Aufmerksamkeit gefunden, speziell die körperlichen Aspekte.1 Viele dieser Studien widmen sich Kriegen, Bürgerkriegen oder deren Nachwirkungen und sind somit auch auf die Probleme von Staatlichkeit bezogen. Jedoch bleibt die staatliche Gewaltpraxis in wie auch immer de¿nierten „normalen“ Zeiten stark unterbelichtet; dies gilt besonders für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. So bildet auch die bundesdeutsche Geschichte für die neue Gewaltforschung nahezu eine terra incognita. Dies gilt umso mehr für die sozial- und kulturgeschichtliche Analyse staatlicher, genauer: polizeilicher Gewalt(praxis).2 Als mögliches Untersuchungsfeld bietet sich das turbulente letzte Drittel der 1960er Jahre an, wenngleich die Bedeutung der Zäsur „1968“ inzwischen relativiert und auf bereits zuvor einsetzende Wandlungsprozesse verwiesen worden ist.3 Auch sollte nicht vergessen werden, dass fundierte Analysen der „Studentenproteste“ immer noch dünn gesät sind. Die dürftige Forschungslage wird schon in dem in mehrfacher Hinsicht zu engen Terminus „Studentenproteste“ deutlich. Denn diese Aktionen wurden nicht nur von Studenten getragen und artikulierten mehr als – wie auch immer de¿nierte – politische Ziele, sondern bestanden auch
Vgl. zur geschichtswissenschaftlichen Sicht: Haupt 2006; Schumann 1997; Schumann 2001; Weisbrod 2000; Lindenberger/Lüdtke 1995; sowie zur soziologischen Perspektive: della Porta 2006; Heitmeyer 2004; Trotha 2001/02; Knöbl/Schmidt 2000; Neckel/Schwab Trapp 1999; Sieferle/Breuninger 1998; Trotha 1997. 2 Den polizeihistorischen Forschungsstand spiegeln Reinke 2006; Lindenberger 2003; Weinhauer 2003; Fürmetz/Reinke/Weinhauer 2001. 3 Vgl. zum Stand der Forschung: Herbert 2002; Naumann 2001; Schissler 2001; Schildt/Siegfried/ Lammers 2000.
1
A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_14, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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aus einem breiten Spektrum subkultureller Aktivitäten.4 Diesem Forschungsde¿zit steht die große Aufmerksamkeit gegenüber, die das turbulente letzte Drittel der 1960er Jahre mitsamt seinen Nachwirkungen in den Medien ¿ndet. Das Missverhältnis zwischen geschichtswissenschaftlichem Kenntnisstand und medialer Skandalisierung wird noch dadurch verstärkt, dass die wenigen vorliegenden Arbeiten das Agieren der Polizei als dem wichtigsten direkten Gegenpart der Demonstranten ausblenden. Dieses De¿zit ist umso bedauerlicher, als sich in den 1960er Jahren das Pro¿l staatlichen Handelns von einer engen Sozialpolitik hin zu einer weit gefassten Gesellschaftspolitik wandelte. Jüngste Studien haben herausgearbeitet, dass auch die Polizei von diesen Veränderungen betroffen war.5 Vor dem Hintergrund eines abklingenden Kalten Kriegs begannen Innenpolitiker in einigen Bundesländern wie Hamburg und Nordrhein-Westfalen im Rahmen eines innenpolitischen Aufbruchs damit, die Polizei grundlegend umzugestalten, sie zu einer sozialstaatlichen Institution zu machen, zuständig vorrangig für die Gewährleistung von Sicherheit. In diesem „kurzen Sommer der bürgerlichen Liberalität“6, etwa zwischen 1964 und 1968, wurde staatliche Sicherheitspolitik nach innen weniger als zuvor vom Schutz des Staates her de¿niert. Anders als in der klassischen Umschreibung polizeilicher Tätigkeit, wurde Sicherheit ausgerichtet auf den Schutz vor Kriminalität, ein Problem, das seit Mitte der 1960er Jahre innenpolitisch starke Beachtung fand. Mit Blick auf die Polizei standen der Verwirklichung dieser sicherheitsorientierten Wende7, bei der präventive Maßnahmen einen wichtigen Platz einnahmen, jedoch einige Hindernisse im Wege, vor allem fehlten Kenntnisse darüber, welche Probleme des Polizeidiensts von etwaigen Reformen eigentlich beseitigt werden sollten. Zum einen gab es fast keine Kenntnisse über den ganz normalen Revierdienst. Erste Erkundungsversuche erbrachten ernüchternde Erkenntnisse über die „geistige Isolierung“ der Polizei sowie über den extrem bürokratischen Dienstalltag.8 Zum anderen bewegten sich die ins Auge gefassten konzeptionellen Umorientierungen wie z. B. die Schaffung einer weniger militärisch ausgerichteten Polizei in einem Spannungsverhältnis zu den Ordnungsvorstellungen (einschließlich der Leitbilder und Wahrnehmungsmuster) von Polizisten. Der vorliegende Beitrag widmet sich speziell diesen Ordnungsvorstellungen und Wahrnehmungsmustern von Polizisten; dabei stehen polizeiliche Vgl. als Überblick Weinhauer 2001 (a ); Siegfried 2003. Einen ersten Eindruck vermittelt die primär ideengeschichtliche Studie von Schmidtke 2003; sowie grundlegend Siegfried 2006; Sturm 2006. Vgl. ferner als internationalen Überblick Marwick 1998. 5 Vgl. Weinhauer 2003. 6 Funk/Werkentin 1977, S. 190. 7 Weinhauer 2003, S. 261. 8 Vgl. zum Folgenden Weinhauer 2003, S. 212–220, 336–342 und 347; sowie Weinhauer 2001. 4
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Großeinsätze sowohl gegen „Beatkrawalle“ der Jahre 1965/66 als auch gegen studentische Proteste im Mittelpunkt. Bei den erstgenannten Einsätzen agierte die Polizei durchaus mit neuartigen Einsatzmitteln – verschloss sich Reformen also nicht generell. Bei den Studentenprotesten lagen die Dinge anders; hier ging die Polizei weit härter vor. Während die Demonstranten mit neuartigen Aktionsformen experimentierten, orientierte die Polizei ihr Vorgehen immer noch an Konzepten aus der Weimarer Republik, wodurch die Einsätze eskalierten und außer Kontrolle gerieten. So wurde der Eindruck erweckt, als sei der Bestand des bundesdeutschen Staats tatsächlich gefährdet. Wenn die von liberalen und sozialdemokratischen Innenpolitikern seit den frühen 1960er Jahren ins Auge gefasste „Modernisierung“ staatlicher Herrschaft nicht gefährdet werden sollte, musste hier Abhilfe geschaffen und die Polizei reformiert werden – wenngleich einem solchen Unterfangen enge Grenzen gesetzt waren. Die hiermit angesprochene Gleichzeitigkeit von konzeptionellen Wandlungen und kultureller Kontinuität ermöglicht es, die Grenzen der analytischen Erklärungskraft des Modernisierungsbegriffs, selbst in seiner pragmatischen Ausrichtung ins Gedächtnis zu rufen.9 Angeregt durch die beeindruckenden Erkenntnisfortschritte, die in der neueren Militärgeschichte, auch bei der Analyse von Gewalthandlungen erzielt werden konnten,10 stehen in diesem Beitrag kulturgeschichtliche Aspekte im Vordergrund. Im Rahmen der Analyse der Kultur der Schutzpolizei geht es erstens um das in der Polizei der 1960er Jahre dominante Männlichkeitsleitbild sowie um Ordnungsvorstellungen, mit denen bundesdeutsche Schutzpolizisten Menschenmengen beschrieben, die zum polizeilichen Eingreifen Anlass boten. Zweitens soll untersucht werden, wie sich beides auf den „Umgang“ mit Jugendlichen einerseits und mit protestierenden Studenten andererseits auswirkte. Damit eng verbunden wird, drittens, dem Zusammenhang zwischen Männlichkeitsbildern, Gruppenstrukturen und dem Einsatzverhalten von Polizeibeamten bei Demonstrationen, die als politisch de¿niert wurden, nachgegangen. Diese Problemfelder werden zumeist an Hamburger Beispielen diskutiert. In einem zusammenfassenden Ausblick wird abschließend gefragt, welche Nachwirkungen die 68er-Einsätze auf die Polizei in den 1970er Jahren gehabt haben könnten.
9 Vgl. zur pragmatischen Verwendung des Begriffs, der soziale Veränderungen in ihrer „konÀiktreichen Vieldimensionalität“ zu fassen versucht und zudem keinen Zielpunkt der Entwicklung festlegt Schildt 1995, S. 22–28, Zitat S. 24; ferner zur soziologischen Kritik Hill 2001; sowie Knöbl 2001. 10 Vgl. Kühne/Ziemann 2000.
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Polizeiliche Männlichkeitsleitbilder und akute Massen Polizeibeamte der 1960er Jahre strebten danach, Tatkraft, Mut und Entschlossenheit zu zeigen. Diese Trias bestimmte ihre Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrix, also ihren Habitus. Die damalige Ausbildung der Polizeibeamten sowie ihr soziales Herkunftsmilieu lieferten die Grundlagen hierfür. Viele bundesdeutsche Polizeibeamte der 1960er Jahre kamen aus dem Arbeiter- und Handwerksmilieu.11 In diesen Schichten dominierte ein Männlichkeitsideal, bei dem Aktivität ebenso hoch im Kurs stand wie Kontrolle über sich selbst und über die Umwelt. Das in der Schutzpolizei der 1960er Jahre vorherrschende Männlichkeitsleitbild war die „patriarchalische“ Männlichkeit, die in ausgeprägter Form unter den Patriarchen, den 1912 und früher geborenen und in der (preußischen) Polizei Weimarer Republik sozialisierten Polizeibeamten, zu ¿nden war.12 Dieses Leitbild war auf den Schutz des Staates ¿xiert, mit dem sich die Patriarchen über eine Todesgemeinschaft eng verbunden wähnten. Zudem war es darauf ausgerichtet, kameradschaftliche Dienstgemeinschaften herzustellen. Letztere waren zentriert um ein Kontrollparadigma unter dem der Vorgesetzte stets seine Untergebenen „im Griff“ haben sowie selber alles wissen und alles können musste. Dabei galt es auch als erstrebenswert, ein allumfassendes Vorbild in und außer Dienst zu sein. Die Einsätze gegen Jugendkrawalle und Demonstrationen lagen polizeilich gesehen im Übergangsbereich zwischen dem „Großen Sicherheits- und Aufsichtsdienst“ und dem „Außergewöhnlichen Sicherheits- und Ordnungsdienst“. Mit solchen Anlässen befasste sich die Polizeiverwendungslehre, die in den 1920er Jahren begründet worden war. Am 1. April 1965 waren bundesweit neue Vorschriften in Kraft getreten, nachdem sie seit Ende der 1950er Jahre überarbeit worden waren.13 In den Bestimmungen, deren Bedeutung für das konkrete Agieren der Polizei vor Ort jedoch nicht überschätzt werden sollte,14 fanden sich „Radaumacher“, „Rädelsführer“ und „Aufhetzer“.15 Auch die §§ 115 (Auflauf) und 125 (Landfriedensbruch) des Ende der 1960er Jahre geltenden Strafgesetzbuches sprachen von Rädelsführern. Mit Blick auf Menschenmengen, die Kleining 1959. Vgl. Einzelheiten bei Weinhauer 2003, S. 338 f. 13 Vgl. zur Erarbeitung der VfdP 1 (Vorschrift für die Polizeiverwendung), Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg (StAHH) Behörde für Inneres (BfI) 858 und 859; ferner Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HstAD) NW 398-23 und -24; vgl. zur Vorschrift für die Einzelausbildung (VfdP 200) Ausgabe 1966 sowie zur Vorschrift für die Ausbildung in geschlossenen Einheiten, Ausgabe 1966, (VfdP 201), gem. Erlass vom 16.1.1967 beide gültig ab 1.7.1967 StAHH Polizeibehörde (PB) II 296. 14 Winter 1998, S. 293. 15 Schell 1966, 2. Band, S. 27 f. (Radaumacher, akute Masse, Vermassung, Massenpsychose), S. 34 (Aufhetzer, Rädelsführer). 11
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zum polizeilichen Einsatz Anlass boten, benutzte die Polizeiverwendungslehre Termini wie „akute Masse“ und „Vermassung“,16 die auf Gustave LeBons Massenpsychologie fußten. Für die Menschen einer solchen „akuten Masse“ galt: „Die bewusste Persönlichkeit schwindet, weil die Einordnung in die Masse die Persönlichkeit mit einem Schlage wandelt: Die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Damit bildet sich eine Kollektivseele …, gewissermaßen ein einziges Wesen“.17 Darüber hinaus seien alle Wahrnehmungen vermassender Menschen getrübt, sie würden anfällig für Affekthandlungen und folgten einem „Leithammel“.18 Im einfachsten Fall konnten akute Massen, so die Sicht von führenden Polizeibeamten, entweder durch Humor beeinÀusst oder sonst wie abgelenkt werden.19 Grundsätzlich sollten die eingesetzten Polizisten der Masse durch sicheres Auftreten sowie durch körperliche Disziplin imponieren.20 Zudem gingen Polizeiführer davon aus, durch intensive Überwachung und eine „Demonstration staatlicher Machtmittel“ eine „Vermassung“ verhindern zu können. Hier galt Ende der 1960er Jahre noch, was 1956/57 formuliert worden war: „Je früher sich die Polizei einschaltet, umso besser hat sie die Masse in der Hand“. Bei bereits eingetretener Vermassung müsse „auf jeden Fall der Führer und sein Anhang von der Masse getrennt werden“.21 Deshalb hieß es für Polizeibeamte, „schnell zugepackt … und die Hauptstörer“ aus den Veranstaltungen entfernen.22 Dabei seien „logische Begründungen … zwecklos …, weil sie von der Masse doch nicht verstanden werden und nur zu unnötigen und zeitraubenden Erörterungen führen“23. Oft würden „lange Reden … als Schwäche der Polizei“ ausgelegt.24 Durch ein Denken in solchen Ordnungsmustern erschien bei „Massensituationen“ der Weg in die Konfrontation vorgezeichnet. Wie noch zu zeigen sein wird, muss hier jedoch unterschieden werden zwischen Einsatzanlässen, die als unpolitisch und solchen, die als politisch beurteilt wurden. Der nachfolgend für Mitte der 1960er Jahre zu untersuchende schutzpolizeiliche Umgang mit jugendlichen Beatfans vermittelt erste Eindrücke darüber, wie sich die Ausweitung so-
16 Schell 1966, 2. Band, S. 27 f. (Radaumacher, akute Masse, Vermassung, Massenpsychose), S. 34 (Aufhetzer, Rädelsführer). 17 Pächer 1956, S. 254. 18 Vgl. Reininghaus/Stiebitz 1968, S. 42*. 19 Quentin/Stiebitz 1955, S. 2. 20 Reininghaus/Stiebitz 1968, S. 43*. 21 Schwarz 1957, S. 155. 22 Otto 1955, S. 11. 23 Pächer 1956, S. 256. 24 Otto 1955, S. 11.
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zialstaatlicher Funktionen auf die Gewährleistung von Sicherheit auf den Einsatz der Polizei auswirken konnte. Polizei und Beatkrawalle: entschlossene Gelassenheit Größere Konfrontationen mit Jugendlichen verbunden mit brutalen Polizeieinsätzen wie z. B. bei den Schwabinger Krawallen in München (Juni 1962), waren in Hamburg bis Anfang der 1960er Jahre nicht zu verzeichnen.25 Wenige Jahre später begann sich die Situation jedoch zu ändern. Das Konzert der „Rolling Stones“ im September 1965 versetzte nicht nur Tausende von Fans in Verzückung, sondern auch die Hamburger Polizei in ¿eberhafte Aktivität. Etwa 700 Polizisten waren aufgeboten, der Veranstaltungsort, die Ernst-Merck-Halle, großräumig mit Gittern abgesperrt und sämtliche Steinhaufen und Baumaterialien in ihrer Umgebung entfernt worden. Zudem wurden etwa 60 Bereitschaftspolizisten hinter der Bühne verdeckt bereitgehalten. Die Polizei hatte es mit etwa 1.500 zeitweilig randalierenden Fans zu tun.26 Nach den beiden Auftritten der „Rolling Stones“ am 13. September 1965 atmete die Hamburger Polizei auf. Aus schutzpolizeilicher Sicht war dieses Großereignis erfolgreich bewältigt worden. Grundsätzlich verfolgte die Hamburger Polizei beim Einsatz während des Konzerts der Rolling Stones zwar einen „harten Kurs“. So hielt es die Polizeiführung nach zahlreichen kleineren Ordnungsstörungen der vorangegangenen Tage „für allerhöchste Zeit, … diesmal durchzugreifen“.27 Wobei man in „Übereinstimmung mit den ordnungswilligen Bürgern“ auch „härtere Mittel“ einsetzen wollte.28 Jedoch umfasste das Repertoire nicht nur – wie noch Ende der 1950er Jahre – die ‚traditionellen‘ polizeilichen Einsatzmittel wie Polizeiketten, Gummiknüppel oder Wasserwerfer. Vielmehr war die Hamburger Polizei bemüht, ihre Einsatztaktik zu differenzieren und stärker präventiv auszurichten. So wurden verstärkt Zivilbeamte (100 an der Zahl) eingesetzt und auch vermeintliche „Rädelsführer“ oder „Leithammel“ von jüngeren Polizeibeamten vor und nach den Konzerten gezielt in Diskussionen verwickelt. Darüber hinaus hatte die Polizei erstmals Motorräder zum Räumen von Gehwegen eingesetzt.29 Die Anwendung einer neuen Taktik und von neuen Einsatzmitteln war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer grundsätzlichen Abkehr von alten WahrVgl. zu den Schwabinger Krawallen Fürmetz 2006. Vgl. die Berichte in: StAHH PB II 233, Bde. 1 und 2. 27 Sitzung der Deputation für die BfI vom 21.10.1965, StAHH BfI 302. 28 Besprechung vom 23.9.1965, StAHH PB II 233,1. 29 Bericht des Polizeibezirks Mitte vom 20.9.1965, StAHH PB II 233, 1. Vgl. grundsätzlich zum polizeilichen Umgang mit Jugenddelinquenz Weinhauer 2007. 25
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nehmungsmustern und Ordnungsvorstellungen. Dies zeigte sich schon bei den Einsatzvorbereitungen vor Beatkonzerten. Im Herbst 1967 sah der Hamburger Polizeihauptkommissar Dietrich Chelard beim „überwiegenden Teil“ der jungen Bereitschaftspolizisten und speziell bei „fast allen“ Zug- und Gruppenführern „erhebliche Ressentiments“ gegenüber den Beatfans. Dies galt vor allem für die Haartracht, die Kleidung und für das Auftreten der Jugendlichen, denen es in polizeilicher Sicht vorrangig darum ging „‚eine Show abzuziehen‘“.30 Diese Skeptiker hatte Innensenator Heinz Ruhnau vermutlich im Visier als er im Oktober 1966 mit Blick auf die zukünftige Ausrichtung polizeilicher Einsätze gegen Jugendliche betonte, die Polizei müsse sich mit dem „anständigen Bürger verbinden“ und hinzufügte, auch Menschen mit „langen Haaren und Beatle-Jacken“ zählten häu¿g dazu.31 Darüber hinaus stand auch das in der Schutzpolizei vorherrschende Männlichkeitsleitbild einem durchgängig zurückhaltenden Vorgehen im Wege. Wenngleich die jungen Beamten auch das zeitweise Nicht-Einschreiten erlernen sollten oder polizeilich gesprochen, zu lernen hatten, sich auf der „schmalen Schwelle zwischen besonnener Duldsamkeit und entschlossener Härte“, zwischen „explosiver Entschlußkraft“ und „männlicher Selbstzucht“32 zu bewegen, wollten sich die knapp 20jährigen Bereitschaftspolizisten vorrangig im „Einsatz bewähren und auch etwas erleben“.33 Der Einsatz, das männlich-harte Durchgreifen war unter ihnen somit höher angesehen als das „weiche“ besonnene Abwarten. Zudem spielten bei der Analyse der Beatkrawalle von 1965/66 in polizeilichen Veröffentlichungen immer noch Begriffe wie Rausch, Ekstase und Massenhysterie eine wichtige Rolle. Auch galt der Leitsatz, die Polizei müsse „der akuten Masse imponieren“, vor allem durch „körperliche Diszipliniertheit“. 34 Darüber hinaus waren die polizeilichen Denken nach wie vor geprägt von überzogenen Vorstellungen über die Organisierbarkeit solcher Ausschreitungen, von der Suche nach straffer Organisation und nach Anführern, wobei eine passive Masse das Öl bildete, das die Anführer nur entzünden mussten, um eine „akute Masse“ entstehen zu lassen.35 Ungeachtet dieser Einschätzungen zeigten die Einsätze gegen die Beatkrawalle insgesamt gesehen jedoch eher die patriarchalische Seite der Staatsgewalt. Die Polizei orientierte sich an einem Überlegenheitsgefühl gegenüber den Jugendlichen, deren Agieren als weitgehend unorganisiert und unpolitisch eingeschätzt wurde. Bei diesen Polizeieinsätzen – noch deutlicher wurde dies beim Chelard 1967, S. 316. Besprechung vom 8.10.1966 (Ruhnau), StAHH PB II 595. 32 Giese 1968, S. 236. 33 Chelard 1967, S. 317. 34 Vgl. zusammenfassend Reininghaus/Stiebitz 1968, S. 42. Dieser Beitrag enthält auch eine Bibliographie zum Thema. 35 Vgl. Die Rolling Stones 1965. 30 31
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Vorgehen gegen die proletarischen „Rocker“ Ende der 1960er Jahre36 – gewann Prävention gegenüber früheren Jahren an Bedeutung. Denn bei den Beatkonzerten wurde die Bekämpfung von „Kriminalität“ ins gesellschaftliche Vorfeld verlagert. Im Hinblick auf Jugendliche wartete die Polizei nicht mehr passiv ab, bis Ruhe und Ordnung gestört waren, wie noch bei den Halbstarkenkrawallen, sondern agierte präventiv: potentielle Täter wurden beobachtet, karteimäßig erfasst und damit auch kriminalisiert. Beim Einsatz gegen „randalierende“ Beatfans zeigte die Polizei eine entschlossene Gelassenheit und begnügte sich damit, partielle Ordnungsstörungen zu „beseitigen“. Man meinte, solche Ereignisse grundsätzlich im Griff zu haben. Polizei und Studentenproteste: „Machtprobe“ mit „Menschenhaufen“ Diese entschlossene Gelassenheit der Polizei galt jedoch nicht für Einsätze gegen Proteste, die als politisch eingestuft wurden. Hier ging es um mehr als um die Wiederherstellung von Ordnung – es ging um den Schutz des Staates. Mit Blick auf diese Großeinsätze bleibt darauf hinzuweisen, dass die hier agierenden Polizisten keine homogene Gruppe bildeten.37 Vor allem müssen die verschiedenen Altersgruppierungen berücksichtigt werden. Orientiert an der Organisationshierarchie der Hamburger Polizei zeigt sich eine Dreiteilung. Die obersten Führungspositionen des Höheren Diensts bekleideten überwiegend ältere Beamte, etwa der Jahrgänge 1908 bis 1914. Die Führungsbeamten, die den Objektschutz vor Ort leiteten, waren deutlich jünger. Sie waren in den 1920er Jahren geboren. Nochmals deutlich jünger waren vor allem die Bereitschaftspolizisten. Diese jungen Beamten, zumeist etwa zwischen 1944 und 1948 zur Welt gekommen, waren somit etwa so alt wie ein Großteil der demonstrierenden Studenten auch. Diese Beamten sind die „68er“ der Polizei. Nicht vergessen werden dürfen aber auch die bei den Demonstrationen eingesetzten, altersmäßig bunt zusammengewürfelten Einheiten aus Revierbeamten. In Hamburg waren im April 1966 neue Bestimmungen für Demonstrationen38 aufgestellt worden, die sich jedoch ausschließlich an geordneten und disVgl. Weinhauer 2003, S. 291–296. Vgl. zusammenfassend Weinhauer 2003, S. 315. 38 Vgl. hierzu sowie zum folgenden: Allgemeine polizeiliche AuÀagen und Hinweise für die Durchführung von Umzügen, Versammlungen oder Veranstaltungen ähnlicher Art auf öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen vom 20.4.1966, StAHH BfI 1022. Diese AuÀagen und Hinweise orientierten sich an der Straßenverkehrsordnung vom 13.11.1937, am Versammlungsgesetz vom 24.7.1953 sowie am Hamburger „Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG)“, das am 1. April 1966 in Kraft trat. Es war nicht zu ersehen, ob diese AuÀagen und Hinweise veröffentlicht worden sind. 36 37
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ziplinierten Umzügen oder Marschkolonnen orientierten. So durften höchstens vier Personen nebeneinander gehen (ohne größere Zwischenräume). Sie hatten sich auf der rechten Hälfte der rechten Fahrbahn zu bewegen, so dass Fahrzeuge jederzeit vorbeifahren konnten. Um den Querverkehr nicht zu behindern, sollten im Umzug in regelmäßigen Abständen Lücken von mindestens 40 Metern gelassen werden. Die Reglementierung gipfelte darin, dass die „geschlossenen Abteilungen“ der Umzüge bei Dunkelheit oder schlechter Sicht sowohl ihre seitliche Begrenzung als auch ihr Ende durch farblich vorgeschriebene Laternen kenntlich machen mussten. Auch sollten der „linke und der rechte Flügelmann des ersten und letzten Gliedes … je eine Laterne tragen“. Ausgehend von solchen Ordnungsvorstellungen kommt bereits eine Ahnung auf, wie fassungslos und überrascht Polizei (und Politiker) den Protestaktionen der folgenden Jahre gegenüberstanden. Bei der ersten größeren studentischen Protestaktion im Sommer 1966 vor dem US-amerikanischen Generalkonsulat war die Überraschung auf beiden Seiten groß. Die Hamburger Polizei war von den ungewohnten Protestformen wie Sitzstreiks überrascht und die Protestierenden wiederum über das harte Vorgehen der Ordnungshüter. Als einige Demonstranten versuchten, ins Konsulat einzudringen, und zudem ein Sitzstreik organisiert wurde, setzte die Polizei Wasserwerfer ein und räumte, wie später zugestanden werden musste,39 ohne deutlich vernehmbare Vorwarnung den Platz vor dem Gebäude mit Gummiknüppeln. Dabei wurde, so der Polizeibericht, gegen „eine aufrührerische Menge“ eingeschritten, wobei „gegen besonders aufrührerische Elemente und Einpeitscher … mit dem Polizeistock vorgegangen werden mußte“.40 Während die Hamburger Jugendsenatorin Irma Keilhack der Polizei nach dem Einsatz riet, „ein wenig mehr Gelassenheit täte den Beamten gut“,41 beurteilten höhere Polizeibeamte die Proteste als eine planvoll und gezielt in Angriff genommene Aktion.42 Der Polizeibericht über die Räumung des Platzes vor dem Konsulat hielt dann auch fest: „Sprechchöre, die durch Einpeitscher zielstrebig dirigiert wurden, (schufen) … eine ausgesprochene Krawallatmosphäre“.43 Innensenator Ruhnau und der seit Oktober 1965 amtierende Kommandeur der Schutzpolizei, Martin Leddin, bestritten später den spontanen Charakter der Demonstration vor dem Konsulat. Leddin betonte einige Tage nach der Demonstration, die Polizei könne „beweisen, daß die Demonstration kommunistisch unterwandert war“.44 Auch Vgl. Besprechung vom 17.8.1966, StAHH BfI 1025. Bericht des Polizeibezirks Eimsbüttel vom 5.7.1966, StAHH BfI 1025. 41 Hamburger Abendblatt Nr. 158 vom 11.7.1966. 42 Besprechung vom 17.8.1966, StAHH BfI 1025. 43 Beide Zitate aus: Bericht des Polizeibezirks Eimsbüttel vom 5.7.1966, StAHH BfI 1025. 44 Hamburger Abendblatt Nr. 154 vom 6.7.1966. 39
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Heinz Ruhnau hob hervor, es habe ein „unbekannter Mann mit dem einpeitschenden Ruf, ‚Auf zum Konsulat‘…., zu dieser Aktion aufzuwiegeln versucht“. Es sei „klar zu erkennen gewesen, daß es sich hierbei um bestellte Arbeit gehandelt habe“. Der „Beweis“ für diese Thesen beschränkte sich jedoch auf den Hinweis, an der Spitze des Demonstrationszuges seien „mehrere bekannte Altkommunisten marschiert“.45 Die Fronten zwischen Protestierenden und Polizei verhärteten sich bei den Hamburger Anti-Schahdemonstrationen vom 3./4. Juni 1967. Zudem lässt sich eine stärker politisierte Wahrnehmung in der Polizei erkennen. Denn der Schahbesuch sei, so der Bericht der polizeilichen Einsatzleitung, für viele Studenten nur „ein Anlaß aus vielen möglichen …, um die Grenzen der staatlichen Autorität der Bundesrepublik Deutschland abzutasten“.46 Der Bericht des Hamburger Polizeipräsidenten fügte hinzu, durch diese „zielstrebig betriebene Zersetzungsarbeit“ habe sich vor allem unter der akademischen Jugend nicht nur eine „spürbare Unlust zur Mitgestaltung des gesellschaftlichen Daseins“ entwickelt, sondern es habe zudem eine „anarchistische Kontrahaltung“ Boden gewonnen.47 Die Proteste, die damit verbundenen Polizeieinsätze sowie die späteren Debatten verfestigten auf beiden Seiten Feindbilder. Während viele der politisch aktiven 68er die Polizisten als Nazis beschimpften, galten Demonstranten unter Polizisten pauschal als Kommunisten.48 Polarisierung und Politisierung spitzten sich bei den Osterdemonstrationen 1968 nochmals zu. Rückblickend betrachtete die Hamburger Innenbehörde diese Proteste als eine „Art Machtprobe“, als eine „direkte Konfrontation zwischen einer zum Aufruhr entschlossenen Demonstrantengruppe und einer zur Gewährleistung rechtsstaatlicher Ordnung entschlossenen Polizei“.49 Hauptschauplätze der Konfrontationen waren die Hamburger Innenstadt, vor allem die Gegend um das Springer Verlagsgebäude sowie das Polizeipräsidium. In Hamburg hatte nicht nur das Attentat auf Rudi Dutschke die Gemüter erhitzt, sondern auch die vom Innenausschuss im Nachhinein als „wenig sinnvoll“ eingestufte Durchsuchung des SDS-Büros sowie die damit verbundene Festnahme von vier Aktivisten.50 Zudem dürften die von der Polizei getroffenen Sicherungs- und AbsperrmaßDie Welt Nr. 155 vom 7.7.1966. Die Welt Nr. 155 vom 7.7.1966. 47 Bericht des Polizeipräsidenten vom 8.6.1967, StAHH BfI 163. Vgl. auch Politische Demonstrationen in Hamburg 1967 vom 29.12.1967, S. 2, StAHH BfI 1031. 48 Vgl. Bericht der Polizeieinsatzleitung vom 4.6.1967, StAHH BfI 163; Bericht über den polizeilichen Einsätze aus Anlass des Schah-Besuches am 3. und 4.6.1967 vom 12.7.1967, StAHH BfI 163; ferner Asta-Dokumente II/1968, S. 18 (Ostermontag, Polizeipräsidium). 49 Demonstrationen in Hamburg 1970, S. 8 f. (Entwurf), StAHH BfI 1034. 50 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, VI. Wahlperiode, Drucksache Nr. 1417 vom 26.6.1968, Bericht des Innenausschusses über die Osterunruhen 1968 in Hamburg. 45
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nahmen nicht eben dazu beigetragen haben, die Atmosphäre zu entspannen. So schrieb die Hamburger Morgenpost: „Es sah aus wie bei Straßenschlachten in einem Bürgerkrieg: Stacheldrahtverhaue, spanische Reiter und Sperrketten“ umgaben das Springer Verlagsgelände. Polizisten trugen vor allem am Ostermontag Tränengasschutzbrillen und auch Schutzhelme, die von einem Werftbetrieb ausgeliehen worden waren.51 Die auf beiden Seiten aufgeheizte Stimmung entlud sich am Karfreitag. Einige Demonstranten warfen – anders als noch bei der Anti-Schahdemonstration im Juni 1967 – Steine auf Polizeibeamte. Polizisten, die an diesem Tag am Springer Verlagsgebäude ungeschützt gegen Demonstranten vorgingen, mussten wegen solcher Steinwürfe ihren Einsatz unter etlichen Verletzten abbrechen. Die Beamten, die an diesem Einsatz beteiligt waren, befanden sich, so ein Bericht des Hamburger AStA, in „verständlicher Wut und Erregung“.52 An einer anderen Stelle kam es zu einem harten Polizeieinsatz gegen einen Sitzstreik, der aus Sicht der Protestierenden so ablief: Etwa fünfzig Polizisten „fallen mit Gummiknüppeln über die Sitzenden her und prügeln wahllos auf sie ein. Vielen, vor allem den hinten Sitzenden gelingt es noch aufzustehen und zu Àiehen. Sie werden von knüppelschwingenden Polizisten verfolgt und weiter geschlagen. Eine unbestimmte Anzahl der Sitzenden kommt gar nicht mehr dazu aufzustehen, wird auf die Köpfe geschlagen und bleibt liegen, bis die unmittelbar hinter den Polizisten herkommenden Sanitäter sie fortbringen.“ Zudem nahmen „Greiftrupps“ zahlreiche junge Leute fest, auch unter Anwendung von Schlägen und anderer körperlicher Gewalt.53 Vor einer nahe gelegenen Polizeiwache wurden später einige Jugendliche „willkürlich gegriffen, durch das schnell geöffnete Gittertor der Revierwache in den Torgang befördert und dort sowie auch im Gebäude misshandelt. Die Schreie sind auf der Straße zu hören.“54 Zudem wurden Polizisten als Provokateure beobachtet.55 Zu einem sehr harten Polizeieinsatz – der wie eine Endabrechnung wirkt – kam es am Abend des Ostermontags (gegen 23.30 Uhr) vor dem Polizeipräsidium. Eine Hundertschaft fuhr im Rücken der vor dem Gebäude sitzenden etwa 800 Demonstranten heran und begann von dort aus eine Räumung unter heftigem Schlagstockeinsatz. Diesen Einsatz rechtfertigte Innensenator Ruhnau bei einer späteren Anhörung vor dem Innenausschuss, indem er die Anwesenden fragte, „Sie meinen doch wohl nicht im Ernst, der Senat solle zusehen, wie sei51 Hamburger Morgenpost Nr. 89 vom 16.4.1968; vgl. auch Hamburger Morgenpost Nr. 91 vom 18.4.1968; sowie die Fotos in: Gewerkschaft der Polizei, Landesbezirk Hamburg 1991, S. 59. 52 Asta-Dokumente I/1968, S. 4 (Chronik). 53 Asta-Dokumente I/1968, S. 5 (Chronik). 54 Asta-Dokumente I/1968, S. 6 (Chronik). 55 Asta Dokumente II/1968, Karfreitag, S. 5 f.
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ne Polizeizentrale blockiert wird !“56 Die Räumung wurde auch deshalb so hart durchgeführt, weil der schlecht informierte Hundertschaftsführer davon ausging, die Demonstranten seien drauf und dran, ins Polizeipräsidium einzudringen. Zudem war diese Einheit, die in polizeilicher Sicht einen „hohen Einsatzwert“ besaß, bereits seit morgens 9 Uhr eingesetzt worden. Sie hatte so mit die „Hauptlast“ der Ostermontagseinsätze getragen, war u. a. an den Einsätzen am „SpringerKomplex maßgeblich beteiligt“.57 Beamte dieser Hundertschaft charakterisierten die Situation vor dem Polizeipräsidium mit den bereits bekannten massenpsychologischen Wendungen: Schon beim Formieren, so ein Beamter, „spürte man förmlich die Aggressivität, die von der Menschenmenge ausging“, deren Menschen „tobten und schrieen wie von Sinnen“. Ein anderer Polizist dieser Einheit wähnte sich einer Menschenmenge gegenüber, die „tobte und schrie wie besessen“.58 Bei diesem nächtlichen Einsatz vor dem Polizeipräsidium beschrieben Protestierende Phänomene, die unter massenpsychologischen Gesichtspunkten einer akuten Masse entsprochen hätten – allerdings auf Seiten der Polizei. Ein Betroffener schrieb über diese Räumung: „Alles schrie und stürzte durcheinander. Ich selbst wurde unter einem Menschenhaufen begraben und glaubte zu ersticken. Die anstürmenden Polizisten prügelten wie wild, wahl- und grundlos, auf diese Menschenhaufen ein, auf fallende und liegende Menschen. Ich war erschreckt über die sadistisch-brutal verzerrten Gesichtszüge vieler prügelnder Polizeibeamter“.59 Viele Demonstranten gerieten in Panik, da sie sich in einer Kesselsituation wähnten.60 Eine Augenzeugin gab zu Protokoll, Menschen, die in „Haufen übereinander“ lagen, hätten in Richtung Polizei gerufen: „‚Hört doch auf, hört doch endlich auf ! Wir tun euch doch nichts. Bitte, bitte hört doch auf !‘ Sie winselten wie kleine Kinder.“61 Weitere „Knüppelorgie(n)“ wurden in der Presse beschrieben.62 Speziell der Einsatz vor dem Polizeipräsidium unterstreicht die Enthemmung, die beim Schlagen mit dem Gummiknüppel auftreten kann. Ein Polizist konstatierte 1996 rückblickend, der Gummiknüppel bringe eine psychische Entlastung, weil dadurch die eigene „Hand nicht mehr im Spiel“ sei. Für ihn gebe es „kaum eine größere Hemmung, als einen Menschen mit der Hand ins Gesicht Innenausschusssitzung vom 20.6.1968, StAHH BfI 1029. Bericht über die Polizeieinsätze vom 11. bis 15.4.1968, S. 17, StAHH BfI 1029; Bericht des Polizeiabschnitts Innenstadt vom 15.4.1968, StAHH BfI 1030. Vgl. zum schwammigen Begriff „Einsatzwert“ Winter 1998, S. 271 f. 58 Berichte vom 29.4.1968 (von Hubert K. und Rainer H.), StAHH BfI 1030, 59 Asta-Dokumente II/1968, S. 15 (Ostermontag, Polizeihochhaus). 60 Asta-Dokumente II/1968, S. 19 f. (Ostermontag, Polizeihochhaus). 61 Asta-Dokumente II/1968, S. 21 (Ostermontag, Polizeihochhaus). 62 Vgl. Hamburger Morgenpost Nr. 90 vom 17.4.1968. In diesem Artikel verurteilte die Zeitung die Gewaltanwendung auf beiden Seiten. 56 57
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zu schlagen“. Selbstkritisch fügte er hinzu, schon nach wenigen Schlägen komme es zu einem Kontrollverlust und es sei hinterher nicht mehr genau zu sagen, wie oft man eigentlich zugeschlagen habe.63 Bei den Ostereinsätzen 1968 erlebten die Protestierenden – so wie es scheint, häu¿ger als z. B. beim Schahbesuch – mit körperlichen Schmerzen verbundene Demütigungen. Sie mussten gebückt vor den Polizisten hergehen, da ihnen die Arme auf den Rücken gedreht wurden. Auch verteilten Polizisten Tritte ins Gesäß und schlugen auf die Köpfe und in die Geschlechtsteile der Protestierer.64 Unter solchen Rahmenbedingungen kann es kaum verwundern, dass von Demonstranten ausgehende Aufrufe zur Gewaltlosigkeit nur teilweise befolgt wurden.65 Die Proteste verdeutlichen auch – gewollte oder ungewollte – Kommunikationsbarrieren. Auf der einen Seite vermerkte der abschließende Senatsbericht über den Schahbesuch im November 1968: „Nichts deutet darauf hin, daß die Polizeiführung Unrechtshandlungen der ihr unterstellten Polizeibeamten beabsichtigte oder billigte (…). Insbesondere die Vorwürfe gegen die Polizeiführung haben sich als unbegründet erwiesen. Bei der Befehlsgebung ist ein strafrechtlich bedeutsamer Ermessensmißbrauch in keinem Falle festgestellt worden“.66 Polizei und Politiker bezogen sich also auf die formale Rechtmäßigkeit des gesamten Einsatzes bzw. einzelner Maßnahmen. Auf der anderen Seite artikulierten Demonstranten in Eingaben, Diskussionen oder auch in Presseberichten ihre Enttäuschung, Wut und HilÀosigkeit gegenüber dem Vorgehen der Polizei sowie über das konkrete Verhalten einzelner Polizisten.67 Hier standen zwei Argumentationsebenen gegeneinander, die sich nicht aufeinander bezogen. Eine Verständigung war so kaum möglich.68
Maibach 1996, S. 30 f.; vgl. auch Sturm 2006 (a). Asta Dokumente I/1968, Zeugenaussagen zum Einsatz am 12.4.1968, S. 3 u. 4 f., zum Einsatz am 15.4.1968, S.10; zum Einsatz am 15.4.1968 im Kornträgergang, S. 3; sowie zum Einsatz am 15.4.1968 am Polizeihochhaus und am Zentralen Omnibusbahnhof, S. 3. und S. 7; Asta-Dokumente II/1968, Ostermontag, Polizeihochhaus, S. 21. 65 Bericht vom 8.5.1968, StAHH BfI 1029; Asta Dokumente I/1968, S. 1–10 (Chronik). 66 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 6. Wahlperiode Mitteilungen des Senats and die Bürgerschaft vom 26.11.1968, Drucksache Nr. 1726. S. 4 und 6. 67 Vgl. Weinhauer 2003, S. 306. 68 Verständigungsprobleme und die verschiedenen Denk- und Argumentationsebenen zwischen Politikern und protestierenden Studenten zeigten sich auch, als der zweite AStA-Vorsitzende Jens Litten auf einer Sondersitzung des Innenausschusses im Juni 1968 mit Blick auf die Blockaden vor dem Springer-Verlag gefragt wurde, ob er „gegenüber den Demonstranten rechtliche Zweifel an der Zulässigkeit der Belagerung geäußert“ hätte. Worauf Litten nur antworten konnte, er glaube nicht, dass eine „juristische Debatte sinnvoll gewesen wäre“. Er fügte hinzu, wenn sich der AStA nicht eingemischt hätte, wäre „viel Schlimmeres passiert“, Innenausschusssitzung vom 6.6.1968, S. 6, Archiv der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. 63
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Die Demonstrationserfahrungen blieben sowohl unter Polizisten – dazu später mehr – als auch bei Demonstranten nicht ohne Nachwirkungen, die bislang jedoch noch nicht untersucht worden sind. Die Reaktionen reichten von Wut und Empörung über Resignation bis hin zu einer Radikalisierung. Die Stimmung im AStA der Universität Hamburg beschrieb der zweite Vorsitzende Jens Litten, als „wie gelähmt“, da man „mit allen Mitteln einen Bürgerkrieg vermeiden“ wolle. Von der Polizei fühle man sich „‚hinterrücks‘ überfallen“69; sie habe „‚brutale Gegengewalt‘“70 eingesetzt, betonte ein anderer Sprecher. In eine ähnliche Richtung argumentierte „Der Spiegel“, der im April 1988 rückblickend schrieb: „Viele tausend junge Deutsche sind von der Polizei gründlicher radikalisiert worden als von ihren revolutionären Vorbildern“.71 Ordnung, Staat und kameradschaftliche Kollektive: Polizeiliche Einsatzprobleme bei Einsätzen gegen politische Demonstrationen Die Protestaktionen der späten 1960er Jahre wirkten auch in die Polizei zurück und offenbarten massive Binnenprobleme der Polizei(Einheiten). So stellte besonders die Dynamik und Spontaneität dieser Proteste die Polizei häu¿g vor große Probleme. Ein internes polizeiliches Resümee der Hamburger Polizei vom März 1968 umriss die Problemlage recht treffend: „Die Polizei hatte es bei den Einsätzen der letzten Jahre meistens mit friedlichen Veranstaltungen zu tun. Alle zu treffenden Maßnahmen konnten perfektioniert, im Voraus schriftlich in Befehlen festgelegt und nach diesen Plänen durchgeführt werden. Polizeiführer und Polizeibeamte haben daher jetzt Schwierigkeiten, bei unvorhergesehenen Vorkommnissen zu improvisieren“.72 Abschließend bleibt zu diskutieren, warum sich die Polizei so schwer gegenüber einer Àexibleren Einsatztaktik öffnete und warum es bei den politischen Demonstrationen der Jahre 1966–1969 zu bisweilen überzogen harten Polizeieinsätzen kam. Grundsätzlich gab es unter den Hamburger Schutzpolizisten, ähnlich wie in weiten Teilen der Bevölkerung,73 eine ablehnende Haltung gegenüber einem zurückhaltenden Vorgehen bei Demonstrationen. So war zwar Ende 1967 in der Hamburger Innenbehörde eine neue Taktik für größere Polizeieinsätze ent wickelt worden, die als „Àexible Reaktion“ bezeichnet wurde. Von Innensenator Ruhnau Hamburger Morgenpost Nr. 90 vom 17.4.1968 (beide Zitate); vgl. auch HA vom 18.4. 1968. Hamburger Abendblatt vom 26.4.1968 71 Der Spiegel Nr. 15 vom 11.4.1988, S. 95. 72 Abschlussbericht über den polizeilichen Einsatz anlässlich der Demonstration am 22.3.1968 vom 29.3.1968, StAHH BfI 1032 73 Vgl. dazu Weinhauer 2003, S. 315 f. 69
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favorisiert, legten viele Polizeibeamte diese Taktik jedoch als Schwäche aus oder bezeichneten sie „boshaft als weiche Welle“.74 In einem polizeiinternen Bericht hieß es denn auch mit Blick auf die vielen ZweiÀer, dieser Begriff bedeute „nicht Kapitulation vor dem Störer“.75 Der gesellschaftlich, also nicht nur unter Polizisten weit verbreitete Antikommunismus dürfte eine wichtige Voraussetzung gewesen sein, dass Polizisten bei Demonstrationen, die als politisch eingestuft wurden, schneller hart durchgriffen. In eine ähnliche Richtung wirkte eine obrigkeitsstaatlich-autoritäre Auffassung vom Staat. Weit verbreitet war sie unter den bis etwa 1912 geborenen Polizeibeamten, den Patriarchen, die oftmals bereits während der Weimarer Republik im Polizeidienst gestanden hatten. Da sie den von ihnen mythologisch überhöhten Staat bedroht wähnten, war hartes Eingreifen unumgänglich.76 Die vom Antikommunismus und vom autoritären Staatsverständnis bestimmten Ordnungsvorstellungen wurden jedoch durch polizeispezi¿sche Faktoren verstärkt. Bei dieser polizeizentrierten Analyse muss nochmals auf den Habitus von Polizeibeamten der 1960er Jahre eingegangen werden. Zum einen war in diesem Habitus das bereits erwähnte Männlichkeitsideal tief verankert, bei dem Aktivität und entschlossenes Zupacken, der „kurze Prozeß“, höher angesehen waren als Passivität und „Weichheit“. Mit diesem Konzept von Männlichkeit ist eine eminent wichtige Rahmenbedingung für die polizeilichen Einsatzprobleme bei politischen Demonstrationen der 1960er Jahre angesprochen. Orientiert an diesem aktivistischen Männlichkeitsideal mit seiner autoritären Grundhaltung konnten viele Polizeibeamte KonÀikte anscheinend am besten durch forsches Einschreiten lösen. Vor diesem Hintergrund war es durchaus möglich, dass die von Politikern geforderte Àexiblere Einsatztaktik Verhaltensunsicherheit in den Reihen der eingesetzten Beamten verstärkte, was wiederum zu einer Flucht nach vorn, also zu einem härteren Eingreifen, beigetragen haben könnte. Zum anderen wirkte die „akute Masse“ bei Protesten, die als politisch eingestuft wurden, nicht nur als ein Stereotyp von (leitenden) Polizeibeamten. Vor dem Hintergrund anderer Ordnungsvorstellungen wie Antikommunismus und mit Blick auf das autoritäre Staatsverständnis war die akute Masse vielmehr Teil eines politischen Mythos, der im Zentrum des polizeilichen Habitus stand, und deshalb bis in die 1970er Jahre nicht hinterfragt wurde. Wenn nämlich die (politische) „akute Masse“ so unberechenbar bösartig und politisch gefährlich war, wie sie immer wieder geschildert wurde, dann war es unumstößlich, dass sie nur von disziplinierten Polizeibeamten, die entschlossen und hart dagegen vorginBesprechung vom 27.3.1969, StAHH BfI 1033. Bericht vom 28.12.1967, StAHH BfI 1036; vgl. die Ausführungen Heinz Ruhnaus auf der Besprechung vom 12.12.1967, StAHH BfI 1031. 76 Vgl. Weinhauer 2003, S. 321. 74
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gen, zu bändigen war. Der Weg in die Konfrontation war so vorgezeichnet; dies galt vor allem bei politischen Demonstrationen. Insgesamt gesehen war die von Antikommunismus, autoritären Staatsverständnis und aktivistischem Männlichkeitsleitbild „eingerahmte“ Bekämpfung „akuter Massen“ ein Kernelement im Selbstverständnis derjenigen Polizeibeamten, die sich als patriarchalische Väter und Hüters staatlicher Ordnung sahen. Während der Studentenproteste machte der Polizei eine weitere tragende Komponente des in den 1960er Jahren dominanten Männlichkeitsentwurfs sehr zu schaffen: die Entstehung von „Gemeinschaften“ sowohl unter Revierbeamten als auch unter Bereitschaftspolizisten. Diese ansonsten hoch geschätzte Ordnungsnorm „kameradschaftliches Kollektiv“ erwies sich bei den Polizeieinsätzen gegen studentische Demonstrationen als ein massives Problem. Der enge Zusammenhalt der Gruppenmitglieder, die strikte Abgrenzung nach außen sowie die Entstehung eines Korpsgeistes in diesen Gruppen ließen sie für die Einsatzleitung ebenso wie für direkte Vorgesetzte unkontrollierbar werden. Hier verbanden sich das in der Polizei (in der Ausbildung ebenso wie im Revierdienst) geförderte und geforderte Einfügen in und Aufbauen von kameradschaftlichen Gemeinschaften einerseits mit dem auf Aktivität und Tatkraft fußenden Männlichkeitsideal anderseits zu einer Mischung, die das Einsatzverhalten solcher Gruppierungen kaum kalkulierbar werden ließ. Zu einer defensiv-resignativen Gruppenbildung kam es unter Revierbeamten, die eigens für Demonstrationseinsätze in Einheiten zusammengezogen wurden. Unter diesen, im Vergleich zu den Bereitschaftspolizisten deutlich älteren Beamten konnte sich bei Demonstrationseinsätzen rasch Unmut ausbreiten. Sie fühlten sich „aus ihrem normalen Dienstbetrieb herausgerissen“, nur weil die Polizei ihrer Ansicht nach mit ihren geschlossenen Einheiten „nicht hart genug durchgreift“.77 Deshalb taten sie es. In der Berliner Polizei wurden ähnliche Entwicklungen beobachtet. So war ein leitender Polizeibeamter überzeugt, diejenigen Revierbeamten, die meinten, bei Demonstrationseinsätzen sofort handeln zu müssen, dies aber nicht immer durften, würden als „eine Art ProblemÀucht …. ganz starke Binnenkontakte“ entwickeln und seien sich oft „alle einig gegen die feindliche Umwelt“.78 Oftmals schotteten sie sich auch gegenüber ihren Vorgesetzten ab. Zumindest bei den in der Weimarer Polizei sozialisierten Beamten kam noch eine weitere Quelle von Unzufriedenheit hinzu: das „Bürgerkriegsmodell“79 bestimmte zwar die Ausbildung für Polizeieinsätze gegen politische Aktionen, in der Einsatzpraxis der 1960er Jahre wurde es jedoch entmilitarisiert. Noch in Gebhardt 1970, S. 58. Probleme der Menschenführung 1971, S. 50 f. (Polizeioberrat Freund) 79 Goeschel 1968, S. 47 f.; vgl. zur Ausbildung Weinhauer 2003. 77 78
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den 1950er Jahren zückten Polizisten bei Protesten durchaus Schusswaffen wie Pistolen oder Karabiner, wenngleich deren Einsatz die Ausnahme blieb.80 So erwogen leitende Hamburger Polizisten während der Einsatzplanung bei studentischen Protesten im Mai 1952 zwar, ob Waffen benutzt werden sollten, verwarfen dies jedoch sofort wieder.81 Während der Einsatzplanung bei den Protesten der späten 1960er Jahre wurde – folgt man den archivierten Materialien in Hamburg und Nordrhein-Westfalen – an keiner einzigen Stelle über den Einsatz von Schusswaffen diskutiert. Wenngleich es auch 1967/68 Tote bei Demonstrationen gab, bildete das Bürgerkriegsmodell zwar noch den konzeptionellen Rahmen polizeilicher Großeinsätze, dies schloss jedoch – anders als in Italien – den Einsatz von Schusswaffen aus.82 Vor dem Hintergrund des in der Polizei dominanten aktivistischen Männlichkeitsleitbildes, das auf den Schutz des Staats ausgerichtet war, bedeutete dies HilÀosigkeit angesichts des scheinbar fest entschlossenen politischen Gegners; daraus konnten weitere Frustrationen resultieren. Eine zweite Form der Gruppenbildung, die einen offensiv-kämpferischen Charakter trug, fand sich unter den bei studentischen Demonstrationen eingesetzten Bereitschaftspolizisten. Wie die Studie eines Hamburger Polizeibeamten 1970 festhielt, hatten die jungen Beamten der Bereitschaftspolizei (BePo) „während der härtesten Einsätze in den Jahren 1968/69“ den Slogan geprägt, „‚wer ApO sagt, muß auch BePo sagen !‘“. Diese Haltung der jungen Bereitschaftspolizisten wurde in der Polizeiführung durchaus begrüßt. Denn damit hätten diese jungen Beamten „einen Beweis ihres gesunden Selbstvertrauens und ihrer Selbstsicherheit“ geliefert.83 Ohnehin wollten sich die Bereitschaftspolizisten bei ihren ersten (Demonstrations)Einsätzen gern bewähren, dies zeigte sich bereits bei den Beatkrawallen. Denn diese Polizisten, die oft, so ein Hamburger Polizeibeamter des gehobenen Diensts, vor „Einsatzfreudigkeit brannten“, würden sich über „die ‚Gammelei‘ und das ‚sinnlose Herumsitzen‘“ beschweren, wenn sie bei Großeinsätzen nur als Reserve bereitgestellt wurden.84 Solches „‚Nichts-Tun‘“, wurde offenbar der Rubrik ‚weiche Welle‘ zugerechnet.85 Ende der 1960er Jahre 80 Vgl. die Bilder bei Fürmetz 2002; Kraushaar 1996, S. 605 f. (Tod von Philipp Müller, 11.5.1952 in Essen) und 772. 81 Vgl. Die Welt vom 26.5.1952; Hamburger Abendblatt vom 26.5.1952. 82 Vgl. della Porta 1995. 83 Czenna 1970, S. 89. Ähnlich urteilte die Berliner Schutzpolizei mit Blick auf die Ostereinsätze der Bereitschaftspolizei. Diese „schweren Einsätze haben das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Kameradschaft der Beamten innerhalb der Einheiten und der Einheiten untereinander in selten zu beobachtendem Umfang gestärkt“, vgl. den Bericht der Berliner Schutzpolizei vom 4.5.1968 (Anl.), abgedruckt in: Konkret 1968 H. 7, S. 36–39, S. 39. 84 Krappen 1970, S. 44. 85 So der Kommandeur der Berliner Schutzpolizei Hans-Ulrich Werner auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Polizeichefs am 8.12.1967, StAHH PB 581.
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gab es offenbar nur wenige Polizisten, denen die Protestierenden „nicht mehr als Gegner, sondern als Andersdenkende“ galten.86 Wie hier deutlich wurde, war das Bürgerkriegsmodell mit seiner engen Orientierung an (Einsatz)Traditionen der Weimarer Polizei nach den Polizeieinsätzen gegen die studentischen Proteste der Jahre 1967/68 endgültig diskreditiert, hatte eher eskalierend als deeskalierend gewirkt. Zudem lag mit Verabschiedung der Notstandsgesetze im Mai/Juni 1968 der Schutz vor inneren Unruhen ohnehin nicht mehr in den Händen der Polizei, sondern war dem Bundesgrenzschutz sowie in speziellen Situationen auch der Bundeswehr übertragen worden.87 Diese Ausgliederung sowie das endgültige Scheitern des Bürgerkriegsmodells führten zu einigen „technokratisch-organisatorischen“88 Reformen u. a. in der Ausbildung, in der Ausrüstung (neue Fahrzeuge, Helme, Schutzschilder) sowie bei der Einsatztaktik, in der nun die Bereitschaftspolizei eine noch zentralere Rolle erhielt. Wie Martin Winter betont, wurde gegenüber politischen Protesten eine „Neue Linie“ formuliert, bei der die Aufstandsbekämpfung allmählich einem „protest policing“ weichen sollte.89 Darüber hinaus de¿nierte das Konzept der Inneren Sicherheit die Ausrichtung polizeilicher Alltagsarbeit neu. Die Innere Sicherheit stieg seit Anfang der 1970er Jahre zum symbolisch hoch aufgeladenen innenpolitischen Leitbegriff auf.90 Unter ihrem Dach stand nicht mehr der Schutz des Staates in Ausnahmesituationen im Mittelpunkt. Diese Aufgabe wurde vielmehr präventiv vorverlagert in den gesellschaftlichen Alltag hinein: „Alltagsorientierung statt Bürgerkriegsbezug“91 hieß nun die Devise. Allerdings ging es unter diesem Konzept nicht mehr vorrangig, wie etwa in den Jahren 1964–1967, um den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Kriminalität, sondern wieder um den Schutz des Staates. Sicherheit war also im Zeichen der Inneren Sicherheit erweitert und re-politisiert worden. Mit Blick auf die Polizei waren jedoch all diese organisatorischen, taktischen und konzeptionellen Veränderungen mit einer internen Organisationskultur konfrontiert, die sich nur langsam wandelte und somit raschen Veränderungen Grenzen setzte.
Gebhardt 1970, S. 79. Vgl. Weinhauer 2003, S. 262. 88 Winter 1998, S. 194. 89 Winter 1998, S. 191. 90 Vgl. als erste Annäherung Funk 1991; ferner Blankenburg 1980. 91 Werkentin 1984, S. 205; vgl. auch Busch u. a. 1988, S. 62. 86 87
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Zusammenfassung und Ausblick Bei der von Polizisten bei Großeinsätzen der Jahre 1966/68 ausgeübten körperlichen Gewalt muss zwischen zwei Situationen unterschieden werden, durch die die Potentiale von (patriarchalischer) Staatsgewalt abgesteckt wurden. Im alltäglichen Routinedienst, d. h. beim Umgang mit „normaler“ Kriminalität ebenso wie beim Einsatz gegen Beatkrawalle, konnte die Polizei zurückhaltend agieren und ihre Kräfte dosiert einsetzen. Hier ließ sich die sicherheitsorientierte Wende und mit ihr präventives Vorgehen relativ problemlos umsetzen. Gegenüber Jugendlichen konnte eine auf einem patriarchalischen Überlegenheitsgefühl basierende entschlossene Gelassenheit an den Tag gelegt werden. Bei Einsätzen, die als politisch de¿niert wurden, lagen die Dinge jedoch anders. Hier ging es (mindestens bis Ende der 1960er Jahre) darum, den Staat zu schützen. Jedoch erwies sich das bis dahin in der Polizeiausbildung so wichtige Bürgerkriegsmodell zur Bekämpfung politischer Unruhen im Inneren den Anforderungen nicht mehr gewachsen. War es schon während der 1960er Jahre dadurch entmilitarisiert worden, dass die Anwendung von Schusswaffen als polizeiliche Taktik nahezu undenkbar wurde, wirkten dessen konstituierenden Elemente (Antikommunismus, autoritäres Staatsverständnis, das in der Polizei dominante Männlichkeitsleitbild sowie Vorstellungen über akute Massen) beim Vorgehen gegen protestierende Studenten massiv eskalationsfördernd, vor allem wenn es um den Schutz symbolisch hochwichtiger Orte (z. B. Polizeipräsidium) ging. Allein durch konzeptionelle Umorientierungen war diesen eskalationsfördernden Faktoren nicht beizukommen, da sie in der Kultur der Schutzpolizei tief verankert waren. Auch die Tatsache, dass die Patriarchen bis Anfang der 1970er Jahre in den Ruhestand traten, brachte keinen abrupten Wandel. Denn zum einen hatten sie ja jüngere Beamte ausgebildet und somit ihre Normen und Werte – wie wirksam auch immer – weitergeben. Zum anderen dürfte der Antikommunismus auch in den 1970er Jahren in der Polizei präsent gewesen sein, zumindest unter denjenigen Polizisten, die während des Zweiten Weltkriegs in der Wehrmacht gedient hatten – dazu gehörten auch viele der in den 1920er Jahren geborenen Modernisierer, die sich intensiv für Polizeireformen einsetzten.92 Vor diesem Hintergrund ist zu bezweifeln, ob die in den 1970er Jahren einsetzende Orientierung am Konzept der Inneren Sicherheit und am ‚protest policing‘ das Einsatzverhalten der Polizei bei politischen Demonstrationen tatsächlich sofort grundlegend veränderte. Dies sollte auch im Hinblick auf diejenigen Maßnahmen berücksichtigt werden, die bislang als die Eck- und Orientierungspunkte polizeilicher Modernisierung in den 1970er Jahren galten. Somit bliebe zu fragen, ob Innere Sicherheit zwar in aller Munde
92
Einzelheiten zu den Modernisierern bei Weinhauer 2003, S. 83, 116–120 und 341 f.
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war, in manchen Köpfen jedoch wenn auch kein Bürgerkriegsmodell, so doch ein ‚straßenkampf‘-geprägtes Denken überdauerte. Diese Entwicklung dürfte durch die oben skizzierte Reaktualisierung kämpferisch-harter Männlichkeit vorwiegend unter den jungen „68er“-Polizeibeamten unterstützt worden sein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens waren davon junge Polizeibeamte betroffen, die am Anfang ihrer Laufbahn standen. Von daher können diese ersten Einsatzerfahrungen prägend gewirkt haben. Auch wäre es für weitere Untersuchungen sehr lohnenswert, die „Erzählungen“ und Mythen zusammenzutragen, zu denen diese „Straßenkampferfahrungen“ in den Reihen der „68er“-Polizisten verarbeitet wurden. Zudem sind die Auswirkungen dieses kämpferisch-elitären Männlichkeitsmodells auf das weitere Agieren dieser Beamten noch zu untersuchen. Hier könnten z. B. die Einsätze gegen die (Groß)Demonstrationen der 1970er Jahre, die Aktionen der neu geschaffenen Spezialeinheiten (u. a. gegen Hausbesetzungen) oder auch der Kampf gegen den politischen Terrorismus der 1970er Jahre analysiert werden.93 Zu fragen bliebe auch, ob es gerade diese Beamten waren, die in die seit Ende 1972 augestellten Spezialeinheiten des Bundes und der Länder aufgenommen wurden.94 Zweitens wurden ab Mitte der 1970er Jahre nicht nur viele Polizeibeamte pensioniert, sondern gleichzeitig das Polizeipersonal verstärkt.95 Für die straßenkampf-geprägten „68er“-Polizisten (und damit für die von ihnen vertretenen Normen und Werte) bestanden also relativ gute Aufstiegschancen in der Polizei. Waren diese beiden Faktoren ein Hindernis für die seit den 1970er Jahren immer wieder geforderte Demokratisierung oder für die innere Entmilitarisierung der Polizei ? Diese und andere Fragen werden sich erst beantworten lassen, wenn die noch ausstehende Sozial- und Kulturgeschichte der Inneren Sicherheit Konturen gewinnt. Literatur Blankenburg, Erhard 1980: Politik der Inneren Sicherheit. Eine Einleitung, in: Blankenburg, E. (Hg.): Politik der inneren Sicherheit, Frankfurt am Main, S. 7–15 Briesen, Detlef/Weinhauer, Klaus 2007: Jugenddelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Briesen, D./Weinhauer, K. (Hg.): Ju-
93 Vgl. dazu aus polizeilicher Sicht Neumann 1976, bes. S. 29 und 31; Schmidt 1976, S. 37; Gewerkschaft der Polizei, Landesbezirk Hamburg (Hg.) 1991, S. 51–53. 94 Vgl. allgemein dazu Der Spiegel Nr. 39 vom 24.9.1973, S. 84–89; sowie zu Hamburg, wo diese Einheiten in der Bereitschaftspolizei aufgestellt wurden Neumann 1976, S. 29. 95 Vgl. Weinhauer 2003, S. 81; sowie zum Personalausbau der 1970er Jahre Busch u. a. 1988, S. 77 und 80.
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„Unter mir wird alles weich“ – Eine Geschichte des Polizeischlagstocks1 Michael Sturm
Prolog: Ein kurzer Bericht über das Schlagen Im Juni 1990 hatte sich der US-amerikanische Schriftsteller Bill Buford nach Sardinien aufgemacht. In Italien fand zu dieser Zeit die Fußball-WM statt und das Stadion von Cagliari war Austragungsort der Vorrundenbegegnung England gegen die Niederlande. Buford interessierte sich nicht so sehr für das Spiel. Ihm ging es vor allem darum, das Verhalten der wegen ihrer Gewaltbereitschaft berüchtigten britischen Fans zu beobachten. Tatsächlich war es einige Stunden vor dem Beginn der Partie zu blutigen Zusammenstößen zwischen mehreren tausend Engländern und der italienischen Polizei gekommen. Buford hatte sich dabei gleichermaßen fasziniert wie angewidert inmitten der gewalttätigen Menge bewegt und somit die Ausschreitungen hautnah miterlebt. Am späten Nachmittag war es den Einsatzkräften jedoch gelungen einen großen Teil der britischen Fans in die Enge zu treiben. Für Buford und zahlreiche andere gab es kein Entkommen mehr. Die anschließenden, von Polizeibeamten verübten Gewaltexzesse trafen auch den Schriftsteller. In einem Bericht versuchte Buford seine persönlichen Wahrnehmungen und Emotionen während des Geschehens zu beschreiben: „Während sie mich verprügelten, dachte ich darüber nach, wie es war, verprügelt zu werden. […] Hauptsächlich aber dachte ich über den Schmerz nach. Es war anders als alles, was ich bisher erlebt hatte, und ich wollt ihn mir merken. […] Ich wunderte mich über die Intensität des Gefühls, das von den Gesichtern der Polizisten abzulesen war. Es wäre für mich unmöglich gewesen, mich mit ihnen zu verständigen, ihnen irgendetwas mitzuteilen, das stark genug gewesen wäre, um gegen die Kraft ihres Hasses zu bestehen. Ich war kein menschliches Wesen. Ich war irgendein Objekt, ein Ding. Seltsamerweise hielt ich mich selbst für eine Tatsache, für ein Faktum, dem sie wehtun wollten, und ließ ich mich wieder zu Boden fallen, rollte mich zusammen und schützte den Kopf mit den Händen, und der eine Polizist zielte auf
Der Beitrag ist die erweiterte Fassung meines Aufsatzes „‚Der knackt jeden Schädel‘. Überlegungen zur Verwendung des Polizeischlagstocks“, in: WerkstattGeschichte 43 (2006).
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A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6_15, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Michael Sturm meine Niere, der andere auf meinen Kopf und der dritte auf meine Schultern. Ich hatte das Interesse verloren, dieses Erlebnis beschreiben zu wollen.“2
Ortswechsel: Im Juli 2003 mussten sich sechs Beamte der Kölner Polizei vor dem Landgericht wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ verantworten. Die Männer wurden beschuldigt, im Mai 2002 den 31-jährigen Stefan Naisius, der in seiner Wohnung randaliert hatte, bei dessen Festnahme und später auf der Wache mit Fausthieben und Fußtritten traktiert zu haben. Unmittelbar nach den Misshandlungen kollabierte Naisius, ¿el ins Koma und verstarb zwei Wochen später. „Klaps“ und Schlagstock – Annäherungen an das Schlagen So unterschiedlich die Beispiele im Einzelnen auch sein mögen: Beide Ereignisse werfen grundsätzliche Fragen nach den Formen, Grenzen und Entgrenzungen polizeilicher Gewaltausübung auf. Der Bericht von Bill Buford verdeutlicht darüber hinaus die Schwierigkeiten, erlittene oder beobachtete physische Gewalt zu beschreiben. Dem Schriftsteller verschlägt es angesichts der auf ihn einprügelnden Polizisten im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Im Prozess gegen die Kölner Polizisten stellte die Anwältin eines der Angeklagten fest: „Polizeiliche Gewaltausübung ist nun mal nicht schön, sondern brutal. Das liegt in der Natur der Sache“.3 Die Aussage mag skandalös wirken, scheint ihr doch die Vorstellung einer notwendigerweise gewalttätig agierenden Polizei zu Grunde zu liegen. Dennoch drängt sich angesichts regelmäßiger Berichte4 über vermeintlich oder tatsächlich von Polizisten begangene Gewaltexzesse die Frage auf, ob die Feststellung der Anwältin nicht doch eine Facette des polizeilichen Alltags nüchtern und zutreffend beschreibt. Polizeidirektor Udo Behrendes, der nach dem Tod von Naisius die Leitung der Kölner Innenstadtinspektion übernahm, in deren Zuständigkeitsbereich sich der Vorfall ereignet hatte, vertrat die Auffassung, „dass jeder Polizist, der ‚auf der Straße‘ arbeitet, bei selbstkritischer Betrachtung einräumen muss, dass er schon einmal ‚überzogen‘ hat, in welcher Situation und Intensität auch immer. […] Auch ich habe in stressigen Einsätzen durch verbale Provokationen ‚Öl ins Feuer‘ geschüttet und in Widerstandssituationen sicherlich auch den einen oder anderen ‚Schlag zuviel‘ verabreicht“.5 Buford 1992, S. 352 ff. Zitiert nach die tageszeitung vom 26.7.2003. 4 Amnesty International 1993; Amnesty International 2004; Amnesty International 2010. 5 Behrendes 2002, S. 15. 2
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Die Polizei in der Bundesrepublik ist in eine rechtsstaatliche Ordnung eingebunden. Die Bestimmungen der Polizeigesetze und des Strafgesetzbuches sollen das Handeln von Polizisten kalkulierbar machen. Der Einsatz polizeilicher Gewalt darf nicht willkürlich erfolgen und ist an den Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ geknüpft.6 Aus juristischer Perspektive scheinen Ausmaß und Formen der Gewaltanwendung durch die Polizei eindeutig reglementiert zu sein. Dennoch starb Stefan Naisius an den Folgen eines Polizeieinsatzes. Grund genug, sich eingehender mit historischen wie aktuellen Erscheinungsformen und Wahrnehmungen einer ganz bestimmten – nicht ausschließlich polizeilichen – Gewaltpraxis zu beschäftigen: der des Schlagens. Die Ohrfeige, der Faustschlag oder der Hieb mit dem Stock: Die Art und Weise des Zuschlagens ist ebenso variabel wie dessen Intensität, die vom einfachen „Klaps“ bis hin zum exzesshaften Erschlagen reichen kann. Das Schlagen stellt die unmittelbarste und alltäglichste Form physischer Gewalt dar. Diese Feststellung gilt auch für Polizisten. Zum einen geraten Polizeibeamte oftmals in Situationen, in denen ihnen die Anwendung physischer Gewalt unumgänglich erscheint. Zum anderen sind es aber auch Polizeibeamte, die regelmäßig zu Ziel¿guren gewalttätiger Übergriffe werden. Im Zeitraum zwischen 1980 und 2000 wurden in der Bundesrepublik jährlich bis zu acht Beamte im Dienst getötet.7 Dieses Spannungsverhältnis zwischen Schlagen und Geschlagen-Werden, zwischen Aktionsmacht und potentieller Verletzungsoffenheit des eigenen Körpers8 prägt wesentlich die Wahrnehmungen und Verhaltensweisen von Polizisten. Ein auf den ersten Blick simples, aber für die Ausübung unmittelbarer Gewalt sehr funktionales Einsatzmittel ist der Schlagstock, der zudem die Autorität des staatlichen Gewaltmonopols am markantesten symbolisiert. So mangelt es nicht an Darstellungen von Polizei und polizeilichem Handeln, in denen der Schlagstock allgegenwärtig ist. Die jeweils eingenommenen Perspektiven könnten unterschiedlicher jedoch nicht sein. Während der damalige Bundesinnenminister Otto Schily im Februar 2001 beim Besuch einer Bundesgrenzschutzeinheit im brandenburgischen Forst vor Pressefotografen mit Helm und erhobenem Gummiknüppel posierte, um auf diese Weise die Prinzipien der „wehrhaften Demokratie“ zu verdeutlichen, ist es das ständig wiederkehrende Motiv des prügelnden Polizisten, das auf Plakaten politischer Protestbewegungen den „Bullenstaat“ illustrieren soll.9 Die Hannoveraner Band „Hans-A-Plast“ brachte diese Interpretation in einem Songtext aus dem Jahr 1980 musikalisch auf den Punkt: „Ich bin Ordnung, Staatsgewalt / was sich mir in den Weg stellt, mach ich kalt / unter mir Rachor 2001. Feltes 2006, S. 540; vgl. auch den Beitrag von Thomas Ohlemacher in diesem Band. 8 Popitz 1992, S. 43 f. 9 Hks 13 1999.
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wird alles weich / ich mach Deutschland zum Reich / zack zack hau rein / rechts links rechts mir kommts / ich bin ein Polizeiknüppel.“ Nicht zuletzt taucht der „Schlagstock“ immer wieder in den Erzählungen von Polizeibeamten auf, in denen diese ihre Einsätze sowie die damit verknüpften Zumutungen und Erfahrungen beschreiben, verarbeiten oder stilisieren. Empirische Befunde indes sind rar. Im Gegensatz zum polizeilichen Schusswaffengebrauch gibt es in der Bundesrepublik über die Häu¿gkeit und die Auswirkungen polizeilicher Schlagstockeinsätze keinerlei Erhebungen. Bemerkenswert ist ebenso, dass auch in den Texten polizeikritischer Protestbewegungen, der Schlagstock und das polizeiliche Schlagen bislang nur selten ausführlicheren Analysen unterzogen wurden. Hier waren eher andere, vermeintlich spektakulärere „Technologien politischer Unterdrückung“10 von Interesse, wie etwa Hochdruckwasserwerfer, chemische Reizstoffe (CS-Gas) oder die besonders während der 1980er Jahre wiederholt diskutierten Erwägungen, die Polizei in der Bundesrepublik mit Gummigeschossen auszustatten. Der Beitrag nimmt drei Aspekte in den Blick: Erstens versucht er in groben Zügen die Geschichte des Polizeischlagstocks und seiner Verwendung zu skizzieren, wobei sich die Darstellung auf die Entwicklungen in der „alten“ Bundesrepublik konzentriert. Zweitens möchte ich der Frage nachgehen, welche Bedeutung dem Schlagstock als Stilmittel kriegerisch-männlich geprägter polizeilicher Subkulturen zukommt. Drittens geht es um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Emotionen, die mit dem Schlagen und Geschlagen-Werden verbunden sein können. Streifzüge durch die Geschichte des Schlagstocks Der Schlagstock setzte sich als charakteristische Polizeiwaffe und Symbol des staatlichen Gewaltmonopols endgültig erst nach 1945 durch. Die obrigkeitsstaatliche Polizei des Kaiserreichs hatte beim Einschreiten gegen Demonstranten vor allem die unter Protestteilnehmern gefürchteten „Blankwaffen“ wie etwa den Säbel zum Einsatz gebracht.11 Für die Niederschlagung größerer Unruhen stand das Militär als entscheidende innenpolitische Ordnungsmacht bereit. Allerdings galt schon damals vor allem in einer linksliberalen bzw. sozialdemokratischen Öffentlichkeit die Anwendung quasi militärischer Gewalt im Protestgeschehen als „barbarischer Skandal“, der die politische Rückständigkeit des Kaiserreichs handfest dokumentierte.12 Gesundheitsladen Hamburg 1982. Ludwig-Uhland-Institut 1986, S. 127–156. 12 Lindenberger 2003, S. 11. 10 11
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In den Jahren der Weimarer Republik unternahm vor allem das sozialdemokratisch geführte preußische Innenministerium Anstrengungen, die Polizei zu „zivilisieren“. Die Reformbestrebungen verdichteten sich in der Frage, welche Waffen die Polizei im Alltag sowie bei Demonstrationseinsätzen tragen sollte. Bis zum Beginn der 1930er Jahre gehörten „Blankwaffen“ weiterhin zu den polizeilichen Ausrüstungsgegenständen, denen allerdings vorwiegend repräsentative Bedeutung zukam. Säbel und Degen fungierten einerseits als symbolische Manifestationen militärischer Hierarchien, die innerhalb der Polizei weiterhin wirkungsmächtig waren. Andererseits brachten zahlreiche Beamte indem sie die Waffen demonstrativ in der Öffentlichkeit mitführten, ihre weiterhin existierenden Ansprüche auf besondere gesellschaftliche Anerkennung zum Ausdruck. In Preußen wurden seit 1924 die Polizeidienststellen für den Einsatz „auf der Straße“ mit Gummiknüppeln ausgestattet.13 Das Preußische Innenministerium erhoffte sich von dieser Maßnahme die Auswirkungen polizeilicher Gewaltanwendung zu minimieren. Die Beurteilung des Schlagstocks durch Polizei selbst ¿el jedoch ambivalent aus. Während das „Waffentechnische Unterrichtsbuch für den Polizeibeamten“ vermerkte: „Besonders beim Einsatz geschlossener Verbände ¿ndet der Polizeischläger in der vordersten Linie vorteilhaft Verwendung“,14 schätzten zahlreiche „Praktiker“ dessen Einsatzwert als eher gering ein. Die ultima ratio für die Bewältigung von Unruhen stellte weiterhin die Schusswaffe dar. Dementsprechend vertraten einzelne Polizeiführer in aller Offenheit die Auffassung im Falle gewalttätiger Auseinandersetzungen eher früher als später den Schießbefehl zu erteilen und „mit dem Einsatz von Schusswaffen nicht allzu zurückhaltend“ zu sein.15 Das Selbstverständnis und die Leitbilder der Institution Polizei während der Weimarer Republik erwiesen sich demnach als wenig kohärent. Einerseits gab es zweifellos Tendenzen zu einer Entmilitarisierung. Andererseits blieben vor dem Hintergrund der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen am Beginn der 1920er und in den frühen 1930er Jahren militärische Handlungsoptionen in den Einsatztaktiken sowie im Selbstverständnis zahlreicher Polizeiführer unübersehbar. An diese strukturellen und mentalen Dispositionen konnten die Nationalsozialisten nahtlos anknüpfen, als sie unmittelbar nach der Machtübernahme im Januar 1933 daran gingen, die bestehenden Polizeikonzepte zu beseitigen. Schon bald setzte sowohl im Bezug auf die Ausbildungsinhalte als auch in organisatorischer Hinsicht ein gezielter Militarisierungsprozess der deutschen Polizei ein. Nationalsozialistische Polizeitheoretiker beabsichtigten die Trennungslinien zwischen Polizei und Armee vollständig aufzulösen. Zum neuen polizeilichen Ministerialblatt 1924, S. 772 f. Schmitt 1927, S. 19. 15 Fendel-Sartorius 1924, S. 410. 13 14
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Leitbild avancierte, zumal seit Beginn des Zweiten Weltkrieges der Typ des „Polizei-Soldaten“.16 Das „Jahrbuch der deutschen Polizei“ resümierte bereits im Jahr 1936 unter der Überschrift „Soldatentum in der neuen Polizei“ mit großer Befriedigung: „Im nationalsozialistischen Staat braucht der Polizeibeamte, um seine Autorität zu beweisen, keinen Gummiknüppel. Dafür aber gab man ihm die moralischen Grundlagen einer solchen Autorität, seine Soldatenehre wieder. Disziplin und Manneszucht, alles was das vergangene System als zu militärisch beseitigt hatte, sollten das ‚Knüppelregiment‘ ersetzen. Der Polizeiof¿zier erhielt den Degen wieder, der Wachtmeister das Seitengewehr, geschlossene Einheiten durften als äußeres Zeichen der Wandlung wieder Fahnen mit sich führen, die Polizei […] durfte die Orden und Ehrenzeichen, an der Front des Weltkrieges erworben wieder zur Dienstuniform tragen. An die Stelle parlamentarischer Gebräuche traten militärische Vorschriften, die das Dienstverhältnis zwischen Of¿zier und Beamten klar und eindeutig regelten.“17
Der Gummiknüppel galt als Symbol der demokratischen „Systemzeit“. Das Reichsinnenministerium untersagte bereits im Juli 1933 das Tragen von Schlagstöcken im Straßendienst. Im Jahr 1935 wies das Reichsinnenministerium schließlich sämtliche Polizeidienststellen an, die noch vorhandenen Gummiknüppel an die polizeiliche Materialverwaltung in Berlin-Treptow einzusenden. Ebenso wurden die Gemeindepolizeibehörden aufgefordert, die Gummiknüppel einzuziehen und der Altgummiverwertung zu zuführen. Die Maßnahmen verdeutlichten die Abkehr vom polizeilichen Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Zeit des Nationalsozialismus In den „Grundsätzen für die Polizei“ hieß es: „Tiefe symbolische Bedeutung hatte es daher, als der Polizeibeamte den Polizeiknüppel ablegen durfte: Nicht Schlagen ist Art des deutschen Mannes, sondern wenn es sein muss, Kämpfen. […] Wer sich gegen Führer, Volk und Vaterland stellt, den trifft die Waffe, dann aber auch bis zur Vernichtung.“18 Ein weiterer Aspekt mag die Tatsache gewesen sein, dass nach der schnellen Konsolidierung des NS-Regimes schlechterdings keine größeren Demonstrationen oder sonstige Protestaktionen mehr stattfanden, die ein polizeiliches Einschreiten erforderlich gemacht hätten. Es bedarf keiner näheren Erläuterungen, dass die Abschaffung des Schlagstocks keineswegs das Ende physischer Gewaltausübung bedeutete. Ob in den Konzentrationslagern oder bei der Gestapo: Allenthalben wurde Ge- und Erschlagen. Sei es durch den Einsatz der Fäuste, sei es unter Verwendung von Hilfsmitteln wie der Stahlrute, die zu den polizeilichen AusrüstungsgegenstänKenkmann/Spieker 2001, S. 30. Koschorke 1936, S. 33. 18 Der Deutsche Polizeibeamte 1935, S. 363. 16 17
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den gehörte. Besonders für die Zeit des Nationalsozialismus hat Alf Lüdtke auf die Bedeutung von Schlägen als „Teil eines alltäglichen Prozesses der Ausgrenzung“ hingewiesen: „Für die Angehörigen des Staatsapparates, zumal die Polizisten scheint diese Gewalt nicht Vorstufe, sondern kalkulierter Teil der physischen Ausgrenzung und dann der Ermordung gewesen zu sein – eine Bedeutung die bystanders wohl hinnahmen, sofern sie ihnen dämmerte. Für die Geschlagenen waren die Hiebe und Schläge hingegen Tortur, zugleich alltäglich und außeralltäglich. In jedem Fall bedeutete sie eine ebenso konstante wie peinigende Todesdrohung.“19
Das Ende des NS-Regimes hatte in mehrfacher Hinsicht Konsequenzen für die deutsche Polizei. Deren Selbstverständnis und Praktiken standen den britischamerikanischen Vorstellungen einer entmilitarisierten „Bürgerpolizei“ diametral entgegen. Die vorläu¿ge Etablierung angelsächsischer und amerikanischer Polizeikonzepte durch die alliierten Militärverwaltungen in den westlichen Besatzungszonen bedeutete daher einen grundlegenden Bruch mit dem traditionellen deutschen Polizeisystem. Für Unmut in Polizeikreisen sorgte die von den Alliierten zunächst betriebene Entwaffnung der Beamten. Die Ausstattung mit Schusswaffen wurde untersagt oder streng reglementiert. Stattdessen führten die Besatzungsmächte den im Nationalsozialismus abgeschafften Schlagstock wieder ein. Die in der britischen Zone ausgegebenen Holzknüppel stießen jedoch bei deutschen Polizisten oftmals auf Ablehnung. So beschwerte sich etwa die Oldenburger Polizei im Jahr 1950: „Beim Gebrauch des Holzknüppels bricht dieser in 9 von 10 Fällen ab, so dass der Beamte dann schutzlos ist, wenn er nicht mit einer Schusswaffe ausgerüstet ist.“20 Seit Beginn der 1950er Jahre knüpfte die Polizei in der Bundesrepublik wieder an die Ausbildungs- und Ausrüstungsstandards der Weimarer Zeit an. Im Zentrum polizeilicher Bedrohungsanalysen bis zur Mitte der 1960er Jahre stand der durch bewaffnete Umsturzversuche hervorgerufene staatliche Ausnahmezustand. Die seit 1951 in allen Bundesländern aufgestellten Bereitschaftspolizeien wiesen paramilitärische Züge auf. Die Einheiten wurden in der Bandenbekämpfung geschult und verfügten über Karabiner, Maschinengewehre und Granatwerfer.21 Im Demonstrationsgeschehen der frühen Bundesrepublik kam es jedoch nur vereinzelt zu Gewalteskalationen, die sich mit den Vorfällen während der 1920er und 1930er Jahre vergleichen lassen. Der polizeiliche Schusswaffengebrauch bei Protestereignissen stellte eine große Ausnahme dar. Lüdtke 2003, S. 35–52. Zitiert nach Haunschild 1986, S. 13. 21 Werkentin 1984.
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Obgleich die Polizei im Falle von Auseinandersetzungen fast ausschließlich den Gummiknüppel gebrauchte, verschwand der Karabiner nicht vollständig aus dem Protestgeschehen der 1950er Jahre. Im Verlauf gewalttätiger Ausschreitungen während des „Münchner Ladenschlusskrieges“ in den Jahren 1953/1954 traten etwa Polizeieinheiten in Erscheinung, die mit Wehrmachtsstahlhelmen und Karabinern ausgestattet waren.22 Letztere galten für die Umsetzung polizeilicher Maßnahmen vor allem aufgrund ihrer psychologischen Wirkung als besonders ef¿zient. Ein von der Bayerischen Bereitschaftspolizei vorgelegter Erfahrungsbericht über einen Demonstrationseinsatz im Juni 1953 konstatierte befriedigt: „Die Mitnahme des Karabiners hat sich als zweckmäßig erwiesen, da dadurch eine gewisse moralische Wirkung ausgelöst wurde. Außerdem hat er sich beim Räumen gut bewährt. Überall, wo mit Karabiner geräumt wurde, ging die Räumung Àott und zügig vonstatten, da mit dem Karabiner gedrückt und erforderlicherweise gestoßen werden konnte.“23 Allerdings wurde mit den Karabinern nicht nur „gedrückt“ oder „gestoßen“, sondern bisweilen auch kraftvoll zugeschlagen. Die Karabiner enthielten ein doppeltes Drohpotential: einerseits die realen physischen Gefahren, die von den Schlägen mit dem Gewehrkolben ausgingen, andererseits enthielt ihr Gebrauch immer auch die Option, den polizeilichen Gewalteinsatz zu verschärfen. Die „Schwabinger Krawalle“ im Juni 196224 sowie die „Beatkrawalle“ der Jahre 1965/6625 verdeutlichten jedoch, dass die auf die Bewältigung von Bürgerkriegsszenarien ¿xierten polizeilichen Einsatztaktiken und Ausrüstungsstandards der Wirklichkeit in der Bundesrepublik nicht entsprachen. Mehrere gleichzeitig verlaufende Entwicklungen führten so zu einer Umrüstung der Polizei. Hier spielten die Erfahrungen mit den Demonstrationen und Aktionsformen der 68er-Bewegung eine Rolle, bei denen es zwar zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen war, die jedoch kaum als Umsturzversuche „bewaffneter Banden“ bezeichnet werden konnten. Auf administrativer Ebene leiteten die Notstandsgesetze im Jahr 1968 eine strukturelle Entmilitarisierung der Polizei ein. Die Gesetze, die seither in Krisenfällen den Einsatz der Bundeswehr im Landesinneren ermöglichen, führten zu einem Funktionswandel der Bereitschaftspolizeien und des Bundesgrenzschutzes (BGS), die ihre Bedeutung als potentielle „Bürgerkriegsarmeen“ verloren. Die militärischen Waffen verschwanden allmählich aus den Arsenalen der Fürmetz 2002. I. Polizeiabteilung an das Landesamt für die Bayerische Bereitschaftspolizei, Erfahrungsbericht anlässlich des Einsatzes der I. Polizeiabteilung in München am 20.6.1953 (24.6.1953); BayHStA Präsidium der Bereitschaftspolizei 6. 24 Fürmetz 2006. 25 Kleinknecht/Sturm 2004. 22 23
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Polizei.26 Gleichzeitig setzten Diskussionen über die Ausstattung der Polizei mit nicht-tödlichen Zwangsmitteln ein. Die für die späten 1960er beziehungsweise frühen 1970er Jahre charakteristische Reformeuphorie sowie die Vorstellungen von technischer „Machbarkeit“27 zeigten sich auch im Bereich der Polizeibewaffnung. Während etwa das Bayerische Landeskriminalamt der Frage nachging, ob eine in Finnland entwickelte „Krawallabwehranlage auf Basis von Schaumerzeugung“28 für den Einsatz geeignet sei, erwog man im Polizeipräsidium München, unfriedliche Versammlungen durch gleißendes Licht und unerträgliche Schalleffekte zu zerstreuen.29 Aber auch den Schlagstock bezogen Polizeitechniker in ihre Überlegungen mit ein. Zum Beispiel testete die Bereitschaftspolizei in Nordrhein-Westfalen Modelle, die es ermöglichen sollten, Elektroschocks auszuteilen.30 Allerdings kamen weder die Licht- und Schallkanonen der Münchner Polizei noch die „Krawallabwehranlage“ jemals über Versuchsstadien hinaus. Ähnliches galt für die technisch nachgerüsteten Schlagstöcke. Dennoch änderte die Polizei ihr Erscheinungsbild erheblich. Wehrmachtsstahlhelme und der Tschako verschwanden zugunsten neuartiger Kunststoffhelme mit Plexiglas-Visieren. Zusätzlich erhielten vor allem die Angehörigen der Bereitschaftspolizeien Schilder, die Schutz vor Wurfgeschossen bieten sollten. Der „klassische“ Gummiknüppel wurde um härtere und längere, meist aus Holz oder Hartplastik gefertigte Schlagstöcke ergänzt. Die Entmilitarisierung der Polizeiverbände seit dem Ende der 1960er Jahre war auch Ausdruck eines neuen hegemonialen Leitbildes, das die Polizei als einen integralen Bestandteil des expandierenden Sozialstaates de¿nierte.31 Polizeiliches Einschreiten sollte präventiv und weniger repressiv erfolgen, die Anwendung physischer Gewalt bei Demonstrationseinsätzen minimiert werden. Die Reformeuphorie innerhalb der Polizei verlor jedoch angesichts der Anschläge der RAF und des Geiseldramas während der Olympischen Spiele im September 1972 in München an Elan. Nun wurde wieder die Frage nach Bedeutung und Notwendigkeit des „‚Militärischen‘ im polizeilichen Handeln“ intensiver diskutiert.32 Zudem kam es gerade bei Protesten der 1970er Jahre zu heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrationsteilnehmern, die die Bereitschaft zu Busch u. a. 1988, S. 188. Metzler 2003. 28 Bayerisches Landeskriminalamt an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 19.12.1973; BayHStA MInn 92372. 29 Schreiber 1965, S. 73. 30 Protokoll über die 2. Tagung der Unterkommission „Polizeiliche Einsatzmittel“ der Ständigen Konferenz der Innenminister vom 9./10.6.1970; BayHStA MInn 92372. 31 Weinhauer 2003, S. 344. 32 Lüdtke 1980; Lüdtke 1981; Weinhauer 2006, S. 250. 26 27
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kommunikativen Formen der KonÀiktbewältigung nicht gerade förderten. Schauplätze für Konfrontationen gab es viele: der „Frankfurter Häuserkampf“33 in den Jahren 1971–1974, die Auseinandersetzungen um das besetzte Haus in der Hamburger Ekhofstraße im Jahr 1973 sowie die Proteste gegen die Kernkraftwerke in Brokdorf, Grohnde oder Kalkar.34 Eine zunehmende Zahl von Aktivisten nahm dabei gewalttätige Konfrontationen mit der Polizei in Kauf. Bisweilen zeigten sich „auf beiden Seiten der Barrikaden“ bemerkenswerte Übereinstimmungen hinsichtlich der Ausrüstungsgegenstände. Helme und Schlagstöcke waren nicht nur bei den Polizeieinheiten, sondern auch in den Reihen der Demonstranten zu ¿nden. Zudem schienen sich die Aktionsmuster anzugleichen. Während das Auftreten von K-Gruppen in den 1970er Jahren oder der „Schwarze Block“ der Autonomen seit Beginn der 1980er Jahre gewisse Ähnlichkeiten zum Erscheinungsbild geschlossener Polizeiverbände erkennen ließen, übernahm die Polizei partiell die ursprünglich für Demonstranten typische Organisationsform dezentraler Kleingruppen. Obschon nur etwa fünf Prozent aller Demonstrationen „unfriedlich“ verliefen,35 nahm die Angst, bei Protesten Opfer polizeilicher Gewalt zu werden, zu. Diese Ängste speisten sich aus Eindrücken, die eng mit eigenen oder erzählten Gewalterfahrungen, zumindest aber mit den Inszenierungspraktiken staatlicher Gewaltpotentiale verknüpft waren. Allein der Anblick sowie die sinnliche Wahrnehmung der polizeilichen Einsatzmittel konnten Bedrohungsgefühle auslösen. Das Auftreten martialischer Polizeieinheiten, der Einsatz monströser Hochdruckwasserwerfer oder der Lärm landender Hubschrauber des BGS entlang der Zäune von Grohnde oder Brokdorf riefen bei Beobachtern oftmals Kriegsassoziationen hervor.36 Den seit 1968 vorgenommenen Reformen folgten weitere Umbrüche in den 1980er Jahren. Während dieser Zeit Àammten erneut Diskussionen über polizeiliche Leitbilder und Einsatzphilosophien auf. Große Bedeutung kam hier dem „Brokdorf-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1985 zu. Das Gericht betonte den Grundrechtscharakter der Versammlungsfreiheit. Die Beteiligung von „Störern“ an einer Versammlung könne nur bedingt polizeiliches Einschreiten gegen alle Demonstrierenden rechtfertigen. Aufgabe der Polizei sei es, „Störer“ zu isolieren und gegebenenfalls festzunehmen.37 Die vom Bundesverfassungsgericht erhobene Forderung nach gezieltem Eingreifen stellte neue Ansprüche im Hinblick auf Taktik und Ausrüstung der Beamten. Bis dahin hatKraushaar 2001, S. 38–79. Redaktion Atom Express 1997. 35 Brand 1989, S. 181. 36 Zint 1981. 37 Winter 1998, S. 197 f. 33
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ten die relativ statischen Einsatztaktiken zwar oftmals zu hohen Festnahmezahlen geführt, die daraus resultierenden rechtskräftigen Verurteilungen ¿elen aber vergleichsweise gering aus. Zudem wurden mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Vorgehensweisen der Polizeikräfte als rücksichtslos kritisiert. Seit Ende der 1980er Jahre riefen daher nahezu alle Bundesländer sowie der BGS „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“ (BFE) ins Leben38. Diese besonders geschulten Einheiten sollten sich künftig an den im Brokdorf-Urteil genannten „Geboten“ orientieren und ein schnelles Einschreiten gegen „Störer“ ermöglichen. Die Ambivalenz der neuen Einsatzkonzepte, das Bemühen um „Deeskalation“ einerseits, die Androhung massiver Härte gegen „Störer“ andererseits, spiegelte sich in einem neuartigen Schlagstockmodell, dem Tonfa, wider, mit dem seit Mitte der 1980er Jahre zunächst die polizeilichen Spezialeinheiten ausgestattet wurden. Um die mit den Begriffen „Schlagstock“ und „Knüppel“ verknüpften Assoziationen zu vermeiden, erhielt der ursprünglich aus dem Fernen Osten stammende Ausrüstungsgegenstand die Bezeichnung „Mehrzweckeinsatzstock“ (MES). Der ca. 61 cm lange Stock aus Hartplastik verfügt auf einem Viertel der Länge über einen 14 cm langen Griff. Im Gegensatz zu konventionellen Schlagstöcken, mit denen der Polizist im Grunde „nur“ schlagen konnte, erlaubt der MES Àexible Anwendungen. So kann der Stock wie eine Schiene am Unterarm mitgeführt werden. Diese Trageweise ist unauffällig und erscheint kaum bedrohlich. Zudem können mit Hilfe des durch den MES verstärkten Unterarms Schläge oder Wurfgeschosse abgewehrt werden. Polizeitechniker betonten bei öffentlichen Präsentationen des Schlagstocks vor allem dessen defensive Eigenschaften. In einem Trainingshandbuch heißt es entsprechend: „Seine Handhabung basiert weitestgehend auf Techniken, die aus dem Bereich Selbstverteidigung/Ju-Jutsu stammen.“39 An gleicher Stelle heißt es jedoch auch: „Der MES ist, eine fundierte Ausbildung vorausgesetzt, eine sehr wirksame Waffe.“ Tatsächlich bedeutete die Einführung des MES eine Verschärfung des Gewaltpotentials. Der Stock erlaubt über den seitlich angebrachten Griff Drehschläge, die mit ungemein größerer Wucht ausgeführt werden können als Schläge mit einem normalen Knüppel. Ein Vertreter der Polizeigewerkschaft GdP konstatierte demnach: „Wenn der Stock bei Dreh- und Schleuderbewegungen einen Kopf trifft, dann knackt er jeden Schädel.“40 In der Bundesrepublik waren derartige schwere oder gar tödliche Verletzungen bislang nicht zu verzeichnen. Die Option, den potentiell tödlichen Schlag zu führen oder zumindest anzudrohen, bleibt aber trotzdem bestehen. Sturm/Ellinghaus 2002. Wedding/Claussen 1997, S. 9. 40 Zitiert nach Der Spiegel 43/1990. 38 39
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Polizeischlagstock und „Cop Culture“ Eine Geschichte des Schlagstocks kann jedoch nicht auf die Beschreibung seiner jeweiligen Verwendung im Rahmen sich wandelnder polizeilicher Einsatztaktiken beschränkt bleiben. Neben seiner „praktischen“ Funktion sind dem Ausrüstungsgegenstand offenkundig auch kulturelle oder subkulturelle Bedeutungsebenen eingeschrieben. Vor allem Rafael Behr hat in seinen Arbeiten über den „Alltag des Gewaltmonopols“ auf die Existenz polizeispezi¿scher Subkulturen aufmerksam gemacht. Diese oftmals von den Leitbildern einer „von oben“ postulierten of¿ziösen Polizeikultur abweichende „Cop Culture“ entsteht und reproduziert sich im alltäglichen Dienst der Polizeibeamten. In ihr kommen die durch Einsatzerfahrungen geprägten Wahrnehmungsmuster und Ressentiments zum Ausdruck, die Selbstverständnis, Habitus und Handeln der Polizisten mitbestimmen. Innerhalb polizeilicher Subkulturen sind kämpferisch aufgeladene Männlichkeitsvorstellungen weit verbreitet.41 Subkulturen bedürfen jedoch ihrer Stilmittel. Der Schlagstock könnte ein solches sein. Diese Annahme scheint mir vor allem im Hinblick auf die Angehörigen der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten zuzutreffen. Im Zentrum der Erwartungshaltungen, die viele BFE-Beamte vor oder während ihrer Einsätze entwickeln, steht der Wille, sich in der Konfrontation zu bewähren. Die „hohe Motivation“, die diesen Polizisten regelmäßig bescheinigt wird, ist demnach nicht nur auf die Durchsetzung bestimmter polizeilicher Ziele hin ausgerichtet, vielmehr resultiert sie auch aus persönlichen oder gruppenspezi¿schen Be¿ndlichkeiten. Gewalttätige Konfrontationen mit Demonstranten oder Hooligans bieten die Gelegenheit, die kriegerisch-männlichen Selbstentwürfe auszuleben und sich der Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers zu vergewissern.42 Die Selbstbilder der Beamten sind aber nicht nur vom Vertrauen auf die eigene Aktionsmacht geprägt, sondern auch von dem Bewusstsein, dass sich ihr Körper gleichzeitig als verletzlich erweisen kann. Im Verlauf gewalttätiger Konfrontationen liegen diese Wahrnehmungen eng beieinander. Diese emotionale Gemengelage, das Wechselspiel der Gefühle im Moment der unmittelbaren physischen Auseinandersetzung ¿ndet sich etwa in der Schilderung eines Beamten des Spezialeinsatzkommandos (SEK), der von seinen Erlebnissen während eines Einsatzes am Rande einer Demonstration gegen das AKW Brokdorf im Juni 1986 erzählt: „Wir befanden uns direkt in der Flanke der Chaoten. Die waren aber nur kurz überrascht – und dann ging’s los. Die ersten Murmeln klatschten gegen Schutzschilde und -helme, es gab die ersten Verletzten. Als wir dann unmittelbar auf die Chaoten 41 42
Behr 2000. Behr 2000.
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trafen, war ein geschlossenes Vorgehen nicht mehr möglich. Der Kampf Mann gegen Mann löste die Polizeikette ab. Weitere Verletzte – einige offenbar schwer. An Festnahmen war nicht zu denken: wir mussten echt ums Überleben kämpfen. Einmal dachte ich, jetzt ist’s aus – aber irgendwie haben wir die Störer immer wieder zurückdrängen können. Als dann endlich Einsatzkräfte eintrafen, die uns unterstützten, dachte ich, wir hätten hier stundenlang gekämpft.“43
Die Praktiken, mit denen sich die Beamten zu polizeilichen „Kämpfern“ stilisieren oder zu solchen stilisiert werden, greifen auf mythische Bilder vom vormodernen Krieger ebenso zurück, wie auf futuristisch geprägte Vorstellungen vom Cyborg. Während sich etwa Angehörige des Unterstützungskommandos, einer für Einsätze gegen gewalttätige Fußballfans oder Demonstranten ausgebildeten Einheit der bayerischen Polizei, am Tag der Offenen Tür des Polizeipräsidiums München im Juli 2003 in mittelalterlichen Rüstungen und mit Schwertern bewaffnet präsentierten,44 veröffentlichte die Thüringer Allgemeine anlässlich der Fußball-WM 2006 ein Poster, auf dem ein behelmter, gepanzerter, vermummter und mit Tonfa ausgestatteter Beamter unter der Überschrift: „Gladiatoren gegen Hooligans“ abgebildet war. Ein erläuternder Text ergänzte: „Erinnerungen an Star Wars“.45 Der Helm, der Einsatzanzug, die Schutzweste, oftmals auch die Motorradmaske, die dem Beamten ähnlich wie dem autonomen Straßenkämpfer einen „Nimbus der Militanz“46 verleiht – all diese Utensilien weisen demnach über ihre funktionalen Bestimmungen hinaus. Sie stellen Requisiten dar, die den kampfbereiten Körper inszenieren.47 Diese Praktiken sind jedoch ambivalent. Mit dem Anlegen der schweren Schutzausrüstung schlüpfen die Beamten einerseits zwar in die Rolle des „gepanzerten Kriegers“, zugleich erinnert aber genau jener „Panzer“ die Polizisten ständig an die Verletzbarkeit ihrer Körper. Zentrale Bedeutung kommt der Waffe zu. Sie ist Werkzeug der eigenen Aktionsmacht, wie auch ein Gegenstand, mit dem der „Kämpfer“ seinen Körper in konfrontativen Situationen schützen kann. Der offen zur Schau gestellte Schlagstock trägt entscheidend zur martialischen Selbstdarstellung bei. Er wirkt bedrohlich auf das Publikum. Gleichzeitig reproduziert und festigt diese Art des Auftretens das kämpferische Selbstbild der Polizeibeamten. Angehörige der für ihr hartes Vorgehen berüchtigten, während der 1980er Jahre existierenden Berliner „Einsatzbereitschaft für besondere Lagen und Einsatzbezogenes Training“ (EbLT) trieben die martialischen Inszenierungen auf Zitiert nach: Fuy 1986, S. 21. Hartenberger/Ruch 2003. 45 Thüringer Allgemeine vom 16.6.2006. 46 Paris 1998, S. 90–110. 47 Such 1988, S. 77 f. 43
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die Spitze. Während ihrer Einsätze anlässlich der Proteste gegen die geplante atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf im Herbst 1987 bewaffneten sich einige der Beamten mit zwei Schlagstöcken, von denen die Polizisten einen, sichtbar für das Publikum, am Schienbein befestigten.48 Zudem entwickelte sich innerhalb der EbLT ein regelrechter Gewaltkult. Einige Mitglieder der Einheit dekorierten ihre Diensträume mit Gegenständen, die sie Demonstrationsteilnehmern abgenommen hatten. Beamte einer anderen, der EbLT ähnlichen Einsatzbereitschaft der Berliner Polizei entwarfen, ebenfalls nach einem Einsatz in Wackersdorf, T-Shirts, auf denen unter dem Slogan „Veni, vedi [sic !], vici“ der Berliner Bär ausgestattet mit Schild und erhobenem Schlagstock abgebildet war.49 Traten die genannten Berliner Einsatzbereitschaften noch mit konventionellen Schlagstöcken in Erscheinung, wurden andere BFEs mit Tonfas ausgestattet. Der Ausrüstungsgegenstand verdeutlichte den exklusiven Charakter der Einheiten, blieb er doch zunächst diesen Formationen vorbehalten. Das Führen des MES erfordert Fähigkeiten, ähnlich wie in früheren Zeiten das Schwert, über die „gewöhnliche“ Beamte offenkundig nicht verfügen. Mit dem MES scheint der Schlagstock gewissermaßen die Schmuddelecke des Archaischen verlassen zu haben. Zu vermuten ist, dass das intensive Training mit dem Stock und dessen „gekonnte“ Verwendung im Einsatz die Herausbildung einer kriegerisch-männlichen „Cop Culture“ fördert und entsprechende Handlungsmuster evoziert: „Wie jedes technische Artefakt prägt auch die Waffe ihren Gebrauch vor und bestimmt dadurch die Tat. […] Die Waffe trägt auch Bedeutungen, sie hat Kulturwert. Sie ist inkorporierte Gewalt und symbolische Gewalt in einem. Die Waffe demonstriert Macht und Stärke. Sie ermutigt ihren Besitzer und schüchtert den Gegner ein.“50 Zu fragen bleibt, ob und inwieweit diese Vermutungen, die zunächst nur einem fest umrissenen Personenkreis – den Angehörigen der BFEs – gewidmet waren, auf andere polizeiliche Akteure zu übertragen sind. Der ehemalige Leiter der Berliner Schutzpolizei, Gernort Piestert wies indes bereits vor einigen Jahren auf den seiner Meinung nach nicht zu unterschätzenden EinÀuss der Bewaffnung auf die Psyche der Beamten hin. Im Hinblick auf eine künftige standardmäßige Ausstattung der geschlossenen Polizeieinheiten Berlins mit dem MES betonte er: „Mit dem Mehrzweckstock kann aus dem gewollten Gefühl der Überlegenheit leicht ein Gefühl von Macht entstehen, das sich negativ auswirken kann. Eine äußere Aufrüstung führt auch zu einer inneren.51 Insgesamt scheint jedoch Lohmeyer/Streußloff 1988, S. 79, 202. CILIP 1988. 50 Sofsky 1996, S. 29. 51 Zitiert in: die tageszeitung vom 13.8.2004. 48 49
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der Schlagstock in jüngster Zeit an Bedeutung eingebüßt zu haben. Stattdessen greifen Polizeibeamte verstärkt auf Pfefferspray oder die eigenen Fäuste zurück. „… die schlagen doch den Mann tot“ – Die Sinnlichkeit des Schlagens Der Schlagstock repräsentiert die Potentiale staatlicher Verletzungs- und Tötungsmacht in ihrer unmittelbarsten Form. Diese Feststellung bedeutet keineswegs die drastischeren physischen Auswirkungen anderer (polizeilicher) Waffen zu bagatellisieren. Ein 9 mm-Hohlspitzgeschoss, abgefeuert aus einer Polizeipistole, verursacht in der Regel schwerere Verletzungen als ein Hieb mit dem Stock. Ebenso lässt sich einwenden, dass die Entwicklung der Polizeibewaffnung mit Ausnahme der Zeit des Nationalsozialismus von den Versuchen geprägt war, den Einsatz physischer Gewalt zu minimieren. Dennoch erscheint es angebracht, die physikalischen und medizinischen Erkenntnisse über die Wirkungsweisen polizeilicher Einsatzmittel um einen Aspekt zu ergänzen, der „quer“ zu diesen Befunden liegt. Ich meine die Emotionen, die die Ausübung unmittelbarer physischer Gewalt bei Tätern, Opfern und Zuschauern hervorruft. So enthält das Schlagen in den Wahrnehmungen des Geschlagenen, wie auch bei denjenigen, die das Schlagen beobachten, immer die Angst vor der Hemmungslosigkeit des Schlagenden. Die Dauer der Prozedur und Intensität der Hiebe sind für das Opfer kaum einzuschätzen: „Die Schläge wurden so lange fortgesetzt, dass ich glaubte, die Polizisten würden schließlich vor Erschöpfung aufhören müssen. Aber sie ließen nicht nach, und nach einer Weile verschmolzen die einzelnen Schläge miteinander und wurden zu einem einzigen fürchterlichen krachenden Geräusch. […] Dann wollte ich nur noch, dass dieses Erlebnis aufhörte. Aber es hörte nicht auf. Ich weiß nicht, wie lange es noch so weiterging. Ich wusste nicht, was als nächstes passierte. […] Meine nächste Erinnerung ist, dass es endlich aufhörte. Es war vorüber.“52
Bufords Schilderungen seiner Gewalterfahrungen während der Fußball-WM 1990 verdeutlichen zum einen, wie unter den Schlägen die Fähigkeiten des Geschlagenen, sich innerhalb einer Zeitstruktur zu orientieren regelrecht zerbrechen. Zum anderen führt die Feststellung, die Verfügungsmacht über den eigenen Körper an die schlagenden Polizisten verloren zu haben, die ohne weiteres den womöglich den tödlichen Hieb ausführen könnten,53 zu Gefühlen absoluter Ohnmacht und HilÀosigkeit. 52 53
Buford 1992, S. 353 f. Lindenberger/Lüdtke 1995, S. 7–38.
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Diese Erfahrung der Übermächtigung, die jedoch nicht notwendigerweise an tatsächlich erlittene Verletzungen geknüpft sein muss, zieht sich durch zahllose Erzählungen, in denen vom Schlagen die Rede ist. Etwa in einem Erlebnisbericht des ehemaligen Leiters des Münchner Jugendamtes Kurt Seelmann, der während der „Schwabinger Krawalle“ im Juni 1962 Opfer polizeilicher Übergriffe geworden war: „Ich habe mir nie vorher klar gemacht, wie entsetzlich entwürdigend es ist, von einer bewaffneten Gruppe gejagt zu werden. […] Es ist schon sehr aufregend, sich unschuldig, hilÀos, bewaffneten Treibern ausgeliefert zu sehen. […] Dieses ‚Ausgeliefert-sein‘ und die Emp¿ndungen dabei waren schmerzhafter als die empfangenen Schläge“.54
Existentielle Bedrohungsgefühle werden nicht nur durch den Anblick des Schlagstocks, die Ungewissheit über die Dauer der Tortur, körperliche Schmerzen oder zugefügte Verletzungen hervorgerufen, sondern auch durch die dumpfen Geräusche, die entstehen, sobald der Schlagstock den Körper des Geschlagenen trifft. Das Schlagen stellt demnach eine äußerst sinnliche Erfahrung dar.55 Die damit verknüpften Ängste werden bereits antizipiert, etwa wenn Polizisten bei Demonstrationseinsätzen kollektiv in einheitlichem Rhythmus mit Schlagstöcken auf ihre Schilder trommeln. Kampfbereitschaft und Entschlossenheit kommen hier ebenso zum Ausdruck wie Unsicherheiten und Ängste vor möglichen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Praxis, durch kollektives Trommeln die Waffe zu inszenieren, ihre Präsenz auch akustisch ins Bewusstsein zu rufen, ist nicht nur als Drohung zu verstehen, sondern stellt angesichts der angenommenen Bedrohung einen Versuch dar, Gefühle von Gemeinschaft und Selbstvergewisserung herzustellen; eine Beobachtung, die wiederum für beide Seiten gilt und zu nahezu identischen Handlungsmustern führen kann. So berichtet ein Augenzeuge über ähnliche Gewaltinszenierungen bei Polizei und Hausbesetzern in Berlin im September 1981: „Mit ihren Helmen und Schildern und Schlagstöcken sahen sie [die Polizisten, MS] aus wie die alten Römer bei einer Feldschlacht. Sie haben dann langsam und gleichmäßig mit ihren Knüppeln auf die Schilde getrommelt: tack, tack. Und von der anderen Seite her sind die Demonstranten gekommen, auch in mehreren Reihen. Und die hatten PÀastersteine in den Händen und haben die aneinander geschlagen: tack, tack, tack. Aus einem der Häuser tönte laute Rock- und Punk-Musik. Und fast automatisch sind die Polizisten in den Takt der Musik verfallen und haben im Rhythmus 54 55
Seelmann 1962. Vgl. von Trotha 1997, S. 26.
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ihre Knüppel auf die Schilde gehauen. Und die Demonstranten sind auch in den Takt eingefallen und haben im selben Rhythmus ihre Steine aneinander gehauen. Das war, als würden zwei feindliche Heere aufeinander zumarschieren.“56
Die Ängste, ge- oder erschlagen zu werden, resultieren nicht nur aus eigenen körperlichen Erfahrungen. Es bedarf lediglich entsprechender Drohungen, dass etwas passieren könnte.57 Demnach entstehen existentielle Ängste bereits durch die allgegenwärtigen Berichte, in denen vom Schlagen die Rede ist. Wenige Bilder rufen bei Betrachtern ähnliche Emotionen hervor, wie die des Schlagens. In Augenzeugenberichten von einem Einsatz der Berliner EbLT am Wackersdorfer Bauzaun im Oktober 1987 wird diese Emotionalität förmlich greifbar: „Dann hatte ich beobachtet, wie ein Mann, der schon am Boden lag, wie dieser Mann von fünf Polizisten, es waren wiederum nach der Beschreibung die Berliner, geknüppelt worden ist. […] Er hat geblutet, und er ist dann später wie ein Tierkadaver in Richtung Baugelände gezerrt worden. Etwa einen Meter von mir entfernt stand ein junger Mann. Fünf Berliner stürzten sich auf ihn, knüppelten auf ihn ein, solange, bis er bewusstlos dalag. Er hatte eine klaffende Wunde auf der rechten Schädeldecke und (es war) eine rote Lache im Sand. Entsetzt lief ich in Richtung Wald, um einen Sanitäter zu holen. […] Neben mir stand ein BGS-Beamter, den habe ich in meiner VerzweiÀung am Ärmel gepackt und habe gesagt: ‚Schauen Sie doch hin, die schlagen doch den Mann tot, greifen Sie doch ein‘ – sinngemäß so etwa. Der hat mich angeschaut – ich habe so etwas noch nie da drunten gesehen. Der hat geweint.“58
Heftige Reaktionen lösten auch die Videoaufnahmen der polizeilichen Übergriffe in Los Angeles im Jahr 1991 aus. Die Bilder, die eine Gruppe von Polizeibeamten zeigten, die mit Schlagstöcken auf den wehrlos am Boden liegenden Rodney King einprügelten, sorgten weltweit für Empörung. Als die beteiligten Polizisten im April 1992 von einem Gericht freigesprochen wurden, kam es zu tagelangen Ausschreitungen, die insgesamt 54 Todesopfer forderten. Bemerkenswerterweise waren es nicht die regelmäßig von Bürgerrechtlern erhobenen Vorwürfe, die den unverhältnismäßigen Schusswaffengebrauch der vorwiegend „weißen“ Polizei von Los Angeles gegen Schwarze anprangerten, sondern die emotionalisierenden Bilder vom „Schlagen“, die dazu beitrugen, eine erneute Gewaltspirale in Bewegung zu setzen.
Anonymus 1981, S. 190. Reemtsma 1991, S. 21. 58 Zitiert nach: Der Spiegel 20/1988. 56 57
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Ähnlich verstörend wirkten die Bilder und Berichte von den Vorfällen in Genua während des G8-Gipfels im Juli 2001. Die dabei von einem Carabiniere abgefeuerten tödlichen Schüsse auf einen Demonstrationsteilnehmer stellten einen der gravierendsten Vorfälle in der jüngeren Protestgeschichte Westeuropas dar. Betroffenheit und Entsetzen entzündeten sich jedoch am deutlichsten an jenen Bildern, die die blutigen Wände der Diaz-Schule zeigten, in der dutzende Globalisierungsgegner von Polizisten verprügelt worden waren. „Paralyse“ statt „Fragmentierung“ ? – Die Zukunft des Schlagens Die Entwicklungen im Bereich der Polizeitaktiken und der polizeilichen Ausrüstung stellen keinen linearen Prozess hin zu einer Minimierung physischer Gewalt dar. Einerseits sind die Veränderungen innerhalb der Polizei seit den Zeiten des Kaiserreichs eindeutig zu erkennen. Strukturen, Leitbilder sowie Ausbildungsinhalte durchliefen nachhaltige Umbrüche. Die Polizei begreift sich nunmehr als zivilgesellschaftliche Instanz. Ein Anspruch, der auch im polizeilichen Sprachgebrauch seinen Ausdruck ¿ndet. Potentielle KonÀiktsituationen bei Protestereignissen sollen durch kommunikatives „KonÀiktmanagement“ der Polizei bewältigt werden.59 Im Kontext dieser Transformationsprozesse haben sich auch die Gewaltpraktiken verändert. Thomas Lindenberger hat auf den Wandel der kulturellen Codes hingewiesen, die entscheidend die Formen von Gewaltausübung beeinÀussen.60 So waren am Beginn des 20. Jahrhunderts für die Disziplinierung (polizeilich) männlicher Aggressionsbereitschaft militärische Muster prägend. Der Gebrauch des Säbels bezweckte nicht nur die physische Unterdrückung Protestierender, er war gleichzeitig Ausdruck einer sozial-kulturellen Distanzierung. Hierfür wurden auch schwere körperliche Verletzungen wie tiefe Wunden oder abgetrennte Gliedmaßen in Kauf genommen. Heute weisen gewalttätige Konfrontationen zwischen Polizisten und Demonstranten oftmals sportlich hedonistische Züge auf. In den Projektionen, mit denen zumindest ein Teil der Protagonisten in die Auseinandersetzungen geht, scheint die Figur des durchtrainierten Einzelkämpfers eine zentrale Rolle zu spielen. Auf den „sportlichen“ Aspekt dieser Gewaltpraktiken verweist nicht zuletzt der Tonfa, der nicht einfach als Schlagstock, sondern als Requisit fernöstlicher Kampfsporttechniken präsentiert und vermarktet wird. Diese neuen Formen der KonÀiktaustragung, so resümiert Lindenberger, gründen in einer Gesellschaft, die „nicht nur den umfassenden Gewaltverzicht zwischen Individuen, sondern auch ein Gesundheits- und Fitnessideal [fordert 59 60
Driller 2001. Vgl. den Beitrag von Thomas Lindenberger in diesem Band.
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und fördert], das jeden und jede einschließen soll, zugleich jedoch unter dem Label des ‚Sports‘ den legitimen Rahmen für die Kultivierung neuer, hybridisierter Formen des ritterlich-männlichen Kampfes abgibt.“61 Andererseits repräsentieren die zivileren, „sportlichen“ Ausrüstungsgegenstände weiterhin ein erhebliches Gewaltpotential. Ob und in welchem Ausmaß Gewaltpraktiken zur Anwendung kommen, hängt von den Polizeibeamten selbst ab, deren Handlungen ebenfalls von unterschiedlichsten Emotionen geprägt sind. Individuelle wie kollektive Aggressionen und Ressentiments, aber auch Ängste und Unsicherheiten bedingen eigensinnige Verhaltensweisen, die sich of¿ziösen Leitbildern oder behördlichen „Zielvereinbarungen“ oftmals entziehen. Prügelexzesse wie der geschilderte auf dem Kölner Polizeirevier gehören in der Bundesrepublik zweifellos zu den Ausnahmen. Dennoch ist Skepsis gegenüber jenen Prognosen angebracht, die behaupten, eine künftige Ausstattung der Polizei mit Einsatzmitteln wie etwa dem MES, dem Pfefferspray oder der Elektroschockwaffe „Taser“ werde zu polizeilichen (Gewalt)praktiken führen, die nicht mehr die womöglich irreversible „Fragmentierung“, sondern eine lediglich temporäre „Paralysierung“ des Körpers bezwecken.62 Der Fall Rodney King verdeutlicht, dass der Gebrauch „moderner“ Polizeiwaffen keineswegs zu einer Zivilisierung (polizeilicher) Gewaltausübung führen muss. King wurde, bevor die Beamten auf ihn einschlugen, mit einem Taser bewegungsunfähig geschossen.63 Auf den Einsatz von „moderner“ paralysierender Gewalt folgten die „traditionellen“ Praktiken unmittelbarer physischer Gewalt. Die Begriffe „Tradition“ und „Moderne“ widersprechen sich hier nicht, sondern ergänzen und verstärken einander. Zwei weit verbreitete Auffassungen stehen demnach zur Diskussion. Zum einen die Vorstellung, mit der Durchsetzung der verrechtlichten, arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Industriegesellschaft sei die Bedeutung unmittelbarer physischer Gewalt zugunsten anderer „rationalerer“ Formen der KonÀiktaustragung zurückgegangen. Zum anderen die Feststellung, dass in diesem Prozess auch die Gewaltpotentiale der Polizei eine Minimierung erfahren hätten. Beide Ansichten bedürfen der Relativierung. Vorfälle wie in Köln, Wackersdorf, Genua oder Los Angeles, genauso wie die Formen der alltäglichen „kleinen Gewalt“, lassen die These von Norbert Elias, mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols sei eine zunehmende durch „Selbstzwang“ gesteuerte „Affektkontrolle“ der handelnden Akteure einhergegangen, zumindest fragwürdig erscheinen. Aber auch der Beobachtung Michel Foucaults, die Entdeckung des „panoptischen Blicks“ als „allgemeine(s) Prinzip einer neuen Lindenberger 2003, S. 22. Arndt 2005, S. 17. 63 Amnesty international 1998. 61
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‚politischen Anatomie‘“ habe Macht und ihre Ausübung „automatisiert“ und „entindividualisiert“ ist nicht ohne weiteres zuzustimmen.64 Indes ist kaum zu bestreiten, dass mit der Konsolidierung staatlicher Gewaltmonopole gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in vielerlei Hinsicht berechenbarer geworden sind. Die Auffassung, sämtliche Machtbeziehungen seien in letzter Instanz durch Gewaltausübung oder durch die Androhung von Gewalt fundiert,65 greift wiederum zu kurz. Die Erscheinungsformen und Spielarten der Macht sind mannigfaltig. Die Angebote, Versprechungen und Hoffnungen, die sich etwa an „Grati¿kations-“ oder „Partizipationsmacht“ knüpfen, gründen nicht zwangsläu¿g auf gewalttätigem Handeln.66 Dennoch hieße es einer „Lebenslüge“67 der „Moderne“ aufzusitzen, wollte man die Alltäglichkeit unmittelbarer Gewaltpraktiken übersehen. Diese Feststellung gilt nicht nur, aber auch für das polizeiliche Handeln. Der Blick auf den erhobenen Schlagstock möge daran erinnern. Literatur Amnesty International 1993: Bundesrepublik Deutschland – Vorwürfe über Misshandlungen an ausländischen Staatsbürgern: Eine Zusammenfassung der jüngsten Anliegen Amnesty International 1998: Buy American. Werkzeuge der Folter, in: Amnesty Journal, URL: http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/0/C076127CABA91E01C1256AA0002EB220 ?Open, [14.04.2007] Amnesty International 2004: Erneut im Fokus – Vorwürfe über polizeiliche Misshandlungen und den Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt in Deutschland Amnesty International 2010: Täter unbekannt. Mangelnde Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei in Deutschland, Bonn Anonymus 1981: Im Fadenkreuz. Drei Mitglieder der Sanitäter-Gruppe über sich selbst, in: Aust, S./Rosenbladt, S. (Hg.): Hausbesetzer. Wofür sie kämpfen, wie sie leben und wie sie leben wollen, Hamburg, S. 170–192 Arndt, Olaf 2005: Demonen. Zur Mythologie der Inneren Sicherheit. Recherchen über „politische Technologien“ zur Steuerung und Begütung unruhiger Massen, Hamburg Behr, Raphael 2000: Cop Culture. Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Opladen Behrendes, Udo 2002: Bauernopfer ? – Zukünftiger Minister ? – Alibi ?, in: Unbequem, S. 12–16
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A. Lüdtke et al. (Hrsg.), Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert, DOI 10.1007/978-3-531-93385-6, © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorinnen und Autoren
re (Essen 2006); Häusergeschichte(n). Augsburger Häuser und ihre Bewohner (Augsburg 2009). – Kontakt: [email protected] Gebhardt, Helmut, Ao. Univ.-Prof. Dr., Jg. 1957, Jurist, Professor am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung an der Karl-Franzens-Universität Graz. Mitherausgeber der Grazer Rechtswissenschaftlichen Studien. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Verwaltungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Polizeigeschichte, Geschichte des Agrarrechts. Aktuelle Veröffentlichungen: „Leben nach dem Tod. Rechtliche Probleme im Dualismus: Mensch – Rechtssubjekt (2010), „Kritik an der Regierung – Ein Fall für die Polizei von 1853 bis 1925“ (2009). – Kontakt: [email protected] Hartewig, Karin, Dr. phil., Jg. 1959 arbeitet freiberuÀich als Historikerin und Publizistin. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte des 20. Jahrhunderts, DDR-Geschichte, Biographiegeschichte, Geschichte der Fotogra¿e und Kulturgeschichte der Dinge. Jüngste Veröffentlichungen: „Der verhüllte Blick. Kleine Kulturgeschichte der Sonnenbrille. Jonas Verlag, Marburg 2009.“ „Wir sind im Bilde. Eine Geschichte der Deutschen in Fotos vom Kriegsende bis zur Entspannungspolitik. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2010.“ – Kontakt: karin-hartewig@ t-online.de Lindenberger, Thomas, apl. Prof. Dr., Jg. 1955, Historiker, ist Direktor des Ludwig Boltzmann Institute for European History and Public Spheres, Wien, und lehrt an der Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Alltagsgeschichte im 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa, Kommunismusforschung und Kalter Krieg, Massenmedien und Zeitgeschichte. Herausgeber der Reihe Studies in European History and Public Spheres (Studienverlag/transactions), Mitherausgeber von WerkstattGeschichte (Klartext). Aktuelle Veröffentlichungen: Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, hg mit Muriel Blaive und Christian Gerbel (studienverlag, im Druck). – Kontakt: [email protected], http://ehp.lbg.ac.at/en/team/institute/ thomas-lindenberger Lüdtke, Alf, Dr. phil. habil., 1943, Honorarprofessor Univ. Erfurt und Hanyang University, Seoul. Forschungen zu: Herrschaft und Gewalt in der Neuzeit; Praxis und Erfahrung von Arbeit; Fotogra¿e und Visualität im 20. Jahrhundert; Konzepten von Alltagsgeschichte. Aktuelle Publikationen: Energizing the Everyday: On the Breaking and Making of Social Bonds in Nazism and Stalinism“, in: M. Geyer, Sh. Fitzpatrick (eds.), Beyond Totalitarianism, Cambridge, Mass., 2009.; „Puri¿cation: Pleasure and Pain. The Opening of the East German Stasi Files and the Politics of German History in the 1990s“, in: D. Laborde (ed.),
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Désirs d’histoire, Paris 2009; mit C. Kraft, J. Martschukat (Hg.): KololonialGeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt am Main 2010; mit S. Jobs (Hg.), Unsettling History. Archiving and Narrating in Historiography, Frankfurt am Main 2010. – Kontakt: [email protected] Mangold, Anne, Dr. rer. pol., 1975, Soziologin, leitet z. Z. ein Soziales Dienstleistungszentrum der Hansestadt Hamburg, Mitarbeiterin an der Professur für Personal, Organisation und Gender-Studies an der Universität Hamburg (2005–2007), Mitarbeit im DFG-Forschungsprojekt „Geschlecht und Organisation am Beispiel der Bundeswehr“ an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg (2002–2005), Dissertation: „Beruf, Organisation und Geschlecht am Beispiel des Sanitätsdienstes der Bundeswehr“ (Logos 2008). – Kontakt: [email protected] Ohlemacher, Thomas, Prof. Dr., 1962, lehrt an der Polizeiakademie Niedersachsen und der Universität Hildesheim. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Empirische Polizeiforschung, Police Use of Force, Organisationskultur(en). Aktuelle Veröffentlichungen: Torn Between Two Targets: German Police Of¿cers Talk about the Use of Force. Crime, Law and Social Change, 52 (2/2009), S. 181–206 (zusammen mit Astrid Klukkert und Thomas Feltes). – Kontakt: [email protected] Pröve, Ralf, Prof. Dr., Jg. 1960, lehrt am Historischen Institut der Universität Potsdam Neuere und Neueste Geschichte im Kontext des Arbeitsgebietes Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt. Arbeitsschwerpunkte: Kulturanthropologie der Frühen Neuzeit, Stadt- und Bürgertumsgeschichte, Militärgeschichte, Historiographiegeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen zu der Thematik: „Spießer“, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit (mit R. Bergien), Göttingen 2010; Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft (mit C. Winkel), in Vorbereitung. – Kontakt: [email protected] Reinke, Herbert, Dr. phil., Kriminologe/Soziologe und Historiker, Arbeitsschwerpunkte: Sicherheit und Ordnung: Geschichte und aktuelle Problemlagen, Polizeigeschichte, Kriminalitätsgeschichte, Stadt und (Un-)Ordnung; Neuere Veröffentlichungen: Silke Klewin, Herbert Reinke, Gerhard Sälter (Hg.), Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig 2010, Herbert Reinke u. a. (Hg.), Gefährliche Menschenbilder. Biowissenschaften, Gesellschaft und Kriminalität, Baden-Baden 2010, aktuelles Buchprojekt: Unterwelten. Kriminalität und Kontrolle in Berlin 1930–1950 (Monographie, zus. mit Jens Dobler (Fertigstellung: Anfang 2011). Mit-Herausgeber der Zeit-
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schrift ‚Crime, History & Societies‘, Genf: 1997 ff. Networking: Koordinierung und inhaltliche Leitung (zus. mit Margo De Koster, Louvain-La-Neuve – Belgien/ Amsterdam) einer thematischen Strecke über ‚Urban Pleasures and Urban Panics/ Urban Nightlife/Geographies of Transgression in the History of the City“. – Kontakt: [email protected] Sälter, Gerhard, Dr., tätig an der Gedenkstätte Berliner Mauer, Leiter des Arbeitsbereichs Forschung und Dokumentation. Forschungsschwerpunkte: Praxis von Herrschaft und die Genese gesellschaftlicher Ordnungen, Geschichte von Herrschafts- und Machtbeziehungen in ihrem sozialen Kontext. Aktuelle Veröffentlichungen: Grenzpolizisten. Konformität, Verweigerung und Repression in der Grenzpolizei und den Grenztruppen der DDR (1952–1965), Berlin 2009; zusammen mit Silke Klewin und Herbert Reinke (Hg.): Hinter Gittern. Strafe, Besserung und Ausschluss vom 18. bis zur Gegenwart, Leipzig 2010; zusammen mit Karl Härter und Eva Wiebel (Hg.): Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt 2010. – Kontakt: [email protected] Schmidt, Daniel, Dr. phil., Jg. 1977, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Politische Gewalt, Christdemokratie und Konservatismus. Aktuelle Veröffentlichungen: Schützen und Dienen. Polizisten im Ruhrgebiet in Demokratie und Diktatur, Essen 2008; „Die geistige Führung verloren“. Antworten der CDU auf die Herausforderung „1968“, in: Kersting, F.-W./Reulecke, J./Thamer, H.-U. (Hg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955– 1975, Stuttgart 2010, S. 85–107. – Kontakt: [email protected] Sturm, Michael, M.A., Jg. 1972, Historiker; Wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter am Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster/Westfalen. Arbeitsschwerpunkte: Polizei- und Protestgeschichte der Bundesrepublik, Rechtsextremismus, Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen im europäischen Kontext. Neuere Veröffentlichungen: zusammen mit Daniel Schmidt und Massimiliano Livi (Hg.), Die 1970er Jahre als Schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt/M. 2010; Bandenkampf und blinde Flecken. Der Gebrauch von „Geschichte“ in der Polizei, in: Bürgerrechte und Polizei/CILIP, Nr. 92 (1/2009), S. 29–37. – Kontakt: [email protected] Weinhauer, Klaus, Dr. phil, Jg. 1958, Vertretungsprofessur Hist. Politikforschung, Universität Bielefeld; 2010/11 Fellow am Netherlands Institute for Advanced Stu-
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dies (NIAS). Arbeitsschwerpunkte: Innere Sicherheit, Gewalt, Jugenddelinquenz, Konsum, soziale Bewegungen, Labour History. Aktuelle Publikationen: Linksterrorismus der 1970er Jahre. Ein Literaturbericht zur Bundesrepublik Deutschland und zu Italien, in: J. Hürter/G. E. Rusconi (Hg.), Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982, München 2010; gemeinsam mit J. Requate (Hg.), Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, erscheint Essen 2011. – Kontakt: klaus.weinhauer@ uni-bielefeld.de