Jürgen Habermas Die postnationale Konstellation Politische Essays
»Mufi und Grenze« ist das suggestiv ste Bild für die ...
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Jürgen Habermas Die postnationale Konstellation Politische Essays
»Mufi und Grenze« ist das suggestiv ste Bild für die neue Konstellation der Greti7uberschreitungen Deren wichtigste Dimension bildet die wittsehahliche Globalisierung, die gegenwartig eine neue Qualität an nimmt Jürgen Habermas untersucht m seinem neuen Buch die Aus Wirkungen dieses vielgestaltigen Piozesscs auf die Zukunft der Demo kratie t r fragt nach den möglichen Konsequenzen für Rechts Sicherheit und Fffcktiv itat des Verwaltungsstaats, für die Souveianttat des lerntonalstaats, die kollektive Identität sowie die demoki ansehe Legitimität des Nationalstaats Seine Antwort Die Parole »Ohnmacht durch Globahsiciung« ist keineswegs ganz aus der Luft gegriffen Die fiskalische Grundlage dei Sozialpolitik wird schmaler, die I ahigkeit zur wirtschaftlichen Makiosteucrung nimmt ab Die \ etgleichsweise homogene Basis der staatsburgei liehen Souveränität ist erschüttert, weshalb es für den Nationalstaat schwierigen wird, seinen I egitimationsbedart zu decken Juigen Habermas diskutiert die gangigen politischen Antworten auf diese Hcraustoiderung und skizziert eigene Voischlagc Das Werk von furgen Habermas im Suhrkamp Verlag ist auf den Seiten 257-258 dieses Bandes verzeichnet
Suhrkamp
Inhalt Vorwort
7 /. Zum nationalen
Kontext
1. Was ist ein Volk? Zum politischen Selbstverständnis der Geisteswissenschaften im Vormärz
13
2. Über den öffentlichen Gebrauch der Historie . . . .
47
/ / . Die postnationale Konstellation
edition suhikamp 2095 Frste Auflage 1998 © Suhikamp Vetlag Franktutt am Main 1998 Listausgabe Alle Rechte \orbchaltcn, inshesondcic das dci Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung duteh Rundtunk und I ernsehen, auch em7clnei Teile kein Ieil des U-erkes dait in ngendemer Form {durch Potogiafie, Mikrohim odei andeic \eitahren) ohne schriftliche Genehmigung des Vcilages reproduziert oder unter Yciuendung elektionischer S\ steine verübeltet, %erMclf.ilt,st oder verbietet werden Satz jung Ciossmedia, Lahnau Diuck: Nomos Verlagsgescllscrutt, Baden-Baden Umschlag gestaltet nach einem Kon/ept vonWilK Pleckhaus Rolt btaudt Pnnted in Gei man\ ISBN 3 518-12095 6 4 5 6 7 8 9 - 0 8 07 06 05 04 03
3. Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Rückblick auf das kurze 20. Jahrhundert
65
4. Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie
91
5. Zur Legitimation durch Menschenrechte
170
/ / / . Zum Selbstverstdndms der Moderne 6. Konzeptionen der Moderne Ein Rückblick auf zwei Traditionen
195
7. Die verschiedenen Rhythmen von Philosophie und Politik Herbert Marcuse zum 100. Geburtstag
232
IV. Ein Argument gegen das Klonen von Menschen Drei Repliken 8. Genetische Sklavenhcrrschaft? Moralische Grenzen reproduktionsmedizinischer Fortschritte
243
9. Nicht die Natur verbietet das Klonen Wir müssen selbst entscheiden
248
10. Die geklonte Person wäre kein zivilrechtlicher Schadensfall
253
Vorwort
»Fluß und Grenze« ist das suggestive Bild für die neue Konstellation der Grenzuberschreitungen. In der Frankfurter Germanistenversammlung von 1846 ging es um die Herstellung der nationalen Grenzen, die heute verfließen. Die beiden einfuhrenden Essays beleuchten unseren nationalen Kontext aus zwei entgegengesetzten Perspektiven. Damals richtete sich der Blick auf den republikanischen Anfang. Ernüchtert blicken wir heute auf dessen katastrophales Ende.1 Der zeitdiagnostische Ruckblick auf das kurze 20. Jahrhundert versucht, die gegenwartig verbreitete Stimmung aufgeklärter Ratlosigkeit zu erklaren. Er lenkt den Blick auf ein beunruhigendes Problem des kommenden Jahrhunderts: Laßt sich auch über nationale Grenzen hinaus die 1 Ich lasse meine kontrenerse Rede auf Goldhagen (erschienen in K D Bredthauer, A Heinrich (Hg ), Ans dei descbicbte lernen, edition Blat ter 2, Bonn 1997, 14- 37) n 'cht aus Rechthabern nachdrucken Denn am Sach\ erstand der gegenüber Goldhagen ki itisch eingestellten Histonker habe ich keine /weitcl Abei ich bedaure, daß das im Titel dei Rede angezeigte Ihema im Stielt untergegangen ist - ich meine die notwendigen Differenzierungen im öffentlichen Gebrauch der Geschichte Dieser \ erkommt namheh zu demagogischer Geschichtspolitik, wenn \\ 11 nicht soi gfaltig zwischen der moralischen Stellungnahme zu, dei |uiistischen Aufarbeitung von sowie der politisch ethischen Selbstverstanehgung ubci Menschenrechtsverletzungen und Massemeibrechen unterschei den, die im nationalen Rahmen vorbereitet, ausgefuhit und von anderen passi\ unterstutzt oder toleriert worden sind Unter diesem Gesichtspunkt kommt Goldhagens methodischem Vorgehen auch ein philoso phisches Veidienst zu. Er verwendet einen Inierpretationsrahmcn, dei es ihm erlaubt, in die historische Analyse von unmittelbar beteiligten Tätern die moralische Dimension von Handlungsfreiheit einzufühlen »Freiheit« m diesem Sinne unterstellen wir einem Aktor, der in Kenntnis von Handlungsalternativen zurechnungsfähig soz^it aus eigener Sicht normatn gerechtfertigt gehandelt hat 7
sozialstaathche Demokratie erhalten und entwickeln > Der Titel-Essay spurt den politischen Alternativen zur herrschenden neoliberalen Praxis nach - ohne Vertrauen in die Rhetorik eines »Dritten Weges« jenseits von Neoliberalismus und alter Sozialdemokratie ' Mit dem Beginn der einheitlichen europaischen Geldpolmk beobachten wir eine Umkehr der Allianzen Zufriedengestellte Markteuropaer verbunden sich mit nationalstaatlich denkenden Euroskeptikern, um den Status quo eines wirtschaftlich integrierten, aber nach wie vor politisch zersplitterten Europa einzufrieren Voraussichtlich •wurde dafür in der Münze sozialer Verwerfungen ein Preis zu zahlen sein, der nach Maßgabe der heute erreichten Standards an Zivilitat hoch, zu hoch ist Demokratische Legitimität ist nicht ohne soziale Gerechtigkeit zu haben Das ist inzwischen ein konservativer Grundsatz Gegenüber dem utopischen Jenseits von Links und Rechts sind Zweifel angebracht, aber zwischen Revolutionaren und Konservativen scheint ein Rollentausch stattzufinden Denn »revolutionär« sind die Anstrengungen, der Bevölkerung die Maßstabe des egalitären Universahsmus abzugewöhnen und gesellschaftlich produzierte Ungleichheiten auf die Natureigenschaften von »Leistungstragern« und »Versagern« zurückzuführen Im nationalen Rahmen fallt es freilich der Politik immer schwerer, mit einem globalisierten Wettbewerb Schritt zu halten Eine normativ befriedigende Alternative, die etwas Neues in Bewegung setzen kann, sehe ich nur in der föderalistischen Ausgestalung einer sozial- und wirtschaftspohtisch handlungsfähigen Europaischen Union, die dann den Blick auf die Zukunft einer differenzempfindhchen 2 Dieser Text diente der Vorbereitung eines Gespraehs mit Gerhard Schröder das am 5 Juni 1998 im Rahmen des Kulturforums der SPD stattgefunden h n
8
und sozial ausgleichenden kosmopolitischen Ordnung richten kann Ein Europa, das sich für eine Domestizierung von Gewalt in jeder, auch in sozialer und kultureller Gc stalt engagiert, wurde gegen den postkolomalen Ruckfall in Eurozentrismus gefeit sein Auch am interkulturellen Diskurs über Menschenrechte kann sich eine solche, hinreichend dezentnerte Perspektive bewahren Die Beitrage des dritten Teils erinnern in groben Zügen an den philosophischen Hintergrund, vor dem ich die Herausforderungen der postnationalen Konstellation im Hauptteil analysiere Zum Selbstverstandnis der Moderne gehört auch ein Begriff von Autonomie, der ein Argument gegen das erneut diskutierte Klonen menschlicher Organismen nahelegt Starnberg, im Juni 1998
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I. Zum nationalen Kontext
Was ist ein Volk? Zum politischen Selbstverstandms der Geisteswissenschaften im Vormärz, am Beispiel der Frankfurter Germanistenversammlung von 1846' I Zwei Zielsetzungen Aus dem Einladungsschreiben »zu einer Gelehrtenversammlung in Frankfurt a M « sowie aus der kurzen Einleitung zur Publikation der Verhandlungen der Germanisten1 geht die doppelte Zielsetzung der Veranstalter hervor Auf Initiative des Tübinger Juristen Reyscher hatten sich bekannte Gelehrte wie Jacob und Wilhelm Grimm, Georg Gottfried Gervinus, Leopold Ranke, Ludwig Uhland, Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Beseler und Karl Mittermaier zusammengetan, um eme Vereinigung der drei mit deutschem Recht, deutscher Geschichte und deutscher Sprache befaßten Disziplinen zu gründen In erster Linie geht es um die Institutionahsierung einer besseren wissenschaftlichen Kommunikation Bis dahin stutzten sich Kontakte, die über die übliche Lektüre von Zeitschriften und Buchern hinausgehen, auf personliche Bekanntschaft Dabei spielten Briefwechsel eine w ichtige Rolle Das gilt nicht nur für den interdisziplinären Verkehr zwischen den Juristen, Sprachwissenschaftlern und Historikern, sondern auch für die Kommunikation innerhalb der I acher, vor allem unter den deutschen Philologen Es bestand ein Bedurf1 Vortrig IUS Anliis der Centtn lrteicr an der Johann Woltging Goethe Unuersitit, f nnktuit^M 2 ) I) Sauerlinders Verlag 1 r a n k t u r t / M i S47 (im folgenden zitiert als Verhandlungen) 13
nus nach festeren Formen des persönlichen Kennenlerncns, der gegenseitigen Verständigung und Belehrung - »in freier Rede und ungezwungenem Gesprach« und ohne »abgelesene Vortrage« Vorbild waren die ersten gesamtdeutschen Fachkongresse der Naturforscher und Arzte (seit 1822) sowie der Klassischen Philologen (seit 1838) Die Initiatoren waren sich freilich bewußt, daß eine gesamtdeutsche Versammlung germanistischer Geisteswissenschaftler als ein Politikum wahrgenommen werden wurde Das zweite, über die disziphnaren Bedurfnisse hinaus gehende Ziel war eine - wie immer auch verhaltene - Demonstration zugunsten der Einigung des politisch zersplitterten Vaterlandes »Es wäre zu viel erwartet von einer Gelehrten-Zusammenkunft, wenn unmittelbares Eingreifen in das Leben ihr zur Aufgabe gestellt wurde, aber nichts Geringes versprechen wir uns von unserer Versammlung, wenn sie, wie nicht zu zweifeln steht, auf dem Boden wissenschaftlicher Untersuchung festhaltend, sowohl den Wert als auch den Ernst der Zeit würdigen und jeden Einzelnen von dem Eifer, der das Ganze beseelt, erfüllen wird «' Der Verlauf der Tagung wird diese Erwartung bestätigen Selbst wir Nachgeborenen, die wir uns durch Profession und Lebensgeschichte mit den Geisteswissenschaften wie mit den republikanischen Traditionen unseres Landes verbunden fühlen, verspuren noch beim Nachlesen des Protokolls die Bewegung, die die Redner damals erfaßt hat Ruckblickend erkennen wir gewiß auch das Unpolitische in den Leidenschaften jener Heroen der deutschen Historischen Schule Bei aller Kritik wird sich jedoch niemand dem eigentümlichen Charme dieser vom Geist der Romantik beseelten Anfange entziehen können Die Anteilnahme der Gelehrten an ihren Gegenstanden, i \irhandlun^Ln 6
den »germanischen Altertumern«, koinzidiert auf eine fast unbewußte Weise mit der politischen Tendenz des Tages Die Veranstaltung ist allerdings von tragischer Ironie ge zeichnet Die emphatisch gefeierten Anfange bedeuten namheh objektiv ein Ende - in politischer wie in wissen schaftshistorischer Hinsicht Die Germanistcnversammlungen von 1846/47 in Frankfurt und Lübeck waren der erste, aber auch der letzte Versuch, jene Disziplinen zusammenzufuhren, die einst das Herzstuck der frühen Geisteswissenschaften gebildet haben Anderthalb Jahrzehnte spater werden die Juristen und die deutsehen Philologen ihre jeweils eigenen Vereinigungen gründen Das entsprach dem ganz normalen Muster der Ausdifferen7ierung wis senschaftheher Disziplinen Seit dem ausgehenden 18 Jahrhundert waren, neben etablierten Fächern wie der klassischen Philologie oder Kunst gesehiehte, einzelne geisteswissenschaftliche Disziplinen entstanden Aber im Rahmen gemeinsamer histonstischer Überzeugungen hatten sie sich zunächst nicht soweit voneinander entfernt, daß sie füreinander nur noch disziphnare Umwelten dargestellt hatten Diese Entstehungsphase näherte sich jedoch in den vierziger Jahren des 19 Jahrhunderts, also zur Zeit der Germanistenversammlung, ihrem Ende Unter den Teilnehmern befinden sich nur vier jenei Grundungsvater, die Erich Rothacker, der Historiker der Geisteswissenschaften, aufzahlt namheh Jakob und Wilhelm Grimm, Leopold Ranke und Friedrich Gottlieb Welcker Sie sind gleichsam die letzten in der illustren Reihe der Herder, Moser, Wolf, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, der Sehleiermaeher, Humboldt, Nicbuhr, Savign\, Eichhorn, Creuzer, Gorres, Bopp und Boeckh 4 Rothacker 4 \r Rothacker I ogik und Systtmatik der Geistesu-nsenschafttn Bonn 1948,116
datiert diese Grundungsphase, in der die Fächer noch eine gemeinsame Sprache sprechen, mit zwei berühmten Zitaten auf die 80 Jahre zwischen 1774 und 1854 »Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt« (Herder), »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst« (Ranke) Die Frankfurter Versammlung, die ein neues Kapitel in der Geschichte ihrer Wissenschaften aufschlagen wollte, schließt in Wahrheit die Gründerzeit ab Wissenschaftsgeschichthch betrachtet, taugte sie gerade noch für eine translatio nomims, damals ging ja der Ehrentitel des »Germanisten«, auf den jetzt Jakob Grimm im Namen der Sprachwissenschaften Anspruch erhob, auch im allgemeinen Usus von den Rechtshistonkern auf die Neuphilologen über 5 Ebenfalls als Illusion erwies sich die Rolle, die die Germanisten als die geborenen Interpreten des Volksgeistes in der politischen Öffentlichkeit glaubten spielen zu können Bekanntlich scheiterte in der benachbarten Paulskirche zwei Jahre spater der Versuch zur nationalen Einigung innerhalb eines liberal verfassten Gemeinwesens Immerhin trafen sich etwa 10 Prozent der Tagungsteilnehmer in der ersten deutschen Nationalversammlung wieder, die meisten von ihnen als Mitglieder des Centrums Wilhelm Scherer konnte spater die Germanistenversammlung als »eine Art Vorlaufer des Frankfurter Parlaments« bezeichnen ' Der Vormärz war die erste und die letzte Periode, in der fuhrende Repräsentanten der Geisteswissenschaften den 5 U Mewts Zur Namengebung Germanistik in J Fohrminn WVnli kamp, Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 79 Jahrhundert Stuttgart/Weimar 1994 25 47 6 J J Muller Die ersten Germanistentagc in ders (Hg) l aeraturbissen schaft und Sozial Wissenschaften 2 Stuttg 1974 297 318 16
politischen Willen hatten, als Intellektuelle und Burger v on ihrem professionellen Wissen öffentlichen Gebrauch /u machen Was in der Generation meiner Lehrer - vor, wahrend und nach 1933 - als ein solcher Versuch der politischintellektuellen Einflußnahme erscheinen konnte, fallt offensichtlich nicht unter diese Kategorie des staatsbürgerlichen Engagements Die Rolle des Intellektuellen ist angewiesen auf den Resonanzboden einer liberalen üffent henkelt und einer freiheitlichen politischen Kultur Die Germanisten, die vor 150 Jahren im Frankfurter Kaisersaal Pressefreiheit forderten, hatten davon ein klares Bewußtsein Gleiches wird man von Julius Petersen, Alfred Baumler, Ernst Bertram, Hans Naumann oder Erich Rothacker nicht behaupten können Die Paulskirchenbewegung scheitert an historischen Umstanden, die nicht mein Thema sind Aber die Germanisten, die mich als Teil dieser Be-wegung interessieren, scheitern nicht nur an Umstanden Zu den hemmenden Faktoren gehört auch ein politisches Selbstverstandnis, das durch die Philosophie der frühen Geisteswissenschatten geprägt ist Aussichtslos war nicht nur der Wunsch, sich über disziphnare Grenzen hinwegzusetzen, die alsbald klar hervortraten Problematisch war auch die sich selbst verborgene Konstruktion von Herkunftsbezugen, die der Nation den Schein des organisch Gewachsenen verleihen sollten Am I eitfaden der Ausfuhrungen von Jacob Grimm werde ich kurz den philosophischen Hintergrund der Historischen Schule skizzieren (II) An den in der Diskussion aufbrechenden Widersprüchen mochte ich sodann zeigen, wie die ruckwartsgewandte Idee des Volksgeistes die zukunftsgenchteten liberalen Intentionen in Schwierigkeiten bringt (III) Gervinus entgeht der fatalen Dialektik \on Ein- und Ausgrenzung durch eine historische Dynamisierung der Volksgeistlehre Damals geben sich aber nur Demokraten 17
wie Julius Frobel, die in der Germanistenversammlung nicht vertreten sind, Rechenschaft über das prekäre Verhältnis des kulturell definierten »Volkes« zur »Nation« der Staatsburger (IV) Die Germanistik hat ihren ersten großartigen Versuch, sich in eine republikanische Öffentlichkeit einzumischen, nicht wiederholt Abschließend will ich an die fachinternen Grunde erinnern, die die Germanistik zu einem unpolitischen Selbstverstandms disponiert haben (V)
II Das Weltbild der frühen Geisteswissenschaften Jacob Grimm eröffnet die zweite öffentliche Sitzung mit Ausfuhrungen zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften Chemie und Physik dienen ihm als Beispiele für exakte, auf Berechnung beruhende Wissenschaften, die die Natur wie einen Mechanismus auffassen, in Elemente zerlegen und für technische Zwecke neu zusammensetzen Ganz anders operieren die »ungenauen« Wissenschaften, die dank eines fein ausgebildeten, sensiblen Gemüts (»einer seltenen Vorrichtung einzelner Naturen«) in die organisch gegliederte Vielfalt und das Innere der historischen Schöpfungen des Menschen eindringen Sie zeichnen sich nicht durch »Hebel und Erfindungen (aus), die das Menschengeschlecht erstaunen und erschrecken«, sondern durch den inhärenten Wert, die Wurde ihrer Gegenstande »Das Menschliche in Sprache, Dichtung, Recht und Geschichte steht uns naher zu Herzen als Tiere, Pflanzen und Elemente « Mit einer überraschenden, auch überraschend militanten Wendung fugt Grimm hinzu »Mit denselben Waffen siegt das Nationale über das Fremde «7 Dieser elliptischen Formulierung liegt der Gedanke zu7 Verhandlungen, 62 18
gründe, daß die beobachtenden und erklärenden Naturwissenschaften allgemeine Phänomene und gesetzmäßige Zusammenhange erfassen, wahrend sich die verstehenden Geisteswissenschaften auf die kulturelle Eigenart und die Individualität ihrer Gegenstande einstellen Grimm hat nicht nur den Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem, von »nomothetischen« und »ideographischen« Wissenschaften, wie Windelband spater sagen wird, vor Augen Er verbindet damit den Kontrast des Fremden und des Eigenen Die hermeneutische Einsicht in die Vorurteilsstruk tur des Verstehens wird dahingehend pointiert, daß wir das Eigene besser verstehen als das Fremde Gleiches muß von Gleichem erkannt werden Das zeigt sich vor allein an der Poesie, die »eigentlich nur in ihr (der Muttersprache) verstanden sein will« So verhalt es sich auch mit den germanischen Altertumern Das verständnisvolle Eindringen in solche Dokumente des Volksgeistes, die der Gegenwart entruckt sind, ist keine neutrale wissenschaftliche Operation, sondern wurzelt tief im Gemüt Der Verstehende bringt seine ganze Subjektivität ein in einen Erkenntnisvorgang, der auf ein enthusiastisches Sieh-im-AnderenWiedererkennen abzielt Das hermeneutische Verstehen scheint vom Pathos der einverleibenden Aneignung zu leben »Der chemische Tiegel siedet unter jedem Feuer und die neu entdeckte, mit kaltem lateinischem Namen getaufte Pflanze wird auf gleicher klimatischer Hohe überall erwartet, wir aber erfreuen uns eines verschollenen ausgegrabenen deutschen Wortes mehr als des fremden, weil wir es unserm Land wieder aneignen können, wir meinen, daß jede Entdeckung in der vaterlandischen Geschichte dem Vaterland unmittelbar zustatten kommen werde «s Für Jacob Grimm leitet sich der inklusive Charakter der Wissenschaft 60
liehen Kommunikation allein vom kühlen Univcrsahsmus der Naturwissenschaften her »Die genauen Wissenschaften reichen über die ganze Erde und kommen auch den auswärtigen Gelehrten zugute, sie ergreifen aber nicht die Herzen « ' Die Geisteswissenschatten hingegen versenken sich so sehr in die Tiefen der jeweils eigenen Kultur, daß ihre Ergebnisse vornehmlich für deren Angehörige von Interesse sind Die »deutschen Wissenschaften« adressieren sich ans deutsche Publikum 10 Der Geist eines Volkes, der die Referenz für die Abgrenzung des Eigenen vom Fremden liefert, druckt sich am reinsten in dessen Poesie aus Und diese ist wiederum mit der »heimatlichen Sprache« aufs engste verwoben Jacob Grimm kann deshalb auf die »einfache« Frage »Was ist das Volk'« die einfache Antwort geben »Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden«" Trotz dieser auf den ersten Blick kulturahstischen Bestim mung wird das Volk substantiahsiert Nicht zufällig werden die Metaphern für die Sprache, in der sich die Schöpfungen des Volksgeistes artikulieren, der Naturgeschichte und Biologie entnommen Als Jacobs Bruder Wilhelm Grimm über das gemeinsame Projekt des Wörterbuchs der deutschen Sprache berichtet, schildert er die Verödung des geistigen Lebens seit dem Dreißigjahngen Krieg wie die Flora einer Landschaft »Auch die Sprache welkte und die Blatter fielen einzeln von den Asten Am Anfang des 18 Jahrhunderts hing noch trübes Gewölk über dem alten Baum, dessen Lebenskraft zu schwinden schien (Erst) der Stab, mit dem (Goethe) an den Felsen schlug, ließ eine frische Quelle über die dürren Driften strömen, sie begannen wieder zu grünen 9 Hxl 10 \ crhandlangcn 61 11 Virhandlun^tn 11
und die Frühlingsblumen der Dichtung zeigten sich aufs Neue « p Der organischen Autfassung der Sprache korrespondiert die naturschutzensche Einstellung des Sprachpflegers, der die eigene Sprache, ohne ihr durch Normierung Fesseln anzulegen, durch behutsame Eingriffe von fremden Beimischungen reinigen will »Glauben Sie nicht, das Wörterbuch werde, weil es sich der geschichtlichen Umwandlung der Sprache unterwirft, deshalb auch als laßig oder nachsichtig sich erweisen Es wird tadeln, was sich unberechtigt eingedrängt hat, selbst wenn es muß geduldet werden, geduldet, weil in jeder Sprache einzelne Zweige verwachsen und verkrüppelt sind, die sich nicht mehr grad ziehen lassen «' 3 Wer eine naturalisierte Sprache zur Definition von Volk und Volksgeist verwendet, will die Nation in Zeit und Raum klar abgrenzen »Unsere Vorfahren sind Deutsche gewesen, ehe sie zum Christentum bekehrt wurden, es ist ein älterer Zustand, von dem wir ausgehen müssen, der uns untereinander als Deutsche in ein Band vereint hat « l4 Die sprachgeschiehthche Kontinuität des Volksgeistes verleiht der Volksnation das Naturwüchsige Wenn aber die Nation als Gewachs imaginiert wird, verliert das nationale Projekt der Einigung den konstruktiven Charakter der Herstellung einer modernen Nation von Staatsbürgern Was für die Erstreckung in der Zeit gilt, gilt auch für die räumliche Ausdehnung Wenn die Nation mit der Sprachgemeinschaft koextensiv ist oder sein soll, verschwindet die Kontingenz der Grenzen staatlicher Territorien hinter den Naturtatsachen der Sprachgeographie Jacob Grimm appelliert an das Gesetz, »daß nicht Flusse, nicht Berge Volkerscheide bilden, sondern daß einem Volk, das über Berge und Strome 12 \ Libxndlungui 115 13 V11handlangen 119 14 Vcrhandlungcn ij
gedrungen ist, seine eigene Sprache allein die Grenze setzen kann« !i Diese Überzeugung bildet übrigens den Hinter grund für den Eifer der Juristen und Historiker, die die er ste öffentliche Sitzung darauf verwenden, den Erbfolgeanspruch der danischen Krone auf eine Inkorporation von Schleswig, das ja nicht zum Deutschen Bund gehört, zurückzuweisen 1874 charakterisiert Wilhelm Scherer ruckblickend den Geist der Historischen Schule mit einer Serie von Begriffs paaren »Gegenüber dem Kosmopolmsmus die Nationalitat, gegenüber dei künstlichen Bildung die Kraft der Natur, gegenüber der Zentrahsation die autonomen Gewalten, gegenüber der Beglückung von oben die Selbstregierung, gegenüber der Allmacht des Staates die individuelle Freiheit, gegenüber dem konstruierten Ideal die Hoheit der Geschichte, gegenüber der Jagd nach Neuem die Ehrfurcht vor dem Alten, gegenüber dem Gemachten die Entwicklung, gegenüber Verstand und Schlußverfahren Gemüt und Anschauung, gegenüber der mathematischen Form die organische, gegenüber dem Abstrakten das Sinnliche, gegenüber der Regel die eingeborene Schöpferkraft, gegenüber dem Mechanischen das Lebendige « " Man erkennt sofort die Aspekte, untei denen die Ideologie des Volksgeistes mit den liberalen Zielen der nationalen Bewegung konvergiert Aus dem spontanen Wachstum des pietätvoll erweckten Volksgeistes laßt sich die produktive, erneuernde, ja emanzipatonsche Kraft herauslesen, die sich gegen die Reglementierung durch starre staatliche Bürokratien auflehnt und dem Volk eine eigene, seiner historischen Natur gemasse politische Gestalt geben will Andererseits entnimmt man Sehe rers Beschreibung auch die antiquarischen, ruckwartsger s \c yhandlun^cn
11
16 W Scluixr V(»t>i^tnriäA»fiZt/c(ii--^) [ s 1 n 4] 119)
340t (/inert nich Rotluckir
wandten, quietistischen und gegenaufklarenschen Zuge, die den Historismus nicht gerade zum Geburtshelfer eines modernen bürgerlichen Nationalstaats prädestinieren Gewiß hat der philosophische Idealismus der Tübinger Stiftler eine ähnliche Stoßrichtung gehabt wie das romantisch-histonschc Denken von Herder, Moser und Hamann Auch Hölderlin, Schelhng und Hegel haben gegen die Klassifikationen des Verstandesdenkens und gegen die Positivitaten einer erstarrten Tradition Einbildungskraft, Produktivität und sinnliche Spontaneität beschworen Auch sie haben gegen das abstrakt Allgemeine den Eigensinn und die Individualitat des Besonderen im Gefuge eines organischen Ganzen betont Aber die Philosophie hat diese gegensätzlichen Momente in die Vernunft selbst aufgenommen, wahrend dem Historismus Begriffe für das vernunftige Allgemeine fehlen Ohne einen solchen Vernunftbezug mußten sich die Germanisten redlich mit dem Problem abmuhen, wie sich denn aus dem Volksgeist die Grundsatze für eine liberale Verfassung herausspinnen ließen
III Zur Dialektik von bin und Ausgrenzung Mit dem Weltbild der Geisteswissenschaften war eine Perspektive gegeben, aus der sich die politische Einigung Deutschlands als überfällige Vollendung einer kulturell langst ausgebildeten Einheit der Nation darstellt Dem durch Kultur und Sprache definierten Volkskorper fehlt nur noch das passende politische Kleid Die Sprachgemeinschaft mußte im Nationalstaat mit der Rechtsgemeinschaft zur Deckung gebracht werden Denn jede Nation, so schien es, besaß von Haus aus ein Recht auf politische Unabhängigkeit Dabei tauschten sich die Teilnehmer der Germanistenversammlung, die dieses Prinzip im Lichte der
Volksgeistlehre interpretierten, über das spezifisch Moderne ihres Vorhabens Weil sie davon ausgingen, daß die Staatsnation mit der Kulturnation schon herangereift war, verkannten sie den konstruktiven Zug ihres Projektes Der Geist des deutschen Volkes, der in der neuen Ordnung politische Gestalt annehmen sollte, war ja bereits in den ältesten Urkunden der Poesie, der deutschen Sprache und des germanischen Rechts bezeugt Diese Perspektive erklart die kognitiven Dissonanzen, die im Laufe der Debatte auftraten Zunächst ist es die Annahme einer homogenen und sich klar abgrenzenden Sprachgemeinschaft, die eine merkwürdige Dialektik auslost Selbst im Falle einer großdeutschen Losung wurden die kulturellen Grenzen der Sprachgemeinschaft mit den politischen der Rechtsgemeinschaft nicht zur Deckung gelangen Die Grenzen des Nationalstaates wurden in jedem Fall deutschsprachige Minoritäten ausschließen und fremdsprachige einschließen Die politisch-rechtliche Ausgrenzung der Auslandsdeutschen erzeugt den Wunsch nach ihrer kulturell-sprachlichen Eingemeindung Deshalb schlagen die Historiker die Gründung eines »Vereins zur Erhaltung der deutschen Nationalität im Ausland« vor Damit verfolgen sie ein doppeltes Ziel Vielen Rednern hegt das Schicksal der Auswanderer am Herzen, die gerade damals in großer Zahl nach Nordamerika strömen, sie sollen auch in der Fremde die »althergebrachte Sprache und dadurch (den) warmen Zusammenhang mit dem Mutterlande(')« bewahren17 Aber im Hinblick auf »Europa, oder richtiger die deutschen Grenzstaaten« braucht eine solche Politik andere »Mittel und Zwecke« als »für die fremden Weltteile« ls Ohne »in den politischen Kreis eingreifen« zu 17 Xcrhandlungin 61 18 Vcihandlungtn 11] 24
wollen, erinnert der Berichterstatter der Historischen Sektion Georg Heinrich Pertz an »die Deutschen im Elsaß, in Lothringen, den Niederlanden, an die Deutschen jenseits des Niemen, die Deutschen in Böhmen, in Ungarn und Siebenburgen, welche ein Recht auf die Forterhaltung ihrer deutschen Nationalität und angeborenen Muttersprache haben «"Jacob Grimm hatte schon in seiner Eröffnungsrede den bedauerlichen Sonderweg des Holländischen, dieser »eigentümlichen, unseren Nordwesten sichtbar schwachenden Gestaltung der Sprache« mit der Bemerkung kommentiert »Scheint es (auch) kaum möglich, ihn ganz wieder zu uns zurückzuführen, so bleibt es desto wünschenswerter, alle Verbindungen zwischen ihm und unserer Bahn zu vervielfachen «20 Die Abspaltung des Niederdeutschen vom Hochdeutschen erinnert an den Preis, den die imaginäre Einheit der Sprachnation fordert - die Mediatisierung der Mundarten, für die Grimm eine euphemistische Gewinn- und Verlustrechnung aufmacht 2I Der Bruder Wilhelm räumt den artifiziellen Charakter der Schriftsprache, ohne die die »Stamme oft sich gar nicht verstehen«, ein Die Homogeneitat der Sprachgemeinschaft ist nichts Ursprüngliches, sie verlangt die Einebnung der Dialekte zugunsten einer administrativ eingeführten Schriftsprache Es paßt aber schlecht zum antiquarischen Verständnis des naturwüchsigen Volksgeistes, daß die bewahrenswerte Besonderheit des Nationalen durch eine Repression gewachsener Beson derheiten erst hervorgebracht werden mußte Ebenso lrn19 Verhandlungen 107 20 Verhandlungen 13 21 Verhandlungen 13 Seit I uther ist die Herrschiit des hochdeutschen Dialekts unabindcrhch festgestellt und willi„ e n t s t e l l lllc Ieile Deutschlands ein7elnen Vorteilen die jede vertrauliche Mundart mit rührt wenn dadurch Kraft und Starke der aus ihnen lllen aufsteigenden gemeinschaftlichen und edelsten Schriftsprache gehoben wird 2
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tierend ist die Tatsache, daß sich die Nationalsprachen, die doch die Individualität der verschiedenen Volker begründen sollen, miteinander vermischt und aufeinander eingewirkt haben, also keine wohl abgegrenzten Einheiten bilden Im Vergleich mit den »gemischten« Sprachen wie dem Englischen oder selbst dem I ranzosischen gilt zwar seinerzeit das Deutsche als »reine« Sprache Aber auch sie enthalt Lehnworter, deren romanischer Ursprung vergessen ist, Fremdworte, ohne die wir nicht einmal im Alltag auskommen, auch viele terminologische Ausdrucke, die sich fur's Fachwissen als unentbehrlich erwiesen haben Wilhelm Grimm erwähnt diese Tatsachen, ohne damit »der Einmischung des Fremden das Wort zu reden« Er hofft, daß sein Wörterbuch »die Reinheit der Sprache wiedererwecken« kann Sein Purismus ist vielleicht nicht »steiflcinern«, wogegen er sich wehrt, aber diohend genug wettert er wie sein Bruder" gegen die Korruption des Eigenen durch das Fremde »Alle Tore sperrt man auf, um die auslandischen Geschöpfe herdenweise einzutreiben Das Korn unserer edlen Sprache hegt in Spreu und Wust wer die Schaufel hatte, um es über die Tenne zu werfen1 Wie oft habe ich ein wohlgebildetes Gesicht, ja die geistreichen Zuge von sol chen Blattern entstellt gesehen Offnet man das erste Buch, ich sage nicht ein schlechtes, so schwirrt das Ungeziefer zahllos vor unseren Augen «2j In dieser Hinsicht haben es die Juristen noch schwerer als die Philologen Wahrend die fremden Sprachen für die eigene immerhin Umwelten bilden, herrscht das römische Recht im eigenen Land »Unser Recht steht im Widerspruche mit dem Leben, mit dem Volksbewußtsein, den Be22
Sunde ist es fremde Worter m/uwenelen d i wo deutsehe fielen gute oder gar bessre ve>rh\nden sinei Verhandlungen 14 23 Verhandlungen 123 26
durfnissen, Sitten, Gesinnungen, Ansichten des Volkes «'4 Mit Beseler, Mittermaier und Reyscher gehören der Versammlung die fuhrenden Kopfe der »jüngeren« Germanistik an Wie die altere Historische Rechtsschule lehnen sie das Vernunftrecht ab und kultivieren die Rechtsgeschichte als »einzigen Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes« (Savigny) Aber anders als Savignv betonen sie den Gegensatz zwischen »Volksrecht und Juristenrecht« ls Sie sind der Auffassung, daß das Recht als Ausdruck des Volksgcistes in jeder Nation eine andere Gestalt annehmen müsse, die Rezeption fremden Rechts werde per se die in den Sitten des eigenen Volkes wurzelnde Rechtskultur zerstören ~" Diese juristische Version der Volksgeistlehre begegnet in der Diskussion vor allem drei Schwierigkeiten (a) Die Juristen tun sich schwer mit der Überlegenheit des dogmatisch durchgebildeten römischen Rechts, (b) daß sich ihm gegenüber einige Institutionen des überlieferten germanischen Rechts nur aufgrund spezifisch moderner Wirtschaftsverhaltnisse durchsetzen können, mußte ihnen paradox erscheinen, (c) vor allem konnten sie aber den demokratischen Verfassungsstaat nicht aus den eigenen rechtshistorischen Quellen legitimieren (a) Was sich aus den Quellen der partikulanstischen Stammes-, Landschaits- und Stadtrechte schöpfen ließ, blieb so weit unter dem Niveau des begrifflich durchgebildeten romischen Rechts, daß die Juristen gar nicht umhin konnten, insbesondere in den Kernbereichen des Zivilrechts die Überlegenheit des Romanischen anzuerkennen Einige Diskussionsredner versuchen diese Tatsache damit 24 Verhandlungen 6S 2$ So der Titel des 1S43 ersehicnenen p i o g n m m u i s e h e n Werks von Ge org Beseler 26 G Dileher B R Kern Die juristische Cjcimamstik des ly Jahrhunderts und die taehtyadüion der Deutschen Rechts^cschichtc in Zschi / Rcthlsgcsch C X l \ Bind Germ Abt 1984 1 46 27
herunterzuspielen, daß das römische Recht in der Praxis des »gemeinen Rechts« durch »germanische Sitten, Ein nchtungen, politische und soziale Zustande« modifiziert und gewissermaßen eingedeutscht worden sei ' 7 Andere Redner warnen aber davor, Germanismus und Romanismus als feindliche Bruder zu betrachten »Wir wurden uns in einen Zustand der Barbarei zurückversetzen müssen, wenn wir mit einem Mal dasjenige ausrotten wollten, was uns das romische Recht gebracht hat «28 Ein Kollege will die wissenschaftliche oder formelle Seite des romischen Rechts von den Inhalten unterscheiden »Das Gute und Nützliche, was sich im Gebiete der Wissenschaft in allen zivilisierten Staaten entwickelt hat, wollen wir, sofern es unseren Zwecken entspricht, aufnehmen, und es ist diese Aufnahme eine Forderung der Zvihsation, welcher die Nationalität, die nicht in eine förmliche Abgeschlossenheit übergehen darf, nicht entgegensteht «29 (b) Aber nicht nur der Purismus stoßt auf Schwierigkeiten, auch die Orientierung an Rechtsaltertumern, die nicht auf moderne Lebensverhältnisse zugeschnitten sind Die Beispiele, die Mittermaier gegen das justimanische Recht und für die Überlegenheit des germanischen ins Feld fuhrt, enthüllen die Ironie des Ruckgriffs auf alte Traditionen Deutsche Rechtsinstitute können namheh in penphere Gebiete wie das Handels-, Wertpapier- und Gesellschaftsrecht nur deshalb vordringen, weil sich bestimmte Elemente der mittelalterlichen Stadtrechte für den modernen Wirtschaftsverkehr als funktional erweisen Deshalb mochte die juristische Sektion ihre Aufgabe der »Ausscheidung des Fremdartigen« gerne als den Versuch begreifen, diejenigen »Rechtsinstitute (zu bestimmen), welche auf rein deut27 Verhandlungen 151 28 Verhandlungen 82 29 Verhandlungen 73f 28
schem Boden durch moderne Verkehrsverhaltnisse erschaffen worden sind« i0 (c) Für die liberalen Rechtshistonker hegt aber die eigentliche Herausforderung nicht im Pnvatrecht, sondern im öffentlichen Recht, wo nicht das germanische mit dem romischen, sondern das historische mit dem natürlichen Recht konkurriert Für die vernunftrechthehe Begründung der modernen Vertassungsordnung gibt es offensichtlich kein einheimisches Äquivalent Aber die geeinte Nation braucht eine Verfassung nach dem Vorbild der amerikanischen und franzosischen Revolutionsverfassungen Einigkeit besteht gewiß über die Notwendigkeit einer »allgemeinen Gesetzgebung« Seit Savigny sahen sich die deutschen Juristen ohnehin in der Rolle eines unpolitischen Ersatzgesetzgebers Aber dabei dachten sie an zivilrechtliche Kodifikationen wie das spatere BGB, wobei das Parlament nur die Aufgabe haben sollte, Inhalte zu ratifizieren, die aus den Sitten und Gewohnheiten des Volkes stammten '' Solange das Recht seine Legitimität aus der rechtsfortbildenden Kraft des Volkes schöpfen kann, entsteht für das positive Recht kein Begrundungsbedart, der durch das demokratische Verfahren eines parlamentarischen Gesetzgebers gedeckt werden musste Die liberalen Rechtshistoriker zie hen zwar eine Verbindungslinie \on germanischen Thinggemeinden, bauerlichen Dorfversammlungen, Schoffenkollegien und Landstanden zu den modernen Volksvertretungen Aber ihre Forderungen nach Pressefreiheit, nach Justizgrundrechten, überhaupt nach Grundrechten, wie sie alsbald in den §§131-189 der Paulskirchenverfassung er30 Xcrhandlun^cn 149 31 Verhandlungen 100 Wo Republiken konstitutionelle Stalten und ib solute Momrehien in einem Bunde vereinigt sind, kinn freilich nieht von einem umfassenden Geset/bueh ehe Rede sein Übrig bleibt aber der große Umring eier Privat oder /ivilgeset/gebung und der Krimi nalgeset7gebung 2
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schöpfend formuliert wurden, ließen sich aus germanischen Rechtsquellen nicht rechtfertigen So muß selbst ein Reyscher am Ende darauf hoffen, »daß die Vernunft von selbst auf eine gewisse Übereinstimmung der Rechtsbegriffe führe« '2 Es zeigte sich immer wieder, daß die Idee einer ursprünglich homogenen und klar definierten Volksnation, die ihre Form im Nationalstaat findet, schlecht zur universalistischen Herkunft des politischen Liberalismus paßt Ein Professor Gaupp aus Breslau weicht noch einen Schritt weiter zurück Mit dem Hinweis auf die anfangliche Verschmelzung der germanischen mit den romanischen Volkern spielt er auf eine nicht-identitare Lesart der Volksgeistlehre an Er plädiert für die »Entwicklung edler Humanität auf der Grundlage tief empfundener Nationalität« Er erinnert an Goethes Idee der Weltliteratur, um sie mit einem Geist zusammenzubringen, »den wir selbst wiederum den okzidentalen nennen, von welchem Europa und Amerika gleichmäßig beherrscht wird« J> Aus dieser Perspektive hatte schon Georg Gottfried Gervinus seine funfbandigc Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (Leipzig 1835-42) geschrieben
IV Vom Volk des Volksgeistes zur Nation der Staatsburger Auch Gervinus, neben Dahlmann der fuhrende Kopf unter den Historikern, der seine Landsleute gelegentlich vor »nationaler Eitelkeit und Großtuerei«14 warnte, hatte die klassische Periode von Lessing bis Goethe als ein astheti32 Verhandlungen S4 33 Verhandlungen 1Z4tf 34 Hcidclbogo Jahrbucho 3°
dt) L iteratu)
16 1S33 555
sches Vermächtnis für die politische Emanzipation der deutschen Nation dargestellt 3S Anders als die meisten seiner Kollegen ließ er sich durch den Fehlschlag der 48er Revolution nicht entmutigen Im Vorgriff auf seine Geschichte des 19 Jahrhunderts publiziert er Ende 1852 jene profilierte Einleitung, die ihm den berüchtigten Hochverratsprozeß eintrug.36 Dann skizziert er seinen »Standpunkt der politischen Entwicklung in der Geschichtsepoche der neueren Zeit« Er entwirft das Panorama eines Kampfes um die Ideen von Freiheit und Demokratie, der aus einem spannungsreichen Zusammenspiel des romanischen und des germanischen Geistes seine Energien zieht und sich vom spaten Mittelalter über die Reformation, die Revolutionen in England, Amerika und Frankreich bis zu den Freiheitsbewegungen des 19 Jahrhunderts erstreckt Die politischen Bewegungen der Gegenwart sind »vom Instinkte der Massen getragen« und drangen in die »Richtung nach innerer Freiheit oder nach äußerer Unabhängigkeit, und meist nach beiden zugleich« v Gewiß, gegen abstrakte weltburgerhche Ideen, »die alle Volkerunterschiede verwischen mochten«, setzt Gervinus auf eine »Doppelgeleisigkeit« dieser Volksbewegungen, sie streben »innerlich nach freieren Staatsordnungen, äußerlich nach Wahrung der Unabhängigkeit der Volker und Stamme, nach einer politischen Scheidung, die der natürlichen Scheide der Nationalitäten und Sprachen gemäß ist« 1S Aber die Volker kämpfen für dieselben politischen Ziele, und diese entspringen einer Interaktion von Volks35 P ( J Hohendihl 1 iteiarische Kultur im 7titalte) da Liboalismus i8jo 1870 München 1985 K \ p VI und \ 11 36 W Boehlith (Hg ) DerHochver)atsp)ozeßgegen Gtrvmus,Yranktun/ M 1967 37 (7 G Gervinus, finleitung in du Geschichte des Neunzehnten Jahr hunderte (h^ \ W Boehhth) I rjnkfurt/M 1967 153 162 38 Gervinus (s 11137) ' 5 ° 3'
geistern, die miteinander kommunizieren und voneinander lernen Gervinus hatte mit Begeisterung Tocqueville gelesen und sieht in der demokratischen Verfassung Amerikas »das Vorbild und die Vorliebe der Massen« Das neue Staatsideal der Vereinigten Staaten, das die antiken Vorbilder abgelost habe, wurzelt nicht in Rechtsaltertumern, sondern in mo dernen Lebensbedingungen, die Egalitansmus und Individualismus zugleich hervorbringen »Denn das Streben nach der Gleichheit aller Verhaltnisse, nach der Freiheit von Mensch zu Mensch, ist in dem Selbstgefühle der Persönlichkeit notwendig begründet Die politische Gleichheit aber, wenn sie nicht der Ausdruck der gleichen Unterdruckung unter der Despotie ist, verlangt die Herrschaft des Volkswillens nach der Entscheidung der Mehrheit, bedingt eine Regierung, die nicht auf die Vorspiegelung eines gottlichen Rechts begründet ist , erfordert eine Gesetzgebung, die auf dem Bedürfnis der Gesellschaft ruht, über das die Gesamtheit selber urteilt« 3 ' Diese Rechtsprinzipien stehen nicht langer in Gegensatz zu nationalen Eigenarten, sondern resultieren aus einem merkwürdigen 2«sammenspiel der Volksgeister Zunächst sind die in protestantisch germanischen Landern ausgebildeten Gedanken der religiösen und der politischen Freiheit von Europa aus über den Atlantik nach Amerika gezogen, um dann, 1789, wiederum nach Osten zurückzuwandern Die Freiheitsideen kehren aber erst nach Europa zurück, nachdem sie durch das multikonfessionelle und multikulturellc Einwanderungsmiheu der amerikanischen Gesellschaft gefiltert und von konfessio neuen sowie nationalen »Beimischungen« gereinigt worden sind So jedenfalls beschreibt Gervinus die Ruckwirkung
der Amerikanischen auf die Franzosische Revolution »Bei der Uberwanderung der amerikanischen Freiheit nach Frankreich bewahrte sich ihr universeller Charakter Die politische Idee hatte sich in Amerika von der religiösen Beimischung gelost, ja sie hatte sich unter dem dortigen reinen Demokratismus, unter dem die Glieder aller Nationen gleich befriedigt lebten, selbst von nationalen Beschrankungen freigemacht Die germanisch-protestantische Besonderheit war nicht langer eine Bedingung ihres Weiterwirkens Sie eroberte bei ihrer Ruckwendung zuerst das größte der katholischen und romanischen Volker Eine ganz neue Welt war ihr damit zum Spielräume eröffnet «40 Die Botschaft ist deutlich, und die Herren verstanden sie nur zu gut Nach der Niederlage von 1848 wartet der in Frankreich begonnene »ostliche Siegeszug der Freiheit« erst recht darauf, in dem Lande vollendet zu werden, von wo die protestantische Idee der Freiheit einst ausgegangen ist Auf diese Weise pfropft Gervinus dem Partikularismus der Volksgeistlehre den universalistischen Gehalt des demokratischen Verfassungsstaates auf Bei ihm losen sich das Romanische und das Germanische immer mehr vom Boden konkreter Volker ab und verwandeln sich in Prinzipien, die vom einen Land zum anderen ziehen Unter den Händen des Historikers verlieren Volk und Volksgeist die klaren sprachwissenschaftlichen Konturen Deshalb hat Gervinus auf die Frage »Was ist ein Volk'« keine klare Antwort mehr Die hatte er bei Julius Frobel finden können, dem politisch aktiven Neffen des Reformpadagogen und einem sudwestdeutschen Demokraten, der wie Gervinus von der »Demokratie in Amerika« fasziniert ist und übrigens mit ihm zusammen als Abgeordneter der Nationalversammlung in der Paulskirche saß
39 Gervinus (s Fn 37) 166
40 Gervinus (s Fn 37), 135 33
Zur Zeit der Frankfurter Germanistentagung hatte Frobel unter dem Pseudonym C Junius ein Werk erscheinen lassen, worin er Jacob Grimms Definition des Volkes gleichsam vorwegnehmend kommentiert Ein Volk ist »die Gesamtheit aller der Menschen, welche eine gemeinsame Sprache reden, - (aber) die mögen wirklich diese Sprache als Erbteil reiner Stammesgemeinschaft besitzen, oder dieselbe mag das Erzeugnis einer Stammesvermischung sein, mit der das Volk als ein neues entstanden ist, oder es mag auch ein Volk mit gänzlicher Aufgebung seiner eigenen Sprache sich in das andere verschmolzen haben Es mag ferner die Gesamtheit von Menschen, welche die gemeinsame Sprache redet, einen einzigen Staat, eine Mehrheit von Staaten oder einen Staatenbund bilden, oder sie mag ein Bestandteil verschiedener Staaten sein, oder sie mag endlich ganz ohne politische Existenz heimatlos zerstreut leben «41 Für deskriptive Zwecke eignet sich weder ein rein politischer noch ein rein genealogischer Begriff des Volkes, denn Volker entstehen und vergehen »im Gang der Kultur« Normativ betrachtet, kann allein der Wunsch eines Volkes nach demokratischer Selbstbestimmung die Forderung nach politischer Unabhängigkeit begründen »Das sittliche, freie, eigentlich politische Moment in dem Dasein der Volker ist die Bundesbruderschaft aus freiem Entschluß «42 Es besteht ein normativer Vorrang der republikanischen Freiheit vor der Einheit einer Nation 43 Freilich erkennt Frobel, der in der Schweiz gelebt hatte, wie wichtig auch die vorpohtisch eingespielte - oder wenigstens lmagi41 J frobel, System der Sozialen Politik (2 Auf] 1847), Neudruck Aalen 1975 Bd 1, 242t 42 Frobel (s Fri4i), Bd 1,245 43 Unter diesem Gesichtspunkt kritisiert Probel übrigens schon damals das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in innere Angele genheiten eines anderen Staates und befürwortet humanitäre Interven tionen, vgl Frobel, Bd 1 250
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nierte - Gemeinsamkeit einer geteilten kulturellen Lebensform für die Lebensfähigkeit eines republikanischen Gemeinwesens sein kann »die gemeinsame Sprache und Literatur, der gemeinsame Typus der Kunst und Sitte« ist für Volker, die »ihre Existenz hauptsächlich auf freie Assoziation und Bundesgenossenschaft stutzen«, ein wertvolles Gut, namheh eine Ressource gesellschaftlicher Solidarität Aus Frobels weitsichtigen Überlegungen können wir, die wir heute an der Schwelle zu einer postnationalen Form der politischen Vergemeinschaftung verharren, immer noch etwas lernen Auf der Grundlage des Vertrages von Maastricht soll sich die Europaische Union über den Zustand einer funktionierenden Wirtschaftsgemeinschaft hinaus entwickeln In einem politisch geeinten Europa wurden aber auf vielen Pohtikfeldern, einschließlich der Sozialpolitik, Entscheidungen getroffen werden müssen, die dann für alle Mitglieder gleichermaßen verbindlich waren - für Danen und Spanier wie für Griechen und Deutsche, um nur diese zu nennen Die Akzeptanz von Entscheidungen, die der eine für den anderen mittragen muß, verlangt jene abstrakte Art von Solidarität, die sich zum ersten Mal wahrend des 19 Jahrhunderts zwischen den Burgern von Nationalstaaten hergestellt hat Die Danen müssen einen Spanier und die Deutschen einen Griechen ebenso als »einen von uns« zu betrachten lernen wie umgekehrt die Spanier einen Danen und die Griechen einen Deutschen Der notwendige Ausgleich zwischen verschiedenen Interessenlagen und Lebensverhaltnissen kann in keinem politischen Gemeinwesen allem aus dem klugen Kalkül je eigener Vorteile Zustandekommen Deshalb halten Pohtikwissenschaftler auch für das künftige Europa Ausschau nach »non-majontarian sources of legitimacy« Es bedarf eines Bewußtseins der Zusammengehörigkeit, das es den »frei assoziierten 35
Bundesgenossen« möglich machen wird, sich als Staatsburger miteinander zu identifizieren Im 19 Jahrhundert standen die europaischen Volker, freilich jedes für sich und noch nicht alle gemeinsam, vor einem strukturell ähnlichen Problem Was sich heute als europaische Identität aus einem über nationale Öffentlichkeiten hinausgreifenden Kommunikationszusammenhang noch herstellen muß, ist damals, in der Gestalt eines zweischneidigen Nationalbewußtseins, von kulturellen Eliten geschaffen worden Gewiß, die Idee der Nation hat in ihrer volkischen Lesart zu verheerenden Exklusionen gefuhrt, zum Ausschluß von Reichsfeinden - und zur Vernichtung der Juden Aber in ihrer kulturahstischen Lesart hat sie auch dazu beigetragen, einen solidarischen Zusammenhang zwischen Personen zu stiften, die bis dahin Fremde füreinander gewesen sind Die universalistische Umformung der angestammten Loyalitäten gegenüber Dorf und Familie, Landschaft und Dynastie war ein schwieriger und langwieriger Prozeß, der selbst in den klassischen Staatsnationen des Westens nicht vor dem Beginn des 20 Jahrhunderts die ganze Bevölkerung erfaßt und durchdrungen hat Im Hinblick auf die politische Einigung Europas stehen wir, wenn schon nicht in einer vergleichbaren Situation, so doch vor einer ähnlichen Aufgabe wie seinerzeit unsere Germanisten im Hinblick auf die politische Einigung ihrer Nation Der nationalstaathche Rahmen für die Implementierung von Menschenrechten und Demokratie hat, über die Grenzen von Stammen und Dialekten hinweg, eine neue, abstraktere Form der sozialen Integration möglich gemacht Wir stehen heute vor der Aufgabe, diesen Prozeß mit einem weiteren Abstraktionsschntt fortzusetzen Eine grenzüberschreitende demokratische Willensbildung braucht einen geeigneten Kontext Dafür müssen sich eine europaweite politische Öffentlichkeit und eine gemeinsame politische
Kultur entwickeln In einem solchen, über die Grenzen nationaler Gesellschaften hinausgreifenden Kommumkationszusammenhang muß aus einem langst bestehenden Geflecht von Interessen auch ein Zusammengehongkeits-bewußtsein entstehen Vielleicht haben wir den Kollegen im Vormärz eine tröstliche Einsicht voraus kollektive Identitäten werden eher gemacht als vorgefunden Aber sie dürfen Einheit nur zwischen Heterogenem stiften Auch unter Burgern desselben Gemeinwesens ist jeder für jeden ein anderer und dazu berechtigt, ein Anderer zu bleiben
V Das unpolitische Selbstverstandms der deutschen Philologie Angesichts dieser aktuellen Herausforderung konfrontiert uns die Frankfurter Gelehrtenversammlung erst recht mit der Frage, warum seit jenem ersten gescheiterten Versuch von deutschen Universitäten eine ähnlich sichtbare Initiative zur Einflußnahme auf die politische Öffentlichkeit nicht wieder ausgegangen ist Abschließend will ich, am Beispiel der Germanistik, nur auf eine in der Entwicklung des Faches selbst liegende Disposition hinweisen Umversitatsfacher wie die Germanistik nehmen, soziologisch betrachtet, verschiedene Funktionen wahr Neben Zwecken der Forschung und der Berufsvorbereitung dienen sie auch der Allgemeinbildung und der öffentlichen Selbstverstandigung der Gesellschaft 44 Die deutsche Philologie hat diese Funktionen auf eine bemerkenswert asymmetrische Weise erfüllt sie hat sich im wesentlichen auf ihre Forschungsaufgaben konzentriert Gerade diese 44 T Parsons, G M Platt, The American Unwersity, Cambr, Mass 1973, 90 ff 37
unreflektierte Wissenschaftlichkeit hat aber das Fach vor falscher Politisierung nicht geschützt Aus der Distanz betrachtet, scheint sich die Geschichte der Germanistik unauffällig in ein Schema einzufügen, das die Wissenschaftssoziologie für die Entwicklung akademischer Fächer allgemein aufgestellt hat Um 1800 wird in Deutschland die mittelalterliche Gelehrtenkorporation in eine verstaatlichte Universität mit Forschungs- und Ausbildungsfunktionen umstrukturiert. An die Stelle der Hierarchie von oberen und unteren Fakultäten tritt die Umversitas der Fächer, die sich, verkörpert in disziphnaren Gemeinschaften, auf honziontaler Ebene voneinander differenzieren Mit dieser Ausdifferenzierung kommt auch ein neuer Typus von Wissenschaft zum Zuge Die wissenschaftliche Arbeit wird nach dem Vorbild der modernen Naturforschung von der Systematisierung bewahrten Wissens auf die methodische Erzeugung neuen Wissens umgestellt Der Singular »der« Wissenschaft bezieht sich nicht langer auf die individuelle Tugend der Gelehrsamkeit, die man besitzt, sondern auf die Rationalität eines unpersönlichen Verfahrens, das man befolgt. Lachmanns Berufung 1818 und Jacob Grimms Deutsche Grammatik 1819 bilden, wie oft bemerkt, die symbolischen Daten für die Abgrenzung einer germanistischen Wissenschaft vom dilettantischen Umgang mit deutscher Literatur - und zwar nicht nur von der Sammlertatigkeit der Gelehrten alten Typs, sondern auch von den Entdekkungen der Amateurforscher und der patriotischen Begeisterung jener Liebhaber altdeutscher Texte, die damals dem antifranzosischen Zeitgeist verhaftet sind 45 Nachdem das 45 K Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des ly Jahrhunderts, München 1989, U Hunger, Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft, in Fohrmann, Voß kamp (s Fn 5), 236 263
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Fach eine philologische Identität ausgebildet hat, folgt die Institutionahsierung der Lehrstuhle, der disziphnaren Gemeinschaften und der wissenschaftlichen Kommunikation Zusammen mit der romanischen und der slawischen bildet jetzt die germanische Philologie den Facherkanon der modernen Philologien Sie etabliert sich auch als Schulfach und bedient mit Literaturgeschichten ein bildungsburgerhches Publikum Schließlich differenziert sich das Fach intern in altere und neuere Germanistik, von der historischen Sprachwissenschaft trennt sich dann noch einmal die allgemeine Linguistik Als sich im Laufe des 20 Jahrhunderts ein Pluralismus von Forschungsrichtungen und Methoden durchsetzt, scheint die Germanistik die übliche Karriere eines wissenschaftlichen Faches absolviert zu haben Bei näherer Betrachtung zeigt das historische Profil des Faches jedoch Besonderheiten Zunächst denkt man an politische Verwicklungen, man erwartet ja, daß ein auf nationale Literatur und Muttersprache spezialisiertes Fach zum gesellschaftlichen und kulturellen Leben, auch zur politischen Öffentlichkeit eine größere Nahe hat als andere Disziplinen Aber erstaunhcherweise hat die Umversitatsgermamstik vor allem ihren wissenschaftlichen Auftrag betont, sie hat sich wahrend des ganzen 19 Jahrhunderts gegen gesellschaftliche Imperative eher abgeschirmt Im Verhältnis zur Forschungsorientierung waren die Leistungsbezuge zum Beschaftigungs- und Bildungssystem sowie zur lesenden und politischen Öffentlichkeit unterentwickelt, jedenfalls unausgeglichen Funktionen der Berufsvorbereitung, der Allgemeinbildung und der öffentlichen Selbstverstandigung hat die Germanistik nur unzureichend erfüllt Der von der klassischen Philologie herkommende Karl Lachmann spielte am Anfang eine überragende Rolle, weil das Fach über philologische Arbeiten an textkritischen 39
Ausgaben seine Identität gewonnen hat. Es konnte seine Wissenschaftlichkeit dank einer der klassischen Philologie entlehnten Methode unter Beweis stellen. Das war für die Konstituierung des Faches gewiß wichtig. Aber nach dem Abschluß dieser Phase hat dieses selbe Methodenbewußtsein im längst etablierten Fach offenbar zur Fetischisierung eines Wissenschaftsanspruches gedient, hinter dem sich Professoren, die an Pädagogik, öffentlichem Einfluß und Popularisierung wenig interessiert waren, verschanzen konnten. Das Fach hat sich in seiner spröde-philologischen Gestalt Forderungen nach einer Öffnung gegenüber Schule und Publikum nur zögernd unterworfen. Aus dieser Motivation ist auch der sogenannte Nibelungenstreit zu verstehen, der sich an Lachmanns enthaltsamer, auf Kommentierung verzichtender Editionspraxis entzündete. Die gegnerischen Parteien warfen sich einerseits unfruchtbares Spezialistentum, andererseits wohlmeinenden Dilettantismus vor.46 Die »Philologisierung« bedeutet auch das Ende jener räsonnierenden Literaturgeschichte im Stile von Gervinus und Prutz, die der Aufklärung des großen Publikums hatte dienen sollen. Dieser Typus geriet nach 1848 in Verruf, galt als journalistisch und unwissenschaftlich. Klaus Weimar spricht von der »Austreibung des Geistes aus der Literaturgeschichte«, denn diese wird auf das Format eines historisch-philologischen Forschungsprogramms zugeschnitten. Die Literaturgeschichte geht seit der Mitte des Jahrhunderts aus der Zuständigkeit der Philosophen und Historiker in die Hände von Germanisten über, die ihre Reputation in der altdeutschen Philologie erworben hatten. Sie 46 R. Kolk, Liebhaber, Gelehrte, Experten, in: Fohrmann, Voßkamp (s. Fn 5), 84-87; zur Entwicklung des Faches von den romantischen Anfängen zur »esoterischen Elitedisziplin« vgl. R. Krohn, Die Altgermanistik des 19. Jahrhunderts und ihre Wege in die Öffentlichkeit, ebd. 264-333 40
hatten gelernt, Texte herauszugeben und zu kommentieren, d. h., mit Wort- und Sacherklärungen zu versehen, nicht aber Texte zu interpretieren.*7 Von dieser Praxis, die biographische Einzeldarstellungen einschließt, bildet Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Literatur (von der ich aus der Studienzeit meines Vaters noch ein Exemplar der 12. Aufl. von 1910 geerbt habe) allerdings eine Ausnahme. Im allgemeinen verschließen sich die Universitätsgermanisten den Bedürfnissen nicht nur des breiteren Publikums, sondern auch der Schule. Bis zum Ende des ^.Jahrhunderts blieb der philologische Unterricht an deutschen Gymnasien eine Unterweisung in alten Sprachen und klassischer Literatur. Latein und Griechisch besaßen nach wie vor das Bildungsmonopol; Deutsch spielte im Stundenplan eine marginale Rolle.48 Nicht als wäre die Lobby beim preußischen Kultusministerium zu schwach gewesen. Nach Auswertung der Protokolle der »Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner« zwischen 1862 und 1934 gelangt Detlev Kopp zu dem Schluß, daß die Germanisten an einem größeren Unterrichtsanteil gar nicht interessiert waren: »Das Hauptinteresse der Universitätsgermanistik galt... weit weniger der schulischen Praxis... als dem Ziel, den Stellenwert des Faches in der Hierarchie der Wissenschaften... zu steigern.«49 Wenn eine Germanistik, die ihre ganze Reputation aus der Forschung ziehen wollte, ihre gesellschaftlichen und kulturellen Aufgaben nur unzureichend wahrnimmt, besagt das freilich noch nichts über ihren latenten Einfluß auf die Mentalität des gebildeten Bürgertums. Die frühe Germanistik wurzelt, wie wir gesehen haben, in einer Philoso47 Weimar (s. Fn 45), 319-346 48 D. Kopp, Deutsche Philologie und Erziehungssystem, in: Fohrmann, Voßkamp (s. Fn 5), 669-741 49 Ebd. 705 41
phie der Geisteswissenschaften, die Sprachdenkmaler und literarische Überlieferungen als verehrungswurdige Zeug msse des Volksgeistes auszeichnet Vor diesem Hinter grund nimmt die streng methodische Bearbeitung von Tex ten Zuge des Rituellen an, sie wird als andachtige und identitassichernde Wiederaneignung eines unendlich wertvollen Besitzes verstanden Darüber -wachst der Auswahl der Texte der Rang einer Kanonisierung zu Mit ihrem pro fessionellen Ethos der Sicherung und Reinigung von Texten, die zum bewahrenswerten nationalen Erbe gehören, hat die esoterische Disziplin eine breite bewußtseinsbildende Wirkung dadurch erlangt, daß sie die maßgebenden nationalen Bildungsguter kanonisiert Die Germanistik, »die in einem ersten Schritt die Methoden der Altphilologie auf die volkssprachlichen Texte des Mittelalters anwandte und sich in einem zweiten Schritt der deutschen Literatur geschichte zuwandte findet ihr Komplement in der Kanomsierung der deutschen Klassiker Was in der historischen Wissenschaft in Bewegung gebracht wird, wird in der Klassikerkanonisierung dem Strom der Zeit enthoben und für stille Kontemplation oder verbindliche Anschauung stillgestellt «50 Für den intrinsischen Wert der Gegenstande, an denen sich der Geist bilden soll, hatte der Humanismus den Begriff des »Klassischen« zur Verfugung Aber bereits bei Friedrich Schlegel hat sich dieser Begriff von der klassischen Antike gelost und ist für andere Besetzungen frei geworden, seitdem konnte er auch auf moderne Gegenstande angewendet werden 51 Davon profitierten die neuen Philo-
logien, insbesondere die germanische Für den Leser zahlen jetzt alle Werke als »klassisch«, von denen er, ungeachtet des Zeitenabstandes, Wesentliches lernen kann 52 Die Frage ist, wer darüber entscheidet, was wesentlich ist Über den wesentlichen Gehalt eines Werkes entscheiden weder Text noch Leser allein, sein klassischer Rang muß sich in der Lektüre selbst erweisen Dadurch entsteht eine Unbestimmtheit, der die deutsche Philologie leicht begegnen kann, weil ja für sie die philologische Methode, die dem Leser die Texte erst zugänglich macht, mit der Autorität des Volksgeistes verknüpft ist Diese Autorität begründet per se die Vermutung, daß Texte, in denen sich der Volksgeist äußert, einen identitatsbildenden, also wesentlichen Gehalt haben Der Bezug zum authentischen Volksgeist, der den frühen Geisteswissenschaften von Herder eingeschrieben worden ist, sichert der Germanistik einen Bildungsauftrag, den sie als philologische Disziplin, und nur als solche, glaubte erfüllen zu sollen Als Wissenschaft leistet sie denn auch mit ihrer editorischen Praxis einen Beitrag zur Umstellung einer pietistisch aufgeladenen Bildungsidee von der »Menschheit« auf die »Nation« Spätestens seit dem Kaiserreich geht auch in den Köpfen der Germanisten selbst das unpolitische Ethos der Wissenschafthchkeit mit einer von nationalen Mythen geprägten Mentalität Hand in Hand Dann spiegelt sich, was Aleida Assmann die »Koevolution von Verwissenschaftlichung und Sakrahsierung« genannt hat Jetzt entwickelt sich namheh eine gesellschaft liehe Arbeitsteilung zwischen ausdifferenzierten Wissen-
50 A Assmann Du Arbeit am nationalen Gedächtnis Frankfurt/M 1993 61 51 N Wegmann Was beißt einen klassischen Text lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung, in Fohrmann, Voß kimp(s Fn 5), 334 450
52 So noch H G Gadamer, Wahrheit und Methode, Tubingen i960 271 >Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhalt, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung aller historischen Reflexion schon voraushegt und sich in ihr durchhalt
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Schäften, die das nationale Erbe verwalten und kanonisieren, auf der einen Seite, sowie einer kultisch überhöhten, zugleich entdifferenzierenden, scheinbar privaten, plattnationale Gesinnungen erzeugenden »Bildung« auf der anderen Seite In den Schulen, die von der Umversitatsgermamstik sich selbst überlassen worden sind, nimmt der Deutschunterricht den Charakter von Weihestunden an, hier werden die Klassiker als deutsche Geistesheiden gefeiert, ihre Texte werden verehrt, aber nicht analysiert 53 Die literarische Vereins- und Denkmalskultur bezeugt mit ihren Festreden, Pilgerzugen und Gedenkfeiern, wie eine nationalpadagogisch zugerichtete Literatur in der Öffentlichkeit zelebriert wird »Die religiöse Gestalt der Bildungsidee gewinnt dort ihr Profil, wo dem tendenziell unaufhaltsamen Entwicklungsgang der Wissenschaft die Verfestigung ihrer Gegenstande in absoluter Wertsteigerung entgegengehalten wird «54 Für ihre Sterilität ist der verwissenschaftlichten Germanistik freilich die Rechnung präsentiert worden In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nahmen sich Fachfremde wie Wilhelm Dilthey oder Georg Simmel der Interpretation des literarischen Kunstwerks an 1911 machte Friedrich Gundolf mit seinem Shakespeare und der deutsche Geist großen Eindruck Nun setzte, im Anschluß an Diltheys Aufsatzsammlung Das Erlebnis und die Dichtung (1906), auch innerhalb des Faches eine »geistesgeschichtliche Wende« ein Damit öffnete sich zwar die Umversitatswissenschaft endlich gegenüber Gymnasium und Öffentlich keit 5 ' Aber der Kult des Dichterischen ging bloß in die Re53 D Kopp (s F n 4 8 ) , 725 54 Assmann (s Fn 50), 46 55 F Trommler, Germanistik und Öffentlichkeit, in Ch Konig, L Lam mert, l iteraturwissenschaft und Geistesgeschichtt, Frankfurt/M 1993 3°7 33° 44
gie einer methodisch aufgeweichten Wissenschaft über, die dann auch von innen politisiert werden konnte Die Ausrichtung auf geistesgeschichtliche Zusammenhange bahnte gewiß einen hermeneutischen Zugang zum Kunstwerk, verbaute aber gleichzeitig andere Wege, die die Fixierung auf's Eigene, Vertraute und Verehrungswurdige hatten auflosen können Ansätze zu einer vergleichenden Literaturgeschichte, wie sie in der Romanistik ausgebildet waren, fanden kein Echo, die Anfange der Literatursoziologie, die gesellschaftliche Funktionszusammenhange der Literaturproduktion und ihrer Rezeption durchleuchtete, wurden marginalisiert, eine Ästhetische Theorie, die den Blick auf das radikal Andere und Dissonante der im Aufbruch begriffenen Moderne hatte hinlenken können, kam trotz Wornnger gar nicht erst auf 56 Gegen das Elend einer »geschlossen irrationalistischen Front der Literaturwissenschaft«, die um das »Geheimnis der dichterischen Seele« bangt, mußte Leo Lowenthal bereits 1932 die rationale Erfassung des literarischen Gegenstandes, und einen analytischen Zugang zu ihm, verteidigen 57 Lowenthals Aufsatz Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur ist im ersten Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung enthalten - zugleich dem letzten, der in Deutschland erscheinen konnte Zusammen mit einer triumphierenden Geistesgeschichte hatte ein anderer Geist die deutschen Universitäten erobert Für diese bildet Theodor W Adorno, mehr noch als Benjamin, den Gegentypus schlechthin Adorno hat Eichendorff mit dem Surrealismus58 und das Inwendige der ästhetischen Struktur mit dem Auswen56 W Voßkamp, 1 iteratursozwlogie Line Alternative 7ur Geistesge schichte? in Konig Lammen (s Fn 5 j), 291 303 57 Leo Lowenthal, 7ur gesellschaftlichen Lage der Literatur in Zschr f Sozialforschung,! 1932,85 102, hier S 87 58 T W Adorno, Noten zur Literatur, Frankfurt/M 1958
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digen der gesellschaftlichen Praxisw zusammengebracht. Jene zunächst unterdrückten Alternativen der Forschung hat er, nach seiner Rückkehr aus dem Exil, hier in Frankfurt zusammengeführt und gegen eine ausschließlich an Geistesgeschichte orientierte Denkungsart auch innerhalb der Germanistik zur Geltung gebracht - wie man exemplarisch am Werk von Peter Szondi sehen kann.
59 T.W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 24: »Keine Kunst, die nicht negiert als Moment in sich enthalt, was sie von sich abstoßt.«
Über den öffentlichen Gebrauch der Historie
Der Demokratiepreis, den das erste Mal Bärbel Bohley und Wolfgang Ullmann für die Bürgerrechtler der DDR entgegengenommen haben, geht an den diesjährigen Preisträger mit der folgenden Begründung: Daniel Goldhagen habe »aufgrund der Eindringlichkeit und der moralischen Kraft seiner Darstellung dem öffentlichen Bewußtsein in der Bundesrepublik wesentliche Impulse gegeben«; er habe »die Sensibilität für Hintergründe und Grenzen einer deutschen >Normalisierung<« geschärft. Die Bezugnahme auf die rhetorische Wirkung des Buches und auf die Streitfrage der Normalisierung, die sich im Übergang zur Berliner Republik erneut stellt, läßt erkennen, was das Kuratorium der Blätter für deutsche und internationale Politik mit dieser Preisverleihung im Sinn hat - und was nicht. Es kann und will nicht in eine wissenschaftliche Kontroverse eingreifen. Auch in Deutschland haben sich bedeutende Historiker, oft mit der Energie eines ganzen akademischen Lebens, um die Erforschung der Nazi-Zeit und um die politische Aufklärung der Bürger über die komplexe Vorgeschichte des Holocaust große Verdienste erworben. Stellvertretend nenne ich nur Martin Broszat, Hans Mommsen und Eberhard Jaeckel sowie unter den Jüngeren Ulrich Herbert, Dietrich Pohl und Jörg Sandkühler. Die Frage ist nicht, wer von den Zeithistorikern die Aufmerksamkeit einer breiten Leserschaft verdient hätte, sondern wie die ungewöhnliche Aufmerksamkeit interessierter Bürger zu bewerten ist, die das Buch von Daniel Goldhagen tatsächlich gefunden hat. Der performative Sinn der Preisverleihung besagt, daß die öffentliche Resonanz, die Buch und Autor in der Bundes47
republik gefunden haben, ebenso verdient wie begrußens wert ist' Diese Aussage stoßt auf vehementen Widerspruch Das Buch, so heißt es, befriedige mit einer globalen und eineb nenden Darstellung eines komplexen Geschehens das Bedürfnis des Massenpubhkums nach vereinfachenden Erklärungen Mit Stilmitteln einer Ästhetik der Grausamkeit erziele es emotionale Wirkungen, mit obszönen Schilderungen verdunkele es das Urteilsvermögen Andere Vorwurfe beziehen sich weniger auf den Text als vielmehr auf die Mo tive der Kauf er und Leser Hier begegnen wir den bekannten Stereotypen von »Gutmenschentum«, »negativem Nationalismus« und »Auszug aus der Geschichte« Die Nachkommen der Tater verschafften sich durch die nachträgliche Identifikation mit den Opfern eine kostenlos selbstgerechte Genugtuung Sie ergriffen wieder einmal die Gelegenheit, die Loyalität zu eigenen Überlieferungen aufzukündigen und ins schimärisch Postnationale zu fluchten Ich muß gestehen, daß ich diese aufgeregten Reaktionen nicht verstehe Sie versuchen, ein Phänomen zu erklaren, das keiner Erklärung bedarf Eine breite Resonanz auf ein solches Buch war tnvialerweise zu erwarten Man muß sich nur klarmachen, wie beides ineinandergreift Goldhagens analytische Fallstudien zur Judenvernichtung und die Erwartungshaltung eines Publikums, das an der Aufklarung dieses kriminellen Kapi tels seiner Geschichte interessiert ist Goldhagens Unter suchungen sind genau auf die Fragen zugeschnitten, die unsere privaten wie öffentlichen Diskussionen seit einem halben Jahrhundert polarisieren Seit den Anfangen der Bundesrepublik besteht ein Gegensatz zwischen denen, die i
Der Text lag der I audatio zugrunde die ich anläßlich der Preisverlei hung am 10 Mar? 1997 gehalten habe
den Zivilisationsbruch lieber wie ein Naturereignis aus den Umstanden erklaren, und denen, die ihn eher verantwort lieh handelnden Personen zuschreiben, und zwar nicht nur Hitler und seiner engsten Clique Heute begegnen sich beide Parteien mit wechselseitigen Motivunterstellungen der Diagnose der Verleugnung steht der Vorwurf selbstge rechter Morahsierung gegenüber Dieser heillose Streit verdeckt die zugrundeliegende Frage Was bedeutet überhaupt eine retrospektive Zurechnung von Verbrechen, die wir heute zum Zwecke einer ethisch-politischen Selbstverstandigung unter Burgern vornehmen' Goldhagen gibt einen weiteren Impuls zum Nachdenken über den richtigen of fenthehen Gebrauch der Historie In Diskursen der Selbstverstandigung, die durch Filme, Fernsehserien und Ausstellungen ebenso wie durch histo nsche Darstellungen oder »Affairen« angeregt werden, streiten wir uns nicht über kurzfristige Ziele und Politiken, sondern über Formen des erwünschten politischen Zusam menlebens, auch über die Werte, die im politischen Ge meinwesen Vorrang haben sollen Gleichzeitig geht es darum, in welchen Hinsichten -wir uns als Burger dieser Republik gegenseitig achten können - und als wer wir von an deren anerkannt werden mochten Dafür bildet die natio nale Geschichte einen wichtigen Hintergrund Nationale Überlieferungen und Mentalitäten, die Teil unserer Person geworden sind, reichen namheh weit hinter die Anfange dieser Republik zurück Diese Verbindung aus politischem Selbstverstandnis und historischem Bewußtsein bestimmt auch die Perspektive, aus der Goldhagens Buch für uns relevant wird Weil aus der Mitte unseres Lebenszusammenhanges jenes singulare Verbrechen hervorgegangen ist, an dem sich erst der Begriff eines »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« hat bilden können, stellen sich für die Nachgeborenen, die sich über ihre politische Existenz in 49
diesem Lande klar werden wollen, wie von selbst die folgenden Fragen Kann politische Massenknminahtat überhaupt einzelnen Personen oder Personengruppen zur Last gelegt werden5 Wer waren gegebenenfalls die verantwortlich Handelnden, und was waren ihre Grunde 5 Waren normative Rechtfertigungsgrunde, soweit sie den Ausschlag gegeben haben sollten, in Kultur und Denkweise verankert 5 Es muß unser Selbstverstandnis affizieren, wenn Goldhagen einem repräsentativen Kreis von irgendwie doch überzeugten Tatern eine subjektive Rechtfertigung zuschreibt, die ein integraler Bestandteil damals herrschender Grunduberzeugungen gewesen ist »Die Juden repräsentierten eine Art Riß im deutschen kulturellen Gewebe einen Riß, an dem alle kulturellen Tabus zerbrachen, wenn die Deutschen sich über die Juden erregten«2 Vorausgesetzt, daß die jeweils lebenden Generationen in der Art ihres Denkens und Empfindens, in der Gestik des Ausdrucks und in der Weise ihrer Wahrnehmung über ein Gespinst kultureller Faden mit Lebensform und Denkweise vergangener Generationen verknüpft sind, muß eine solche Behauptung, wenn und soweit sie zutrifft, den naiven Vertrauensvorschuß gegenüber eigenen Traditionen erschüttern Diese kritische Einstellung gegenüber Eigenem ist es, •was Goldhagens Studie fordert - und was die Besorgnis mancher Konservativer auf den Plan ruft In diesen Kreisen glaubt man, daß nur fraglose Traditionen und starke Werte ein Volk »zukunftsfahig« machen Deshalb gerat jeder skeptisch sondierende Ruckblick in den Verdacht hemmungsloser Morahsierung Seit 1989 festigt sich im vereinigten Deutschland eine neue Sorte von vaterD Goldhagen, Hitlers zjdhge Vollstrecker, Berlin 1996, 87 (Seitenanga ben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe)
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landischem Geist, dem die Lernprozesse der letzten Jahrzehnte schon »zu weit« gehen Am 19 6 1948 notierte Carl Schmitt, daß ein »Bußprediger« wie Karl Jaspers kein Interesse verdiene Das jammerliche Verdrangungsvokabular jenes unsäglichen »Glossariums«, das sich bei jedem selbstkritischen Wort gegen »falsche Bußwilhgkeit« aufbäumt, ist spater in Weikersheim wieder aufbereitet worden und wirkt heute, im Sog des erfolgreichen Ablenkungsmanövers gegen »pohtical correetness«, weit über den Kreis der Unbelehrbaren hinaus Auch Andersgesinnte scheinen zu furchten, daß Goldhagens Studie eine fragwürdige moralische Abrechnung mit den unwissenden Zeitgenossen des Holocaust schürt Gerade an dieser Untersuchung laßt sich jedoch zeigen, daß historische Fragen der subjektiven Zurechnung im aktuellen Zusammenhang einer ethisch-pohtischen Selbstverstandigung einen ganz anderen Stellenwert haben Ich •werde zunächst daran erinnern, wie ein legitimer öffentlicher Gebrauch der Historie überhaupt möglich ist, um dann zu erklaren, warum sich Goldhagens Fallstudien für eine von morahstischen Mißverstandnissen freie ethisch politische Selbstverstandigung eignen
I Die moderne Geschichtsschreibung hat zwei Adressaten, die Zunft der Historiker und das allgemeine Publikum Eine gute zeithistonsche Darstellung soll gleichzeitig den kritischen Maßstaben der Wissenschaft und den Erwartungen einer interessierten Leserschaft gerecht werden Vom Interesse dieser Leser, die Aufklarung über den eigenen historischen Standort heischen, darf sich freilich der Blick des Historikers nicht dirigieren lassen Sobald die Sicht des analysierenden Beobachters mit der Perspektive ver51
schmilzt, die die Teilnehmer an Selbstverstandigungsdiskursen einnehmen, degeneriert Geschichtswissenschaft zu Geschichtspohtik Das Bündnis von Historismus und Nationalismus hat sich einst dieser Konfusion verdankt, eine ahnliche Konfusion spiegelt sich heute noch in Tendenzen, den kalten Krieg mit histonographischen Mitteln fortzusetzen. Es versteht sich von selbst, daß nur integre Wissenschaftler, die in dieser Hinsicht auf der Differenz von Beobachter- und Teilnehmerperspektive beharren, zuverlässige Experten sein können Auf historische Experten ist beispielsweise die politische Strafjustiz angewiesen Wenn es um politische Massenknminahtat geht, behandeln beide, Justiz und Zeitgeschichte, dieselben Zurechnungsfragen Beide interessieren sich dafür, wer an solchen Verbrechen beteiligt war, ob die eingetretenen Handlungsfolgen eher den Personen oder eher den Umstanden zur Last gelegt werden müssen, ob die verstrickten Personen überhaupt anders hatten handeln können, ob sie gegebenenfalls aus normativen Überzeugungen oder aus Klugheitsgrunden gehandelt haben, ob ein anderes Verhalten zumutbar war usw Aber der Strafnchter kann von historischen Gutachten - wie umgekehrt auch der Historiker von den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft - nur profitieren, solange beide dieselben Phänomene aus verschiedenen Perspektiven betrachten Die eine Seite ist an der Frage der Vorwerfbarkeit von Handlungen interessiert, die andere Seite an der Aufklarung ihrer Ursachen Aus der Sicht des Historikers entscheidet die Zurechenbarkeit von Handlungen nicht über Schuld und Unschuld, sondern über die Art der erklärenden Grunde Wie immer auch die Erklärung aussehen mag - ob die Grunde eher in den Personen oder in den Umstanden liegen -, als solche kann eine kausale Erklärung den Handelnden weder belasten noch entschuldigen. Erst aus der Perspektive von
Beteiligten, die sich vor Gericht oder im Alltag begegnen und voneinander Rechenschaft fordern, verwandeln sich Fragen der Zurechnung in rechtliche - oder auch moralische - Fragen Denn auch unter moralischen Gesichtspunkten geht es, allerdings ohne die strikten Verfahrensregeln der Strafprozeßordnung, um die Beurteilung von Recht und Unrecht Wie für die Zwecke der Justiz, so können historische Kenntnisse im Alltag natürlich auch für moralische Auseinandersetzungen verwendet •werden - etwa in der sprichwörtlichen Auseinandersetzung zwischen »Vätern und Söhnen« In beiden Fallen wird historisches Wissen für die Betroffenen in der gleichen Hinsicht relevant Diese Hinsicht auf Gerechtigkeit unterscheidet sich aber von jenem Aspekt, unter dem sich nachgeborene Generationen einer geschichtlichen Erbschaft vergewissern, die sie als Burger eines politischen Gemeinwesens so oder so antreten müssen. Auf diese Differenz kommt es mir an Die erklärenden Zurechnungen des Historikers gewinnen aus der Sicht der ethisch-politischen Selbstverstandigung der Burger eine andere Funktion, als sie in moralischen oder rechtlichen Diskursen haben wurden Hier geht es nicht primär um Schuld oder Entschuldigung der Vorfahren, sondern um eine kritische Selbstvergewisserung der Nachkommen Das öffentliche Interesse der spater Geborenen, die nicht wissen können, wie sie selbst sich damals verhalten hatten, richtet sich auf ein anderes Ziel als der Eifer moralisch urteilender Zeitgenossen, die sich in demselben Interaktionszusammenhang vorfinden und einander zur Rede stellen Schmerzliche Enthüllungen über das Verhalten der eigenen Eltern und Großeltern, die ja nur Trauer auslosen konnten, bleiben eine private Angelegenheit zwischen den unmittelbar Beteiligten Als Burger nehmen hingegen die Nachfahren ein öffentliches Interesse 53
am dunkelsten Kapitel ihrer nationalen Geschichte im Hinblick auf sich selbst Dabei zeigen sie nicht auf andere Sie wollen sich über die kulturelle Matrix eines belastenden Erbes Klarheit verschaffen, um zu erkennen, wofür sie gemeinsam haften und was gegebenenfalls von den Traditionen, die damals einen verhängnisvollen Motivationshintergrund gebildet haben, noch fortwirkt und der Revision bedarf Aus einem weit verbreiteten individuell schuldhaften Verhalten in der Vergangenheit entsteht das Bewußtsein kollektiver Haftung, mit der Zuschreibung kollektiver Schuld, die schon aus begrifflichen Gründen ein Unding ist, hat das nichts zu tun 3
II Goldhagens Fallstudien, insbesondere die Untersuchungen über Polizeibataillone und Todesmarsche, sollen innerhalb eines bestimmten theoretischen Rahmens Schlüsse von beobachteten Handlungsweisen auf orientierende Deutungsmuster und Mentalitäten erlauben Die sozialwissenschafthch angelegten Untersuchungen lesen sich wie nachgestellte Experimente und gehorchen insofern dem Eigensinn autonomer Forschung Zugleich kommen aber die analytischen Gesichtspunkte, unter denen die verantwortlichen Tater, die Beweggrunde ihrer exzeptionellen Handlungen und die zugrundeliegenden kognitiven Muster erfaßt werden, jenem öffentlichen Interesse entgegen, das wir, im Lande der Tater, an einer aufrichtigen, d h 3 H Jäger, der selbst eine frühe Studie zur nationalsozialistischen Gewalt knminahtat vorlegt hat, betont, daß Goldhagens Buch nicht, wie ihm oft vorgeworfen wird, eine Kollektivschuld behauptet, sondern >eine mas senweise individuelle Schuld vor Augen fuhrt Die Widerlegung des funktionahstischen Taterhildes, in Mittelweg 36, Febr/Marz 1997
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nicht-morahsierenden Selbstverstandigung haben Gewiß, eine klare Analysestrategie entscheidet noch nicht über die Richtigkeit der Ergebnisse Aber inzwischen hat eine wohltuend entdramatisierende Auseinandersetzung der Fachleute mit den Details dieser Untersuchungen eingesetzt Die mit dem Material vertrauten Spezialisten erheben im einzelnen eine Fülle von Einwanden, nehmen aber Goldhagens Ansatz ernst 4 Mich besticht das klare Argumentationsmuster Goldhagen definiert den Kreis von Tatern, den er untersucht, durch die Zugehörigkeit zu Mordinstitutionen und die unmittelbare Teilnahme an Aktionen der Judenvermchtung Diese Tater operieren gleichsam am Ausgang einer komplexen Geschehenskette Dadurch erledigen sich Fragen der objektiven Zurechnung, die bei den starker anonymen, arbeitsteiligen und administrativen Ablaufen des organisierten Massenmordes nicht so leicht zu entscheiden sind Zugleich beantworten sich 'weitere Fragen - welche Normen verletzt worden sind und ob die Tater Kenntnis davon hatten - durch die Art der Verbrechen von selbst Die Analyse setzt dann mit der Frage ein, ob die Tater subjektiv zurechenbar gehandelt haben, ob sie also die vorhersehbaren und vermeidbaren Folgen ihres Handelns gekannt und gewollt haben Goldhagen schließt aus der Logik alltäglicher Situationen innerhalb wie außerhalb des mörderischen »Dienstes« auf den Spielraum, den die Beteiligten für eine reflektierte Stellungnahme zu ihren eigenen Handlungen und Verwicklungen gehabt haben müssen »die Tater lebten in einer Welt, in der Nachdenklichkeit, Diskussion und Auseinandersetzung möglich waren « (318) Sodann prüft Goldhagen Fragen der Zumutbarkeit Ha4 Dieter Pohl, Du Holocaust Forschung und Goldhagens Thesen, in Vier teljahreshefte für Zeitgeschichte, 1997, 1 48
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ben nicht die Umstände ein anderes Verhalten unmöglich gemacht5 Hier verweist er auf Aktionen, für die sich Frei willige fanden oder welche die Manner aus eigener Initiative unternahmen, auf Angebote, sich von der Teilnahme an den Massakern freistellen zu lassen, und auf Gelegenheiten, sich in actu den Totungsaktionen straflos zu entziehen Of fenbar wußten die Manner auch, daß sie sich notfalls ver setzen lassen und sogar Befehle ohne Gefahr für Leib und Leben verweigern konnten Ebensowenig spricht die »überflüssige« Gewalt, also die exzessive Grausamkeit der Mordeinsatze (auf die Goldhagen aus analytischen Grün den eingeht), für eine unentrinnbare Zwangslage Andere Entschuldigungsgrunde wie den sozialpsychologisch wirk samen Druck der Gruppe, die Gewohnung an staatlich sanktionierte Massenknminahtat oder eine unbewußte Bindung an staatliche Autorität glaubt Goldhagen aus schließen zu können Der naheliegenden Vermutung, daß dieser Typ von Tatern an die formale Autorität von Vorgesetzten in besonderer Weise fixiert gewesen sein konnte, begegnet Goldhagen mit Beispielen von Opposition und offenem Widerspruch in anderen Fallen, die nichts mit der Ermordung von Juden zu tun hatten Auch Eigeninteresse scheint nicht überwiegend im Spiel gewesen zu sein Für Goldhagens weitere Überlegung ist jedenfalls die Annahme wichtig, daß Korruption, Ehrgeiz oder Karnereinteresse nicht ausschlaggebend waren Eine Bestätigung ist das ge radezu bizarre Verhalten der Begleitmannschaften auf den Todesmarschen wahrend der letzten Kriegstage Wenn aber diese Leute vorsatzlich, ohne drastischen äußeren oder of fensichthchen inneren Zwang und nicht einmal aus Nutz hchkeitserwagungen gehandelt haben, drangt sich das Bild von Tatern auf, die kein Unrechtsbewußtsein hatten Philosophisch gesehen ist Goldhagens Untersuchung von einem Gedanken inspiriert Böse ist nicht die schiere 56
Aggression als solche, sondern die, zu der sich der Tater berechtigt glaubt Das Böse ist das verkehrte Gute Daß viele Tater ihr mörderisches Handeln für legitim gehalten haben müssen, stutzt Goldhagen mit vielen Details - vom fehlenden Bemuhen um Geheimhaltung bis zu obszönen Fototerminen Wer aus Überzeugung an einer Praxis teilnimmt, die nach normalen Maßstaben als verbrecherisch, ja als schlechthin abscheulich gilt, muß starke normative Grunde haben, um derart dramatische Ausnahmen zu rechtfertigen Nahehegenderweise rekurnert Goldhagen auf die Vorstellungen von »dem Juden« Da er die Grunde für die moralisch selektiven Wahrnehmungen aus dem manifesten Verhalten rekonstruieren muß, tragt er Evidenzen für eine unterschiedliche Behandlung der designierten Op fer zusammen Das antisemitische Syndrom äußert sich darin, daß Juden in vergleichbaren Situationen regelmäßig ein noch schlimmeres Schicksal zu erleiden hatten als Polen, Russen, politische Gefangene usw Gegenüber Juden verhielten sich die Tater noch bösartiger als gegenüber lh ren anderen Opfern Wer sich heute, anläßlich der Diskus sion über das Berliner Holocaust-Denkmal, über den Wunsch der Hinterbliebenen nach einem differenzieren den Eingedenken mokiert, sollte sich daran erinnern, von wem diese »Hierarchie der Opfergruppen« eingerichtet worden ist Auf diesem Weg gelangt Goldhagen zu der zentralen Behauptung, daß letztlich antisemitische Auffassungen die mörderische Praxis dieser Tater erklaren Der abschließende Schritt der Argumentation stutzt sich auf einen Umstand, der schon durch den Titel der vorbildlichen Untersuchung von Christopher Browning nahegelegt worden war daß die Tater eben »ganz gewöhnliche Manner« gewesen sind 5 Goldhagen spitzt diese These auf 5 Chr R Browning, Ordinary Men New York 1992
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»ganz gewöhnliche Deutsche« zu. Er belegt anhand der üblichen sozialstatistischen Merkmale, daß die Zusammensetzung des Pohzeibataillons 101 für die zeitgenössische männliche Bevölkerung in Deutschland annähernd repräsentativ gewesen ist. Natürlich können die retrospektiv ermittelten Daten nicht ohne weiteres mit Daten der Umfrageforschung gleichgesetzt werden. Deshalb sind erhebliche Qualifikationen angebracht, wenn man dieses Polizeibataillon wie ein repräsentatives Sample behandelt und den Schluß zieht, »daß auch Millionen anderer Deutscher nicht anders gehandelt hätten, wären sie in die entsprechenden Positionen gelangt« (22). In unserem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß ein solcher Schluß nicht zu dem stigmatisierenden Vorwurf verführen darf, die Deutschen seien »ein Volk von Mördern«6 oder auch nur von »potentiellen Mördern« gewesen. Denn kontrafaktische moralische Vorwürfe sind sinnlos. Face to face können sich moralische Vorhaltungen nur auf faktisches Handeln oder Unterlassen beziehen. Etwas anderes ist Goldhagens kontrafaktische Überlegung, die in einem historischen Zusammenhang den guten Sinn hat, auf die unbestritten große Verbreitung von antisemitischen Dispositionen in der deutschen Bevölkerung jener Zeit hinzuweisen.
III Die Frage der Verwurzelung des Antisemitismus in der zeitgenössischen deutschen Kultur sprengt die Grenzen der Fallstudien. Goldhagen muß den Blick von der erheblichen Zahl der Täter auf die große Zahl der indirekt Beteiligten erweitern. Die jüdische Bevölkerung ist seit 1933 Schritt für 6 J. H. Schoeps, Ein Volk von Mördern ?, Hamburg 1996
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Schritt konsequent aus allen Lebensbereichen der deutschen Gesellschaft ausgeschaltet worden, und dieser Prozeß hat sich in aller Öffentlichkeit vollzogen. Das wäre ohne das stillschweigende Einverständnis breiter Schichten der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Im Hinblick auf die Eliten fragt Goldhagen mit Recht: »Wieviele deutsche Kirchenmänner waren in den dreißiger Jahren nicht der Meinung, daß die Juden eine Gefahr seien?... Wieviele Generäle... wollten Deutschland nicht von den Juden säubern? ... Wieviele Juristen, wieviele Mediziner, wieviele akademische Berufe hielten den allgegenwärtigen, öffentlichen Antisemitismus mit seinen wahnhaften Zügen für schieren Unsinn?... Sicherlich haben nicht alle Kirchenmänner, Generäle, Juristen und andere Führungskräfte die Vernichtung der Juden befürwortet. Einige wollten sie nur deportieren, andere wünschten deren Sterilisierung, wieder andere wollten den Juden >nur< ihre Grund-rechte nehmen. Aber auch solchen Ansichten hegt eine eliminatorische Idealvorstellung zugrunde.«(503) Dagegen läßt sich allenfalls einwenden, daß Goldhagen die deutschen Professoren vergessen hat. Andererseits rechtfertigen diese Tatsachen nicht die Rede von der Judenvernichtung als einem »nationalen Projekt der Deutschen«. Goldhagen selbst weist auf das Medium des »gesellschaftlichen Gesprächs« hin, in dem sich die eliminatorischen Absichten artikulieren mußten. Schon die intersubjektive Verfassung und die Dynamik öffentlicher Kommunikation verlangen ein differenziertes Bild. Auch unter den asymmetrischen Bedingungen einer Diktatur gelangen Meinungen nur gegen konkurrierende Meinungen, kognitive Modelle nur gegen andere Modelle zur Herrschaft. Der Streit der Historiker entzündet sich aber vor allem an der polemischen These eines »geraden Wegs nach Auschwitz«(497). Gegen diesen Goldhagen, der den Kredit 59
seiner empirischen Untersuchungen lntentionahstisch zu überziehen und daraus einen globalen Erklarungsanspruch abzuleiten scheint, kann man Goldhagen selbst ins Feld fuhren — den, der sich entschieden gegen monokausale Ansätze wehrt, der sich für ein komparatives Vorgehen stark macht und natürlich weiß, daß man sich für die Erklärung des Holocaust »nicht allein auf den Antisemitismus beschranken (kann), sondern auf zahlreiche weitere Faktoren ebenfalls eingehen (muß)«(8) Wer sich als Nicht-Historiker, etwa bei Ian Kershaw7, über die Kontroversen auf dem breiten Feld der NS-Forschung informiert, gewinnt ohnehin den Eindruck, daß sich die konkurrierenden Ansätze eher erganzen als einander ausschließen Aber in diesen Dingen steht mir ein fachliches Urteil nicht zu Was wir aus dem heutigen Anlaß zu beurteilen haben, sind Verdienste, die sich ein amerikanischer, ein judischer Historiker um den richtigen Umgang der Deutschen mit einem kriminellen Abschnitt ihrer Geschichte erworben hat Ich will zum Schluß eine Überlegung aufgreifen, die ein juristischer Kollege, Klaus Günther, allgemein zum öffentlichen Umgang mit der Geschichte politischer Kriminalität angestellt hat Offenbar hangt es nicht nur von den Tatsachen, sondern auch von unserem Blick auf die Tatsachen ab, wie wir Fragen der Zurechnung entscheiden Welche Anteile wir im historischen Ruckblick den Personen, welche den Umstanden zuschreiben, wo wir die Grenze zwischen Freiheit und Zwang, Schuld und Entschuldigung ziehen, hangt auch von einem Vorverstandms ab, mit dem wir an das Geschehen herantreten Die her meneutische Bereitschaft, den wahren Umfang von Verantwortung und Mitwissen anzuerkennen, variiert mit unserem Verständnis von Freiheit - wie wir uns als verant7 I Kershaw, Der NS Staat, Hamburg 1995 60
wörtliche Personen einschätzen und wieviel wir uns selbst als politisch Handelnden zumuten Mit Fragen der ethischpolitischen Selbstverstandigung steht dieses Vorverstandms selbst zur Diskussion Wie wir Schuld und Unschuld im historischen Ruckblick verteilt sehen, spiegelt auch die Normen, nach denen wir uns gegenseitig als Burger dieser Republik zu achten willens sind An diesem Diskurs nehmen übrigens die Historiker nicht mehr als Experten, sondern wie wir anderen in der Rolle von Intellektuellen teil Hier sehe ich Goldhagens eigentliches Verdienst Er richtet den Blick nicht auf unterstellte anthropologische Universahen, nicht auf Gesetzmäßigkeiten, denen prasumptiv alle Menschen unterworfen sind Die mögen, wie die vergleichende Genozidforschung behauptet, auch einen Teil des Unsäglichen erklaren Goldhagens Erklärung bezieht sich jedoch auf spezifische Überlieferungen und Mentalitäten, auf Denk- und Wahrnehmungsweisen eines bestimmten kulturellen Kontextes Sie bezieht sich nicht auf ein Un veränderliches, in das wir uns zu schicken haben, sondern auf Faktoren, die durch einen Bewußtseinswandel verändert werden können - und die sich inzwischen auch durch politische Aufklarung verändert haben Der anthropologi sehe Pessimismus, der hierzulande mit einem fatalistischen Historismus im Bunde steht, ist eher Teil des Problems, dessen Losung er zu liefern vorgibt Daniel Goldhagen gebührt Dank dafür, daß er uns in einem anderen Blick auf die Vergangenheit bestärkt hat
II. Die postnationale Konstellation
Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Ruckblick auf das kurze 20. Jahrhundert I Durchgreifende Kontinuitäten Die Schwelle zum nächsten Jahrhundert fesselt die Phantasie, weil sie in ein neues Jahrtausend fuhrt Dieser kalendarische Einschnitt verdankt sich einer heilsgeschichtlich konstruierten Zeitrechnung, deren Nullpunkt, Christi Geburt, tatsächlich, wie wir retrospektiv feststellen, eine weltgeschichtliche Zäsur bedeutet hat Am Ende des 2 Jahrtausends richten sich die Fahrplane der internationalen Fluglinien, die globalen Transaktionen an den Börsen, die Weltkongresse der Wissenschaftler, sogar die Rencontres im Weltall nach der christlichen Zeitrechnung Aber die runden Zahlen, die durch die Interpunktionen eines Kalenders erzeugt werden, decken sich nicht mit jenen Zeitknoten, die die historischen Ereignisse selber schürzen Jahreszahlen wie 1900 oder 2000 sind im Vergleich zu den historischen Daten von 1914, 1945 oder 1989 ohne Bedeutung Vor allem verschleiern die kalendarischen Einschnitte die Kontinuität der weit zurückreichenden Trends einer gesellschaftlichen Moderne, die auch die Schwelle zum 21 Jahrhundert ungerührt überschreiten werden Bevor ich auf die eigene Physiognomie des 20 Jahrhunderts eingehe, mochte ich solche langen, durch das Jahrhundert gleichsam hindurchlaufenden Rhythmen am Beispiel der demographischen Entwicklung (a), des Strukturwandels der Arbeit (b) und des Curnculums wissenschaftlich-technischer Fortschritte (c) in Erinnerung rufen (a) In Europa hat, vor allem infolge der medizinischen Fortschritte, ein rasches Bevolkerungswachstum schon seit 65
dem frühen 19 Jahrhundert eingesetzt Diese demographi sehe Entwicklung, die in den wohlhabenden Gesellschaf ten inzwischen zum Stillstand gekommen ist, hat sich seit der Mitte unseres Jahrhunderts in der Dritten Welt explosiv fortgesetzt Experten rechnen nicht vor dem Jahre 2030 mit einer Stabilisierung bei etwa zehn Milliarden Menschen Damit wurde sich die Weltbevolkerung von 1950 verfünffacht haben Hinter diesem statistischen Trend verbirgt sich freilich eine abwechslungsreiche Phanomenologie Zu Beginn unseres Jahrhunderts ist die Bevölkerungsexplosion von den Zeitgenossen zunächst in der sozialen Gestalt der »Masse« wahrgenommen worden Auch damals war dieses Phänomen nicht ganz neu Bevor sich LeBon für die Psychologie der Massen interessiert, kennt der Roman des 19 Jahrhunderts schon die massenhafte Konzentration von Menschen in Städten und Wohnquartieren, in Fabrikhallen, Büros und Kasernen, auch die massenhafte Mobilisierung von Arbeitern und Auswanderern, von Demonstranten, Streikenden und Revolutionaren Aber erst zu Beginn des 20 Jahrhunderts verdichten sich Massenstrome, Massenorganisationen und Massenaktionen zu aufdringlichen Erscheinungen, die die Vision vom Aufstand der Massen (Ortega y Gasset) auslosen In der Massenmobilisierung des Zweiten Weltkrieges und im Massenelend der Konzentrationslager entfaltet sich ebenso wie nach 1945 im Massentreck der Flüchtlinge und im Massenchaos der displaced persons ein Kollektivismus, der sich auf dem Titelbild von Hobbes Leviathan angekündigt hatte schon dort sind die zahllosen Einzelnen anonym zur übermächtigen Gestalt eines kollektiv handelnden Makrosubjekts verschmolzen Aber seit der Mitte des Jahrhundeits verändert sich die Physiognomie der großen Zahlen Die Präsenz versammelter, in Marsch gesetzter oder zusammengepferchter Korper wird abgelost von der symbo66
lischen Inklusion des Bewußtseins der Vielen in immer weiter ausgreifende Kommunikationsnetze die konzentrierte Masse verwandelt sich ins zerstreute Publikum der Massenmedien Die physischen Verkehrsstrome und Verkehrsstaus schwellen weiter an, •wahrend die elektronische Vernetzung der individuellen Anschlüsse die auf Straßen und Platzen zusammengeballten Massen zum Anachronismus macht Freilich berührt der Wandel der sozialen Wahrnehmung nicht die zugrundeliegende Kontinuität des Bevolkerungswachstums (b) Ahnlich vollzieht sich der Strukturwandel des Beschaftigungssystems in langen, über die Schwellen des Sakulums hinweggleitenden Rhythmen Die Einfuhrung arbeitssparender Produktionsmethoden, also die Steigerung der Arbeitsproduktivität, ist der Motor dieser Entwicklung Seit der industriellen Revolution im England des 18 Jahrhunderts folgt die Modernisierung der Wirtschaft in allen Landern derselben Sequenz Die Masse der arbeitenden Bevölkerung, die seit Jahrtausenden in der Landwirtschaft tatig war, verschiebt sich zunächst in den sekundären Sektor der guterherstellenden Industrie, dann in den tertiären Sektor von Handel, Transport und Dienstleistungen Inzwischen sind die postindustriellen Gesellschaften durch einen quartaren Sektor wissensbasierter Tätigkeitsbereiche gekennzeichnet, die - wie die high-tech-Industnen oder das Gesundheitswesen, die Banken oder die öffentliche Verwaltung - vom Zufluß neuer Informationen, letztlich von Forschung und Innovation abhangen Diese wiederum verdankt sich einer »Erziehungsrevolution« (T Parsons), die nicht nur den Analphabetismus beseitigt, sondern zu einer drastischen Ausweitung des sekundären und tertiären Bildungssystems gefuhrt hat Wahrend die Hochschulbildung ihren elitären Status verlor, wurden die Universitäten häufig zum Herd politischer Unruhen
Im Laufe des 20 Jahrhunderts blieb zwar das Muster dieses Strukturwandels der Arbeit unverändert, aber das Tempo hat sich beschleunigt Einem Land wie Korea ist seit i960, unter den Bedingungen einer Entwioklungsdiktatur, der Sprung von der prae- in die postindustrielle Gesellschaft innerhalb einer einzigen Generation gelungen Diese Beschleunigung erklart die neue Qualität, die ein seit langem vertrauter Prozeß der Wanderung vom Land in die Stadt wahrend der zweiten Jahrhunderthälfte angenommen hat Wenn man von Afrika unterhalb der Sahara und von China absieht, hat der gewaltige Produktivitatsschub der mechanisierten Landwirtschaft den Agrarsektor nahezu entvölkert In den OECD-Landern ist der Beschaftigtenanteil einer hochsubventionierten Landwirtschaft unter die Marke von 10 Prozent gesunken In der phanomenologischen Wahrung lebenswelthcher Erfahrung bedeutet das einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit Die dörfliche Lebensform, die seit dem Neolithikum bis weit ins 19 Jahrhundert hinein allen Kulturen denselben Stempel aufgedruckt hat, ist in den entwickelten Landern zur Atrappe geworden Der Untergang des Bauernstandes hat auch die traditionelle Beziehung von Stadt und Land revolutioniert Heute leben mehr als 40 Prozent der Weltbevolkerung in Städten Der Prozeß der Verstädterung zerstört mit der im alten Europa entstandenen urbanen Lebensform die Stadt selbst Mochte schon New York, selbst im metropohtanen Kern von Manhattan, nur noch entfernt an das London und Paris des 19 Jahrhunderts erinnern, so haben doch erst die ausufernden Stadtregionen von Mexico City, Tokyo, Kalkutta, Sao Paulo, Kairo, Seoul oder Shanghai die gewohnten Dimensionen von »Stadt« gesprengt Die verschwimmenden Profile jener erst seit zwei, drei Jahrzehnten wuchernden Megalopolen hefern eine Anschaung, für die uns noch die Begriffe fehlen
(c) Schließlich bildet die Kette der gesellschaftlich relevanten Folgen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts eine dritte Kontinuität, die durch die Jahrhunderte hindurchgreift Die neuen Kunststoffe und Energieformen, die neuen industriellen, militärischen und medizinischen Technologien, die neuen Transport- und Kommunikationsmittel, die wahrend des 20 Jahrhunderts die Wirtschaft ebenso wie die gesellschaftlichen Verkehrsund Lebensformen revolutioniert haben, bauen auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Entwicklungen der Vergangenheit auf Technische Erfolge wie die Beherrschung der Atomenergie und die bemannte Raumfahrt, Innovationen wie die Entschlüsselung genetischer Codes und die Einfuhrung von Gentechnologien in Landwirtschaft und Medizin verandern gewiß unser Risikobewußtsein, sie berühren sogar unser ethisches Selbstverstandnis Aber in gewisser Weise bleiben selbst diese spektakulären Errungenschaften in gewohnten Bahnen Seit dem 17 Jahrhundert hat sich die instrumentelle Einstellung gegenüber einer 'wissenschaftlich objektivierten Natur nicht verändert, unverändert ist die Art der technischen Beherrschung von dekodierten Naturvorgangen, auch wenn heute unsere Eingriffe in die Materie tiefer und unsere Vorstosse in den Kosmos weiter reichen denn je Die technologiegesattigten Strukturen der Lebenswelt verlangen von uns Laien nach wie vor den banausischen Umgang mit unverstandenen Apparaten und Anlagen, ein habituahsiertes Vertrauen in das Funktionieren undurchschauter Techniken und Schaltkreise In komplexen Gesellschaften wird jeder Experte gegenüber allen anderen Experten zum Laien Bereits Max Weber hat jene »sekundäre Naivität« beschrieben, die uns auch im Hantieren mit Transistorradio und Handy, Taschenrechner, Videoausrustung oder Laptop nicht verlasst - bei der Handhabung
vertrauter elektronischer Gerate, in deren Herstellung das akkumulierte Wissen vieler Wissenschaftlergenerationen eingegangen ist Trotz panischer Reaktionen auf Gefahrenmeldungen und Storfalle wird diese lebenswelthche Assimilation des Unbegriffenen ans Vertraute durch den publizistisch genährten Zweifel an der Zuverlässigkeit von Expertenwissen und Großtechnologie nur vorübergehend erschüttert Das gewachsene Risikobewußtsein verunsichert nicht die täglichen Routinen Eine ganz andere Relevanz für die langfristige Veränderung des alltäglichen Erfahrungshorizonts hat der Beschleunigungseffekt verbesserter Kommunikations- und Verkehrstechniken Schon die Reisenden, die um 1830 die ersten Eisenbahnen benutzten, hatten über neue Raumund Zeitwahrnehmungen benchet Im 20 Jahrhundert haben Autoverkehr und zivile Luftfahrt den Personen- und Gütertransport weiter beschleunigt und die Entfernungen auch subjektiv immer weiter schrumpfen lassen Auf eine andere Weise wird das Raum- und Zeitbewußtsein durch die neuen Techniken der Übertragung, Speicherung und Bearbeitung von Informationen berührt Bereits im Europa des ausgehenden 18 Jahrhunderts hatten Buch- und Zeitungsdruck zur Entstehung eines globalen, zukunftsgenchteten historischen Bewußtseins beigetragen, am Ende des 19 Jahrhunderts klagte Nietzsche über den alles vergegenwärtigenden Historismus einer gebildeten Elite Inzwischen hat die zerstreute Abkoppelung der Gegenwart von museal vergegenständlichten Vergangenheiten die Masse der Bildungstounsten erfasst Auch die Massenpresse ist ein Kind des 19 Jahrhunderts, aber die Zeitmaschincneffekte der Druckmedien werden im Laute des 20 Jahrhunderts durch Foto, Film, Radio und Fernsehen intensiviert Raum- und Zeitdistanzen werden nicht mehr »überwunden«, sie verschwinden spurlos in der ubiquitaren Präsenz 7°
verdoppelter Realitäten Die digitale Kommunikation übertrifft schließlich alle anderen Medien an Reichweite und Kapazität Mehr Menschen können schneller größere Mengen von vielfaltigeren Informationen beschaffen, verarbeiten und über beliebige Entfernungen zeitgleich austauschen Noch sind die mentalen Folgen des Internets, das sich der lebenswelthchen Eingewohnung starker widersetzt als ein neues elektrisches Haushaltsgerät, schwer abzuschätzen
II Zwei Physiognomien des Jahrhunderts Die durchs kalendarische Jahrhundert hindurchgreifenden Kontinuitäten der gesellschaftlichen Moderne belehren uns nur unzureichend über das, was das 20 Jahrhundert als solches charakterisiert Geschichtsschreiber richten deshalb die Interpunktionen des Zeitflusses ihrer narrativen Darstellungen eher nach Ereignissen als nach Trendwenden und Strukturwandlungen Die Physiognomie eines Jahrhunderts wird durch die Zäsuren großer Ereignisse geprägt Heute besteht unter den Historikern, die überhaupt noch bereit sind, in größeren Einheiten zu denken, ein Konsens darüber, daß dem »langen« 19 Jahrhundert (1789-1914) ein »kurzes« 20 Jahrhundert (1914-1989) gefolgt ist Der Beginn des Ersten Weltkrieges und der Zusammenbruch der Sowjetunion umrahmen einen Antagonismus, der sich durch die beiden Weltkriege und den kalten Krieg hindurchzieht Diese Interpunktion laßt freilich Raum für drei verschiedene Interpretationen, je nachdem auf welcher Ebene jener Antagonismus angesiedelt wird - auf der ökonomischen Ebene der Gesellschaftssysteme, auf der politischen Ebene der Supermachte oder auf der kulturellen Ebene der Ideologien Die Wahl dieser
hermeneutischen Gesichtspunkte ist natürlich selbst vom Kampf der Ideen bestimmt, die das Jahrhundert beherrscht haben Auch heute wird der kalte Krieg noch mit histonographischen Mitteln fortgeführt, gleichviel ob die Herausforderung des kapitalistischen Westens durch die Sowjetunion (Eric Hobsbawm), oder ob der Kampf des liberalen Westens gegen die totalitären Regime den Leitfaden abgibt (Francois Füret) Beide Interpretationen erklaren auf die eine oder andere Weise das Faktum, daß allein die USA aus den beiden Weltkriegen ökonomisch, politisch und kulturell gestärkt hervorgegangen ist und als einzige Supermacht das Ende des kalten Krieges überlebt hat Dieses Ergebnis hat dem 20 Jahrhundert den Namen des »amerikanischen« verliehen Die dritte Lesart ist weniger eindeutig Solange der Begriff »Ideologie« in einem neutralen Sinne gebraucht wird, verbirgt sich hinter dem Titel des Zeitalters der Ideologien (Hildebrand) nur eine Variante der Totahtansmustheone, wonach sich der Kampf der Regime in einem Kampf der Weltanschauungen reflektiert In anderen Fallen signalisiert aber derselbe Titel die (von Carl Schmitt entwickelte) Perspektive eines Weltburgerkrieges, wonach sich seit 1917 die utopischen Projekte der Weitdemokratie und der Weitrevolution - mit Wilson und Lenin als ihren Exponenten - gegenübergestanden haben (E Nolte) Nach dieser ideologiekritischen Lesart von rechts ist die Geschichte damals vom Bazillus der Geschichtsphilosophie infiziert worden und derart entgleist, daß sie erst 1989 in die normalen Bahnen naturwüchsiger Nationalgeschichten zurückspringen konnte Aus jeder dieser drei Perspektiven gewinnt das kurze 20 Jahrhundert eine eigene Physiognomie Nach der ersten Lesart wird es von der Herausforderung des kapitalistischen Weltsystems durch das größte je an Menschen 72
vorgenommene Experiment in Atem gehalten, die unter grausamen Opfern brutal durchgepeitschte Zwangsindustnahsierung bahnt der Sowjetunion zwar den politischen Aufstieg zur Supermacht, sichert ihr aber keine ökonomisch und gesellschaftspolitisch tragfahige Basis für eine überlegene oder auch nur uberlebensfahige Alternative zum westlichen Modell Nach der zweiten Lesart tragt das Jahrhundert die düsteren Zuge eines Totahtarismus, der einen mit der Aufklarung einsetzenden Prozeß der Zivilisierung abbricht und die Hoffnung auf eine Domestizierung staatlicher Macht und eine Humanisierung des gesellschaftlichen Verkehrs zerstört Die totalitär entgrenzte Gewalt kriegführender Nationen durchbricht die volkerrechtlichen Schranken auf dieselbe rücksichtslose Weise, wie im Innern die terroristische Gewalt diktatorischer Einparteienherrschaften die verfassungsrechtlichen Sicherungen neutralisiert Wahrend aus diesen beiden Perspektiven Licht und Schatten zwischen den totalitären Kräften und ihren liberalen Gegnern eindeutig verteilt sind, steht das Jahrhundert nach der dritten, der postfaschistischen Lesart im Schatten eines ideologischen Kreuzzuges zwischen Parteien, wenn nicht gleichen Ranges so doch ähnlicher Mentalität Beide Seiten scheinen einen weltanschaulichen Gegensatz zwischen geschichtsphilosophisch begründeten Programmen auszufechten, die ihre fanatisierende Kraft ursprünglich religiösen, auf säkulare Ziele umgelenkten Energien verdanken Bei allen Unterschieden ist diesen drei Versionen eins gemeinsam sie lenken den Blick auf die grausamen Zuge eines Zeitalters, das die Gaskammer und den totalen Krieg, den staatlich durchgeführten Genozid und das Vernichtungslager, die Gehirnwasche, das System der Staatssicherheit und die panoptische Überwachung ganzer Bevölkerungen »erfunden« hat Dieses Jahrhundert hat mehr Opfer »produ73
ziert«, mehr gefallene Soldaten, mehr ermordete Burger, getötete Zivilisten und vertriebene Minderheiten, mehr Gefolterte, Geschundene, Verhungerte und Erfrorene, mehr politische Gefangene und Flüchtlinge hervorgebracht, als man sich bis dahin auch nur hatte vorstellen können Die Phänomene von Gewalt und Barbarei bestimmen die Signatur des Zeitalters Von Horkheimer und Adorno bis Baudrillard, von Heidegger bis Foucault und Dernda haben sich die totalitären Zuge des Zeitalters in die Struktur der Zeitdiagnosen selber eingegraben Das veranlaßt mich zu der Frage, ob diesen negativistischen Deutungen, die sich vom Grauen der Bilder gefangen nehmen lassen, vielleicht eine Kehrseite dieser Katastrophen entgeht Gewiß haben die unmittelbar beteiligten und betroffenen Volker Jahrzehnte gebraucht, um sich der Dimension jenes erst dumpf empfundenen Schreckens bewußt zu werden, der im Holocaust, in der planmassigen Vernichtung der europaischen Juden kulminiert Aber dieser, wenn auch zunächst verdrängte Schock hat dann doch Energien und schließlich sogar Einsichten freigesetzt, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Peripetie des Schreckens herbeifuhren Für die Nationen, die 1914 die Welt in einen technologisch entgrenzten Krieg hineingezogen haben, und für die Volker, die nach 1939 mit den Massenverbrechen eines ideologisch entgrenzten Vernichtungskampfes konfrontiert waren, markiert das Jahr 1945 auch einen Wendepunkt - eine Wende zum Besseren, zur Zähmung jener barbarischen Kräfte, die in Deutschland aus dem Boden der Zivilisation selbst hervorgebrochen sind Sollten wir aus den Katastrophen der ersten Hälfte des Jahrhunderts doch etwas gelernt haben' Mein Zweifel an den drei Lesarten laßt sich auch so erklaren die Segmentierung eines kurzen 20 Jahrhunderts zieht die Periode der Weltkriege mit der Periode des kalten 74
Krieges zu einer Einheit zusammen und suggeriert den, wie es scheint, homogenen Zusammenhang eines ununterbrochenen 75jährigen Krieges der Systeme, der Regime und der Ideologien Damit wird aber dasjenige Ereignis nivelliert, das das Jahrhundert nicht nur chronologisch teilt, sondern das auch ökonomisch, politisch und vor allem in normativer Hinsicht eine Wasserscheide bedeutet ich meine die Niederlage des Faschismus Durch die Konstellation des kalten Krieges ist die ideologische Bedeutung der bald als »unnaturlich« erscheinenden Allianz der Westmachte mit der Sowjetunion gegen das Deutsche Reich in Vergessenheit geraten Aber Sieg und Niederlage von 1945 haben jene Mythen, die seit dem Ende des 19 Jahrhunderts auf breiter Front gegen das Erbe von 1789 mobilisiert worden sind, auf Dauer entwertet Der Sieg der Alliierten hat nicht nur die Weichen für eine demokrati sehe Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, in Japan und Italien, schließlich auch in Portugal und Spanien gestellt Allen Legitimationen, die nicht wenigstens verbal, wenigstens dem Wortlaut nach, dem universalistischen Geist der politischen Aufklarung huldigten, ist damals der Boden entzogen worden Das ist gewiß kein Trost für die Opfer der tortgesetzten Verstosse gegen die Menschenrechte Immerhin hat sich nach 1945 im Treibhaus der Ideen ein Klimawechsel vollzogen, ohne den sich auch die einzige unzweifelhafte kulturelle Innovation des Jahrhunderts nicht hatte durchsetzen können Die vor und wahrend des Ersten Weltkriegs vollzogene, aus dessen Erfahrungen gespeiste Revolutionierung der bildenden Kunst, der Architektur und der Musik hat erst nach 1945, sozusagen in der Vergangenheitsform der »klassischen Moderne«, weltweite Geltung erlangt Die avantgardistische Kunst hatte bis in die frühen dreißiger Jahre hinein ein Repertoire an völlig 75
neuen Formen und Techniken erzeugt, mit dem die internationale Kunst in der zweiten Jahrhunderthälfte experimentiert, ohne den damals erschlossenen Horizont von Möglichkeiten zu überschreiten. Eine vergleichbare Originalität und wirkungsgeschichtliche Kraft besitzen vielleicht nur noch die zur gleichen Zeit entstandenen Werke von zwei, dem Geist des Modernismus freilich abgewandten Philosophen, Heidegger und Wittgenstein Wie dem auch sei, der 1945 eingetretene Wechsel des kulturellen Klimas bildet auch den Hintergrund für drei politische Entwicklungen, die - auch in der Darstellung von Hobsbawm1 - der Nachknegspenode bis in die achtziger Jahre hinein ein anderes Gesicht gegeben haben der kalte Krieg (a), die Dekolomalisierung (b) und der Aufbau des Sozialstaates in Europa (c) (a) Die Spirale eines ebenso grandiosen wie erschöpfenden Wettrüstens hat die unmittelbar bedrohten Nationen gewiß in Schrecken gehalten, aber die verruckte Kalkulation eines Gleichgewichts des Schreckens - MAD war die selbstironische Abkürzung für mutually assured destruction - hat den Ausbruch eines heißen Krieges immerhin verhindert Das unerwartete Einlenken der wildgewordenen Supermachte - die vernunftige Einigung zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik, mit der das Ende des Wettrüstens eingeleitet wurde - laßt den kalten Krieg ruckblickend als einen risikoreichen Prozeß der Selbstzahmung atomar bewaffneter Allianzen erscheinen Auf ähnliche Weise kann man die friedliche Implosion eines Weltreiches beschreiben, dessen Fuhrung die Ineffizienz einer vermeintlich überlegenen Produktionsweise erkennt und die Niederlage im ökonomischen Wettlauf eingesteht, statt 1 t Hobsbawm, Das Zeitalter der Fxtreme, München 1997, ich verdanke diesem Buch mehr Anregungen als die Fußnoten zum Ausdruck bnn gen
nach bewahrtem Muster die inneren Konflikte nach außen in militärische Abenteuer abzuleiten (b) Auch die Dekolomalisierung war kein geradliniger Prozeß Aber im Ruckblick haben die Kolonialmächte nur noch Nachhutgefechte gefuhrt In Indochina wehren sich die Franzosen vergeblich gegen nationale Befreiungsbewegungen, 1956 scheitert das Suez-Abenteuer der Briten und Franzosen, 1975 müssen die USA nach zehn verlustreichen Knegsjahren ihre Vietnam-Intervention abbrechen Bereits 1945 war nicht nur das Imperium des besiegten Japan zerfallen, im selben Jahr waren Syrien und Lybien unabhängig geworden 1947 zogen sich die Briten aus Indien zurück, im darauffolgenden Jahr entstanden Birma, Sri Lanka, Israel und Indonesien Dann erlangten die Regionen des westlichen Islam von Persien bis Marokko, nach und nach auch die zentralafrikanischen Staaten, schließlich die restlichen Kolomen in Sudostasien und der Karibik ihre Unabhängigkeit Das Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika und die Ruckkehr Hongkongs und Makaos nach China bilden den Abschluß eines Prozesses, der wenigstens die formelle Abhängigkeit der Kolomalvolker beseitigt und die neu geschaffenen, allerdings nur zu oft von Bürgerkriegen, kulturellen Konflikten und Stammesfehden zerrissenen Staaten zu gleichberechtigten Mitgliedern der UNVollversammlung gemacht hat (c) Von unzweideutigem Vorteil ist allein die dritte Entwicklung In den wohlhabenden und friedlichen Demokratien Westeuropas - und in geringerem Umfang auch in den USA und einigen anderen Landern - entwickelten sich gemischte Ökonomien, die den weiteren Ausbau von Burgerrechten und erstmals eine effektive Verwirklichung sozialer Grundrechte erlaubt haben Gewiß, das explosive weltwirtschaftliche Wachstum, die Vervierfachung der Industrieproduktion und die Verzehnfachung des Welthandels 77
mit Industrieprodukten allein zwischen den frühen fünfziger und den frühen siebziger Jahren hat auch Disparitäten zwischen den armen und den reichen Regionen der Welt befordert Aber die Regierungen der OECD-Lander, die in diesen beiden Jahrzehnten drei Viertel zur Weitproduktion und vier Fünftel zum Welthandel mit Industrieprodukten beitrugen, hatten aus den katastrophalen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit immerhin soviel gelernt, daß sie eine intelligente, auf innere Stabilität bedachte Wirtschaftspoli tik verfolgten und bei relativ hohen Wachstumsraten um fassende soziale Sicherungssysteme auf- und ausbauten In der Gestalt sozialstaatlicher Massendemokratien ist hier die hochproduktive Wirtschaftsform des Kapitalismus zum ersten Mal sozial gebändigt und mit dem normativen Selbst Verständnis demokratischer Verfassungsstaaten mehr oder weniger in Einklang gebracht worden Diese drei Entwicklungen sind für einen marxistischen Historiker wie Eric Hobsbawm Grund genug, um die Nachkriegsjahrzehnte als »Golden Age« zu feiern Aber spätestens seit 1989 hat die Öffentlichkeit das Ende dieser Ära wahrgenommen In den Landern, wo der Sozialstaat mindestens im Ruckblick als gesellschaftpolitische Errungenschaft wahrgenommen wird, breitet sich Resignation aus Das Ende des Jahrhunderts steht im Zeichen der strukturellen Gefahrdung eines sozialstaatlich gezähmten Kapitalismus und der Wiederbelebung eines sozial rücksichtslosen Neoliberalismus Hobsbawm kommentiert die schwer-mutig-ratlose, von schriller Techno-Musik übertönte Stimmung in der Tonlage eines spatromischen Schrift stellers »Das kurze 20 Jahrhundert endete mit Problemen, für die niemand eine Losung hatte oder auch nur zu haben vorgab Wahrend sich die Burger des Fin de siecle einen Weg durch den globalen Nebel um sie herum in das dritte Jahrtausend bahnten, wußten sie mit Gewißheit nur, daß ein 78
historisches Zeitalter zu Ende gegangen war Sehr viel mehr wußten sie nicht «2 Schon die alten Probleme der Friedenssicherung und der internationalen Sicherheit, der weltwirtschaftlichen Disparitäten zwischen Nord und Sud sowie der Gefahrdung ökologischer Gleichgewichte waren globaler Natur Sie intensivieren sich aber heute durch ein neu hinzugetretenes Problem, das die bisherigen Herausforderungen überlagert Ein weiterer, wie es scheint endgültiger Globahsie rungsschub des Kapitalismus schrankt namhch auch noch die Handlungsfähigkeit jener Spitzengruppe von Staaten (G 7) ein, die sich, anders als die ökonomisch abhangigen Staaten der Dritten Welt, eine relative Unabhängigkeit hatten bewahren können Die wirtschaftliche Globalisierung bildet für die im Nachknegseuropa entstandene politische und soziale Ordnung die zentrale Herausforderung (III) Ein Ausweg konnte dann bestehen, daß die regulatorische Kraft der Politik den Markten, die sich dem Zugriff der Nationalstaaten entzieht, nachwachst (IV) Oder sollte das Fehlen einer zeitdiagnostisch erhellenden Orientierung anzeigen, daß wir nur aus Katastrophen lernen können5
III Vor dem Ende des sozialstaathchen Kompromisses Ironischerweise begegnen die entwickelten Gesellschaften am Ende des Jahrhunderts der Wiederkehr eines Problems, das sie doch soeben, unter dem Druck der Systemkonkurrenz, gelost zu haben schienen Das Problem ist so alt wie der Kapitalismus selber Wie laßt sich die Allokations- und Entdeckungsfunktion selbstregulierender Markte effektiv nutzen, ohne dabei Ungleichverteilungen und soziale Ko2 Ebd 688
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sten in Kauf nehmen zu müssen, die mit den Integrationsbedingungen demokratisch verfasster liberaler Gesellschaften unvereinbar sind? In den gemischten Ökonomien des Westens hatte der Staat mit der Verfügung über einen erheblichen Anteil des Sozialprodukts einen Spielraum für Transferleistungen und Subventionen, überhaupt für eine wirksame Infrastruktur-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik gewonnen. Er konnte auf die Rahmenbedingungen von Produktion und Distribution mit dem Ziel Einfluß nehmen, Wachstum, Preisstabilität und Vollbeschäftigung zu erreichen. Der regulatonsche Staat konnte, mit anderen Worten, über wachstumsstimulierende Maßnahmen auf der einen, Sozialpolitik auf der anderen Seite gleichzeitig die wirtschaftliche Dymanik fördern und die soziale Integration sichern. Ungeachtet großer Unterschiede hatte sich der sozialpolitische Sektor in Ländern wie den USA, Japan und der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre hinein ausgedehnt. Aber seitdem hat in allen OECD-Ländern eine Trendwende eingesetzt: Die Höhe der Leistungen verringert sich, gleichzeitig wird der Zugang zu den Sicherungssystemen erschwert und der Druck auf die Arbeitslosen verstärkt. Der Um- und Abbau des Sozialstaates ist unmittelbar die Folge einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die auf eine Deregulierung von Märkten, auf den Abbau von Subventionen und die Verbesserung von Investitionsbedingungen abzielt und die eine antiinflationäre Geld- und Zinspolitik sowie die Senkung direkter Steuern, die Privatisierung von Staatsunternehmen und ähnliche Maßnahmen einschließt.
schaft zu überfordern drohen. Unmißverständlich sind die Indikatoren für die Zunahme von Armut und sozialer Unsicherheit bei wachsenden Einkommensdisparitäten, unverkennbar sind auch die Tendenzen zur gesellschaftlichen Desintegration.3 Die Kluft zwischen den Lebensbedingungen der Beschäftigten, der Unterbeschäftigten und der Arbeitslosen vergrößert sich. Wo sich die Exklusionen - von Beschäftigungssystem und Weiterbildung, von staatlichen Transferleistungen, Wohnungsmarkt, familiären Ressourcen usw. - bündeln, entstehen »Unterklassen«. Diese pauperisierten und von der übrigen Gesellschaft weitgehend segmentierten Gruppen können ihre soziale Lage nicht mehr aus eigener Kraft wenden.4 Eine solche Desolidarisierung muß jedoch auf längere Sicht eine liberale politische Kultur zerstören, auf deren universalistisches Selbstverständnis demokratisch verfaßte Gesellschaften angewiesen sind. Formal korrekt zustandegekommene Mehrheitsbeschlüsse, die nur noch die Statusängste und Selbstbehauptungsreflexe der vom Abstieg bedrohten Schichten, also rechtspopulistische Stimmungslagen, widerspiegeln, würden die Legitimität der Verfahren und Institutionen selber aushöhlen. Von Neoliberalen, die ein höheres Maß an sozialer Ungleichheit akzeptieren und zudem an die inhärente Gerechtigkeit der »Standortbewertung« durch weltweite Finanzmärkte glauben, wird diese Situation natürlich anders eingeschätzt als von denen, die dem »sozialdemokratischen Zeitalter« nachhängen, weil sie wissen, daß gleiche soziale Rechte die Korsettstangen demokratischer Staatsbürgerschaft sind. Aber beide Seiten beschreiben das Dilemma
Die Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses hat freilich zur Folge, daß die Krisentendenzen, die er aufgefangen hatte, wieder aufbrechen. Es entstehen soziale Kosten, die die Integrationsfähigkeit einer liberalen Gesell-
3 W. Heitmeyer (Hg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frankfurt/M. 1997 4 N. Luhmann, Jenseits von Barbarei, in: M. Miller, H. G. Soeffner (Hg.), Modernität und Barbarei, Frankfurt/m. 1996, 219-230
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ganz ähnlich. Ihre Diagnosen laufen darauf hinaus, daß die nationalen Regierungen in ein Nullsummenspiel hineingezwungen werden, wo die unausweichlichen ökonomischen Zielgroßen nurmehr auf Kosten sozialer und politischer Ziele erreicht werden können Im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft können Nationalstaaten die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer »Standorte« nur auf dem Wege einer Selbstbeschrankung staatlicher Gestaltungsmacht verbessern; das rechtfertigt »Abbau«-Pohtiken, die den sozialen Zusammenhalt beschädigen und die demokratische Stabilität der Gesellschaft auf eine harte Probe stellen.5 Diesem Dilemma liegt eine plausible Beschreibung zugrunde, die ich hier nicht im einzelnen begründen oder auch nur belegen kann 6 Sie laßt sich auf zwei Thesen zuspitzen (1) Die ökonomischen Probleme der Wohlstandsgesellschaften erklaren sich aus einer - mit dem Stichwort >Globalisierung< bezeichneten - strukturellen Veränderung des weltwirtschaftlichen Systems (2) Diese Veränderung schrankt die nationalstaathchen Aktoren in ihrem Handlungsspielraum so weit ein, daß die ihnen verbleibenden Optionen nicht ausreichen, um sozial und politisch unerwünschte Nebenfolgen eines transnationahsierten Marktverkehrs hinreichend »abzufedern« 7 5 R Dahrendorf nennt das die Quadratur des Kreises , in Transit, 12, 1996, 5 28 6 Ich danke für die Erlaubnis, die folgenden Manuskripte einzusehen C Offe, Precanousness and the Labor Market A Medium Term Review of Available Pohcy Responscs, Ms 1997, J Neyer, M Seeleib Kaiser, Bringing Economy Back in Fconomic Globahzation and the Re Com modification of the Workforce, Zentrum f Sozialpolitik, Univ Bremen, Arbeitspapier 16/95, ^ Wiesenthal, Globalisierung Soziologische und Politik-Wissenschaftliche Koordinaten eines unbekannten Territoriums, Ms 1995 7 Die folgenden Überlegungen ausführlich in J Habermas, Jenseits des Nationalstaates? Zu einigen holgcproblemen der wirtschaftlichen Glo bahsierung, in U Beck (Hg ), Politik der Globalisierung, Frankfurt/M , 67 84 82
Dem Nationalstaat bleiben immer weniger Optionen Zwei scheiden aus Protektionismus und die Ruckkehr zur nachfrageonentierten Wirtschaftspolitik. Soweit sich Kapitalbewegungen überhaupt noch kontrollieren lassen, wurden die Kosten für eine protektiomstische Abschottung der einheimischen Wirtschaft unter den gegebenen weltwirtschaftlichen Bedingungen schnell eine unakzeptable Größenordnung annehmen Und staatliche Beschaftigungsprogramme scheitern heute nicht nur an den Verschuldungsgrenzen öffentlicher Haushalte, sie sind innerhalb des nationalen Rahmens auch nicht mehr effektiv Unter Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft funktioniert der »Keynesiamsmus in einem Lande« nicht mehr. Aussichtsreicher ist eine Politik der vorauseilenden, intelligenten und schonenden Anpassung der nationalen Verhältnisse an den globalen Wettbewerb Dazu gehören die bekannten Maßnahmen einer vorausschauenden Industnepohtik, die Forderung von Research and Development, also von künftigen Innovationen, die Qualifizierung der Arbeitskräfte durch verbesserte Aus- und Weiterbildung sowie eine sinnvolle »Flexibilisierung« des Arbeitsmarktes Diese Maßnahmen bringen auf mittlere Sicht Standortvorteile, jedoch andern sie nichts am Muster der internationalen Standortkonkurrenz Wie man es dreht und wendet, die Globalisierung der Wirtschaft zerstört eine historische Konstellation, die den sozialstaathchen Kompromiß vorübergehend ermöglicht hat Auch wenn dieser keineswegs die ideale Losung eines dem Kapitalismus innewohnenden Problems darstellt, so hat er doch die entstandenen sozialen Kosten in akzeptierten Grenzen gehalten In Europa hatten sich bis zum 17 Jahrhundert Staaten herausgebildet, die sich durch die souveräne Herrschaft über ein Territorium auszeichneten und alteren politischen Formationen wie den Alten Reichen oder den Stadtstaaten
an Steuerungskapazitat überlegen waren Als funktional spezifizierter Verwaltungsstaat hatte sich der moderne Staat vom rechtlich institutionalisierten marktwirtschaftlichen Verkehr differenziert; zugleich war er als Steuerstaat von der kapitalistischen Wirtschaft auch abhangig geworden. Im Laufe des 19 Jahrhunderts hat er sich als Nationalstaat für demokratische Formen der Legitimation geöffnet In einigen privilegierten Regionen und unter den gunstigen Umstanden der Nachkriegszeit konnte sich der inzwischen weltweit zum Vorbild gewordene Nationalstaat - über die Regulation einer in ihrem Selbststeuerungsmechanismus allerdings unangetasteten Volkswirtschaft - zum Sozialstaat entwickeln. Diese erfolgreiche Kombination ist in dem Maße gefährdet, wie sich eine globalisierte Wirtschaft den Zugriffen dieses regulatorischen Staates entzieht Die sozialstaatlichen Funktionen sind im bisherigen Ausmaß offensichtlich nur noch dann zu erfüllen, wenn sie vom Nationalstaat auf politische Einheiten übergehen, die eine transnationahsierte Wirtschaft gewissermaßen einholen
IV Jenseits des Nationalstaats? Daher richtet sich der Blick vor allem auf den Aufbau supranationaler Institutionen Das erklart die kontinentalen Wirtschaftsalhanzen wie NAFTA oder APEC, die verbindliche, jedenfalls mit weichen Sanktionen bewehrte Absprachen zwischen den Regierungen erlauben Großer sind die Kooperationsgewinne bei ehrgeizigeren Projekten wie der Europaischen Union Denn mit solchen kontinentalen Regimen entstehen nicht nur einheitliche Wahrungsgebiete, die die Risiken von Wechselkursschwankungen verringern, sondern größere politische Einheiten mit hierarchisch gestuften Kompetenzen In Zukunft wird es darum
gehen, ob wir es beim Status quo eines über den Markt integrierten Europas belassen oder ob wir auf eine europaische Demokratie zusteuern wollen.8 Auch ein solches Regime wird aufgrund seiner geographisch und wirtschaftlich erweiterten Basis freilich bestenfalls Vorteile im globalen Wettbewerb erringen und seine Position gegenüber anderen starken können. Die Schaffung größerer politischer Einheiten fuhrt zu defensiven Allianzen gegenüber dem Rest der Welt, sie ändert jedoch nichts am Modus der Standortkonkurrenz als solcher Sie fuhrt nicht per se zu einem Kurswechsel von der Anpassung an das transnationale weltwirtschaftliche System zu einem Versuch der politischen Einflußnahme auf dessen Rahmenbedingungen Andererseits erfüllen politische Zusammenschlüsse dieser Art eine notwendige Bedingung für ein Aufholen der Politik gegenüber den Kräften der globalisierten Ökonomie. Mit jedem neuen supranationalen Regime verringert sich die Zahl der politischen Aktoren und füllt sich der Club der wenigen global handlungsfähigen, d. h. auch kooperationsfahigen Aktoren, die - vorausgesetzt, es gibt einen entsprechenden politischen Willen - zu verbindlichen Vereinbarungen von Rahmenbedingungen überhaupt in der Lage waren Um wieviel schwieriger als der Zusammenschluß europaischer Staaten zu einer Politischen Union ist erst die Einigung auf das Projekt einer weltwirtschaftlichen Ordnung, die sich nicht in der Herstellung und rechtlichen Institutionalisierung von Markten erschöpfte, sondern Elemente einer weltweiten politischen Willensbildung einfuhren und eine Domestizierung der unerwünschten sozialen Nebenfolgen des globalisierten Marktverkehrs gewährleisten wurde Angesichts der Überforderung des Natio8 V g l S 135 i 5 5
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nalstaats durch eine globalisierte Wirtschaft drangt sich zwar in abstracto, am grünen Tisch sozusagen, eine Alternative auf - eben die Übertragung von Funktionen, die bisher Sozialstaaten im nationalen Rahmen wahrgenommen haben, auf supranationale Instanzen. Aber auf dieser Ebene fehlt ein politischer Koordinationsmodus, der den marktgesteuerten transnationalen Verkehr mit Rucksicht auf soziale Standards in erträgliche Bahnen lenken konnte Gewiß sind die 191 souveränen Staaten auch diesseits der Organisationen der Vereinten Nationen durch ein dichtes Netz von Institutionen miteinander verflochten 9 Etwa 350 Regierungsorganisationen, von denen mehr als die Hälfte nach i960 gegründet worden sind, dienen wirtschaftlichen, sozialen und friedenssichernden Funktionen Aber natürlich sind sie nicht in der Lage, eine positive Koordination zustande zu bringen und regulatorische Funktionen in umverteilungsrelevanten Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Beschaftigungspohtik zu erfüllen Niemand jagt gerne einer Utopie nach, erst recht nicht heute, nachdem alle utopischen Energien verbraucht zu sein scheinen 10 Ohne nennenswerte sozialwissenschafthche Anstrengungen ist denn auch die Idee einer die Markte einholenden Politik bisher nicht einmal zu einem »Projekt« ausgereift Dieses mußte wenigstens an Beispielen einen allen Beteiligten zumutbaren Interessenausgleich simulieren und Umrisse für geeignete Verfahren und Praktiken erkennen lassen Die sozialwissenschafthche Resi9 D Senghaas, Interdependenzen im internationalen System, in G Krell, H Muller (Hg ), Frieden und Konflikt in den internationalen Bcziehun gen, Frankfurt/M 1994,190 222 10 Ich glaube freilich nicht, daß meine Diagnose von 1985 durch die un vorhergesehene Implosion der Sowjetunion entwertet worden ist J Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaats und die Erschöpfung uto pischtr Energien, in ders , Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M 1985, 141 163
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stenz gegenüber einem Entwurf transnationaler Regime mit weltinnenpohtischem Zuschnitt ist verständlich, wenn wir davon ausgehen, daß ein solches Projekt aus den gegebenen Interessenlagen der Staaten und ihrer Bevölkerungen gerechtfertigt und von unabhängigen politischen Machten verwirklicht werden muß In einer stratifizierten Weltgesellschaft scheinen sich aus der asymmetrischen Interdependenz zwischen entwickelten, neu industrialisierten und unterentwickelten Landern unversöhnliche Interessengegensätze zu ergeben. Aber diese Perspektive trifft nur solange zu, wie es keine institutionalisierten Verfahren transnationaler Willensbildung gibt, die global handlungsfähige Aktoren dazu bringen, ihre je eigenen Präferenzen um Gesichtspunkte einer »global governance« zu erweitern " Die Globalisierungsprozesse, die ja nicht nur wirtschaftlicher Art sind, gewohnen uns nach und nach an eine andere Perspektive, aus der uns die Begrenztheit der sozialen Schauplatze, die Gemeinsamkeit der Risiken und die Vernetzung der kollektiven Schicksale immer deutlicher vor Augen treten Wahrend die Beschleunigung und Verdichtung von Kommunikation und Verkehr die räumlichen und zeitlichen Distanzen schrumpfen laßt, stoßen die Expansion der Markte auf die Grenzen des Planeten und die Ausbeutung der Ressourcen auf die Schranken der Natur Der enger gewordene Horizont erlaubt schon mittelfristig keine Externahsierung von Handlungsfolgen mehr- ohne Sanktionen furchten zu müssen, können wir Kosten und Risiken immer seltener auf andere abwälzen - auf andere Sektoren der Gesellschaft, auf ferne Regionen, fremde Kulturen oder künftige Generationen Das ist bei den lokal nicht mehr eingrenzbaren Risiken der Großtechnik ebenso offensichtlich wie bei der industriellen Schadstoffprodukii D Held, Dimocracy and the Global Order, Cambridge 1995
tion der wohlhabenden Gesellschaften, die alle Erdteile gefährdet u Aber wie lange können wir dann noch sozial verursachte Kosten auf »überflüssig« gewordene Segmente der Arbeitsbevolkerung abwälzen5 Gewiß, internationale Absprachen und Regelungen, die solchen Externahsierungen entgegenwirken, sind von Regierungen solange nicht zu erwarten, wie diese in ihren nationalen Arenen, wo sie sich um Zustimmung und Wiederwahl bemuhen müssen, als unabhängig handelnde Aktoren wahrgenommen werden Die Einzelstaaten mußten innenpolitisch wahrnehmbar in bindende Kooperationsverfahren einer kosmopolitisch verpflichtenden Staatengemeinschaft eingebunden werden Die entscheidende Frage ist deshalb, ob in den Zivilgesellschaften und den politischen Öffentlichkeiten großraumig zusammenwachsender Regime ein Bewußtsein kosmopolitischer Zwangssohdansierung entstehen kann Nur unter diesem Druck einer innenpolitisch wirksamen Veränderung der Bewußtseinslage der Burger wird sich auch das Selbstverstandms global handlungsfähiger Aktoren dahingehend andern können, daß sie sich zunehmend im Rahmen einer internationalen Gemeinschaft als Mitglieder verstehen, die alternativenlos zur Kooperation und damit zur gegenseitigen Interessenberucksichtigung genötigt sind Ein solcher Perspektivenwechsel von »internationalen Beziehungen« zu einer Weltinnenpohtik ist von den regierenden Eliten nicht zu erwarten, bevor nicht die Bevölkerungen selbst aus wohlverstandenem Eigeninteresse einen solchen Bewußtseinswandel prä-
sein, das sich nach den Erfahrungen von zwei barbarischen Weltkriegen öffentlich artikuliert und - ausgehend von den unmittelbar beteiligten Nationen - in vielen Landern ausgebreitet hat Wir wissen, daß dieser Bewußtseinswandel lokale Kriege und zahllose Burgerkriege in anderen Regionen der Welt keineswegs verhindert hat Aber infolge des Mentahtatswandels haben sich immerhin die politisch-kulturellen Parameter der zwischenstaatlichen Beziehungen so geändert, daß die UNO-Menschenrechtserklarung mit der Achtung von Angriffskriegen und der Inkrimimerung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit die schwache normative Bindungswirkung von öffentlich anerkannten Konventionen gewinnen konnte Für die Institutionahsierung von weltwirtschaftlich relevanten Verfahren, Praktiken und Regelungen, die die Losung globaler Probleme erlauben wurden, reicht das nicht aus Eine Regulierung der entfesselten Weltgesellschaft erfordert Politiken, die Lasten umverteilen Das wird nur auf der Grundlage einer bisher fehlenden weltburgerhchen Solidarität möglich sein, die allerding eine schwächere Bindungsqualitat haben wurde als die innerhalb von Nationalstaaten gewachsene staatsbürgerliche Solidarität Die Weltbevolkerung ist objektiv langst zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft zusammengeschlossen worden Nicht ganz unplausibel ist deshalb die Erwartung, daß sich unter diesem Druck jener große, historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lo kalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewußtsein fortsetzt
miieren Ein ermutigendes Beispiel ist das pazifistische Bewußt-
Die Institutionahsierung von Verfahren zur weltweiten Interessenabstimmung, Interessenverallgemeinerung und zur einfallsreichen Konstruktion gemeinsamer Interessen wird sich nicht in der organisatorischen Gestalt eines (auch gar nicht wünschenswerten) Weltstaates vollziehen können, sie wird der Eigenständigkeit, Eigenwilhgkeit und
12 U Beck, Gegengifte Die organisierte Unvtrantworthcbkeit, Frank furt/M 1988 13 / u m Modell einer Weltinnenpolmk ohne Weitregierung vgl S 155 168
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Eigenart ehemals souveräner Staaten Rechnung tragen müssen Aber wie sieht der Weg aus, der dorthin fuhrt' Mit dem Hobbesschen Problem, wie soziale Verhaltenserwartungen stabilisiert werden können, ist die Kooperationsfahigkeit rationaler Egoisten auch auf globaler Ebene überfordert Institutionelle Innovationen kommen in Gesellschaften, deren politische Eliten überhaupt zu einer solchen Initiative fähig sind, nicht zustande, wenn sie nicht Resonanz und Abstutzung in den vorgangig reformierten Wertorientierungen ihrer Bevölkerungen finden Deshalb sind die ersten Adressaten eines solchen »Projekts« nicht Regierungen, sondern soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorgamsationen, also die aktiven Mitglieder einer nationale Grenzen überschreitenden Zivilgesellschaft Jedenfalls verweist die Idee, daß den globalisierten Markten politische Regelungskompetenzen nachwachsen müssen, auf komplexe Zusammenhange zwischen der Kooperationsfahigkeit von politischen Regimen und einer neuen Integrationsform weltburgerhcher Solidarität
Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie »All polmcians move to the centre to compete on the basis of pcrsonahty and of who IS best able to manage the adjustment in economy and Society necessary to sustain compentiveness in the global market The concept of a possible alternative eco nomy and society is excluded « Robert Cox, 1997
Im Jahre 1929 erscheint eine bemerkenswerte Schrift zur Kritik der Soziologie Dann entwickelt Siegfried Landshut die These, daß die Soziologie ihren Gegenstand, die Gesellschaft, durch eine bestimmte Perspektive erst erzeugt Die philosophische Fragestellung des Vernunftrechts, wie sich eine Assoziation freier und gleicher Burger mit Mitteln des positiven Rechts herstellen laßt, entwirft den emanzipatonschen Erwartungshonzont, der den Blick auf die Widerstände einer, wie es scheint, unvernunftigen Realität lenkt Das wird auch der Blick der Soziologie sein In Hegels Rechtsphilosophie hegt dieser Zusammenhang noch auf der Hand Hegel gibt ja einem klassischen Begriff einen ganz anderen, einen modernen Sinn, wenn er die >burgerhche Gesellschaft als die »in ihre Extreme verlorene Sittlichkeit« beschreibt Landshut verfolgt die Entwicklung von hier über Marx und Lorenz von Stein bis zu Max Weber, um zu zeigen, daß eine Soziologie, die Hegels Glauben an die Vernunftigkeit des Wirklichen immer mehr verliert, die Spuren ihrer Konstitutionsgeschichte immer weiter verwischt und schließlich den normativen Vorgriff verheimlicht, ohne den die vom »Staat« unterschiedene »Gesell91
schaft« gar nicht als die Gesamtheit der Determinanten von Ungleichheit und Unterdrückung erscheinen konnte Aber nach wie vor verarbeitet die Soziologie die Enttäuschung über die »Ohnmacht« des vernunftrechthchen Sollens »Die >Gesellschaft< ist nur der Titel, unter dem sich die Spannungen, Widerspruche und Fraglichkeiten zusammenfassen, die mit der Wirksamkeit der Ideen von Freiheit und Gleichheit sich ergeben «' Margaret Thatcher muß diesen Zusammenhang intuitiv verstanden haben, als sie den Slogan erfand, daß es so etwas wie Gesellschaft »gar nicht gibt« Sie ist unter den Politikern die eigentlich »postmoderne« Erscheinung Auch in der politischen Öffentlichkeit entfalten die Konflikte, die sich heute auf nationaler, europaischer und internationaler Ebene abzeichnen, ihre beunruhigende Kraft allein vor dem Hintergund eines normativen Selbstverstandmsses, wonach soziale Ungleichheit und politische Unterdrukkung nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich produziert - und deshalb grundsätzlich veränderbar sind Aber seit 1989 scheinen sich immer mehr Politiker zu sagen Wenn wir die Konflikte schon nicht losen können, müssen wir wenigstens den kritischen Blick entscharfen, der aus Konflikten Herausforderungen macht Als politische Herausforderung empfinden wir es immer noch, daß in der Bundesrepublik neben 2,7 Millionen Sozialhilfeempfangern weitere Millionen Burger unterhalb der offiziellen Armutsgrenze leben, daß der saisonbereinigte monatliche Zuwachs der registrierten Arbeitslosigkeit vom noch schnelleren Anstieg der Aktienkurse und Unternehmensgewinne begleitet wird, daß im vergangenen Jahr die Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund um ein Drittel zugenommen haben usw Als Herausforderung 1 S Landshut, Kritik der Soziologie, Neuwied 1969, 85
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empfinden wir auch das Wohlstandsgefalle, das sich zwischen dem wohlhabenden Norden und den von Chaos und Selbstdestruktion heimgesuchten Armutsregionen des Südens immer noch vertieft, oder die kulturellen Konflikte, die sich zwischen einem weithin säkularisierten Westen und der fundamentalistisch bewegten islamischen Welt auf der einen, den soziozentnschen Traditionen des Fernen Ostens auf der anderen Seite abzeichnen - ganz zu schweigen von den Alarmsignalen der unbarmherzig tickenden ökologischen Uhren, von der Libamsierung der in Burgerkriegen und ethnonationalen Konflikten zerfallenden Regionen usw 2 Die Liste der Probleme, die sich heute jedem Zeitungsleser aufdrangen, kann sich freilich nur in eine politische Agenda verwandeln, wenn ein Adressat da ist, der sich und dem man - eine gezielte Transformation der Gesellschaft noch zutraut Die Diagnose gesellschaftlicher Kon flikte verwandelt sich in eine Liste ebensovieler politischer Herausforderungen erst dadurch, daß sich die egalitären Intuitionen des Vernunftrechts mit einer weiteren Prämisse verbinden - mit der Annahme, daß die vereinigten Burger eines demokratischen Gemeinwesens ihre gesellschaftliche Umgebung gestalten und die zur Intervention erforderliche Handlungsfähigkeit entwickeln können Der juristische Begriff der Selbstgesetzgebung muß eine politische Dimension gewinnen und zum Begriff einer demokratisch auf sich selbst einwirkenden Gesellschaft erweitert werden Dann erst kann aus den existierenden Verfassungen das reformistische Projekt der Verwirklichung einer »gerechten« oder »wohlgeordneten« Gesellschaft herausgelesen werden 3 Im Europa der Nachkriegszeit haben sich Politiker 2 U Menzel Globalisierung vs Fragmentierung, Frankfurt/M 1998 3 J Rawls, tine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M 1979
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jeder Couleur beim Aufbau des Sozialstaates von dieser dynamischen Lesart des demokratischen Prozesses leiten lassen Und vom Erfolg dieses, wenn man will, sozialdemokratischen Projektes hat umgekehrt auch die Konzep tion einer Gesellschaft gezehrt, die politisch, mit dem Willen und Bewußtsein ihrer demokratisch vereinigten Burger, auf sich selbst einwirkt Die wohlfahrtsstaathche Massendemokratie westlichen Zuschnitts steht allerdings am Ende einer zweihundert] ahngen Entwicklung, die mit dem aus der Revolution hervorgegangenen Nationalstaat begonnen hat An die Konstellation dieses Anfangs sollten wir uns erinnern, wenn wir verstehen wollen, warum der Sozialstaat heute in Bedräng ms gerat Der kontrafaktische Gehalt der von Rousseau und Kant auf den Begriff gebrachten republikanischen Autonomie hat sich gegen das vielstimmige Dementi einer ganz anders lautenden Realität nur behaupten können, weil er in nationalstaatlich konstituierten Gesellschaften seinen »Sitz« gefunden hat Der Terntonalstaat, die Nation und eine in nationalen Grenzen konstituierte Volkswirtschaft haben damals eine historische Konstellation gebildet, in der der demokratische Prozeß eine mehr oder weniger überzeugende institutionelle Gestalt annehmen konnte 4 Auch die Idee, daß eine demokratisch verfasste Gesellschaft mit einem ihrer Teile reflexiv auf sich als ganze einwirken kann, ist bisher nur im Rahmen des Nationalstaats zum Zuge gekommen Diese Konstellation wird heute durch Entwicklungen in Frage gestellt, die inzwischen unter dem Namen »Globalisierung« breite Aufmerksamkeit finden
husche Herausforderung wahr, weil wir sie noch aus der gewohnten nationalstaathchen Perspektive beschreiben Sobald dieser Umstand zu Bewußtsein kommt, wird das demokratische Selbstvertrauen erschüttert, das notig ist, um Konflikte als Herausforderungen, d h als Probleme wahrzunehmen, die auf eine politische Bearbeitung warten »For lf State sovereignty IS no longer conceived as mdivisible but shared with international agencies, lf States no longer have control over their own terntones, and lf territorial and pohtical boundanes are increasingly permeable, the core pnnciples of liberal demoeraey - that is self-governance, the demos, consent, representation, and populär sovereignty - are made distinctly problematic «5 Weil die Idee, daß eine Gesellschaft demokratisch auf sich einwirken kann, bisher nur im nationalen Rahmen glaubwürdig implementiert worden ist, ruft die postnationale Konstellation jenen gebremsten Alarmismus aufgeklarter Ratlosigkeit hervor, den wir in unseren politischen Arenen beobachten Die lahmende Aussicht, daß sich die nationale Politik in Zukunft auf das mehr oder weniger intelligente Management einer erzwungenen Anpassung an Imperative der »Standortsicherung« reduziert, entzieht den politischen Auseinandersetzungen den letzten Rest an Substanz In der beklagten »Amenkamsierung« von Wahlkampfen spiegelt sich eine dilemmatische Situation, die keine ausgreifende Perspektive mehr zu erlauben scheint
Die Situation ist paradox Die Tendenzen, die eine postnationale Konstellation anbahnen, nehmen wir nur als po-
Eine Alternative zur aufgesetzten Fröhlichkeit einer neoliberalen Politik, die sich selbst »abwickelt«, konnte jedoch dann bestehen, für den demokratischen Prozeß ge eignete Formen auch jenseits des Nationalstaates zu finden Unsere nationalstaathch verfassten, aber von Denationah-
4 U Beck, Wie z^ird Demokratie im 7eitalter der Globalisierung mog lich?,m ders (Hg), Politik der Globalisierung Frankfurt/M 1998 Fin lutung, 7 66 Ich danke Ulrich Beck für weitere 1 iteraturhinweise
5 A McGrew, Globalization and Territorial Demoeraey, in ders (Hg ) The Transformation of Demoeraey?, Cambridge 1997, 12
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sierungsschüben überrollten Gesellschaften »öffnen« sich heute gegenüber einer ökonomisch angebahnten Weltgesellschaft. Mich interessiert die Frage, ob eine erneute politische »Schließung« dieser globalen Gesellschaft wünschbar und wie sie gegebenenfalls möglich ist. Worin könnte eine politische Antwort auf die Herausforderungen der postnationalen Konstellation bestehen? Ich will zunächst an die klassischen Merkmale und Bestandsvoraussetzungen des Nationalstaates erinnen und erläutern, welche Vorgänge wir mit dem Ausdruck »Globalisierung« verbinden (I). Vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie die Veränderung der Konstellation, die sich heute vor unseren Augen vollzieht, die Funktions- und Legitimitätsbedingungen nationalstaatlicher Demokratien berührt (II). Pauschale Reaktionen auf die wahrgenommene Einschränkung des Handlungsspielraums nationaler Regierungen greifen allerdings zu kurz. Bei der Frage, ob die Politik den davongelaufenen Märkten »nachwachsen« kann und soll, müssen wir die Balance zwischen Öffnung und Schließung sozial integrierter Lebensformen im Auge behalten (III). Die Alternative zu einer perspektivelosen Anpassung an Imperative der »Standortkonkurrenz« möchte ich in zwei Schritten entwickeln: zunächst im Hinblick auf die Zukunft der Europäischen Union (IV) und dann im Hinblick auf Möglichkeiten einer transnationalen Weltinnenpolitik, die in den Modus der Standortkonkurrenz selbst eingreift (V).
Auch wenn einige Staaten heute noch an Alte Reiche (China), an Stadtstaaten (Singapur), an Theokratien (Iran) oder Stammesorganisationen (Kenya) erinnern, oder wenn sie Zuge von Familienclans (El Salvador) oder multinatio96
nalen Konzernen (Japan) verraten, so bilden die Mitglieder der »United Nations Organization« gleichwohl eine Vereinigung von Nationalstaaten. Jener Staatentyp, der aus der Französischen und der Amerikanischen Revolution hervorgegangen ist, hat sich weltweit durchgesetzt. Nicht alle Nationalstaaten waren oder sind demokratisch, also nach Grundsätzen einer Assoziation freier und gleicher Bürger verfasst, die sich selbst regieren. Aber wo immer Demokratien westlichen Zuschnitts entstanden sind, haben sie die Gestalt von Nationalstaaten angenommen. Der Nationalstaat erfüllt offensichtlich wichtige Erfolgsvoraussetzungen für die demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft, die sich in seinen Grenzen konstituiert. Die nationalstaatliche Einrichtung des demokratischen Prozesses läßt sich schematisch unter vier Gesichtspunkten analysieren. Der moderne Staat ist nämlich (a) als Verwaltungs- und Steuerstaat und (b) als ein mit Souveränität ausgestatteter Territorialstaat entstanden, der sich (c) im Rahmen eines Nationalstaats (d) zum demokratischen Rechts- und Sozialstaat entwickeln konnte.6 (a) Bevor eine Gesellschaft politisch auf sich selbst einwirken kann, muß sich ein Teilsystem ausdifferenzieren, das auf kollektiv bindende Entscheidungen spezialisiert ist. Der in Formen des positiven Rechts konstituierte Verwaltungsstaat läßt sich als Ergebnis einer solchen funktionalen Spezifizierung verstehen. Die Trennung des Staats von der Gesellschaft bedeutet zugleich die Ausdifferenzierung einer Marktwirtschaft, die über subjektive Privatrechte institutionalisiert wird. Im individualistischen Zuschnitt des Rechtssystems spiegelt sich ein funktionaler Imperativ selbstregulierter Märkte, die auf die dezentralisierten Ent6 Zum folgenden J. Habermas, Der europaische Nationalstaat, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996, 128 ff.
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Scheidungen der Teilnehmer angewiesen sind. Das Recht ist nicht nur Organisationsmittel der Verwaltung. Es schirmt die privatisierte Gesellschaft gegen den Staat ab, indem es die Interaktionen zwischen beiden in gesetzliche Bahnen lenkt. Insoweit ist bereits der moderne Staat als solcher auf den Rechtsstaat hin angelegt. Die Trennung von politischen und wirtschaftlichen Funktionsbereichen hat zwei wichtige Konsequenzen. Einerseits bleiben dem Staat die wichtigsten öffentlich-administrativen Regelungskompetenzen auf der Grundlage eines Monopols an Mitteln legitimer GeieWtanwendung vorbehalten. Andererseits ist eine funktional spezifizierte öffentliche Gewalt als Steuerstaat von Ressourcen des in die Privatsphäre entlassenen Wirtschaftsverkehrs abhängig. (b) Jede »Selbsteinwirkung« der Gesellschaft setzt ein wohlbestimmtes »Selbst« - als Bezugsgröße der Einwirkung - voraus. Der Begriff der Gesellschaft als eines Netzwerkes von Interaktionen, die sich in den sozialen Raum und in die historische Zeit hinein erstrecken, ist zu unspezifisch. Nun ruft die Vorstellung einer »demokratischen« Selbsteinwirkung die vernunftrechtliche Idee einer begrenzten Menge von Personen in Erinnerung, die sich mit dem Vorsatz vereinigen, einander genau diejenigen Rechte einzuräumen, die nötig sind, damit sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln können.7 Mit Rücksicht auf die Bedingungen der Durchsetzung des positiven, also zwingenden Rechts muß aber die soziale Abgrenzung der politischen Gemeinschaft mit der territorialen Begrenzung eines staatlich kontrollierten Gebietes kombiniert werden. Weil das staatliche Territorium den Geltungsbereich einer staatlich sanktionierten Rechtsordnung umschreibt, muß die Staatsangehörigkeit über das 7 J. Habermas, Faktizitat und Geltung, Frankfurt/M. 1992, r 51 ff.
Staatsgebiet definiert werden. In den Grenzen des Territorialstaats konstituiert sich einerseits das Staatsvolk als potentielles Subjekt einer Selbstgesetzgebung demokratisch vereinigter Bürger, andererseits die Gesellschaft als das potentielle Objekt ihrer Einwirkung. Aus dem Territorialprinzip ergibt sich im übrigen die Trennung der internationalen Beziehungen vom nationalen Hoheitsbereich; dementsprechend stehen Außen- und Innenpolitik unter verschiedenen Prämissen. Nach außen, gegenüber den übrigen Subjekten des Völkerrechts, begründet sich die Souveränität des Staates aus dem Recht auf die gegenseitige Anerkennung der Integrität staatlicher Grenzen. Dieses Interventionsverbot schließt das jus ad bellum, also das »Recht«, jederzeit Krieg zu führen, nicht aus. Der Status der Souveränität wird durch die faktisch unter Beweis gestellte Autonomie der Staatsgewalt gedeckt. Sie bemißt sich an der Fähigkeit der Staatsgewalt, die Grenzen gegen äußere Feinde zu schützen und im Inneren »Gesetz und Ordnung« aufrechtzuerhalten. (c) Eine demokratische Selbstbestimmung kann erst zustande kommen, wenn sich das Staatsvolk in eine Nation von Staatsbürgern verwandelt, die ihre politischen Geschicke selbst in die Hand nehmen. Die politische Mobilisierung der »Untertanen« erfordert jedoch eine kulturelle Integration der zunächst zusammengewürfelten Bevölkerung. Dieses Desiderat erfüllt die Idee der Nation, mit deren Hilfe die Staatsangehörigen - über die angestammten Loyalitäten gegenüber Dorf und Familie, Landschaft und Dynastie hinaus - eine neue Form kollektiver Identität ausbilden. Der kulturelle Symbolismus eines »Volkes«, das sich in der präsumptiv gemeinsamen Abstammung, Sprache und Geschichte seines eigentümlichen Charakters, eben seines »Volksgeistes« vergewißert, erzeugt eine wie immer auch imaginäre Einheit und bringt dadurch den Be99
wohnern desselben staatlichen Territoriums eine bis dahin abstrakt gebliebene, nur rechtlich vermittelte Zusammengehörigkeit zu Bewußtsein Erst die symbolische Konstruktion eines »Volkes« macht aus dem modernen Staat den Nationalstaat Das nationale Bewußtsein versorgt den in Formen des modernen Rechts konstituierten Flachenstaat mit dem kulturellen Substrat für eine staatsbürgerliche Solidarität Damit verwandeln sich die Bindungen, die sich unter Angehörigen einer konkreten Gemeinschaft, also auf der Grundlage persönlicher Bekanntschaft, ausgebildet haben, in eine neue, abstraktere Form der Solidarität Angehörige derselben »Nation« fühlen sich, obwohl sie Fremde füreinander sind und bleiben, soweit füreinander verantwortlich, daß sie zu »Opfern« bereit sind - etwa den Wehrdienst abzuleisten oder die Last umverteilungswirksamer Steuern zu tragen In der Bundesrepublik Deutschland ist der Landerfinanzausgleich ein Beispiel für das, was eine zugleich egalitäre und universalistische Rechtsordnung der Bereitschaft ihrer Burger, füreinander einzustehen, zumutet (d) Die Assoziation freier und gleicher Rechtspersonen vollendet sich erst mit dem demokratischen Modus der Herrschaftslegitimation Mit dem Wechsel von der Fürsten- zur Volkssouveramtat verwandeln sich, idealtypisch betrachtet, die Rechte der Untertanen in Rechte der Menschen und Staatsburger, d h in liberale und politische Burgerrechte Diese gewährleisten neben der privaten nun auch die gleiche politische Autonomie Der demokratische Verfassungsstaat ist seiner Idee nach eine vom Volk selbst gewollte und durch dessen freie Meinungs- und Willensbil düng legitimierte Ordnung, die den Adressaten des Rechts erlaubt, sich zugleich als dessen Autoren zu verstehen Weil aber eine kapitalistische Wirtschaft ihrer eigenen Logik
folgt, kann sie diesen anspruchsvollen Prämissen nicht ohne weiteres entsprechen Vielmehr muß die Politik dafür Sorge tragen, daß die sozialen Entstehungsbedingungen privater und öffentlicher Autonomie hinreichend erfüllt sind Andernfalls ist eine wesentliche Legitimitatsbedingung der Demokratie gefährdet Es dürfen keine systematischen Benachteiligungen und Diskriminierungen auftreten, die den Angehörigen von unterpnvilegierten Gruppen die Chancen vorenthalten, von den gleich verteilten formalen Rechten auch tatsächlich Gebrauch zu machen Aus der Dialektik von rechtlicher Gleichheit und faktischer Ungleichheit8 begründet sich die Aufgabe des Sozialstaats, auf die Sicherung der sozialen, technologischen und ökologischen Lebensbedingungen hinzuwirken, die allen eine chancengleiche Nutzung gleichverteilter Burgerrechte erst ermöglichen Der aus den Grundrechten selbst begründete sozialstaatliche Interventionismus erweitert die demokratische Selbstgesetzgebung der Burger eines Nationalstaates zur demokratischen Selbststeuerung einer nationalstaatlich definierten Gesellschaft Im Europa der Nachkriegszeit ist der demokratische Prozeß unter den in (a) bis (d) beschriebenen Aspekten mehr oder weniger überzeugend institutionalisiert worden Seit dem Ende der siebziger Jahre gerat diese Form der nationalstaatlichen Institutionalisierung jedoch zunehmend unter den Druck der Globalisierung Ich verwende den Begriff »Globalisierung« für die Beschreibung eines Prozesses, nicht eines Endzustandes Er kennzeichnet den zunehmenden Umfang und die Intensivierung von Verkehrs-, Kommunikations- und Austauschbeziehungen über nationale Grenzen hinweg Wie im 19 Jahrhundert 8 R Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M 1986, 378ff
die Eisenbahn, die Dampfschiffahrt und der Telegraph den Verkehr von Gutern und Personen sowie den Austausch von Informationen verdichtet und beschleunigt haben, so erzeugen heute die Satelhtentechnik, die Luftschiffahrt und die digitalisierte Kommunikation wiederum erweiterte und verdichtete Netzwerke »Netzwerk« ist zu einem Schlüsselwort geworden, gleichviel, ob es sich um Transportwege für Guter und Personen, um die Strome von Waren, Kapital und Geld, um die elektronische Übertragung und Verarbeitung von Informationen oder um Kreislaufe zwischen Mensch, Technik und Natur handelt Zeit-reihen belegen Globahsierungstendenzen in vielen Dimensionen Der Terminus findet gleichermaßen Anwendung auf die interkontinentale Ausbreitung von Telekommunikation, Massentourismus oder Massenkultur wie auf die grenzüberschreitenden Risiken von Großtechnik und Waffenhandel, auf die weltweiten Nebenwirkungen der überlasteten Ökosysteme oder die übernationale Zusammenarbeit von Regierungs- oder Nicht-Regierungsorgamsationen 9 Die wichtigste Dimension bildet eine wirtschaftliche Globalisierung, deren neue Qualität heute kaum noch in Zweifel gezogen wird »Die globalen wirtschaftlichen Transaktionen bewegen sich, gemessen an den national ausgerichteten Aktivitäten, auf einem in keiner vorausgegangenen Epoche erreichten Niveau und beeinflussen mittelbar und unmittelbar die Volkswirtschaften in bisher unbekanntem Ausmaß «10 Ich erinnere an vier Fakten Aus9 U Beck, Was ist Globalisierung? Frankfurt/M 1997 10 J Perraton, D Goldblatt, D Held A McGrew, Die Globalisierung der Wirtschaften Ulrich Beck (Hg ) (s Fn4), 134 168, hier 167, vgl auch D He\d, Democracy and Globahzation,\x\ Global Governance 3, 1997, 251 267 Einschränkend W Streeck, Industrielle Beziehungen in einer internationalisierten Wirtschaft, in Beck (Hg) (s Fn4), 169 202, hier 176t
dehnung und Intensivierung des zwischenstaatlichen Handels mit Industriegutern lassen sich nicht nur für die letzten Jahrzehnte, sondern auch im Vergleich zur Freihandelsperiode vor 1914 nachweisen Einig ist man sich ferner über die rapide steigende Anzahl und den wachsenden Einfluß transnationaler Unternehmen mit weltweiten Produktionsketten sowie über die Zunahme der Direktinvestitionen im Ausland Kein Zweifel besteht schließlich an der beispiellosen Beschleunigung der Kapitalbewegungen auf den elektronisch vernetzten Finanzmarkten und an der Tendenz zur Verselbstandigung von Finanzkreislaufen, die eine von der Realwirtschaft entkoppelte Eigendynamik entfalten Diese Entwicklungen fuhren kumulativ zu einer erheblichen Verschärfung des internationalen Wettbewerbs Weitsichtige Ökonomen haben schon vor zwei Jahrzehnten zwischen den bekannten Formen der »internationalen« Ökonomie und der neuen Formation einer »globalen Ökonomie« unterschieden »The international economy had been the object of the regulatory Systems built up nationally and internationally in the post war years The global economy was a very largely unregulated (and many would argue unregulateble) domain The global economy was the matnx of >globahzation< as a late twentieth Century phenomenon «'' Für sich genommen, besagen diese Trends noch nichts über eine Beeinträchtigung der Funktions- und Legitimitatsbedingungen des demokratischen Prozesses als solchen Aber eine Gefahr bedeuten sie für die nationalstaatliche Form seiner Institutionahsierung Gegenüber der territorialen Verankerung des Nationalstaats beschwort der Ausdruck »Globalisierung« das Bild von anschwellenden Flüssen, die die Grenzkontrollen unterspulen und das nationale 11 R Cox, Democracy in Hard Times, in McGrew (Hg ) (s Fn 5), 55 103
Gebäude zum Einsturz bringen können n Die neue Relevanz von Fließgroßen signalisiert die Verschiebung der Kontrollen aus der Raum- in die Zeitdimension Die Verlagerung der Gewichte vom »Beherrscher des Territoriums« zum »Meister der Geschwindigkeit« scheint den Nationalstaat zu entmachten 13 Allerdings sind Staatsgrenzen trotz der neurotischen Bewachung durch die nationalen Streitkräfte - nicht mit Befestigungen zu vergleichen Wie man sich am Beispiel der traditionellen Außenhandelspolitik leicht klar machen kann, funktionieren solche Grenzen eher als Schleusen, die »von innen« bedient werden, um die Strömung so zu regulieren, daß nur die erwünschten Zuoder Abflüsse passieren können Wir müssen im einzelnen prüfen, ob und gegebenenfalls welche Globalisierungsvorgange die Fähigkeit des Nationalstaates schwachen, seine Systemgrenzen aufrechtzuerhalten und Austauschprozesse mit der Umwelt autonom zu regulieren In welchen Hinsichten wurde das die Fähigkeit einer nationalen Gesellschaft zur demokratischen Selbststeuerung beeinträchtigen5 Gibt es für Defizite, die auf nationaler Ebene eintreten, gegebenenfalls auf supranationalen Ebenen funktionale Äquivalente' Die Befürchtung, die sich in solchen Fragen ausdruckt, liegt auf der Hand »Is economic globalization an uncrontrollable, inflexible force to which liberal democracy is inevitably subordinate'«14 Die Antworten werden differenziert ausfallen, wenn wir die unter (a) bis (d) bezeichneten Funktions- und Legmmitatsbedingungen einer sozialstaatlichen Massendemokratie der Reihe nach durchgehen und dabei, ohne uns auf die - aller 12 In diesem Sinne assoziieren John Agnew und Stuart Corbndge mit die sen Entwicklungen »the trend from boundanes to flows« dies , Mas tenng Space, London 1995, 216 Das andere Bild »Vom Schlagbaum zum Bildschirm« spielt auf die Visualisierung von Grenzen an 13 Menzel (s Fn2), 15 14 Cox (s Fn 11), 51 104
dings zentralen - Veränderungen des internationalen Wirtschaftssystems zu beschranken, Globahsierungsvorgange auf ganzer Breite im Auge behalten
II Wie berührt die Globalisierung (a) Rechtssicherheit und Effektivität des Verwaltungsstaats, (b) die Souveränität des Terntonalstaats, (c) die kollektive Identität und (d) die demokratische Legitimität des Nationalstaats'15 ad a) Zunächst geht es um die Effektivität der öffentlichen Verwaltung als des Mediums, über das demokratische Gesellschaften auf sich einwirken können Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Sektor gestaltet sich je nach dem Anteil am Bruttosozialprodukt, der für den Staatskonsum zur Verfugung steht, sehr verschieden, z B in den USA und Schweden Aber unabhängig von der Staatsquote bleiben Staat und Gesellschaft nach wie vor funktional voneinander getrennt Anders als bei den Regulationsfunktionen, die der Staat z B für Zwecke der makrookonomischen Steuerung und der Redistnbution übernommen hat, ist bei den klassischen Ordnungs- und Orgamsationsleistungen, vor allem bei der staatlichen Garantie der Eigentumsrechte und der Wettbewerbsbedingungen, von einer nachlassenden Kraft des Nationalstaates nichts zu spuren Durch die Störung ökologischer Kreislaufe und die Störanfälligkeit großtechnischer Anlagen sind allerdings neue Risiken grenzüberschreitender Art entstanden »Tschernobyl«, »Ozonloch« oder »saurer Regen« signalisieren Unfälle und ökologische Veränderungen, die sich aufgrund 15 V^l /um folgenden M / u m Rigicnn jensuts des Nationalstaates, 1 rmkfurt/M 199S 105
ihrer Intensität und Reichweite im nationalen Rahmen nicht mehr beherrschen lassen und die insofern die Ordnungskapazitat einzelner Staaten überfordern.16 Auch in anderer Hinsicht werden die Staatsgrenzen porös Das gilt für die organisierte Kriminalität, vor allem für den Drogenund Waffenhandel Obwohl das Thema der inneren Sicherheit oft aus wahlpohtischen Gründen dramatisiert wird, zeigt sich die Bevölkerung für populistische Inszenierungen dieser Art immerhin empfänglich. Aber die politische Kontrollfahigkeit, die der Nationalstaat in diesen Hinsichten einbüßt, kann, wie sich inzwischen zeigt, auf internationaler Ebene kompensiert werden. Globale Umweltregime arbeiten vielleicht nicht mit der erwünschten Effektivität, sind jedoch keineswegs wirkungslos. Anders verhalt es sich mit der Fähigkeit des Steuerstaates, die nationalen Ressourcen auszuschöpfen, aus denen sich die Verwaltung ahmentieren muß. Die beschleunigte Kapitalmobihtat erschwert den staatlichen Zugriff auf Gewinne und Geldvermogen, und die verschärfte Standortkonkurrenz fuhrt zur Schrumpfung der nationalen Steuereinnahmen. Die bloße Drohung mit Kapitalabwanderung setzt eine Kostensenkungsspirale in Gang (und schreckt überdies die Steuerfahndung ab, geltendes Recht durchzusetzen). Die Steuern auf Spitzeneinkommen, Kapital und Gewerbe sind in den OECD-Gesellschaften soweit gesunken, daß sich der aus Gewinnsteuern erzielte Anteil am gesamten Steueraufkommen seit Ende der achtziger Jahre drastisch verringert hat, und zwar zuungunsten des Anteils aus Verbrauchssteuern und aus den Einkommensteuern der Normalverdiener Die Parole vom »schlanken Staat« verdankt sich weniger der berechtigten Kritik an einer unbeweglichen Verwaltung, die neue Managementkompeten16 U Beck, Risikogtsellschaft, Frankfurt/M 1986 106
zen erwerben soll,17 als vielmehr dem fiskalischen Druck, den die wirtschaftliche Globalisierung auf die besteuerungsfahigen Ressourcen des Staates ausübt ad b) Bei der »Entmachtigung« des Nationalstaates denken wir in erster Linie an die langst festgestellten Veränderungen des modernen, aus dem Westfälischen Frieden hervorgegangenen Staatensystems. Die Zuge dieses Systems spiegeln sich in den Bestimmungen des klassischen Volkerrechts ebenso wider wie in den Beschreibungen des pohtikwissenschafthchen Realismus.18 Nach diesem Modell besteht die Staatenwelt aus unabhängigen nationalstaatlichen Aktoren, die in einer anarchischen Umgebung nach Präferenzen eigener Machterhaltung oder Machterweiterung mehr oder weniger rationale Entscheidungen treffen. An diesem Bild ändert sich auch nicht viel, wenn die Staaten eher die ökonomische Rolle von Nutzenmaximierern als die politische Rolle von Machtakkumuherern spielen. Dann passen zwar die kooperativen Strategien besser ins Bild19, aber die Annahme der strategischen Interaktion unabhängig operierender Machte bleibt davon unberührt. Dieses konventionelle Bild ist der heutigen Situation weniger angemessen denn je 20 Obwohl Souveränität und Gewaltmonopol der Staatsgewalt formal intakt geblieben sind, stellen die wachsenden Interdependenzen der Weltge17 Zukunftskommission der Fnednch-Ebert-Stiftung (Hg ), Wirtschafth ehe Leistungsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit, Bonn 1998, 204 222 18 Vgl die maßgebenden Werke von H J Morgenthau, Politics among Natwns, New York 1949, und K i. Waltz, Man, the State and War, New York 1959 19 R O Keohane, After Hegemony Cooperation and Discord in the World Political Economy, Pnnceton 1984 20 E O Czempiel, Weitpolitik im Umbruch, München 1993, S LaubachHintermeier, Kritik des Realismus, in C Chwaszcza, W Kersting (Hg ), Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frank furt/M 1998,73 9S 107
Seilschaft die Prämisse in Frage, daß die nationale Politik überhaupt noch territorial, in den Grenzen des Staatsgebiets, mit dem tatsächlichen Schicksal der nationalen Gesellschaft zur Deckung gebracht werden kann Dafür genügt das Standardbeispiel des Atomreaktors, den eine benachbarte Regierung in der Nahe der eigenen Grenze nach anderen als den national verbindlichen Planungsverfahren und Sicherheitsstandards bauen laßt In einer ökologisch, wirtschaftlich und kulturell immer dichter verflochtenen Welt decken sich Staaten, die legitime Entscheidungen treffen, in ihrem sozialen und territorialen Umfang immer seltener mit den Personen und den Gebieten, die von den Folgen dieser Entscheidungen potentiell betroffen sind Weil der Nationalstaat seine Entscheidungen auf territorialer Grundlage organisieren muß, besteht in der interdependenten Weltgesellschaft immer seltener eine Kongruenz zwischen Beteiligten und Betroffenen 21 Die Theonebildung darf nicht in die »territoriale Falle« tapsen »The territorial State has been >pnor< to and a >container< of society only under specific conditions «22 Jenseits der Nationalstaaten bilden sich durch militärische Blockbildung oder durch ökonomische Vernetzung - durch die NATO, die OECD oder die sogenannte Triade - andere Grenzen, die für nationale Belange eine fast ebenso große Bedeutung gewinnen wie die Grenzen des eigenen Territoriums Auf regionaler, internationaler und globaler Ebene sind »Regime« entstanden, die ein »Regieren jenseits des Nationalstaates« (Michael Zürn) ermöglichen und den Verlust an nationaler Handlungsfähigkeit in einigen Funktionsbereichen wenigstens teilweise kompensieren 23 Das gilt auf 21 D Held, Democracy the Nation State and the Global System, in Held (Hg ), Pohtical Theory Today, Cambridge 1991, 197 235, hier 2Oiff 22 Agnew und Corbndge (s F1112), 94 23 Vgl Zürn (s Fn 15) 108
wirtschaftlichem Gebiet für den Internationalen Wahrungsfond und die Weltbank (1944) oder für die aus dem GATT-Abkommen (1948) hervorgegangene Welthandels Organisation wie auf anderen Gebieten für die Weltgesundheitsorganisation (1946), die Internationale Atombehorde (1957) oder die »Special agencies« der UNO, beispielsweise für die weltweite Koordination der Zivilluftfahrt Die Praxis einer verschachtelten Mehrebenenpolitik, die sich neben oder unterhalb der UNO einspielt, kann die durch Autonomieverluste des Nationalstaates entstandenen Effizienzlucken wenigstens in einigen Hinsichten schließen — wenn auch nicht, wie noch zu zeigen ist, in den wirklich relevanten Hinsichten einer positiv koordinierenden Wirtschaftsund Sozialpolitik Aber internationale Arrangements wie die lockeren G-7-Treffen oder zusammenwachsende Regime wie NAFTA und ASEAN oder gar politische Gebilde wie die Europaische Union können erklaren, warum sich die für den Nationalstaat konstitutive Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik verwischt, warum sich die klassische Diplomatie beispielsweise mit der Kultur- und Außenwirtschaftspolitik vernetzt Offensichtlich wird die klassische Machtpolitik nicht nur normativ in das Regelwerk der UNO eingebunden, sondern noch wirksamer durch den Einsatz von »soft power« zurückgedrängt Kompetenzverschiebungen von der nationalen zur übernationalen Ebene reissen freilich Legitimitatslucken auf Neben einer Vielzahl von internationalen Regierungsorganisationen und standigen Regierungskonferenzen haben auch Nicht Regierungsorganisationen wie der Worldwide Fund for Nature, Greenpeace oder Amnesty International an Einfluß gewonnen, sie sind vielfach in das Netz informeller Regelungsinstanzen einbezogen Aber die neuen Formen der internationalen Zusammenarbeit entbehren einer Legitimation, die auch nur entfernt den Anforderungen 109
der nationalstaathch institutionalisierten Verfahren genügen wurde 24 ad c) Die Frage des Demokratiedefizits erhebt sich nicht nur im Hinblick auf intergouvernementale Regelungen, die auf Vereinbarungen zwischen kollektiven Aktoren beruhen und die ohnehin nicht die Legitimationskraft einer politisch verfassten Burgergesellschaft haben können Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sich die Globalisierung auch auf das kulturelle Substrat staatsbürgerlicher Solidarität auswirkt, das sich im Rahmen von Nationalstaaten herausgebildet hat Unter dem Gesichtspunkt der institutionellen Ermoglichung von demokratischer Selbstbestimmung zahlt die politische Integration der Burger einer großraumigen Gesellschaft zu den unumstrittenen historischen Leistungen des Nationalstaates Heute verraten jedoch Anzeichen der politischen Fragmentierung erste Risse im Gemäuer der »Nation« Dabei beziehe ich mich nicht in erster Linie auf Nationahtatenkonfhkte wie im Baskenland oder in Nordirland Es nimmt diesen Konflikten nichts von ihrem Ernst und ihrem Gewicht, wenn man sie als Spatfolgen einer gewaltsamen Nationalstaatsbildung betrachtet, die zu historischen Verwerfungen gefuhrt hat Normativ betrachtet, ist jenes vermeintliche »Recht« auf nationale Selbstbestimmung, das auch die europaische Neuordnung nach dem Ersten Welt krieg bestimmt und viel Unheil angerichtet hat, Unfug Gewiß, eine Sezession ist oft aus historischen Gründen berechtigt - so in Fallen kolonialer Eroberung oder im Hinblick auf Ureinwohner, die einem Staat einverleibt worden sind, ohne je um Zustimmung gefragt worden zu sein Aber im allgemeinen legitimieren sich Forderungen
nach »nationaler Unabhängigkeit« einzig aus der Unterdruckung von Minderheiten, denen die Zentralregierung gleiche Rechte, insbesondere kulturelle Gleichberechtigung, vorenthalt 25 Ebensowenig denke ich an ethnonatio nale Konflikte, die - wie im ehemaligen Jugoslawien - unter Bedingungen der chaotischen Auflosung einer alten Herrschaftsordnung aufbrechen Auch dafür sind lokale Erklärungen ausreichend Bei anderen Phänomenen sind jedoch globale Ursachen im Spiel In unseren Wohlstandsgesellschaften mehren sich ethno zentrische Reaktionen der einheimischen Bevölkerung gegen alles Fremde - Haß und Gewalt gegen Auslander, gegen Andersgläubige und Andersfarbige, aber auch gegen Randgruppen und Behinderte und, wieder einmal, gegen Juden In diesen Zusammenhang gehören auch Entsohdansierungen, die sich an Fragen der Umverteilung entzünden und zur politischen Fragmentierung fuhren können Beispiele bieten die Lega Nord, die den wirtschaftlich wohlhabenden Norden Italiens vom Rest des Landes abtrennen will, oder bei uns die Forderung nach einer Revision des Landerfinanzausgleichs sowie der Parteitagsbeschluß der FDP zum Abbau des sog Solidantatszuschlages Es empfiehlt sich, zwei Aspekte zu unterscheiden einerseits die kognitiven Dissonanzen, die beim Aufeinander prallen verschiedener kultureller Lebensformen zu einer Verhärtung der nationalen Identität fuhren, andererseits die hybriden Differenzierungen, die in der Folge der Assimilation einer alternativlos gewordenen materiellen Weltkultur an die jeweils einheimische Kultur vergleichweise homogene Lebensformen aufweichen (c-i) Das Elend von Repression, Burgerkrieg und Ar25 A Margaht, J Raz, National Seif Determination, in W Kymlicka
24 M Imber, Geo governance without democracy, in McGrew (Hg ) (s Fn 5), 201 ff 110
( H g ) The Rights ofMinonty Cultures, Oxford 1995,79 9 2 A Bucha nan, The Morahty of Secesswn, in ebd,35O 374 III
mut bleibt schon deshalb nicht mehr nur eine lokale Angelegenheit, weil die Medien dafür sorgen, daß das Wohlstandsgefalle zwischen Nord und Sud, West und Ost weltweit perzipiert wird Dadurch werden breite Migrationsstrome, wenn nicht ausgelost, so doch beschleunigt Obgleich die große Masse der Auswanderer die Grenzen der OECD-Gesellschaften gar nicht erreicht, hat sich auch in diesen Landern die ethnische, religiöse und kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung, sei es durch eine erwünschte, tolerierte oder erfolglos abgewehrte Immigration, erheblich verändert Nicht nur klassische Einwanderungslander wie die USA und alte Kolomallander wie England und Frankreich sind von dieser Drift erfaßt Trotz rigider (in unserem Falle grundrechtswidriger) Einwanderungsregelungen, die die Festung Europa abriegeln, befinden sich alle europaischen Nationen inzwischen auf dem Wege zu multikulturellen Gesellschaften Natürlich vollzieht sich diese Plurahsierung der Lebensformen nicht reibungslos 2b Einerseits ist der demokratische Verfassungsstaat für Integrationsprobleme dieser Art normativ besser gewappnet als andere politische Ordnungen, andererseits sind diese Probleme eine tatsachliche Herausforderung für Nationalstaaten klassischer Prägung 27 Normativ betrachtet, hat die Einbettung des demokratischen Prozesses in eine gemeinsame politische Kultur nicht den ausschließenden Sinn der Verwirklichung einer nationalen Eigenart, sondern den inklusiven Sinn einer Praxis der Selbstgesetzgebung, die alle Burger gleichmäßig einbezieht 28 Inklusion heißt, daß sich das politische Gemein 16 ] Habermas, Die Asyldebatte in ders Vergangenheit aU 7nknnft München 1993, 159 186 27 C Offe, Homogcneity and Constitittional Dcmocracy in The Jour nal ofPohtical Philosophy, Wol 6, 2 1998,113 141 28 J Habermas, Inklusion - Einbe/ichen oder Imsehheßen? in dos (s friß), 154 184
wesen offenhalt für die Einbeziehung von Burgern jeder Herkunft, ohne diese Anderen in die Uniformitat einer gleichgearteten Volksgemeinschaft einzuschhessen Denn ein vorgangiger, durch kulturelle Homogenitat gesicherter Hintergrundkonsens wird als zeitweilige, katalysatorische Bestandsvoraussetzung der Demokratie in dem Maße überflüssig, wie die öffentliche, diskursiv strukturierte Meinungs- und Willensbildung eine vernunftige politische Verständigung auch unter Fremden möglich macht. Weil der demokratische Prozeß schon dank seiner Verfahrenseigenschaften Legitimität verbürgt, kann er, wenn notig, in die Lucken sozialer Integration einspringen und im Hinblick auf eine veränderte kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung eine gemeinsame politische Kultur hervorbringen Auf der anderen Seite verlangt die Einrichtung einer »multikulturellen Staatsbürgerschaft«29 Politiken und Regelungen, die die zur zweiten Natur gewordene nationale Grundlage der staatsbürgerlichen Solidarität erschüttern In multikulturellen Gesellschaften wird eine »Politik der Anerkennung« notig, weil die Identität jedes einzelnen Burgers mit kollektiven Identitäten verwoben und auf Stabiherung in einem Netz gegenseitiger Anerkennung angewiesen ist Der Umstand, daß der Einzelne von intersubjektiv geteilten Überlieferungen und identitatspragenden Gemeinschaften existentiell abhangig ist, erklart, warum in kulturell differenzierten Gesellschaften die Integrität der Rechtsperson nicht ohne gleiche kulturelle Rechte gesichert werden kann »The individual's nght to eulture stems from the fact that every person has an overnding mterest in his personal identity - that IS in preserving his way of life and in preserving traits that are central identity components for him and other members of his cultural 29 W Kymlicka, Multicultural Cuuenship, Oxford 1995
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group «30 Eine Politik, die auf die gleichberechtigte Ko existenz der Lebensformen verschiedener ethnischer Gemeinschaften, Sprachgruppen, Konfessionen usw abzielt, setzt freilich in historisch gewachsenen Nationalstaaten einen ebenso prekären wie schmerzhaften Prozeß in Gang Die zur nationalen Kultur aufgespreizte Mehrheitskultur muß sich aus ihrer geschichtlich begründeten Fusion mit der allgemeinen politischen Kultur losen, wenn sich alle Burger gleichermaßen mit der politischen Kultur ihres Landes sollen identifizieren können In dem Maße, wie dieser Prozeß der Entkoppelung der politischen Kultur von der Mehrheitskultur gelingt, stellt sich die Solidantat der Staatsburger auf die abstraktere Grundlage eines »Verfassungspatnotismus« um 3I Mißlingt er, laßt er das Gemeinwesen in Subkulturen zerfallen, die sich gegeneinander abschotten In jedem Fall höhlt er aber die substantiellen Gemeinsamkeiten der Nation als einer Herkunftsgemeinschaft aus (c-2) Die Globalisierung belastet die Kohasionskraft nationaler Gemeinschaften auch noch auf eine andere Weise Globale Markte sowie Massenkonsum, Massenkommunikation und Massentourismus sorgen für die weltweite Diffusion von oder Bekanntschaft mit standardisierten Erzeugnissen einer (überwiegend von den USA geprägten) Massenkultur Dieselben Konsumguter und Konsumstile, dieselben Filme, Fernsehprogramme und 30 A Margaht, M Halbertal Liberaltsm and the Right to Culture, in So aal Research, 1993 491 510 hier 507 Der gleiche Zugang zu kulturel len Ressourcen rechtfertigt sich aus dem mtnnsischen Grund, die ei gene Identität zu wahren und nicht, wie einige liberale Theoretiker vorschlagen, instrumenteil - als eine Art Wertespeicher aus dem sich privatautonome Entscheider mit den Präferenzen höherer Ordnung versorgen können, vgl J Raz, MulticHlturahsm A Liberal Perspective in Dissent Winter 1994, 67 79 31 Vgl mein Interview mit J M Ferry in J Habermas Die nachholende Revolution, Frankfurt/M 1990, 149 156, hier 1^3ff 114
Schlager breiten sich über den Erdball aus, dieselben Pop-, Techno- oder Jeansmoden erfassen und prägen die Mentalität der Jugend noch in den entferntesten Regionen, dieselbe Sprache, ein jeweils assimiliertes Englisch, dient als Medium der Verständigung zwischen den entlegensten Dialekten Die Uhren der westlichen Zivilisation geben für die erzwungene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen den Takt an Der Firnis einer kommodifizierten Einheitskultur legt sich nicht nur auf fremde Erdteile Er scheint auch im Westen selbst die nationalen Unterschiede zu nivellieren, so daß die Profile der starken einheimischen Traditionen immer mehr verschwimmen Neuere Untersuchungen zur Anthropologie des Massenkonsums entdecken jedoch eine bemerkenswerte Dialektik von Einebnung und schöpferischer Differenzierung 32 Die Anthropologie hat lange genug den nostalgischen Blick auf einheimische Kulturen gepflegt, die unter dem Druck der kommerziellen Homogenisierung angeblich entwurzelt und ihrer vermeintlichen Authentizität beraubt wurden Neuerdings betont sie den konstruktiven Charakter und die Vielfalt der innovativen Antworten, die globale Reize in lokalen Kontexten auslosen In Reaktion auf den uniformierenden Druck einer materiellen Weltkultur bilden sich oft neue Konstellationen, die nicht etwa bestehende kulturelle Differenzen einebnen, sondern mit hybriden Formen eine neue Vielfalt schaffen Diese Beobachtung trifft nicht nur auf Kamerun, Trinidad oder Belize, auf ägyptische oder australische Dorfer zu,33 sondern ebenso auf Städte wie Moskau oder London So bestätigt eine Studie über eine dichtbesiedelte, ethnisch gemischte Vorstadt 32 D Miller, Worlds Apart Modernity through the pnsm of the l ocal, London 1995, Introductwn Anthropology, modernity and consump tion, 1 22 33 Vgl die Beitrage in Miller (s Fn32) 115
im Westen Londons, unweit von Heathrow-Airport, den Prozeß der Entstehung neuer kultureller Unterschiede 34 Der Autor wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die verdinghchende Fiktion, als bildeten ethnische Gruppen kohärente Ganzheiten mit klar abgrenzbaren Kulturen Gegenüber dem traditionellen Bild des multikulturellen Diskurses entwirft er das dynamische Bild einer fortgesetzten Konstruktion neuer Zugehörigkeiten, Subkulturen und Lebensstile Dieser Prozeß wird durch interkulturelle Beruhrungen und multiethnische Verbindungen in Gang gehalten Er verstärkt den in nachindustnellen Gesellschaften ohnehin bestehenden Zug zur Individualisierung und zum Entwurf »kosmopolitischer Identitäten« 35 Die Tendenz zur Abschottung scheinbar homogener Subkulturen gegeneinander mag sich dem Ruckgriff auf reale oder dem Entwurf imaginärer Gemeinschaften verdanken So oder so verbindet sie sich mit der konstruktiven Ausdifferenzierung immer neuer kollektiver Lebensformen und individueller Lebensentwurfe Beide Tendenzen verstarken im Inneren des Nationalstaats die zentrifugalen Kräfte Sie zehren die Ressourcen staatsbürgerlicher Solidantat auf, wenn es nicht gelingt, die geschichtliche Symbiose des Republikamsmus mit dem Nationalismus aufzulösen und die republikanische Gesinnung der Bevölkerung auf die Grundlage eines Verfassungspatriotismus umzustellen 36 34 G Baumann, Contesting Culture Discourses ofldentity m multi ethmc London, Cambridge 1996 35 J Waldron, Minonty Cultures and the Cosmopohtan Alternative, in
W Kymhcka (Hg ) (s Anm 25)5105 > The cosmopohtan strategy is not to deny the role of culture in the constitution of human hfe, but to question, first, the assumption that the social World divides up neatly into particular distinct cultures, one to every Community, and secondly, the assumption that what everyone needs is just one of these entities a Single, coherent culture — to give shape and meamng to hts hfe « 36 D Oberndorfcr, Integration oder Abschottung?, in Zeitschrift f Aus landerrecht und Auslanderpohtik, 18, Januar 1998, 3 13 116
ad d) Die demokratische Ordnung ist nicht von Haus aus auf eine mentale Verwurzelung in der »Nation« als einer vorpohtischen Schicksalsgemeinschaft angewiesen Es ist die Starke des demokratischen Verfassungsstaats, Lukken der sozialen Integration durch die politische Partizipation seiner Burger schhessen zu können Der demokratische Prozeß selbst kann, wenn er nur in eine liberale politische Kultur eingebettet ist, eine Art Ausfallburgschaft für den Zusammenhalt einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft dann übernehmen, wenn die Vielfalt der Interessenlagen, kulturellen Lebensformen oder Weltanschauungen das naturwüchsige Substrat der Herkunftgemeinschaft überfordert 37 In komplexen Gesellschaften bildet die in Prinzipien der Volkssouveranitat und Men schenrechte begründete deliberative Meinungs- und Willensbildung der Burger letztlich das Medium für eine abstrakte und rechtsformig hergestellte, über politische Teilnahme reproduzierte Form der Solidarität Der demokratische Prozeß muß sich allerdings, wenn er die Solidarität der Staatsburger über zentrifugale Spannungen hinweg sichern soll, durch seine Ergebnisse selber stabilisieren können Die Gefahr einer Entsohdarisierung kann er nur solange abwenden, wie er anerkannten Maßstaben sozialer Gerechtigkeit genügt Die liberalen und politischen Grundrechte begründen einen Staatsburgerstatus, der insofern selbstbezuglich ist, als er die demokratisch vereinigten Burger dazu ermächtigt, ihren Status auf dem Wege der Gesetzgebung auszugestalten Auf längere Sicht wird nur ein demokratischer Prozeß, der für die angemessene Ausstattung mit und eine faire Verteilung von Rechten sorgt, als legitim gelten und Solidantat stiften Um eine Quelle von Solidarität zu blei37 Vgl meine Antwort auf R J Bernstein in J Habermas (s Fn6), 3 ioff
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ben, muß der Staatsburgerstatus einen Gebrauchswert behalten und sich auch in der Münze sozialer, ökologischer und kultureller Rechte auszahlen Insofern hat die sozialstaatliche Politik eine nicht unerhebliche Legitimationsfunktion übernommen Das betrifft natürlich nicht nur das Kernstuck des Sozialstaats, die redistnbutive Sozialpolitik, die für die Lebensführung der Burger von existentieller Bedeutung ist Von der Arbeitsmarkt- und Jugendpohtik über die Gesundheits-, Familien- und Bildungspolitik bis zu Naturschutz und Stadtplanung erstreckt sich »Sozialpolitik« im weiteren Sinne auf das ganze Spektrum der staatlichen Orgamsations- und Dienstleistungen, die kollektive Guter bereitstellen und jene sozialen, naturlichen, kulturellen Lebensbedingungen sichern, die die Urbanität, den öffentlichen Raum einer zivilisierten Gesellschaft überhaupt, vor dem Verfall bewahren Viele Infrastrukturen des öffentlichen und privaten Lebens sind von Verfall, Zerstörung und Verwahrlosung bedroht, wenn sie der Regulierung durch den Markt überlassen werden Wenn im folgenden vom »Sozialstaat« die Rede ist, habe ich jedoch weniger diese regulatorischen Leistungen als die zentralen Umverteilungsfunktionen des Staates im Auge Wie sich die wirtschaftliche Globalisierung über das Schrumpfen des Steueraufkommens auf die staatliche Sozialpolitik auswirkt, hegt auf der Hand Auch wenn in der Bundesrepublik noch nicht wie in England und in den USA ernstlich von einem »Abbau des Sozialstaates« die Rede sein kann, laßt sich allgemein für die OECD-Gesellschaften seit Mitte der siebziger Jahre ein Ruckgang der Sozialhaushalte sowie eine Verschärfung der Zugangsbedingungen zu den Versicherungssystemen belegen Ebenso wichtig wie die Krise der öffentlichen Haushalte ist das Ende der keynesiamschen Wirtschaftspolitik Unter dem Druck globalisierter Markte büßen nationale Regierungen 118
immer starker die Fähigkeit zur politischen Einflußnahme auf den gesamtwirtschaftlichen Kreislauf ein 38 Wie der legitimitatswirksame innenpolitische Handlungsspielraum schrumpft, zeigt sich am Zusammenspiel von Sozial- und Wirtschaftspolitik einerseits, Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktentwicklung andererseits Für die Nachkriegszeit hat das Bretton-Woods-System der festen Wechselkurse zusammen mit den Institutionen der Weltbank und des Internationalen Wahrungsfonds ein internationales Wirtschaftsregime dargestellt, das eine Balance zwischen nationalen Wirtschaftspolitiken und Regeln des hberahsierten Welthandels erlaubte Nachdem dieses System Anfang der siebziger Jahre aufgegeben •wurde, ist ein ganz anderer, ein »transnationaler Liberalismus« entstanden Inzwischen ist die Liberalisierung des Weltmarktes weiter fortgeschritten, die Mobilität des Kapitals beschleunigt und das industrielle System von der Massenproduktion auf Bedurfnisse der »post-fordistischen Flexibilität« umgestellt •worden 39 Auf zunehmend globalisierten Markten hat sich die Balance eindeutig zuungunsten der Autonomie und des wirtschaftspolitischen Handlungsspielraums der staatlichen Akteure verschoben 40 Zugleich sind den Nationalstaaten in den multinationalen Korporationen machtige Konkurrenten entstanden Aber diese Machtverschiebung laßt sich besser in medien- als in machttheoretischen Begriffen erfassen Geld substituiert Macht Die Reguherungsmacht kollektiv bindender Entscheidungen operiert nach einer anderen Logik als der Regelungsmechanismus des Marktes Nur die Macht laßt sich beispielsweise demokra38 R W Cox, GlobalRestructuring Making Sense oftbc Changing Inter national Economy, in R Stubbs, G Underhill (Hg ), Pohtical Economy and tbi Changing Global Order, New York 1994, 45-59 39 Agnew und Corbndge (s F n i 2 ) , i 6 4 210 40 E Helleiner, From Bretton Woods to Global Finance, in Stubbs und
Underbill(s Fn38), 163 17s 119
tisieren, nicht das Geld Deshalb entfallen per se Möglich keiten demokratischer Selbststeuerung in dem Maße, wie die Regulierung gesellschaftlicher Bereiche vom einen Medium auf das andere übergeht Unter Bedingungen eines globalen, zur »Standortkonkurrenz« verschärften Wettbewerbs sehen sich die Unternehmen mehr denn je genötigt, die Arbeitsproduktivität zu steigern und den Arbeitsablauf insgesamt so zu rationalisieren, daß der langfristige technologische Trend zur Freisetzung von Arbeitskräften noch beschleunigt wird Massenentlassungen unterstreichen das wachsende Drohpotential beweglicher Unternehmen gegenüber einer insgesamt geschwächten Position von ortsgebunden operierenden Gewerkschaften In dieser Situation, wo der Teufels-kreis aus wachsender Arbeitslosigkeit, überbeanspruchten Sicherungssystemen und schrumpfenden Bei tragen die Finanzkraft des Staates erschöpft, sind wachstumsstimulierende Maßnahmen um so notiger, je •weniger sie möglich sind Inzwischen haben namhch die internationalen Börsen die »Bewertung« nationaler Wirtschaftspolitiken übernommen Auch deshalb haben Politiken der Nachfragesteuerung regelmäßig externe Effekte, die sich auf den nationalen Wirtschaftskreislauf kontraproduktiv auswirken »Keynesiamsmus in einem Lande« ist nicht langer möglich 41 Die Verdrängung der Politik durch den Markt zeigt sich also daran, daß der Nationalstaat seine Fähigkeit, Steuern abzuschöpfen, Wachstum zu stimulieren und damit wesentliche Grundlagen seiner Legitimität zu sichern, zunehmend verliert, ohne daß funktionale Äquivalente entstehen Denn im Hinblick auf diese beiden Funktionen werden die Defizite nicht auf supranationaler Ebene kompensiert 41 J Neyer, Spiel ohne Grenzen, Marburg 1996 120
Zwar zeigen die erfolgreichen GATT-Runden, daß zwischen den Regierungen Vereinbarungen Zustandekommen, die Handelshindernisse abbauen und neue Markte schaffen Dieser negativen Integration entsprechen aber bisher nur auf ökologischen Gebieten mehr oder weniger aussichtsreiche Versuche zu einer positiven Integration Nicht einmal eine Vereinbarung über die sog Tobin-Tax ist zustandegekommen, ganz zu schweigen von weiterreichenden marktkorngierenden Vereinbarungen über eine Koordinierung auf Gebieten der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik Statt dessen lassen sich die nationalen Regierungen schon angesichts implizit angedrohter Kapitalabwanderung in einen kostensenkenden Dereguherungswettlauf verstricken, der zu obszönen Gewinnen und drastischen Einkommensdispantaten, zu steigender Arbeitslosigkeit und zur sozialen Marginahsierung einer wachsenden Armutsbevolkerung fuhrt 42 In dem Maße, wie die sozialen Voraussetzungen für eine breite politische Teilnahme zerstört werden, verlieren auch formal korrekt getroffene demokratische Entscheidungen an Glaubwürdigkeit »Um auf den immer großer •werdenden Weltmarkten wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen (die OECD-Staaten) Schritte tun, die dem Zusammenhalt der Burgergesellschaften irreparablen Schaden zufügen Die dringlichste Aufgabe der Ersten Welt im kommenden Jahrzehnt wird deshalb die Quadratur des Kreises aus Wohlstand, sozialem Zusammenhalt und politischer Freiheit sein «43 Diese nicht gerade ermutigende Diagnose fuhrt auf selten der Politiker zur Abrüstung der Pro42 Zu den Folgeproblemen der Standortkonkurrenz vgl F W Scharpf, Demokratie in der transnationalen Politik, in Beck (Hg ) (s Fn 4), 228 253, hier 243fr 43 R Dahrendorf, Die Quadratur des Kreises, in Transit, 12, Winter 1996, 5 -28, hier 9 121
gramme und auf selten der Wahler zu Apathie oder Protest Der weitgehende Verzicht auf politische Gestaltung der sozialen Verhaltnisse und die Bereitschaft, normative Gesichtspunkte zugunsten der Anpassung an vermeintlich unausweichliche systemische Imperative des Weltmarktes einzuziehen, beherrschen die öffentlichen Arenen der westlichen Welt Clinton oder Blair empfehlen sich als tüchtige Manager, die ein angeschlagenes Unternehmen schon irgendwie reorganisieren werden, und verlassen sich auf Leerformeln wie »It's Time for a Change« Der programmatischen Entleerung einer Politik, die auf den »Poh tikwechsel« an sich zusammenschrumpft, entspricht beim Wahler informierte Abstinenz oder die Bereitschaft, »per sonhche Ausstrahlung« zu quittieren Es geht sogar ohne die schillernden Figuren wie Ross Perot oder Berlusconi, die aus dem Nichts kommen und unternehmerischen Er folg suggerieren Wenn die Verzweiflung groß genug ist, genügen ein bißchen Geld für rechtsradikale Slogans und ein ferngesteuerter Ingenieur aus Bitterfeld, den niemand kennt und der über nichts anderes als ein Handy verfugt, um aus dem Stand fast 13 Prozent Protestwahler zu mobilisieren
III Die Parole »Ohnmacht durch Globalisierung« ist, •wenn unsere Analyse stimmt, keineswegs ganz aus der Luft gegriffen, auch wenn sie der Spezifizierung bedarf Die fiskalische Grundlage der Sozialpolitik wird schmaler, wahrend gleichzeitig die Fähigkeit zur wirtschaftlichen Makrosteuerung abnimmt Außerdem laßt die Integrationskraft der herkömmlichen nationalen Lebensform nach, die vergleichsweise homogene Basis der staatsbürgerlichen Soli
dantat ist erschüttert Für einen Nationalstaat, der in sei nem Handlungsspielraum eingeschränkt und in seiner kollektiven Identität verunsichert ist, wird es aber schwieriger, seinen Legitimationsbedarf zu decken Wie soll man darauf reagieren' Das Bild vom Terntonalherrn, dem die Kontrolle über seine Grenzen entgleitet, hat entgegengesetzte rhetorische Strategien auf den Plan gerufen Beide zehren von Begriffen der klassischen Staatslehre Die defensive Rhetorik - sagen wir die des Bundesinnenministers - geht von der Schutzfunktion des gewaltmonopohsierenden Staates aus, der in den Grenzen seines Territoriums Recht und Ordnung aufrechterhalt und den Burgern in ihrer privaten Lebenswelt Sicherheit garantiert Gegen die von außen hereinbrechende, unkontrollierte »Brandung« beschwort diese Seite den politischen Willen zur Schließung der Schleusen Der protektiomstische Affekt richtet sich ebenso gegen Waffen und Drogenhändler, die die innere Sicherheit gefährden, wie gegen die Informationsuberflutung, das fremde Kapital, die Arbeitsimmigranten und die Fluchtlingswellen, die angeblich die heimische Kultur und den Lebensstandard zerstören Die offensive Rhetorik setzt andererseits an den repressiven Zügen der souveränen Staatsgewalt an, die die Burger dem uniformierenden Druck einer regelungswutigen Verwaltung unterwirft und ins Gefängnis einer homogenen Lebensform einsperrt Der libertäre Affekt begrüßt die Öffnung der territorialen und sozialen Grenzen als Emanzipation in beiden Richtungen als Befreiung der Herrschaftsunterworfenen von der normalisierenden Gewalt staatlicher Regulierung wie auch als Befreiung der Individuen von den Zwangen zur Assimila tion an die Verhaltensmuster eines nationalen Kollektivs 44 44 Typisch M Albrow Abschied vom Nationalstaat Frankfurt/M 1998 123
Diese Art von Stellungnahmen, die Globalisierungsvorgange pauschal begrüßt oder perhorresziert, greift naturlich zu kurz Unter den veränderten Bedingungen der postnationalen Konstellation kann der Nationalstaat seine alte Starke nicht durch eine »Politik des Einigeins« zurückgewinnen Der neonationale Protektionismus kann nicht erklaren, wie eine Weltgesellschaft wieder in ihre Segmente zerlegt werden konnte - es sei denn durch eine Weltpohtik, die er doch, ob nun zu Recht oder nicht, für eine Schimäre halt Ebensowenig überzeugend ist eine Politik der Selbstabwicklung, die den Staat in postnationalen Netzwerken aufgehen laßt Der postmoderne Neoliberalismus kann nicht erklaren, wie die auf nationaler Ebene entstehenden Defizite an Steuerungsfahigkeit und Legitimation ohne neue, und zwar wiederum politische Regelungsformen auf supranationaler Ebene ausgeglichen werden können Da sich der Einsatz legitimer Macht an anderen Erfolgskntenen bemißt als an dem des ökonomischen Erfolges, laßt sich politische Macht nicht beliebig durch Geld substituieren Die bisherige Analyse legt vielmehr eine Strategie nahe, die der perspektivelosen Anpassung an Imperative der Standortkonkurrenz mit dem Entwurf einer transnationalen Politik des Einholens und Einhegens globaler Netze begegnet 45 Dieser Entwurf muß freilich der subtilen Dyna45 Die gleiche Strategie verfolgt auch Pierre Bourdieu mit der These > Man kann gegen den Nationalstaat streiten und dabei doch seine um verseilen Aufgaben verteidigen, Aufgaben, die allerdings genauso gut, wenn nicht besser, von einem supranationalen Staat erfüllt werden konnten Wenn man nicht will, daß die Bundesbank mit ihrer Zinspolitik das Haushaltsgebaren der einzelnen Staaten bestimmt, muß man dann nicht für die Schaffung eines supranationalen Staates eintreten, der einigermaßen unabhängig ist von den internationalen okonomi sehen und nationalen politischen Kräften und in der Lage ist, die soziale Seite der europaischen Institutionen zu entfalten' P Bourdieu, Der Mythos Globalisierung und der europäische Sozialstaat, in ders ,Ge genfeuer, Konstanz 1998, 49f 124
mik der Öffnung und der erneuten Schließung sozial integrierter Lebenswelten gerecht werden An die national staatlichen Akteure richtet ein solcher Entwurf die paradoxe Erwartung, heute schon in den Grenzen ihrer aktuellen Handlungsmoglichkeiten ein Programm zu verfolgen, das sie doch erst jenseits dieser Grenzen realisieren können Famihenverbande, religiöse Gemeinschaften, Stadtgemeinden, Imperien oder Staaten können sich gegenüber ihren Umwelten offnen und schhessen Diese Dynamik verändert die Horizonte der Lebenswelt, die Maschen der sozialen Integration, die Spielräume für differentielle Lebensweisen und individuelle Lebensentwurfe Daß sich Grenzen verfestigen oder verflüssigen, besagt noch nicht viel für die Geschlossenheit oder Offenheit einer Gemeinschaft Interessant ist in dieser Hinsicht weniger die Konsistenz von Grenzen als vielmehr die Interferenz von zwei Formen der Koordinierung gesellschaftlichen Handelns von »Netzwerken« und »Lebenswelten« 46 Horizontale Beziehungen des Austauschs und des Verkehrs, die zwischen dezentralisiert entscheidenden Aktoren über Markte, Transportwege, Kommunikationsnetze usw hergestellt werden, stabilisieren sich oft über effizient zustandegekommene und positiv bewertete Handlungsfolgen Diese Form der »funktionalen Integration« gesellschaftlicher Verhaltnisse durch Netzwerke konkurriert mit einer ganz anderen Form der Integration - mit einer über Verständigung, intersubjektiv geteilte Normen und gemeinsame Werte laufenden »sozialen Integration« der Lebenswelt von Kollektiven, die eine gemeinsame Identität ausgebildet haben In der europaischen Geschichte beobachten wir seit dem 46 Zu den Formen der sozialen Integration und der Unterscheidung von Netzwerken und korporativen Einheiten vgl B Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M 1993, >)6{{ u 165ff 125
hohen Mittelalter einen spezifischen Prozeß des Aufeinandertreffens dieser beiden Integrationsformen - mit einer charakteristischen Abfolge von Öffnungs- und Schließungeffekten. Die Ausbreitung von Netzwerken des Waren-, Geld-, Personen- und Nachrichtenverkehrs fördert eine Mobilität, von der eine sprengende Kraft ausgeht, während die raumzeitlichen Horizonte einer Lebenswelt, wie weitgespannt sie auch sein mögen, stets ein intuitiv gegenwärtiges, aber zurückweichendes Ganzes bilden, aus dem - aus der Perspektive der Beteiligten - keine Interaktion herausführt. Expandierende und verdichtete Märkte oder Kommunikationsnetze lösen eine Modernierungsdynamik von Öffnung und Schließung aus. Die Vervielfältigung der anonymen Beziehungen mit »Anderen«, die dissonanten Erfahrungen mit »Fremden« haben eine subversive Kraft. Der wachsende Pluralismus lockert die askriptiven Bindungen an Familie, Lebensraum, soziale Herkunft und Tradition, setzt einen Formwandel der sozialen Integration in Gang. Bei jedem neuen Modernisierungsschub öffnen sich die intersubjektiv geteilten Lebenswelten, um sich zu reorganisieren und erneut zu schließen. Um diesen Formwandel kreist die klassische Soziologie mit immer neuen Beschreibungen - von Status zu Vertrag, von Primär- zu Sekundärgruppe, von Gemeinschaft zu Gesellschaft, von mechanischer zu organischer Solidarität usw. Der Öffnungsimpuls geht von neuen Märkten, Kommunikationsmitteln, Verkehrswegen und kulturellen Vernetzungen aus, wobei die Öffnung selbst für die betroffenen Individuen die zweideutige Erfahrung zunehmender Kontingenz bedeutet: die Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangennehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebens126
weit entläßt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können. Jeder wird mit einer Freiheit konfrontiert, die ihn auf sich stellt und von anderen isoliert, indem sie ihn zur zweckrationalen Wahrnehmung je eigener Interessen anhält; die ihn aber auch instandsetzt, neue soziale Bindungen einzugehen und neue Regeln des Zusammenlebens konstruktiv zu entwerfen. Soll ein solcher Liberalisierungsschub nicht sozialpathologisch entgleisen, also nicht in der Phase der Entdifferenzierung, in Entfremdung und Anomie steckenbleiben, muß sich eine Reorganisation der Lebenswelt in jenen Dimensionen des Selbstbewußtseins, der Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung vollziehen, die das normative Selbstverständnis der Moderne geprägt haben.47 Die unter Öffnungsdruck desintegrierte Lebenswelt muß sich erneut schliessen, nun freilich in erweiterten Horizonten. Dabei dehnen sich die Spielräume in allen drei Dimensionen aus Spielräume für eine reflexive Aneignung der identitätsstabilisierenden Überlieferungen, Spielräume der Autonomie für den Umgang miteinander und im Verhältnis zu den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, Spielräume schließlich für die individuelle Gestaltung des persönlichen Lebens. Mehr oder weniger gelungene Lernprozesse schlagen sich dabei in exemplarischen Lebensformen nieder. Viele Lebensformen verlöschen im Auf und Ab der Geschichte spurlos, andere behalten ihre Anziehungskraft im Gedächtnis der Nachgeborenen. In diesem Sinne exemplarisch sind die Lebensformen des europäischen Bürger47 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, Kap. XII 127
tums. Wie die »Stadtbürger« in den Kommunen des hohen Mittelalters und der Renaissance haben die »Bürgerlichen« in den liberal verf assten Nationalstaaten der jüngeren Neuzeit - neben ihren spezifischen Formen der Exklusion und Unterdrückung - auch Modelle von Selbstverwaltung und Partizipation, von Freiheit und Toleranz entwickelt, in denen sich der Geist bürgerlicher Emanzipation ausdrückt. Am Ende des 18. Jahrhunderts haben sich diese Emanzipationserfahrungen in den Ideen von Volkssouveränität und Menschenrechten artikuliert. Seit den Tagen der Französischen und Amerikanischen Revolution steht deshalb jede erneute »Schließung« eines politischen Gemeinwesens gewissermaßen unter dem Vorbehalt eines egalitären Universalismus, der von der Intuition der gleichberechtigten Einbeziehung des Anderen zehrt. Das zeigt sich heute an den Herausforderungen des »Multikulturalismus« und der »Individualisierung«. Beide nötigen uns dazu, die Symbiose des Verfassungsstaates mit der »Nation« als einer Herkunftsgemeinschaft aufzukündigen, damit sich auf abstrakterer Ebene die staatsbürgerliche Solidarität im Sinne eines differenzempfindlichen Universalismus erneuern kann. Die Globalisierung drängt gleichsam den Nationalstaat dazu, sich im Inneren für die Vielfalt fremder oder neuer kultureller Lebensweisen zu öffnen. Zugleich schränkt sie den Handlungsspielraum nationaler Regierungen in der Weise ein, daß sich der souveräne Staat auch nach außen, gegenüber internationalen Regimen öffnen muß. Wenn die erneute Schließung ohne sozialpathologische Nebenfolgen gelingen soll, darf sich eine Politik, die den globalisierten Märkten nachwächst, nur in institutionellen Formen vollziehen, die nicht hinter die Legitimitätsbedingungen demokratischer Selbstbestimmung zurückfallen. In dieser Hinsicht ist Die Grosse Transformation lehrreich. Unter diesem Titel hat Karl Polanyi 1944 eine Studie 128
veröffentlicht, die den Faschismus als Ausdruck eines mißlungenen Versuchs der politischen Schließung darstellt. Er wird als eine verzögerte Reaktion auf den Zusammenbruch eines Freihandelsregimes beschrieben, dem bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine feste Goldwährung zugrundegelegen hatte. Als Historiker will Polanyi zeigen, daß der von politischen Regulierungen weitgegend freigesetzte internationale Handel keineswegs aus der spontanen Entwicklung des Marktes selbst hervorgegangen ist. Im 19. Jahrhundert ist das Freihandelssystem vielmehr politisch, unter dem Schirm der Pax Britannica, eingerichtet worden. Als Anthropologe ist Polanyi zugleich davon überzeugt, daß ein solches dereguliertes Wirtschaftsregime auf Dauer »die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft« zerstören und zu Anomie führen mußte. Damals, am Ende des Zweiten Weltkrieges, machten andererseits die monströsen Folgen einer totalitären Schließung der ökonomisch gespaltenen Gesellschaft die Notwendigkeit deutlich, »die Produktionsfaktoren Boden, Arbeit, Geld dem Markt zu entziehen«.48 Die Zukunft eines institutionalisierten Kapitalismus, den Polanyi im letzten Kapitel unter dem Titel »Freiheit in einer komplexen Gesellschaft« entwarf, hat wesentliche Züge der ökonomischen Nachkriegsordnung vorweggenommen. Im Jahre der Veröffentlichung dieses Buches wurde das System von Bretton Woods begründet, in dessen Rahmen die meisten Industrieländer dann eine mehr oder weniger erfolgreiche wohlfahrtsstaatliche Politik betreiben konnten. Inzwischen ist auch dieses Arrangement einer gelungenen politischen Schließung mit der politisch durchgesetzten Deregulierung weltweiter Märkte beendet worden, und zwar mit einer Öffnung, die über die Finanzmärkte auch 48 K. Polanyi, The Great Transformation, Frankfurt/M. 1978, 333 129
die internationale Arbeitsteilung noch einmal verändert hat. Die Dynamik der neuen globalen Ökonomie erklärt das wiedererwachte Interesse an der von Polanyi untersuchten Dynamik der internationalen Ökonomie.49 Wenn nämlich jene »Doppelbewegung« - der Deregulierung des Welthandels im 19. und der Reregulierung im 20. Jahrhundert - als Modell dienen könnte, "würde uns erneut eine »Große Transformation« bevorstehen. Aus Polanyis Perspektive betrachtet, stellt sich jedenfalls die Frage nach Möglichkeiten der politischen Schließung einer global vernetzten, hoch interdependenten Weltgesellschaft ohne Regression - ohne die Art von welthistorischen Erschütterungen und Katastrophen, die wir aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts kennen und die Polanyi damals zu seiner Untersuchung angeregt haben. Allerdings darf eine erneute Schließung nicht aus der Defensive gegen eine vermeintlich »überwältigende« Modernisierung entworfen werden. Sonst schleicht sich der rückwärtsgewandte Blick von Modernisierungsverlierern ein, die, solange sie noch nicht verzweifeln, utopischen Bildern einer schlechthin »versöhnten« Lebensform nachhängen. Was diese romantischen, eigentümlich bewegenden Bilder zu »utopischen« Bildern im schlechten Sinne macht, sind die regressiven Züge einer nach vorne projizierten »Sittlichkeit«, die weder dem befreienden Potential der erzwungenen Öffnung einer in Auflösung begriffenen Gesellschaftsformation noch der Komplexität der neuen Verhältnisse gerecht wird. Nicht einmal Geister, die der Moderne so entschieden zugewandt waren wie Hegel und Marx, waren ganz frei davon. Hegel hat sich an entscheidender Stelle {Rechtsphilosophie §§24<jff.) für die Bestimmung der Sittlichkeit des vernünftigen Staates korporati-
stische Züge aus den berufsständisch stratifizierten Gesellschaften der frühen Neuzeit entliehen - die Korporation als »zweite Familie«. Und der junge, noch nicht ganz unsentimentale Marx hat die Idee einer freien Assoziation von Produzenten mit Erinnerungen an die nachbarschaftlichen und korporativen Vergemeinschaftungen einer bäuerlich-handwerklichen Welt besetzt, die soeben unter der hereinbrechenden Gewalt der Konkurrenzgesellschaft endgültig zerbrachen. Marx hat sich freilich alsbald gegen einen Frühsozialismus gewendet, der noch mit der Intention der »Aufhebung« von Solidargemeinschaften einer romantisierten Vergangenheit verbunden war. Unter den Arbeitsbedingungen der einsetzenden Industrialisierung sollten die sozialintegrativen Kräfte versinkender Traditionsbestände transformiert und gerettet werden. Der Sozialismus hat auch im Verlaufe der Arbeiterbewegung ein Janusgesicht behalten, das nicht weniger in eine idealisierte Vergangenheit zurückblickte als nach vorn in eine von der industriellen Arbeit beherrschte Zukunft.50 Ebensowenig wie die vor- und frühindustrielle Gesellschaft darf die sozialstaatlich befriedete Industriegesellschaft der Nachkriegszeit verklärt werden. Was Polanyi am Ende des Krieges als die Zukunft eines sozial gebändigten Kapitalismus erst vor Augen stand, wird heute im distanzierten Rückblick als »organisierte« oder »erste« Moderne beschrieben, auf die seit dem Ende der Nachkriegszeit eine »zweite« oder »liberal erweiterte« Moderne folgt. Auf diese Weise wird jede Nostalgie vermieden: »Mit Blick auf das Ausmaß und die Form der Organisation menschlicher Praktiken... kann man von einer relativen Schließung der Moderne sprechen... Die Errungenschaften der organi-
49 R. Cox in: Mc Grew (Hg.) (s. Fn 5), 53t.
50 J. Habermas, Was heißt Sozialismus heute?, in: ders.(s. Fn 31), 194t.
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sierten Moderne bestanden dann, die Entwurzelungen und Ungewißheiten des ausgehenden 19 Jahrhunderts in eine neue Kohärenz von Praktiken und Orientierungen zu überfuhren Nation, Klasse, Staat waren die wichtigsten konzeptionellen Bestandteile dieser Konstruktion, aus denen kollektive Identitäten geformt wurden« 51 Eingespielte neokor-poratistische Verhandlungssysteme, geregelte industrielle Beziehungen, sozialstrukturell verankerte Massenparteien, zuverlässig funktionierende Versicherungssysteme, Kleinfamilien mit herkömmlicher sexueller Arbeitsteilung, Normalarbeitsverhaltmsse mit standardisierten Erwerbsbiographien bildeten aus dieser Sicht den Hintergrund einer mehr oder weniger stabilen, durch Massenproduktion und Massenkonsum geprägten Gesellschaft 52 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Trends zur Entburokratisierung öffentlicher Dienste, zur Enthierarchisierung betrieblicher Organisationsformen, zur Enttraditionahsierung der Geschlechter- und Famihenbeziehungen, zur Entkonventionahsierung von Konsum und Lebensstilen in einem gunstigen Licht Die zunehmende Differenzierung von Verkehrsformen und Mentalitäten, die nachlassende Parteibindung von Wahlern und der neue Einfluß subpohtischer Bewegungen auf die organisierte Politik, vor allem die wachsende Autonomisierung und zugleich Individualisierung der eigenen Lebensgestaltung verleihen der allmählichen Auflosung der organisierten Moderne einen gewissen Charme 53 Jedoch haben diese positiv besetzten Stichworte auch eine Kehrseite In der »Flexibilisierung« 51 P Wagner, Soziologie der Moderne Frankfurt/M 1995,180 52 S U Beck(s Fn 16) sowie U Beck A Giddens, S Lash Reflexwe Mo dermsierung, Frankfurt/M 1996 53 U Beck, Gegengifte Die organisierte Unverantuorthchkeit trank furt/M 1988, ders (Hg ), Kinder der Freiheit, Frankfurt/M 1997 I32
der Arbeitsbiographien verbirgt sich eine Deregulierung des Arbeitsmarktes, die das Risiko der Arbeitslosigkeit erhöht, in der »Individualisierung« der Lebenslaufe verrat sich eine erzwungene Mobilität, die mit langfristigen Bindungen in Konflikt gerat, und in der »Plurahsierung« der Lebensformen spiegelt sich auch die Gefahr der Fragmentierung einer Gesellschaft, die ihren Zusammenhalt verliert 54 Bei aller Vorsicht gegenüber einem unkritischen Ruckgriff auf die Errungenschaften des Sozialstaates sollten wir vor den Kosten seiner »Transformation« oder Auflosung nicht die Augen verschließen Man kann für die normalisierende Gewalt von Sozialburokratien empfindlich bleiben, ohne vor dem skandalösen Preis, den eine rücksichtslose Monetansierung der Lebenswelt erfordern wurde, die Augen zu verschließen Es besteht kein Grund, die Öffnung der organisierten Moderne blauäugig zu feiern In der linearen Erzahlweise der postmodernen Theorien taucht eine erneute politische Schließung nicht mehr auf, weil sich aus dieser Sicht Politik, die Fähigkeit zu kollektiv bindenden Entscheidungen, im Sog des zerfallenden Nationalstaats als solche auflost Mit der nationalstaatlichen Organisationsform soll eine sozialstaatliche Politik, die angeblich auf eine bloße »Verwaltung des Sozialen« zusammengeschrumpft ist, ihre Basis verlieren Wenn sich »die Verantwortungen und Verpflichtungen der Individuen (nicht mehr) auf eine umgrenzte politische Ordnung beziehen lassen, ist die Möglichkeit von Politik selbst in Frage gestellt«55 Aus der Verflussi gung nationalstaathch organisierter Gesellschaften ergibt sich für den Postmodernismus ein »Ende der Politik«, auf das ja auch der Neoliberalismus, der soviel wie möglich den 54 W Heitmeyer (Hg ), Was treibt die Gesellschaft auseinander? furt/M 1997 55 Wagner (s F n 5 i ) , 261
Frank
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Steuerungsfunktionen des Marktes überlassen mochte, seine Hoffnung setzt 56 Was für die eine Seite mit dem Un tergang der klassischen Staatenwelt in einer anarchisch ver netzten Weltgesellschaft unmöglich wird - eine Politik im Weltmaßstab -, erscheint der anderen Seite als unerwünscht - ein politischer Rahmen für die deregulierte Weltwirtschaft Aus verschiedenen Gründen kommen Postmodernismus und Neoliberalismus in der Vision uberein, daß sich die Lebenswelten von Individuen und kleinen Gruppen wie Monaden über weltweit ausgespannte und funktional koordinierte Netzwerke verstreuen, statt sich auf Pfaden sozialer Integration in vielschichtigeren und größeren politischen Einheiten zu überlappen Wie gegenüber den regressiven Utopien der Schließung empfiehlt sich Zurückhaltung auch gegenüber solchen, sich progressiv gebenden Projektionen der Öffnung Notig ist vielmehr eine Empfindlichkeit für jene eigentümliche Balance zwischen Öffnung und Schließung, die die glücklicheren Stationen in der Geschichte der europaischen Modernisierung ausgezeichnet hat Wir werden den Herausforderungen der Globalisierung nur auf vernunftige Weise begegnen können, wenn es gelingt, in der postnationalen Konstellation neue Formen einer demokratischen Selbststeuerung der Gesellschaft zu entwickeln Deshalb mochte ich die Bedingungen für eine demokratische Politik jenseits des Nationalstaates zunächst am Beispiel der Europaischen Union prüfen Dabei interessieren mich nicht die Motive für oder gegen den weiteren Ausbau der Politischen Union, sondern die Stichhaltigkeit der Grunde, die sowohl die Sympathisanten als auch die Skeptiker ins Feld fuhren können, und zwar Grunde für und wider das Wagnis einer postnationalen Demokratie Es gibt andere 56 J M Guehenno, Das Ende der Demokratie, München und Zürich 1994
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Grunde für die europaische Einigung, die die Frage der Entkoppelung der Demokratie von den Formen der nationalstaatlichen Implementierung gar nicht berühren Für viele von uns spielt der historische Grund eine Rolle, daß eine Wahrungsunion die von Schuman, Adenauer und de Gaspen eingeleitete Politik der Versöhnung - und die Einbindung Deutschlands in die europaische Gemeinschaft unumkehrbar macht Im folgenden geht es aber allein um Grunde für und gegen die Europaische Union als die erste Gestalt einer postnationalen Demokratie 57
IV Nach dem Grad der Zustimmung zur postnationalen Demokratie mochte ich vier Positionen unterscheiden Euroskeptiker, Markteuropaer, Eurofoderahsten und Anhanger einer »global governance« Die Euroskeptiker halten die Einfuhrung des Euro entweder grundsatzlich für falsch oder mindestens für verfrüht Die Markteuropaer begrüßen die einheitliche Wahrung als notwendige Konsequenz der Vollendung des Binnenmarktes, wollen es aber dabei bewenden lassen Die Eurofoderahsten streben eine Umwandlung der internationalen Vertrage in eine politische Verfassung an, um den supranationalen Entscheidungen von Kommission, Ministerrat, Europaischem Gerichtshof und Parlament eine eigene Legitimationsgrundlage zu verschaffen Davon unterscheiden sich noch einmal die Vertreter einer kosmopolitischen Position, die einen Bundesstaat Europa als Ausgangsbasis für die Einrichtung eines 5 7 E Grande, Postnationale Demokratie -Ein Ausweg aus der Globahsie rungsfalle? W Fricke, E Fncke (Hg ), Jahrbuch für Arbeit und Tech nik, Bonn 1997, 353-367 135
auf internationalen Vertragen beruhenden Regimes einer künftigen »Weltinnenpolitik« betrachten Diese Positionen ergeben sich in der Konsequenz von Stellungnahmen zu vorgeordneten Fragen Ich will vier dieser für die Weichenstellung in der Hauptsache entscheidenden Vorfragen behandeln Zunächst (a) geht um die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft Wenn die Erwerbsarbeit im Rahmen normaler Beschaftigungsverhaltnisse ihre strukturbildende Kraft für die Gesamtgesellschaft einbüßt, genügt als politisches Ziel die Wiederherstellung der »Vollbeschaftigungsgesellschaft« nicht mehr Weiterreichende Reformen sind aber in den Grenzen eines einzigen Landes kaum noch zu realisieren Sie verlangen eine Koordinierung durch Absprachen und Verfahren auf supranationaler Ebene Mit der europaischen Einigung geht (b) der alte Streit um soziale Gerechtigkeit und Markteffizienz in eine neue Runde Die Neohberalen sind davon überzeugt, daß erst recht die im globalen Maßstab eingerichteten Markte, indem sie effizientes Wirtschaften ermöglichen, zugleich Desiderate der Verteilungsgerechtigkeit erfüllen Sonst wurde die Option der Markteuropaer für eine lockere Union der fortbestehenden Nationalstaaten, die allein horizontal über den einheitlichen Markt integriert sind, ihre Plausibihtat verlieren Drittens (c) geht es um die Frage, ob die Europaische Union den Verlust an nationalstaatlichen Kompetenzen überhaupt wettmachen kann Als Testfall betrachte ich die Dimension einer umverteilungswirksamen Sozialpolitik Diese Frage der Handlungsfähigkeit hangt mit der weiteren, allerdings analytisch klar zu unterscheidenden Frage zusammen (d), ob politische Gemeinschaften eine kollektive Identität jenseits der Grenzen einer Nation ausbilden und damit Legitimi tatsbedingungen für eine postnationale Demokratie erful len können Wenn diese beiden Fragen keine affirmative 136
Antwort finden, ist ein europaischer Bundesstaat nicht möglich Damit wurde auch die Basis für weiterreichende Aspirationen entfallen Die Stichworte, die ich zu diesen Themen anbiete, können bestenfalls eine unübersichtliche Diskussionslage charakterisieren und die Verteilung der Beweislasten feststellen Erst im Anschluß daran konnte sich eine »kosmopolitische« Position beurteilen lassen, die eine erneute politische Schließung der ökonomisch entfesselten Weltgesellschaft ins Auge faßt a) Der in allen industriellen Gesellschaften beobachtete Trend zur Steigerung der Arbeitsproduktivität hat sich in postindustriellen Gesellschaften fortgesetzt Die fortschreitende Rationalisierung ist regelmäßig von einer säkularen Verschiebung der Arbeitsbevolkerung aus dem primären in den sekundären und tertiären Sektor, schließlich in den quartaren Sektor einer Wissens- und Informationsgesellschaft begleitet worden Die wiederholt gemachten Prognosen, daß daraus eine »technologische Arbeitslosigkeit« resultieren müsse, haben sich in früheren Phasen nicht bestätigt Bei allem Auf und Ab sind, bis weit in die siebziger Jahre hinein, Arbeitsplatzverluste durch die Kombination von Arbeitszeitverkurzungen mit dem Entstehen neuer Arbeitsplatze kompensiert worden Seitdem beobachten wir allerdings in den meisten OECD-Landern eine Entkopppelung des wirtschaftlichen Wachstums vom Beschaftigungsstand Die 18 Millionen Arbeitslosen der offiziellen EU-Statistik sind das Ergebnis einer Entwicklung, die nach jedem konjunkturellen Aufschwung einen höheren Sockel von Arbeitslosen zurückgelassen hat Andere Lander wie die USA oder Großbritannien haben über die Öffnung eines Niedriglohnsektors die Nachfrage nach einfachen Dienstleistungen starker ausgeschöpft Aber dafür hat auch die von der Gesellschaft auf die Individuen ab137
gewalzte Dynamik der Verarmung und Marginahsierung ein höheres Maß an staatlicher Repression zur Folge, vor allem unterminiert sie die öffentlichen Standards gesellschaftlicher Solidarität Für die Phänomene wachsender sozialer Ungleichheit werden verschiedene Ursachen genannt, vor allem das Ende des Keynesianismus und ein verschärfter globaler Wettbewerb, der Rationahsierungsinvestitionen beschleunigt Paul Kennedy hat die Größenordnung der Arbeitskraftreserven berechnet, die wahrend der kommenden Jahrzehnte in Asien, Lateinamenka und anderen Landern durch das beweglicher gewordene Investitionskapital erschlossen werden konnten Andere Ursachen können freilich mit der Globalisierung nicht umstandslos in Verbindung gebracht werden In den meisten OECD Gesellschaften ist das Arbeitskrafteangebot mit der steigenden Erwerbsneigung von Frauen, auch mit der zunehmenden Immigration von Gastarbeitern, Armutsfluchtlingen usw absolut gestiegen Weil hier existentielle Bedurfnisse ins Spiel kommen, reguliert sich auf Arbeitsmarkten das überschüssige Angebot nicht nach den für Gutermarkte üblichen Mechanismen der Mengenanpassung Auch das gehört zum besonderen Charakter der »Ware Arbeitskraft« Außerdem spielen lokale Umstände und wirtschaftspohtische Versäumnisse eine Rolle z B eine unflexible öffentliche Verwaltung, die unzurei chende Qualifizierung von Arbeitskräften oder verzögerte Strukturanpassungen Auch die Phantasielosigkeit des Managements, betriebliche Organisationsmangel, fehlende In novationen auf dem Gebiet von Forschung und Entwick lung oder eine unzureichende Ruckkoppelung von Industrie und Wissenschaft können die Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Standorts mit beschaftigungsrelevanten Folgen beeinträchtigen Die Einschätzung der These vom »Ende der Vollbe138
schaftigungsgesellschaft« (Vobruba) hangt offensichtlich davon ab, wie man alle diese Ursachen gewichtet Die Gewichtung variiert nicht ohne weiteres mit linken oder rechten Optionen Wahrend die »Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen« unter dem Vorsitz von Meinhard Miegel davon ausgeht, daß wir in der Bundesrepublik mit einer hohen Dauerarbeitslosigkeit rechnen müssen, kommt die »Zukunftskommission der Friedrich Ebert-Stiftung« zu dem Schluß, daß die Erwerbsarbeit nach wie vor die »Schlusselgroße der gesellschaftlichen Integration« ist, auch wenn sich deren Cha rakter »einschließlich der lebenslang stabilen Berufsbilder« verandern wird 58 Eine erwartete Kontinuität arbeitsgesell schaftlicher Strukturen entlastet die Politik von der Auf gäbe eines radikalen Umbaus des Verteilungssystems Unter Umstanden genügt es sogar, wenn der Staat im nationalen Rahmen aktiv wird, um die Rahmenbedingungen der Kapitalverwertung zu verbessern Die Situation stellt sich anders dar, wenn man das politische Ziel der Vollbeschäftigung aufgibt Unter dieser Prämisse kann man entweder versuchen, die geltenden Standards der Verteilungsgerechtigkeit zu senken, um einen als »Fehlentwicklung« betrachteten Sozialstaat mehr oder weniger zu liquidieren Oder man kann Alternativen anpeilen, die keineswegs kostenlos sind z B eine radikale Umverteilung des geschrumpften Volumens an Erwerbs arbeit59 oder die Beteiligung breiter Schichten am Kapital eigentum60 oder die Entkoppelung eines staatlichen, ober halb des Sozialhilfeniveaus liegenden Grundeinkommens 58 Zukunftskommission der Friedrich Ebert Stiftung (s Fni7), 22jff 59 G Grozinger, Drei wirtschaftspohtische Ziele drei semi autonome In stitutionen, in Wirtschaftswissenschaftliche Diskusswnsheitrage, Nr 8, Flensburg 1998 60 Scharpf(s Fn42), 247ff
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vom Erwerbseinkommen 61 Radikale Umverteilungen dieser Art stoßen nicht nur auf den Widerstand der bestehenden Interessen, Wertonentierungen und Eigentumsverhältnisse, sie durften sich auch kaum kosten- oder wettbewerbsneutral, also innerhalb eines nationalen Rahmens, durchfuhren lassen Wahrend der siebziger Jahre sind Diskussionen über Grundeinkommen und Dualwirtschaft noch unter der Prämisse gefuhrt worden, daß der Nationalstaat den gesellschaftlichen Umbau in eigener Regie vornehmen könne Nach der Veränderung der globalen Rahmenbedingungen ist aber klar, daß innovative Antworten auf das »Ende der Arbeitsgesellschaft« ein koordiniertes Vorgehen auf supranationaler Ebene notig machen (b) Die erwähnte neoliberale Alternative berührt die alte Kontroverse über das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Markteffizienz Zur Klarung dieses ehrwürdigen Dogmenstreits werde ich kaum Neues beitragen können Man muß damit rechnen, daß ein weitgehend dereguherter Arbeitsmarkt und die Privatisierung der Vorsorge für Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit im Bereich niederer Einkommen und unsicherer Beschaftigungsverhaltmsse armselige Milieus am Rande des Existenzminimums entstehen laßt Selbst wenn sich dann die Mehrheit der Zufriedenen und Nicht-ganz-so-Zufnedenen damit 61 Was G Vobruba (Ende der Vollbeschaftigungsgesellschaft, in Zeitschrift f Sozialreform, 44, 1998, 77<)'))S 88 zur Idee des Shareholder Socialism sagt, laßt sich sinngemäß auch auf andere Plane zur - ausglei chenden - Kombination mehrerer Einkommensquellen beziehen »Alle diese Ansätze laufen darauf hinaus, die bisherige personelle Zuordnung von Bevolkerungsgruppen zu den gesellschaftlichen Einkommensquel len und Interessenpositionen aufzulösen Einfacher gesagt Wenn der Kapitalismus gesiegt hat, dann muß man eben alle zu (Teil)kapitahsten machen, um sie an den Fruchten dieses Sieges zu beteiligen Wenn ab hangige Erwerbstatigkeit als Einkommensquelle nicht mehr ausreicht, muß sie durch Kapitaleinkommen ergänzt werden < 140
abfinden wurde, den - auch vom politischen Prozeß seg mentierten - Rest einer hoffnungslos »überschüssigen« Bevölkerung einem repressiven Staat als Problem der inneren Sicherheit und der Armenfursorge zu überantworten, bliebe die erzwungene Desohdansierung ein Stachel im Fleisch der politischen Kultur 62 Eine funktionale Rechtfertigung reicht nicht aus, um extrem gespreizte soziale Unterschiede in einer demokratisch verfassten Burgergesellschaft normativ akzeptabel zu machen Als normative Theorie übernimmt daher der Neoliberalismus die Beweislast für die starke Aussage, daß effiziente Markte nicht nur ein optimales Verhältnis von Aufwand und Ertrag, sondern eine sozial gerechte Verteilung garantieren Damit stellen sich zwei Fragen Welche normativen Erwartungen sind es, die effiziente Markte erfüllen sollen5 Und wie wahrscheinlich funktionieren Markte so effizient, daß sich wenigstens in diesem, wie sich zeigen wird, ermassigten Sinne von sozialer Gerechtigkeit eine normativ akzeptable Verteilung erwarten laßt-1 Der Neoliberalismus legt seiner normativen Grundannahme einen am prozeduralen Modell des Vertragsrechts gewonnenen Begriff von Tauschgerechtigkeit zugrunde Bei einer Tauschoperation stehen Ertrag, Erwerb oder Gewinn - also das, was jemand bekommt - in einem »äquivalenten« Verhältnis zu dem, was er einbringt, d h zu Aufwand, Angebot oder Einlage genau dann, wenn die Ver-einbarung, also die Einwilligung beider Seiten, unter gewissen Standardbedingungen zustandekommt die Betei ligten müssen die gleiche Freiheit haben, nach je eigenen Präferenzen zu entscheiden Ein Markt, der (zusammen mit dem Geldmedium) über gleiche private Freiheitsrechte, insbesondere Vertragsfreiheit und Eigentumsrechte, msti62 Agnew und Corbridge (s Pni2), 20if 141
nationalisiert wird, sichert ein Verfahren für den Tausch von Äquivalenten, das in diesem Sinne »gerecht« ist, wenn und soweit es tatsächlich einen - im streng normativen Sinne der gleichen privaten Freiheit aller - »freien« Wettbewerb ermöglicht Dabei gilt die leistungsgerechte Entloh nung als spezieller Fall dieser, an die Voraussetzung rezi prok unterstellter Willkurfreiheit gebundenen Tausch gerechtigkeit Dieser Begriff von Freiheit ist mit einem normativ ermäßigten Personenkonzept verknüpft Der Begriff des »rationalen Entscheiders« ist unabhängig sowohl vom Begriff einer moralischen Person, die ihren Willen durch Einsicht in das, was im gleichmassigen Interesse aller Betroffenen hegt, binden kann, als auch vom Begriff des Burgers einer Republik, der sich gleichberechtigt an der öffentlichen Praxis der Selbstgesetzgebung beteiligt Die neoliberale Theorie rechnet mit Privatrechtssubjekten, die in den Grenzen gesetzlicher Handlungsspielraume nach eigenen Präferenzen und Wertorientierungen »tun und lassen, was sie wollen« Sie brauchen sich wechselseitig nicht füreinander zu interessieren, sind also nicht mit einem moralischen Sinn für soziale Verpflichtungen ausgestattet Die rechtlich geforderte Beachtung der Pnvatfreiheiten, die allen Wettbewerbsteilnehmern gleichermaßen zustehen, ist etwas anderes als der gleichmäßige Respekt vor der menschlichen Wurde eines jeden Mit einer »Privatrechtsgesellschaft« rechnet der Neoliberalismus auch in der Hinsicht, daß sich der Gebrauchswert der Burgerfreiheiten im Genuß privater Autonomie erschöpft Der Staatsapparat hat den Instrumentellen Sinn, kollektiv bindende Entscheidungen nach Maßgabe der aggregierten Präferenzen der Gesellschaftsburger zu treffen Zwar dient der demokratische Prozeß dem Schutz gleicher privater Freiheiten, fugt diesen aber keine weitere Dimen142
sion der Freiheit - politische Autonomie - hinzu Der Neoliberalismus ist nicht empfänglich für die republikanische Idee der Selbstgesetzgebung, wonach sich private und staatsbürgerliche Autonomie wechselseitig voraussetzen Er sperrt sich gegen die Intuition, daß die Burger erst dann frei sind, wenn sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können Diese doppelte normative Verkürzung, die der Neoliberalismus mit der Wahl seiner Grundbegriffe vornimmt, mag eine gewisse Unbekummertheit in Fragen der sozialen Gerechtigkeit erklaren - jene zwischen Toleranz, Gleichgültigkeit und Zynismus schwankende Einstellung, die sich in Deutschland oft mit einer pessimistischen Anthropologie ganz anderer Herkunft verbündet Selbst diese reduzierten normativen Erwartungen können Markte freilich nur erfüllen, wenn sie gemäß der Modellannahmen tatsächlich »effizient« arbeiten Auf die bekannten Einwände brauche ich hier nicht in extenso einzugehen 63 Markte werden zu Recht dafür gepriesen, daß sie die effiziente und sparsame Übertragung von Informationen mit dem Anreiz zur zweckmassigen Informationsverarbeitung verbinden Aber diese Funktion ist grundsätzlich durch die Unempfindlichkeit gegenüber externen Kosten eingeschränkt, Markte sind für Informationen in einer Sprache, die nicht die der Preise ist, taub Im übrigen erfüllen reale Markte die Funktion der Preisbildung nur sehr unvollkommen, weil sie den idealen Forderungen des freien Wettbewerbs normalerweise nicht genügen Schließlich schei tert die egalisierende Kraft des Marktes, der die Leistungen aller Teilnehmer einem unparteilichen Maßstab unterwerfen soll, an dem evidenten Umstand, daß Personen, wie wir sie kennen, keineswegs die gleichen Chancen haben, an 63 Ebd , 222ff '43
Märkten teilzunehmen und Gewinne zu erzielen. Reale Märkte reproduzieren - und steigern - ex ante bestehende komparative Vorteile von Unternehmen, Haushalten und Personen. (c) Aus der neoliberalen Option für die Wünschbarkeit deregulierter Märkte ergibt sich eine Präferenz für den einheitlichen europäischen Markt und die gemeinsame Geldpolitik einer unabhängigen Zentralbank. Die sozialdemokratische Option für eine staatliche Regulierung, die den Rahmen für effiziente Märkte schaffen und die Lücke zwischen sozialer Gerechtigkeit und Markteffizienz schließen soll, verbindet sich hingegen häufig mit einer euroskeptischen Einstellung. Das entscheidet sich an der Frage, ob die Europäische Union überhaupt in der Lage sein wird, wesentliche Aufgaben des Nationalstaates zu übernehmen. Dem entspricht spiegelbildlich die Frage, über welchen politischen Handlungsspielraum nationale Regierungen immer noch verfügen. Die Euroskeptiker gehen davon aus, daß sich in den Nationalstaaten verschiedene Konfigurationen von nichtwirtschaftlichen Praktiken, Institutionen und Mentalitäten herausgebildet haben, die jedem Wirtschaftsstandort ein besonderes Profil verleihen und dessen Erfolgsaussichten im globalen Wettbewerb weitgehend bestimmen. Diese Annahme stützt sich auf eine Forschungsrichtung, die die institutionelle Einbettung nationaler Produktionssysteme untersucht, um die Abstraktionen der neoklassischen Ökonomie rückgängig zu machen.M Offensichtlich gibt es in einer gegebenen Marktkonstellation nicht nur den »einzig richtigen« Weg zur kostengünstigsten Kombination von Arbeitskräften, Kapital und Rohstoffen: »Social Systems of
production vary not only in the ways firms approach profits, but also in the degree to which they attempt to maximize (a) criteria of allocative efficiency or X-efficiency considerations, (b) social peace and egalitarian distribution considerations, (c) quantity vs. quality aspects of production, and (d) innovation in developing new products versus innovation in improving upon existing products.«65 Aus dieser Sicht hat beispielsweise die Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung für den Wirtschaftsstandort Deutschland ein Profil erarbeitet, das (anstelle der neoliberalen Kostensenkungsstrategie) die staatliche Förderung Standort-spezifischer Vorzüge nahelegt.66 Der eindrucksvolle Katalog für Ansatzpunkte zu einer nationalen Reformpolitik (Verbesserung der Innovationsfähigkeit, Entwicklung der Humanressourcen, Verwaltungsmodernisierung, ein Niedriglohnsektor, der durch negative Einkommenssteuern erträglich gemacht wird, usw.) berührt freilich nicht die Tatsache, daß die erwähnten Globalisierungsprozesse beides, die Steuerressourcen wie die Spielräume für eine aktive Wachstums- und Beschäftigungspolitik, beschneiden und damit die Sozialpolitik in Bedrängnis bringen. Deshalb können sich die Euroskeptiker nicht damit begnügen, die verblichenen Tugenden des Nationalstaates herauszustreichen. Sie drehen den Spieß um und fragen, ob denn die Europäische Union überhaupt die politische Handlungsfähigkeit gewinnen kann, die die Nationalstaaten nach der euroföderalistischen Lesart eingebüßt haben. Unstrittig ist das dichte Netz von Regelungen, mit dem die Europäische Kommission, der Ministerrat und, in nicht unbeträchtlichem Maße, der Europäische Gerichtshof inzwischen die
64 J. R. Holhngsworth, R. Boyer, Contemporary Capitalism, Cambridge 1997, 1-48
65 Ebd., 37 66 Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (s. Fn 17), 76ff.
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Gesellschaften der Mitgliedstaaten überziehen. Denn die europäische Politik, die von Anbeginn das Ziel verfolgt, die freie Mobilität von Gütern und Dienstleistungen, Kapital und Personen zu fördern, greift tief in viele Pohtikfelder ein.67 Das gilt sogar für die Sozialpolitik. Die EU hat beispielsweise im Hinblick auf die Gleichstellung der Frauen wichtige Sozialgesetze erlassen, während der Europäische Gerichtshof mehr als dreihundert sozialrechtlich relevante Entscheidungen gefällt hat, um die nationalen Wohlfahrtsregime mit dem gemeinsamen Binnenmarkt kompatibel zu machen. Diese Anpassungen berühren jedoch nicht den Modus der Besteuerung, Finanzierung und Verteilung, den die nach Konstruktion und Leistungsniveau erheblich voneinander abweichenden sozialpolitischen Regime der Mitgliedsländer auf ganz verschiedene Weise festlegen. Wenn nun die Mitgliedstaaten infolge der Währungsunion und auf der Grundlage einer einheitlichen europäischen Geldpolitik weitere makroökonomische Steuerungsmöglichkeiten verlieren, während sich der innereuropäische Wettbewerb nochmals verstärkt, sind Probleme einer neuen Größenordnung zu erwarten. Länder mit hohen sozialen Standards fürchten die Gefahr einer Angleichung nach unten; Länder mit einem vergleichsweise schwachen Sozialschutz fürchten, durch die Einführung höherer Standards ihrer Kostenvorteile beraubt zu werden. Europa wird vor der Alternative stehen, entweder den Problemdruck über den Markt - als Wettbewerb zwischen sozialpolitischen Regimen, die in nationaler Zuständigkeit bleiben - abzuwickeln oder dem Problemdruck politisch zu begegnen mit dem Versuch, in wichtigen Fragen 67 F. W. Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Frankfurt/M. 1994 146
der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik zu einer »Harmonisierung« zu gelangen. Ich brauche den Streit der Experten nicht im Einzelnen zu rekapitulieren.68 Im Kern geht es darum, ob die europäischen Institutionen bloß in der Lage sind, nationale Interessen auf dem Wege einer negativen Integration so aufeinander abzustimmen, daß neue Märkte entstehen; oder ob sie auch die Kraft haben, im Sinne einer positiven Integration marktkorrigierende Entscheidungen zu treffen und Regelungen mit redistributiver Wirkung durchzusetzen. Denn neben der Geldwertstabilität sind Beschäftigungsstand und kontinuierliches Wirtschaftswachstum gleichrangige und konkurrierende wirtschaftspolitische Ziele, die erforderlichenfalls in Konkurrenz zur unabhängigen Zentralbank verfolgt werden müssen.69 Die skeptische Seite stützt sich auf die historische Evidenz des zweimal gescheiterten Versuchs, die europäische Politik um eine soziale Dimension zu erweitern und die europäische Gemeinschaft über die sozialpolitische Route zu einem Bundesstaat zu entwickeln.70 Wolfgang Streeck verfolgt die Koalitionen und Strategien, die solche ehrgeizigen Harmonisierungsversuche alsbald auf das marktkonforme Ziel der Beseitigung von Mobilitätshindernissen zwischen nationalen Arbeitsmärkten reduziert haben. Demgegenüber betont die andere Seite das Eigeninteresse, den Handlungsspielraum und die relative Unabhängigkeit der europäischen Behörden gegenüber den nationalen Regierungen, die Pfadabhängigkeit der Politiken von den einmal eingegangenen Festlegungen sowie den Eigensinn der rege68 St. Leibfried, P. Pierson (Hg.), Standort Europa. Europaische Sozialpolitik, Frankfurt/M. 1998 69 Grozinger (s. Fn 59) 70 W. Streeck, Vom Binnenmarkt zum Bundesstaat* Überlegungen zur Politischen Ökonomie der Europaischen Sozialpolitik, in: Leibfried, Pierson (Hg.) (s. Fn68), 377ff. 147
lungsbedürftigen und immer dichter vernetzten Probleme selbst.71 Die Eurooptimisten können zudem darauf hinweisen, daß die Europäische Union in anderen Bereichen, wenn auch in bescheidenem Umfang, längst eine aktive Umverteilungspolitik betreibt - eine Umverteilung zwischen Sektoren durch die gemeinsame Agrarpolitik sowie eine Umverteilung zwischen Regionen durch die Verwendung der Strukturfonds. Die Diskussion scheint darauf hinauszulaufen, daß keine Seite recht behält - weder die Neorealisten, die allein dem Nationalstaat die Kraft zu einer »gestaltenden« Politik zutrauen, noch die Neofunktionalisten, die eine gewissermaßen »automatische« Entwicklung vom Binnenmarkt zum Bundesstaat erwarten: »Die Zukunft der europäischen Sozialpolitik hängt nicht davon ab, ob ein europäischer Binnenmarkt Institutionalisierung braucht... , sondern ob Europa als politisches System die notwendigen politischen Ressourcen aufbringen kann, um mächtigen Teilnehmern am Markt umverteilende Pflichten aufzuerlegen.« 72 Die Währungsunion ist der letzte Schritt auf einem Weg, der zwar von den Initiatoren des Projekts mit weiterreichenden Hoffnungen begonnen worden ist, der sich aber aus der Retrospektive nüchtern als »intergouvernementale Marktherstellung« beschreiben läßt. Heute ist der Punkt erreicht, wo eine dichte horizontale Vernetzung über den Markt durch eine relativ schwache politische Regulierung durch noch viel schwächer legitimierte Behörden ergänzt wird. Die europäische Einigungsdynamik kann über diesen Punkt nur hinausführen, wenn die Euroföderalisten gegenüber diesem von den Markteuropäern 71 P. Pierson, St. Leibfried, 7.ur Dynamik sozialpolitischer Integration: Der Wohlfahrtsstaat in der europaischen Mehrehenenpolitik, in: Leibfried und Pierson (Hg.) (s. Fn68), 425 ff. 72 Streeck (s. Fn 70), 391 148
gewollten Status quo ein Zukunftsbild von Europa entwerfen, das die Phantasie beflügelt und zu einem breitenwirksam dramatisierten öffentlichen Streit über das gemeinsame Thema in den verschiedenen nationalen Arenen anregt. (d) Die politische Alternative zu einem im neoliberalen Format eingefrorenen Markteuropa kann gegen die erwartbaren ökonomischen Einwände mit dem Argument verteidigt werden, daß der europäische Wirtschaftsraum aufgrund seiner dichten regionalen Verflechtung von Handel und Direktinvestitionen als ganzer noch eine vergleichsweise große Unabhängigkeit vom globalen Wettbewerb genießt. Aber selbst wenn der ökonomische Spielraum für ein politikfähiges, d.h. auch wirtschaftspolitisch handlungsfähiges Europa gegeben ist, hängt der Ausbau der Europäischen Union zum Bundesstaat von einer weiteren Bedingung ab: »Eine Stärkung der Regierungsfähigkeit europäischer Institutionen ist nicht ohne Ausweitung ihrer förmlichen demokratischen Legitimitätsgrundlage denkbar.«73 Wenn Europa über eine integrierte Mehrebenenpolitik handlungsfähig werden soll, müssen die vorerst nur durch ihren gemeinsamen Paß gekennzeichneten EuropaBürger lernen, sich über die nationalen Grenzen hinweg gegenseitig als Angehörige desselben politischen Gemeinwesens anzuerkennen: »weder der Absicht noch dem Ergebnis nach« dürfen sie »von Angehörigen anderer europäischer Nationen >unzumutbare< Schädigungen >unserer< Interessen beargwöhnen«.74 Das Schema der Verfassung eines nationalen Bundesstaates, z. B. der Bundesrepublik Deutschland, läßt sich gewiß nicht ohne weiteres auf einen föderalistisch verfaßten 73 C. Offe, Demokratie und Wohlfahrtsstaat (Ms. 1998), 27 74 Ebd., 22
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Nationalitätenstaat vom Ausmaß der Europaischen Union übertragen 75 Es ist weder möglich noch wünschenswert, die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten einzuebenen und zu einer »Nation Europa« zu verschmelzen. Auch in einem europaischen Bundesstaat wurde, um es auf einen Punkt zu bringen, die zweite Kammer der Regierungsvertreter eine stärkere Stellung behalten als das unmittelbar gewählte Parlament der Volksvertreter, weil die heute allein bestimmenden Elemente der Verhandlung und multilateralen Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten auch in einer politisch verfaßten Union nicht spurlos verschwinden können Aber positiv koordinierte und umverteilungswirksame Politiken müssen von einer europaweiten demokratischen Willensbildung getragen werden, und diese kann es ohne eine solidarische Grundlage nicht geben. Die bislang auf den Nationalstaat beschrankte staatsbürgerliche Solidarität muß sich auf die Burger der Union derart ausdehnen, daß beispielsweise Schweden und Portugiesen bereit sind, füreinander einzustehen. Erst dann können ihnen annähernd gleiche Mindestlohne, überhaupt gleiche Bedingungen für individuelle und nach wie vor national geprägte Lebensentwurfe zugemutet werden. Die nächsten Schritte auf eine europaische Föderation zu sind mit außerordentlichen Risiken verbunden, weil eins ins andere greifen muß: die Erweiterung der politischen Handlungsfähigkeit muß gleichzeitig mit einer Erweiterung der Legitimationsgrundlage der europaischen Institutionen voranschreiten. Einerseits kann der sozialpolitische Schaden eines De75 E Grande, Demokratische Legitimation und europaische Integration, in Leviathan, 1996, 339-360 R Schmalz Bruns, Burgergesellschafthche Politik — ein Modell der Demokratisierung der Europaischen Union, in K D Wolf (Hg), Projekt Europa im Übergang?, Baden-Baden 1997,63 90 150
reguherungswettbewerbs zwischen den nationalen »Standorten« unter der scheinbar unpolitischen Aufsicht einer Zentralbank nur vermieden werden, wenn die gemeinsame europaische Geldpohtik ergänzt wird durch eine gemeinsame Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, die stark genug ist, um nationalen Alleingangen mit negativer Drittwirkung vorzubeugen. Das macht die Übertragung weiterer Souveramtatsrechte auf eine europaische Regierung notig, wobei die Nationalstaaten im wesentlichen diejenigen Regelungskompetenzen behalten wurden, von denen keine Nebeneffekte für die »inneren« Angelegenheiten anderer Mitgliedstaaten zu erwarten sind. Die Europaische Union muß, mit anderen Worten, von der bisherigen Grundlage internationaler Vertrage auf eine »Charta« in der Art eines Grundgesetzes umgestellt werden Andererseits ist dieser Übergang von intergouvernementalen Vereinbarungen zu einem verfaßten politischen Gemeinwesen nicht nur auf ein gemeinsames, über national definierte Wahlrechte und national segmentierte Öffentlichkeiten hinausgreifendes Verfahren demokratischer Legitimation angewiesen, sondern auf eine gemeinsame Praxis der Meinungs- und Willensbildung, die sich aus den Wurzeln einer europaischen Burgergesellschaft speist und in einer europaweiten Arena entfaltet. Diese Legitimitatsbedingung für eine postnationale Demokratie ist heute offensichtlich noch nicht erfüllt Europaskeptiker bezweifeln, daß sie überhaupt erfüllt werden kann. Das Argument, daß es kein europaisches Volk gibt und mithin auch keine verfassungsgebende Gewalt existiert,76 gewinnt allerdings erst durch eine bestimmte Verwendung des Begriffes »Volk« den Charakter eines grundsatzlichen 76 D Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? (Carl Friedrich von Sie mens Stiftung), München 1995
Einwandes.77 Die Prognose, daß es so etwas wie ein europäisches Volk nicht geben wird, wäre nur dann plausibel, wenn die solidaritätsstiftende Kraft des »Volkes« tatsächlich von der vorpolitischen Vertrauensbasis einer »gewachsenen« Gemeinschaft abhinge, die Volksgenossen mit ihrem Sozialisationsschicksal gleichsam ererben. Selbst Claus Offe stützt seine skeptische Überlegung auf die Prämisse, daß die Bereitschaft der Bürger, sich auf die Risiken eines umverteilenden Sozialstaats einzulassen, ohne diese askriptive Art von Solidarität mit einem »von uns« nicht zu erklären sei. Nur die Zugehörigkeit zur vorpolitischen Schicksalsgemeinschaft einer Nation habe die Bindungswirkung und erzeuge den Vertrauensvorschuß, die verständlich machen, warum selbstinteressierte Bürger eigene Präferenzen hinter den Zumutungen einer »Pflichten auferlegenden« staatlichen Autorität zurückstellen. Aber ist das erklärungsbedürftige Phänomen so richtig beschrieben? Es besteht eine bemerkenswerte Dissonanz zwischen den etwas archaischen Zügen des »Verpflichtungspotentials« aufopferungswilliger Schicksalsgenossen und dem normativen Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates als einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen. Die Beispiele der Wehrpflicht, der Steuerpflicht und der Schulpflicht suggerieren ein Bild vom demokratischen Staat als einer primär verpflichtenden Autorität, die den Herrschaftsunterworfenen Opfer auferlegt. Das Bild paßt schlecht zu einer Aufklärungskultur, deren normativer Kern darin besteht, die Moral des öffentlich zugemuteten sacrificium abzuschaffen. Die Bürger eines demokratischen Rechtsstaates verstehen sich als die Autoren der Gesetze, denen sie als Adressaten zu Gehorsam verpflich77 Vgl. meine Bemerkung zu Dieter Grimm in: Habermas (s. Fn6), 185ff.; vgl. auch G. Delanty, Models of Citizenship: Defining European Identity and Citizenship, in: Citizenship Studies,i, 1997, 285-304
tet sind. Anders als in der Moral gelten im positiven Recht Pflichten als etwas Sekundäres; sie resultieren allein aus der Kompatibilität der Rechte eines jeden mit den gleichen Rechten aller anderen. Wehrpflicht (und Todesstrafe) können unter diesen Prämissen ohnehin nicht begründet werden. Die Steuerpflicht folgt aus dem Entschluß, mit Mitteln des positiven und zwingenden Rechts eine politische Ordnung zu schaffen, die in erster Linie subjektive Rechte gewährleistet. Die sogenannte Schulpflicht begründet sich schließlich aus einem Grundrecht von Kindern und Jugendlichen auf den Erwerb von Grundqualifikationen, das der Staat im Interesse der Grundrechtsträger gegebenenfalls auch gegen widerstrebende Eltern durchsetzen muß. Ich verkenne nicht das Janusgesicht der »Nation« als der ersten modernen, noch von Herkunftsprojektionen zehrenden Form kollektiver Identität. Sie changiert zwischen der imaginierten Naturwüchsigkeit einer Volksnation und der rechtlichen Konstruktion einer Nation von Staatsbürgern. Aber die west- und nord- wie die mittel- und ostmitteleuropäischen Pfade der Entstehung des Nationalstaates - from State to nation vs. from nation to State - bezeugen den konstruierten, durch Rechtsmedium und Massenkommunikation vermittelten Charakter dieser neuen Identitätsformation. Das nationale Bewußtsein verdankt sich ebenso der Mobilisierung von Wahlberechtigten in der politischen Öffentlichkeit wie der Mobilisierung von Wehrpflichtigen für die Verteidigung des Vaterlandes. Sie verbindet sich mit dem egalitären Selbstverständnis demokratischer Staatsbürger und geht aus dem Kommunikationszusammenhang der Presse und dem diskursiv verflüssigten Machtkampf politischer Parteien hervor. In diesem voraussetzungsreichen Kontext entwickelt sich der Nationalstaat zum »größten bekannten Sozialverband, der Umverteilungsopfer bis153
her zumutbar machen konnte«.78 Gerade die artifiziellen Entstehungsbedingungen des nationalen Bewußtseins sprechen jedoch gegen die defaitistische Annahme, daß sich eine staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden nur in den Grenzen einer Nation herstellen kann.79 Wenn sich diese Form der kollektiven Identität einem folgenreichen Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewußtsein verdankt, warum sollte sich ein solcher Lernprozeß nicht fortsetzen können? Dieser Formwandel der sozialen Integration wird sich gewiß nicht aus einer funktionalen, über wirtschaftliche Interdependenzen hergestellten Integration wie von selbst ergeben. Auch wenn sich der europäische Binnenmarkt und die gemeinsame Geldpolitik wider Erwarten ohne politische Hilfestellung über gleichmässiges Wachstum und sinkende Arbeitslosigkeit stabilisieren sollten, würde diese systemische Dynamik allein nicht ausreichen, um gleichsam hinterrücks das kulturelle Substrat für ein wechselseitiges transnationales Vertrauen entstehen zu lassen. Dafür ist ein anderes Szenario nötig, wonach sich verschiedene Antizipationen in einem Kreisprozeß wechselseitig stützen und stimulieren. Eine europäische Charta nimmt die veränderten Kompetenzen einer Verfassung vorweg, die erst dann funktionieren kann, wenn es den durch sie immerhin angebahnten demokratischen Prozeß tatsächlich geben wird. Dieser Legitimationsprozeß muß von einem europäischen Parteiensystem getragen werden, das sich erst in dem Maße formieren kann, wie die bestehenden politischen Parteien zunächst in ihren nationalen Arenen über die Zukunft Europas streiten und dabei grenzüberschreitende Interessen artikulieren. Diese Diskussion muß wiederum in einer
europaweiten politischen Öffentlichkeit Resonanz finden, die ihrerseits eine europäische Bürgergesellschaft mit Interessenverbänden, nicht-staatlichen Organisationen, Bürgerbewegungen usw. voraussetzt. Transnationale Massenmedien können aber einen solchen vielsprachigen Kommunikationszusammenhang erst herstellen, wenn, wie es heute in den kleineren Nationen schon der Fall ist, die nationalen Bildungssysteme für eine gemeinsame (Fremd-) Sprachenbasis sorgen. Und normative Antriebskräfte, die diese verschiedenen Prozesse von den zerstreuten nationalen Zentren aus gleichzeitig in Gang setzen, wird es ohne überlappende Projekte für eine gemeinsame politische Kultur nicht geben.80 Diese Projekte können jedoch in dem historischen Horizont entstehen, in dem sich die Bürger Europas bereits vorfinden.
78 Offe (s. Fn 73), 46 79 E.W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa? (Carl-Friedrich von Siemens Stiftung), München 1997, 37
80 Die Impulse der Linken für eine solche Diskussionn sind bisher schwach: vgl. P. Gowan, P. Anderson (Hg.), The Question of Europe, London 1997
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Der Lernprozeß, der zu einer europäisch erweiterten Solidarität von Staatsbürgern führen soll, liegt nämlich auf einer Linie spezifisch europäischer Erfahrungen. Die europäische Entwicklung ist seit dem ausgehenden Mittelalter stärker als andere Kulturen durch Spaltungen, Differenzen und Spannungen charakterisiert — durch die Rivalität zwischen kirchlicher und säkularer Gewalt, durch eine regionale Zersplitterung der politischen Herrschaft, den Gegensatz zwischen Stadt und Land, durch die konfessionelle Spaltung und den tiefen Konflikt zwischen Glauben und Wissen, durch die Konkurrenz der großen Mächte, die imperiale Beziehung zwischen »Mutterländern« und Kolonien, vor allem durch Eifersucht und Krieg zwischen den Nationen. Diese scharfen, oft tödlich zugespitzten Konflikte sind - in den glücklicheren Momenten - auch ein Stachel zur Dezentrierung der jeweils eigenen Perspek-
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tiven gewesen, ein Antrieb zur Reflexion auf und zur Distanzierung von Voreingenommenheiten, ein Motiv zur Überwindung des Partikularismus, zum Erlernen toleranter Umgangsformen und zur Institutionalisierung von Auseinandersetzungen. Diese Erfahrungen mit gelungenen Formen der sozialen Integration haben das normative Selbstverständnis der europäischen Moderne geprägt, einen egalitären Universalismus, der uns - den Söhnen, Töchtern und Enkeln eines barbarischen Nationalismus den Übergang zu den anspruchsvollen Anerkennungsverhältnissen einer postnationalen Demokratie erleichtern kann.
V Ein europäischer Bundesstaat wird aufgrund seiner erweiterten wirtschaftlichen Basis und der gemeinsamen Währung günstigenfalls Skaleneffekte, beispielsweise Vorteile im globalen Wettbewerb erzielen. Die Schaffung größerer politischer Einheiten ändert jedoch noch nichts am Modus der Standortkonkurrenz als solcher, d. h. am Muster defensiver Allianzen gegen den Rest der Welt. Andererseits erfüllen supranationale Zusammenschlüsse dieser Art immerhin eine Bedingung, die für ein Aufholen der Politik gegenüber globalisierten Märkten notwendig ist. So kann sich wenigstens eine Gruppe global handlungsfähiger Aktoren bilden, die im Prinzip nicht nur zu einschneidenden Vereinbarungen, sondern zu deren Implementation fähig sind. Ich möchte abschließend auf die Frage eingehen, ob diese politischen Aktoren im Rahmen der UNO das erst locker geknüpfte Netzwerk transnationaler Arrangements so verstärken können, daß ein Kurswechsel zu einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung möglich ist. 156
Die auf europäischer Ebene bestehenden Koordinationsprobleme verschärfen sich auf globaler Ebene noch einmal. Weil die negative Koordination von Unterlassungshandlungen den geringsten Implementationsaufwand erfordert, konnte sich, zumal unter dem hegemonialen Druck der USA, die Liberalisierung des Weltmarktes durchsetzen, konnte ein internationales Wirtschaftsregime Zustandekommen, das den Abbau von Handelsschranken besiegelt. Die externen Effekte der Schadstoffproduktion und die grenzüberschreitenden Risiken von Großtechnologien haben sogar zu Organisationen und Praktiken geführt, die regulative Aufgaben übernehmen. Aber für globale Regelungen, die nicht nur eine positive Koordinierung der Handlungen verschiedener Regierungen erfordern, sondern auch in existierende Verteilungsmuster eingreifen, sind die Hürden (noch) zu hoch. Im Lichte der jüngsten Krisen in Mexiko und Asien wächst natürlich ein Interesse an der Vermeidung von Börsenkrächen, an strengeren Regelungen für Kreditgeschäfte und Währungsspekulationen. Kritische Vorgänge auf den internationalen Finanzmärkten bringen einen Institutionalisierungsbedarf zu Bewußtsein. Auch der globalisierte Marktverkehr verlangt nach Rechtssicherheit, d.h. nach transnational wirksamen Äquivalenten für die bekannten Garantien des bürgerlichen Privatrechts, die der Staat den Investoren und Handelspartnern im nationalen Rahmen gewährleistet: »Deregulation can be seen as negotiating on the one hand the fact of globalization, and, on the other, the ongoing need for guarantees of contracts and property rights for which the State remains as the guarantor of last instance.«81 Aber vom Wunsch nach staatlichen Regelungsleistungen, ob nun für die global vernetzten Finanzmärkte 81 S. Sassen, Globalization and its Discontents, New York 1998, 199 157
oder für die städtischen Infrastrukturen und Dienste, auf die transnationale Unternehmen angewiesen sind, kann man noch nicht auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Staaten zu marktkorrigierenden Regelungen schließen.82 Nationale Regierungen, die auf den Kreislauf ihrer inzwischen denationalisierten »Volkswirtschaften« mit Mitteln der Makrosteuerung kaum noch Einfluß nehmen können, müssen sich unter den gegebenen Bedingungen des globalen Wettbewerbs darauf beschränken, die Attraktivität ihres Standorts, d.h. die lokalen Verwertungsbedingungen des Kapitals, zu verbessern. Eine andere Qualität hätte die Einflußnahme auf den Modus der Standortkonkurrenz selbst. Unter den gegebenen Bedingungen kann man sich nicht einmal auf eine weltweite Transaktionssteuer auf Spekulationsgewinne einigen. Erst recht fällt es schwer, sich eine Organisation oder eine ständige Konferenz, irgendein Verfahren vorzustellen, wonach sich beispielsweise die Regierungen der OECD-Staaten auf einen Rahmen für die nationalen Steuergesetzgebungen einigen könnten. Ein internationales Verhandlungssystem, das einen »race to the bottom« - einen kostensenkenden Deregulationswettbewerb, der sozialpolitische Handlungsspielräume einschnürt und soziale Standards beschädigt begrenzt, müßte die Kraft zu umverteilungswirksamen Regulationen haben. Einschneidende Politiken dieser Art wären innerhalb einer Europäischen Union, die, ungeachtet 82 Vgl. Sassen (ebd., 202f.): »A focus on place, and particularly the type of place I call >global cities«, brings to the fore the fact that many of the resources necessary for global economic activities are not hypermobile and could, in pnnciple, be brought under effective regulation... A refocusing of regulation onto infrastructures and production complexes in the context of globalization contributes to an analysis of the regulatory capacities of States that diverges in significant ways from understandings centered on hypermobile Outputs and global telecommunications.« 158
der multinationalen Zusammensetzung und einer starken Stellung der nationalen Regierungen, staatliche Qualität annimmt, immerhin denkbar. Aber auf globaler Ebene fehlt beides, die politische Handlungsfähigkeit einer Weltregierung und eine entsprechende Legitimationsgrundlage. Die UNO ist eine lockere Gemeinschaft von Staaten. Ihr fehlt die Qualität einer Gemeinschaft von Weltbürgern, die politische Entscheidungen mit empfindlichen Konsequenzen auf der Grundlage einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung legitimieren und damit zumutbar machen können. Schon die Wünschbarkeit eines solchen Weltstaates ist fragwürdig. Die Spekulationen über eine Weltfriedensordnung, die die Philosophie seit dem berühmten Vorschlag des Abbe Saint-Pierre (1729) bis auf unsere Tage beschäftigen, führen regelmäßig zur Warnung vor einer despotischen Weltherrschaft.83 Aber ein Blick auf den Zustand, die Funktion und die Verfassung der Weltorganisation lehrt, daß diese Sorge grundlos ist. Heute vereinigt die UNO Mitgliedstaaten, die nach Bevölkerungsgröße und- dichte, nach Legitimitätsstatus und Entwicklungsstand extreme Unterschiede aufweisen. In der Vollversammlung verfügt jeder Staat über je eine Stimme, während die Zusammensetzung des Sicherheitsrats und das Stimmrecht der Mitglieder den tatsächlichen Machtverhältnissen Rechnung tragen soll. Die Satzung verpflichtet die nationalen Regierungen zur Einhaltung der Menschenrechte, zur gegenseitigen Achtung ihrer Souveränität und zum Verzicht auf militärische Gewaltanwendung. Mit der Kriminalisierung von Angriffskriegen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben die Subjekte des Völkerrechts die generelle Unschuldsvermutung 83 D. Archibugi, Models of international orgamzation in perpetual peace Projects, Review of International Studies, 18, 1992,295-317 159
eingebüßt. Die Vereinten Nationen verfügen freilich weder über einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof (der soeben in Rom immerhin auf den Weg gebracht worden ist) noch über eigene Streitkräfte. Aber sie können Sanktionen verhängen und Mandate für die Durchführung humanitärer Interventionen erteilen. Die UNO ist nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem direkten Ziel entstanden, weitere Kriege zu verhüten. Die Funktion der Friedenssicherung war von Anbeginn mit dem Versuch der politischen Durchsetzung von Menschenrechten verbunden. Zu den Fragen der Kriegsverhütung sind inzwischen Probleme der Umweltsicherheit hinzugetreten. Aber sowohl die normative Grundlage der UNO-Menschenrechtserklärung als auch die Konzentration auf Sicherheitsfragen im weiteren Sinne verraten das klar begrenzte funktionale Erfordernis, auf das die Weltorganisation, ohne ein Gewaltmonopol zu besitzen, antwortet: zum einen die Domestizierung von Krieg, Bürgerkrieg und staatlicher Kriminalität, zum anderen die Abwendung humanitärer Katastrophen und weltweiter Risiken. Angesichts dieser Beschränkung auf elementare Ordnungsleistungen würde auch aus der ehrgeizigsten Reform der bestehenden Institutionen keine Weltregierung hervorgehen. Die Befürworter einer »kosmopolitischen Demokratie« 84 verfolgen drei Ziele: erstens die Schaffung des politischen Status von Weltbürgern, die der Weltorganisation nicht nur vermittels ihrer Staaten angehören, sondern über die von ihnen gewählten Repräsentanten in einem Weltparlament vertreten sind; zweitens die Einrichtung eines mit den üblichen Kompetenzen ausgestatteten internationalen Strafgerichtshofes, dessen Urteile auch die nationalen Re84 D. Held, Democracy and the Global Order, Cambridge 1995, 267-287 160
gierungen binden; und schließlich den Ausbau des Sicherheitsrates in eine handlungsfähige Exekutive.85 Selbst eine derart gestärkte und auf erweiterter Legitimationsgrundlage operierende Weltorganisation würde jedoch nur in den begrenzten Zuständigkeitsbereichen einer reaktiven Sicherheits- und Menschenrechtspolitik sowie einer vorbeugenden Umweltpolitik mehr oder weniger effektiv tätig werden können. Die Beschränkung auf elementare Ordnungsleistungen erklärt sich nicht nur aus den pazifistischen Motivationen, denen die Weltorganisation ihre Entstehung verdankt. Für weiterreichende Aufgaben fehlt der Weltorganisation auch aus strukturellen Gründen die Legitimationsbasis. Von staatlich organisierten Gemeinschaften unterscheidet sich jede Weltorganisation durch die Bedingung vollständiger Inklusion — sie kann niemanden ausschliessen, weil sie keine sozialen Grenzen zwischen Innen und Außen erlaubt. Eine politische Gemeinschaft muß mindestens dann, wenn sie sich als eine demokratische versteht, Mitglieder von Nicht-Mitgliedern unterscheiden können. Der selbstreferentielle Begriff kollektiver Selbstbestimmung zeichnet einen logischen Ort aus, den demokratisch vereinigte Bürger als Mitglieder einer besonderen politischen Gemeinschaft einnehmen. Auch wenn sich eine solche Gemeinschaft nach den universalistischen Grundsätzen eines demokratischen Verfassungsstaates konstituiert, bildet sie eine kollektive Identität in der Weise aus, daß sie diese Prinzipien im Lichte ihrer Geschichte und im Kontext ihrer Lebensform auslegt und implementiert. Dieses ethischpolitische Selbstverständnis der Bürger eines bestimmten 85 D. Archibugi, From the United Nations to Cosmopolitan Democracy, in: D. Archibugi, D. Held (Hg.), Cosmopolitan Democracy. An Agenda for a New World Order, Cambridge 1995, 121-162; D. Held, Democracy and the New International Order, ebd., 96-120 161
demokratischen Gemeinwesens fehlt der inklusiven Gemeinschaft der Weltbürger.86 Wenn sich Weltbürger gleichwohl auf globaler Ebene organisieren und sogar eine demokratisch gewählte Repräsentation verschaffen, können sie ihren normativen Zusammenhalt nicht aus einem ethisch-politischen, also von anderen Traditionen und Wertorientierungen abgehobenen Selbstverständnis, schöpfen, sondern einzig aus einem rechtlich-moralischen Selbstverständnis gewinnen. Das normative Modell für eine Gemeinschaft, die ohne Möglichkeit der Exklusion besteht, ist das Universum moralischer Personen - Kants »Reich der Zwecke«. Keineswegs zufällig bilden deshalb in der kosmopolitischen Gemeinschaft allein die »Menschenrechte«, also Rechtsnormen mit ausschließlich moralischem Inhalt,87 den normativen Rahmen. Damit ist noch nicht geklärt, ob die Erklärung der Menschenrechte, auf deren Wortlaut sich die vergleichsweise kleine Zahl der Gründungsmitglieder der UNO 1946 geeinigt hatte, auch in der multikulturellen Welt von heute eine hinreichend übereinstimmende Interpretation und Anwendung finden kann. Auf diesen interkulturellen Diskurs über Menschenrechte kann ich hier nicht eingehen.88 Aber auch ein weltweiter Konsens über Menschenrechte kann für die im nationalen Rahmen entstandene staatsbürgerliche Solidarität kein strenges Äquivalent begründen. Während die staatsbürgerliche Solidarität in einer jeweils 86 Das kosmopolitische Bewußtsein konnte allenfalls konkretere Gestalt durch eine Abgrenzung in der zeitlichen Dimension anmerken - durch eine Stilisierung des Abstandes der Gegenwart von der nationalstaatlichen Vergangenheit. 87 Habermas (s. Fn6), 220-226 88 Ch. Taylor, A World Consensus on Human Rights?, in: Dissent, Summer 1996, 15 -21; J. Habermas, Remarks on Legitimation througb Human Rights, in: Philosophy & Social Cnticism, 24, 1998, 157-172; dazu Th. A. Mc Carthy, On Reconciling Cosmopolitan Unity and National Diversity (Ms. 1998); vgl. S. 169-191 162
besonderen kollektiven Identität wurzelt, muß sich die weltbürgerliche Solidarität auf den in den Menschenrechten ausgedrückten moralischen Universalismus allein stützen. Im Vergleich zur aktiven Solidarität von Staatsbürgern, die u. a. die redistributiven Politiken des Wohlfahrtsstaates zumutbar gemacht hat, behält die Solidarität der Weltbürger insofern einen reaktiven Charakter, als sie den kosmopolitischen Zusammenhalt in erster Linie durch Affekte der Empörung über Rechtsverletzungen, d. h. über staatliche Repressionen und Verstöße gegen die Menschenrechte sichert. Eine inklusive, aber in Raum und Zeit organisierte Rechtsgemeinschaft der Weltbürger unterscheidet sich gewiß von der universalen Gemeinschaft moralischer Personen, die einer Organisation weder fähig noch bedürftig ist. Andererseits kann sie aber nicht den vergleichsweise festen Integrationsgrad einer staatlich organisierten Gemeinschaft mit eigener kollektiver Identität erlangen. Für die Erweiterung der nationalen Staatsbürgersolidarität und der wohlfahrtsstaatlichen Politik im Maßstab eines postnationalen Bundesstaates sehe ich keine Hindernisse struktureller Art. Aber der politischen Kultur der Weltgesellschaft fehlt die gemeinsame ethisch-politische Dimension, die für eine entsprechende globale Vergemeinschaftung und Identitätsbildung nötig wäre. Hier greifen die Bedenken, die die Neoaristoteliker schon gegen einen nationalen und erst recht gegen einen europäischen Verfassungspatriotismus ins Feld führen. Eine kosmopolitische Gemeinschaft von Weltbürgern bietet deshalb für eine Weltinnenpolitik keine ausreichende Basis. Die Institutionalisierung von Verfahren der weltweiten Interessenabstimmung, Interessenverallgemeinerung und einfallsreichen Konstruktion gemeinsamer Interessen kann sich nicht im organisatorischen Gefüge eines Weltstaates vollziehen. Entwürfe zu einer 163
»kosmopolitischen Demokratie« müssen sich nach einem anderen Modell richten. Eine Politik, die den globalen Märkten nachwachsen und den Modus der Standortkonkurrenz verändern soll, läßt sich nicht auf der obersten Etage einer im ganzen »weltstaatlich« organisierten Mehrebenenpohtik unterbringen. Sie wird sich auf einer weniger anspruchsvollen Legitimationsgrundlage in den nicht-staatlichen Organisationsformen internationaler Verhandlungssysteme vollziehen müssen, die heute schon für andere Politikbereiche bestehen. Im allgemeinen fördern Arrangements und Verfahren diese Art Kompromisse zwischen unabhängig entscheidenden Aktoren, die über Sanktionspotentiale verfügen, um ihren jeweiligen Interessen Nachachtung zu verschaffen. Innerhalb einer politisch verfaßten, staatlich organisierten Gemeinschaft ist diese Kompromißbildung stärker mit Verfahren einer deliberativen Politik verzahnt, so daß eine Einigung nicht nur über einen machtgesteuerten Interessenausgleich zustandekommt. Im Kontext einer gemeinsamen politischen Kultur können die Verhandlungspartner auch auf gemeinsame Wertorientierungen und Gerechtigkeitsvorstellungen rekurneren, die eine über zweckrationale Vereinbarungen hinausgehende Verständigung ermöglichen. Aber auf internationaler Ebene fehlt diese »dichte« kommunikative Einbettung. Und eine »nackte« Kompromißbildung, die wesentlich Züge der klassischen Machtpolitik widerspiegelt, reicht nicht aus für die Initiierung einer Weltinnenpolitik. Natürlich operieren auch die Verfahren für mtergouvernementale Vereinbarungen nicht ausschließlich in Abhängigkeit von gegebenen Machtkonstellationen; normative Rahmenbedingungen, die die Wahl von rhetorischen Strategien begrenzen, strukturieren die Verhandlungen ebenso wie beispielsweise der Einfluß von »epistemic communities«, denen es - wie heute im Falle des neoliberalen 164
Wirtschaftsregimes - manchmal sogar gelingt, weltweit über vermeintlich wissenschaftlich entscheidbare Fragen einen durchaus normativ imprägnierten Hintergrundkonsens herbeizuführen. Global handlungsfähige Mächte operieren nicht mehr im Naturzustand des klassischen Völkerrechts, sondern auf der mittleren Ebene einer im Entstehen begriffenen Weltpolitik. Diese bietet ein diffuses Bild - nicht das statische Bild einer Mehrebenenpolitik innerhalb einer Weltorganisation, sondern das dynamische Bild von Interferenzen und Interaktionen zwischen den auf nationaler, internationaler und globaler Ebene eigensinnig ablaufenden politischen Prozessen. Internationale Verhandlungssysteme, die Vereinbarungen zwischen staatlichen Aktoren ermöglichen, kommunizieren einerseits mit den innerstaatlichen Prozessen, von denen die jeweilige Regierung abhängt, aber sie fügen sich andererseits auch in den Rahmen und die Politik der Weltorganisation ein. So ergibt sich für eine Weltinnenpolitik ohne Weltregierung wenigstens eine Perspektive vorausgesetzt, daß man sich über zwei Probleme Klarheit verschaffen kann. Das eine Probem ist grundsätzlicher, das andere empirischer Natur. Wie ist (a) eine demokratische Legitimation von Entscheidungen jenseits des staatlichen Organisationsschemas denkbar? Und unter welchen Bedingungen kann sich (b) das Selbstverständnis der gobal handlungsfähigen Aktoren dahingehend wandeln, daß sich die Staaten und supranationalen Regime zunehmend als Mitglieder einer Gemeinschaft verstehen, die ohne Alternative zur gegenseitigen Interessenberücksichtung und zur Wahrnehmung allgemeiner Interessen genötigt sind? (a) In der liberalen wie in der republikanischen Tradition wird die politische Teilnahme der Bürger in einem wesentlich voluntaristischen Sinne verstanden: Alle sollen die gleiche Chance haben, ihre Präferenzen wirksam zur Geltung 165
oder ihren politischen Willen bindend zum Ausdruck zu bringen, sei es, um ihre privaten Interessen zu verfolgen (Locke) oder um in den Genuß politischer Autonomie zu gelangen (J. St. Mill). Wenn wir jedoch der demokratischen Willensbildung auch eine epistemische Funktion zuschreiben, gewinnen die Verfolgung eigener Interessen und die Verwirklichung politischer Freiheit die 'weitere Dimension des öffentlichen Vernunftgebrauchs (Kant). Dann zieht das demokratische Verfahren seine legitimierende Kraft nicht mehr nur, und nicht einmal in erster Linie, aus Partizipation und Willensäußerung, sondern aus der allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse begründet.89 Ein solches diskurstheoretisches Verständnis von Demokratie verändert die theoretischen Anforderungen an die Legitimitätsbedingungen demokratischer Politik. Nicht als könnten funktionierende Öffentlichkeit, Qualität der Beratung, Zugänglichkeit und diskursive Struktur der Meinungs- und Willensbildung die konventionellen Entscheidungs- und Repräsentationsverfahren ganz ersetzen. Aber die Gewichte verschieben sich von der konkreten Verkörperung des souveränen Willens in Personen und Wahlakten, Körperschaften und Voten zu den prozeduralen Anforderungen an Kommunikations- und Entscheidungsprozesse. Damit lockert sich aber die begriffliche Verklammerung der demokratischen Legitimation mit den bekannten staatlichen Organisationsformen. Vermeintlich schwache Legitimationsformen erscheinen dann in einem anderen Licht.90 So würde beispielsweise eine institutionalisierte Beteiligung von Nicht-Regierungs89 J. Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: Habermas (s. Fn6), 277-299 90 A. Linklater, Cosmopohtan Citizenship, in: Citizensbip Studies, 2, 1998,
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Organisationen an den Beratungen internationaler Verhandlungssysteme in dem Maße die Legitimation des Verfahrens steigern, wie es auf diesem Wege gelingt, transnationale Entscheidungsprozesse der mittleren Ebene für nationale Öffentlichkeiten transparent zu machen und mit Entscheidungsprozessen dieser unteren Ebene rückzukoppeln. Unter diskurstheoretischen Prämissen ist auch der Vorschlag interessant, die Weltorganisation mit dem Recht auszustatten, von den Mitgliedstaaten zu wichtigen Themen jederzeit die Durchführung von Referenden zu verlangen.91 Auf diese Weise kann - wie im Falle der UNO-Gipfelkonferenzen zur Umweltbelastung, zur Gleichberechtigung der Frauen, zur strittigen Auslegung der Menschenrechte, zur weltweiten Armut usw. - wenigstens eine Thematisierung von regelungsbedürftigen Materien erzwungen werden, die ohne solche öffentlichen Inszenierungen nicht wahrgenommen werden und auf keine politische Agenda gelangen. (b) Eine erneute politische Schließung der ökonomisch entfesselten Weltgesellschaft wird freilich erst möglich sein, wenn sich die Mächte, die überhaupt global handeln können, auch im Hinblick auf die Erhaltung sozialer Standards und die Beseitigung extremer sozialer Ungleichgewichte auf institutionalisierte Verfahren der transnationalen Willensbildung einlassen. Sie müssen dazu bereit sein, ihre Perspektiven über die »nationalen Interessen« hinaus um Gesichtspunkte einer »global governance« zu erweitern. Der Perspektivenwechsel von »internationalen Beziehungen« zu einer Weltinnenpolitik ist aber von Regierungen nicht zu erwarten, wenn nicht die Bevölkerungen selbst einen solchen Bewußtseinswandel prämiieren. Weil sich die re91 Mitteilung von Jamie Carnie (Structure for a Democmtic World Government, Ms. 1998)
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gierenden Eliten innerhalb ihrer nationalen Arena um Zustimmung und Wiederwahl bemühen müssen, dürfen sie nicht dafür bestraft werden, daß sie nicht länger in nationaler Unabhängigkeit operieren, sondern in die Kooperationsverfahren einer kosmopolitischen Gemeinschaft eingebunden sind. Innovationen kommen nicht zustande, wenn die politischen Eliten nicht auch in den vorgängig reformierten Wertorientierungen ihrer Bevölkerungen Resonanz finden. Wenn sich aber das Selbstverständnis global handlungsfähiger Regierungen nur unter dem Druck eines innenpolitisch veränderten Klimas wandelt, ist die entscheidende Frage, ob sich in den Zivilgesellschaften und in den politischen Öffentlichkeiten der großräumig zusammenwachsenden Regime, ob sich hier in Europa und in der Bundesrepublik ein weltbürgerliches Bewußtsein - gewissermaßen ein Bewußtsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung ausbilden wird. Die Reregulierung der Weltgesellschaft hat bisher nicht einmal die Gestalt eines exemplarisch, an Beispielen erläuterten Projektes angenommen. Seine ersten Adressaten sind nicht Regierungen, sondern Bürger und Bürgerbewegungen. Aber soziale Bewegungen kristallisieren sich erst, wenn sich für die Bearbeitung von Konflikten, die als ausweglos empfunden werden, normativ befriedigende Perspektiven öffnen. Die Artikulation einer Blickrichtung ist auch die Aufgabe von politischen Parteien, die sich noch nicht ganz aus der Bürgergesellschaft ins politische System zurückgezogen und dann verbarrikadiert haben. Parteien, die sich nicht am Status quo festkrallen, brauchen eine Perspektive, die über diesen hinausreicht. Und der Status quo ist heute nichts als der Strudel einer sich selbst beschleunigenden Modernisierung, die sich selbst überlassen bleibt. Die politischen Parteien, die sich noch Gestaltungskraft zutrauen, müssen den Mut zur Antizipation auch in ande168
rer Hinsicht aufbringen. Sie müssen nämlich innerhalb des nationalen Spielraums - des einzigen, in dem sie aktuell handeln können - auf den europäischen Handlungsspielraum vorausgreifen. Diesen wiederum müssen sie programmatisch mit der doppelten Zielsetzung erschließen, ein soziales Europa zu schaffen, das sein Gewicht in die kosmopolitische Waagschale wirft.
Zur Legitimation durch Menschenrechte Ingeborg Maus zum 60. Geburtstag zugeeignet
Ich werde den Begriff der Legitimation (und entsprechend den der Legitimität) in einem doppelt eingeschränkten Sinne verwenden: ich beziehe mich auf die Legitimation einer politischen Ordnung, und nur auf die des demokratischen Verfassungsstaates. Ich will zunächst an einen Vorschlag zur Rekonstruktion des inneren Zusammenhanges von Demokratie und Menschenrechten erinnern, den ich andernorts vorgetragen habe.1 Dann möchte ich einige Aspekte behandeln, unter denen die im Westen entstandene Konzeption der Menschenrechte heute kritisiert wird - sei es im Diskurs des Westens mit sich selbst oder in Diskursen, die andere Kulturen mit ihm führen.
I. Die prozedurale Rechtfertigung des demokratischen Verfassungsstaates Ich beginne mit einer Erläuterung des politischen Begriffs der Legitimation. Die Legitimationsbedürftigkeit von Ordnungen, die sich durch staatliche Organisationsgewalt auszeichnen (und beispielsweise von Herrschaftsstrukturen in Stammesgesellschaften unterscheiden), erklärt sich bereits aus dem Begriff der politischen Macht. Weil sich dieses Medium staatlicher Macht in Formen des Rechts konstituiert, zehren politische Ordnungen vom Legitimitätsanspruch des Rechts. Das Recht fordert nämlich nicht nur Akzep1 J. Habermas, Faktizitat und Geltung, Frankfurt/M. 1992, Kap. 3 170
tanz; es verlangt von seinen Adressaten nicht nur faktische Anerkennung, sondern beansprucht, Anerkennung zu verdienen. Zur Legitimation einer rechtsförmig konstituierten staatlichen Ordnung gehören deshalb alle öffentlichen Begründungen und Konstruktionen, die diesen Anspruch auf Anerkennungswürdigkeit einlösen sollen. Das gilt für alle staatlichen Ordnungen. Moderne Staaten zeichnen sich nun dadurch aus, daß sich die politische Macht in der Form des positiven, d. h. gesatzten und zwingenden Rechts konstituiert. Da auch die Frage nach der Art der politischen Legitimation vom Wandel der Rechtsform betroffen ist, möchte ich (1) das moderne Recht zunächst nach Struktur und Geltungsmodus kennzeichnen, bevor ich (2) auf den entsprechenden Legitimationstypus eingehe. (1) Moderne Rechtsordnungen bauen sich wesentlich aus subjektiven Rechten auf. Diese Rechte räumen einer Rechtsperson gesetzliche Spielräume für ein von je eigenen Präferenzen geleitetes Handeln ein. Damit entbinden sie die berechtigte Person auf wohlumschriebene Weise von moralischen Geboten oder Vorschriften anderer Art. Jedenfalls ist in den Grenzen des rechtlich Erlaubten niemand zu einer öffentlichen Rechtfertigung seines Tuns rechtlich verpflichtet. Mit der Einführung subjektiver Freiheiten bringt das moderne Recht im Unterschied zu traditionalen Rechtsordnungen das Hobbessche Prinzip zur Geltung, daß alles erlaubt ist, was nicht explizit verboten ist. Damit treten Recht und Moral auseinander.2 Während uns die Moral zunächst sagt, wozu wir verpflichtet sind, ergibt sich aus der Struktur des Rechts ein Primat der Berechtigungen. Während sich moralische Rechte aus reziproken Pflichten herleiten, sind Rechtspflichten aus der gesetz2 I. Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, in: dies., Zur Aufklarung der Demokratietheorie, Frankfurt/M. 1992, 308-336
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liehen Einschränkung subjektiver Freiheiten abgeleitet. Diese grundbegriffliche Privilegierung von Rechten gegenüber Pflichten erklärt sich aus den modernen Konzepten der Rechtsperson und der Rechtsgemeinschaft. Das moralische Universum, das im sozialen Raum und in der historischen Zeit gleichsam entgrenzt ist, erstreckt sich auf alle natürlichen Personen in ihrer lebensgeschichtlichen Komplexität. Demgegenüber schützt eine in Raum und Zeit jeweils lokalisierte Rechtsgemeinschaft die Integrität ihrer Angehörigen nur insoweit, wie diese den artifiziell erzeugten Status von Trägern subjektiver Rechte einnehmen. Diese Struktur spiegelt sich in dem eigentümlichen Modus der Rechtsgeltung, der die Faktizität der staatlichen Rechtsdurchsetzung mit der Legitimität eines dem Anspruch nach rationalen Verfahrens der Rechtssetzung verschränkt. Das moderne Recht stellt nämlich seinen Adressaten frei, ob sie die Normen nur als eine faktische Einschränkung ihres Handlungsspielraums betrachten und sich auf einen strategischen Umgang mit den kalkulierbaren Folgen möglicher Regelverletzungen einstellen oder ob sie den Vorschriften »aus Achtung vor dem Gesetz« Folge leisten wollen. Schon Kant hat mit seinem Begriff der Legalität die Verbindung dieser beiden Momente hervorgehoben, ohne welche moralisch verantwortlichen Personen Rechtsgehorsam nicht zugemutet werden kann. Rechtsnormen müssen so beschaffen sein, daß sie unter je verschiedenen Aspekten gleichzeitig als Zwangsgesetze und als Gesetze der Freiheit betrachtet werden können. Es muß wenigstens möglich sein, Rechtsnormen zu befolgen, nicht weil sie zwingen, sondern weil sie legitim sind. Die Gültigkeit einer Rechtsnorm besagt, daß die staatliche Gewalt gleichzeitig legitime Rechtsetzung und faktische Rechtsdurchsetzung garantiert. Der Staat muß beides gewährleisten, einerseits die Legalität des Verhaltens im Sinne einer
durchschnittlichen, erforderlichenfalls durch Sanktionen erzwungenen Normbefolgung - und andererseits eine Legitimität der Regeln, die jederzeit die Befolgung einer Norm aus Achtung vor dem Gesetz möglich macht. Im Hinblick auf die Legitimität der Rechtsordnung ist aber vor allem eine andere Formeigenschaft, nämlich die positivität des gesatzten Rechts, wichtig. Wie soll die Legitimität von Regeln begründet werden, die vom politischen Gesetzgeber jederzeit geändert werden können? Auch Verfassungsnormen sind änderbar; und sogar die Grundnormen, die die Verfassung selbst als unabänderlich deklariert, teilen mit allem positiven Recht das Schicksal, beispielsweise nach einem Regimewechsel, außer Kraft gesetzt werden zu können. Solange man auf religiös oder metaphysisch begründetes Naturrecht zurückgreifen konnte, ließ sich der Strudel der Temporalität, in den das positive Recht hineingeraten ist, durch Moral eindämmen. Auch das verzeitlichte positive Recht sollte zunächst dem ewig gültigen moralischen Recht - im Sinne einer Legeshierarchie - untergeordnet bleiben und von diesem seine bleibenden Orientierungen empfangen. Aber in pluralistischen Gesellschaften sind solche integrativen Weltbilder und kollektiv verbindlichen Ethiken zerfallen. Die politische Theorie hat auf die Legitimitätsfrage eine doppelte Antwort gegeben: Volkssouveränität und Menschenrechte. Das Prinzip der Volkssouveränität legt ein Verfahren fest, das aufgrund seiner demokratischen Eigenschaften die Vermutung auf legitime Ergebnisse begründet. Dieses Prinzip drückt sich in den Kommunikations- und Teilnahmerechten aus, die die öffentliche Autonomie der Staatsbürger sichern. Hingegen begründen jene klassischen Menschenrechte, die den Gesellschaftsbürgern Leben und private Freiheit, nämlich Handlungsspielräume für die Verfolgung ihrer persönlichen Lebenspläne, gewährleisten, 173
eine von sich aus legitime Herrschaft der Gesetze. Unter diesen beiden normativen Gesichtspunkten soll sich das gesatzte, also änderbare Recht legitimieren als ein Mittel zur gleichmäßigen Sicherung der privaten und staatsbürgerlichen Autonomie des Einzelnen. (2) Allerdings hat die politische Theorie die Spannung zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten, zwischen der »Freiheit der Alten« und der »Freiheit der Modernen«, nicht ernstlich zum Ausgleich bringen können. Der auf Aristoteles und den politischen Humanismus der Renaissance zurückreichende Republikanismus hat stets der öffentlichen Autonomie der Staatsbürger Vorrang vor den unpolitischen Freiheiten der Privatleute eingeräumt. Der auf Locke zurückgehende Liberalismus hat (jedenfalls seit dem 19. Jahrhundert) die Gefahr tyrannischer Mehrheiten beschworen und einen Vorrang der Menschenrechte vor dem Volkswillen postuliert. Im einen Fall sollten die Menschenrechte ihre Legitimität dem Ergebnis der ethischen Selbstverständigung und souveränen Selbstbestimmung eines politischen Gemeinwesens verdanken; im anderen Fall sollten sie von Haus aus legitime Schranken bilden, die dem souveränen Willen des Volkes den Übergriff auf unantastbare subjektive Freiheitssphären verwehren. Gegen diese komplementären Einseitigkeiten muß man aber darauf bestehen, daß die Idee der Menschenrechte - Kants Fundamentalrecht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten - weder dem souveränen Gesetzgeber als äußere Schranke bloß auferlegt noch als funktionales Requisit für dessen Zwecke instrumentalisiert werden darf.3 3 Vgl. zum folgenden J. Habermas, Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M., 1995, 293-305; auf die freundschaftliche Kritik von I. Maus, Freiheitsrechte und Volkssouveranitat, in: Rechtstheorie, 16, 1995, 507- 562, kann ich hier nicht eingehen
Um diese Intuition richtig auszudrücken, empfiehlt es sich, von der folgenden Frage auszugehen, auf die ich im weiteren rekurrieren werde: Welche grundlegenden Rechte müssen sich freie und gleiche Bürger, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen, gegenseitig einräumen? Die Idee einer solchen verfassunggebenden Praxis verbindet die Ausübung der Volkssouveränität mit der Schaffung eines Systems von Rechten. Dabei gehe ich von dem hier nicht näher zu erörternden Grundsatz aus, daß genau die Regelungen Legitimität beanspruchen dürfen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten. In »Diskursen« wollen die Teilnehmer, indem sie sich gegenseitig mit Argumenten von etwas zu überzeugen suchen, zu gemeinsamen Ansichten gelangen, während sie in »Verhandlungen« einen Ausgleich ihrer verschiedenen Interessen anstreben. (Allerdings hängt die Fairness solcher Vereinbarungen wiederum von diskursiv begründeten Verfahren der Kompromißbildung ab.) Wenn nun solche Diskurse (und Verhandlungen) der Ort sind, an dem sich ein vernünftiger politischer Wille bilden kann, muß sich die Vermutung auf legitime Ergebnisse, die das demokratische Verfahren begründen soll, letztlich auf ein kommunikatives Arrangement stützen: Die für eine vernünftige - und daher legitimitätsverbürgende - Willensbildung des politischen Gesetzgebers notwendigen Kommunikationsformen müssen ihrerseits rechtlich institutionalisiert werden. Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität besteht dann darin, daß die Menschenrechte die Kommunikationsbedingungen für eine vernünftige politische Willensbildung institutionalisieren. Rechte, die die Ausübung der Volkssouveränität ermöglichen, können dieser Praxis nicht wie 175
Beschränkungen von außen auferlegt sein. Diese Überlegung leuchtet allerdings unmittelbar nur für die politischen Bürgerrechte, also für die Kommunikations- und Teilnahmerechte, ein, nicht jedoch für die klassischen Freiheitsrechte, die die private Autonomie der Bürger sichern. Diese Rechte, die jedem eine chancengleiche Verfolgung privater Lebensziele und umfassenden individuellen Rechtsschutz garantieren sollen, haben offensichtlich einen intrinsischen Wert - und gehen nicht etwa in ihrem instrumenteilen Wert für die demokratische Willensbildung auf. Nun dürfen wir nicht übersehen, daß den Staatsbürgern die Wahl des Mediums, über das sie ihre politische Autonomie ausüben, nicht mehr freisteht. An der Gesetzgebung sind sie nur als Rechtssubjekte beteiligt; sie können nicht mehr darüber disponieren, welcher Sprache sie sich bedienen wollen. Also muß der Rechtskode schon als solcher zur Verfügung stehen, bevor die Kommunikationsvoraussetzungen für eine diskursive Willensbildung in der Gestalt von Bürgerrechten institutionalisiert werden können. Zur Einrichtung dieses Rechtskodes ist es jedoch erforderlich, den Status von Rechtspersonen zu erzeugen, die als Träger subjektiver Rechte einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen angehören und gegebenenfalls ihre Rechtsansprüche müssen effektiv einklagen können. Es gibt kein Recht ohne die private Autonomie von Rechtspersonen überhaupt. Mithin gäbe es ohne die klassischen Freiheitsrechte, insbesondere ohne das fundamentale Recht auf gleiche subjektive Handlungsfreiheiten, auch kein Medium für die rechtliche Institutionaliserung jener Bedingungen, unter denen die Bürger an der Selbstbestimmungspraxis teilnehmen können. Auf diese Weise setzen sich private und öffentliche Autonomie wechselseitig voraus. Der interne Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat besteht darin, daß einer176
seits die Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie nur dann einen angemessenen Gebrauch machen können, wenn sie aufgrund einer gleichmäßig gesicherten privaten Autonomie hinreichend unabhängig sind; daß sie aber auch nur dann gleichmässig in den Genuß der privaten Autonomie gelangen können, wenn sie als Staatsbürger von ihrer politischen Autonomie einen angemessenen Gebrauch machen. Deshalb sind liberale und politische Grundrechte unteilbar. Das Bild von Kern und Schale ist irreführend - so als gäbe es einen Kernbereich von elementaren Freiheitsrechten, die vor den Kommunikations- und Teilnahmerechten Vorrang beanspruchen dürften.4 Für den westlichen Legitimationstypus ist die Gleichursprünglichkeit von Freiheits- und Bürgerrechten wesentlich.
II. Die Selbstkritik des Westens Menschenrechte tragen ein Janusgesicht, das gleichzeitig der Moral und dem Recht zugewandt ist. Ungeachtet ihres moralischen Inhalts haben sie die Form juristischer Rechte. Sie beziehen sich wie moralische Normen auf alles, »was Menschenantlitz trägt«, aber als juristische Normen schützen sie einzelne Personen nur insoweit, wie sie einer bestimmten Rechtsgemeinschaft angehören - in der Regel die Bürger eines Nationalstaates. So besteht eine eigenartige Spannung zwischen dem universalen Sinn der Menschenrechte und den lokalen Bedingungen ihrer Verwirklichung: Sie sollen für alle Personen unbeschränkt Geltung erlangen - aber wie ist das zu erreichen? Man kann sich auf der einen Seite die globale Ausbreitung der Menschenrechte so vor4 Allerdings unterscheidet R. Herzog (Die Rechte des Menschen, in: Die Zeit vom 6. 9.96) zu Recht die Begründung von der Durchsetzung der Menschenrechte l
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stellen, daß sich alle bestehenden Staaten - nicht nur dem Namen nach - in demokratische Rechtsstaaten verwandeln, während jedem Einzelnen zugleich das Recht auf eine Nationalität seiner Wahl zusteht. Von diesem Ziel sind wir offensichtlich weit entfernt. Eine Alternative könnte darin bestehen, daß jeder unmittelbar, nämlich als Weltbürger, in den effektiven Genuß der Menschenrechte gelangt. In diesem Sinne verweist Artikel 28 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen auf eine globale Ordnung, »in der die in dieser Erklärung festgelegten Rechte und Freiheiten vollständig realisiert werden«. Aber auch dieses Ziel eines wirksam institutionalisierten Weltbürgerrechts liegt in weiter Ferne. Im Übergang von einer nationalstaatlichen zu einer kosmopolitischen Ordnung weiß man nicht genau, was gefährlicher ist: die untergehende Welt souveräner Völkerrechtssubjekte, die ihre Unschuld längst verloren haben, oder die unklare Gemengelage supranationaler Einrichtungen und Konferenzen, die fragwürdige Legitimationen ausleihen können, aber nach wie vor auf den guten Willen mächtiger Staaten und Allianzen angewiesen sind.' In dieser labilen Situation bieten zwar die Menschenrechte für die Politik der Völkergemeinschaft die einzige, von allen anerkannte Legitimationsgrundlage; fast alle Staaten haben die inzwischen fortgebildete Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen ihrem Wortlaut nach angenommen. Dennoch sind allgemeine Geltung, Inhalt und Rangordnung der Menschenrechte nach wie vor umstritten. Der mit normativen Argumenten geführte Menschenrechtsdiskurs wird sogar von dem grundsätzlichen Zweifel begleitet, ob unter den Prämissen anderer Kulturen die im Westen entstandene
Form der politischen Legitimation überhaupt einleuchten kann. Am radikalsten vertreten westliche Intellektuelle selbst die Behauptung, daß sich hinter dem Anspruch auf die universale Gültigkeit der Menschenrechte nur ein perfider Machtanspruch des Westens verbirgt. Das ist kein Zufall. Von eigenen Traditionen Abstand zu gewinnen und eingeschränkte Perspektiven zu erweitern gehört nämlich zu den Vorzügen des okzidentalen Rationalismus. Die europäische Geschichte der Interpretation und Verwirklichung von Menschenrechten ist die Geschichte einer solchen Dezentnerung unserer Sichtweise. Die angeblich gleichen Rechte sind auf unterdrückte, marginalisierte und ausgeschlossene Gruppen erst nach und nach ausgedehnt worden. Erst als Ergebnis von zähen politischen Kämpfen sind auch Arbeiter, Frauen und Juden, Zigeuner, Schwule und Asylanten als »Menschen« mit Anspruch auf volle Gleichbehandlung anerkannt worden. Wichtig ist nun, daß die einzelnen Emanzipationsschübe rückblickend auch die ideologische Funktion zu erkennen geben, die die Menschenrechte bis dahin jeweils erfüllt hatten. Denn jedesmal hatte der egalitäre Anspruch auf allgemeine Geltung und Einbeziehung auch dazu gedient, die faktische Ungleichbehandlung der stillschweigend Ausgeschlossenen zu verschleiern. Diese Beobachtung hat den Verdacht geweckt, daß die Menschenrechte in dieser ideologischen Funktion aufgehen könnten. Haben sie nicht immer als Schild einer falschen Allgemeinheit gedient - einer imaginären Menschheit, hinter der ein imperialistischer Westen seine Eigenart und sein eigenes Interesse verstecken konnte? Bei uns wird, im Anschluß an Heidegger und Carl Schmitt, diese Hermeneutik des Verdachts in einer vernunftkritischen und einer machtkritischen Lesart praktiziert.
5 I. Maus, Volkssouveranitat und das Prinzip der NichtIntervention in der Frwdensphüosophie Immanuel Kants, in: H. Brunkhorst (Hg.), Ein mischung erwünscht?, Frankfurt/M , 88-116
Nach der ersten Version ist die Idee der Menschenrechte Ausdruck einer im Piatonismus wurzelnden, spezifisch
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abendländischen Vernunft. Diese setzt sich mit einem »abstraktiven Fehlschluß« über die Schranken ihres Entstehungskontextes und damit über die bloß lokale Geltung ihrer vermeintlich universalen Maßstäbe hinweg. Allen Traditionen, Weltbildern oder Kulturen sollen je eigene, und zwar inkommensurable Maßstäbe für Wahres und Falsches eingeschrieben sein. Dieser einebnenden Vernunftkritik entgeht freilich die eigentümliche Selbstbezüglichkeit, die die Diskurse der Aufklärung auszeichnet. Auch der Menschenrechtsdiskurs ist darauf angelegt, allen Stimmen Gehör zu verschaffen. Deshalb schießt er selbst die Standards vor, in deren Licht noch die latenten Verstöße gegen den eigenen Anspruch entdeckt und korrigiert werden können. Lutz Wingert hat das den »detektivischen Zug« des Menschenrechtsdiskurses genannt6: Menschenrechte, die die Einbeziehung des Anderen fordern, funktionieren zugleich als Sensoren für die in ihrem Namen praktizierten Ausgrenzungen. Die Variante der Machtkritik verfährt etwas plumper. Auch sie dementiert den Anspruch auf universale Geltung mit dem Hinweis auf den genetischen Vorrang einer verhohlenen Partikularität. Aber diesmal genügt ein reduktionistischer Kunstgriff. Angeblich können sich in der normativen Sprache des Rechts nichts anderes als die faktischen Machtansprüche politischer Selbstbehauptung spiegeln; deshalb soll sich hinter universalen Rechtsansprüchen regelmäßig der partikulare Durchsetzungswille eines bestimmten Kollektivs verbergen. Aber glücklichere Nationen haben schon im 18. Jahrhundert gelernt, wie die schiere Macht durch legitimes Recht domestiziert werden kann. »Wer Menschheit sagt, lügt« - dieses vertraute Stück deut-
scher Ideologie verrät nur einen Mangel an historischer Erfahrung.7 Westliche Intellektuelle sollten ihren Diskurs über ihre eigenen eurozentrischen Befangenheiten nicht mit den Debatten verwechseln, die andere mit ihnen führen. Gewiß, auch im interkulturellen Diskurs begegnen uns Argumente, die die Wortführer der anderen einer europäischen Vernunftund Machtkritik entlehnt haben, um zu zeigen, daß die Geltung der Menschenrechte dem europäischen Entstehungszusammenhang trotz allem verhaftet bleibt. Aber jene Kritiker des Westens, die ihr Selbstbewußtsein aus eigenen Traditionen ziehen, verwerfen die Menschenrechte keineswegs in Bausch und Bogen. Denn heute sind andere Kulturen und Weltreligionen den Herausforderungen der gesellschaftlichen Moderne auf ähnliche Weise ausgesetzt wie seinerzeit Europa, als es die Menschenrechte und den demokratischen Verfassungsstaat in gewisser Weise erfunden hat. Ich werde im folgenden die apologetische Rolle eines westlichen Teilnehmers am interkulturellen Menschenrechtsdiskurs einnehmen und dabei von der Hypothese ausgehen, daß sich jene Standards weniger dem besonderen kulturellen Hintergrund der abendländischen Zivilisation als dem Versuch verdanken, auf spezifische Herausforderungen einer inzwischen global ausgebreiteten gesellschaftlichen Moderne zu antworten. Diese modernen Ausgangsbedingungen mögen wir so oder so bewerten, aber für uns heute stellen sie ein Faktum dar, das uns keine Wahl läßt und deshalb einer retrospektiven Rechtfertigung weder bedarf noch fähig ist. Im Streit um die angemessene Interpretation der Menschenrechte geht es nicht um die Wünschbarkeit der »modern condition«, sondern um eine
6 L. Wingert, Turoffner 7u geschlossenen Gesellschaften, in: Frankfurter Rundschau vom 6. 8. 95
7 Zu einer umfassenden Kritik der Carl Schmittschen Rechtstheone vgl I. Maus, Bürgerliche Rechtstheone und Faschismus, Munschen 1980
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Interpretation der Menschenrechte, die der modernen Welt auch aus der Sicht anderer Kulturen gerecht wird. Die Kontroverse dreht sich vor allem um den Individualismus und den säkularen Charakter von Menschenrechten, die im Begriff der Autonomie zentriert sind. Es dient der Klarheit, wenn ich der Metakritik eine Beschreibung zugrundelege, die die westlichen Legitimationsstandards unverhohlen zum Ausdruck bringt. Die oben vorgeschlagene Rekonstruktion des Zusammenhangs von Freiheits- und Bürgerrechten geht von einer Situation aus, in der sich, wie wir annehmen wollen, freie und gleiche Bürger gemeinsam überlegen, wie sie ihr Zusammenleben sowohl mit Mitteln des positiven Rechts als auch legitim regeln können. Ich möchte vorweg an drei Implikationen dieses Vorschlages erinnern, die für die weitere Auseinandersetzung relevant sind: (a) Dieses Modell beginnt mit den horizontalen Beziehungen der Bürger untereinander und führt die Beziehungen der Bürger zum funktional erforderlichen Staatsapparat erst in einem zweiten Schritt, also schon auf der Basis bestehender Grundrechte, ein. Auf diese Weise vermeiden wir die liberale Fixierung auf die Frage der Kontrolle des staatlichen Gewaltpotentials. Diese Frage ist aus dem Blickwinkel der europäischen Geschichte gewiß verständlich, rückt aber die unverfänglichere Frage nach der solidarischen Begründung eines politischen Gemeinwesens in den Hintergrund. (b) Die Ausgangsfrage setzt das gleichsam aufgelesene Medium des gesatzten und zwingenden Rechts als zweckmäßig und unproblematisch voraus. Die Schaffung einer Assoziation von Rechtspersonen, die als Träger von subjektiven Rechten gelten, wird nicht (wie im Vernunftrecht üblich) als eine normativ begründungsbedürftige Entscheidung behandelt. Eine funktionale Begründung genügt, weil es in komplexen Gesellschaften, ob nun in Asien oder in Europa, 182
für die Integrationsleistungen des positiven Rechts offenbar kein funktionales Äquivalent gibt. Diese Sorte von artifiziell geschaffenen, gleichzeitig zwingenden und freiheitsverbürgenden Normen hat sich auch bei der Herstellung einer abstrakten Form staatsbürgerlicher Solidarität zwischen Fremden, die Fremde füreinander bleiben wollen, bewährt. (c) Schließlich wird das Modell der verfassunggebenden Praxis so verstanden, daß die Menschenrechte nicht als moralische Gegebenheiten vorgefunden werden. Sie sind vielmehr Konstrukte, denen gleichsam an der Stirn geschrieben steht, daß sie nicht wie moralische Rechte einen politisch unverbindlichen Status behalten dürfen. Als subjektive Rechte sind sie von Haus aus juristischer Natur und schon ihrem Begriffe nach auf eine Positivierung durch gesetzgebende Körperschaften angelegt. Diese Überlegungen ändern nichts am individualistischen Zuschnitt und der säkularen Grundlage der auf Menschenrechten basierenden Ordnungen; sie betonen sogar den zentralen Stellenwert der Autonomie. Aber sie lassen die Kritik, die im interkulturellen Menschenrechtsdiskurs an beiden Aspekten geübt worden ist, in einem anderen Licht erscheinen.
III. Der Diskurs der anderen mit uns: »Asiatische Werte« Seit der Verlautbarung der Regierung von Singapur über Shared Va.lu.es (1991) sowie der von Singapur, Malaysia, Taiwan und China gemeinsam abgegebenen Erklärung von Bangkok (1993) ist, wie sich auf der Wiener Menschenrechtskonferenz gezeigt hat, eine Debatte in Gang gekommen, in der sich die strategischen Äußerungen der Regierungsvertreter mit Beiträgen oppositioneller und un-
abhängiger Intellektueller teils verbinden, teils überschneiden. Die Einwände richten sich im wesentlichen gegen den individualistischen Zuschnitt der Menschenrechte. Die Kritik, die sich auf einheimische »Werte« konfuzianisch geprägter fernöstlicher Kulturen beruft, geht in drei Richtungen. Sie stellt (i) den prinzipiellen Vorrang der Rechte vor Pflichten in Frage, bringt (2) eine bestimmte, kommumtaristische »Rangordnung« der Menschenrechte ins Spiel und beklagt (3) die negativen Auswirkungen einer individualistischen Rechtsordnung auf den sozialen Zusammenhalt des Gemeinwesens. (1) Kern der Debatte ist die These, daß die alten Kulturen Asiens (wie auch die Stammeskulturen Afrikas)8 der Gemeinschaft Vorrang vor den Individuen einräumen und eine scharfe Trennung von Recht und Ethik nicht kennen. Das politische Gemeinwesen sei traditionellerweise eher über Pflichten als über Rechte integriert worden. Die politische Ethik kenne keine subjektiven Rechte, sondern nur Rechte, die den Individuen verliehen sind. Das gemeinschaftsbezogene, tief in der jeweiligen Tradition verankerte Ethos, das von den Individuen Ein- und Unterordnung verlangt, sei deshalb unvereinbar mit dem individualistischen Rechtsverständnis des Westens.9 8 Vgl. die parallele Stellungnahme des nigerianischen Politologen Claude Ake, The Afncan Context ofHuman Rights, in: Afnca Today, 34, 1987, y. »The idea of human rights, or legal rights in general, presupposes a society which is atomized and individualistic, a Society of endemic conflict. It presupposes a Society of people conscious of their seperatedness and their particular interests and anxious to reahze them... We put less emphasis on the individua! and more on the collectivity, we do not allow that the individual has any claims which may override that of the Society. We assume harmony, not divergence of interests, competition and conflict; we are more inclined to think of our obligations to other members of our society rather than of our claims against them.« 9 Yash Ghai, Human Rights and Governance: The Asia Debate, in: Center for Asian Pacific Affairs, Nov. 1994, 1-19 184
Mir scheint, daß die Debatte mit dieser Bezugnahme auf kulturelle Differenzen eine falsche Richtung nimmt. Gewiß läßt sich aus der Form des modernen Rechts auf dessen Funktion schließen. Subjektive Rechte sind eine Art Schutzhülle für die private Lebensführung der einzelnen Person, aber in doppelter Hinsicht: es schützt nicht weniger die gewissenhafte Verfolgung eines ethischen Lebensentwurfs wie eine von moralischen Rücksichten freigesetzte Orientierung an je eigenen Präferenzen. Diese Rechtsform paßt zu den Funktionserfordernissen von Wirtschaftsgesellschaften, die auf dezentralisierte Entscheidungen zahlreicher unabhängiger Aktoren angewiesen sind. Aber auch die asiatischen Gesellschaften setzen im Rahmen eines globalisierten Wirtschaftsverkehrs das positive Recht als Steuerungsmedium ein. Sie tun dies aus denselben funktionalen Gründen, aus denen sich diese Form des Rechts einst im Okzident gegen ältere korporative Formen der Vergesellschaftung durchgesetzt hatte. Rechtssicherheit ist z. B. eine notwendige Bedingung für einen auf Berechenbarkeit, Zurechenbarkeit und Vertrauensschutz angewiesenen Verkehr. Deshalb stellt sich die entscheidende Alternative gar nicht auf der kulturellen, sondern auf der sozioökonomischen Ebene. Die asiatischen Gesellschaften können sich nicht auf eine kapitalistische Modernisierung einlassen, ohne die Leistungen einer individualistischen Rechtsordnung in Anspruch zu nehmen. Man kann nicht das eine wollen und das andere lassen. Aus Sicht der asiatischen Länder ist die Frage nicht, ob die Menschenrechte als Teil einer individualistischen Rechtsordnung mit eigenen kulturellen Überlieferungen vereinbar sind, sondern ob die überlieferten Formen der politischen und gesellschaftlichen Integration an die schwer abweisbaren Imperative einer insgesamt bejahten wirtschaftlichen Modernisierung angepaßt werden müssen oder gegen sie behauptet werden können. 185
(2) Nun werden diese Vorbehalte gegen den europäischen Individualismus oft gar nicht in normativer, sondern in strategischer Absicht geäußert. Die strategische Absicht läßt sich daran erkennen, daß die Argumente im Zusammenhang mit der politischen Rechtfertigung des mehr oder weniger »weichen« Autoritarismus von Entwicklungsdiktaturen stehen. Das gilt insbesondere für den Streit über die Rangordnung der Menschenrechte. Die Regierungen von Singapur, Malysia, Taiwan und China pflegen ihre von westlicher Seite inkriminierten Verstöße gegen Justizgrundrechte und politische Bürgerrechte mit einem »Vorrang« sozialer und kultureller Grundrechte zu rechtfertigen. Sie sehen sich durch das - offenbar kollektiv verstandene »Recht auf wirtschaftliche Entwicklung« dazu autorisiert, die Verwirklichung liberaler Freiheits- und politischer Teilnahmerechte solange »aufzuschieben«, bis das Land einen ökonomischen Entwicklungsstand erreicht hat, der es erlaubt, die materiellen Grundbedürfnisse der Bevölkerung gleichmäßig zu befriedigen. Für eine Bevölkerung im Elend seien Rechtsgleichheit und Meinungsfreiheit eben nicht so relevant "wie die Aussicht auf bessere Lebensumstände. Ganz so umstandslos lassen sich funktionale Argumente nicht in normative ummünzen. Gewiß, für die langfristige Durchsetzung von Menschenrechten sind einige Umstände förderlicher als andere. Das rechtfertigt jedoch nicht ein autoritäres Entwicklungsmodell, wonach die Freiheit des Einzelnen dem paternahstisch wahrgenommenen und definierten »Wohl der Gemeinschaft« untergeordnet ist. In Wahrheit verteidigen diese Regierungen gar keine Individualrechte, sondern eine paternalistische Fürsorge, die ihnen erlauben soll, die im Westen als klassisch betrachteten Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf umfassenden individuellen Rechtsschutz und Gleichbehandlung, auf Glaubens-, Assoziations- und Redefreiheit einzu186
schränken. Normativ betrachtet, ist eine »vorrangige« Berücksichtigung sozialer und kultureller Grundrechte schon deshalb unsinnig, weil diese nur dazu dienen, den »fairen Wert« (Rawls), d. h. die tatsächlichen Voraussetzungen für eine chancengleiche Nutzung jener liberalen und politischen Grundrechte, zu sichern.10 (3) Mit den beiden genannten Argumenten verbindet sich oft eine Kritik an den vermuteten Auswirkungen einer individualistischen Rechtsordnung, die die Integrität der gewachsenen Lebensordnungen von Familie, Nachbarschaft und Politik zu gefährden scheint. Eine Rechtsordnung, die die Individuen mit einklagbaren subjektiven Rechten ausstattet, sei auf Konflikt angelegt und widerstreite daher der Konsensorientierung der einheimischen Kultur. Es empfiehlt sich, die prinzipielle Lesart dieser Kritik von einer politischen zu unterschieden. In prinzipieller Hinsicht steht hinter dem Vorbehalt die berechtigte Kritik an einem in der Lockeschen Tradition verwurzelten Verständnis subjektiver Rechte, das vom heute herrschenden Neoliberalismus erneuert worden ist. Dieser possessive Individualismus verkennt, daß einklagbare individuelle Rechtsansprüche nur aus vorgängig, und zwar intersubjektiv anerkannten Normen einer Rechtsgemeinschaft abgeleitet werden können. Gewiß gehören subjektive Rechte zur Ausstattung einzelner Rechtspersonen; aber der Status von Rechtspersonen als Trägern solcher subjektiven Rechte bildet sich nur im Kontext einer Rechtsgemeinschaft, die auf der gegenseitigen Anerkennung freiwillig assoziierter Mitglieder beruht. Deshalb muß das Verständnis der Menschenrechte vom metaphysischen Ballast der Annahme eines vor aller Vergesellschaf10 Vgl. meine Auseinandersetzung mit Günther Frankenberg, in: Habermas (s. Fn3), {l 187
tung gegebenen Individuums, das mit angeborenen Rechten gleichsam auf die Welt kommt, befreit werden. Mit dieser »westlichen« These entfällt aber auch die Notwendigkeit einer »östlichen« Antithese, wonach den Ansprüchen der Rechtsgemeinschaft Vorrang vor individuellen Rechtsansprüchen gebührt. Die Alternative zwischen »Individualisten« und »Kollektivisten« wird gegenstandslos, wenn man die gegenläufige Einheit von Individuierungsund Vergesellschaftungsprozessen in die Grundbegriffe des Rechts aufnimmt. Weil auch Rechtspersonen nur auf dem Wege der Vergesellschaftung individuiert werden, kann die Integrität der einzelnen Person nur zugleich mit dem freien Zugang zu jenen interpersonalen Beziehungen und zu den kulturellen Überlieferungen geschützt werden, in denen diese ihre Identität aufrechterhalten kann. Der richtig verstandene Individualismus ist ohne diesen Schuß von »Kommunitarismus« unvollständig. In politischer Hinsicht steht hingegen der Einwand gegen die desintegrativen Auswirkungen des modernen Rechts auf schwachen Füßen. Die Prozesse einer in diesen Ländern ebenso beschleunigten wie gewaltsamen ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung dürfen nicht mit rechtlichen Formen verwechselt werden, in denen sich Entwurzelung, Ausbeutung und Mißbrauch administrativer Gewalt vollziehen. Gegen die tatsächliche Oppression von Entwicklungsdiktaturen hilft nur eine Verrechtlichung der Politik. Die Integrationsprobleme, die alle hochkomplexen Gesellschaften zu bewältigen haben, lassen sich freilich mit Mitteln des modernen Rechts nur dann lösen, wenn mit Hilfe legitimen Rechts jene abstrakte Form von staatsbürgerlicher Solidarität erzeugt wird, die mit der Verwirklichung von Grundrechten steht und fällt." 11 Ghai (s. Fn 9), 10: »Governments have destroyed many communities in 188
IV. Die Herausforderung des Fundamentahsmus £)er Angriff auf den Individualismus der Menschenrechte richtet sich gegen einen Aspekt des ihnen zugrundeliegenden Begriffs von Autonomie, nämlich die Freiheiten, die den privaten Bürgern gegenüber den Staatsapparaten und gegenüber Dritten garantiert werden. Aber die Bürger sind in einem politischen Sinne erst dann autonom, wenn sie sich ihre Gesetze selber geben. Das Modell der verfassunggebenden Versammlung stellt die Weichen für eine konstruktivistische Auffassung der grundlegenden Rechte. Kant begreift Autonomie als die Fähigkeit, den eigenen Willen an normative, aus dem öffentlichen Vernunftgebrauch resultierende Einsichten zu binden. Diese Idee der Selbstgesetzgebung inspiriert auch das Verfahren einer demokratischen Willensbildung, mit dem politische Herrschaft auf eine weltanschaulich neutrale Grundlage der Legitimation umgestellt werden kann. Sie macht eine religiöse oder metaphysische Begründung von Menschenrechten überflüssig. Insofern ist die Säkularisierung der Politik nur die Kehrseite der politischen Autonomie der Bürger. Die europäische Menschenrechtskonzeption bietet den Wortführern anderer Kulturen nicht nur mit dem einen Aspekt der Autonomie - dem individualistischen Zuschnitt subjektiver Rechte - eine Angriffsfläche, sondern ebenso mit dem anderen Aspekt - der Säkularisierung einer von religiösen und kosmologischen Weltbildern entkoppelten politischen Herrschaft. Aus der Sicht eines fundathe name of development or State stabihty, and the consistent refusal of most of them to recognize that there are mdigenous peoples among their population who have a right to preserve their traditional culture, economy and beliefs, is but a demonstration of their lack of commitment to the real Community. The vitahty of the Community comes from the exercise of nghts to orgamze, meet, debate, and protest, dismissed as >liberal< nghts by these governments.« 189
mentalistisch verstandenen Islams, Christentums oder Judaismus ist der eigene Wahrheitsanspruch absolut auch in dem Sinne, daß er erforderlichenfalls mit Mitteln politischer Gewalt durchgesetzt zu •werden verdient. Diese Auffassung hat Folgen für den exklusiven Charakter des Gemeinwesens; religiöse oder weltanschauliche Legitimationen dieser Art sind unvereinbar mit der gleichberechtigten Inklusion Andersgläubiger. Allein, nicht nur für Fundamentalisten bedeutet eine profane Legitimation durch Menschenrechte, also die Entkoppelung der Politik von göttlicher Autorität, eine aufreizende Herausforderung. Auch indische Intellektuelle, wie z. B. Ashis Nandy, schreiben »antisäkularistische Manifeste«. 12 Sie erwarten die gegenseitige Tolenerung und Befruchtung islamischer und hinduistischer Glaubenskulturen eher von einer wechselseitigen Verschränkung der beiden religiösen Wahrnehmungsweisen als von der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Sie sind skeptisch gegenüber einer erklärten politischen Neutralität, die die Religion in ihrer öffentlichen Bedeutung nur neutralisiert. In solchen Überlegungen verquickt sich freilich die normative Frage, wie eine gemeinsame Grundlage für das gerechte politische Zusammenleben gefunden werden kann, mit einer empirischen Frage. Die Ausdifferenzierung einer vom Staat getrennten religiösen Sphäre mag den Einfluß privatisierter Glaubensmächte tatsächlich schwächen; aber das Toleranzprinzip selbst richtet sich nicht gegen die Authentizität und den Wahrheitsanspruch religiöser Bekenntnisse und Lebensformen, es soll allein deren gleichberechtigte Koexistenz innerhalb desselben politischen Gemeinwesens ermöglichen. 12 Partha Chacterjee, Seculansm and Toleration, in: Economu and Pohtical Weekly, July 9, 1994, 1768-1776; Rajeev Bhargava, Giving Seculansm its Due, in: Economic and Pohtical Weekly, July 9, 1994, 1984-1791 190
Der Kern der Kontroverse kann nicht als Streit über die Relevanz, die verschiedene Kulturen jeweils der Religion zubilligen, beschrieben werden. Die Konzeption der Menschenrechte war die Antwort auf ein Problem, vor dem heute andere Kulturen in ähnlicher Weise stehen wie seinerzeit Europa, als es die politischen Folgen der Konfessionsspaltung überwinden mußte. Der Konflikt der Kulturen selbst findet heute ohnehin im Rahmen einer Weltgesellschaft statt, in der sich die kollektiven Aktoren ungeachtet ihrer verschiedenen kulturellen Traditionen wohl oder übel auf Normen des Zusammenlebens einigen müssen. Denn die autarke Abschirmung gegen Einflüsse von außen ist in der heutigen Weltlage keine Option mehr. Im übrigen bricht der weltanschauliche Pluralismus auch im Inneren jener noch von starken Traditionen bestimmten Gesellschaften auf. Selbst in kulturell vergleichsweise homogenen Gesellschaften 'wird eine reflexive Umformung herrschender dogmatischer Überlieferungen, die mit Ausschließlichkeitsanspruch auftreten, immer unausweichlicher.13 Das Bewußtsein, daß die jeweils eigenen religiösen »Wahrheiten« mit öffentlich anerkanntem profanem Wissen in Übereinstimmung gebracht und gegen andere religiöse Wahrheitsansprüche innerhalb desselben Diskursuniversums verteidigt werden müssen, wächst zunächst in den intellektuellen Schichten. Wie das Christentum seit der Konfessionsspaltung, so wandeln sich unter dem Reflexionsdruck der modernen Lebensumstände die traditionalen Weltbilder überhaupt in »reasonable comprehensive doctrines«. So bezeichnet Rawls ein reflexiv gewordenes ethisches Weltund Selbstverständnis, das Spielraum läßt für die vernünftigerweise zu erwartenden Dissense mit anderen Glaubens13 H. Hoibraaten, Secular Society, in: T. Lindholm, K. Vogt (Hg.), hlamic Law Reform and Human Rights, Oslo, 1993, 231-257 191
Überzeugungen, mit denen jedoch eine Verständigung über Regeln der gleichberechtigten Koexistenz möglich ist.14 Meine apologetischen Überlegungen stellen den westlichen Legitimationstypus als eine Antwort auf allgemeine Herausforderungen dar, denen heute nicht mehr nur die westliche Zivilisation ausgesetzt ist. Das besagt natürlich nicht, daß die Antwort, die der Westen gefunden hat, die einzige oder gar die beste ist. Insofern bedeutet die gegenwärtige Debatte für uns eine Chance, uns über unsere blinden Flekken aufklären zu lassen. Schon die hermeneutische Reflexion auf die Ausgangslage eines Menschenrechtsdiskurses zwischen Teilnehmern verschiedener kultureller Herkunft macht uns auf normative Gehalte aufmerksam, die in den stillschweigenden Präsuppositionen eines jeden auf Verständigung abzielenden Diskurses enthalten sind. Unabhängig vom kulturellen Hintergrund wissen nämlich alle Beteiligten intuitiv recht gut, daß ein auf Überzeugung beruhender Konsens nicht zustande kommen kann, solange nicht symmetrische Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern bestehen - Beziehungen der gegenseitigen Anerkennung, der wechselseitigen Perspektivenubernahme, der gemeinsam unterstellten Bereitschaft, die eigenen Traditionen auch mit den Augen eines Fremden zu betrachten, voneinander zu lernen usw. Auf dieser Grundlage lassen sich nicht nur selektive Lesarten, tendenziöse Auslegungen und bornierte Anwendungen von Menschenrechten kritisieren, sondern auch jene schamlosen Instrumentalisierungen der Menschenrechte für eine universalistische Verschleierung partikularer Interessen, die zu der falschen Annahme verleiten, daß sich der Sinn der Menschenrechte in ihrem Mißbrauch erschöpfe. 14 J. Rawls, Pohtical Liberahsm, New York 1993
III. Zum Selbstverständnis der Moderne
Konzeptionen der Moderne Ein Rückblick auf zwei Traditionen
Wenn mich eine philosophische Gesellschaft einlädt, über »Konzeptionen der Moderne« zu sprechen, geht sie von der keineswegs trivialen Voraussetzung aus, daß es sich dabei um ein philosophisches Thema handelt.' Das lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den klassischen Begriff der Moderne, wie er zunächst von Hegel bestimmt und mit gesellschaftstheoretischen Mitteln von Marx, Max Weber, dem frühen Lukäcs und der älteren Frankfurter Schule entfaltet worden ist. Diese Tradition hat sich am Ende aporetisch in die Selbstbezüglichkeit einer totalisierenden Vernunftkritik verstrickt. Daher ist das Projekt einer selbstkritischen Vergewisserung der Moderne mit Hilfe eines anderen Vernunftbegriffs - dem einer sprachlich verkörperten und »situierten« Vernunft - fortgeführt worden. Aus dieser linguistischen Wende sind freilich zwei konkurrierende Auffassungen hervorgegangen: die postmoderne »Überwindung« des normativen Selbstverständnisses der Moderne einerseits, die lntersubjektivistische Umformung des klassischen Begriffs der zweideutigen Moderne andererseits.
I Ich möchte zunächst erklären, warum »die Moderne« überhaupt zu einem Thema der Philosophie geworden ist. I Vortrag vor der Koreanischen Gesellschaft für Philosophie in Seoul, Mai 1996 195
Dabei geht es genaugenommen um drei Fragen: (i) Wann und warum haben sich Philosophen für eine Deutung der spezifisch modernen Lebenslage - the modern condition interessiert? (2) Warum nimmt diese philosophische Deutung der Moderne eine vernunftkritische Gestalt an? (3) Warum tritt die Philosophie die Durchführung ihrer Interpretation an die Gesellschaftstheorie ab? (1) Das Wort »modernus« ist im späten J.Jahrhundert zunächst verwendet worden, um eine »christlich« gewordene Gegenwart von der »heidnischen« römischen Vergangenheit zu unterscheiden.2 Seitdem hat der Ausdruck die Konnotation einer absichtlichen Diskontinuierung des Neuen vom Alten. Der Ausdruck »modern« wurde in Europa immer wieder benutzt, um - mit jeweils verschiedenen Inhalten - das Bewußtsein einer neuen Epoche auszudrücken. Die Distanzierung von der unmittelbaren Vergangenheit gelingt zunächst durch den Rückbezug auf die Antike oder auf irgendeine andere als »klassisch«, d. h. nachahmenswert ausgezeichnete Periode. In dieser Weise hat sich die Renaissance, mit der nach unserem Verständnis das »moderne« Zeitalter beginnt, auf die griechische Klassik bezogen. Um 1800 setzte hingegen eine Gruppe junger Schriftsteller das Klassische in Gegensatz zum Romantischen, indem sie ein idealisiertes Mittelalter als ihre normative Vergangenheit entwarf. Auch dieses romantische Bewußtsein verrät den charakteristischen Zug eines neuen Anfangs, der sich von dem, was nun transzendiert werden sollte, absetzt. Weil mit einer in die Gegenwart hineinreichenden Tradition gebrochen werden soll, muß der »moderne« Geist diese unmittelbare Vorgeschichte entwerten und auf Abstand bringen, um sich normativ aus sich selbst zu begründen.
Wie die berühmten Querelles des Anciens et des Modernes - die Auseinandersetzungen mit den Wortführern einer klassizistischen Ästhetik im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts - zeigen, bereiten die Kunst und die ästhetische Erfahrung den Boden für das Verständnis von »Modernität«. Jede Periode hatte ihren eigenen Stil hervorgebracht, lange bevor im 20. Jahrhundert das avantgardistische Selbstverständnis der bildenden Kunst den Stilwandel beschleunigte und auf Dauer stellte. Im Bereich der Kunst kann die Intensivierung des Bewußtseins selbsterzeugter Diskontinuitäten nicht überraschen. Jedoch breitet sich mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert allgemein ein neues historisches Bewußtsein aus - und ergreift am Ende sogar die Philosophie. Hegel stellt explizit den »Bruch« mit der historischen Vergangenheit fest, den Französische Revolution und Aufklärung für die Nachdenklicheren unter seinen Zeitgenossen herbeigeführt hatten.3 Jetzt steht die »moderne« zur »alten« Welt dadurch in Gegensatz, daß sie sich radikal zur Zukunft hin öffnet. Der vorübergehende Moment der Gegenwart gewinnt dadurch Prominenz, daß er jeder Generation von neuem als Ausgangspunkt für die Erfassung der Geschichte im ganzen dient. Der Kollektivsingular »die« Geschichte ist, im Gegensatz zu den vielen Geschichten der verschiedenen Aktoren, eine Prägung des späten 18.Jahrhunderts.4 Die Geschichte wird nun als ein umfassender problemerzeugender Prozeß erfahren - und die Zeit als knappe Ressource für die Bewältigung dieser aus der Zukunft herandrängenden Probleme. Die sich überstürzenden Herausforderungen machen sich als »Zeitdruck« fühlbar. Dieses moderne Zeitbewußtsein betrifft die Philosophie 3 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, \ rankfurt/M 1985, 1 3 - 2 1
2 H R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970, 11 196
4 R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1979 197
in besonderer Weise. Bis dahin sollte sie ja, sollte Theorie überhaupt eine wahre Darstellung geben vom Wesen der Welt - von den allgemeinen, notwendigen und ewigen Zügen der Realität an sich. Sobald jedoch die Philosophie auf ihren eigenen Standort in der Geschichte reflektieren muß, erhalt die Theorie - das Erfassen der Wahrheit - einen Zeitindex. Im innerweltlichen Horizont einer Gegenwart, die die Quelle flüchtiger, kontingenter und je besonderer Ereignisse ist, verschränkt sich der Kontext der Rechtfertigung mit dem der Entdeckung. Wenn wahre philosophische Einsichten gleichwohl kontextunabhängige Gültigkeit sollen beanspruchen dürfen, muß die Philosophie diese beunruhigende Gegenwart durchdringen und auf den Begriff bringen. Sie kann die Grenzen der historischen Lage, der der philosophische Gedanke selbst entspringt, nur dadurch zu überwinden suchen, daß sie »die Moderne« als solche begreift. Hegel 'war der erste Philosoph, der dieses neue Bedürfnis, seine Zeit »in Gedanken zu erfassen«, artikuliert. Die Philosophie muß der Herausforderung der Zeit mit der Analyse der »neuen Zeit« begegnen. Aber warum soll sie, warum kann sie die Moderne in der Form einer Kritik der Vernunft begreifen? (2) Weil die Moderne sich selbst im Gegensatz zur Tradition versteht, sucht sie sozusagen Halt in der Vernunft. Auch wenn diejenigen, die sich als die Modernen verstehen, stets eine idealisierte Vergangenheit zu Nachahmung erfanden, muß jetzt eine reflexiv gewordene Moderne die Wahl dieses Modells nach eigenen Standards rechtfertigen und alles Normative aus sich selber schöpfen. Die Moderne muß sich aus der einzigen Autorität, die sie übriggelassen hat, stabilisieren, eben aus Vernunft. Denn allein im Namen der Aufklärung hatte sie die Tradition entwertet und überwunden. Aufgrund dieser Wahlverwandtschaft identifiziert Hegel das Bedürfnis der Moderne nach Selbstverge-
wisserung als »Bedürfnis der Philosophie«. Philosophie, zur Hüterin der Vernunft bestellt, begreift die Moderne als ein Kind der Aufklärung. Nun hatte sich die neuere Philosophie seit Descartes auf Subjektivität und Selbstbewußtsein konzentriert. Die Vernunft war in Begriffen der Selbstreferenz eines erkennenden Subjekts erklärt worden, das sich gleichsam auf sich selbst zurückbeugt, um seiner als eines erkennenden Subjektes wie in einem Spiegelbild ansichtig zu werden. Der Geist nimmt sich durch eine Selbstreflexion in Besitz, die das Bewußtsein als eine Sphäre nicht sowohl der Gegenstände als vielmehr der Vorstellungen von Gegenständen erschließt. Von dieser »Spekulation« macht Hegel Gebrauch, wenn er das moderne Zeitalter durch ein Prinzip der Subjektivität kennzeichnet, das Freiheit durch Reflexion sichert: »Es ist das Große unserer Zeit, daß die Freiheit, das Eigentum des Geistes, daß er in sich bei sich ist, anerkannt ist.«5 Subjektivität ist ein fundierender, in gewisser Weise ein fundamentalistischer Begriff. Sie sichert die Art von Evidenz und Gewißheit, auf deren Grundlage alles übrige bezweifelt und kritisiert werden kann. So ist die Moderne stolz auf ihren kritischen Geist, der nichts als selbstverständlich akzeptiert, es sei denn im Lichte guter Gründe. »Subjektivität« hat einen zugleich universalistischen und individualistischen Sinn. Jede Person verdient den gleichen Respekt aller. Zugleich soll sie als Quelle und als letzte Instanz der Beurteilung ihres je spezifischen Anspruchs auf Glück anerkannt werden. Insofern ist das Selbstverständnis der Moderne nicht nur durch theoretisches »Selbstbewußtsein« charakterisiert, durch eine selbstkritische Einstellung gegenüber allem Überlieferten, sondern auch durch die moralischen und 5 G.F.W. Hegel, Werke, Frankfurt/M., Bd. 20, 329 199
ethischen Ideen der »Selbstbestimmung« und der »Selbstverwirklichung«. Hegel zufolge hat dieser normative Gehalt der Moderne seinen Sitz in der Struktur der Vernunft selber und findet seine Erklärung im »Prinzip der Subjektivität«. Da Kant von der Vernunft einen selbstkritischen Gebrauch gemacht und von den Vermögen der Vernunft einen transzendentalen Begriff entwickelt hatte, kann nun aber Hegel Kants drei Kritiken als maßgebende Interpretation des Selbstverständnisses der Moderne lesen. Die Kritik der reinen Vernunft erklärt die Bedingungen der Möglichkeit einer objektivierenden Naturwissenschaft, die den menschlichen Geist von metaphysischen Illusionen befreit. Die Kritik der praktischen Vernunft erklärt, wie Personen, indem sie sich aus Einsicht selbstgegebenen Gesetzen fügen, Autonomie erwerben. Und die Kritik der Urteilskraft erklärt die notwendigen subjektiven Bedingungen einer ästhetischen Erfahrung, die sich vom religiösen Kontext unabhängig gemacht hat. Kant hatte praktische Vernunft und Urteilskraft von der theoretischen Vernunft unterschieden, ohne die formale Einheit der drei Vermögen preiszugeben. Am Ende des 18.Jahrhunderts hatten sich diese Sphären des Wissens auch schon institutionell voneinander differenziert. In den Sphären von Wissenschaft, Moral und Kunst wurden Wahrheitsfragen sowie Fragen der Gerechtigkeit und des guten Geschmacks unter je verschiedenen Geltungsaspekten, aber unter denselben diskursiven Bedingungen einer »Kritik« erörtert. Weil Kant die korrespondierenden Vernunftvermögen als Bestandteile der transzendentalen Subjektivität untersucht hatte, brauchte Hegel nicht zu zögern, auch diese kulturellen Sphären von Wissenschaft und Forschung, Moral und Recht, Kunst und Kunstkn-tik als »Verkörperungen« des Prinzips der Subjektivität zu begreifen. Diese Objektivationen boten sich
einer Kritik der Vernunft ebenso an wie die Vermögen selbst. (3) Wir verstehen nun, warum das Thema »Moderne« für die Philosophie überhaupt Relevanz erhalten hat und •warum es unter vernunftkritischen Gesichtspunkten analysiert worden ist. Darüber hinaus erklärt das neue Zeitbewußtsein die Art von »Krise«, auf die sich die kritische Selbstvergewisserung der Moderne bezieht. »Kritik und Krise«6 wird zum Modell für diese Analyse, weil sich das moderne Bewußtsein mit der Herausforderung konfrontiert sieht, mit Problemen fertig zu werden, die aus einem sich stetig erweiternden Horizont möglicher, immer kühner antizipierter Zukünfte auf eine um so stärker beunruhigte Gegenwart einstürmen. Vor allem eins wird als »kritisch« erfahren - die wachsende gesellschaftliche Komplexität. Diese geht nämlich Hand in Hand mit einer Differenzierung und zugleich Enttraditionalisierung einer Lebenswelt, die auf verwirrende Weise ihre kontingenz-absorbierenden Züge von Vertrautheit, Transparenz und Zuverlässigkeit einbüßt. Aus dieser defensiven Perspektive wird die »hereinbrechende« Moderne zunächst als Angriff auf die Sittlichkeit einer sozial integrierten Lebensform wahrgenommen - als eine Stoßkraft sozialer Desintegration. Auf der Folie von »Kritik und Krise« kann Hegel Kants Vernunftkritik als eine lehrreiche, aber unvollständige, insofern nur symptomatische Deutung des rationalen Wesens der modernen Welt begreifen. Hegel muß die Züge des kantischen Spiegelbildes der Moderne, die auf der Rückseite des Spiegels verborgen bleiben, erst noch dechiffrieren. Kant hatte innerhalb der Vernunft diejenigen Differenzierungen herausgearbeitet, denen in der Kultur die Sphären von Wis6 Vgl. die gleichnamige Dissertation von R. Koselleck, Kritik und Krise Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959
senschaft, Moral und Kunst entsprachen. Aber aus Hegels Sicht hatte er die Kehrseite dieser produktiven Unterscheidungen nicht bemerkt. Was auf der diskursiven Ebene Differenzierungsgewinne waren, wurde innerhalb des Horizonts sittlich integrierter Lebenswelten als ebenso viele »Entzweiungen« eines intuitiven Ganzen erfahren. Kant hatte die schmerzliche Abstraktion ebenso verkannt wie das Bedürfnis nach Wiederherstellung der vorgängigen Totalität auf einer höheren Stufe. Aus dieser Perspektive erweist sich das zunächst gefeierte Prinzip der Subjektivität, und die mit ihm gesetzte Struktur des Selbstbewußtseins, als eine bloß selektive Ansicht der Vernunft, die nicht mit dem Ganzen der Vernunft identifiziert werden darf. Gewiß, die Verstandestätigkeit bringt subjektive Freiheit und Reflexion hervor, ist kräftig genug, um die Traditionsmacht der Religion zu untergraben. In der Vergangenheit war die Religion im wesentlichen der Garant der sittlichen Integration des gesellschaftlichen Lebens gewesen, und in der Gegenwart ist das religiöse Leben durch die Aufklärung erschüttert worden. Dabei zeigt sich aber, daß das Prinzip der Subjektivität unfähig ist, im Medium der Vernunft die einigende Kraft der Religion zu erneuern. Gleichzeitig ist die religiöse Orthodoxie über der geistlosen Abwehr einer abstrakten Aufklärung zu einer Positivität geronnen, die die Religion ihrer Bindungsenergien beraubt.7 So erscheint die Kultur der Aufklärung aus Hegels Sicht nur als Gegenstück zur positiv erstarrten Religion. Indem sie Reflexion und Zweckrationahtät an die Stelle der Vernunft setzt, betreibt sie Vernunftidolatrie. Auf diese Weise entdeckt der junge Hegel denselben »Positivismus« auch in den anderen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen, 7 Vgl. Th.M.Schmidt, Anerkennung und absolute Religion, Stuttgart 1-997
in denen sich das Prinzip der Subjektivität verkörpert hat in der empiristischen Wissenschaft und der abstrakten Moralität ebenso wie in der romantischen Kunst, im possessiven Individualismus des bürgerlichen Formalrechts und der Marktökonomie ebenso wie in der instrumenteilen Ivlachtpolitik der großen Mächte. Die »Positivität« entfremdender Institutionen und verdinglichter sozialer Beziehungen entlarvt das Prinzip der Subjektivität als eines der Repression, die nun als die verschleierte Gewalt der Vernunft selber auftritt. Der repressive Charakter der Vernunft gründet in der Struktur der Selbstreflexion, d. h. in der Selbstreferenz eines erkennenden Subjekts, das sich selbst zum Objekt macht. Dieselbe Subjektivität, die zunächst als Quelle von Freiheit und Emanzipation erschienen war - »erscheinen« im doppelten Sinne von Manifestation und Täuschung -, enthüllt sich als Ursprung einer wildgewordenen Objektivation. Hegel erkennt in der - allerdings unverzichtbaren - analytischen Kraft der Reflexion auch eine Gewalt, die, wenn sie sich von den Zügeln der Vernunft losmacht, ringsum alles vergegenständlicht, d. h. in Gegenstände möglicher Manipulation verwandelt. Die sich selbst überlassene »Reflexion« läßt entzweite organische Ganzheiten in ihre isolierten Teile zerfallen. Sie zerlegt intersubjektive Beziehungen in die reziprok beobachteten Handlungsfolgen zweckrational entscheidender Aktoren in der Weise, daß die vereinzelten Individuen von den Wurzeln ihrer gemeinsamen Herkunft abgeschnitten werden. Allerdings muß sich Hegel selbst auf Reflexion einlassen. Er muß sich in deren Medium bewegen, um die Negativität einer Verstandestätigkeit zu denunzieren, die den Platz der Vernunft bloß usurpiert hat. Er kann die Grenzen der instrumentellen Vernunft selbst nur reflexiv aufzeigen. Nur indem Hegel einen Akt der höherstufigen Reflexion vollzieht, kann er deren 203
Grenzen transzendieren. So wird der eigene Gedanke performativ in die Bewegung der Dialektik der Aufklärung hineingezogen. Wiederum ist es die Vernunft selbst, aus der eine vorbildlose, zukunftsoffene, neuerungssüchtige Moderne einzig ihre Orientierung gewinnen kann. Weil sich die Moderne derart in offenen Zukunftshorizonten bewegt, kann das der Dialektik der Aufklärung eingeschriebene Telos zunächst nicht mehr sein als ein Versprechen. Hegel war sich über das Desiderat im klaren, daß die Einbildung der Vernunft in die Realität erst noch historisch nachzuweisen war. Nicht der kritische Blick auf die Moderne trennt den reifen Hegel vom jungen. Die Problemstellung, die ich in gebotener Vereinfachung skizziert habe, ist dieselbe; aber erst der reife Hegel macht sich an die Durchführung des Programms. Er muß beides erfassen, sowohl die antagonistischen Erscheinungsformen der sozialen Desintegration als auch die geschichtlichen Entwicklungen und die Mechanismen, aus denen sich eine Überwindung gegenläufiger Tendenzen, die Auflösung hartnäckiger Konflikte verständlich machen läßt. Die Philosophie des Rechts ist dann der Versuch, die ambivalenten Verkörperungen der Vernunft in der Gesellschaft, d. h. in den sozialen Ordnungen der Familie, der Marktwirtschaft und des Nationalstaats, auf den Begriff zu bringen. Die Sphäre des Sozialen - was wir heute »Gesellschaft« nennen - hat sich allererst unter dem Gesichtspunkt einer Dialektik der Aufklärung als jener zutiefst zweideutige Phänomenbereich erschlossen, der nach einer kritischen Deutung verlangt.8 Aus diesem Grunde ist die Philosophie auf eine Gesellschaftstheone angewiesen, die ihr zeitdiagnostisches Forschungsprogramm, im Rahmen der philosophischen Vorgabe einer 8 S. Landshut, Kritik der Soziologie Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie, in: ders., Kritik der Soziologie, Neuwied 1969 204
Dialektik der Aufklärung, mit eigenen Methoden durchführt-9
II Die Probleme jener folgenreichen Arbeitsteilung, die sich während des beginnenden 20. Jahrhunderts zwischen Philosophie und Soziologie im Rahmen der von Hegel konzipierten Gegenwartsanalyse eingespielt hat, möchte ich wiederum in drei Schritten behandeln. Ich will (1) kurz daran erinnern, daß Max Webers Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung der Fragestellung einer »Dialektik der Aufklärung« verpflichtet ist. In welchem Sinne diese Zeitdiagnose in eine Sackgasse führt, zeigt sich an den aporetischen Konsequenzen der älteren Kritischen Theorie, die unter den Prämissen des westlichen Marxismus Max Webers Forschungsprogramm fortgeführt hat. In meiner stark vereinfachenden Rekonstruktion bezeichnet (2) das Ende dieser Theorieentwicklung zugleich das Ende der zeitdiagnostischen Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Soziologie. Während sich die Theorie rationaler Wahl und die Systemtheorie sozusagen den empirischen Erklärungsanspruch des Programms zu eigen machen, setzt der Postmodernismus, indem er sich der von Heidegger und Wittgenstein entwickelten Konzeptionen der Vernunftkritik bedient, die Kritik der Moderne mit anderen Mitteln fort. Aber diese Ansätze begegnen (3) 9 H. Marcuse, Vernunft und Revolution, Neuwied 1967. Die klassischen Gesellschaftstheonen verstehen sich als Antworten auf die Krisentendenzen ihrer Gegenwart; vgl. dazu J. Habermas, Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971, 290 - 306; siehe auch meine Abhandlung zur Soziologie in der Weimarer Republik in: J. Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt/M 1991, 184-204 205
ihren eigenen Schwierigkeiten. Postmoderne Theorien begeben sich der Kriterien, anhand deren wir die universalistischen Errungenschaften von den kolonialisierenden Zügen der Moderne unterscheiden können. Das weitere Problem der sogenannten Inkommensurabihtät von Sprachspielen und Diskursen wird uns veranlassen, im letzten Teil der Vorlesung einen alternativen Weg einzuschlagen. (i) Max Weber stellt die europäische Modernisierung in den Zusammenhang eines weltgeschichtlichen Prozesses der Entzauberung.10 Wie Hegel beginnt er mit der Transformation und Auflösung umfassender religiöser Weltbilder, die ihre sinnstiftende Orientierungskraft verlieren. Aus der Rationalisierung der abendländischen Kultur ergibt sich die bekannte Differenzierung zwischen »Wertsphären«. Im Gefolge von Rickerts Neukantianismus geht Weber davon aus, daß jede dieser Sphären - Wissenschaft, Recht und Moral, Kunst und Kritik - einer jeweils eigenen Logik von Tatsachen-, Gerechtigkeits- und Geschmacksfragen gehorcht. Konflikte zwischen diesen Wertsphären können nicht mehr rational, vom höheren Standpunkt eines religiösen oder kosmologischen Weltbildes aus, beigelegt werden. Aber ebensowenig kann die Einheit eines von der Gesellschaft intersubjektiv geteilten Weltbildes, im Namen von objektivierender Wissenschaft oder Vernunftmoral, durch die einigende Kraft der theoretischen oder praktischen Vernunft ersetzt werden. Weber konzentriert sich auf den Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung, der durch das Tandem von Verwaltungsstaat und kapitalistischer Wirtschaft vorangetrieben wird. Auf der Grundlage der funktionalen Differenzierung io Zu der im folgenden stark stilisierenden Darstellung der Weberschen Zeitdiagnose vgl. ausführlicher J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981, Bd. 1, 225-366 206
von Staat und Wirtschaft ergänzen sich beide Seiten - ein von Steuerressourcen abhängiger Verwaltungsapparat und eine privatrechtlich institutionalisierte Marktwirtschaft, die ihrerseits von staatlich garantierten Rahmenbedingungen und Infrastrukturen abhängt. Die institutionellen Kerne der beiden Bereiche - staatliche Bürokratie und Unternehmensorganisation - betrachtet Weber als die erklärungsbedürftigen evolutionären Errungenschaften der gesellschaftlichen Moderne. Zusammen mit dem positiven Recht sind sie sozusagen die Schrittmacher der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Erklärung, die Weber anbietet, erinnert an Hegel. Während dieser die signifikanten Bereiche moderner Gesellschaften als Verkörperungen einer subjektzentrierten Vernunft begriffen hatte, versteht Weber die Modernisierung der Gesellschaft als eine Institutionalisierung zweckrationalen Handelns vor allem in den beiden dynamischen Kernsektoren von Staat und Wirtschaft. Für Weber gilt eine Organisation in dem Maße als »rational«, wie sie ihre Mitglieder instandsetzt und dazu anhält, zweckrational zu handeln. Die beiden zentralen Organisationen scheinen unter diese Beschreibung zu fallen - auf der einen Seite die moderne Staatsanstalt, die eine rechtlich kalkulierbare, weil zuverlässige und effiziente Arbeitsteilung zwischen kompetent geschulten und hoch spezialisierten Fachbeamten implementiert, auf der anderen Seite das kapitalistische Unternehmen, das für eine wirtschaftliche Allokation der Produktionsfaktoren sorgt und dem Druck von Wettbewerb und Arbeitsmarkt mit einer Steigerung der Arbeitsproduktivität begegnet. Kurzum, der bürokratische Staat ist auf das fachkompetente und zweckrationale Verwaltungshandeln der Beamten, die marktwirtschaftliche Produktionsweise auf die rationale Wahl und die qualifizierte Arbeitskraft von Managern und Arbeitern zugeschnitten. Für die Motivationsgrundlage 207
der Eliten, die die neuen Institutionen tragen, entwickelt Weber das bekannte Argument einer Wahlverwandtschaft zwischen protestantischen Sekten und dem Geist des Kapitalismus. Dieser historische Anfangszustand stellt freilich nur die Weichen für einen selbstdestruktiven Entwicklungszyklus, den Weber nach dem Muster einer - allerdings stillgestellten - Dialektik der Aufklärung analysiert. Im Gefolge des Zerfalls traditionaler Weltbilder und einer daraufhin einsetzenden Rationalisierung der Kultur verbreiten sich privatisierte Glaubenseinstellungen und eine internalisierte Gewissensmoral. Zumal die »protestantische Ethik« fördert eine rationale Lebensführung und sichert dadurch eine wertrationale Verankerung zweckrationaler Verhaltensweisen. Aber im Verlaufe der fortschreitenden Modernisierung hat sich dann die Organisationsrationahtät der immer -weiter verselbständigten administrativen und ökonomischen Handlungsbereichc von dieser motivationalen Grundlage religiöser Wertorientierungen gelöst. Die evolutionär neuen, rechtlich konstituierten Handlungsbereiche, die zunächst die Emanzipation der Einzelnen aus den korporativen Vergemeinschaftungen der vormodernen wie der frühbürgerlichen Gesellschaft möglich gemacht hatten, verwandelten sich schließlich in das, was Weber als »stählernes Gehäuse« beklagt. Marx hatte schon höhnisch den ambivalenten Sinn registriert, den der Begriff »Freiheit« im Ausdruck »freie Lohnarbeit« annimmt - frei von feudalen Abhängigkeiten, aber auch frei für das kapitalistische Schicksal von Ausbeutung, Armut und Arbeitslosigkeit. Angesichts der wachsenden Komplexität verselbständigter Handlungssysteme beobachtet Weber nun überall eine Konversion von Freiheiten in Disziplinen. Ausgehend von den disziplinierenden Zwängen der Bürokratisierung und Verrechtlichung entwirft er das schwarze Bild einer verwalteten Gesellschaft. 208
Im Unterschied zu Hegels Diagnose wird die Dialektik der Aufklärung gleichsam angehalten und bleibt unvollendet. Denn gegenüber dem »Charisma der Vernunft« bleibt Weber skeptisch. Ohne Rekurs auf die Bewegung einer totalisierenden Vernunft sieht er keinen Ausweg für eine Bewältigung der sozialen Desintegration und für den Übergang zu einer weniger fragmentierten und friedlicheren Gesellschaft. Aus seiner Sicht können die »Entzweiungen« einer instrumenteilen Vernunft, die die ganze Gesellschaft durchdringen, nicht innerhalb der Sphäre der Gesellschaft selbst überwunden werden. Weber versteht »Freiheitsverlust« und »Sinnverlust« als existentielle Herausforderungen für einzelne Personen. Jenseits der vergeblichen kollektiven Hoffnung auf Versöhnung innerhalb der sozialen Ordnungen selbst bleibt nur die absurde Hoffnung eines trotzigen Individualismus. Allein dem starken, auf sich gestellten Subjekt kann es in glücklichen Fällen gelingen, der rationalisierten und damit zerrissenen Gesellschaft einen einheitsstiftenden Lebensentwurf entgegenzusetzen. Mit dem heroischen Mut des Verzweifelten kann das entschlossene Individuum im Anblick der unlösbaren sozialen Konflikte Freiheit bestenfalls privat, in der eigenen Lebensgeschichte verwirklichen. Diese Vision der verwalteten Gesellschaft ist in der Tradition des westlichen Marxismus von Lukäcs bis Adorno noch einmal radikalisiert worden. Aus dieser Perspektive erscheint die Hoffnung auf die Widerstandskraft des starken Einzelnen nur noch als Residuum einer vergangenen liberalen Epoche. Wie dem auch sei, die frühe kritische Theorie hat sich der Mittel der analytischen Sozialpsychologie bedient, um die Annahme zu verteidigen, daß die jeweils herrschenden Sozialisationsmuster die funktionalen Imperative des Staates und der Ökonomie von der Ebene der Institutionen auf die Ebene der Persönlichkeitsstruk209
turen übertragen.11 Die zeitgeschichtlichen Erfahrungen mit Faschismus und Stalinismus bestätigten das so entstehende Bild einer totalitär integrierten Gesellschaft. Diese hat den Widerstand der heroischen, im stählernen Gehäuse bloß gefangengehaltenen Individuen längst gebrochen und kann mit der Willfährigkeit der übersozialisierten, an ihre disziplinäre Matrix angepassten Subjekte rechnen. Kulturindustrie und Massenmedien gelten als die augenfälligsten Instrumente der gesellschaftlichen Kontrolle, während Wissenschaft und Technik als hauptsächliche Quelle einer die Gesellschaft im ganzen durchdringenden instrumenteilen Rationalität erscheinen. Die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno kann man als eine Rückübersetzung der Weberschen Thesen in die Sprache der Hegelmarxistischen Geschichtsphilosophie verstehen. Sie führt den Ursprung der instrumentellen Vernunft auf den Augenblick der ersten Trennung des subjektiven Geistes von der Natur zurück. Andererseits besteht eine offensichtliche Differenz zu Hegel. Bei diesem bleibt die Herrschaft von Reflexion oder Verstand nur ein Moment in der Bewegung einer totalisierenden, sich selbst einholenden Vernunft. Bei Horkheimer und Adorno hat die subjektive Rationalität, die die äußere wie die innere Natur im ganzen instrumentalisiert, den Platz der Vernunft endgültig besetzt, so daß Vernunft erinnerungslos in »instrumenteller Vernunft« aufgeht. Diese Identifikation läßt die instrumentelle Vernunft ohne eine intrinsische, in ihr selbst verwurzelte Gegenkraft. Eine gegenstrebige Tendenz äußert sich nur noch im Eingedenken der »mimetischen« Kräfte. Mimetisch nennen Benjamin und Adorno die sehnsüchtigen Klagen einer unterdrückten und verstümmelten Natur, die ihrer eigenen Stimme bei i Ebd , 455- 518 210
raubt ist, sich aber in der Sprache der avantgardistischen Kunst zu Wort meldet. Die ambivalenten Züge sind aus dem einebnenden Bild einer totalitären Moderne weitgehend getilgt. Der Hegelschen Dialektik der Aufklärung ist die Spitze abgebrochen. Schlimmer noch, indem sich die instrumentelle Rationalität zu einem unvernünftigen Ganzen aufbläht, verstrickt sich die Kritik des unwahren Ganzen in eine Aporie. Sobald die Kritik der instrumenteilen Vernunft nicht mehr im Namen der Vernunft selbst durchgeführt werden kann, verliert sie, und damit die Kritik der Moderne, eine eigene normative Grundlage. Adorno hat aus der Not der Aporie, deren sich eine selbstbezügliche Kritik gleichsam im Vollzug inne wird, die Tugend der Negativen Dialektik gemacht. Er ist dem Unternehmen einer eingestandenermaßen paradoxen, einer »bodenlosen« Kritik treu geblieben, indem er genau die Bedingungen dementiert, die erfüllt sein müßten, damit das Geschäft der in actu ausgeübten Kritik möglich wird. (2) Angesichts dieser Schwierigkeit lag es nahe, den einen oder den anderen Teil des ursprünglichen Projektes aufzugeben. Die eine Seite, die eine Theorie der gesellschaftlichen Moderne weiter verfolgt, gibt die philosophische Idee einer selbstkritischen Vergewisserung der Moderne auf, während die andere Seite, die die philosophische Kritik fortführt, die Dialektik der Aufklärung und die Verbindung zur Gesellschaftstheorie preisgibt. Das Ende der kooperativen Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Gesellschaftstheorie bedeutet die Entkoppelung eines kritischen Selbstverständnisses der Moderne von der empirischen Beobachtung und deskriptiven Erfassung ihrer gesellschaftlichen Krisentendenzen. Die deskriptiven Ansätze behalten von der klassischen Konzeption der Moderne eine Grundannahme bei. Sie gehen nämlich davon aus, daß moderne Gesellschaften den ei211
nen oder anderen Rationalitätstypus verkörpern. Das gilt jedenfalls für die beiden erfolgreichsten soziologischen Ansätze der Gegenwart, für die Theorie rationaler Wahl und die Systemtheorie. Sie konzentrieren sich jeweils auf einen der beiden Rationahtätsaspekte, die Max Weber ingeniös miteinander verknüpft hatte - einerseits auf die Zweckrationalität einzelner Aktoren, andererseits auf die funktionale Rationalität großer Organisationen. Innerhalb der Grenzen eines methodologischen Individualismus versucht die Theorie rationaler Wahl, Interaktionsmuster aus den Entscheidungen von »rational« handelnden Subjekten zu erklären. Die Systemtheorie läßt sich andererseits auf einen kollektivistisch zugeschnittenen Theorierahmen ein und reformuliert das, was Weber als Organisationsrationalität betrachtete, in den funktionalistischen Begriffen der Selbstregulation oder der Autopoiesis. So gelangt man zu zwei konkurrierenden Bildern. Für die eine Seite bestehen moderne Gesellschaften aus locker gewebten Netzwerken, die aus der Interferenz der zahllosen, von je eigenen Präferenzen geleiteten Entscheidungen mehr oder weniger rationaler Aktoren hervorgehen. Für die andere Seite zerfallen moderne Gesellschaften in eine Vielzahl unabhängig operierender, selbstreferentiell geschlossener Systeme, die Umwelten für einander bilden und nur indirekt, über wechselseitige Beobachtungen, miteinander kommunizieren. Wegen des völligen Fehlens von intersubjektiv geteilten Werten, Normen und Verständigungsprozessen ähneln beide Visionen in der einen oder anderen Hinsicht Max Webers Konzeption der verwalteten Welt. Allerdings gelten solche Züge nun nicht mehr als Indikatoren von Sinn- und Freiheitsverlust oder fehlender sozialer Integration. Deskriptive Theorien lassen ja für Bewertungen keinen Raum; sie suggerieren nur insofern eine affirmative Einstellung, als die zugrundeliegenden Rationalitätsbegriffe, die für die
Wahl des jeweiligen theoretischen Rahmens konstitutiv sind, der Reflexion und jedem Zweifel entzogen sind. Ein kritisches Selbstverständnis der Moderne erfordert e in anderes Herangehen. Dafür bieten Heidegger und Wittgenstein einen alternativen Begriff von Vernunft und ein neues Verfahren der Vernunftkntik an. Beide gelangen jeweils auf ihre Weise zu einer Kritik der subjektzentrierten Vernunft, die sich nicht länger auf die totalisierende Kraft der Hegeischen Vernunft und deren Dialektik verläßt. In destruktiver Hinsicht weisen sie wiederum eine wildgewordene instrumentelle Vernunft in ihre Schranken. Die Vernunft wird wiederum mit den Operationen eines vergegenständlichenden und manipulierenden Verstandes gleichgesetzt, mit »vorstellendem Denken« und philosophischer Abstraktion, mit der Verfügungsgewalt und der Disziplin einer sich selbst behauptenden und narzißtisch ihrer selbst bemächtigenden Subjektivität. Aber in konstruktiver Hinsicht wird an Seins- oder Naturgeschichte, an »das Andere der Vernunft« appelliert. Obwohl sich der Akzent von den sozioökonomischen und politischen Erscheinungen auf die kulturellen Phänomene verlagert, ist Heideggers Kritik von Wissenschaft und Technik, von Naturausbeutung, Massenkultur und anderen Ausdrucksformen des totalitären Zeitalters ein Gegenstück zu der Verdinglichungskritik des westlichen Marxismus. In Deutschland waren im Gefolge der einflußreichen Geisteswissenschaften Historismus und Lebensphilosophie entstanden und hatten die Annahme einer invarianten transzendentalen Ausstattung des erkennenden Subjekts erschüttert. Schon zu Diltheys Zeiten fielen die mentalistischen Grundbegriffe von Subjektivität und Selbstbewußtsein, Rationalität und Vernunft einer Art Detranszendentalisierung zum Opfer. Mit der Wende von der transzendentalen Untersuchung zur Hermeneutik wurden 213
die Weichen für eine symbolisch verkörperte, in kulturelle Kontexte eingelassene, historisch situierte Vernunft gestellt. Jene weltbildende Spontaneität, die bis dahin das transzendentale Bewußtsein ausgezeichnet hatte, ging über auf symbolische Formen (Cassirer), Stile (Rothacker) Weltbilder (Jaspers) oder sprachliche Regelsysteme (Saussure). Kant hatte die Vernunft als das Vermögen der Ideen begriffen, die die Mannigfaltigkeit des unendlich Vielen zu einer Totalität ergänzen. Die Ideen entwerfen einerseits das Ganze von möglichen, nach kausalen Gesetzen in Raum und Zeit verknüpften Erscheinungen. Andererseits sind sie für ein Reich von Zwecken als Gesamtheit von intelligiblen, nur ihren selbstgegebenen Gesetzen unterworfenen Wesen konstitutiv. Mit der Hegeischen Kantkritik haben die Ideen darüber hinaus die Kraft zu einer reflexiven Selbsteinholung ihrer eigenen Objektivationen und damit zur bewußten Reintegration der auf immer höheren Stufen fortschreitenden Differenzierung erworben. Die großgeschriebene Vernunft gab nun dem Weltprozeß im ganzen die Struktur eines Ganzen von Ganzheiten. Demgegenüber rekonstruiert Heidegger die Geschichte der Metaphysik als eine schicksalhafte Folge epochaler Welterschließungen, die einen Spielraum für die jeweils möglichen Interpretationen und Handlungsweisen in der Welt festlegen.12 In die Syntax und in das Vokabular der Sprachen, die jeweils in einem metaphysischen Zeitalter vorherrschen, sind Ontologien eingebaut. Und diese bestimmen wiederum den Umkreis wie auch die Infrastruktur der Welten, innerhalb deren sich die Sprachgemeinschaften jeweils vorfinden. Sie kategorisieren, mit anderen Worten, das holistische Vorverständnis der Angehörigen, 12 C. Lafont, Sprache und Welterschließung, Frankfurt/M. 1994 214
Jas allem, was ihnen irgend in der Welt begegnen kann, eine Bedeutung a priori verleiht. Die sprach- und handlungsfähigen Subjekte können die innerwelthchen Vorkommnisse nur durch die tiefengrammatisch eingestellten Linsen dieser vorontologischen Auslegung der Welt betrachten und feststellen, was welche Relevanz hat und wie es sich den vorgezeichneten Kategorien möglicher Beschreibung fügt. Wie sie etwas in der Welt wahrnehmen und mit ihm zurechtkommen, hängt von der Perspektive der sprachlichen Welterschließung ab, gleichsam von dem Licht, mit dem der sprachliche Scheinwerfer alles illuminiert, was sich in der Welt überhaupt ereignen kann. Das ist eine optische Metapher für den Rahmeneffekt der Grundbegriffe und semantischen Verknüpfungen, der Relevanzen und Rationalitätsstandards. Für jede Sprachgemeinschaft legen die im weiteren Sinne grammatischen Strukturen im vorhinein fest, welche Äußerungen als wohlgeformte, sinnvolle oder gültige Äußerungen zählen dürfen. Im Hinblick auf ihre welterschließende Funktion begreift Heidegger Sprache als ein Ensemble von ermöglichenden Bedingungen, die, ohne selber rational oder irrational zu sein, a priori bestimmen, was denen, die sich innerhalb ihres grundbegrifflichen Horizonts bewegen, als rational oder irrational erscheint. Darin stimmt Wittgenstein mit Heidegger mehr oder weniger überein. So stellt es sich jedenfalls aus der Sicht eines Kontextualismus dar, der rückblickend die Konvergenzen zwischen den beiden Denkern betont.13 Mit seinem Konzept der Sprachspiele konzentriert sich Wittgenstein ebenfalls auf die Funktion der Welterschließung. Aufgrund der internen Beziehung zwischen Sprechen und Handeln ist die »Grammatik« einer Sprache auch für eine entsprechende 13 Sehr früh, namhch 1962, erkennt das bereits K.-O. Apel in seiner Kieler Antrittsvorlesung über Wittgenstein und Heidegger, vgl. ders., Transformation der Philosophie, Bd. i, Frankfurt/M. 1973, 225-275 215
Praxis oder Lebensform konstitutiv. Wittgenstein und Heidegger machen es der philosophischen Tradition bzw. der Metaphysik zum Vorwurf, diese Dimension der sprachlichen Welterzeugung zu ignorieren. Die Ablehnung der »platonistischen« Irrtümer bildet den gemeinsamen Ausgangspunkt für das, was sie nun - in einem ganz neuen Sinne unter Kritik der Vernunft verstehen. Nach Heidegger machen sich Plato und der Piatonismus der »Seinsvergessenheit« schuldig. Sie »vergessen« den sinnstiftenden Hintergrund des ontologischen Vorverständnisses, das jeweils für eine geschichtlich spezifische Rolle von Rationalität und Vernunft den Kontext bildet. Nach Wittgenstein gewinnt die idealistische Tradition ihre Grundbegriffe durch die Abspaltung vom Kontext jener sprachlichen Praktiken, in denen sie ihren angemessenen Platz finden und »funktionieren«. Die metaphysischen Begriffe einer selbstgenügsamen Vernunft, die sich insofern für absolut hält, als sie noch ihre eigenen Bedingungen unter Kontrolle zu haben glaubt, verdanken sich abstraktiven Fehlschlüssen. Für Heidegger wie für Wittgenstein erreicht der transzendentale Schein einer unbedingten und reinen, kontextunabhängigen und allgemeinen Vernunft im mentalistischen Paradigma den Höhepunkt der Verblendung. Aber im Gegensatz zu Hegel kann sich die Kritik dieser subjektzentrierten oder instrumenteilen Vernunft nicht mehr arglos der spekulativen Bewegung der Selbstreflexion anvertrauen. Die Vernunftkritik verwandelt sich vielmehr in eine Hermeneutik des Verdachts, die im Rücken der Vernunft das Andere der Vernunft entlarven will. Nur auf diesem genealogischen Wege wird eine zum Idol erhobene Subjektivität in jenen geschichtlichen Kontext der eigenen Herkunft zurückversetzt, den die abstrakte Vernunft als ihr Unbewußtes vor sich selbst verbirgt. Verschiedene postmoderne Theorien machen sich diese rekontextualisierende Vernunftkritik in der einen oder an216
deren Version zu eigen. Weil sie Vernunft mit den Operationen des Verstandes identifizieren, behalten sie von der Autorität der vergangenen metaphysischen Begriffe einer uin faßenden Vernunft nichts zurück - auch nicht jenen Stachel der Erinnerung, der Adorno quak, wenn er im letzten Satz seiner Negativen Dialektik einer entthronten Metaphysik »im Augenblick ihres Sturzes« seine Solidarität bezeugt. So undifferenziert sehen es vielleicht nicht die Meister, aber die Schüler, die die postmoderne Kritik der Vernunft direkt und vorbehaltlos gegen die Aufklärung und ihre Dialektik in Stellung bringen. Diese Vernunftkritik soll nicht nur das Götzenbild einer unbedingten und reinen Vernunft zerstören, sondern die Ideen von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ihrer normativen Verbindlichkeit berauben. Sie soll nicht nur die falschen Prätentionen der Vernunft entlarven, sondern Vernunft als solche entmachtigen. Die Attacke auf den »Geist der Moderne« soll die Menschheit von der Präokkupation heilen, sie stehe vor der Herausforderung, den Problemdruck von zu vielen zu ausgreifend antizipierten Zukunftsmöglichkeiten zu bewältigen. Der »locus of control« verlagert sich von den überforderten Subjekten entweder auf die schicksalhaften Ereignisse einer Geschichte des Seins oder auf die zufälligen Vernetzungen einer Naturgeschichte der Sprachspiele. (3) An dem heilsamen Einfluß des Postmodernismus auf die gegenwärtigen Debatten habe ich keinen Zweifel. Die Kritik an einer Vernunft, die dem Ganzen der Geschichte eine Teleologie unterschiebt, ist ebenso überzeugend wie die Kritik an der lächerlichen Prätention, aller gesellschaftlichen Entfremdung ein Ende zu bereiten. Die Betonung von Fragmentierung, Riß und Marginalisierung, von Andersheit, Differenz und Nicht-Identischem sowie der Blick für die Besonderheiten des Lokalen und des Ein217
zelnen erneuern Motive der alteren Kritischen Theorie, vor allem Benjamins. Sofern sie den Widerstand gegen die Kräfte des abstrakt Allgemeinen und der Uniformierung stärken, nehmen sie auch Hegels Motive wieder auf. Aber diese willkommenen Konsequenzen verdanken sich fragwürdigen Prämissen, die, wenn sie zuträfen, einen hohen Preis fordern würden. Ich möchte zunächst zwei Schwächen kommentieren: (a) eine bestimmte Art des sprachlichen Idealismus und (b) das fehlende Verständnis für die universalistischen Errungenschaften der Moderne. (a) Die rekontextualisierende Vernunftkritik stützt sich auf eine Analyse der welterschließenden Funktion der Sprache. Das erklärt eine gewisse Neigung, die Bedeutung von Grammatiken und Vokabularen für die Konstitution gesellschaftlicher Infrastrukturen zu überschätzen. Heidegger hatte schon Texte und Traditionen der abendländischen Metaphysik mit der einzigartigen Macht ausgestattet, aufgrund eines vorgeschossenen Kategoriennetzes oder Begriffsschemas nicht nur die Alltagserfahrungen und -theorien, sondern allgemein die kulturellen und gesellschaftlichen Praktiken ganzer Epochen zu durchdringen und zu strukturieren. Auf diese Weise sollte sich die hintergründige Geschichte der abendländischen Metaphysik in der vordergründigen Weltgeschichte widerspiegeln. Eine ähnliche, wenn auch weniger dramatische Angleichung liegt nahe, wenn Wittgenstein die Struktur von Lebensformen mit der Grammatik von Sprachspielen gleichsetzt. Anders als in der klassischen Gesellschaftstheorie werden Interaktionsmuster, institutionelle Ordnungen und Normen in Begriffen von Ontologien oder Grammatiken untersucht. Von Marx bis Durkheim und Max Weber waren soziale Tatsachen durch Aspekte von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung, von erzwungenem Opfer und versagter Befriedigung analysiert worden. Die Analysestrategie, 218
die Heidegger und Wittgenstein nahelegen, führt die Faktizität solcher Beschränkungen auf die sublimere Gewalt der Selektivität von Regeln zurück, die Art und Aufbau philosophischer Texte und metaphysischer Traditionen, literarischer Stile, theoretischer Pradigmen und professioneller Diskurse bestimmen. Diese Verschiebung erklärt, warum postmoderne Forschungsprogramme eher mit Werkzeugen der philologischen und ästhetischen Kritik als mit solchen der soziologischen Kritik hantieren. Während die klassischen Konzeptionen der Moderne auf Erfahrungen von sozialer Desintegration und auf die Verletzung universalistischer Normen zugeschnitten waren, richten postmoderne Ansätze ihr Interesse vor allem auf Exklusion - auf den ausschließenden Charakter jener unbewußt operierenden Regelsysteme, die den Sprechern und Aktoren unauffällig auferlegt werden. So kann beispielsweise Foucault soziale und politische Geschichte in Begriffen einer Geschichte humanwissenschaftlicher Diskurse schreiben. In ähnlicher Weise schreiben jüngere Soziologen die Geschichte der modernen Gesellschaften in Begriffen einer Geschichte moderner Gesellschaftstheorien - als wären die materiellen Strukturen der Gesellschaft von den Grundbegriffen und Diskursen der Wissenschaftler konstituiert worden. H (b) Für die rekontextualisierende Vernunftkritik bildet die Tugend, die Vernunft von ihren falschen Abstraktionen zu befreien, zugleich den blinden Fleck. Postmoderne Ansätze nehmen jeden universalistischen Anspruch per se als ein weiteres Anzeichen für den Imperialismus einer verschleierten Partikularität, die vorgibt, für das Ganze einzustehen. Diese Analysestrategie bewährt sich (übrigens schon seit Marx) bei der Entlarvung eurozentrischer Über14 P. Wagner, Soziologie der Moderne, Frankfurt/M. 1995 219
lieferungen und Praktiken; sie fördert allgemein die Dezentrierung beschrankter Perspektiven. Der Argwohn gegenüber Mechanismen der Ausschließung, die ja in die verborgenen Voraussetzungen von universalistischen Diskursen tatsächlich oft eingebaut sind, ist gut begründet - as far as it goes. Manchen postmodernen Theorien fehlt aber eine hinreichende Empfindlichkeit für die spezifische Verfassung jener in der Moderne entstandenen und für die Moderne kennzeichnenden Diskurse. Aus der richtigen Prämisse, daß es keine Vernunft im Nullkontext gibt, ziehen sie den falschen Schluß, daß sich die Maßstäbe der Vernunft selbst mit jedem neuen Kontext ändern. Es ist nicht der Anspruch auf vollständige Inklusion, der moderne von anderen Diskursen unterscheidet. Schon die Botschaft der in den Alten Reichen entstandenen Weltreligionen war »an alle« adressiert und sollte jeden, der sich bekehrte, in den Diskurs der Gläubigen einbeziehen. Was die modernen Diskurse, sei es in Wissenschaft, Moral oder Recht auszeichnet, ist etwas anderes. Diese Diskurse richten sich nach Prinzipien und unterwerfen sich selbstbezüglichen Standards, in deren Licht faktische Verstöße gegen die Forderung nach vollständiger Inklusion zugleich entdeckt und kritisiert werden können - z. B. eine verborgene Selektivität im Hinblick auf die Zulassung von Teilnehmern, Themen oder Beiträgen. Diese rekursive Selbstkontrolle und Selbstkorrektur erklärt die spezifische Leistung dieser prinzipienbasierten, selbstbezüglichen Diskurse. Gewiß entsteht mit der selbstreferentiellen Verfassung und Operationsweise auch eine besondere Form diskursiver Gewalt, die im Modus einer verdeckten, weil impliziten Verletzung des expliziten Versprechens der Inklusion ausgeübt wird. Allein, die bloße Tatsache, daß universalistische Diskurse oft als Medium der Verschleierung sozialer und politischer, epistemischer und kultureller Gewalt miß220
braucht werden, ist kein Grund dafür, das mit dieser Diskurspraxis verknüpfte Versprechen selbst zu revozieren und zwar um so weniger, als diese Praxis gleichzeitig die Maßstäbe und die Mittel liefert, um die ernsthafte Einlösung des Versprechens zu kontrollieren. Die postmodernen Ansätze denunzieren mit Recht die kolonialisierenden Effekte der weltweit zur Herrschaft gelangten Kommunikationsmuster und Diskurse westlicher Herkunft. Das gilt für einen großen Teil der materiellen und symbolischen Kultur der westlichen Zivilisation, die sich über die globalen Netzwerke von Märkten und Medien ausbreitet. Aber solche Theorien sind schlecht gerüstet für die Aufgabe, zwischen kolonialisierenden und überzeugenden Diskursen zu unterscheiden, zwischen Diskursen, die ihre weltweite Verbreitung Systemzwängen verdanken, und anderen, die sich aufgrund ihrer Evidenzen durchsetzen. Westliche Wissenschaft und Technologie sind ja nicht nur nach westlichen Standards überzeugend und erfolgreich. Und offenbar sprechen die Menschenrechte, trotz der anhaltenden interkulturellen Auseinandersetzungen über ihre richtige Interpretation, eine Sprache, in der Dissidenten ausdrücken können, was sie erleiden und was sie von ihren repressiven Regimen fordern - in Asien, Südamerika und Afrika nicht weniger als in Europa und den Vereingten Staaten.
III Die Diagnose der Moderne beruht, solange sie mit Mitteln der Vernunftkritik vorgenommen wird, auf philosophischen Überlegungen. Die klassische Konzeption der Moderne ist, wie wir gesehen haben, unter Prämissen der Bewußtseinsphilosophie entwickelt worden. Nach der lin-
guistischen Wende ist der mentalistische Begriff einer im Subjekt zentrierten Vernunft durch den detranszendentalisierten Begriff der situierten Vernunft ersetzt worden. Damit war der Weg zu einer postklassischen Kritik der Moderne gebahnt. Gerade aus dieser philosophischen Grundlegung erwächst jedoch postmodernen Theorien eine eigentümliche Schwierigkeit. Denn die Behauptung der Inkommensurabilität der verschiedenen Paradigmen und der darin eingelassenen »Rationalitäten« ist schwer mit der hyperkritischen Einstellung der postmodernen Theoretiker selbst zu vereinbaren. Ich werde zunächst (i) dieses Problem der Inkommensurabilität untersuchen und auf metakritischem Wege die Wendung zu einer pragmatischen Sprachbetrachtung begründen. Diese pragmatische Wende führt (2) zu einem Begriff der kommunikativen Vernunft, der den Weg zu einer neoklassischen Konzeption der Moderne bahnt. Diese Diagnose kehrt, wie ich (3) am Beispiel des Theorems der reflexiven Modernisierung belegen will, zur Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Gesellschaftstheorie zurück. (1) Jede rekontextualisierende Vernunftkritik ist in die Grenzen einer immanenten Kritik gebannt, da sie die falschen Prätentionen der reinen Vernunft mit Bezugnahme auf jenen lokalen Hintergrund kritisiert, dem die vermeintlich unbedingten Rationalitätsstandards in Wahrheit verhaftet sind. Wir können die abstraktiven Fehlschlüsse eines prätentiösen Universalismus nur aufdecken, wenn wir dessen verborgenen partikularen Wurzeln ausgraben. In dieser Art entdecken postmoderne Ansätze eine Vielfalt von Traditionen (Maclntyre) oder Diskursen (Lyotard), die jeweils konstitutiv sind für ein Weltbild mit eigenen Rationalitätsstandards. Jeder Rationalitatstypus markiert Schwellen, die wir nicht passieren können, ohne einen mentalen Gestaltwandel zu vollziehen. Aus der festgehaltenen Perspektive
eines bestimmten Weltbildes, eines Paradigmas, einer Lebensform oder Kultur gibt es keinen hermeneutischen Übergang zur nächsten Perspektive. Da es nicht möglich ist, einen »dritten« komparativen Standpunkt einzunehmen, kann es auch keine transzendierende Kritik geben, die uns erlauben würde, verschiedene Rationalitäten auf einer Skala von Graden der Gültigkeit oder »Wahrheitsähnlichkeit« transitiv anzuordnen. Eine Rationalitätskonzeption ist, sobald sie nur ihrer eigenen Wurzeln bewußt geworden ist, so akzeptabel wie die andere.15 Aber diese Sicht der Dinge setzt immer noch stillschweigend das Bild einer fragmentierten Vernunft voraus, deren Splitter über viele inkommensurable - oder zum Teil überlappende - Diskurse verstreut sind. Wenn es jedoch keine Vernunft gibt, die ihren eigenen Kontext übersteigen kann, wird auch der Philosoph, der dieses Bild vorschlägt, keine Perspektive für sich in Anspruch nehmen dürfen, die ihm einen solchen Überblick erlaubt. Wenn die kontextualistische These stimmt, ist es allen gleichermaßen verwehrt, die Mannigfaltigkeit der Diskurse zu überschauen, in denen sich verschiedene, miteinander unverträgliche Rationalitätstypen verkörpern sollen. Unter dieser Prämisse kann auch niemand die Gültigkeit verschiedener Weltbilder beurteilen, es sei denn aus der selektiven und insofern voreingenommenen Perspektive eines bestimmten, eben des eigenen Weltbildes. Foucaults »glücklicher Positivismus« hätte eines solchen fiktiven Gesichtspunkts jenseits aller selektiven Gesichtspunkte bedurft. Die Behauptung einer relativistischen Position muß, um den Selbstbezug zu unterbrechen, den mit dieser Aussage vollzogenen Akt der Behauptung selbst von der behaupteten Aussage ausnehmen. 15 Vgl. R. F. Bernstein, Beyond Objectivism and Relativum, Philadelphia 1983, Part Two, 51 -108 "3
Deshalb schlägt Rorty die raffiniertere Alternative eines »eingestandenen Ethnozentrismus« vor. Die plausible Auffassung, daß wir normalerweise Äußerungen nur im Lichte unserer eigenen Standards verstehen und als wahr oder falsch beurteilen können, wendet er auf den Grenzfall der radikalen Interpretation an, wenn eine gemeinsame Sprache fehlt. Wir sollen »ihre« Ansichten nur in dem Maße verstehen können, wie wir die diesen zugrundeliegenden Perspektiven an die »unseren« Ansichten zugrundeliegenden Perspektiven angleichen.16 Diese Position vernachlässigt aber die hermeneutische Einsicht in die symmetrische Struktur jeder Verständigungssituation17; sie kann auch nicht Rortys paradoxe Anstrengung erklaren, eine »platonistische Kultur« zu überwinden, in der doch (fast) alle immer noch befangen sind. Offensichtlich ist mit einer Naturalisierung der Vernunft, die sich auf die sprachliche Konstitution selbstreferentiell geschlossener »Welten« beruft, etwas schief gelaufen. Eine Analyse, die von der welterschließenden Funktion der Sprache ausgeht, richtet ihr Augenmerk auf kontextbildende Horizonte, die erweitert und immer weiter zurückgeschoben, aber niemals als solche transzendiert werden können. Wenn sich die Sprachanalyse aus diesem Blickwinkel ganz von der Frage okkupieren läßt, wie Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in ihrem Tun und Lassen gleichsam hinterrücks von einem unausweichlichen sprachlichen Vorverständnis der Welt im ganzen dirigiert werden, bleibt das eigene Recht des kommunikativen Sprachgebrauchs auf der Strecke. Die Sprachpragmatik geht von der Frage aus, wie Kommunikationsteilnehmer - im Kontext einer geteilten Lebenswelt (oder von sich hinreichend über16 R. Rorty, Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1987, 17 ff 17 J Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M 1988, 175-179
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läppenden Lebenswelten) - eine Verständigung über etwas in der Welt erzielen können. Unter diesem Gesichtspunkt drängen sich ganz andere Phänomene in den Vordergrund: beispielsweise die kontexttranszendierende Kraft von Wahrheits-, allgemein von Geltungsansprüchen, die Sprecher mit ihren Äußerungen erheben; oder die Zurechenbarkeit ihrer Sprechakte, die sich die Sprecher gegenseitig unterstellen; oder die komplementären, zwischen Sprecher und Hörer austauschbaren Perspektiven der ersten und der zweiten Person; oder die gemeinsame pragmatische Voraussetzung, daß jedes Einverständnis von »Ja-« und »Nein«-Stellungnahmen der zweiten Person abhängt, so daß einer vom anderen lernen muß usw. Die symmetrischen Beziehungen der gegenseitig anerkannten kommunikativen Freiheiten und Verpflichtungen erklären darüber hinaus Davidsons »Prinzip der Nachsicht« oder Gadamers Aussicht auf eine »Verschmelzung der Horizonte« - also die hermeneutische Erwartung, daß die Kluft zwischen dem, was zunächst inkommensurabel erscheint, im Prinzip stets überbrückt werden kann. (2) Den kommunikativen Sprachgebrauch oder das kommunikative Handeln kann ich hier nicht im einzelnen analysieren. Dabei würde jene kommunikative Vernunft zum Vorschein kommen, die in der Argumentation wie in der Alltagspraxis immer schon am Werke ist. Auch diese kommunikative Vernunft ist natürlich in die Kontexte der verschiedenen Lebensformen eingebettet. Jede Lebenswelt stattet ihre Angehörigen mit einem gemeinsamen Stock an kulturellem Wissen, Sozialisationsmustern, Werten und Normen aus. Die Lebenswelt läßt sich als Quelle von Ermöglichungsbedingungen für dasjenige kommunikative Handeln begreifen, durch das sie sich umgekehrt auch selber reproduzieren (lassen) muß. Aber die symbolischen Strukturen der Lebenswelt unterhalten eine interne Bezie225
hung zu der kommunikativen Vernunft, die die Aktoren in ihrer Alltagspraxis in Anspruch nehmen müssen, wenn sie kritisierbare Geltungsansprüche erheben und darauf mit »Ja« oder »Nein« reagieren. Das erklärt den Pfad der »Rationalisierung«, der Lebensformen unterliegen, wenn sie in den Strudel der gesellschaftlichen Modernisierung hineingeraten. Die Rationalisierung einer Lebenswelt, die von einer »Rationalisierung« des Wirtschafts- und Verwaltungshandelns oder der entsprechenden Handlungssysteme wohl zu unterscheiden ist, erfaßt alle drei Komponenten - die kulturelle Überlieferung, die Sozialisation des Einzelnen und die Integration der Gesellschaft.18 Kulturelle Überlieferungen werden in dem Maße reflexiv, wie sie ihre selbstverständliche Geltung einbüßen und sich der Kritik offnen. Eine Fortsetzung der Tradition verlangt dann die bewußte Aneignung durch nachwachsende Generationen. Gleichzeitig bringen Sozialisationsprozesse zunehmend formale Kompetenzen hervor, also kognitive Strukturen, die sich von konkreten Inhalten immer weiter lösen. Die Personen erwerben immer häufiger eine abstrakte Ich-Identität. Fähigkeiten zu einer postkonventionellen Selbstkontrolle sind die Antwort auf die soziale Erwartung autonomer Entscheidungen und individueller Lebensentwürfe. Zugleich werden die Prozesse sozialer Integration immer weiter von naturwüchsigen Traditionen entkoppelt. Auf der Ebene der Institutionen ersetzen allgemeine moralische Grundsätze und Prozeduren der Rechtsetzung tradierte Werte und Normen. Und die politischen Regelungen des Zusammenlebens werden zunehmend von den deliberierenden Körperschaften des Verfassungsstaates sowie von den Kommunikationsprozessen in Bürgergesellschaft und politischer Öffentlichkeit abhängig. 18 J.Habermas (s. Fnio), Bd. 2, 2i2ff. 226
Wenn man diese rohe Skizze zugrundelegt, lassen sich die Grundzüge der Weberschen Zeitdiagnose auf eine andere Weise reformulieren. Zunächst hat eine gewisse Rationalisierung der vormodernen Lebenswelten die kognitiven und motivationalen Startbedingungen für eine kapitalistische Wirtschaftsform und den administrativen Staat erfüllt. Im Laufe ihrer Entwicklung verwandeln sich diese beiden funktional ineinandergreifenden Handlungssysteme in selbstregulierte, über Geld und Macht gesteuerte Systeme. Dadurch gewinnt ihre Dynamik eine gewisse Unabhängigkeit von den Handlungsorientierungen und Einstellungen individueller und kollektiver Handlungssubjekte. Für die Aktoren bringen höhere Grade der Systemdifferenzierung einerseits den Vorzug höherer Freiheitsgrade mit sich. Aber die Vorzüge erweiterter Optionsspielräume gehen andererseits mit sozialer Entwurzelung und jener neuen Sorte von Zwängen Hand in Hand, die ihnen durch das kontingente Auf und Ab des wirtschaftlichen Konjunkturzyklus, durch Arbeitsdisziplin und Arbeitslosigkeit, durch uniformierende Verwaltungsvorschriften, ideologische Beeinflußung, politische Mobilisierung usw. auferlegt werden. Die Bilanz dieses sehr gemischten Ergebnisses wird in dem Maße negativ, wie das ökonomische und administrative System in die lebensweltlichen Kernbereiche der kulturellen Reproduktion, Sozialisation und sozialen Integration übergreifen. Wirtschaftssystem und Staatsapparat müssen zwar ihrerseits in Kontexten der Lebenswelt rechtlich institutionalisiert werden. Aber Entfremdungseffekte entstehen vornehmlich dann, wenn Lebensbereiche, die funktional auf Wertorientierungen, bindende Normen und Verständigungsprozesse angelegt sind, monetarisiert und bürokratisiert werden. Weber hatte soziale Pathologien dieser Art als Sinn- und Freiheitsverlust diagnostiziert. Der klassische Begriff der Moderne, wie er von Max We117
ber, Lukäcs und der Frankfurter Schule entwickelt worden ist, beruht auf dem abstrakten Gegensatz zwischen einer disziplinierenden Gesellschaft und der verletzbaren Subjektivität des Einzelnen. Mit der Übersetzung in eine intersubjektivistische Begrifflichkeit wird diese Konfrontation durch Kreisprozesse zwischen Lebenswelten und Systemen ersetzt. Das erlaubt eine größere Sensibilität für die Zweideutigkeit gesellschaftlicher Modernisierung. Eine wachsende gesellschaftliche Komplexität bewirkt nicht per se Entfremdungseffekte. Sie kann ebenso die Optionsspielräume und Lernkapazitäten erweitern - jedenfalls so lange, wie die Arbeitsteilung zwischen System und Lebenswelt intakt bleibt. Soziale Pathologien19 ergeben sich erst in der Folge einer Invasion von Tauschbeziehungen und bürokratischen Regelungen in die kommunikativen Kernbereiche der privaten und öffentlichen Sphären der Lebenswelt. Diese Pathologien sind nicht auf Persönlichkeitsstrukturen beschränkt, sie erstrecken sich ebenso auf die Kontinuierung von Sinn und auf die Dynamik der gesellschaftlichen Integration. Diese Interaktion zwischen System und Lebenswelt reflektiert sich in der ungleichgewichtigen Arbeitsteilung zwischen den drei Gewalten, die moderne Gesellschaften überhaupt zusammenhalten - zwischen Solidarität auf der einen, Geld und administrativer Macht auf der anderen Seite. (3) Dieser Vorschlag zu einer Reformulierung erlaubt auch eine Antwort auf Probleme, die sich heute im Zuge »reflexiver Modernisierung« stellen.20 Normalerweise beziehen die Angehörigen einer Lebenswelt so etwas wie Solidarität aus überlieferten Werten und Normen, aus eingespielten und standardisierten Mustern der Kommuni19 A. Honneth (Hg.), Pathologien des Sozidien, Frankfurt/M. 1994 20 U. Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt/M. 1986 228
kaion. Im Laufe der Rationalisierung der Lebenswelt schrumpft oder zersplittert jedoch dieser askriptive Hintergrundkonsens. Er muß im selben Maße durch erzielte Interpretationsleistungen der Kommunikationsteilnehmer selbst ersetzt werden. Auf diesen Umstand kommt es mir im gegenwärtigen Zusammenhang an. Rationalisierte Lebenswelten verfügen mit der Institutionalisierung von Diskursen über einen eigenen Mechanismus der Erzeugung neuer Bindungen und normativen Arrangements. In der Sphäre der Lebenswelt verstopft »Rationalisierung« nicht die Quellen der Solidarität, sondern erschließt neue, wenn die alten versiegen. Diese Produktivkraft Kommunikation ist auch für die Herausforderungen »reflexiver Modernisierung« von Bedeutung. Dieses Theorem rückt die bekannten »postindustriellen Entwicklungen« in ein bestimmtes Licht - also die Auflösung der sozialen Differenzierungen entlang der traditionellen Klassen- und Geschlechtsunterschiede, die Auflokkerung der standardisierten Massenproduktion und des Massenkonsums, die Erschütterung der stabilen Verhandlungs- und Versicherungssysteme, die größere Flexibilität der Großorganisationen, der Arbeitsmärkte, der Parteibindungen usw. Postindustrielle Gesellschaften haben die Reserven, von denen die »einfache« Industrialisierung gezehrt hat, aufgebraucht - sowohl die vorgefundenen Ressourcen der Natur als auch das kulturelle und soziale Kapital der vormodernen Gesellschaftsformation. Gleichzeitig begegnen sie Nebenfolgen der gesellschaftlichen Reproduktion, die in Gestalt von systemisch erzeugten Risiken anfallen und nicht länger externalisiert, also auf fremde Gesellschaften oder Kulturen, auf andere Sektoren oder künftige Generationen abgewälzt werden können. Moderne Gesellschaften stoßen also in doppelter Hinsicht an ihre Grenzen und werden »reflexiv«, wenn sie diesen Umstand als sol229
chen wahrnehmen und darauf reagieren. Weil sie immer weniger auf externe Ressourcen wie Natur oder Tradition zurückgreifen können, müssen sie ihre eigenen Bestandsvoraussetzungen zunehmend selber reproduzieren. Die Modernisierung »halbmoderner« Gesellschaften, von der Beck spricht,21 gelingt nur auf »reflexivem« Wege, weil für die Bearbeitung der Folgeprobleme der gesellschaftlichen Modernisierung deren eigene Kapazitäten genutzt werden müssen. »Reflexivität« kann freilich sowohl im Sinn einer »Selbstanwendung« systemischer Mechanismen als auch im Sinn der »Selbstreflexion«, d. h. der Selbstwahrnehmung und Selbsteinwirkung kollektiver Aktoren, verstanden werden. Ein Beispiel für Reflexivität im ersten Sinne ist die marktwirtschaftliche Absorption marktwirtschaftlich erzeugter ökologischer Belastungen. Ein Beispiel für Selbstreflexion wäre das Einholen globalisierter Märkte durch eine »weltinnenpolitische« Einflußnahme auf deren Rahmenbedingungen. Weil die funktionale Differenzierung hochspezialisierter Teilsysteme immer »weiterläuft«, setzt die Systemtheorie auf Selbstheilung durch reflexive Mechanismen. Diese Erwartung darf jedoch nicht überzogen werden, weil gesellschaftliche Subsysteme, die nur ihre eigene Sprache sprechen, für die externen Geräusche, die sie verursachen, taub sind. So können Märkte nur auf »Kosten« reagieren, die in Preisen ausgedrückt sind. Die Kosten widerstreitender Systemrationalitäten lassen sich offensichtlich nur durch eine Reflexivität der anderen Art, durch Selbstreflexion im Sinne der politischen Selbsteinwirkung, in sozial verträglichen Grenzen halten. Die weiterlaufende Moderne muß mit politischem Willen und Bewußtsein weitergeführt 21 U. Beck in: U. Beck, A. Giddens, S. Lash, Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M. 1996, 56ff. 230
werden. Und für diese Form der demokratischen Selbsteinwirkung ist die Einrichtung von Verfahren der diskursiven Meinungs- und Willensbildung ausschlaggebend.22 Aber nicht nur die politische Willensbildung der Staatsbürger, auch das private Leben der Gesellschaftsbürger ist auf die Quelle diskursiv erzeugter Solidarität angewiesen. In dem Maße wie sich standardisierte Lebenslagen und Karrieremuster auflösen, spüren die Einzelnen im Hinblick auf vervielfältigte Optionen die zunehmende Bürde der Entscheidungen oder Arrangements, die sie nun selber treffen oder aushandeln müssen. Der Zwang zur »Individualisierung« nötigt dazu, neue soziale Regelungen zugleich zu entdecken und zu konstruieren. Die freigesetzten Subjekte, die nicht länger durch traditionale Rollen gebunden und dirigiert werden, müssen kraft eigener kommunikativer Anstrengungen Verbindlichkeiten schaffen.23 Diese flüchtigen Hinweise sollen nur zeigen, wie der kommunikationstheoretische Ansatz zu einem neoklassischen Begriff der Moderne zurückführt, der wiederum auf die Unterstützung einer kritischen Gesellschaftstheorie angewiesen ist. Aber die philosophischen Linsen nötigen diesmal zu einem stereoskopischen Blick auf die Ambivalenzen der Moderne. Die Analyse muß sowohl die befreienden und entlastenden Auswirkungen einer kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt im Auge behalten als auch die Effekte einer verwilderten funktionalistischen Vernunft.
22 J. Habermas, Faktizitat und Geltung, Frankfurt/M. 1992 23 J. Habermas, Indwiduierung durch Vergesellschaftung, in: ders., Nachmetaphysisches Denken (s. Fn 17), 2 34ff. 1 1
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Die verschiedenen Rhythmen von Philosophie und Politik Herbert Marcuse zum ioo. Geburtstag '
Nach dem Tode seiner ersten Frau Sophie schrieb Herbert Marcuse am 3. März 1951 an Horkheimer und Pollock: »Die Idee, daß der Tod zum Leben gehört, ist falsch, und wir sollten Horkheimers Gedanken, daß nur mit der Abschaffung des Todes die Menschen wirklich frei und glücklich werden können, noch viel ernster nehmen.« Das ewige Leben schon im Diesseits - Marcuse hat sich diesen unprotestantischen, auf Condorcet zurückgehenden Gedanken in einer vitalistischen Tonart zueigen gemacht. Trotz gentechnischer Fortschritte ist er einstweilen nicht realisiert worden. Sonst hätte Herbert Marcuse die eigentümliche Verkettung der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages mit einem anderen Jahrestag feststellen können: »1898-1968-1998« ist das Motto, unter dem man sich, wie beispielsweise vor wenigen Wochen in Genua, an Marcuse erinnert. Dort traten auch gelehrte Freunde des Philosophen auf. Aber leidenschaftliches Interesse weckte, im Rückblick auf die studentische Revolte, nur die zwiespaltige Rolle des Mentors. Es scheint so zu sein, daß die Koinzidenz seines Geburtstages mit dem Jahrestag von 1968 Marcuse vor dem Vergessen eher bewahrt als der Nachhall des philosophischen Werkes. Daß die philosophische Wirkung der einst in großen Auflagen verbreiteten Schriften zum Stillstand kommt, ist oft nur ein Symptom der vorübergehenden Erschöpfung 1 Veröffentlicht in Neue Zürcher Zeitung vom 18./19.J11I1 1998
eines überprägnanten Einflusses. So ist es Adorno ergangen. Dessen Werk ist jedoch mit Recht eine Herausforderung für die Gegenwart geblieben. Sogar Horkheimers Arbeiten finden im Kontext der von ihm inspirierten Schule nach wie vor Interesse. Aber im Falle von Herbert Marcuse verschwimmt das Profil des wissenschaftlichen Autors hinter der zeitgeschichtlichen Rolle des politischen Lehrers und Inspirators. Wir kennen die eigentümlichen Auf- und Abschwünge in der Rezeption bedeutender oder weniger bedeutender Philosophen. Die Nachwirkungen politischer Eingriffe, die ihrem zeitgeschichtlichen Kontext viel enger verhaftet sind als philosophische Werke, unterliegen anderen, kurzatmigen Rhythmen. Im Falle von Marcuse scheint es zwischen den wirkungsgeschichtlichen Rhythmen des Werks und der politischen Person zu einer Art Kurzschluß gekommen zu sein. Das Gewicht der philosophischen Lehre wird in den Strudel der Entwertung des politischen Engagements hineingezogen. Es liegt nahe, sich zum Fürsprecher des einen auf Kosten des anderen zu machen. Aber wenn etwas dran ist an meiner These, besteht die Gefahr einer optischen Verzerrung in beiden Richtungen - im Hinblick auf das politische Engagement nicht weniger als im Hinblick auf die Philosophie. Im Vergleich zu den anderen Mitgliedern des engeren Kreises um Horkheimer ist Marcuse gewiß das eigentlich politische Temperament. Er gehörte 1918 einem Berliner Soldatenrat an und berichtet noch 60 Jahre später von der Enttäuschung über »das Scheitern der deutschen Revolution, das meine Freunde und ich... mit der Ermordung von Karl und Rosa erlebt haben«. Während des Zweiten Weltkrieges hat Marcuse in der politischen Abteilung des Office of Strategie Services gearbeitet und mit der Anfertigung von »Feindanalysen« auf seine Weise am Kampf gegen das Regime teilgenommen, das ihn aus Deutschland *33
vertrieben hatte. In den frühen sechziger Jahren hat ihn die amerikanische Bürgerrechtsbewegung erneut politisiert, bevor er sich an der Opposition gegen den Vietnamkrieg beteiligte und schließlich auf die Protestbewegung der Studenten diesseits und jenseits des Atlantiks Einfluß nahm. Dieser zeitweilige Aktivismus darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Marcuse, auch im Vergleich zu Horkheimer und Adorno, eine im engeren Sinne akademische Gestalt ist - derjenige, der den Regeln der Profession genügt und gelehrte Bücher schreibt. Bei Heidegger macht er sich mit den Themen und den Standards der zeitgenössischen Philosophie vertraut. Der erste »Heideggermarxist« schreibt seine Habilitationsschrift in einem konventionellen Stil und veröffentlicht damals, um 1930, Arbeiten in führenden akademischen Zeitschriften. Nicht Adorno, sondern Marcuse übernimmt dann in der von Horkheimer arrangierten Arbeitsteilung des New Yorker Instituts die Rolle des Philosophen und schreibt den Kommentar zum schulbildenden Aufsatz Traditionelle und Kritische Theorie. 1941 erwirbt sich Marcuse mit einer historisch-systematischen Untersuchung zur Entstehung der Gesellschaftstheorie aus der Hegeischen Philosophie auch innerhalb des Faches die verdiente Anerkennung. Reason and Revolution besteht jeden Vergleich mit Karl Löwiths berühmtem Gegenstück Von Hegel zu Nietzsche. Noch Eros and Civilization, sein radikalstes und in gewissem Sinne »eigenstes« Buch, versteht Marcuse als Beitrag zu einer fachlichen Diskussion. One Dimensional Man ist das bekannteste Buch, nicht sein bestes. Es erscheint 1964 und endet, immer noch tief pessimistisch, mit dem Benjaminzitat »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben« - also ganz ohne jenen »Praxisbezug«, den die Studenten alsbald herstellen. Im Vorwort zu Vernunft und Revolution begründet Mar234
cuse das Vorhaben seiner Hegel-Studie damit, daß »die Entstehung des Faschismus gebieterisch nach einer neuen Interpretation der Hegeischen Philosophie« verlange. Wenn es nun zutrifft, daß Marcuses Werk in den Schatten einer vergangenen politischen Aktualität geraten ist, müssen wir für ihn aus dem inzwischen eingetretenen Wandel der historischen Situation allerdings eine andere Lehre ziehen. Nicht seine Philosophie müssen wir »in einem neuen Licht sehen«, sondern unsere Voreingenommenheit gegenüber der politischen Rolle des Autors überprüfen. Die sorgfältige Dokumentation, die Wolfgang Kraushaar soeben über Die Frankfurter Schule und die Studentenbewegung vorgelegt hat, erlaubt es, am Beispiel der Bundesrepublik die Stellungnahmen nachzuprüfen, mit denen Marcuse unmittelbar auf die 68er Bewegung eingewirkt hat. Wichtige Motive sind bereits in der Rede enthalten, die Marcuse am 22. Mai 1966 auf einem vom SDS veranstalteten Vietnam-Kongress in der Frankfurter Universität gehalten hat. Marcuse geht aus vom »Kontrast zwischen dem gesellschaftlichen Reichtum, dem technischen Fortschritt und der Beherrschung der Natur einerseits, sowie andererseits der Verwendung aller dieser Kräfte zur Perpetuierung des Existenzkampfes auf nationaler und globaler Grundlage... im Angesicht von Armut und Elend«. Heute, nach dem Ende des Wettrüstens zwischen den Supermächten, fällt die »zerstörerische Verwendung des akkumulierten Reichtums« gewiß weniger ins Auge als zu Zeiten des Vietnamkrieges. Aber im Zeichen eines globalisierten Kapitalismus, der Arbeitslosenzahlen und Aktienkurse gewissermaßen im gleichen Takt steigen läßt, wird Marcuses zentrale Behauptung einer »fatalen Einheit von Produktivität und Destruktivität« auf andere, nicht minder drastische Weise bestätigt. Marcuse sieht, daß die Produktivkräfte von den bestehenden Produktionsverhältnissen eher entfesselt als gefes2
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seit werden. Er stellt das produktivistische Modell der gesellschaftlichen Emanzipation in Frage. Lange vor dem Club of Rome kämpft er gegen »den scheußlichen Begriff fortschrittlicher Produktivität, für den die Natur gratis da ist, um ausgebeutet zu werden«. Inzwischen hat die ökologische Bewegung dieses Thema allgemein zu Bewußtsein gebracht. Marcuse sucht den Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus »nicht so sehr in der Entwicklung der Produktivkräfte als in ihrer Umkehr. Diese ist die Voraussetzung für die Abschaffung der Arbeit, die Autonomie der Bedürfnisse und die Befriedung des Existenzkampfes.« Auch das gewinnt im Lichte der These vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« einen vernünftigen Sinn. Nach einer verbreiteten Schätzung könnte in den OECD-Gesellschaften das gesamte Sozialprodukt von 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung erwirtschaftet werden. Wenn aber immer größere Teile der Arbeitsbevölkerung für die Reproduktion der Gesellschaft »überflüssig« werden, läßt sich der enge Zusammenhang von Arbeitserfolg und sozialer Anerkennung kaum aufrechterhalten. Auch Marcuses Einschätzung der Protestpotentiale ist keineswegs unrealistisch. In der Sowjetunion sieht er ohnehin keine Gegenkraft zum kapitalistischen Westen. Ebensowenig teilt er die Auffassung, daß die verallgemeinerbaren Interessen der Gesellschaft allein im Leiden und Widerstand der exploitierten Massen zum Ausdruck kommen. In den USA zeichnet sich damals schon ein anderes Verhältnis von Mehrheit und Minderheit ab. Einer integrierten Mehrheit stehen marginahsierte Minderheiten ohne wirksames Drohpotential gegenüber. Deshalb setzt Marcuse seine Hoffnung auf die moralische Sensibilität von Jugendlichen, Intellektuellen, Frauen, religiösen Gruppen usw. Die normativen Antriebskräfte müssen den materiellen Interessen der Mühseligen und Beladenen zu Hilfe kommen: »Eine der 236
Sachen, die ich gelernt habe,... ist, daß Moral und Ethik nicht bloßer Überbau und nicht bloße Ideologie sind.« Gut idealistisch spricht Marcuse von »der Solidarität der Vernunft und des Sentiments«. Seitdem Soziologen einen gewissen Wandel von materiellen zu sogenannten postmateriellen Wertorientierungen festgestellt haben, hat selbst diese Auffassung an Plausibilität gewonnen. Natürlich erklären nicht in erster Linie die Argumente das breite Echo, das Marcuse damals im studentischen Publikum gefunden hat. Es waren die Impulse einer freudianisch eingefärbten Lebensphilosophie, die ihm auf Seiten der Enkelgeneration große Resonanz gesichert haben. Marcuse, der selbst von der Jugendbewegung der Jahrhundertwende geprägt war, hatte ein Gespür für den kulturrevolutionären Charakter der neuen Jugendbewegung - für die Antriebe der Revolte und für das Selbstverständnis der Rebellierenden: »Diese Opposition ist... sexuelle, moralische, intellektuelle und politische Rebellion in einem. In diesem Sinne ist sie total, gegen das System als Ganzes gerichtet.« Allerdings verrät die letzte Formulierung auch schon, warum diese existentialistische Beschreibung dazu einlädt, die Jugendrevolte mit dem geschichtsphilosophisch eingeführten Begriff für die Umwälzung eines Ganzen, eben mit dem Begriff der »Revolution«, zu verknüpfen. Marcuse selbst hat die Revolte zwar nicht mit einer Revolution verwechselt; aber er hat ihr die Rolle einer Initialzündung durchaus zugetraut. Er suggeriert seinen Hörern, daß sie sich als Teil einer künftigen revolutionären Bewegung verstehen dürfen. Das belegen auch seine zweideutigen Äußerungen zur Frage der Gewaltanwendung. Schon im Juli 1967 setzt er sich in Berlin mit einer gegen Knut Nevermann gerichteten Bemerkung vom liberalen Teil des SDS ab: »Ich habe keineswegs Humanität mit Gewaltlosigkeit 237
gleichgesetzt. Im Gegenteil, ich habe von Situationen gesprochen, in denen es genau im Interesse der Humanität liegt, zur Gewalt überzugehen.« Diese Tendenz •wird durch ein vernunftautoritäres und geistelitäres Verständnis von Philosophie und Aufklarung gefördert, das Marcuse zusammen mit anderen Generationsgenossen dem politisch fragwürdigen Curriculum des deutschen Gymnasiums verdankte. Auch Hannah Arendt beispielsweise war nicht so weit davon entfernt. Die illusionäre Gleichsetzung der rebellierenden Jugend mit einer revolutionären Vorhut mag zum Teil die gewissermaßen stillgestellte Wirkungsgeschichte des Philosophen Herbert Marcuse erklären. Die falsche Aktualisierung von damals erschwert es heute im Rückblick, die Leistung des akademischen Gelehrten von dem ausgebliebenen Kairos, also jenem geschichtlichen Kontext, zu entkoppeln, den Marcuse selbst zu einer falsifizierenden Instanz aufgewertet hat. Es ist ja nicht das erste Mal, daß eine Philosophie in eben der Geschichte umkommt, die sie zum Kriterium veri und falsi erhoben hat. Dieses Urteil hat freilich einen unverdient hämischen Akzent. Es wird nämlich dem Wahrheitsgehalt, den Marcuses Analyse auch besitzt, nicht gerecht. Marcuse hat die eigentümliche Verschlingung der Produktivität des wirtschaftlichen Wachstums mit der Destruktivität seiner gesellschaftlichen Folgen in beschwörend-totalisierenden Begriffen erfaßt - mit Begriffen, die uns fremd geworden sind. Er hat seine Diagnose zum Bild einer totalitär geschlossenen Gesellschaft verdichtet, weil er meinte, ein Vokabular einfuhren zu müssen, das abgestumpfte Augen für gar nicht mehr wahrgenommene Phänomene erst öffnet, indem es die scheinbar vertrauten Phänomene in grelles Gegenlicht taucht. Das hat sich geändert. Kein Zeitungsleser kann sich heute noch über die Verschlingung von Produktivität und 238
pestruktivität tauschen. Von einer hocheffizienten »Standortkonkurrenz« lassen sich unsere Regierungen in einen kostensenkenden Deregulierungswettlauf verstricken, der im letzten Jahrzehnt zu obszönen Gewinnen und drastischen Einkommensdisparitäten, zur Verwahrlosung kultureller Infrastrukturen, zu steigender Arbeitslosigkeit und zur Marginalisierung einer wachsenden Armutsbevolkerung geführt hat. Um das zu erkennen, brauchen wir keine neue Sprache, denn wir wähnen uns nicht länger in einer »Überflußgesellschaft«. Auch die intellektuelle Situation hat sich geändert. Der Postmodernismus hat das Selbstverständnis der Moderne abgerüstet. Man weiß nicht mehr so recht, ob die demokratische Konzeption einer Gesellschaft, die politisch mit dem Willen und Bewußtsein ihrer vereinigten Bürger auf sich einwirkt, die Züge einer liebenswert altmodischen oder eher die einer gefährlichen Utopie angenommen hat. Im Bündnis mit einer pessimistischen Anthropologie gewöhnt uns zudem der Neoliberalismus täglich mehr an einen neuen Weltzustand, in dem soziale Ungleichheit und Exklusion wieder als Naturtatsachen gelten. Die bestehenden Verfassungen legen eine ganz andere Betrachtungsweise nahe. Brauchen wir vielleicht doch eine renovierte Sprache, damit diese normative Sicht der Dinge gegenüber den Zwängen zur Anpassung an funktionale Imperative nicht in Vergessenheit gerat?
IV. Ein Argument gegen das Klonen von Menschen Drei Repliken
8. Genetische Sklavenherrschaft? Moralische Grenzen reproduktionsmedizinischer Fortschritte'
Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt überzeugend, wie der Prozeß der Durchsetzung von neuen Techniken der Genmedizin in der Öffentlichkeit abläuft: auf die anfängliche moralische Entrüstung folgt die Normalisierung.2 Nicht nur die Interessen der Forscher an Reputation, nicht nur die Interessen der verwertenden Hersteller am ökonomischen Erfolg brechen den Innovationen die Bahn. Die neuen Angebote stoßen offensichtlich auf das Interesse von Abnehmern. Und dieses Interesse ist oft so überzeugend, daß moralische Bedenken im Laufe der Zeit verblassen. Ist die Minderung von Leiden nicht selbst ein moralisches Argument? An dieser Schwelle berühren sich empirische Beschreibung und normative Betrachtung. Vermutlich vollzieht sich die Normalisierung dieser neuen Techniken nicht nur unter dem Druck einer wachsenden Nachfrage. Interessen setzen sich um so schneller durch, je schwächer die moralischen Einwände sind, die sie im Zaume halten sollen - beispielsweise den Wunsch nach einem eigenen Kind. Aber mit dem Projekt, Menschen zu klonen, kommt ein, wie mir scheint, schwerwiegendes Argument ins Spiel. Der archaische Abscheu, den wir vor geklonten Ebenbildern empfinden, hat einen rationalen Kern. Die Erbsubstanz eines Neugeborenen wird bis heute als 1 Veröffentlicht m: Süddeutsche Zeitung vom 17/18 Januar 1998 2 In: Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 1998 2
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»Schicksal« oder als kontingenter Umstand, als Ergebnis eines zufallsgesteuerten Prozesses verstanden, mit dem die heranwachsende Person leben und worauf sie eine Antwort finden muß. Die grammatische Zweideutigkeit der ethischen Grundfrage, wer wir sind und sein möchten, erklärt sich ja aus der Tatsache, daß wir uns in gewisser Weise als eine bestimmte Person schon vorfinden. Wir sind für unser Tun und Lassen verantwortlich, obwohl wir über einen Kernbestand von Anlagen und ererbten Eigenschaften keine Verfügung haben. Manche verstehen das als Schicksal, das wir »übernehmen« müssen, andere sehen darin eine Herausforderung, »der zu werden, der man sein möchte«. Diese Kontingenz läßt sich ebenso religiös verstehen wie in einem nachmetaphysischen Sinne. Gleichviel, für die Zumutung verantwortlichen Handelns bleibt eine Bedingung wesentlich. Keine Person darf über eine andere Person so verfügen und deren Handlungsmöglichkeiten in der Weise kontrollieren, daß die abhängige Person eines wesentlichen Stücks ihrer Freiheit beraubt wird. Diese Bedingung wird verletzt, wenn einer über das genetische Programm eines anderen entscheidet. Auch der Klon trifft sich in seinen Selbstverständigungsprozessen als eine bestimmte Person an; aber hinter dem Kernbestand dieser Anlagen und Eigenschaften steht die Absicht einer fremden Person. Das unterscheidet den Fall des absichtlich geklonten Menschen von dem der einengen Zwillinge. Nicht die Ebenbildlichkeit der aus einer Zelle hervorgehenden Teile ist das Problem, sondern Anmaßung und Knechtung. Mit dieser Technik wird nämlich eine Entscheidungskompetenz eingerichtet, die einen Vergleich mit dem historischen Beispiel der Sklaverei nahelegt. Sklaverei ist ein Rechtsverhältnis und bedeutet, daß ein Mensch über einen anderen Menschen als Eigentum verfügt. Sie ist deshalb mit den 244
heute geltenden verfassungsrechtlichen Begriffen von Menschenrecht und Menschenwürde unvereinbar. Nach den gleichen moralischen Maßstäben, und nicht allein aus religiösen Gründen, ist das Kopieren der Erbsubstanz eines Menschen zu verurteilen. Dieses Verfahren zerstört nämlich eine wesentliche Voraussetzung verantwortlichen Handelns. Gewiß, auch bisher sind wir von genetischen Programmen abhängig. Aber für das Programm selbst können wir keine rechenschaftspflichtige Person haftbar machen. Der Klon ähnelt dem Sklaven insofern, als er einen Teil der Verantwortung, die er sonst selbst tragen müßte, auf andere Personen abschieben kann. Für den Klon verstetigt sich nämlich in der Definition eines unwiderruflichen Kodes ein Urteil, das eine andere Person vor seiner Geburt über ihn verhängt hat. Der Sklavenhalter beraubt sich übrigens, indem er einer anderen Person ihre Freiheit vorenthält, auch der eigenen Freiheit. Im Rahmen demokratischer Rechtsordnungen können jedenfalls Bürger nur dann in den Genuß gleicher privater und öffentlicher Autonomie gelangen, wenn sich alle gegenseitig als autonom anerkennen. Im Falle des Erzeugers, der sich zum Herrn über die Gene eines anderen aufwirft, ist diese grundlegende Reziprozität aufgehoben. Für den, der sein genetisches Programm verdoppeln läßt, hat die Sache zudem eine obszöne Seite: Wer dürfte sich, bei allem Narzißmus, für so vollkommen halten, daß er eine exakte Kopie der eigenen Anlagen und Eigenschaften überhaupt wollen kann? Allerdings hinkt auch dieser Vergleich. Der Freilassung des Sklaven entspräche ja eine Freisetzung nicht vom genetischen Kode, sondern nur von der absichtlichen Festlegung dieses Kodes durch einen anderen. Zudem ist die Lebensgeschichte das Medium, worin Personen erst ihre unverwechselbare Identität ausbilden. Der genetische Kode 245
ist nicht unwiderruflich in dem Sinne, daß er die Identität einer Person so festlegte wie ein Herr den sozialen Status des Sklaven. Sonst müßte die Zumutung verantwortlichen Handelns allgemein ins Leere laufen. Obwohl wir alle mit den Festlegungen, den Begabungen und Behinderungen eines genetischen Kodes leben müssen, hängt es, jedenfalls aus der Perspektive des Handelnden selbst, von den eigenen Antworten ab, wie wir solchen Fakten oder dem, was wir für Gegebenheiten der Geburt halten, umgehen. Damit verschwindet jedoch nicht unser Problem. Denn für einen Klon sind solche »Gegebenheiten« keine zufälligen Umstände mehr. Er kann, was sich sonst nur »ereignet«, anderen Personen als Ergebnis ihres Tuns zurechnen. Und dieser Perspektivenwechsel ist es, der, wenn ich recht sehe, tief in unser moralisches Selbstverständnis eingreifen mußte, weil er die Reziprozität zwischen Ebenbürtigen aufhebt. Fragen, ob eine Gesellschaft das, was sie tun könnte, besser unterlassen sollte, verwandeln sich schnell in Fragen des Rechts. Elisabeth Beck-Gernsheim erwähnt den Artikel eines bekannten amerikanischen Juristen, der für die Freigabe des Klonens von Menschen mit dem folgenden Argument eintritt: Die Produktion von geklonten Menschen sei mit rechtlichen Mitteln ohnehin nicht zu verhindern; deshalb würde eine vorbeugende rechtliche Diskriminierung tatsächlich zur Ausgrenzung einer neuen Kategorie von Minderheit fuhren. Klone wären noch schlimmer »gezeichnet« als andere Minderheiten. Als ich Anfang Dezember diesen Aufsatz von Lawrence H. Tnbe in der New York Times las, war ich zunächst beeindruckt. Denn das liberale Argument hat ja - im Gegensatz zu den Pressionen von marktliberaler Seite - normative Überzeugungskraft. Andererseits kann es uns dazu veranlassen, über zwei Dinge nachzudenken. 246
Bevor wir die Blicke prüfen, die wir auf geklonte Menschen werfen könnten, wäre doch erstens zu fragen, welchen Blick sie auf sich selber richten müßten - und ob wir ihnen das zumuten dürfen. Zum anderen ist die Prämisse selbst fragwürdig. Das ist zugleich meine Frage an die Soziologien: Ist die Normalisierung von neuen Techniken, die uns aus moralischen Gründen zunächst empören, auch in diesem Fall des gentechnisch reproduzierten Homunculus unvermeidlich? Oder können moralische Grunde, wenn sie öffentlich überzeugen, nicht auch ihre empirische Wirkung haben?
9. Nicht die Natur verbietet das Klonen Wir müssen selbst entscheiden3
Dieter E. Zimmer plädiert dafür, daß wir uns in der Frage, ob das Klonen von Menschen erlaubt sein soll, nicht an moralischen Kategorien wie Freiheit und Verantwortung orientieren, sondern an der Biologie.4 Eine rationale Erörterung von Fragen der Bioethik verlangt gewiß eine hinreichende Kenntnis der einschlägigen naturwissenschaftlichen Diskussionen und Tatsachen. Aber normative Fragen lassen sich ohne Bezugnahme auf normative Gesichtspunkte nicht vernünftig behandeln. Zimmer selbst wendet sich gegen die Zulässigkeit des Klonens menschlicher Organismen mit dem folgenden Argument. Das Klonen würde die zufallsgesteuerte Kombination der elterlichen Gene und damit einen natürlichen Vanationsmechanismus stillstellen. Eben diesem verdanken wir, daß bisher die Neugeborenen - mit der statistisch vernachlässigenswerten Ausnahme eineiiger Zwillinge - als genetische Unikate auf die Welt kommen. Weil sich nun der Mensch - als »Gattungswesen« - nur dank seiner breit variierten Anlagen zu einem »Anpassungsgenie« entwikkelt habe, gelangt Zimmer zu der Schlußfolgerung: »Wenn die Menschen begönnen, sich zu klonen, verstießen sie gegen eines der Prinzipien, denen sie ihre Existenz verdanken. Darum dürfen sie es sich nicht erlauben.« Aus dieser Überlegung wird freilich erst ein regelrechter praktischer Schluß, wenn wir normative Annahmen hinzufügen. Entweder hält Zimmer unsere artspezifische »Anpassungsfähigkeit« 3 Veröffentlicht in: Die Zeit vom 19.1'ebruar 1998 4 In: Die Zeit vom 12.1 ebriur 1998 248
per se für einen Wert, der optimiert werden sollte. Oder er zeigt, daß die Optimierung einer solchen Größe auch unter gegebenen zivilisatorischen Bedingungen für die Erhaltung der Art notwendig ist, und ergänzt dann diese empirische Feststellung durch das moralische Gebot, daß wir zur Erhaltung der Art, also zur generativen Fortsetzung menschlichen Lebens, verpflichtet sind. Sind wir es? Die Biologie kann uns moralische Überlegungen nicht abnehmen. Und die Bioethik sollte uns nicht auf biologistische Abwege bringen. Andererseits sind normative Gesichtspunkte umstritten, und die moralische Eingliederung neuer Phänomene ist es erst recht. Das gilt natürlich auch für den Versuch, möglichen Konsequenzen des Klonens von menschlichen Organismen mit kantischen Begriffen beizukommen. Ich gehe davon aus, daß die universalistischen Grundsätze einer egalitären Rechtsordnung nur solche Entscheidungskompetenzen zulassen, die mit dem gegenseitigen Respekt für die gleiche Autonomie eines jeden Bürgers vereinbar sind. So darf beispielsweise ein anderer über meine Arbeitskraft eine zeitlich und sachlich begrenzte Verfügung nur dann ausüben, wenn ich dazu meine Einwilligung gegeben habe. Zwar gibt es »besondere Gewaltverhältnisse«, zum Beispiel das zwischen Eltern und Kindern. Aber abgesehen davon, daß auch die elterliche Gewalt rechtlich beschränkt ist, genügt es für die Frage, ob das Klonen von Menschen in die grundlegende Symmetrie der gegenseitigen Beziehungen zwischen freien und gleichen Rechtspersonen eingreifen würde, das Verhältnis erwachsener oder im rechtlichen Sinne mündiger Personen zu betrachten. Die Abhängigkeit vom Soziahsationsschicksal ist ohnehin anderer Art als die vom genetischen Schicksal: Die heranwachsende Person kann sich gegebenenfalls vom Elternhaus »abwenden« und mit dessen Traditionen »bre249
chen«, während sie ihren Genen in gewisser Weise unterworfen bleibt. Die Frage ist, was sich für das moralische Selbstverständnis einer erwachsenen Person ändern müßte, wenn sie nicht, wie 'wir sagen, natürlich gezeugt, sondern geklont worden wäre. Offensichtlich ändert sich nicht die Abhängigkeit von einem genetischen Programm, sondern die Abhängigkeit von der absichtlichen Festlegung dieses Programms durch eine andere Person. Wenn sich Eltern entschließen, ein eigenes Kind zu bekommen, •wird dieses durch die zufallsgesteuerte Kombination der beiderseitigen Gene zum Erben eines unübersichtlichen genealogischen Zusammenhangs. Zimmer betont mit Recht den Unterschied zwischen diesem Entschluß und der Entscheidung einer Person, von ihrem genetischen Code, also gewissermaßen von sich selbst, eine exakte Kopie herstellen zu lassen. Das -würde eine bisher unbekannte Art der interpersonalen Beziehung zwischen genetischem Vor- und Abbild begründen. Die absichtliche Festlegung der Erbsubstanz bedeutet nämlich, daß sich für den Klon ein Urteil lebenslänglich verstetigt, welches eine andere Person vor seiner Geburt über ihn verhängt hat. Wem die Konnotationen der Gerichtsmetapher nicht schmecken, der mag mit Lutz Wingert sagen, daß hier eine interpersonale Beziehung an das Verhältnis von Designer und Produkt angeglichen wird. Wie dem auch sei, ein Problem besteht für beide Seiten das der moralischen Obszönität einer selbstherrlichen und selbstverliebten Verdoppelung der eigenen genetischen Ausstattung auf selten des Erzeugers und auf selten des Erzeugten das Problem eines Eingriffs in eine Zone, die sonst der Verfügung anderer entzogen bleibt. Die geklonte Person hätte gewiß wie alle anderen die Freiheit, sich im Laufe einer reflexiv angeeigneten und willentlich kontinuierten 250
Lebensgeschichte zu ihren Begabungen und Behinderungen zu verhalten und auf diese Ausgangslage produktive Antworten zu finden. Aber für sie wären diese »Gegebenheiten der Geburt«, jedenfalls das, was sie dafür hält, keine zufälligen Umstände mehr, sondern das Ergebnis eines absichtlichen Tuns. Was sonst ein kontingentes Geschehen bleibt, kann der Klon einer anderen Person als Absicht zurechnen. Diese Zurechenbarkeit des intentionalen Eingriffs in eine Zone der Unverfügbarkeit bildet den moralisch und rechtlich relevanten Unterschied. Der Ausdruck »unverfügbar« soll nur heißen: dem Zugriff anderer Personen - denen wir, normativ gesehen, gleichgestellt sind - entzogen. Daß die Bedingungen der Ausbildung personaler Identität in diesem Sinne unverfügbar sind, gehört offenbar auch zum modernen Verständnis von Handlungsfreiheit. Andernfalls ist die gegenseitige Anerkennung der gleichen Freiheit für alle in Frage gestellt. Der Klon weiß, daß er nicht nur zufälligerweise, sondern prinzipiell für seinen Erzeuger nicht dieselbe Art von Festlegungen treffen könnte, wie dieser für ihn. Dagegen läßt sich einwenden, daß die von ihren Eltern gezeugten Kinder auch nicht umgekehrt ihre Eltern erzeugen können. Diese Asymmetrie betrifft jedoch wesentlich den Umstand, daß das Kind überhaupt zur Welt gekommen ist, also die bloße Tatsache seiner Existenz, nicht die Art und Weise, wie es diese Existenz aufgrund eines ererbten Kernbestandes von Fähigkeiten und Eigenschaften zu führen in der Lage ist. Ich bin nicht sicher, wie dieser Perspektivenwechsel unser moralisches Selbstverständnis affizieren würde. Soweit ich sehen kann, müßte das Klonen von Menschen jene Symmetriebedingung im Verhältnis erwachsener Personen zueinander verletzen, auf der bisher die Idee der gegenseitigen Achtung gleicher Freiheiten beruht. 2
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Dieses Bedenken erstreckt sich aber nicht, wie Zimmer behauptet, auf behebige therapeutische Eingriffe in den Organismus eines Abhangigen, der nicht gefragt wird, nicht einmal auf die vorbeugende Eliminierung von Krankheiten (die freilich niemals vorgeschrieben, sondern nur erlaubt werden durfte). Für eine normative Rechtfertigung solcher wohlumschriebenen gentechnischen Eingriffe sehe ich allerdings ausschließlich negative Argumente, allgemein die Vermeidung von Übeln. Vielleicht ist das schon eine zu weiche Formulierung, denn die Definition von Übeln hangt von kulturellen Maßstaben ab, die sehr problematisch sein können. Galten nicht auch einmal »minderwertige Rassen« als ein Übel? Ich habe nicht den Eindruck, daß wir auf die moralischen und rechtlichen Fragen der Gentechnik und der Reproduktionsmedizin bereits die richtigen Antworten gefunden haben. Nur: Die Biologie selbst kann sie uns nicht geben.
io. Die geklonte Person wäre kein zivilrechtlicher Schadensfall5
Ich bewundere die Interventionen von Reinhard Merkel, auch wenn sie mich nicht immer überzeugen/' Strittig ist nicht - wie zwischen Dieter E. Zimmer und mir - der Stellenwert moralischer und rechtlicher Argumente oder das Gewicht, das sie im Zusammenhang mit biologischen und soziologischen Überlegungen gewinnen können. Zwischen uns ist die Art der normativen Argumente selbst strittig. Aus der empiristischen Sicht, die Merkel bevorzugt, wird einem geklonten Menschen kein »Schaden« zugefugt. Wer die Kategonen von »Freiheit« und »Verantwortung« kantisch ausbuchstabiert, hat jedoch Vorbehalte gegenüber der präzedenzlosen Entscheidungskompetenz, die mit diesem neuen Verfahren eingerichtet wurde. Ich halte den Streit der Philosophen weder für mußig noch für unentscheidbar. Auch hier müssen die Theorien schließlich zu den Phänomenen passen. In der Hauptsache geht es um die Frage, ob es für eine Person gleichgültig ist oder ob es für ihr Selbstverständnis einen moralisch relevanten Unterschied macht, »auf welche Weise sie zu ihrem Genom gekommen ist« - durch Zufall, Bestimmung oder Willkur. Um die richtigen Phänomene in den Blick zu bekommen, müssen wir die Perspektive eines Handelnden einnehmen, der wissen will, wer er ist und wie er sein Leben fuhren soll. Dabei wird er sich auch zu seinen genetischen Anlagen (oder zu dem, was er für Gegebenheiten der Geburt halt) in der einen oder an5 Veröffentlicht in Die Zeit vom 12 Mar? 1998 6 In Die Zeit \om 5 Mar? 1998 2
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deren Weise verhalten müssen. Aus der Sicht der ethischen Selbstverständigung legt das Genom zwar Bedingungen der Identitätsbildung fest. Aber wir interpretieren diese Anlagen teils als ermöglichende, teils als beschränkende Bedingungen. Wir identifizieren uns eher mit Begabungen als mit Behinderungen. Und diese können wir wiederum als Herausforderung statt als »lähmendes« Schicksal verstehen. Wie sich ein solches Selbstverständnis herausbildet, hängt unter anderem von Interpretationsmustern ab, die in einer Kultur vorherrschen. Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob wir die genetische Ausstattung als Ergebnis eines Zufallsprozesses der Natur oder als als Teil eines »verborgenen« Plans oder religiös als Gnade, als Bestimmung Gottes begreifen. Solche Interpretationen prägen das Bewußtsein von Freiheit, mit dem Personen ihre alltäglichen Handlungen ausführen. Wie sollte dieses Bewußtsein unberührt bleiben von dem Wissen, daß beim Design des eigenen Genoms weder der Zufall der Natur noch Gottes Vorsehung die Hand im Spiel hatte, sondern empeer? Die willkürliche Verfügung über die genetische Ausstattung einer anderen Person würde ein interpersonales Verhältnis zwischen dem Erzeuger und dem Erzeugten, zwischen genetischem Vor- und Nachbild begründen, das bisher unbekannt ist. Von den bekannten interpersonalen Beziehungen weicht dieses Abhängigkeitsverhältnis dadurch ab, daß es sich grundsätzlich der Transformation in eine Beziehung unter Gleichen, unter normativ Gleichgestellten und Gleichzubehandelnden entzieht. Der Designer legt die Anfangsgestalt seines Produkts unwiderruflich und asymmetrisch - ohne die Möglichkeit eines Rollentauschs grundsätzlich offenzulassen - fest. Reinhard Merkel verschiebt das Problem, wenn er einen »durch einen Gendefekt Geisteskranken« mit einer gesun254
den Person vergleicht und behauptet: »Zu welchen Möglichkeiten von Freiheit und Verantwortung jemand am Beginn seiner Existenz biologisch disponiert wird, hängt allein von der Beschaffenheit seines Genoms ab, nicht davon, wodurch oder von wem er es hat.« Die Differenz, auf die es mir ankommt, liegt nicht in der Beschaffenheit der Erbanlagen. Sie liegt im moralischen Selbstverständnis, das sich ändert, sobald die betroffene Person die Entscheidung über die natürlichen Grundlagen ihrer eigenen Entwicklung einer anderen Person zuschreibt, weil sie im Spiegelbild eigener Anlagen einer fremden Absicht begegnet. Auch die beiden weiteren Einwände verschieben das Problem auf eine andere Ebene. Mit dem Gedankenexperiment der Verdoppelung eines menschlichen Embryos in einem frühen Stadium lenkt Reinhard Merkel vom Kern der Sache ab, weil hier der entscheidende Aspekt der absichtlichen Herstellung einer Kopie eines bekannten genetischen Vorbilds fehlt. Was immer man zu diesem Fall sagen mag, mein Vorbehalt richtet sich zunächst gegen die Verdoppelung des Genoms eines ausgereiften menschlichen Organismus, nicht gegen den biologischen Vorgang des Klonens als solchen. Die gegenwärtige Diskussion ist ja durch Nachrichten über das Schaf Dolly und die makabren Zukunftsphantasien ausgelöst worden, die sich daran entzündet haben. Schließlich trägt Merkel den Einwand vor, daß der Erzeuger gegenüber der geklonten Person keine Rechtsverletzung begehen kann, weil diese dem fraglichen Akt selbst erst ihre Existenz verdankt: »Schon deshalb kann gegenüber dem Klon keine >Symmetriebedingung wechselseitiger Achtung< verletzt worden sein, weil die Handlung, der er sein Dasein verdankt, für ihn in keinem Sinne als Verletzung qualifizierbar ist.« So mag ein Anwalt in einem bereits eingetretenen zivilrechtlichen Schadensfall argumentieren. 2
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Aber unsere Diskussion betrifft, wenn wir schon juristisch reden wollen, die verfassungsrechtliche Frage, ob ein Typ von Herstellungsverfahren erlaubt sein soll, mit dem (wenn meine Analyse stimmen sollte) eine prazedenzlose Entscheidungskompetenz eingerichtet und mit ihr eine notwendige Voraussetzung für die normative Gleichstellung aller Rechtspersonen verletzt werden würde. Um diese Verletzung zu charakterisieren, sind verschiedene Metaphern in Umlauf. Wir reden vom Designer, der ein Produkt herstellt, oder vom Richter, der ein letztinstanzliches Urteil fällt - ein Bild, das religiösen Empfindungen noch am nächsten kommt. Diese Metaphern sind fast so unzureichend wie die des Sklavenhalters, der Personen mit Sachen verwechselt, weil sie alle auf die Entscheidungssituationen zwischen zeitgleich handelnden Personen anspielen. Sie verfehlen den Abstand der Gegenwart von einer unumkehrbaren Vergangenheit - zwischen einer vor der Geburt getroffenen Entscheidung und der nachfolgenden Lebensgeschichte, über deren ganze Spanne diese sich auswirkt. Ist das Beunruhigende nicht gerade der Aspekt, für den das rechte Bild fehlt? Ich meine die anhaltende, in gewisser Weise irreversible Auswirkung der willkürlichen Entscheidung einer anderen Person auf »mich« - nicht, sofern ich überhaupt existiere, sondern auf wesentliche Bedingungen meines Selbstverständnisses?