Prolog Version: v1.0
1. Der Fremde Winter 1279 Draußen tobte die Nacht. Eigentlich war es der Sturm, aber den Mensche...
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Prolog Version: v1.0
1. Der Fremde Winter 1279 Draußen tobte die Nacht. Eigentlich war es der Sturm, aber den Menschen in den Häusern mochte es vorkommen, als beweise ihnen nicht ein bloßes Unwetter seine Urgewalt, sondern als packe die Finsternis selbst alle ihr innewohnenden Kräfte in dieses unheimli che, unheilkündende Heulen hinein. Der nächtliche Reiter zeigte sich davon unberührt. Er kam die Straße von Fulda herab, und nicht nur sein Rappe, auch er selbst schien den heftigen Böen, die an ihm rüttelten, mit stoischem Gleichmut zu trotzen. Dies war um so erstaunlicher, da die Luft auch schneidend kalt und das Gesicht des schlankwüchsigen Man nes völlig ungeschützt war. Ein fast zu schönes, makelloses Gesicht, wie aus feinem Marmor gehauen. Die Füße steckten in hochschäfti gen Stiefeln, und unter den hautengen Beinkleidern zeichnete sich die Muskulatur ab, so dünn war der Stoff. Mantel und Umhang, bei des in ölig glänzendem Schwarz gehalten, vervollkommneten die Kluft des Fremden, der – so hatte es beinahe den Anschein – diese Muskelspiele der Natur sogar genoß. Unaufhaltsam rückten Roß und Reiter dabei auf die von einem halbmondförmigen Befesti gungswall umschlossenen Stadt zu. Vor dem Ostertor zügelte der Fremde seinen edlen Rappen, stieg ab und ließ die Zügel fallen, ohne daß das Tier auch nur den Versuch unternommen hätte, sich vom Fleck weg zu bewegen. Sein Herr suchte indes die geschützte Pforte im gewölbten Mauerwerk auf und hieb mit der Faust gegen das wuchtige Tor aus handspannendickem Eichenholz. Scheinbar mühelos gelang es ihm, den Sturm zu übertönen. Zunächst tat sich jedoch nicht das Tor auf, sondern lediglich eine Luke darin, und
eine bedrohlich klingende Stimme aus dem Dunkel dahinter schnarrte: »Komm morgen früh wieder! Kein Tor darf vor Morgen grauen geöffnet werden! – Nicht für solche wie dich jedenfalls!« Der Reiter wechselte nur wenige Worte mit dem Wächter. Dann hob sich das Tor unter dem mahlenden Geräusch eiserner Ketten, das aber in dem Sturmgebrause unterging. Wenig später bewegten sich die Hufe des Rappen bereits über den gepflasterten Bereich hin ter der Mauer. Man hätte meinen sollen, der Reiter sähe die Hand vor Augen nicht, so stockfinster war es auch innerhalb der Stadt grenzen. Mit welchen Sinnen er und sein Pferd das Ziel schließlich fanden, blieb rätselhaft. Die Herberge, die der Torwächter empfohlen hatte, lag in der Nähe des Stadtkerns inmitten einer engen Gasse, deren Bedachung fast in die tiefhängende, brodelnde Wolkendecke stieß, sie aber we nigstens berührte. Vor dem Gasthof stieg der Fremde ab, schnürte die Zügel des Rap pen an einen eisernen Ring, pflückte nur eine Tasche aus Rindsleder vom Sattel und trat damit vor die fest verriegelte Tür. Hier wieder holte sich dieselbe Szene wie schon beim Stadttor. Nach guter Weile fragte eine brummige Stimme, wem es einfiele, um diese gottlose Stunde noch zu stören. Dann öffnete sich auch diese Pforte. »Wie heißt du, Wirt?« »Klemens, Herr.« »Dein schönstes Zimmer – ist es frei?« »Alle meine Zimmer sehen gleich aus.« »Und dein Weib? Du bist doch vermählt …?« »Mein Weib, Herr?« Verständnislosigkeit malte sich auf die feisten Züge des Mannes im Schlafhemd, dessen Gesicht vom zittrigen Schein einer Kerze erhellt wurde.
»Wie sieht sie aus? Ist sie schön – oder schlägt sie eher nach dir?« »Sie ist rank und schlank wie eine Weidengerte. Nicht sehr ge scheit, aber –« Der Kerzenhalter in der Hand des Wirts schlingerte durch die Luft, während er seine Worte gestenreich unterstrich. »Dann weiß ich schon welches Zimmer ich nehme.« »Herr?« »Das Deinige. Führ mich hinauf.« Der Raum hinter der Tür des Gasthofs war fast so groß wie die Außenmaße des Hauses es vorgaben. Hier unten gab es nur den Schankraum und einen Raum, in dem Waren gelagert wurden. Die Schlafstube des Herbergsvaters konnte sich nur im oberen Stock werk des zweistöckigen Gebäudes befinden. Der Wirt drehte sich um und schlurfte zur Treppe. Sein Gast folg te. In den Tür- und Fensterhöhlen verfing sich unvermindert der Wind und stimmte gespenstische Gesänge an. Im Haus selbst blieb es ruhig. »Wie viele Gäste hast du zur Zeit?« Der Wirt gab ohne Zögern Auskunft. »Vier von acht Zimmern sind belegt. Drei von Kaufleuten, die hier Handel treiben. Eins von einem jungen Mündel, das hier auf seinen Vormund wartet. Sie kam gestern mit dem Schiff an.« Der Fremde blieb stehen. »Warum sagst du das nicht gleich? Ist sie von vornehmer Herkunft? Wie alt?« »Sie … sie ist wunderschön. Ich schätze sie auf siebzehn, achtzehn Lenze …« »Schöner als dein Weib?« Mehr an Antwort als die abfällige Geste des Wirts war nicht nötig. »Ich habe es mir anders überlegt«, sagte der mitternächtliche Gast. »Führ mich zu dem jungen Mündel. – Und sie ist sicher allein?«
Dem Klang seiner Stimme war zu entnehmen, daß ihn auch eine gegenteilige Auskunft nicht von dem getroffenen Entschluß mehr abgebracht hätte. »Mutterseelenallein«, versicherte der Wirt, ehe er keuchend den unterbrochenen Aufstieg fortsetzte. Er furzte, blieb aber nicht mehr stehen, bis sie das Dachgeschoß erreichten. Dort in den Giebelschrä gen gab es zwei Zimmer, eines zur rechten, eines zur linken Hand. Vor der Tür zu seiner Rechten blieb der fette Wirt stehen. »Da!« Der Gast verabschiedete den schwitzenden Koloß, der beinahe so ranzig wie die niederbrennende Kerze stank und gab ihm noch mit auf den Weg, sich um sein Pferd zu kümmern. Dann hielt die Dunkelheit wieder Einzug unter dem Dach. Den Besucher mit dem leichten Gepäck kümmerte es nicht. Die Tür fand er verschlossen. Drinnen war der Riegel vorgeschoben. In einem Haus wie diesem eine durchaus angemessene Maßnahme. Er klopfte. Nach mehrmaligem Wiederholen erklang drinnen eine zarte, ver schüchterte und auch zweifellos ängstliche Jungmädchenstimme. »Wer – ist da?« »Mach auf.« Der Riegel schnappte zurück. Ein nachlässig gekleidetes, blutjun ges Mädchen lud den Fremden zum Betreten ihrer Unterkunft ein. Sie schien keinerlei Scheu zu empfinden. Nur tief in ihren Augen schimmerte ein Anflug von Panik über das eigene Verhalten. Die Tür glitt wieder ins Schloß. Eine blakende Kerze, dennoch besser als die des Wirts riechend, hüllte nicht nur die niedrige Mansarde in bewegte Schatten. Auch die erröteten Wangen des Mädchens wurden davon gestreichelt,
noch ehe die Hand des Besuchers dies übernahm. »Dein Name?« »Isabelle.« Seinen eigenen verschwieg er. »Leg dein Schlafgewand ab, Isabel le. Bist du noch unberührt?« Sie schüttelte den Kopf, was gelinde Enttäuschung in dem Besu cher weckte. Er kam jedoch darüber hinweg, fragte nur: »Wer nahm dir die Unschuld?« »Mein Vormund.« »Wie alt warst du?« »Vierzehn.« Ihr Gegenüber legte die Satteltasche am Boden vor der Tür ab und nickte, als er sich wieder erhob. Er kannte Kulturen, in denen Frauen mit vierzehn längst verheiratet waren und selbst Kinder geboren hatten. In den nördlichen Breiten jedoch galt dies als unschicklich. Nur die Ärmsten der Armen scherten sich wenig darum. Oft such ten sie schon in jungen Jahren Trost in diesem einzigen Vergnügen. Die Burschen zumindest, denn für die Mägde und Bettelmädchen endete die kurze Lust oft in langem, noch größerem Elend als zuvor, mit einem Balg am Hals. »Der Mann, auf den du hier wartest?« »Ja.« »Wo lebt er?« »Nicht weit von hier, zu Hildesheim.« »Und du – wo warst du, daß du jetzt zu ihm zurückkehrst?« »Im Holländischen«, sagte sie. »Bei seinem Bruder, der dort ein Kontor besitzt. Ich war für ein Jahr dort untergebracht, nachdem die Frau gestorben war und den Vater allein mit den vier Kindern zu rückgelassen hatte. Ich mußte alles im Haus verrichten, was ihre
Mutter vorher tat.« »Auch das Bett des Vaters wärmen?« »Auch das Bett wärmen.« »Warum schickte er dich wieder fort?« »Er hat wieder geheiratet. Ich war der neuen Frau vom ersten Tag an ein Dorn im Auge.« »Wurde dein Vormund von seinem Bruder dafür entlohnt, daß er dich ihm überließ?« »Fürstlich.« »Du hattest kein leichtes Los … Es wird in Zukunft kaum leichter. Es sei denn …« »Es sei denn?« Obwohl sie fragte, wirkte ihr Blick – abgesehen von der tief darin nistenden Furcht – seltsam stumpf, fast abwesend. »Es sei denn, ich würde mir auch ihn vorknöpfen. Aber das hängt davon ab, wie du dich anstellst …« »Was soll ich tun, Herr?« »Alles, was die Brüder dich lehrten – und was ich dir noch beibrin gen werde.« Mit diesen Worten zog er sie zu der verlausten Bettstatt. Läuse hatten ihn nie gestört. Auf seine Art war er ihnen verwandt. Eine Zecke … Noch im Gehen half er ihr, das Leinenhemd über den Kopf zu zie hen. Trotz des schlanken, biegsamen Körpers waren ihre Brüste groß und schwer, fast als hätte sie selbst schon ein Kind geboren und gesäugt, dabei aber nichts an Attraktivität eingebüßt. Sie legte sich hin, öffnete die Schenkel. Den Blick auf die von zar tem Flaum umgebene Spalte gerichtet, entledigte er sich nun auch seiner Kleidung. Das blauschwarze Haar wurde hinten von einer edelsteinbesetzten Zierbrosche zusammengehalten. Hätte er es offen
getragen, hätte es bis zu den Schultern gereicht. Ehe er zwischen Isabelles Schenkel glitt, löste er mit einem schmat zenden Geräusch das falsche Gesicht von seinem echten und legte es, die rotrohe Seite nach oben, auf den Dielenboden. Das Grauen, das daraufhin die Angst im Blick des Mädchens noch überlagerte, erregte ihn eher, als daß es sein Mitleid geweckt hätte. Er hatte noch nie Mitleid für einen sterblichen Menschen empfun den. Begehren, ja, aber Mitgefühl … Daß er die nun offen lodernde Panik in ihrem Geist dennoch lin derte, hatte nur einen einzigen Grund: Er wollte, daß sie jede Hem mung ablegte und ihn mit den feurigen Augen bedingungsloser Verliebtheit betrachtete. Es kostete ihn nur einen weiteren Befehl. Obwohl Isabelles Schreie das Haus mitunter lauter durchdröhnten als der Sturm es überdecken konnte, wagte niemand es, zu stören. Schon als der Fremde sich zum erstenmal in sie verströmte, ver strömte auch sie sich in ihn. Sein Mund klebte wie ein Egel an ihrem Hals und verdeckte die beiden Einstiche, die er ihr zugefügt hatte. Ihr Stöhnen wurde matter, während sie auch sein zweites, abgründi geres Verlangen stillte. Bis zum Morgen hatten sie sich noch weitere Male geliebt. Isabelle starb in den Armen des Mannes, die Wangen nun nicht mehr rosig, sondern bleich, fast weiß. Gegen Mittag traf ihr ahnungsloser Vormund ein. Isabelle brannte darauf, ihn zu begrüßen. Der Fremde begutachtete den Inhalt seiner Tasche, während er zu sah, wie die Untote nun ihren Durst zu stillen lernte. Er hatte ihr auf getragen, maßvoll vorzugehen, das Opfer nicht zu töten, um sein
Leiden zu verlängern. Der Fremde hatte Isabelles Vormund empfan gen und ihm den Willen gebrochen. Fortan würde er das willfährige Opfer seines Mündels sein, wann immer diesem danach gelüstete. Sie würde fortan über ihn verfügen, würde ihm heimzahlen, was er ihr alles angetan hatte. Aber gewiß würde sich ihr Verlangen und ihr neuer Hang zur Grausamkeit nicht auf ihn allein beschränken. Ganz Hildesheim würde sich künftig in acht nehmen müssen vor der Untoten, die nun vom Keim eines wahrhaftigen Vampirs beseelt war. Ihr zweites Leben verdankte sie ganz der »Gnade« ihres Herrn und Meisters … »Geht nun, laßt mich allein«, befahl der Fremde dem ungleichen Paar den Auszug. Er selbst wollte noch den Tag und die folgende Nacht in der Stadt bleiben, bevor auch er sich empfahl. Vorher mußte noch die Saat ausgebracht werden, die er bei seiner Wiederkehr ernten würde. Nicht mehr in diesem Jahr und auch noch nicht im nächsten … Bis zum Einbruch der Dämmerung spähte er die aus einer kleinen Marktsiedlung hervorgegangene Civitas aus, überprüfte, ob sein Vorhaben hier wirklich den idealen Nährboden finden würde, den er suchte. Seit langem schon suchte – seit die fixe Idee ihn nicht mehr losließ. Bis zum Abend war er überzeugt. Nach Einbruch der Dunkelheit schlich ein Wolf durch die verlasse nen Gassen. Fast alle Menschen hatten sich in der Kirche versam melt, wo ein Gottesdienst abgehalten wurde, um Maria Lichtmess zu begehen. Der Wolf hielt respektvollen Abstand zum verhaßten Gemäuer des Münsters. Den Ausgang der Messe wartete er in siche rem Abstand ab, sah zu, wie die Bürgerschaft arglos wieder der Kir chenpforte entschlüpfte und heim in die eigenen vier Wände kehrte.
Der Wolf ging ihnen voraus, zog sich zu der Herberge zurück, von der er gekommen war. Dort wurde aus dem vierbeinigen grauen Jä ger wieder der Gast, der seit dem Vortag logierte. Uneingeladen und mit Schmerzen geduldet. Weit nach Mitternacht flammte, ausgehend vom Gasthof, ein nie gesehenes Licht über der Stadt auf. Es tauchte nicht nur jedes Haus in Purpurröte, es durchdrang auch jede Mauer und ergoß sich über sämtliche Bewohner, ob sie nun wach lagen oder schliefen. Schreie, die am nächsten Morgen vergessen waren, hallten durch die Stadt. Die Mönche im nahen Kloster schliefen traumlos tief. Sie hörten und sahen nichts von dem Spuk, der ihre Schäfchen heimsuchte und in Versuchung führte … Zufrieden ritt der Fremde tags darauf, verabschiedet vom Mittags geläut aus dem nahen Münster, zum Ostertor die Stadt hinaus; jene Stadt, die einmal traurige Berühmtheit erlangen sollte.
2. Die Rückkehr Juni 1284 »Wir müssen es melden«, sagte der Abt. »Wenn wir es melden«, erwiderte sein Gegenüber, »werden wir alle auf dem Scheiterhaufen brennen. Über die Stadt wird der Bann verhängt werden. Unsere Kinder und Kindeskinder werden als Un freie leben. Kein rechtschaffener Mensch wird es mehr wagen, sei nen Fuß hierher zu setzen. Die Stadt wird verarmen und sterben. Wir werden die Verdammten der Welt geschimpft werden … Gera de Ihr müßtet doch wissen, was es heißt, aus der Kirche ausge schlossen zu werden, nicht mehr ihrem Schutz zu unterliegen! Wir werden alle vogelfrei sein …« »Ihr übertreibt, Vogt. Ihr neigt dazu.« »So, tue ich das?« Ein verächtlicher Zug prägte sich um den Mund des Mannes im noblen Sonntagsstaat, der auf den Namen Gregor Hoya hörte, nur noch dem Weifenherzog unterstellt und diesem ei gentlich zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet war. »Öffnet Eure Augen, öffnet Eure Ohren – dann müßtet selbst Ihr begreifen, daß ich untertreibe.« »Es sind in der Tat ein paar merkwürdige Dinge geschehen …«, räumte Prior Bartolomä ein. »Jetzt untertreibt Ihr.« »Und wie sollten wir Eurer Meinung nach damit umgehen? Was tun?« »Genauso weitermachen wie bisher. Wir sollten nichts tun. Nichts, was uns irgendwie ins Blickfeld von König oder Kirche rücken könnte.«
»Es wird sich nicht verheimlichen lassen. Zuviele wissen davon.« »Sie werden alle schweigen.« Skeptisch wiegte der Kirchenvorstand den Kopf. »Ihr erwähntet vorhin nicht zu Unrecht den Scheiterhaufen … Die Angst davor könnte tatsächlich Zungen lähmen … Aber wenn wir uns täuschen, werden auch wir brennen. Ist Euch das klar?« »Ich denke an nichts anderes mehr als an den Tod. Seit …« Gregor Hoyas Stimme sank zu einem kaum noch verständlichen Flüstern herab, »… seit zu allem anderen Übel auch noch die Pest zu uns ge kommen ist …« Der Mann hatte Schüttelfrost und hohes Fieber. Er hieß Paul, und gerade war Agnes, seine Frau, ängstlich vor dem Schreckgespenst zurückgewichen, in das er sich verwandelt hatte. Wie ein zürnender Racheengel stand er, die Axt erhoben, in der Tür zur Küche, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Hühnereigroß traten die Beulen an seinem Hals hervor. Er schwitzte, sein Gesicht war so rot, als wäre es eine Maske aus glühendem Eisen. »Warum?« röchelte der zerfranste Mund. »Sag mir, warum! Warum ich? Warum nicht du oder …«, ein Blick irrte an Agnes vor bei zu seinem kleinen Sohn, der neben der Feuerstelle saß und wie teilnahmslos in die Flammen starrte, die den Inhalt eines darüber aufgehängten Kessels erhitzten, »… oder er?!« Die Züge der Frau verkrampften. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Paul, bitte, leg dich wieder hin. Mach dich nicht unglück lich. Wir –« »Unglücklich?« Das Wort schien ihm die Augen aus den Höhlen zu treiben. »Ich sterbe, gottverdammt!« Er bäumte sich noch einmal auf, mit der einen Hand gegen den Türrahmen gestützt, die andere so schwach, daß sie kaum die
schwere Axt zu halten vermochte – dann brach er zusammen. Agnes eilte zu ihm. Er atmete flach, die Waffe war ihm entglitten. Als sie ihn unter die Achseln faßte, um ihn wieder zurück ins Bett zu schleifen, spürte sie auch dort die beulenartigen Verdickungen. »Mama?« Karl stand in der Tür. Er sah zu, wie seine Mutter den Vater wie der auf das Strohlager wälzte, sich dann verzweifelt aufrichtete und die Hände, die Naß vom Schweiß ihres Mannes waren, an der Schürze abwischte. »Geh wieder rüber«, sagte sie. »Mach ihn tot«, sagte der Junge. »Mach ihn bitte, bitte tot. Bevor er nochmal …« Aus Agnes’ Gesicht wich alles Blut. Bleich und zitternd trieb sie den Jungen in den Küchenraum zurück, zog die Tür hinter sich zu und sagte: »Manchmal denke ich, daß der Teufel mich nachts im Schlaf überfallen hat. Du kannst so ein braves Kind sein, aber dann sagst du wieder Sachen, als wärst du der Leibhaftige selbst … Geh! Lauf zum Doktor! Er soll sich eilen! Gib ihm diese Münze …« Sie kramte in ihrer Schürzentasche, wurde fündig und hielt Karl ein Geldstück hin, für das ein rechtschaffener Mann eine Woche lang ar beiten mußte. Karl schüttelte den Kopf. Er war vier Jahre alt. Er hatte das Gesicht seines Vaters, aber Augen, wie sie in dieser Familie sonst nicht vor kamen. Dafür in hundertneunundzwanzig anderen, dachte Agnes schaudernd. Laut fragte sie in hilflosem Zorn: »Du willst nicht?« »Er soll sterben. Er soll endlich gehen. Ich will nur dich. Er … stört.« Sie weigerte sich zu glauben – oder auch nur an sich heranzulas sen –, was sie hörte. Die Hand, die die Münze hielt, schloß sich zu einer Faust. Dann rannte sie selbst aus dem Haus, die Gasse hinun
ter zum Haus des Doktors, der sich auf die Krankheit verstand. Aber er war unterwegs zu einem anderen Fall. Seine Frau wußte nicht, wann er zurück sein würde, verwies Agnes an den Apothe ker, der ihr für ihr Geld Pulver aus zerstoßenem Pestwurz aushän digte, das sie dem Kranken zur Linderung seiner Qual in etwas Wasser einrühren und so verabreichen sollte. Niedergeschlagen kehrte Agnes nach Hause zurück, wo Karl ne ben dem Lager seines Vaters kauerte, die blutige Axt noch in der Kinderhand. Karl wurde hinter Schloß und Riegel verbracht. Die Büttel hatten ihn abgeführt, nachdem Agnes so lange und laut geschrien hatte, daß Nachbarn aufmerksam geworden waren und eine beherzte, ältere Frau sie weg von dem verstümmelten Leichnam gezogen hatte. Der Geistliche war benachrichtigt. Als sich die Tür dann nach Stunden öffnete, blickte Karl nicht ein mal hoch. Er saß im Stroh und unterhielt sich mit den Ratten, die ihm zutraulich ein paar Brotkrumen, welche sich noch in seiner Ho sentasche befunden hatten, aus der hohlen Hand fraßen. Nicht einmal der eintretende Abt schlug die katzengroßen Nager in die Flucht. »Was ist nur in dich gefahren, Junge?« Schweigen. Die Härchen der Rattenschnauzen kitzelten in Karls Hand. Der Geistliche hatte die eigenwillige Gesellschaft des Knaben noch gar nicht bemerkt. Es gab nur ein winziges Fensterloch; Dunkelheit um fing den Inhaftierten. Im Näherkommen trat der Abt des nahen Klosters auf den Schwanz einer Ratte, die schrill fiepend davonstob und die anderen mit sich fortriß.
Karl fluchte. Dem Abt war der Schreck in alle Glieder gefahren. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre wieder gegangen. Aber so einfach konnte er sich nicht aus seiner seelsorgerischen Verantwortung steh len. »Welcher Dämon hat nur Besitz von dir ergriffen?« Die Schuhe von Prior Bartolomä stießen fast gegen den mit ange zogenen Knien im Stroh kauernden, vierjährigen Mörder. Auch zu dieser Frage schwieg der Knabe. Er hob die Reste in sei ner Hand zum Mund und stopfte sie hinein. Dann kaute er langsam auf der harten Brotrinde. Es hörte sich an, als zermalme ein Hof hund Knochen. »Ich will zu meiner Mutter«, sagte er plötzlich. »Du weißt nicht, was du deiner armen Mutter angetan hast – von deinem armen Vater ganz abgesehen.« »Er wäre sowieso verreckt.« Der Geistliche prallte nicht nur vor der Schamlosigkeit des Jungen zurück, sondern auch vor dessen Blick. »Du …?« »Ich will zu meiner Mutter!« »Man wird Gericht über dich halten. Dir droht der Tod durch den Henker, mein Junge. Die Leute sind aufgebracht. Völlig zu recht. Was hast du dir nur dabei gedacht, die Hand gegen deinen eigenen Vater zu erheben …?« »Es war die Axt«, sagte Karl. »Sie hat getötet. Nicht ich. – Ich will zu meiner Mutter!« Der Abt verlor nun doch die Fassung, wandte sich ab und eilte aus der Zelle. Der Junge blieb allein.
Zumindest bis seine pelzigen Freunde sich wieder aus ihrem Ver steck wagten. Aus ihm … »Es geht nicht mit rechten Dingen zu. Ihr müßt etwas unternehmen – wer, wenn nicht Ihr, könnte etwas dagegen tun?« Die Stimme des Vogts klang verzweifelt, was er auch war. Prior Bartolomä schüttelte immer wieder den Kopf, nippte zwi schendurch an dem Gebrannten, der ihm hingestellt worden war und sagte schließlich: »Ich habe getan, was möglich war: Alle betrof fenen Häuser wurden mit Weihwasser besprengt, von innen und von außen gereinigt. Alle Familienmitglieder erhielten von mir den Segen der Kirche. Besonders die Kranken und Todgeweihten.« »Es gibt keinen Fall, bei dem eines der Kinder oder ihre Mütter von der Pest betroffen wären. Ist das nicht seltsam?« »Man könnte es ein Wunder nennen«, pflichtete der Abt dem Vogt bei, »wenn Er und nicht sein großer Widersacher dahinterstünde …« »Der Teufel?« »Wer außer Satan würde ein Kind verleiten, seinen Vater zu er schlagen?« »Es war der erste Zwischenfall dieser Art. Aber diese Kinder sind alle … nun, irgendwie seltsam, findet Ihr nicht auch?« »Sie sehen einen an wie uralte Männer, die im Körper eines Kindes gefangen sind. Als wollten sie diesem Gefängnis entfliehen – um je den Preis.« »Wir dürfen uns nicht ins Bockshorn jagen lassen«, sagte Gregor Hoya. »Es sind Kinder.« Der Geistliche blickte skeptisch. »Wie verfahren wir mit dem Jun gen?«
»Es wird Gericht gehalten werden über ihn. Schon morgen oder übermorgen. Bevor die Leute auf die Idee kommen, Recht und Ge setz selbst in die Hand nehmen zu wollen …« »Er wird schuldig gesprochen werden. Und dann?« »Habt Ihr mit seiner Mutter gesprochen?« »Unter vier Augen«, bestätigte der Abt unfroh. »So wie wir beide es zu tun pflegen, wenn wir keine Zeugen haben wollen.« »Was hat sie gesagt?« »Sie hat gesagt, sie habe Angst vor dem Kind. Sie meinte, sie fürchte sich vor ihm, seit es geboren wurde. Es … es sei ihr von An fang an unheimlich gewesen, so kalt und fremd. Wenn es an ihrer Brust getrunken habe, sei jedesmal Angst über sie gekommen, es könnte mehr aus ihr heraussaugen als die bloße Milch. Manchmal sei sie nach dem Stillen völlig entkräftet gewesen. Ihr Mann dachte schon, sie hätte die Schwindsucht. Nun ist er noch vor ihr gestor ben …« »Die Pest«, sagte der Vogt rauh. »Die Krankheit greift von Tag zu Tag heftiger um sich. Ich selbst stehe keinen Morgen auf und gehe keinen Abend zu Bett, ohne mich von Kopf bis Fuß abzutasten. Dort, wohin ich nicht selbst komme, lasse ich mein Weib nachse hen … Und überall sind Ratten! Es gibt Leute – kluge Leute! –, die meinen, die Ratten brächten den Schwarzen Tod in die Häuser. Nachts, wenn die Menschen in ihren Betten liegen, wenn sie am Wehrlosesten sind, sagen sie, kämen die Ratten und würden sie krankbeißen … Was meint Ihr dazu?« »Ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus. Es ist eine Prüfung des Herrn. Eine Strafe für die schlimmen Sünder. Ich habe keine Angst davor. Mein Gewissen ist rein. Wenn Ratten Werkzeuge von Ihm sind, dann werden sie mich nicht heimsuchen. Gott erkennt die, die wahren Glaubens sind …«
»Wenn du kein Sünder bist, Pfaffe, dann bin ich auch keiner! Komm, sprich deinen Segen über mir aus. Ich will heute nacht ruhi ger schlafen als die Nächte davor. Ich will nicht schon wieder von einem Alb heimgesucht werden. Letzte Nacht träumte ich, ich läge unter einer Decke aus Ratten begraben, und als ich den Mund zum Schrei öffnete, schlüpfte eine davon hinein und hat mich bei lebendi gem Leib aufgefressen!« »Ihr wollt kein Sünder sein und habt solche Träume?« Kopfschüt telnd holte der Abt sein Kruzifix und das Fläschchen mit geweihtem Wasser hervor. Er segnete das Oberhaupt der Stadt, wie von diesem verlangt. Aber er tat es halbherzig, weil er sich im Grunde seiner Seele wünschte, der bestechliche Fettwanst möge, wenn schon nicht vor einem irdischen Gericht, so doch endlich vom himmlischen ei ner gerechten Sühne unterworfen werden. In der folgenden Nacht erhielt auch der Abt in seinem Kloster Be such. Er erwachte, weil etwas auf seiner Brust kauerte. Kein Alb, sondern eine ganz reale, ihn aus glitzernden Augen be trachtende Ratte. Und das Schrecklichste daran war: In diesem Moment hätte der Abt geschworen, daß sie ihn mit demselben sezierenden Blick an starrte, wie tags zuvor der kindliche Mörder es in seiner Zelle getan hatte … In dieser Nacht erreichte ein Schiff von geringem Tiefgang die kleine Stadt. Es war nigelnagelneu und von absonderlicher Konstruktion. Wer es auf seinem bisherigen Weg zu sehen bekommen hatte, hielt es entweder für einen Geniestreich – oder für die totale Narretei. Es besaß nur ein Großsegel und dazu allerhand Aufbauten, deren Sinn und Zweck unerfindlich blieben. Ein Steuermann war nicht zu sehen, so
wenig wie sich die Besatzung blicken ließ. Den ganzen langen Weg von der Nordseemündung herab bis hierher nicht. Das in völlige Dunkelheit gehüllte Schiff legte fast lautlos am Kai an. Nur ein einzelner Mann sprang danach von Bord. Er blieb so unbehelligt wie sein Schiff und bewegte sich zielstrebig auf die Herberge zu, die er schon von einem früheren Besuch her kannte. Ulrich wurde von Stimmen wach, die aus der Schankstube bis her auf in seine Kammer drangen. Nein, eigentlich waren es nicht die Stimmen, sondern etwas … anderes. Er hätte nicht sagen können, was. Schlaftrunken richtete er sich der Vierjährige auf. Er hörte das laute Organ seines strengen Vaters und dazu die Stimme eines ihm unbekannten Mannes. Kurz darauf kamen beide die Treppe herauf und stiegen weiter bis unters Dach, wo nur noch eines der beiden vorhandenen Zimmer in Gebrauch war. Das andere … Ulrich stand auf und huschte in der Dunkelheit zur Tür. Als er sie einen Spalt weit öffnete, kam sein Vater bereits wieder die Stiegen herab. Sein Gesicht war noch röter als sonst. Dazu schnaubte er wie ein Walroß. Ulrich öffnete die Tür ganz und trat einen Schritt hinaus auf den Flur. Sein Vater blieb stehen. »Wieso schläfst du nicht?« herrschte er ihn an. »Haben wir so spät noch einen Gast bekommen?« »Das geht dich überhaupt nichts an!« »Aber –« »Er will seine Ruhe – und die habe ich ihm garantiert. Leg dich wieder hin!« »Wer ist er?«
»Was weiß ich? Ein Reisender, ein Kaufmann …« »Womit handelt er?« »Noch ein Wort, und ich ziehe dir das Leder über die Haut!« schnaubte sein Vater. »Du weckst noch das ganze Haus auf!« Ulrich war gewieft genug, um zu wissen, wie ernst es seinem Va ter war. Rasch zog er sich wieder in seine Kammer zurück, wo er wartete, bis sich die Schrittgeräusche seines Vaters zum Ende des Ganges hin entfernt hatten, wo die elterliche Stube lag. Ulrich liebte seine Mutter abgöttisch. Seinen Vater nicht. Sein Vater war ein übler Haudrauf, der sich oft mit seinen Gästen betrank und dann unbere chenbar wurde. Eine Weile blieb Ulrich unschlüssig im Dunkeln hinter der ge schlossenen Tür stehen. Dann obsiegte die Neugier. Und jene andere treibende Kraft. Jenes … Gefühl … Auf Zehenspitzen verließ er die Kammer. Unter dem Gewicht des Vaters hatte die Treppe verräterisch geknarrt; Ulrich hingegen ver mochte sich fast lautlos nach oben zu bewegen. Oben. Wo es gesche hen war. Im Jahr von Ulrichs Geburt. Klemens Blei, der Wirt des »Wildschweins« und Ulrichs Vater, war deswegen sogar kurzzeitig ins Gefängnis gewandert. Doch sein untadeliger Leumund (den Ulrich aus seiner Warte nicht bezeugen konnte) und andere Umstände hatten für seine rasche Freilassung gesorgt. So erzählte man es sich jedenfalls. Der wahre Täter, der einen der seinerzeitigen Gäste unters Dach verschleppt und dort bestialisch ermordet hatte, war nie gefunden geworden. Aber seither blieb das betreffende Zimmer verschlossen; es war nie mehr betre ten, geschweige denn einem einkehrenden Reisenden wieder ange boten worden. Bis heute. Zu seiner ratlosen Verblüffung stellte Ulrich fest, nachdem er oben
angelangt war, daß sein Vater wahrhaftig die »Schandstube«, wie sie im Haus genannt wurde, bereitgestellt hatte. Nicht die gute, unbefleckte Kammer gegenüber. Im Finstern vor der Tür überkam den Jungen eine Gänsehaut. Erst recht, als drinnen ein Mann sagte: »Komm ruhig herein, mein Kind. Ich würde mich gern ein wenig mit dir unterhalten …« Wie seltsam er dieses »mein Kind« ausgesprochen und betont hatte … Benommen öffnete Ulrich die Tür, hinter deren Schwelle die Dunkelheit so jäh endete, als hätte ein scharfes Messer die Grenze hin zum Licht gezogen. Die Helligkeit im Raum besaß sogar eine Farbe. Ulrich konnte sie zwar nicht benennen, aber sie durchdrang mühelos selbst seine Lider, als er, im ersten Moment geblendet, die Augen schloß. Rasch gewöhnte er sich jedoch an das Licht, das von keiner Kerze ausging, sondern von einem Trinkpokal, der etwa in der Mitte der Stube auf den rauhen Dielen stand. »Schließ die Tür hinter dir«, sagte der Mann, der hinter dem leuch tenden Gefäß am Boden saß. Der Gast war ganz in schwarz gekleidet. Sein Gesicht war bleich, aber nicht unschön. »Wie heißt du?« »Ulrich.« »Wegen dir bin ich gekommen, Ulrich. Wegen dir und den ande ren, die sind wie du.« Ulrich ahnte sofort, daß die anderen Kinder gemeint waren, die wie er zum Ende des Jahres 1279 hin zur Welt gekommen waren. Eine bis dahin nicht gekannte Kinderschwemme hatte die Gemeinde von Ende Oktober bis Mitte November verblüfft. Doch schon im
Vorfeld waren Stimmen laut geworden, die angemahnt hatten, nach der Ursache dieser unverhofften Kinderflut zu forschen. Mehr Leid als Segen hatte die Bürgerschaft befürchtet. Insgesamt waren in dem engen, rund einen Monat umspannenden Zeitraum hundertdreißig Kinder zur Welt gekommen – ausnahmslos Knaben. Auch das war nicht nur verwunderlich, es wurde von den Bürgern auch als beunruhigend empfunden. Von Anfang an hatte es eine ge heime Absprache gegeben, nichts darüber über die Grenzen der Stadt hinausdringen zu lassen. Wie es letztlich funktioniert hatte, daß das Stillschweigen tatsäch lich von niemandem gebrochen worden war, wußte wahrscheinlich kein Bürger der Stadt oder des nahen Stifts zu erklären. Dann war zu Beginn des Jahres der erste Pestfall bekannt gewor den, und seither kreisten die Gedanken, Sorgen und Nöte der Men schen größtenteils um die gefürchtete Krankheit. Die noch kaum einer überlebt hatte. »Setz dich.« Ulrich zögerte nicht. Die Stimme des Fremden hatte, obwohl leise gesprochen, eine Autorität, die die von Ulrichs cholerischem Vater bei weitem übertraf. Der Junge setzte sich gegenüber dem Fremden zu Boden. »Du wirst dich fragen, was ich von euch will. Aber das werdet ihr erfahren, wenn die Zeit reif ist. Vorher möchte ich von dir ein paar Dinge wissen.« »Welche?« »Liebst du deine Mutter?« »O ja.« »Und deinen Vater?« Ulrich kniff die Lippen zusammen.
»Und deinen Vater?« Ulrich schüttelte den Kopf. Der Fremde nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Dann frag te er: »Warum hast du ihn dann noch nicht längst sterbend ge träumt? Er sah mir sehr gesund aus, vorhin.« Ulrich meinte, in die Augen des Fremden wie in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Sterbend geträumt, hallte es in ihm nach. Mit einem Mal fielen ihm all die Träume wieder ein, aus denen er schweißgebadet erwacht war, seit er überhaupt denken konnte. Träume von Ratten, Träume von Tod … »Hol das nach«, sagte der Mann. »Hörst du? Es dürfen keine Zeu gen übrigbleiben. Die ganze Stadt muß sterben.« Er sagte es so leichthin, als gälte es Ungeziefer zu zertreten – oder einen Fuchs zu erschlagen, der in einen Hühnerstall eingebrochen war. Ulrich schluckte. Er litt unter seinem Vater. Sein Vater prügelte ihn wegen jeder Kleinigkeit. Aber ihn deshalb … sterbend denken…? »Du hast die Gabe, nutze sie«, sagte der Mann. »Wer bist du?« fragte Ulrich, die Zunge taub, das Hirn leer. Er suchte nach die Kehle zuschnürender Angst in sich, aber erschre ckenderweise fühlte er sich sogar zu dem sonderbaren Fremden hin gezogen. »Wer ich bin?« Der Fremde nickte. »Das wüßte ich manchmal selbst gern. Meine Herkunft verliert sich im Dunkel der Zeiten. Ich kann mich meiner Mutter nicht erinnern. Vielleicht hatte ich nie eine – so wenig wie einen Vater …« »Und dein Name?« »Ich habe viele Namen. Einer ist so gut wie der andere. Nenn mich, wie es dir beliebt.«
»Belzebub«, sagte Ulrich. »Darf ich dich … Belzebub nennen?« Der Fremde prallte spürbar zurück. »Was für ein närrischer Ein fall! Wie kommst du ausgerechnet darauf?« »Ich habe ihn mir immer vorgestellt wie dich, wenn im Gottes dienst die Rede auf ihn kam.« »Du besuchst die Kirche? Dann glaubst du am Ende sogar den Mumpitz, den die Pfaffen euch erzählen?« Ulrich nickte verhalten. Der Fremde, der nicht Belzebub heißen wollte, ballte die Faust und wies damit auf den Kelch am Boden. Soweit Ulrich es sehen konnte, war die Trinkschale leer. Das Gefäß war wie eine kurzstielige, düste re Blume geformt. Aus was es bestand, aus welchem Material, konn te der Junge nicht ausmachen. »Du bist getauft?« »Natürlich.« »Aber du weißt, daß es nicht deine richtige Taufe war. Es bedarf ei ner neuerlichen, der wahren Taufe, um dich deiner Bestimmung zu zuführen.« Ulrich wußte es nicht. Hatte es nicht gewußt. Er hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen. Von ganz tief drinnen aus seinem Herzen überkam ihn soviel Traurigkeit, daß er gar nicht mehr wuß te, wohin damit. »Was ist meine Bestimmung?« »Du wirst es erfahren. Doch geh jetzt«, sagte Belzebub. »Wir sehen uns beizeiten wieder. Aber jetzt leg dich erst einmal schlafen.« Ein Rascheln im Hintergrund der Kammer veranlaßte den bleichen Fremden innezuhalten. Er wies in die Richtung, aus der die Ge räusche kamen. »Hörst du sie? Du und sie – ihr seid verbunden. Über deine Träume. Hör auf, dich dagegen zu wehren. Oder Mitleid
mit jemandem zu haben. Erinnere dich, was ich gesagt habe. Dein Vater ist ein schlechter Mann. Er prügelt nicht nur dich, er schlägt gewiß auch deine Mutter, die du liebst, windelweich. Willst du ihm das durchgehen lassen?« Mit bebenden Lippen, die Tränen nun nicht mehr zurückhaltend, erhob Ulrich sich und verließ die Stube, in der vor Jahren etwas Furchtbares geschehen war. Ein ungeklärtes Verbrechen. Damals, als er noch nicht auf der Welt gewesen war. Ungefähr neun Monate vorher … Am darauffolgenden Morgen Der Abt wachte auf und hoffte im ersten Moment noch, er habe sich die ganze Nacht über nur in elenden Alpträumen gewälzt, ange steckt vom Gerede des Vogts. Aber dann mußte er erkennen, daß seine Bettstatt tatsächlich von einem Rattenheer belagert war, regel recht umzingelt! Mit einem dumpfen Aufschrei sprang er aus der hölzernen Bett statt, trat dabei auf einen der quiekenden, fast katzengroßen Nager, geriet ob des schwammigen Untergrunds noch mehr in Panik und floh hysterisch brüllend aus der Schlafkammer hinaus auf den Gang der Abtei. Hinter ihm schlug die Tür zu. Sie schlug zu, ohne daß Bartolomä dafür Hand anlegte. Wie zur Salzsäule erstarrt, blieb er stehen. Aus den umliegenden Kammern traten Mönche heraus, angelockt vom ungewohnten, ja schockierenden Geschrei ihres Priors. Der Abt gewann nur mühsam seine Fassung zurück. Einer der Mönche trat auf ihn zu, nahm ihn am Arm und scheuchte die ande
ren Ordensbrüder zurück zu ihren Frühgebeten oder wobei auch immer sie gestört worden waren. »Was ist geschehen?« erkundigte sich Bruder Elias. Noch während er sprach, weiteten sich seine Augen, so daß der Abt, statt zu ant worten, seinerseits fragte: »Was hast du? Warum starrst du mich so an?« Bruder Elias kannte sehr wohl die Einstellung seines Priors zur grassierenden Pest: eine Gottesstrafe sei sie, hatte ihnen Bartolomä oft genug gepredigt. Und nun … »Euer Hals, Bruder …« Die Hand des Abts fuhr nach oben. Glitt über die immer noch schweißnasse Haut. Und hielt inne. »Nein …« Bruder Elias war zurückgewichen, scheute weitere Berührungen seines Abts. Bartolomä ließ ihn einfach stehen. Als hätte er die Rattenplage in seiner Kammer vergessen, machte er kehrt und verschwand in sei nem Privatesten. Hinter ihm schnappte der Riegel zu, den er in den zwanzig Jahren, die er nun schon Prior war, noch kein einziges Mal benutzt hatte. Erst der dumpfe Stoß, mit dem das Holz in die Nabe stieß, ernüch terte ihn, und er gedachte wieder der abscheulichen Brut, die sich bei ihm eingenistet hatte. Langsam drehte er sich um und blickte hinüber zum Bett. Es war leer, wie auch der Boden davor. Weit und breit schimmerte kein noch so winziger Fetzen Fell. Seine Peiniger waren verschwunden! Kurz darauf ertönten Schritte auf dem Gang. Es klopfte. Der Abt war noch völlig benommen. Langsam schob er den Riegel zurück und öffnete. Raffael, einer der älteren Brüder des Ordens meldete einen Gast, der danach verlangte, mit dem Prior des Klos
ters zu sprechen. Der Gast war gleich mitgekommen. Sein Blick schi en sich an Bartolomä’ Hals festzusaugen, während er sagte: »Ich glaube, ich habe etwas für Euch, das Euch gelegen käme.« Bevor er weiterredete, schickte er den Mönch wieder fort, der gehorchte, ohne sich zuvor mit seinem Prior zu verständigen. »Wovon sprecht Ihr?« fragte Bartolomä, der das Gefühl hatte, in Gegenwart des charismatischen Fremden zu schrumpfen. »Vom Leben«, sagte der Mann. »Eurem wertvollsten Gut. Ihr seid, wie ich sehe, gerade dabei, es zu verlieren. Ich könnte es Euch fest halten … Falls wir uns einig würden …« »Einig würden?« echote Bartolomä. Der Fremde zeigte auf die Beule, die erhaben am Hals des Priors hervortrat, als handele es sich um einen zweiten Kehlkopf. »Ihr wißt, worum es sich handelt.« Der Abt wich langsam zurück, bis ihm das Bett im Weg stand. Sei ne Beine gaben nach, er setzte sich auf die Kante des Schlaflagers. Der Fremde folgte. Jede seiner Bewegungen war geschmeidig. Sein Haar wurde von einer Spange am Hinterkopf zusammengehalten. Er war groß und schlank, nicht sonderlich muskelbepackt, und den noch strahlte er eine unmenschliche Kraft aus, die in Bartolomä ein ähnliches Entsetzen weckte, wie der Anblick der Ratten es getan hat te. Oder wie er es in dem Moment empfunden hatte, da seine Fin gerspitzen die Verdickung am Hals berührt hatten … »Es ist nicht … die Krankheit …!« krächzte er hilflos. »Wer seid Ihr überhaupt? Wie könnt Ihr Euch anmaßen –« Der Fremde, der eine lähmende Macht ausstrahlte, war da. Nur wenige Zoll vor Bartolomä blieb er stehen und hob die Hand, führte sie dorthin, wohin der Abt seine eigene draußen auf dem schattigen Gang geführt hatte. Es brannte wie Feuer, als der uneingeladene Besucher die Beule
berührte. Aber nur solange, wie ein Blitz einen schwülen Augusthimmel er hellte. Dann … Der Fremde sagte: »Es kann von Dauer sein. Wenn du mir einen Gefallen erweist.« Bartolomäs Finger fanden die Beule nicht mehr. Sie war unter der Berührung des Besuchers verschwunden. Glatt und gesund fühlte sich die Haut wieder an, nicht als schlummere eine böse Krankheit darin. »Wie – wie habt Ihr das gemacht?« »Das Wie spielt keine Rolle, nur das Warum. Und jetzt hör zu, was ich von dir verlange. Damit es nicht zurückkehrt …« Bartolomä lauschte gebannt den Worten des Fremden, der sich als der leibhaftige Teufel entpuppte. Eine Art Teufel zumindest. Und statt ihn mit Schimpf und Schande fortzujagen, erinnerte er sich unentwegt der grauenhaften Angst, die er gerade durchlitten hatte. So daß er am Ende nicht ablehnte, sondern einwilligte. Er verriet Gott. Er verriet alles, wofür er ein halbes Jahrhundert lang gelebt hatte, nur um die eigene, kümmerliche Haut zu retten. Das in der Nacht angekommene Schiff erregte zunächst vor allem ob seiner bizarren Formen Aufsehen. Auch zu Ulrich gelangte die Kun de davon. Auf dem Weg zum Hafen begegnete er Edgar. Er hatte den Rotschopf noch nie gemocht, aber seit letzter Nacht wußte er, daß sie mehr verband als die Gleichaltrigkeit.
»Willst du es dir auch anschauen?« fragte Edgar. Er war nicht grö ßer als Ulrich, aber sein Kopf wirkte unausgewogen riesig im Kon trast zum dürren Hals und den schmächtigen Schultern. Ulrich nickte. »Woher es wohl kommen mag? Angeblich hat es keine Besatzung.« Wortlos schloß sich Ulrich dem anderen Jungen an. Im Hafen herrschte großer Aufruhr. Neben erwachsenen Schaulustigen be staunten auch viele Kinder das eigentümliche Schiff. Wo immer Ulrich den Augen eines Gleichaltrigen begegnete, über lief ihn ein Schauer. Der goldbehängte Vogt traf ein, begleitet von ei ner Schar bewaffneter Männer. Auch der hohe Herr bestaunte das Schiff. Dann gab er Befehl, es zu durchsuchen. Erst jetzt erfuhr Ulrich aus den Gesprächen Umste hender, daß bereits zwei Hafenwächter vermißt wurden, seit sie das Schiff betreten hatten, um nach dem Rechten zu sehen. Ulrich beobachtete, wie die Hälfte der Bewaffneten auf das Schiff übersetzten und dort unter Deck verschwanden. Verschwanden im wörtlichen Sinne. Denn von dem Moment an, da sie die Bildfläche verließen, kehrten sie nicht mehr zurück! Die Unruhe wurde von Weile zu Weile größer, und das Gesicht des Vogts sprach Bände. Ulrich hörte, wie er irgendwann neue Be fehle an seine verbliebenen Soldaten erteilte. Zum einen sollten sie die Neugierigen zurückdrängen und das Hafengebiet weiträumig absperren. Zum anderen schickte er einen Boten zum nahen Kloster. Der Prior sollte herbeizitiert werden. Zu gespenstisch war das, was hier geschah. Und offenbar wollte der hohe Herr nicht noch weitere Männer in ein Ungewisses Schicksal entlassen. Die Gerüchteküche fing noch ärger an zu brodeln. Ulrich wurde mit den anderen Schaulustigen vom Ort des eigentlichen Gesche
hens abgedrängt. Weitere Soldaten trafen ein. Ulrich wandte sich schließlich ab und zog Edgar, den er in der Menge erspähte, mit sich. »Ich weiß, wem das Schiff gehört«, verblüffte er den Gleichaltri gen. Edgar machte eine abfällige Geste, die deutlich machen sollte, daß er Ulrich für einen üblen Aufschneider hielt. »Wem?« »Unserem Vater«, sagte Ulrich mit flattriger Stimme. »Unserem wirklichen Vater.« Gregor Hoya, der Stadtvogt, wunderte sich zwar, daß Abt Bartolo mä nicht, wie erbeten, zu ihm kam, sondern ihn zu sich bestellte, aber er war letztlich froh, dem Fluß – und allem, was darauf schwamm – den Rücken kehren zu können. Eine Kutsche brachte ihn zum Kloster. Wenig später stand er dem Prior gegenüber, der ihn in einem abgelegenen Teil des Stifts emp fing. Ein anderer Mann war bei ihm, kein Mönch. Bartolomä ersuch te den Vogt, seine Begleiter wegzuschicken. Hoya kam der Bitte nach. Es gab Dinge, für die vier Augen und Ohren besser als sechs, acht oder noch mehr geeignet waren. Er ersuchte auch Bartolomä, seinen Begleiter zu entlassen. Noch bevor der Abt darauf antworten konnte, sagte der Unbekannte selbst: »Wir kommen schneller voran, wenn ich bleibe. Um es kurz zu machen: Der Abt ist ein weiser Mann – bist du es auch?« »Ihr laßt den nötigen Respekt missen. Wer seid Ihr?« »Wählt selbst, was ich bin: Euer Leben oder Euer … Tod.« Aufgebracht schnaubend wandte sich Hoya an den Prior: »Ob er Euren Schutz genießt oder nicht, so lasse ich keinen dahergelaufe nen Wichtigtuer mit mir reden! Ich werde –«
Als er bemerkte, wie bleich der Abt geworden war, verstummte er. »Du hast den Pfaffen rufen lassen, damit er sich ein Schiff im Ha fen ansieht, in dem Menschen verschwinden«, sagte der Fremde. »Dieses Schiff gehört mir.« Gregor Hoya wußte im ersten Moment wirklich nicht mehr, was er sagen sollte. Die Offenheit – vor allem aber die Konsequenz hinter dem Gesagten – des Fremden erschütterte ihn. Er war weiß Gott kein schwacher Mensch. Als solcher hätte er es nicht zum Vogt ge bracht. Aber die bloße Nähe dieses Mannes schien ihm das Mark aus den Knochen zu ziehen. Er begriff, daß er nicht der Einzige war, der solches durchmachte. »Was heißt«, fragte er, »sie verschwinden?« »Es heißt, daß ihr sie nie mehr wiedersehen werdet. Niemand wird das. Und jedem weiteren, den du an Bord schickst, wird es ebenso ergehen.« »Das klingt nach …« Der Vogt suchte nach Worten. »… Zauberei«, half Abt Bartolomä tonlos aus. »Und genau das ist er: Ein Zauberer … Wenn nicht gar der Satan selbst!« »Das wäre wohl zuviel der Ehre.« Der Fremde lächelte kalt. »Prior!« Der Prior reagierte nicht auf Hoyas fast bettelnde Aufforderung, das eben Gesagte wieder zurücknehmen. »Es ist längst nicht alles«, sagte Bartolomä statt dessen. »Er steckt auch hinter der Pest und der Rattenplage. Und …« »Und?« »… hinter den hundertdreißig Kindern, die hundertdreißig Mütter haben, aber – glaubt man ihm – nur einen einzigen Vater.« »Einen Vater? Wen?« »Ihn.«
»Hast du es getan?« »Was getan?« »Du weißt schon.« Ulrich schüttelte den Kopf. »Du mußt es tun. Geh und leg dich schlafen. Und tu es! Es wird dich erleichtern. Es wird dich mir noch näher bringen. Wogegen sträubst du dich, mein Sohn? Es ist deine Natur …« Wie trunken verließ Ulrich die Dachstube. Legte sich auf das Bett in seinem Zimmer. Schloß die Augen. Und lauschte dem Echo der Stimme, die ihm zu töten befohlen hatte. Den eigenen Vater! Er ist nicht dein Vater. Das Wispern in seinem Kopf klang wie das Scharren kleiner Füße. Ulrich schloß die Augen. Im Geist entstand das Bild seines Vaters. Der ihn heute schon wieder geprügelt halte. Aber deshalb töten? Es ist deine Natur. Das Scharren wurde lauter. Außerhalb seines Kopfes. So nah wie heute waren sie ihm noch nie gekommen. Als ahnten sie seinen inneren Zwiespalt. Als ahnten sie, daß seine bisherige Ab wehr auf der Kippe stand. Ulrich wußte, was VATER von ihm erwartete. Er sollte den Mann, der ihn schlug, den Mann, der sich zu Unrecht sein Vater nannte, sterbend träumen. Sollte die Ratten zu ihm schicken, die seine Seele gebar. Schreckliche Ratten, die sich von seinen Gedanken und von seinem HASS nährten. Und die ihm jeden Wunsch erfüllen würden. Je schrecklicher, je grausamer, desto besser … Klemens Blei sterbend träumen. Die Mutter schonen.
Ulrich wußte nicht, wie lange er sich dem Gehorsam noch verweh ren konnte. Er fürchtete, im Schlaf die Kontrolle über sich zu verlie ren. Über sein gutes Naturell. Von dem VATER nichts wissen wollte. Die trippelnden Schritte entfernten sich wieder. Eine Atempause? Auf Zehenspitzen verließ Ulrich das Zimmer. Schwärze umgab ihn wie ein fadenscheiniger Mantel, der nicht in der Lage war, die Nachtkälte abzuhalten. Rasch tastete sich der Junge zum Ende des Ganges und hielt erst vor der Tür zur Elternstube inne. Von drinnen drang Stöhnen. Seine Mutter. Im ersten Moment glaubte er, sein Vater würde ihr wieder Gewalt antun, und er bereu te es bereits, den Traum nicht geträumt zu haben. Leise öffnete er die Tür einen Spalt. In der Kammer brannte eine Kerze. Aber niemand bemerkte das Aufgehen der Tür. Ulrichs Mutter saß auf seinem Vater. Und ihr Gesicht, von dem Ul rich nur das Profil sah, glänzte dabei wie im Fieber. Erschrocken zog sich Ullrich wieder zurück. Das Bild, das ihn be gleitete – das Bild seiner Mutter, die auf dem Schoß seines Vaters auf und nieder hüpfte wie in einem Sattel – verstörte ihn völlig. Wenn überhaupt, hatte es so ausgesehen, als täte die Mutter dem Va ter Gewalt an … Den ganzen Tag streunte Ulrich durch die Stadt. Überall waren Rat ten, fast mehr dieser grauen Nager als Menschen. Sie zeigten sich of fen. Kauerten auf Mauern, Fensterbänken und Dächern. In den Häu sern tanzten sie sogar auf den Tischen und Bänken. Es waren besondere Ratten. Nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus dem Stoff, aus dem … Ulrichs Gedanken stockten. Er war zum Hafen gelaufen, wollte
herausfinden, was es Neues im Zusammenhang mit dem verhäng nisvollen Schiff gab. Da sah er vor sich VATER laufen. Er kam von den Kaianlagen her. Sein Umhang wehte in der starken Morgenbri se; fest an die Brust gedrückt hielt er eine pralle Ledertasche. Nie mand behelligte ihn. Ulrichs Verdacht bezüglich des Schiffseigners schien sich zu bestä tigen. Er folgte dem zügig davonschreitenden Mann in gebühren dem Abstand, wußte dabei selbst nicht genau, was er sich davon versprach. VATER kehrte nicht in den Gasthof zurück, sondern suchte das Münster auf. Die mächtigen Mauern der Kirche, die zum Kloster ge hörte, tauchten den Vorplatz in tiefe Schatten. Die Sonne stand da hinter. Ulrich verbarg sich hinter dem dicken Stamm einer Linde in Sicht weite des Kirchenportals. Dort wartete er eine geschlagene Stunde, ohne daß VATER sich wieder blicken ließ. Eine Stimme schreckte ihn schließlich auf. »Was tust du hier?« Edgar hatte sich angeschlichen und schnitt eine Grimasse. Ulrich, der herumwirbelte, fröstelte. Früher war ihm nie aufgefallen, was für unheimliche, uralte Augen Edgar hatte. Sein Frösteln verstärkte sich, als ihm einfiel, daß er vielleicht nur in einen Spiegel schaute. »Nichts …« »Das glaube ich nicht.« »Glaub, was du willst.« In diesem Moment verließ er die Kirche. Edgar entdeckte ihn sofort. Womöglich spürte er ihn, wie auch Ul rich es tat.
»Du verfolgst ihn?« »Unsinn.« Die nächsten Worte Edgars ließen Ulrich um seine Fassung ringen. »Ich war heute bei ihm. Er rief mich zu sich.« Ulrich hätte nicht zu sagen vermocht, warum er innerlich davon ausgegangen war, der einzige zu sein, mit dem Belzebub sich unter hielt. Edgars Worte machten diese Illusion jedenfalls zunichte. »Was wollte er von dir?« »Soll ich dir das wirklich sagen?« »Warum nicht?« Edgars Gesicht gewann an Verschlagenheit. »Ich möchte dich nicht verletzen.« Ulrich hätte eher einer Schlange geglaubt als dem Gleichaltrigen. »Was wollte er von dir?« »Du hast ihn enttäuscht«, sagte Edgar. Ulrich spürte ein seltsames Brennen in der Brust, schwieg aber. »Er bat mich, dein Versäumnis nachzuholen. Ich tat ihm den Ge fallen.« »Wovon, zum Henker, redest du?« »Von deinem Alten. Ich habe mich heute Mittag ein Stündchen hingelegt. Nicht weil ich wirklich müde war. Aber ich wollte ihm den Gefallen tun. Was ist schon dabei.« Edgars Augen glitzerten wie schmutziger Schnee, als er hinzufügte: »Ich habe ihn geträumt.« Ulrich hörte auf an Belzebub zu denken. Seine kleine Faust schoß vor und wickelte sich um den Kragen von Edgars löcherigem Hemd. Er schüttelte den Jungen. »Du lügst!« »Warum sollte ich? Ich würde alles für VATER tun. Im Gegensatz zu dir. Was er jetzt weiß …« Ulrich stieß den anderen zu Boden und rannte los. Er rannte sich
die Lunge aus dem Leib, und als er sein Zuhause erreichte, tanzten Sterne vor seinen Augen. Der Schankraum war leer. Ungewöhnlich zu dieser Stunde. Ulrich hetzte die Treppe hinauf, wo ihm schon sei ne Mutter entgegenkam. »Du mußt jetzt sehr stark sein«, sagte sie. Er wollte etwas erwidern, brachte aber nur ein Krächzen zustande. »Dein Vater ist tot«, sagte sie und schloß ihn in ihre warmen, wei chen Arme. »Niemand weiß, wie es geschehen konnte. Gestern war er noch … gestern war er noch völlig gesund. Und heute … Ich fand ihn im Keller. Er hatte die Krankheit … Man hat ihn schon abge holt.« »Aber …« Sie schloß ihm die Lippen, indem sie einen Finger dagegen preßte. »Ich weiß, was du sagen willst. Normalerweise geht das Sterben langsamer vonstatten. Aber bei ihm … bei ihm bildete sich eine Beu le im Mund. In seinem Rachen. Er starb jämmerlich. Ganz blau war er, als ich ihn fand …« Das Bild wollte Ulrich nicht mehr aus dem Kopf gehen, das Bild, wie seine Mutter auf seinem Vater gesessen und sich bewegt hatte, als galoppiere sie auf einem feurigen Hengst über Wiesen und Fel der. Der Hengst war tot. Edgar hatte ihn umgebracht. Edgar hatte ihn geträumt. Ulrichs Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten. Er stand da und sah zu, wie sein Vater verscharrt wurde. Zwei Männer schaufel ten Erde zurück in das Loch, das sie zuvor ausgehoben hatten. Es gab jedesmal ein dumpfes, den Magen verdrehendes Geräusch,
wenn der feuchte Grund auf den reglosen Körper tief unten traf. Seine Mutter stand hinter Ulrich und hatte ihre Hände auf seine Schultern gelegt, ohne sich darauf zu stützen. Die Sonne stand im Zenit. Es war ein warmer Junitag. Ein paar Wolken, weiß und harmlos, drifteten wie Segel über das Blau eines unerreichbaren Meeres. Unerreichbar für die Lebenden. Klemens Blei mochte jetzt dort sein. Irgendwo dort draußen … Ulrich drehte sich um und preßte das Gesicht gegen den Bauch seiner Mutter. Sie tätschelte ihm tröstend den Kopf. Ulrich überleg te, ob er ihr sagen sollte, daß er wußte, wer seinen Vater, wer so vie le andere Bewohner der Stadt auf dem Gewissen hatte. Er hatte jedoch keine Hoffnung, daß sie ihm Glauben schenken würde. Das Haus war still wie nie, als sie wieder dort ankamen. Ul rich spürte sofort, daß er nicht da war. Er war wieder unterwegs. Was immer ihn umtrieb. Was immer er noch an Unheil über der Stadt aussäen würde. Seit Ulrich ihn in die Kirche hatte gehen und wieder herauskom men sehen, wagte er nicht einmal mehr, dort Zuflucht zu suchen. Ein Teufel, der nicht einmal Halt vor dem Haus Gottes machte … Sich matt und elend fühlend, ließ Ulrich alsbald seine Mutter al lein mit ihrem Gram und zog sich auf seine Stube zurück. Er schob den Riegel vor, wußte aber genau, daß dieser Riegel nicht halten würde, wenn es darauf ankam. Gegen Abend hörte er Schritte. Die Schritte eines Mannes. Sie blie ben kurz vor Ulrichs Kammer stehen, und der Junge meinte, ein lei ses, boshaftes Lachen zu hören. Dann entfernten sie sich die Treppe hinauf. Ulrich hatte erwartet, daß Belzebub ihn zur Rechenschaft ziehen würde. Wie hatte Edgar es formuliert: »Er weiß jetzt, daß ich alles
für ihn tun würde – im Gegensatz zu dir.« Niedergeschlagen sann Ulrich nach einem Ausweg aus dem Di lemma. Belzebub bezeichnete die vor rund vier Jahren geborenen, gleich altrigen Jungen dieser Stadt als seine Kinder. Möglich, daß er dies nur im übertragenen Sinn meinte. Aber schon das war schlimm ge nug. Wer mochte er sein, dieser Schreckliche, dem nicht einmal die Ob rigkeit gewachsen zu sein schien? Was für ein Schiff lag draußen am Fluß? Was war aus den Bütteln des Vogts geworden, die es hatten durchsuchen sollen? Über diesen Fragen schlief Ulrich ein. Vor Erschöpfung. Als er mitten in der Nacht erwachte, begriff er zunächst nicht, daß er geweckt worden war. Bis die Stimme im Dunkel sagte: »Es ist soweit. Ich vergebe dir. Wenn du fortan alles richtig machst …« Der Reisende wandelte seit mehr als fünf Jahrhunderten über diese Welt. Er hatte Könige und Kaiser kommen und wieder gehen sehen. Und Päpste. Die weltlichen Herrscher waren stets nur Marionetten der wahren Mächti gen gewesen, für deren Aussaat und Pflege der Reisende zuständig war. Mit dem Dunklen Gral der heimlichen Herrscher suchte er die hinters ten Winkel jener Kugel auf, die viele noch für eine Scheibe hielten. Er wuß te es besser. Er besaß Wissen und Macht eines einzigartigen Geschlechts. Und ein ebenso einzigartiges Instrument, das dessen Fortbestand bis in alle Zukunft sicherte. Von Stadt zu Stadt, von Land zu Land trieb es ihn, seit er denken konn te. Er stritt für die Belange der Kinder, die er auf den Stationen seiner Rei se zeugte. Das Ritual ihrer Entstehung war immer das gleiche …
… gewesen. Dann, vor fünf Jahren, hatte er sich von einer fixen Idee leiten und sich zu einem Experiment hinreißen lassen. Bei all der Macht, die er verkörperte, gab es doch einen steten Gegenpol zu seinem Wirken. Und diese Gegenkraft trotzte erfolgreich jedem Versuch, sie, wenn schon nicht zu beseitigen, so doch wenigstens unter Kontrolle zu bringen. Ihre Wurzeln gingen weiter zurück, als die Erinnerung des Reisenden reichte. Einer seiner Vorgänger – auf deren Spuren er allenthalben stieß – mochte es in der Hand gehabt haben, die Entstehung jener gefährlichen Kraft zu vereiteln, sie im Keim zu ersticken. Aber er war gescheitert und die Folgen bis heute spürbar. Das was in dieser Stadt, in dieser Nacht passieren würde, sollte den Grundstein legen zur alleinigen und ungestörten Herrschaft. Die künftigen Generationen der Menschen sollten dem Volk der Nacht hilf- und wehrlos ausgeliefert, ihm Nahrung und Spielzeug sein. Um das aber zu erreichen, mußte die Wurzel des Übels beseitigt werden. Und das hatte der Reisende vor. Mit hundertdreißig Kindern, die in dieser Nacht ihren Ritterschlag er fahren sollten… Fast der ganze Weg zur Kirche verlief in drückender Schweigsam keit. Die Häuser lagen still und dunkel im Samt der Nacht. Nur schwaches Wimmern klang ab und zu aus den Mauern hervor. Sonst nichts. Die Bewohner schliefen oder wälzten sich in Qualen, die ein Gesunder sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Auch Ulrich nicht. Sein Blick streifte durch die Dunkelheit. Nir gends waren Ratten zu sehen, fast als wären sie wieder in die Köpfe derer zurückgekrochen, die sie erdacht hatten.
Auch in mir stecken sie, dachte Ulrich, während er Belzebub folgte, der ohne Zögern vorausschritt. Sie lauern nur darauf, daß ich ihnen endlich ein Schlupfloch öffne. »Ich vergebe dir«, hatte der Unhold gesagt. »Wenn du fortan alles richtig machst.« Als Ulrich das Gasthaus seiner Eltern verlassen hatte, war es ihm wie ein Abschied für immer vorgekommen. Wie gern hätte er seiner Mutter noch Lebewohl gesagt, wenigstens ihr. Es war ihm nicht er laubt worden. Nur ein einziges Mal hielten sie unterwegs an. Beim Gefängnis. Belzebub sprach mit den Wachen. Kurz darauf erschien ein Junge in Ulrichs Alter. Sie waren einander nie zuvor begegnet, so klein die Stadt auch war. Aber Ulrich hatte von dem anderen Knaben gehört, wußte folglich, was diesem vorgeworfen wurde: Nicht allein auf sei ne dunkle Gabe sollte er sich beschränkt, sondern sich seine eigenen Hände mit Blut besudelt haben … Karl starrte Ulrich ausdruckslos an. Er war zum Fürchten. Nichts an ihm ließ Reue über die begangene Untat erkennen. »Was ist mit dir los«, fauchte Karl. »Was glotzt du mich so an?« Ulrich gab keine Antwort. Durch die nächtliche Stadt kamen sie zum Münster. Die Kirche wuchs gewaltig vor ihnen in die Höhe. Sie war genauso stumm wie die Stadt. Auch noch, als Belzebub das Por tal öffnete und die Kinder aufforderte, hineinzuschlüpfen. Drinnen brannten Kerzen, und es zeigte sich, daß Ulrich und Karl die letzten Nachzügler waren. Sämtliche vorderen Kirchenbänke waren besetzt. Von Kindern. Hundertachtundzwanzig Knaben, die so alt wie Ul rich oder Karl und mit derselben Schreckensgabe ausgestattet wa ren. Vorn auf dem erhöhten Altarpodest stand Abt ßartolomä, der Pri or des nahen Stifts. Er hatte seine vielleicht kostbarste Robe angezo
gen und blickte den Eintretenden entgegen, die Hände auf den Al tarstein gestützt, der ansonsten wie leergefegt dastand. Aller übliche Zierat war beseitigt. Nackter Fels, von der der selben Farbe wie graues Eis, bildete einen Tisch, von dem niemandem eingefallen wäre zu essen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Ulrich, daß der Abt zitterte. Daß in seinen Augen Angst und Pein wucherten. Seine Züge wirk ten regelrecht eingefroren, fast als bestünden sie aus demselben Ma terial wie der Altar. Belzebub wies ihnen freie Plätze in den hinteren Reihen zu. Er selbst begab sich nach vorn neben den Abt. Aus seiner mitge brachten Tasche holte er den Kelch, den Ulrich schon in der Dach stube des Gasthofs zu Gesicht bekommen hatte. Belzebub pflanzte ihn mit fast ehrfürchtiger Geste auf die Altarmitte, ehe er sich den erwartungsvoll zu ihm aufblickenden Versammelten zuwandte. »Es ist soweit«, sagte er in dramatischem Tonfall. »Die Nacht der Nächte. Bevor wir aber mit der Taufe beginnen, die den falschen Glauben von euch nimmt, das falsche Leben und die Sterblichkeit, wendet euch noch einmal der Stadt zu. Vollendet, was ihr bereits be gonnen habt. Es dürfen keine Zeugen übrigbleiben, wenn wir im Morgengrauen an Bord gehen. Entsendet eure kleinen Freunde in je des Haus, jeden Raum, jedes Versteck. Auch hinauf ins Kloster. Ver geßt keinen Ort, keine Seele. Schont nur die, die euch als Proviant auf der weiten Reise dienen werden. Eure Mütter: Träumt den Tod der Stadt. Tilgt sämtliche Spur, die Aufschluß über euch geben könnte. Ihr sollt unbehelligt eurer Mission nachgehen können. Die jenseits des Meeres auf euch wartet. Ihr seid das kleinste Heer, das je nach dort entsandt wurde. Aber auch das mächtigste. Die Mauern der uralten Stadt werden eurem Ansturm nicht standhalten! – Und jetzt: Schließt eure Augen! Träumt!«
»Aber …«, krächzte der Geistliche. »… Ihr hattet doch versprochen …« Weiter kam er nicht. Ulrich, dessen Augen immer noch offen waren, sah, wie ein Blitz aus dem Kelch herausfuhr. Kurz vor dem Kopf des Abts spaltete er sich wie die Zunge einer Schlange und bohrte sich dann in beide Augen des Gottesdieners. Als der Blitz wieder erlosch, schien ein Ruck durch den Prior zu gehen. Er löste sich vom Altar und trat vor die Kinder, als wollte er seinen Segen über sie sprechen. Doch die Laute, die seinem Mund entströmten, waren gräßlicher Natur. Ulrich war nicht in der Lage, sie zu verstehen. Es klang, als würde sich Abt Bartolomä selbst die Zunge bei dem Versuch verdrehen, sein Kirchenlatein rückwärts zu sprechen. Am Ende stand er da, tastete nach dem Kruzifix, das an einer Ket te vor seiner Brust hing, umfaßte es mit beiden Händen und entleib te sich damit. Sterbend sank er auf die Stufen des Podests. Keines der Kinder hatte sich von seinen Plätzen weg bewegt. Aus keinem Mund drang Bestürzung über das Geschehen. Nur Ulrich konnte den Aufschrei nicht ganz unterdrücken. Er glaubte, aller Au gen auf sich lasten zu spüren. Schnell preßte er die Lider zusammen. Mehr, um nicht länger den zuckenden Körper des Priors betrachten zu müssen, als um dem Befehl des Belzebub Folge zu leisten. »Er hat die hinderliche, alte Taufe von euch genommen«, hörte Ul rich ihn scheinbar unbeeindruckt rufen. »Kein Makel soll euch an haften, wenn ihr meine, Taufe und ewiges Leben erfahrt. – Tut jetzt, was ich gesagt habe. Tilgt die Spuren und vergeßt mir den Vogt nicht … Entsendet euer Heer, so wie ich das meinige entsenden wer de. In das gelobte Land, das heilig genannt wird … Noch!« Ulrich hatte eine Vision. Sie suchte ihn mit einer solchen Wucht heim, als wäre es das Fegefeuer selbst, das in seinem Kopf zu lodern
begonnen hatte. Jede Flamme war ein eigenständiges Bild, und jedes dieser Bilder fügte sich zusammen zu einem Gemälde unvorstellba ren Grauens! Die Ratten überschemmten die Stadt wie eine unaufhaltsame Flut. Nichts und niemand war vor ihnen sicher. Nicht einmal das erhöht liegende Stift. Nicht einmal das festungsgleiche Haus des Vogts. Überallhin quollen die verderblichen, todbringenden Gedanken der Kinder des einen VATERS. Jenes VATERS, der vor ihnen am Altar stand und tat, was nie mand sehen konnte, weil aller Augen geschlossen waren, auch Ul richs. Er entblößte seinen Arme und hielt ihn über den mitgebrach ten, purpurleuchtenden Kelch. Von unsichtbarer Klinge geführt, ent stand ein Schnitt in seinem Fleisch. Die Pulsader öffnete sich, ohne daß der KindsVATER eine Miene verzog, und mit glänzenden Au gen sah er zu, wie sein Blut, das nicht rot, sondern schwarz wie zähe Tinte war, in den Kelch floß, der sich randvoll füllte. Als dies erreicht war, schloß sich die Armwunde ebenso geister haft, wie sie entstanden war. Und noch immer träumte sein künftiges Heer, träumte den Tod über die Stadt … Nein, dachte Ulrich. Ich – kann – es – nicht –! Den Tierchen in seinem Kopf gefiel nicht, was er dachte. Sie be gannen, um sich zu scharren und zu beißen. Sie waren der Tod. Der immer tollwütiger werdende Tod. Bald, ahnte Ulrich, würden sie nicht mehr zwischen Herr und Opfer unterscheiden. Bald würden sie die Wände ihres Gefängnisses mit gefletschten Zähnchen nieder reißen und sich ihm zuwenden, ihn vergiften und ins qualvolle Siechtum stürzen … … konnten sie das?
Er war sich nicht sicher. Er hörte die Stimme. Die Stimme von Belzebub, dessen wahrer Name wahrscheinlich für immer ein Geheimnis bleiben würde. Belzebub rief das erste Kind auf, zu ihm zu kommen. Der Traum der Knaben war beendet. Die unheimliche Pest, gegen die es keine Mittel gab, hatte jeden Winkel der Stadt erobert. Mein künftiges Heer, hatte Belzebub die Kinder genannt. Würden sie nun erfahren, was er damit meinte? Kinder waren keine Soldaten. Auch nicht, wenn sie die Gabe besitzen? Ulrich rutschte nervös auf seinem Platz hin und her. Niemand saß neben ihm. Und im Gegensatz zu ihm, hielten die Kinder in den Rei hen vor ihm völlig still. Keinerlei Angst schien sie zu umspinnen, nur Erwartung, dunkle Vorfreude auf eine Bestimmung, die ihnen schon in die Wiege gelegt worden war, und der sie sich gar nicht entziehen wollten. Warum bin ich anders? Ulrichs Hände krampften sich um die Bank, auf der er saß. Sein Blick war zwischen den Köpfen der Anderen hindurch nach vorn gerichtet. Er kannte viele von ihnen. Einige Spielgefährten waren darunter. Er war nicht immer ein Sonderling gewesen. Erst als die Ratten und mit ihnen die Pest aufgetaucht waren, hatte er sich mehr und mehr zurückgezogen, abgekapselt. Ulrichs Gedanken wanderten zu seiner Mutter. Schont nur die, die euch als Proviant auf der weiten Reise dienen wer den. Ihm wurde speiübel bei der Vorstellung, das Fleisch seiner Mutter zu essen … oder wie sonst waren die Worte des Schrecklichen zu
verstehen? Belzebub wandte sich gerade dem ersten Kind zu. Er hob den Kelch vom Altar, und Ulrich glaubte, etwas Flüssiges darin wogen zu sehen. Schwarz und scheußlich … Belzebub reichte den Kelch an den Jungen weiter, ließ ihn aber nicht los, sondern half lediglich, das schwere Gefäß an die Lippen zu führen. Der Junge zögerte nicht, einen durstigen Schluck zu neh men. Sein Blick war voller Vertrauen. Bis ihm die Augen hervorquollen. Bis er schreiend zusammenbrach und sich zwei, drei Herzschläge lang am Boden wälzte. Belzebub stand reglos daneben, den Kelch gesichert. Dann erstar ben die Zuckungen des Knaben. Ulrich wußte sofort – wahrschein lich wußten es alle Kinder, die zuschauten –, daß er tot war. Doch mitten in die grausame Stille hinein fiel ein Seufzer, und dann richtete sich der gerade noch wie tot dagelegene Knabe abrupt und mit raubtierartiger Geschmeidigkeit wieder auf. Seine Augen, als er das Gesicht den Wartenden zuwandte, glommen als wäre eine Kerze in seinem Kopf entzündet worden. Deren waberndes Licht brach aus den Augen hervor. Gespenstisch und zugleich verlockend für all diejenigen, deren Blick noch nicht entfacht worden war. Ulrich spürte die Verlockung einen kurzen Moment lang. Dann überwog wieder sein Ekel. Seine innere Abwehr. Als er das nächste Mal zu dem aufgestandenen Jungen hinblickte, war ihm, als wäre dieser … ein Stück gewachsen. Als hätten seine Züge an Strenge und Ausdruck gewonnen. Als … Der nächste Knabe war aufgestanden, nach vorn gegangen und empfing nun den Kelch. War das die Taufe, die wahre Taufe, von der Belzebub gesprochen hatte?
Während wir hier sind, liegt die Stadt im Sterben, durchrann es Ulrich wie Eiswasser. Ich – will – das – nicht –! All die Menschen. Kinder – Säuglinge und ältere Kinder als sie es waren –, Männer, Frauen, Bettlägerige, Aussätzige, gute Menschen, schlechte Men schen … Der geträumte Tod war über sie gekommen, hatte keinerlei Unter scheidung gemacht. Nur die Mütter der heute Vierjährigen waren verschont worden – und das auch nur befristet, um zu einem späte ren Zeitpunkt ihr Leben zu lassen. Unterwegs auf einem Schiff, das wohin fahren würde …? Und warum dorthin? Der Kelch spie immer grelleres, immer zermürbenderes Licht aus, mit jedem Kind stärker, das aus ihm trank, sich wälzte, starb und wieder aufstand. Während sich die Reihen der Gleichaltrigen in den Bänken immer mehr lichteten, entstand hinter dem Altarstein eine Phalanx von Ge schöpfen, die allesamt diesen schwülen Glanz, dieses jenseitige Feu er in den Augen leuchten hatten. Ulrich schauderte, während das Unheil näher kam, immer näher auf ihn zu. Er überlegte, ob er flüchten sollte. Ob er es überhaupt konnte. »Ich vergebe dir. Wenn du fortan alles richtig machst …« Und wenn nicht? Wenn er »falsch« handelte? Was würde seine Strafe sein? Was konnte schlimmer sein als der Trunk, den die ande ren vor seinen Augen empfingen? Allmächtiger Gott, der du bist im Himmel – Ulrich hatte das Gefühl, einen riesigen, schroffen, kalten Stein im Magen liegen zu haben. Das Gewicht wollte ihn zu Boden ziehen,
und wie gern hätte er dem nachgegeben. Schon weit über hundert Kinder mußten vorne stehen. Nur noch wenige warteten darauf, aufstehen und sich hinzugesellen zu dür fen. In Ulrich jagte entsetzliche Angst jeden klaren Gedanken. Er dachte an seinen Vater, der von Edgar umgebracht worden war. Edgar, der links von ihm die letzte Bank auf der anderen Seite des Mittelgangs besetzte. Und immer wieder höhnisch herüberblickte. Als wollte er sagen: Diesmal entgehst du deiner Verdammnis nicht. Diesmal wirst du tun, was alle tun. Sterben und aufstehen. IHM zu Ge horsam sein. Tun, was ER verlangt. Vorn auf der Bühne – ja, das war es, eine Bühne – knirschte das Hemd des ersten Täuflings, weil es ihm zu eng geworden war, viel zu eng. Ulrich hatte sich nicht getäuscht. Er war gewachsen. Er ver änderte sich nicht nur, was das Licht in seinen Augen anging, son dern von seiner ganzen Erscheinung her. Die Armee formiert sich … Der bizarre Gedanke stand einfach in Ulrichs Kopf. Wie hinge malt. Wie hingezaubert. Zauberei. Das alles war pure Hexerei! Finsterste Magie! Und er selbst … war Bestandteil der Verderbnis …! Ulrich zählte rückwärts. … acht … sieben … Die letzten Kinder standen auf und schritten nach vorn. … sechs … fünf … vier … Die ganze Zeit hatte Ulrich den Eindruck, Belzebub würde nur auf ihn warten. Die anderen waren ihm längst sicher. Aber er, Ulrich,
mußte erst noch beweisen, daß er »fortan alles richtig zu machen« gewillt war. … drei, zwei … Linker Hand erhob sich Edgar. Er warf Ulrich einen triumphieren den Blick zu, der diesen zugleich aufforderte, sich ihm anzuschlie ßen, ihm in die Taufe, die erst Tod und dann wieder Leben bedeute te – schreckliches, unerklärliches Leben –, zu folgen. Ulrich schüttelte die Zentnerlasten von seinen Schultern ab. Edgar trat in den Mittelgang und ging den Weg, den vor ihm schon die mehr als hundert anderen gegangen waren. – geheiligt werde dein Reich… Die Beine immer noch bleiern schwer, schloß Ulrich sich dem Mör der seines Vaters an. Die anderen Mörder warteten schon. Mörder, deren Kindkörper gerade von etwas gesprengt wurden, was mit der Kelchflüssigkeit in sie gelangt war, sich dort wuchernd ausbreitete und die Schale bersten ließ. Ulrich waren die Täuflinge fremder denn je. Sie erinnerten ihn an gierige Insekten, die sich gerade durch ihr Verpuppungsstadium hindurchgefressen hatten und nun zu ihrer wahren Form fanden. Die immer noch täuschend schön, täuschend harmlos gegenüber dem war, was sich in ihnen verbarg. Krieger. Es waren Krieger. Und er – er würde gleich einer von ihnen sein. – dein Wille geschehe … (DEIN WILLE! Nicht des BELZEBUB Wille!!) Ulrich strauchelte. Der Stolperer ernüchterte ihn drei Schritte von den Stufen des Podests entfernt, auf dem Edgar gerade zu trinken
begonnen hatte. Ulrich schloß die Augen. Das Licht, das der Kelch verströmte, durchbrach die Häute seiner Lider. Ich – will – nicht – werden – wie – sie –! War seine Mutter bereits auf dem Schiff? Wartete sie dort, einge pfercht mit über hundert anderen Frauen, auf die Ankunft ihrer Kin der, die nicht mehr ihre Kinder waren? – und vergib uns unsere Schuld… (Mir! Vergib mir meine Schuld!) Ulrich sank auf die Knie. Fast synchron mit Edgar, der zu Boden ging, sich wälzte, röchelte, stammelte … und dann ganz, ganz still lag … Und während Belzebub Ulrichs Namen rief, während die Augen der bereits aufgestandenen Nichtmehrkinder, Nichtmehrmenschen auf ihn gerichtet waren und Löcher in seine Seele brannten, begann … … begann Ulrich zu träumen… Den einzigen Traum, der ihm noch blieb. Den Traum, der alles beendete. Auch den Träumer. Der Reisende durchwanderte die Stadt im Morgengrauen und ver suchte zu begreifen, was geschehen war. Wie es hatte dazu kommen können! Noch einmal sah er sich, wie er den purpurleuchtenden Kelch in Händen hielt, in dem sich nur noch ein geringer Bodensatz befand. Ein Rest, der genügt hätte, um auch das letzte Kind dieser Stadt in einen vollwertigen Eroberer und Zerstörer zu verwandeln.
Aber das letzte Kind hatte den Trunk verweigert. Und nicht nur das! Der Blick des Reisenden schien noch einmal über die Sterbenden hinwegzuwischen, die durch das Kirchenschiff torkelten und nicht wußten, wie ihnen geschah; nicht wußten, wie sie dem, was über sie gekommen war, Einhalt gebieten sollten! Ihre Gabe war erloschen, in dem Moment, da der Kelch ihnen ihre Kinderseelen gestohlen und gegen etwas anderes eingetauscht hatte, mit dem sie sich in ihrem Zweiten Leben besser zurechtfinden soll ten. Eines Kindes Gabe aber hatte noch existiert. Und dieser Junge, dieser Knabe, den der Reisende bis zuletzt un terschätzt hatte, war allen anderen Täuflingen zum Schicksal gewor den! Zuerst hatte der Hüter des Kelchs nicht glauben wollen, was sich vor seinen Augen abspielte. Aber dann hatte er dagegen zu wirken versucht. Mit Hilfe des Grals, den er verwaltete! Umsonst. Nichts hatte den Brand, die Kettenreaktion noch zu stoppen ver mocht, die Besitz von den zeitrafferschnell reifenden Körpern der Kelchvampire ergriffen hatte! Ihre Hüllen hatten sich in die verschiedensten Stadien der Meta morphose zu flüchten versucht. Der Verwandlung in das geflügelte Tier waren sie noch nicht mächtig gewesen, aber Ansätze waren an den zerfallenden Leibern bereits sichtbar gewesen … … bevor die Krankheit, die nicht für sie bestimmt gewesen war, sie hinweggerafft hatte. Vor den Augen des Hüters waren sie aus ihrem innersten Kern
heraus von einem kalten Feuer verzehrt worden. Restlos alle. Bis auf … Der Reisende erreichte den Hafen. Dort traf er auf einen Mann, der ihm entgegengetaumelt kam und stammelte: »Die Pest! Ich … hatte die Pest … Aber vorhin ist sie einfach wieder verschwunden! Ich – ich bin wieder gesund …! Schau! Schau das Wunder …!« Der Reisende packte den Mann, der sein Glück nicht fassen konn te, und zerfetzte ihm mit einem schnellen Biß die Halsschlagader. Während er aus der tödlichen Wunde trank, weidete er sich am Ent setzen in den Augen seines Opfers. Die Gabe ist schuld, dachte er. Ich hätte menschliche Brut niemals mit einer solchen Gabe ausstatten dürfen …! Der Junge, der den großen Plan vereitelt hatte, lebte auch nicht mehr. Der Reisende hatte ihn zuerst seinen Zorn spüren lassen. Aber offenbar war es ihm zuvor noch gelungen, den Fluch – die magische Krankheit –, den seine »Brüder« über die Stadt verbreitet hatten, wieder zurückzunehmen. Deshalb war er selbst über und über von Beulen übersät, als ich ihm das kleine Genick brach … Der Hüter schleuderte das geleerte Gefäß aus Fleisch und Knochen einfach von sich, nahm wieder die Tasche auf, die er zuvor abgesetzt hatte, und ging damit an Bord des Schiffes, in das er ähnliche Mü hen wie in das ganze Experiment investiert hatte. Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens war in weite Ferne entrückt. Eine kleine, unbedeutende Stadt hatte er sich aus Aus gangspunkt seines Kreuzzugs ausgesucht gehabt. Inspiriert von den Versuchen der Kirche, die sogenannte Heilige Stadt aus der Hand der »Ungläubigen« zu befreien und im Gelobten Land ein christli ches Königreich Jerusalem zu errichten, hatte er sein eigenes Heer
dorthin entsenden wollen. Mit dem einzigen Unterschied, daß seine Krieger die Stadt nicht nur erobert, sondern auch zerstört hätten. Für alle Zeiten ausradiert von den Karten der Welt. Und irgend wann auch aus dem Gedächtnis der Menschen …! Der Reisende betrat das Schiff und begutachtete den Proviant. Als die Sonne über dem Horizont erschien, verließ er die erwa chende Stadt. Er machte sich nicht die Mühe, herauszufinden, ob die magische Pest tatsächlich von jedem Bürger genommen worden war. Im Grunde war es ihm gleich. Er hatte eine Lehre gezogen, und es war fraglich, ob er die fixe Idee, die er seit ein paar Jahren verfolgt hatte, wirklich noch einmal von neuem zu verwirklichen suchen würde. Die Zeit würde es weisen. Zeit … Es gab nichts, was ihm in ähnlichem Maße zur Verfügung stand, wie eben die Zeit, die den Menschen oft wie Sand zwischen den Fin gern verrann. Ihm nicht. Er war ein Reisender, den selbst die Ewigkeit nicht schreckte. ENDE