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Psychoanalytische Individualpsychologie in ...
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Bernd Rieken Brigitte Sindelar Thomas Stephenson
Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft
Mit einem Beitrag von Roland Wölfle
Univ.-Prof. Dr. Dr. Bernd Rieken Dr. Brigitte Sindelar Univ.-Doz. Dr. Thomas Stephenson Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Wien
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2011 Springer-Verlag/Wien Printed in Germany SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.at Satz: le-tex publishing services GmbH, 04229 Leipzig, Germany Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Germany Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier SPIN: 12739158 Mit 19 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7091-0464-4 SpringerWienNewYork
Vorwort
Da sich die Gründung der Individualpsychologie 2011 zum 100. Mal jährt und seit den 1980er Jahren kein umfangreiches Lehrbuch mehr erschienen ist, wollten wir rechtzeitig zum Jubiläum einen Band vorlegen, der möglichst umfassend ist und auf dem aktuellen Stand. Der Titel „Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis“ erklärt sich daraus, dass die deutschsprachige Individualpsychologie sich nicht mehr um strikte Abgrenzung zur Schule Freuds bemüht, sondern seit einigen Jahrzehnten wieder verstärkt die Gemeinsamkeiten sieht, welche bereits vorhanden waren, als Adler noch Mitglied der Mittwochsgesellschaft war. Und „psychoanalytische Individualpsychologie“ möchte anzeigen, dass wir trotz aller Gemeinsamkeiten Adlers Schule als selbstständigen Beitrag zur Tiefenpsychologie ansehen. Der zweite Bestandteil des Titels, nämlich „in Theorie und Praxis“, bezieht sich auf ein Buch („Praxis und Theorie der Individualpsychologie“), welches Adler seinerzeit als Einführung in sein Werk verfasst hat. Der Untertitel „Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft“ nebst seiner Reihenfolge möchte darauf aufmerksam machen, dass zwar die Therapie im Vordergrund steht, dass aber auch wichtige Impulse von der Individualpsychologie auf die Pädagogik ausgegangen sind. Und nicht zuletzt sollte auch ein Blick auf Gesellschaft und Kultur gerichtet werden – Bereiche, die eher stiefmütterlich behandelt werden. Die jeweiligen Kapitel sind namentlich gekennzeichnet, wodurch angezeigt werden soll, dass die Autorin und beide Autoren ausschließlich selbst verantwortlich dafür sind. Doch da wir in grundlegenden Fragen übereinstimmen, hoffen wir, den intendierten monographischen Charakter des Buchs erhalten zu haben. An dieser Stelle möchten wir sehr herzlich Roland Wölfle danken, der das Kapitel über Gruppenpsychotherapie verfasst hat. Hinsichtlich der gendergerechten Schreibweise konnten wir allerdings keine Einigkeit erzielen. Daher verwendet Thomas Stephenson in seinen Beiträgen die weibliche und männliche Form, während Brigitte Sindelar und Bernd Rieken die weibliche Form in der Regel mit meinen, wenn sie die männliche verwenden. Bei Literaturhinweisen oder Zitaten im Fließtext wird in runden Klammern die benutzte Ausgabe angeführt. Unter dieser findet man das Buch oder den Beitrag auch im Literaturverzeichnis. Bei allfälligem abweichendem Ersterscheinungsjahr wird dieses im Literaturverzeichnis in eckigen Klammern hinzugefügt. Einzige Ausnahme davon bilden die Schriften Adlers und Freuds. Sie werden im Fließtext nach der gängigen Zitierweise angeführt und in der entsprechenden Reihenfolge auch im Li-
vi
Vorwort
teraturverzeichnis. Hinzukommt allerdings an hinterer Stelle der bibliographischen Angabe die jeweils zitierte Ausgabe nebst ihrer Auflage, das heißt in der Regel die „Studienausgabe“ Adlers und die „Gesammelten Werke“ Freuds. Nicht zuletzt möchten wir uns herzlich bei Frau Eva-Maria Oberhauser vom Springer-Verlag für die professionelle und effiziente Zusammenarbeit bedanken. Wien, im März 2011
Bernd Rieken Brigitte Sindelar Thomas Stephenson
Inhaltsverzeichnis
1 Geschichtlicher Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.1 Zur Vorgeschichte der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Rieken
1
Der Seelenbegriff in der griechischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schamanismus und Volksheilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung des Individuums in der europäischen Neuzeit . . . . . . . . . . . . Aufklärung und Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 4 10 13
1.2 Freud und Adler: Wissenschaft und Mentalität im Wien um 1900 . . . . . . . . . . . . . . Bernd Rieken
23
1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson
31
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
1.3.1 Die Zeit der Gemeinschaft der frühen Tiefenpsychologie (Zusammenarbeit mit und Trennung von Freud) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die Zeit der Trennung von alten Bindungen und erste Identitätsbildungen . . 1.3.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie zwischen 1937 und 1990 . . . . . . 1.3.4 Aktuelle Entwicklungen (1991–2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 45 46 48
2 Individualpsychologische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
2.1 Weltbild, Menschenbild, Persönlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation; Wirk- und Zielursache, Fiktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Rieken 2.1.2 Lebensstil, Lebensstilanalyse und tendenziöse Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson 2.1.3 Individualität und Gemeinschaft: Gemeinschaftsgefühl als Bindeglied . . . . . . Thomas Stephenson 2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie und eine individualpsychologische Antwort auf die absolute Fragilität der analytischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson
55 55 64 71
72
viii
Inhaltsverzeichnis
2.1.5 Kriterien psychischer Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Sindelar 2.1.6 Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson
87 95
2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre . . . . . . . . . . . . 101 Thomas Stephenson 2.2.1 Entwicklungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Die „Big Four“ der modernen Entwicklungsforschung . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Eriksons Konzept der Lebensthemen als Hintergrund für ein individualpsychologisches Konzept der Lebensaufgaben . . . . 2.2.1.3 Die „individualpsychologische Linie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.4 Eine individualpsychologische Erweiterung des „Virtuellen Anderen“ (Bråten) und des „Intermediären Raumes“ (Winnicott) . . . 2.2.1.5 Individualpsychologisch interpretierte „Stufen der Intersubjektivität“ (Trevarthen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.6 Gemeinschaftsgefühl im Spiegel einer individualpsychologisch interpretierten Matrix der menschlichen Entwicklung: Dimensionen, Wir-Stufen, Kompetenzbündel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die gegenseitige Verwiesenheit von Entwicklungstheorie und Krankheitslehre/Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Individualpsychologische Krankheitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102 105 110 118 122 132
135 139 140
2.3 Triebtheorie: Sexualität und Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Bernd Rieken 2.4 Gender und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Brigitte Sindelar 2.5 Querverbindungen zu neueren Strömungen in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Ich-Psychologie und Neopsychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Rieken 2.5.2 Objektbeziehungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Rieken 2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson 2.5.3.1 Selbstpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.2 Relationale Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3.3 Die Rolle von Selbstpsychologie und Relationaler Psychoanalyse für eine Psychoanalytische Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Feministische Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson
175 175 181 189 191 193 196 199
Inhaltsverzeichnis
ix
3 Technik der individualpsychologisch-analytischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3.1 Die therapeutische Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Bernd Rieken 3.1.1 „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3.1.2 Machtgefälle und soziale Gleichwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 3.1.3 Abstinenz, Authentizität und Selbstenthüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.2 Das Erstgespräch und die individualpsychologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Brigitte Sindelar 3.3 Interpretation des Traumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Bernd Rieken 3.4 Die Frage der Orthodoxie in den Behandlungstechniken einer Psychoanalytischen Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Thomas Stephenson 3.5 Beispiele aus der Praxis: Fokaltherapien und Langzeitanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Psychotherapeutische Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Sindelar 3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Stephenson 3.5.3 Psychotherapie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Rieken
245 245 249 262
4 Neurowissenschaften und Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Brigitte Sindelar 5 Spezialgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 5.1 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Brigitte Sindelar 5.1.1 Anmerkungen zu psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . 5.1.2 Zur Tradition der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die besonderen Bedingungen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 5.1.4 Besondere Kenntniserfordernisse zur psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Die besondere Sprache der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.6 Besondere Beziehungskompetenzen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Besondere ethische Bedingungen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275 276 277 279 281 296 302
x
Inhaltsverzeichnis
5.2 Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Brigitte Sindelar 5.3 Körperpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Bernd Rieken 5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Roland Wölfle 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7 5.4.8
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfänge der Gruppenpsychotherapie in der Individualpsychologie . . . . . . . . Individualpsychologische Großgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die therapeutische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung individualpsychologischer Gruppenpsychotherapien . . . . . . . . . . . Die „klassische“ individualpsychologische Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . Integrative Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion und Zusammenfassung: Die „Marke“ Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . .
321 322 325 326 327 327 329 333
5.5 Erziehung – Schule – Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Brigitte Sindelar 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4
Individualpsychologische Erziehung als interdisziplinäre Verantwortlichkeit Erziehung im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehungsfeld Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehungsfeld Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
335 338 342 346
5.6 Psychoedukation, Beratung, Coaching, Counselling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Brigitte Sindelar 5.7 Spiritualität und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Thomas Stephenson 6 Beispiele aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . 359 Bernd Rieken 6.1 Dichtung und Volkserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 6.1.1 „Die ganze Welt ist eine Bühne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 6.1.2 „Oben“ und „Unten“ in der Volkserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 6.2 Homo ludens – Spiel, Kultur und Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 6.3 Politik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 6.3.1 Barack Obama und die US-Amerikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 6.3.2 Der Fall Guttenberg und die politische Kultur in Deutschland . . . . . . . . . . . . 383 6.4 Katastrophenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Inhaltsverzeichnis
xi
7 Ausbildung, Profession und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 7.1 Professionelle Ausbildung als „Konfession“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Bernd Rieken 7.2 Wissenschaft und „Glaube“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Bernd Rieken 7.3 Geisteswissenschaftliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Bernd Rieken 7.4 Elemente einer psychodynamischen Psychotherapiewissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 411 Bernd Rieken 7.5 Integrative Modelle – Profession und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Brigitte Sindelar 7.5.1 Die Akademisierung der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Die Ausbildung in psychoanalytischer Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Die psychotherapeutische Lehrpraxis – ein Modell der vertiefenden Praxisausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Der nervöse Charakter der Psychotherapiemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
417 418
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425 467 475 483
420 422
1 Geschichtlicher Teil 1.1 Zur Vorgeschichte der Psychotherapie Bernd Rieken
1.1.1 Der Seelenbegriff in der griechischen Antike Dass seelisches Leiden so alt sei wie der Mensch und dass darum auch die Psychotherapie sehr alt sein müsse, ist eine Auffassung, die in der einschlägigen Literatur immer wieder vertreten wird. Wolfgang Schmidbauer etwa spricht mit Blick auf frühe indigene Kulturen von „archaischer Psychotherapie“ (2000, 20–68) und Henry F. Ellenberger gar von der „Psychotherapie der Primitiven“ (1996, 22). Übersehen wird dabei, dass man zunächst nicht zwischen seelischen und körperlichen Erkrankungen unterschied und dass demgemäß auch die Behandlung im Wesentlichen die gleiche war, unabhängig davon, ob sich das Leiden – aus heutiger Sicht – eher körperlich oder eher seelisch äußerte (vgl. Frank 1997, 23). Selbst in der differenzierten Heilkunde der Antike, die in der Regel natürliche Ursachen statt magischer Beeinflussungen für die Entstehung von Krankheiten verantwortlich machte, wurde rein somatisch argumentiert, wenn es um die Ätiologie und Therapie von seelischen Erkrankungen ging. Von der Antike bis in die Neuzeit hinein war nämlich das führende „schulmedizinische“ Krankheitskonzept die Humoralpathologie, für die Gesundheit aus dem Gleichgewicht der vier Körpersäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) resultiert, wobei sich geringe Abweichungen als „Temperamente“ äußern (sanguinisch, cholerisch, melancholisch, phlegmatisch), größere Ungleichgewichte indes als Krankheiten (s. Siefert 2005, 1191; vgl. Böhme u. Böhme 2004, 164–171; Hsü 1996). In diesem Kontext wird beispielsweise Melancholie als „fieberfreier Wahnsinn mit depressiver Verstimmung, der von schwarzgalligen Säften herrührt“, definiert (I. W. Müller 1993, 248), während für Manie „warme Mischungsstörungen“, aber auch „kalter schwarzgalliger Saft“ verantwortlich gemacht werden (ebd.). Die Therapie bestand nun darin, durch entsprechende Medikation und Ernährung das Ungleichgewicht der Säfte (Dyskrasie) zu reduzieren, um zu einem halbwegs ausbalancierten Gleichgewicht (Eukrasie) zu gelangen. Doch nicht nur die rein somatische Sicht auf Erkrankungen, die wir heute als „psychische Störungen“ bezeichnen, verbietet es, moderne Vorstellungen von Psychotherapie auf vergangene Epochen zu projizieren, sondern auch der Begriff des Psychischen. Denn es wäre ein weiteres Missverständnis zu glauben, ältere Vorstellungen von „Seele“ mit „Psyche“ im modernen Verständnis gleichsetzen zu können. Dieser ist nämlich eine Frucht des 19. Jahrhunderts und erst entstanden, als sich die Psychologie um 1850 von der Philosophie zu emanzipieren begann (Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 9, 1995, 52; 66–73). Außerdem ist der Seelenbegriff zu vielschichtig, B. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
2
1.1 Zur Vorgeschichte der Psychotherapie
um ihn mit heutigen Assoziationen und begrifflichen Verbindungen gleichzusetzen (vgl. Hasenfratz 1986; Jüttemann, Sonntag, Wulf 2005). Nehmen wir als Beispiele aus der Antike nur Platon und Aristoteles (vgl. ausführlicher Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 9, 1995, 2–6; Treusch-Dieter 2005). Jener nimmt in seiner „Politeia“ eine Dreiteilung der Seele vor, indem er in ihr das „Begehrungsvermögen“ (epithym¯etikón), das „Muthafte“ (thymós) und das „Überlegungsvermögen“ (logistikón) unterscheidet (Politeia 1998, 439 d; 441 e). Er vergleicht diese Dreiteilung im „Phaidros“ mit „der zusammengewachsenen Kraft eines gefiederten Gespannes und seines Führers“ (Phaidros 1981a, 246 a), wobei jenes von zwei Pferden gezogen werde, von denen das eine besonnen sei, das andere wild und starrsinnig (ebd., 253 d). Es sei nun die Aufgabe des Führers, das unbändige Pferd zu zügeln (ebd. 254). Das klingt nach moderner Psychologie, und möglicherweise veranlasste Platons bildlicher Ausdruck Sigmund Freud in einer berühmt gewordenen Textstelle dazu, Reiter und Pferd mit Ich und Es zu vergleichen, um hinzuzufügen, es ereigne sich allzu häufig der nicht ideale Fall, „dass der Reiter das Ross dahin führen muss, wohin es selbst gehen will“ (Freud 1933a, 83). Doch sollten wir vorsichtig sein, wenn wir heutige Vorstellungen auf vergangene Epochen übertragen, denn diese sind in einen ganz anderen historischen Kontext eingebettet. Während es für uns selbstverständlich erscheint, gegensätzliche bzw. scheinbar gegensätzliche Begriffe wie „Begehren“ und „Überlegung“ psychologisch – oder aus tiefenpsychologischer 1 Sicht: psychodynamisch – zu verorten, stehen diese in Platons „Politeia“ im Kontext einer Staatslehre. Denn die drei Teile einer Seele entsprechen den drei Ständen der Stadt und ihren Eigenschaften: Das Überlegungsvermögen wird in Beziehung gesetzt zur Weisheit der Herrscher, das Muthafte zur Tapferkeit der Krieger, während das Begehrungsvermögen der dritten Klasse entspricht, dem gewöhnlichen Volk bzw. den Handwerkern (s. Platon 2007, 486, Anm. 180; 182). Doch noch in anderer Hinsicht ist Platons Auffassung unterschieden von heutigen Vorstellungen des Seelenlebens, denn sie umfasst auch eine kosmische Dimension. Die Seele sei „insgesamt [. . . ] unsterblich“ (Platon 1981a, 245 c), wirke ferner „über alles Unbeseelte und durchzieht den ganzen Himmel, verschiedentlich in verschiedenen Gestalten sich zeigend“ (ebd., 246 b). Während Platon eine dualistische Sicht von Seele und Leib vertritt (Platon 2008, 64 c), geht Aristoteles vom lebenden Organismus als Ganzem aus und charakterisiert die Seele als ein allgemeines Lebensprinzip, wobei „Leben“ in mehrfacher Hinsicht verwendet und bezogen wird auf „Ernährung und Wachstum, Wahrnehmung, Denken, Fortbewegung“ (Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 9, 1995, 5). Dabei unterscheidet er drei Stufen, nämlich die „ernährende psych¯e“ (anima vegetativa) bei den Pflanzen, die „wahrnehmende psych¯e“ (anima sensitiva) bei den Tieren und die „erkennende psych¯e“ (anima cogitativa) beim Menschen, wodurch er das vollkommenste Lebe-
1
Der Begriff „Tiefenpsychologie“ wird als Synonym verwendet für die psychodynamischen Schulen Freuds, Adlers und Jungs (s. Rieken 2010a).
Bernd Rieken
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wesen sei (De generatione animalium 736 b, zit. n. Stückelberger 1988, 82). Ausführlich beschäftigt sich Aristoteles damit in seiner Schrift „Über die Seele“ (1995, insb. 412 a–424 b), und dort schreibt er auch, dass sie trotz der Verschiedenheit ihrer Vermögen eine Einheit bilde, weil das Allgemeine stets die Grundlage für das Spezielle sei: „Immer nämlich liegt der Möglichkeit nach das Frühere im Nachfolgenden vor, sowohl bei den Figuren als auch beim Beseelten, wie z. B. im Viereck das Dreieck und (ebenso) im Wahrnehmungs- das Nährvermögen“ (Aristoteles 1995, 414 b). Bereits die unterschiedliche Ausgestaltung des Seelenbegriffs bei Platon und Aristoteles zeigt deutlich, dass es nicht zulässig ist, moderne Auffassungen über die Psyche auf antike Vorstellungen zu übertragen. Schon von daher ist es auch ein vergebliches Bemühen, nach Spezialisten für seelische Krankheiten oder „psychische Störungen“ zu suchen. Doch wenn wir nach möglichen Vorläufern Ausschau halten, so können wir unter Umständen in der Mäeutik oder „Hebammenkunst“ fündig werden, die Sokrates zugeschrieben wird und uns durch Platon in seinem Dialog Theaitetos überliefert worden ist. Darin heißt es: „Von meiner Hebammenkunst nun gilt im Übrigen alles, was von der ihrigen [damit ist die Tätigkeit realer Hebammen gemeint, Anm. B. R.]; sie unterscheidet sich aber dadurch, dass sie Männern die Geburtshilfe leistet und nicht Frauen und dass sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt und nicht für ihre Leiber. Das Größte aber an unserer Kunst ist dieses, dass sie imstande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings ein Trugbild und Falschheit zu gebären im Begriff ist oder Fruchtbares und Echtes. Ja, auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen: Ich gebäre nichts von Weisheit“ (Platon 1981b, 150 c). In dem Zitat geht es darum, durch geschicktes Fragen Antworten zu evozieren, die bis dahin nicht gedacht wurden. Im Gegensatz zur realen Hebammentätigkeit besteht die Methode des Sokrates darin, dass er zum einen Männern und nicht Frauen Geburtshilfe leistet – wir befinden uns in der patriarchalischen Welt der griechischen Antike – und dass nicht Leiber etwas gebären, sondern Seelen. Indes habe seine Tätigkeit mit der der Hebammen gemeinsam, dass er selber kein Gebärender sei („Ich gebäre nichts von Weisheit“), sondern nur als Geburtshelfer fungiere. Dabei sei das Besondere an seiner Methode, „Fruchtbares und Echtes“ von „Trugbild und Falschheit“ zu unterscheiden. In eine moderne, psychologische Sprache übersetzt, klingt das nach Überwindung von Abwehrmechanismen, nach Entdeckung von Authentizität oder gar nach Gewahr-Werden des „wahren Selbst“. Gottfried Fischer ist daher der Ansicht, die Mäeutik zeichne sich dadurch aus, „das unbewusste Wissen des Gesprächspartners ans Licht zu bringen“ (Fischer 2008, 3). Mit dem Begriff des Unbewussten wäre ich allerdings vorsichtig, weil vorschnell eigene Auffassungen auf längst verflossene Epochen projiziert werden. Wie bereits erwähnt: Die Seele besteht nach Platon aus dem Begehrungsvermögen, dem Mut und dem Überlegungsvermögen, und es geht bei der Mäeutik um die Mehrung der Weisheit. Daher existieren nur geringe Deckungsflächen mit dem, was wir unter „un-
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bewusst“ im psychotherapeutischen Kontext verstehen. Vor allem aber wird in der Mäeutik der emotionale Bereich ausgeklammert, denn eine Psychotherapie bedeutet weitaus mehr als ein philosophisches Gespräch, weil es nicht allein um die Mehrung des Wissens geht, sondern auch um neue Beziehungserfahrungen und die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse bzw. Defizite. Dennoch hat Fischer in einem recht: Die Gemeinsamkeit zwischen Mäeutik und Psychotherapie besteht darin, ein Wissen ans Licht zu heben, das in einem selber potentiell, aber im „Überlegungsvermögen“ noch nicht real vorhanden ist, durch geschicktes Fragen aber hervorgeholt werden kann. Allerdings handelt es sich nicht um ein Heilverfahren, denn der Teilnahme am Sokratischen Dialog liegt der Wunsch zugrunde, den eigenen Wissenshorizont zu erweitern, aber nicht die Linderung von seelischer Not. Wenn wir nach Vorläufern der Psychotherapie Ausschau halten, ist es daher angeraten, nach analogen Heilformen zu suchen und nach entsprechenden Personen, die als Heiler auftreten. Tut man das, so wird man in erster Linie beim Schamanismus fündig. Vorab ist allerdings festzuhalten, dass hier das gleiche gilt, was bereits in Zusammenhang mit der griechischen Antike begründet worden ist, dass nämlich nicht zwischen körperlichen und seelischen Erkrankungen unterschieden wurde und dass es daher auch keine dementsprechend unterschiedlichen Heilverfahren gab. Außerdem ist zu bedenken, dass nicht jeder traditionelle Heiler ein Schamane war und dass grundlegende Heilverfahren, welche er anwendet, auch anderswo vorkommen.
1.1.2 Schamanismus und Volksheilkunde Was ein Schamane genau ist, wird in der Forschung unterschiedlich diskutiert, doch mehrheitlich wird er als eine Person definiert, „die durch spirituelle Begabung oder eine spezielle Ausbildung in der Lage ist, als Mittler zwischen ihrer Gruppe von Menschen und den übernatürlichen Mächten zu fungieren“ (Hultkrantz, RipinskyNaxon, Lindberg 2002, 10). Damit wird eine dualistische Einstellung vorausgesetzt, die ein Diesseits als Aufenthaltsort der vergänglichen Pflanzen, Tiere und Menschen von einem Jenseits unterscheidet, wo neben den Seelen der heimgegangenen Lebewesen die unsterblichen Geistmächte hausen. Diese bestimmen „alles Geschehen auf Erden letztursächlich“ (K. E. Müller 2006, 38) und können demnach auch für Krankheiten verantwortlich sein. Verständlicher wird das, wenn man bedenkt, dass sich traditioneller Auffassung nach der menschliche Leib aus drei Elementen zusammensetzt: 1. dem vergänglichen Körper, 2. der weniger vergänglichen Vitalseele, welche die organische Funktionsfähigkeit aufrechterhält und dem Körper Lebenskraft verleiht, und 3. der leibunabhängigen und unvergänglichen Freiseele (s. ebd., 11). Auf der Erde entsprechen nun als „korrespondierende Partnerinstanzen“ (ebd., 114) der Geistmächte die Seelen, vor allem die Freiseelen, und es gehört zu den Hauptaufgaben der Schamanen, in kritischen Situationen bzw. im Fall von Erkrankungen sich um jene zu kümmern und dazu mit den jenseitigen Mächten in Kontakt zu treten.
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Um diesen Aufgaben gewachsen zu sein, bedarf es spezifischer Fähigkeiten und einer besonderen Ausbildung, die eine grundlegende Verwandlung zum Ziel hat. Dazu zählen in der Regel (nach Müller-Ebeling 2002, 15): 1. Berufung durch die jenseitige Welt in Form von Krankheiten, Visionen, Träumen, aber auch aus eigenem Antrieb, etwa infolge sozialer Ausgrenzung. 2. Lehrzeit bei anderen Schamanen, um die Strukturen der unsichtbaren Welt kennenzulernen, Krankheiten diagnostizieren und therapeutische Maßnahmen ergreifen zu können. Dazu ist es 3. notwendig, sich die Fähigkeit anzueignen, in Trance zu fallen, sie willentlich zu steuern und sie willentlich auch wieder verlassen zu können. 4. Öffentliche Prüfung, um die erworbenen Fähigkeiten zu demonstrieren. 5. Schwur, dieselben zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Diese eher nüchterne Aufzählung deutet bereits an, dass nicht jeder zum Schamanen berufen wurde und dass es spezifischer Persönlichkeitsmerkmale und biographischer Besonderheiten bedurfte, die gewisse Ähnlichkeiten mit denen von Psychotherapeuten aufweisen. So wirkten Schamanen oftmals von klein auf „unausgeglichen und nervös [. . . ] und waren verschlossenen, ernsten Wesens, nachdenklich bis vergrübelt, nicht verspielt und heiter wie andere Kinder“ (K. E. Müller 2006, 51). Die Berufung erfolgte in der Regel während und nach der Pubertät, zumeist zwischen 15 und 30, und sie war von Krisen begleitet, zumal Ausbildung und künftiger Beruf Entbehrungen, Mühsal und Qual mit sich brachten (s. ebd., 51; 54). Die Initiation war verbunden mit einer Isolierung von der Umwelt, oftmals war eine tiefgreifende Veränderung des Anwärters erforderlich, indem er sich auf Jenseitsreisen begab und sein altes Wesen töten musste, um einem neuen Platz zu machen, das, von Grund auf verwandelt, seiner veränderten beruflichen Tätigkeit entsprach (vgl. Kraft 1995, 20–33; K. E. Müller 2006, 54–61). Die Parallelen zur analytischen Ausbildung liegen auf der Hand, denn auch sie ist verbunden mit einer Isolation von der Umwelt, indem man sich jahrelang auf die Couch begibt und viel Zeit zum Verarbeiten auch zwischen den Stunden benötigt. Der Kandidat tritt ebenfalls eine Reise an, die ihn zwar nicht ins Jenseits führt, aber in das „weite Land der Seele“, wo er unheimlichen Mächten begegnet und eine Verwandlung erlebt, die ihn befähigt, mit sich sowie mit seiner künftigen Klientel und ihren „Dämonen“ besser als bisher umzugehen. Als Psychoanalytiker nimmt er, ähnlich wie der Schamane, eine Sonderstellung ein; er hat zwar seine seelischen Wunden produktiv verwandelt, indem er sie als Therapeut zum Nutzen der Gemeinschaft einsetzt, aber oftmals bleibt er bis zu einem gewissen Grad ein Gezeichneter, da die aus der eigenen Lebensgeschichte resultierende seelische Not nie vollständig geheilt werden kann. Außerdem besteht die therapeutische Arbeit auch darin, das Leiden des Patienten zumindest teilweise zu übernehmen, sodass er prinzipiell gefährdet bleibt und es auch sein muss (s. Jung 2006, 175). Für Schamanen galt Ähnliches, und möglicherweise war deren Tätigkeit eine noch größere Bürde, denn
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„die Last ihres Amtes und die Verantwortung, die sie für die Ihren trugen, drückten sie sichtlich nieder. Hager und abgezehrt, oft müde und erschöpft von der steten physischen wie geistigen Überanstrengung, bewegten sie sich langsam, manchmal geradezu schleppend, scherzten und lachten nicht, wirkten in sich gekehrt, nachdenklich, ernst, ja finster, hielten sich im Alltag eher fern von den anderen“ (K. E. Müller 2006, 99). Dies und der Umstand, dass in der Trance ekstatische Zustände auftreten, in der unter anderem von Zerstückelungs- und Wiedergeburtsprozessen sowie von Flugerlebnissen berichtet wird, veranlasste die ältere Forschung dazu, den Schamanismus auf psychopathologische Phänomene zurückzuführen. Dahinter stand der Evolutionismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, nach dem indigene Kulturen mit ihrem Geisterglauben auf einer „primitiven“ Entwicklungsstufe stünden, während die europäisch-nordamerikanischen Industriegesellschaften hoch entwickelt wären und die „wahren“ Zusammenhänge in der Natur mithilfe der modernen Wissenschaft erklären könnten. Einer der letzten namhaften Vertreter dieser Richtung war übrigens der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux, der noch um 1970 allen Ernstes die Meinung vertrat, der Erwerb schamanistischer Kräfte wäre „letzten Endes nichts anderes ist als eine authentische ‚klinische‘ Störung“ (Devereux 1974, 54) und der Schamane selbst „a fundamentally neurotic person“ (Devereux 1957, 1044; dgl. Devereux 1961). Ähnlich hart und aggressiv urteilte er über dessen Tätigkeit und ihren Nutzen für die Gemeinschaft: „Sein unmittelbares klinisches Gegenstück ist das psychotische Kind, das in einer an einer latenten Neurose leidenden Familie die Rolle des ‚stellvertretenden Verrückten‘ einnimmt“ (Devereux 1974, 56). Derartige Ansichten vertritt heute niemand mehr, der in der Ethnologie einigermaßen bewandert ist, denn Schamanen gelten als durchaus lebenstüchtige Personen, die in Hinblick auf physische Widerstandskraft und Selbstkontrolle den meisten Menschen überlegen waren. Die „‚Krankheit‘ ereilte sie lediglich während der Berufung und Initiation, danach, während aller späteren Séancen, beherrschten sie die ‚Symptome‘, bedienten sich ihrer, wenn ihr Amt das gebot, um sie anschließend gleichsam wieder ‚abzuschütteln‘. Die Geister, die sie riefen, vermochten sie jederzeit wieder loszuwerden“ (K. E. Müller 2006, 108). Zum Unterschied vom Psychotiker konnten die Schamanen also ihre veränderten Bewusstseinszustände kontrollieren, außerdem lösten sie keine Störungen im sozialen Miteinander aus, da sie im Gegenteil das Ziel verfolgten, diese zu überwinden. Dementsprechend hielt die indigene Bevölkerung sie auch nicht für geisteskrank, sondern für jene, welche seelisches Leiden zu mindern vermochten (vgl. Kraft 1995, 34–40; K. E. Müller 2006, 108). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Schamanen hinsichtlich ihrer Biografie und Tätigkeit gewisse Ähnlichkeiten mit Psychotherapeuten aufweisen und durch-
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aus als Vorläufer derselben betrachtet werden können. Entsprechendes gilt auch für archaische Krankheitserklärungen, denn sie weisen Ähnlichkeiten mit der heutigen Auffassung zur Ätiologie psychischer Störungen auf. Im Folgenden seien die wichtigsten genannt; sie sind weit verbreitet, man findet sie in verschiedenen Teilen der Welt, unter anderem auch im traditionellen Volksglauben bzw. in der traditionellen Volksmedizin Europas. 1) Projektil: Krankheiten können durch eine schädigende Substanz hervorgerufen werden, die als Projektil in den Körper eines Menschen eingedrungen ist. Es handelt sich dabei um eine der ältesten und am weitest verbreiteten Vorstellungen, wie der finnische Ethnologe Lauri Honko in seiner ausgezeichneten Dissertation nachgewiesen hat (Honko 1959). Noch heute heißt es im Volksmund, etwas oder ein Leiden sei „in jemanden gefahren“ oder ihm „angeflogen“. Einen Nachhall solcher Vorstellungen finden wir zum Beispiel im gebräuchlichen Begriff „Hexenschuss“ für Lumbago. Bekannt ist Martin Luthers Auffassung, nach welcher der plötzlich auftretende Kreuz- oder Lendenschmerz durch Geschosse verursacht wird, die von Hexen herrühren (s. Grabner 1997, 127). Die Aufgabe des Heilers besteht darin, das Projektil aus dem Körper des Betroffenen herauszusaugen, um es dann zu vernichten oder an den Absender zurückzuschicken. Aus unserer Perspektive interessant ist die Frage nach der Realität des Projektils, denn oftmals haben die Heiler bereits vor der Prozedur einen Gegenstand zur Hand, den sie nachher als schädigende Substanz herzeigen. Das hat ihnen von westlicher Seite den Vorwurf eingehandelt, sie wären Betrüger, doch darum geht es nicht, weil es sich um einen Teil des überlieferten Rituals handelt und der Gegenstand auf richtige Weise im richtigen Moment vorzuführen ist. Bei manchen Völkern, etwa den Dakota-Indianern, wird sogar ein und dasselbe Objekt immer wieder gezeigt und bei Nicht-Verwendung öffentlich ausgestellt. Man könnte auch sagen, es hat symbolische Funktionen und dient der Veranschaulichung, ähnlich der Oblate beim christlichen Abendmahl (vgl. Ellenberger 1992, 30–35; Honko 1959, 204–207). Derartige Vorstellungen mögen uns merkwürdig oder absurd erscheinen, doch wenn man als Patient zum Beispiel von einem faulen Zahn befreit worden ist und der Arzt ihn uns zeigt, wird sich wahrscheinlich eine ähnliche Erleichterung einstellen wie beim leidenden Menschen in archaischen Gesellschaften, der des Krankheitsprojektils ansichtig wird. Analoges gilt für die Psychotherapie, wenn belastende Erlebnisse, die bisher verdrängt wurden, durchgearbeitet werden und man ein Gefühl der Befreiung von etwas bisher Bedrückendem oder Vergiftendem erfährt. Auch die Übertragungsneurose lässt sich zur Projektil-Erklärung analog setzen, denn wie dieses kann jene dem Patienten „gezeigt“ werden und dadurch Linderung ermöglichen. 2) Verlust der Seele: Dass die „Seele“ als eine für die Lebenskraft unersetzliche Substanz den Körper selbsttätig verlassen kann, ist eine Auffassung, die den meisten Völkern der Erde bekannt ist (vgl. Honko 1959, 27 ff.). Sie ist bereits abstrakter als die noch stark an die Materie gebundene Projektilerklärung. Die Seele kann zum Beispiel verlorengehen, wenn man sich zu Tode erschreckt, wenn man niest oder wenn man schläft, doch kann sie auch von bösen Geistern gestohlen werden. Die Aufgabe des
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Heilers besteht dann darin, die Seele wiederzufinden und dem Klienten zurückzugeben. Ein berühmtes Beispiel sind die Seelenfänger der Indianer an der kanadischen Pazifikküste. Es handelt sich dabei um geschnitzte und reich verzierte Knochen, die durch ihre attraktive Gestaltung die verlorene Seele anlocken sollen (s. Haller 1996, 304). Auch hier existieren Parallelen zur Psychotherapie, geht es doch immer wieder darum, gegen „böse Dämonen“ aus dem weiten Land des Unbewussten zu kämpfen, um „verirrte Seelen“ auf den „rechten“ Pfad zurückzuführen. Wir sprechen von Entfremdung und meinen damit, dass den Patienten etwas fehlt, weil sie den Bezug zu sich selber verloren haben, und dass es darum geht, sich wiederzufinden (s. Ellenberger 1996, 30). 3) Eindringen eines Geistes: In der Vorstellungswelt der meisten Völker existiert eine Vielzahl an Geistern, von denen einigen gute, anderen hingegen böse Eigenschaften zugesprochen werden. Übel wollende Wesen können, wenn sie in den Körper eines Menschen eindringen, von ihm Besitz ergreifen, dieser wird dann zu einem „Besessenen“. 2 Es ist nun die Aufgabe des Heilers, mithilfe von Zaubersprüchen, Befehlen, Verwünschungen und ähnlichem den Dämon zu vertreiben, was in der christlichen Variante, wie allgemein bekannt ist, als Exorzismus bezeichnet und bis heute von der katholischen Kirche praktiziert wird. Ein verbreitetes Heilverfahren ist die Übertragung der Krankheit, indem der Geist etwa auf ein Tier übertragen wird, wofür ein bekanntes Beispiel aus der Bibel die Heilung des besessenen Geraseners durch Jesus ist. „Niemand“, heißt es in der Schrift, „konnte ihn bändigen“, und „er schrie und schlug sich mit Steinen“ (Mark. 5, 4 f.). Jesus vertreibt nun die „unreinen Geister“ und erlaubt ihnen, in eine Schweineherde zu fahren. Diese „stürmte den Abhang hinunter in den See, etwa zweitausend, und sie ersoffen im See“ (Mark. 5, 11–13). Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Heiler den Dämon in sich aufnimmt und ihn dann vertreibt. Auch dazu ein Beispiel: „Bei den Jakuten berührt der Zauberer nach langem, in vielen Phasen erfolgendem Schamanisieren den Patienten mit dem Munde, indem er den Krankheitsdämon in sich hineinzuschlucken scheint, worauf er sich windend und Beschwörungen ausstoßend den Dämon gleichsam auf den Fußboden spuckt, um ihn dann mit Fußtritten und Schlägen aus der Jurte zu vertreiben“ (Honko 1959, 31). Auch in diesen Fällen, so fremd sie uns erscheinen mögen, existieren Parallelen zur Psychotherapie, vor allem zu denen mit schwerer Symptomatik, etwa Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen. Solche Patienten fühlen sich oftmals wie von fremden, unheimlichen und destruktiven Kräften heimgesucht, mitunter verhalten sie sich, als wären sie „besessen“ oder „wie von allen guten Geistern verlassen“, und
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Zum Verhältnis der Besessenheit zu psychiatrischen Erkrankungen vgl. Hinterhuber 2006; Naegeli-Osjord 1983, 59–70.
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doch hoffen sie auf „Erlösung“ von ihrem Leid. An den Therapeuten werden dabei große Anforderungen gestellt, er muss mit destruktivem Agieren umgehen und massive Formen projektiver Identifikation aushalten. Das eigentlich Unverdauliche wird nämlich auf ihn „übertragen“, er muss gleichsam, wie es bei Honko heißt, „den Krankheitsdämon in sich hineinschlucken“, um ihn später, „sich windend und Beschwörungen ausstoßend [. . . ] aus der Jurte zu vertreiben“ oder in eine „Schweineherde“ fahren lassen. 4) Das Tabuverbrechen: Allgemein verbreitet ist die Vorstellung, dass man durch die Übertretung von Verhaltensvorschriften bzw. durch den Verstoß gegen Sitte, Moral und Gesetz höhere Mächte auf den Plan ruft, welche als Bestrafung körperliches oder seelisches Siechtum vorsehen. Um eine Heilung zu ermöglichen, sind Verhör und Geständnis notwendig, wobei verschiedene Versöhnungs- oder Reinigungsrituale auferlegt werden können (Honko 1959, 24). „Dies ist“, schreibt Ellenberger, „keine ,Krankheits-Theorie‘, sondern eine offenkundige Tatsache; viele zuverlässige Augenzeugenberichte haben sie bestätigt“ (Ellenberger 1996, 49). Ellenberger hat völlig Recht, aus Geschichte und Gegenwart lässt sich eine Fülle entsprechender Berichte anführen. Besonders ausgeprägt war diese Krankheitsvorstellung etwa in der Inkakultur, die neben üblichen Untaten wie Mord, Diebstahl oder Unzucht auch den Ungehorsam an den Staatsführern und sogar den bloßen Gedanken an derartige Taten als Tabuverbrechen ansah (Honko 1959, 24). Das ruft Assoziationen an moderne Überwachungsstaaten wach, aber auch im religiösen Bereich sind derartige Vorstellungen nach wie vor en vogue, wenn man sich vor Augen hält, dass man zum Beispiel nach der katholischen Lehre weder in Taten und Worten noch in Gedanken sündigen darf. Das zweite Beispiel, welches wir erwähnen wollen, entstammt hingegen dem weltlichen Bereich: Als eine 42-jährige Patientin mit linksseitiger Oberlappenpneumonie im Spital zu sterben droht, sagt sie dem diensthabenden Arzt, dass sie nun die gerechte Strafe erfahre. Dieser entgegnet souverän: „Also! Sie werden nun nicht sterben! Wir werden dafür sorgen, dass Sie diese Strafe, die sie erwähnen, oberhalb des Rasens und nicht unterhalb absolvieren“ (Ellenberger 1996, 53). Daraufhin erzählt sie, dass die Pneumonie sie genau an jenem Ort befallen habe, wo sie ihren Mann betrogen habe. Unmittelbar darauf lassen die Krankheitssymptome nach, und die Patientin wird rasch wieder gesund (ebd.). Die genannten Beispiele werden im Leser wahrscheinlich unmittelbarere Verbindungslinien zur Psychopathologie bzw. Psychotherapie hervorrufen als in den davor genannten Krankheitserklärungen. Denn es gehört zu den grundlegenden Elementen psychodynamischer Theorien, Konflikte als Ursachen seelischer Erkrankungen anzusehen, seien es nun Konflikte zwischen Es und Über-Ich bzw. Trieb und Moral oder zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Machtstreben. Erstaunlicherweise hat die europäische Kirche im Laufe ihrer Geschichte aus den drei Elementen Sünde, Beichte und Buße kein Heilverfahren in Form einer regulären Institution geschaffen, obgleich der Beichte durchaus ein die Seele entlastendes Potential innewohnt (s. Honko 1959, 25). Über die Gründe mag man spekulieren, viel-
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leicht sah man es als hinreichend an, pädagogisch-moralisch zu belehren, vielleicht fürchtete man aber auch eine „Verunreinigung“ mit Elementen aus dem Bereich der Volksmedizin, da weltliche Heiler im alten Europa zumeist „synkretistisch“ handelten, indem sie christliche mit magischen Heilritualen vermengten und darin nicht einmal etwas Anstößiges sahen. Neben pflanzlichen und tierischen Arzneien waren es eben auch und vor allem magische Praktiken, die im alten Europa von Zauberern, Hexen und anderen Heilern angewendet wurden, um körperliche Gebrechen und seelisches Leid zu mindern. Zauberpraktiken galten als „Lebenshilfe“, wie es die Ethnologin Margarethe Ruff in ihrer Dissertation formuliert (Ruff 2003), und man wird – da bin ich mir sicher – im Bereich der Volksmedizin und auch der Volkssage fündig werden, wenn man nach Vorläufern der Psychotherapie fahndet, nur existieren unter diesem Gesichtspunkt bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Dabei wären es lohnende Vorhaben, denn die archaischen Krankheitserklärungen – Projektil, Verlust der Seele, Eindringen eines Geistes und Tabuverbrechen – gab es auch im vormodernen Europa. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: „Eine junge Frau aus Lyon sei dahingesiecht, weil ihr eine Hexe auf Veranlassung ihrer eifersüchtigen Schwiegermutter einen ,Hasszauber‘ angetan habe. Sie konnte den Anblick ihres Ehemannes und seine Anwesenheit nicht ertragen“ (ebd., 80). Ein Zauberer legt sie daraufhin in Ketten, reibt sie mit Baumrinde ein, bespricht einen Becher mit Kräutern und beißt ihr in den Arm. Später wird noch ein Geistlicher hinzugezogen, der mehrere Projektile aus ihrem Körper zieht. Nach dem Aufsagen mehrerer Gebete, Erteilung der Absolution und der Abhaltung einer Messe ist die Frau gesund und ihrem Mann wieder zugetan (ebd.). Auch dieses Beispiel mag uns merkwürdig anmuten, aber es ist eine andere Welt als diejenige, in welcher wir leben. Der Mensch der Vormoderne begreift sich, um es in heutigen Worten zu formulieren, als ein offenes System, das sich in ständiger Interaktion mit der Umwelt befindet. Alles, was geschieht, hat zeichenhafte Bedeutung, weil „alles in der Welt in einer bestimmten, spezifischen Weise miteinander in Zusammenhang steht“ (K. E. Müller 1987, 202). Das Gewitter kann von übel gesinnten Wetterhexen verursacht sein, das zugewandte Gesicht der alten Nachbarin kann den „bösen Blick“ bedeuten, der uns Schaden zufügt. Man kann sich wehren, aber man muss auch auf der Hut sein, weil der Mensch der Vormoderne „poröser“ ist für mannigfache Einflüsse aus der Außenwelt. Die entgegengesetzte Vorstellung, dass er ein abgegrenztes Individuum ist, ist erst eine Frucht der europäischen Neuzeit und war jahrhundertelang zunächst auf die gesellschaftlichen Eliten begrenzt. Doch damit befinden wir uns bereits im nächsten Kapitel.
1.1.3 Die Entdeckung des Individuums in der europäischen Neuzeit Die Individualisierung der Lebensstile ist für die Menschen der westlichen Moderne etwas Selbstverständliches, doch handelt es sich dabei in räumlicher Hinsicht um ein primär europäisches und in historischer Perspektive um ein relativ junges Phä-
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nomen (vgl. van Dülmen 2001). Seine Anfänge reichen, von wenigen Vorläufern im Mittelalter abgesehen (vgl. Gurjewitsch 1994), in die Zeit der Renaissance zurück (vgl. Walther 2010), und es beschränkte sich lange Zeit – teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein – zunächst nur auf Eliten. Der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt hat diese Veränderungen an der Schwelle zur Neuzeit folgendermaßen skizziert: „Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches“ (Burckhardt 1976, 123). Das ist eine recht zugespitzte Formulierung, zeigt aber gleichzeitig auf anschauliche Weise die Möglichkeiten menschlichen Selbstverständnisses zwischen den Polen Individuum und Gemeinschaft auf. Der mittelalterliche Mensch definiert sich vorwiegend über kollektive Instanzen, zum Beispiel als Mitglied einer Familie, eines Berufsstandes, einer bestimmten Region oder einer gemeinsamen und allgemeinverbindlichen Religion (vgl. Le Goff 2004). Es wäre als widersinnig verstanden worden, daran etwas ändern zu wollen und etwa einen anderen Beruf zu ergreifen oder gar in eine andere soziale Schicht zu wechseln. Das wäre ein Verstoß gegen die gottgewollte Ständeordnung gewesen, und so war es bis ins 17. Jahrhundert hinein. In den großen Welttheaterspielen der Barockzeit, etwa bei Calderon oder Gryphius, existiert im Grunde keine Individualität, sondern nur eine Rolle, die dem Menschen von Gott aufgetragen worden ist, wobei seine einzige Freiheit darin besteht, diese vernünftig und tugendhaft zu spielen oder den Leidenschaften und Trieben zu verfallen (s. Emrich 1981, 113). Die gottgewollte Ständeordnung spiegelt sich auch in einem anderen Bereich wider, nämlich in der bildenden Kunst. Mittelalterliche Bildwerke erscheinen uns oftmals wenig „realistisch“, weil sie den uns geläufigen Vorstellungen räumlichen Sehens widersprechen. Das hängt mit der Bedeutungsperspektive zusammen, nach der wichtige Personen, zum Beispiel Gott, Heilige oder weltliche Regenten, unabhängig von ihrer Position im Bild groß dargestellt werden, weniger prominente Gestalten oder gar „einfache“ Menschen aus dem Volk hingegen klein. Ähnliches kennen wir aus der Naiven Kunst oder von Kinderzeichnungen. Sie wirken „unnatürlich“, weil die Proportionen nicht stimmen, das heißt Personen zum Beispiel im Bildhintergrund groß dargestellt werden und im Vordergrund klein. Demgegenüber zeigt sich der Wechsel zu einer individualisierenden Sichtweise kaum deutlicher als in der Kunst der italienischen Renaissance, denn sie bedient sich
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der Zentralperspektive, bei der raumparallele Kanten nicht abbildungsparallel dargestellt werden, sondern sich in einem gedachten Punkt vereinigen, dem Fluchtpunkt. Das ist eine Form der Darstellung, wie sie in etwa dem Sehen mithilfe des menschlichen Auges oder durch einen Fotoapparat mit einem Normalobjektiv (50 mm) entspricht. Damit wird auch verständlich, dass Burckhardt davon spricht, gleichzeitig mit der Entdeckung der Individualität und des Subjektiven werde „eine objektive Betrachtung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt“ ermöglicht. Denn die Zentralperspektive ist gleichbedeutend mit der Bewusstwerdung eines subjektiven „Stand-Punktes“, und genau dieser erlaubt eine realistischere Sicht auf die Welt. Was das psychologisch heißt, hat Jean Piaget in seinem berühmten Drei-BergeVersuch deutlich gemacht. Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren wird das Modell einer Landschaft mit drei unterschiedlich hohen, verschieden geformten Bergen gezeigt, und sie werden gebeten, diese von ihrer Position aus zu beschreiben. Im Anschluss daran fragt man sie, wie die Landschaft aus der Sicht einer gegenüberliegenden Position ausschaut, und zwar ohne ihren Standpunkt wechseln zu dürfen. Sie werden sie indes genauso beschreiben wie zuerst, das heißt aus jener Perspektive, in welcher sie sich gerade befinden. Erst Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren beginnen zu verstehen, dass das Modell einer Landschaft von verschiedenen Beobachtungspunkten aus unterschiedlich aussieht, wobei vollständige Differenzierung in der Regel erst mit neun bis zehn Jahren erreicht wird (Piaget, Inhelder et al. 1999, 251–254). Aufgrund mangelnder „Dezentrierung“ glauben kleine Kinder, dass die Welt tatsächlich so wäre, wie sie sich ihnen präsentiert. Dieser epistemologische Egozentrismus entspricht „naiver“ Weltanschauung, wie sie für die meisten Kulturen mit ihrem Ethnozentrismus und unkritischem „Realismus“ (i. S. Piagets) prägend war bzw. ist und erst durch die Entdeckung des systematischen wissenschaftlichen Denkens Begrenzungen erfahren hat. Psychologisch formuliert heißt das, dass man erst dann, wenn man sich seiner Subjektivität und Individualität bewusst wird, erkennt, dass man die Welt nur aus einer bestimmten Perspektive heraus betrachtet (vgl. grundlegend Köller 2004). Die Entdeckung derselben hat eine realistischere Sicht auf die Welt zur Folge; insofern bedeutet das Gewahr-Werden der Subjektivität gleichzeitig ein Mehr an Objektivität, auch wenn das auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Die Frage, die sich in der Frühen Neuzeit stellte, war allerdings, wie man damit zu „sicherer“ Erkenntnis gelangen könne, und die Antwort lautete, „dass der Mensch aus der Erfahrenheit und Gegenwurf der Natur augenscheinlich und greiflich sein Lehr nimmt“, wie es Paracelsus formuliert hat (zit. n. Peuckert 1966, Bd. 2, 384). „Gegenwurf “ meint das „Gegenübergestellte“ als wörtliche Übersetzung von lateinisch „obiectus“. Wenn uns etwas gegenübergestellt ist, dann haben wir Abstand und können es „objektiv“ erforschen. Das geschieht durch systematische Beobachtung – Paracelsus nennt sie „Erfahrenheit“ – sowie durch das Experiment. Das klingt in unseren Ohren geläufig, wir haben die modernen Empirie- und Objektivitätskriterien wie lo-
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gische Nachvollziehbarkeit, intersubjektive Überprüfbarkeit, Wiederholbarkeit, Widerspruchsfreiheit verinnerlicht – aber damals war das neu. Denn das Mittelalter hatte andere Wahrheitskennzeichen, es galt als beglaubigt, was bei den Autoritäten – Bibel, Kirchenväter und bestimmte Philosophen, insbesondere Aristoteles – nachzulesen war. Wenn demgegenüber in der Neuzeit die eigenverantwortliche Erkundung der Welt im Vordergrund steht, um zu mehr Objektivität zu gelangen, dann ist gleichzeitig das Individuum mit seiner Fähigkeit zum eigenständigen Denken und Forschen gefragt. Das schlägt sich auch in der Geistesgeschichte nieder, womit wir zum nächsten Kapitel übergehen wollen.
1.1.4 Aufklärung und Romantik3 Als die Berliner Akademie der Wissenschaften anno 1784 die Frage stellte, was Aufklärung sei, hat Immanuel Kant darauf mit den folgenden, berühmt gewordenen Worten geantwortet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen [. . . ]. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung (Kant 2005b, 53). Wenn man mutig und entschlusskräftig sowie mit hinreichendem Verstand ausgestattet ist, dann ist man imstande, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, und das ist der zentrale Anspruch der Aufklärung. Vom mittelalterlichen Autoritätsdogma trennen die Aufklärung Welten; sie zielt auf das mündige, selbstständige Individuum und seine Verstandeskräfte ab, aber sie bewegt sich noch weit darüber hinaus, denn sie tritt auch für eine Humanisierung der politischen und gesellschaftlichen Zustände ein. Auf sie geht beispielsweise die Forderung nach unveräußerlichen Grundrechten zurück, die in allen Verfassungen der westlichen Welt zu finden sind und zu deren zentralen Postulaten das Recht auf freie Entfaltung der 3
Im Folgenden kann es nur darum gehen, Aufklärung und Romantik idealtypisch nebeneinanderzustellen. Dass die Verhältnisse in Wirklichkeit komplexer sind, ist mir bewusst. Beispielsweise ist die Anthropologie Kants weitaus skeptizistischer als üblicherweise in der Aufklärung, und umgekehrt ist etwa die romantische Ironie eine besondere Reflexionsart, die neben dem Interesse am Ursprünglichen eine sehr elaborierte Form der Geistesaktion darstellt. – Als Einführungen in die Thematik sind für Humanwissenschaftler dienlich: Ellenberger 1996, 257–349; Schott u. Tölle 2006, 48–59, sowie die entsprechenden Beiträge in Buchholz, Gödde 2005, aber auch weiterhin die jeweiligen Kapitel in Rothschuh 1978. Wer sich genauer aus Sicht der Geisteswissenschaft informieren möchte, sei auf Silvio Viettas „Europäische Kulturgeschichte“ hingewiesen (2007) oder auf Gerhard Schulz’ vorzügliche Geschichte der deutschen Literatur jener Zeit (1983; 1989).
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Persönlichkeit zählt, das Diskriminierungsverbot und der Gleichheitsgrundsatz, allzumal Grundsätze, die einem „vernünftigen“ Menschen „sofort“ einleuchten. „Vernunft“ ist überhaupt das Zauberwort der Aufklärung, die sich bis in die feinsten Verästelungen des Alltags hinein erstrecken sollte. Die großen Enzyklopädien, wie etwa der „Brockhaus“ oder die „Encyklopaedia Britannica“, gehen auf sie zurück, denn die Menschen sollten gebildet sein und „vernünftig“ miteinander diskutieren können. Darum fanden auch die Caféhäuser Einzug in die Großstädte, denn während im Wirtshaus beim Bier allmählich der Verstand trübe wird, schärft der Genuss des aus der braunen Bohne gewonnenen Genussmittels die Verstandeskräfte. Daher liegen im Caféhaus seit jeher auch Zeitungen aus, um über die gegenwärtigen Zustände aus Politik, Gesellschaft und Kultur wohl informiert zu sein (vgl. Nahrstedt 1988, 176–183). Damit aber nicht genug, man war der Meinung, neben dem Individuum und der Gesellschaft auch die Natur mithilfe der Vernunft „kultivieren“ zu können. Dazu nur ein Beispiel, das beliebig vermehrt werden könnte und aus einem Lehrbuch des friesischen Deichbau-Experten Albert Brahms stammt: „Es ist eine Wasserfluth [= Sturmflut, Anm. B. R.] nicht ein Wunderwerk, sondern hat ihre in der Natur gegründete Ursachen, wie ja wol keiner leugnen wird, der erkennet, was es für eine Eigenschaft in GOTT sei, die wir die Weisheit nennen, so kann ihr, weil der HERR der Natur keine unendliche, sondern nur eine endliche Kraft beygeleget hat, auch durch eine endliche Kraft, dergleichen der Menschen ist, wol widerstanden werden; mithin die Bemühung, sich dawider Sicherheit zu verschaffen, ihren gewünschten Endzweck erreichen“ (Brahms 1767, 37). Während man in der allgemeinen Bevölkerung zu jener Zeit noch glaubte, Sturmfluten und andere Katastrophen seien eine Strafe Gottes, weswegen Schutzmaßnahmen, wenn überhaupt, nur bedingt von Erfolg gekrönt seien, ist Albert Brahms ganz vom Geiste der Aufklärung geprägt, indem er logisch folgerichtig und „vernünftig“ argumentiert: Ausschließlich Gott ist allmächtig – der Atheismus hielt erst im 19. Jahrhundert verstärkt Einzug in die Gedankenwelt der Intellektuellen –, mithin kann die Natur nur über endliche Kräfte verfügen. Da aber der Mensch ebenfalls endliche Kräfte besitzt, kann er sich mittels entsprechender Deiche sichern, und zwar zur Gänze, denn Brahms spricht vom „gewünschten Endzweck“ der erreicht werden könnte. Das war zwar aufklärerischer Mainstream, aber dennoch bemerkenswert, weil das große Erdbeben von Lissabon (1755), das dem optimistischen Denken einen außerordentlichen Dämpfer versetzt und zeitweise gleichsam traumatisierend gewirkt hatte, erst wenige Jahre zurücklag (vgl. Löffler 1999; Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 6, 1984, 1243 ff.). Anscheinend übte der Vernunftglaube eine derartige Faszination auf die gelehrten Zeitgenossen aus, dass er trotz Lissabon am Leben blieb (vgl. Lauer u. Unger 2008). Das mag aus der gegenwärtigen Perspektive befremden, aber ohne Aufklärung sähe die westliche Welt heute anders aus. Parlamentarische Demokratie, Sozialstaats-
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gedanke, Menschenrechte oder die Trennung von Staat und Kirche sind ohne sie nicht denkbar. Auch der Glaube an die Beherrschbarkeit der Naturkräfte hat im Verein mit der technischen Entwicklung dazu beigetragen, das Leben sicherer zu machen, (wenngleich weniger sicher, als die Aufklärer es glaubten). Und nicht zuletzt hat die Vorstellung, das zwischenmenschliche Leben könne durch mehr Vernunft humaner gestaltet werden, ebenfalls Früchte getragen, wobei auch die Psychotherapieschulen in der Aufklärung ihre Wurzeln haben. Den verhaltensorientierten Richtungen liegt der technizistisch inspirierte Machbarkeitsglaube zugrunde, während die humanistischen Schulen das „Gute“ im Menschen in den Vordergrund rücken. Und selbst die psychodynamischen Richtungen wurzeln trotz ihres skeptizistischen Menschenbildes insofern in der Aufklärung, als ohne diese an eine positive Veränderung des Seelenhaushaltes vermöge einer Therapie nicht zu denken wäre. Im Hintergrund steht dabei die Lichtmetapher, 4 nämlich die Vorstellung, dass die dunklen Bereiche der menschlichen Existenz ein wenig aufgehellt werden können und man seinen Trieben und Affekten weniger ausgeliefert ist. Freud spricht in der neuen Folge der „Vorlesungen“ vom Anspruch der Psychoanalyse, „das Ich zu stärken“ (Freud 1933a, 86), und er überträgt diese Vorstellung in ein schönes Bild, indem er den aufklärerischen Humanisierungs- mit dem gleichfalls aufklärerischen Kultivierungsanspruch der Natur verbindet: „Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee“ (ebd.). Alles in allem vertritt die Aufklärung indes eine einseitige Anthropologie, weil der Glaube an die verändernde Kraft der Vernunft zu prononciert auftritt, um heutzutage noch glaubhaft zu erscheinen. Die Auffassung, dass der Mensch von Natur aus gut wäre, nur durch Entfernung von eben dieser Natur verdorben worden und positive Veränderung durch vernünftige Einsicht oder durch eine radikal andere Gesellschaftsordnung etwa marxistischer Provenienz möglich wäre, ist nur noch für die wenigsten Zeitgenossen überzeugend. Das ist nicht vollkommen falsch, aber es ist einseitig; zwar kann zum Beispiel durch Erziehung in der Schule oder durch demokratische staatliche Institutionen die Bevölkerung dafür sensibilisiert werden, dass alle Menschen mit gleichen Rechten ausgestattet sind, doch stößt das Veränderungspostulat dann an seine Grenzen, wenn tief verankerte weltanschauliche Positionen dem entgegenstehen, etwas religiöser Dogmatismus. Außerdem können psychodynamische Konstellationen zu brisant und Menschen zu neurotisch sein, um sich in prosoziale Richtung zu verändern. Ein überbordendes Triebleben und/oder ein schwelender Minderwertigkeitskomplex mit überkompensierenden aggressiven Tendenzen führen dazu, dass die Anderen oftmals nicht in ihrem Eigenwert respektiert werden, sondern primär der Abfuhr ausgeuferter Triebenergie dienen.
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Gemeint ist das „Licht der Vernunft“, das eine lange Tradition hat, da bereits in der Scholastik als lumen naturale – als Abglanz der göttlichen Vernunft im Menschen – vorhanden. Interessant ist, dass die französischen Substantive „Lumières“ und „Lumiere“ „Aufklärung“ bzw. „Licht“ bedeuten. Und es ist mehr als nur symbolisch gemeint, wenn darauf hingewiesen wird, dass zur Zeit der Aufklärung erstmals in den Großstädten öffentliche Straßenbeleuchtung installiert wurde.
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Ein Musterbeispiel für den aufklärerischen Geist ist Christian Fürchtegott Gellerts (1715–1769) Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G***“ (s. zum Folgenden Rieken 2009a, 49 ff.). Die titelgebende Hauptperson heiratet mit sechzehn Jahren einen schwedischen Grafen, der aber aufgrund einer Hofintrige zum Tode verurteilt wird. Einige Tage vor seiner Hinrichtung überfallen die Russen das Dorf, in welchem der Graf sich befindet, und sie schicken ihn als Gefangenen nach Moskau. Da die Gräfin der Meinung ist, ihr Mann wäre gestorben, heiratet sie nach einiger Zeit seinen besten Freund, den sie ebenfalls sehr schätzt. Doch einige Jahre später kommt der Graf aus der russischen Gefangenschaft zurück, woraufhin alle drei aus Vernunftgründen zu dem Ergebnis gelangen, dass die zweite Ehe rückgängig zu machen sei. So geschieht es auch, und der gute Freund ist nun wieder nur noch ein guter Freund, ohne dass es zu großen Auseinandersetzungen käme (Gellert 1975). Das ist eine naive Vorstellung, weil die Bedeutung des Trieblebens, der Affekte und Emotionen unterschätzt wird – und damit auch die dunkle Seite der menschlichen Existenz. So braucht es nicht wunderzunehmen, dass als Korrektiv zur Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts die romantischen Strömungen begannen, sich Gehör zu verschaffen und das kulturelle Leben jener Zeit maßgeblich mit zu beeinflussen. Zwar teilen sie mit der Aufklärung das Interesse am Individuum und seinen Potenzen, doch steht nicht die Vernunft im Vordergrund, sondern das Emotionale mit all seinen positiven und negativen Qualitäten, Letzteres in Gestalt des Unvernünftigen, Irrationalen, Unheimlichen und Bedrohlichen. Besonders ausgeprägt zeigt sich das in der englischen Schauerromantik, die einige Romane hervorgebracht hat, welche bis heute in aller Munde sind und über den Spielfilm Einzug in die populären Medien gefunden haben. Dazu zählen vor allem „Dracula“ (Stoker 1967) und „Frankenstein“ (Shelley 1988), aber auch „Der Mönch“ von Matthew Gregory Lewis (1971) oder „Die Burg von Otranto“ von Horace Walpole (1988). Aus der deutschen Literaturgeschichte zählt in erster Linie E. T. A. Hoffmann zur Schauerromantik, der in seinem Roman „Die Elixiere des Teufels“ – inspiriert von Lewis – seinem Protagonisten, dem Mönch Medardus, die folgenden Worte in den Mund legt: „Aber ich selbst war herabgesunken zum elenden Spielwerk der bösen, geheimnisvollen Macht, die mich mit unauflöslichen Banden umstrickt hielt, sodass ich, der ich frei zu sein glaubte, mich nur innerhalb des Käfichts bewegte, in den ich rettungslos gesperrt worden“ (Hoffmann 1967, 387 f.). Die Nachtseite der menschlichen Existenz ist ein Aspekt, der von der Schauerromantik zu den psychodynamischen Theorien um 1900 führt. So schreibt Sigmund Freud in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ Folgendes: „Ist Ihnen nicht bekannt, wie unbeherrscht und unzuverlässig der Durchschnitt der Menschen in allen Angelegenheiten des Sexuallebens ist? Oder wissen Sie nicht, dass alle Übergriffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen, alltäglich
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von wachen Menschen als Verbrechen wirklich begangen werden? Was tut die Psychoanalyse hier anders als das alte Wort von Plato bestätigen, dass die Guten diejenigen sind, welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die Bösen wirklich tun?“ (Freud 1916–17, 147). Ähnliche Ansichten vertritt der frühe Adler, wenn er schreibt: „Nun finden wir schon im frühen Kindesalter, wir können sagen vom ersten Tag an (erster Schrei) eine Stellung des Kindes zur Außenwelt, die nicht anders denn als feindselig bezeichnet werden kann. Geht man ihr auf den Grund, so findet man sie bedingt durch die Schwierigkeit, dem Organ die Lustgewinnung zu ermöglichen“ (Adler 1908b, 71 f.). Neben der Nachtseite sieht die Romantik aber auch die positiven emotionalen Potenzen, welche im Inneren schlummern. Das ist nicht nur eine Gegenposition zum übersteigerten Vernunftglauben der Aufklärung, sondern auch eine Reaktion auf Entfremdungstendenzen im Schatten des Frühkapitalismus, der Industrialisierung und der beginnenden Umweltzerstörung. Auch spielen die gescheiterte Utopie der Französischen Revolution und der Umstand eine Rolle, dass das Deutschland jener Zeit durch die Aufspaltung in eine Unzahl von Kleinstaaten einem Fleckenteppich glich und von politischer Einheit weit entfernt war. Die Romantik ist daher geprägt von einer tiefen Sehnsucht nach Einheit, Harmonie und Geborgenheit. Psychoanalytisch würde man das als präödipales Streben nach der frühen Beziehung des Kindes zum Primärobjekt interpretieren und vielleicht auch als Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib. Deutlich zeigt sich der Harmoniewunsch in Joseph Freiherr von Eichendorffs Gedicht „Mondnacht“: „Es war, als hätt der Himmel // Die Erde still geküsst, // Dass sie im Blütenschimmer // Von ihm nun träumen müsst. Die Luft ging durch die Felder, // Die Ähren wogten sacht, // Es rauschten leis die Wälder, // So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte // Weit ihre Flügel aus, // Flog durch die stillen Lande, // Als flöge sie nach Haus“ (Eichendorff 1965b, 322 f.). Während es in der ersten Strophe um die Vereinigung von Himmel und Erde geht, wird in der zweiten Strophe das beide verbindende Medium, die Luft, ins Spiel gebracht, welche nicht nur eine harmonische Stimmung hervorruft – das sachte Wogen der Ähren und das leise Rauschen der Wälder –, sondern auch für ein unmittelbares Ansichtig-Werden der Sterne von der Erde aus sorgt – und damit ebenfalls für eine Vereinigung von Himmel und Erde. In der dritten Strophe verwendet das lyrische Ich das verbindende Element, nämlich die Luft, um nicht nur zwischen Himmel und Erde sich zu bewegen, sondern auch nach Hause zu fliegen.
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Das Dunkle bezieht sich im Gegensatz zur Schauerromantik nicht auf die Nachtseite der menschlichen Existenz, weil es in diesem Fall ein positiv besetztes Zwielicht ist, mit welchem der Mond die Erde übergießt. Somit wirkt die Szenerie nicht bedrohlich; vielmehr wird die Nacht zu einer Zeit der Ruhe und Besinnung, ja auch gesteigerten Empfindungsvermögens und des Wunsches, elementare Bedürfnisse nach Geborgenheit zu stillen. Die berühmte Schlusszeile des Gedichts – „Als flöge sie nach Haus“ – ist durchaus programmatisch zu verstehen, weil die Romantiker es sich auf ihre Fahnen geschrieben hatten, „ad fontes“, zu den Quellen, zurückzukehren. Das erklärt das rege Interesse am Mittelalter mit seiner einheitlichen Reichsidee, aber auch die Bevorzugung alles „Volkstümlichen“ aus der „überlieferten Ordnung“, etwa Sitte und Brauch, Volksglaube, Sage und Märchen. Das Konzept der „Naturpoesie“, wie es vorbildhaft vor allem von Wilhelm Grimm in den „Kinder- und Hausmärchen“ realisiert worden ist, geht nämlich davon aus, dass das Ursprüngliche gleichzeitig auch das Heilsame ist, weil noch nicht durch überstrapazierte Verstandestätigkeit wie bei den Aufklärern „verbogen“. Daher die Vorliebe für das „Volk“ – aber auch für das „unverbildete“ Kind, welches sich am regen Interesse literarisch befähigter Väter zeigt, die das Werden ihrer Sprösslinge aufgezeichnet haben, etwa Charles Darwin, Jean Paul oder Heinrich Pestalozzi (vgl. Schönpflug 2004, 230 ff.). Doch nicht nur die moderne Entwicklungspsychologie hat diesbezüglich Wurzeln in der Romantik, sondern – für jeden Analytiker evident – auch die psychodynamischen Theorien mit ihrer Auffassung, das Leben werde in einem hohen Ausmaß durch Einflüsse aus der Kindheit bestimmt. Wenn in der ersten Strophe von Eichendorffs Gedicht der Himmel die Erde küsst, wird auf ein Phänomen Bezug genommen, das mit dem „einfachen“ Volk und den „unverbildeten“ Kindern aus romantischer Sicht durchaus in einem Atemzug zu nennen ist, nämlich die Liebe. So heißt es bei Novalis: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren // Sind Schlüssel aller Kreaturen, // Wenn die so singen oder küssen // Mehr als die Tiefgelehrten wissen [. . . ], // Und man in Märchen und Gedichten // Erkennt die ewgen Weltgeschichten, // Dann fliegt vor einem geheimen Wort // Das ganze verkehrte Wesen fort“ (Novalis o. J. a, 166). „Zahlen und Figuren“ sind quantifizierbare Größen, die von den „Tiefgelehrten“ als Vertreter der rationalen, aufgeklärten Wissenschaft verwendet werden, um die Welt zu erklären. Dem ist aus der Sicht von Novalis das „Singen oder Küssen“ haushoch überlegen, genauso wie das Wissen aus den Formen der „Naturpoesie“, den „Märchen und Gedichten“. Damit wird emotional fundiertem, intuitivem Verstehen das Wort geredet, das (zunächst) mehr erahnt als gewusst ist, womit das Dunkle, welches die Aufklärer als Aberglauben und Irrationalität brandmarkten, völlig neu und grundlegend positiv bewertet wird, ähnlich wie im Gedicht von Eichendorff: Wahres Erkennen benötigt weder das Licht des Verstandes noch intersubjektive Überprüf-
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barkeit, denn „nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten“ (Novalis o. J. b, 5). Das mag manchen Analytikern und anderen Psychotherapeuten durchaus nicht fremd klingen, denn Innenschau, ein genaues Hören auf emotionale Vorgänge und assoziative Verknüpfungen sind Elemente, welche auf die romantischen Wurzeln psychodynamischer Theorien hinweisen. Entsprechendes gilt für die Auffassung, sich möglichst nicht-direktiv zu verhalten, damit der Patient sich entfalten könne, weshalb es zum Beispiel ihm obliegt eine Stunde zu beginnen. In entsprechender Weise sollen die Teilnehmer an einer Gruppenpsychoanalyse die Initiative ergreifen, während der Leiter sich am Anfang abwartend verhält. Ohne auf Fragen der so genannten „Technik“ einzugehen, sei doch darauf hingewiesen, dass die romantisch inspirierte Vorstellung, die Dinge würden „gut“, wenn man die Menschen sich selber überlasse, in einem gewissen Spannungsverhältnis zum defizitären Menschenbild der psychodynamischen Richtungen steht. Dennoch können wir sagen, dass zwar das romantische Humanisierungsprogramm nicht minder einseitig als das der Aufklärung ist, aber, ebenso wie dieses, durchaus seine Berechtigung hat. Um das zu illustrieren, sei Gerhard Schulze zitiert, ein „unverdächtiger“ Gelehrter, dem als Professor für empirische Methoden der Sozialwissenschaft sicher kein Naheverhältnis zum Irrationalismus vorgeworfen werden kann: „Empirische Ergebnisse sind noch nicht theoretische Ergebnisse, sondern bloß Bausteine dafür. Diese Selbstverständlichkeit wird immer wieder selbstverständlich ignoriert. Sie anzuerkennen, bedeutet auch, weitere Bausteine der theoretischen Analyse zu akzeptieren: Gedanken-experimente, Sozial- und Kulturgeschichte, langjährige Lebenserfahrung in dem kulturellen Kontext, dessen Analyse ansteht, auch Intuition, verstanden als ganzheitlich-typologisches Denken im Gegensatz zu deduktivem Denken (dessen Wichtigkeit gleichwohl unbestritten bleibt). Im Dilemma zwischen den Irrtumsrisiken der Interpretation und der Inhaltsarmut purer Datenbuchhaltung ist die erste Alternative vorzuziehen“ (Schulze 1996, 25). Schulze macht deutlich, dass logisch-deduktive Verstandestätigkeit allein nicht genügt, um Phänomene mit Erlebensqualitäten hinreichend zu verstehen. Das gilt auch und insbesondere für den therapeutischen Bereich, da in der Ausbildung die Lehranalyse ein zentrales Element darstellt, um die Kraft des Unbewussten bzw. psychodynamischer Prozesse am eigenen Leibe zu erfahren. Entsprechendes gilt für den Patienten. Eine analytische Therapie kann sich nicht im Intellektualisieren erschöpfen, sie ist weitaus mehr als nur eine Einsichtstherapie. Auch wenn das Erzählen eine Möglichkeit bietet, mithilfe der Sprache Erlebtes und Gedachtes in eine der Betrachtung zugängliche Form zu bringen und dergestalt zur Selbstverständigung beizutragen, wäre es eine Fehleinschätzung zu glauben, dass allein durch das Verbalisieren tief sitzende Konflikte oder frühe emotionale Defizite zu lindern wären. Dazu bedarf es nicht allein einer „korrigierenden emotionalen Er-
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fahrung“ (Alexander 1950), sondern auch einer bestimmten „Technik“, welche die Schleusen zum Unbewussten öffnet, oder, wie es Herrmann Hesse formuliert, „ein anderes Denken [. . . ], das man suchen und lernen musste. War es überhaupt ein Denken? Es war ein Zustand, eine innere Verfassung, die immer nur Augenblicke dauerte und durch angestrengtes Denken-Wollen nur zerstört wurde. In diesem höchst wünschenswerten Zustand hatte man Einfälle, Erinnerungen, Visionen, Phantasien, Einsichten von besonderer Art“ (Hesse 1987b, 230). Mit anderen Worten: Es bedarf des Prinzips der freien Assoziation, und diese ruht nicht auf logisch-deduktiven Grundlagen, da Intuition und Spontaneität notwendig sind, um auf die Frage zu antworten, was einem denn zu diesem Vorkommnis oder zu jenem Erlebnis einfällt. Freies Assoziieren hat mit dem Verknüpfen von Ähnlichkeitsbeziehungen zu tun – das legt bereits das Phänomen der so genannten Übertragung nahe – und gehorcht daher einer anderen Logik als der üblichen. Die Philosophin Karen Gloy bezeichnet diese Form des Denkens als „analogischen Rationalitätstypus“ (Gloy 2001, 207 f.; Gloy 2001; Gloy u. Bachmann 2000); er spielte in der älteren Naturphilosophie eine große Rolle, etwa in der Mikrokosmos-MakrokosmosTheorie, ist heute aber weitgehend marginalisiert und eher in Außenseiterdisziplinen wie der Homöopathie oder der Traditionellen Chinesischen Medizin zu finden (Rieken 2010c). Wenn man, wie es Novalis formuliert, „in Märchen und Gedichten // Erkennt die ewgen Weltgeschichten“, dann ist das nicht nur ein Plädoyer für Intuition, sondern auch für künstlerischen Spürsinn, und den benötigt der Therapeut ebenfalls, um hilfreich tätig zu sein. Zwar geht es nicht ohne begriffliches Denken, man sollte sich bemühen, hellwach zu sein, wenn man den Worten des Patienten folgt, und sich immer wieder überlegen, wann es sinnvoll ist, eine Frage zu stellen, eine Aussage zu interpretieren („Deutung“) oder zu schweigen. Aber die Wahrnehmung dessen, was in der analytischen Situation geschieht, umfasst noch viel mehr, etwa non-verbale Elemente oder jene körperlichen und seelischen Empfindungen, welche der Patient im Therapeuten auslöst und die mit einem unglücklichen Wort 5 als „Gegenübertragung“ bezeichnet werden. „In diesem Sinn“, schreibt die amerikanische Psychoanalytikerin Phyllis Greenacre, „kann der Analytiker mit dem Künstler verglichen werden, dessen Wahrnehmungen durch eine subtile ständige Interaktion zwischen der eigenen Person (körperliche Reaktionen eingeschlossen) und dem, was er in der äußeren Welt erlebt, bestimmt sind“ (zit. n. Schmidbauer 1988, 11). 5
Unglücklich deswegen, weil etwas zutiefst Emotionales mithilfe eines physikalisch-technischen Ausdrucks ausgedrückt wird, zu verstehen wahrscheinlich als Abwehrmechanismus bzw. als Kompensation, um technische Handhabbarkeit bei diesem komplexen und teilweise schwierig in den Griff zu bekommenden Phänomen zu suggerieren.
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Lässt man dieses Kapitel Revue passieren, dann dürfte wohl deutlich geworden sein, dass ein spezifisches Merkmal der psychodynamischen Theorien darin besteht, aus so unterschiedlichen und durchaus gegenläufigen geistigen Strömungen wie der Aufklärung und Romantik gespeist zu werden und sie doch einigermaßen unter einen Hut zu bringen – „einigermaßen“ deswegen, weil weiterhin grundlegende Unterschiede sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Individualpsychologie bei bestimmten Fragestellungen vorhanden sind, die jeweils einer dieser beiden Geistesrichtungen entspringen. Dazu zählt etwa die Frage, ob man eher, um die Begriffe von Johannes Cremerius zu verwenden, der „paternistischen Vernunfttherapie“ oder eher der „mütterlichen Liebestherapie“ zugeneigt ist (Cremerius 1990b). Jene legt das Schwergewicht auf die Deutung der Übertragung und schöpft somit mehr aus der aufklärerischen Tradition, diese präferiert die korrigierende emotionale Erfahrung, welche der Patient mit dem Therapeuten macht und steht somit eher auf der „romantischen“ Seite des Lebens.
1.2 Freud und Adler: Wissenschaft und Mentalität im Wien um 1900 Bernd Rieken
Die Neubewertung der „dunklen“ Bereiche menschlicher Existenz durch die Romantik führte dazu, jene nicht mehr rigoros beiseiteschieben zu müssen, sondern sich mit ihnen beschäftigen zu können. So braucht es nicht zu überraschen, dass es einem Mediziner der Romantik oblag, das Unbewusste als Begriff in die Psychologie 1 einzuführen, nämlich Carl Gustav Carus. Die ersten Worte in seinem Werk „Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele“ lauten: „Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins“ (Carus 1846, 1). Und zwei Absätze später heißt es: „Daß fortwährend der bei weitem größte Theil des Reiches unseres Seelenlebens im Unbewußtsein ruht, kann der erste Blick in’s innere Leben uns lehren“ (ebd.). Dass Unbewusste als zentrales Element der psychodynamischen Theorien ist also eine Mitgift der Romantik, und doch verstanden sich Freud und Adler auch – und anfangs ganz besonders – als naturwissenschaftlich ausgebildete Ärzte, die durch ihre Studien an der Wiener Universität „vom Materialismus, Naturalismus und Empirismus“ geprägt waren (Gödde 2006, 10), allzumal Strömungen, welche eng mit dem Gedankengut der Aufklärung verknüpft sind. Das energetische Konzept der Libidotheorie ist ebenso physikalisch-mechanistisch geprägt wie die Vorstellung vom Seelenleben als einem psychischen Apparat, „dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl.“ (Freud 1940a, 9). Entsprechendes gilt für die Bezeichnung bestimmter Abwehrvorgänge, denn auch sie sind der Physik entnommen. Das beginnt bereits beim Begriff „Abwehrmechanismen“, zu denen ja bekanntermaßen „Projektion“, „Verdrängung“ und „Widerstand“ zählen. Der Mechanik entstammen auch „Übertragung“ und„Gegenübertragung“; Letztere hat man ja bekanntermaßen im Griff, wenn man sich „den Chirurgen zum Vorbild“ nimmt, „der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt“ (Freud 1912e, 380) und „undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen [soll], als was ihm gezeigt wird“ (ebd., 384). Durch Cremerius wissen wir zwar, dass Freud sich in seiner praktischen Arbeit wenig dogmatisch verhielt und keinesfalls wie ein „Psychoanalytiker als sprechende Attrappe“, um einen Buchtitel von Tilmann Moser zu zitieren (1987). Doch prägte die Chirurgen- und Spiegelmetapher über viele Jahrzehnte die praktizierende Zunft – und quälte sie gleichzeitig, weil es auf die Dauer Menschenmögliches überschreitet, sich wie ein Automat zu verhalten.
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In Philosophie und Dichtung bereits etwas früher: s. Brunner u. Titze 1995, 523.
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1.2 Freud und Adler: Wissenschaft und Mentalität im Wien um 1900
Derselbe Freud war es allerdings, welcher sich gleichzeitig von der mechanistischen Medizin distanzierte, die sich ausschließlich mit der physiologischen Seite der Krankheit befasst. Mario Erdheim hat das sehr deutlich anhand der unterschiedlichen Arbeitsweisen von Freud und Ernst Kraepelin herausgearbeitet, der bis heute als Wegbereiter der modernen Psychiatrie gefeiert wird (z. B. bei Schott u. Tölle 2006, 122 ff.). Diesem gehe es nicht um den Einzelfall, sondern um Beobachtungsreihen, die Symptome würden entindividualisiert, um mit anderen verglichen zu werden (Erdheim 1992, 170). Der Leidende werde der Herrschaft des Arztes unterworfen und nur als ein Objekt definiert, dessen Krankheit sinnlos sei (ebd., 172; vgl. ders. 1994, 124–129). All das, so Erdheim, habe Freud zu überwinden versucht und bereits in seiner ersten Fallgeschichte demonstriert (ders. 1992, 173). Der Krankheitsverlauf wird nicht nur ausführlich geschildert, sondern es erscheint auch der Autor selbst als Subjekt. Schon auf der ersten Seite der Krankengeschichte von „Frau Emmy v. N . . . , vierzig Jahre, aus Livland“ erfahren wir, dass Freud hier zum ersten Mal die Hypnose anwendet, aber „noch weit davon entfernt [ist], dieselbe zu beherrschen [. . . ]. Vielleicht wird es mir am besten gelingen, den Zustand der Kranken und mein ärztliches Vorgehen anschaulich zu machen, wenn ich die Aufzeichnungen wiedergebe, die ich mir in den ersten drei Wochen der Behandlung allabendlich gemacht habe“ (Freud 1895d, 99). Damit ist der Boden bereitet für die Erkenntnis, dass „Symptome Sinn und Bedeutung haben“ (Freud 1923a, 212), indem sie aus der individuellen Lebensgeschichte zu verstehen sind. – Das war neu; Freud hat zwar das „Unbewusste“ nicht erfunden, ihm aber einen Teil seiner Rätselhaftigkeit und Unerklärlichkeit genommen und darüber hinaus ein Verfahren zur Verfügung gestellt, das mithilfe von Worten die Linderung von Leiden ermöglichen kann. Das ist „die hermeneutische Seite in Freuds Werk“ (Kutter u. Müller 2008, 25), die man getrost auch als „literaturwissenschaftliche“ oder „Erzählforschungs“-Seite bezeichnen könnte, da es um die Interpretation (mündlicher) Texte geht, und die dafür verantwortlich ist, dass die psychodynamischen Theorien Eingang in die Geistes- und Sozialwissenschaften gefunden haben, im Gegensatz übrigens zu den humanistischen und behavioristischen Richtungen. Eine ähnliche Doppelgesichtigkeit wie bei Freud existiert auch bei Adler, denn in seinem Werk finden wir ebenfalls naturwissenschaftliche und hermeneutische Elemente. Jene sind in der Theorie der Organminderwertigkeit begründet, wobei Adler in seiner „Studie über Minderwertigkeit von Organen“ zwischen morphologischer (Missbildung) und funktioneller Minderwertigkeit unterscheidet (Adler 1907a, 29– 38). Dem liegt ein ausschließlich biologisches, da substratgebundenes Verständnis zugrunde: „Die Heredität besteht in der Vererbung eines oder mehrerer minderwertiger Organe“ (ebd., 39). Das gelte auch für „Kinderfehler“ wie Daumenlutschen, Stottern, Erbrechen oder Enuresis, denn sie seien
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„nicht von außen, sondern von innen angeregt und stehen unter dem Impuls des Zentralnervensystems [. . . ], und sie gehorchen der kompensierenden und überkompensierenden Kraft des nunmehr zur Überwertigkeit gelangenden Anteiles der psychomotorischen Sphäre“ (ebd., 75). Über das Wohl und Weh des Menschen entscheidet also organische Disposition, die zum Ausgleich drängt, und entsprechend lesen sich die dann im Text folgenden Krankenberichte wie Anamnesebögen aus der inneren Medizin (ebd., 76–82). Dass die Organminderwertigkeit auch das seelische Erleben beeinflusst, war Adler zwar bereits bewusst, doch die explizite Erweiterung und Öffnung zu einer psychologischen Theorie erfolgt erst zwei Jahre nach der „Studie“, und zwar zunächst in seinem Aufsatz „Über neurotische Disposition“ (Adler 1909a) und ausführlich dann im „Nervösen Charakter“ (Adler 1912a). Denn es geht nun nicht mehr allein um die seelischen Folgen der Organminderwertigkeit, sondern auch und insbesondere darum, dass sich das „Wollen und Denken“ des neurotischen Menschen „über der Grundlage eines Gefühls der Minderwertigkeit auf[baut]“ (ebd., 54). Und dieses hat seine Ursachen nicht nur in morphologischer oder funktioneller Organminderwertigkeit, sondern auch in den Lebensumständen der frühen Kindheit. Diese können unterschieden werden in eine anthropologisch-konstitutionelle Seite, wenn man „die Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes ins Auge“ fasst (Adler 1927a, 72), und in eine psychosoziale Seite, weil jedes Kind „dadurch, dass es in die Umgebung von Erwachsenen gesetzt ist, verleitet [ist], sich als klein und schwach zu betrachten, sich als unzulänglich, minderwertig einzuschätzen“ (ebd.). Und damit sind bereits die Nahtstelle zum hermeneutischen Verständnis erreicht und das Terrain der Geisteswissenschaften betreten: Aus Gründen der Selbstwertregulation und weil diese Vorstellungen bereits in der frühkindlichen Seele verankert sind, laufen sie vorwiegend unbewusst ab und bedürfen einer ausführlichen Rekonstruktion (bzw. Konstruktion) durch das Erzählen, um sie bewusst zu machen. Dementsprechend verwendet Adler „weiche“ Wortprägungen für seine Theorie. Er bezeichnet die Psychotherapie als einen „künstlerischen Beruf “ (Adler 1913h, 104) und erwähnt dementsprechend auch immer wieder „Kunstgriffe“ der Psyche, etwa wenn er von den „überwertigen“ Ideen des „überspannten neurotischen Ideal[s]“ spricht (ebd., 106) oder wenn er von einem Patienten berichtet, der seine autoritäre Mutter durch Depression und Zärtlichkeit gefügig machen wolle (Adler 1913a, 77). Für die individualpsychologisch-analytische Theoriebildung ist darüber hinaus aber vor allem der Begriff „Fiktion“ zentral, dem Adler eine „Art von wirklicher Schöpferkraft“ attestiert (Adler 1927a, 74). Ihm hafte etwas Imaginäres an, er sei ein „Widerspruch gegen die Realität“ (Adler 1912a, 95), an dem wir nichtsdestotrotz festhalten, uns dergestalt etwas vorspielen und, um es mit Hans Vaihinger zu formulieren, „so tun, als ob“ es ihn wirklich gäbe (s. Kap. 2.1.1). Und genau an dieser Stelle trifft sich die Individualpsychologie mit der Psychoanalyse, denn für diese ist die Vorstellung ebenso zentral, dass der Mensch aus Gründen der Stabilisierung des Ichs zu „Kunstgriffen“ neigt, indem er bewusst oder unbe-
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wusst Täuschungen erliegt, um sich seine vermeintlichen oder tatsächlichen Schwächen und Defizite nicht einzugestehen. Dass „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud 1917a, 11), weil das Es das Ich „dahin führen muss, wohin es selbst gehen will“ (Freud 1933a, 83): Das sei nach der kosmologischen (Kopernikus) und biologischen (Darwin) die dritte und empfindlichste „Kränkung der Eigenliebe“, die der Mensch im Laufe der Neuzeit habe erfahren müssen, denn sie sei psychologischer Natur (Freud 1917a, 7–12). Daraus erklärt sich die zentrale Rolle der Abwehrmechanismen, weil sie helfen, uns einzureden, dass wir rationale Wesen wären, indem wir zum Beispiel Neidgefühle auf andere projizieren und „so tun, als ob“ sie nicht in uns vorhanden wären, oder indem wir Spaltungen vornehmen, wenn wir die Menschen nach einfachen Schwarz-weiß-Schemata klassifizieren, um das vermeintliche Chaos der äußeren Welt zu ordnen, oder indem wir der Übertragung erliegen, wenn wir „so tun, als ob“ der Lehrer in seinem Verhalten genauso wäre wie seinerzeit der Vater, etc. Da wir uns im Bereich der Hermeneutik bewegen, braucht es nicht zu überraschen, dass wir uns mit dem „So-tun-als-Ob“ in guter Gesellschaft mit einem altehrwürdigen Topos der Kultur- und Geistesgeschichte befinden, nämlich der Theatrummundi-Metapher, jener Vorstellung, dass die Welt eine Bühne sei, wir nur unsere Rollen spielten und unser „wahres“ Ich hinter Masken versteckten (vgl. Kap. 6.1.1). Es ist kein Zufall, dass vor allem im Zeitalter der Romantik diese Metapher en vogue war. Erinnert sei an das Zitat aus den „Elixieren des Teufels“, in dem es heißt, Medardus habe geglaubt, frei zu sein, während er in Wirklichkeit sich „nur innerhalb des Käfichts bewegte, in den ich rettungslos gesperrt worden“ (Hoffmann 1967, 388). Noch schärfer äußert sich etwa der Ich-Erzähler in den „Nachtwachen“ von Bonaventura, wenn er sich fragt: „Was soll es auch überhaupt mit dem Ernste, der Mensch ist eine spaßhafte Bestie von Haus aus, und er agiert bloß auf einer größern Bühne als die Akteure der kleinern“ (Bonaventura 1974, 74). Und genau diese Bühnenmetapher spielt im Wien der Jahrhundertwende eine tragende Rolle (zum Folgenden vgl. Rieken 2006). Das hängt mit dem Gegensatz zwischen rigider katholischer Sexualmoral und dem ausgeprägten Verlangen nach sexueller Freizügigkeit zusammen, wovon zum Beispiel die Romane und Dramen Arthur Schnitzlers beredtes Zeugnis ablegen. Das hat aber auch mit der betonten Inszenierung von männlichen „Tugenden“ wie Macht und Stärke sowie der aggressiv aufgeheizten politischen Stimmung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu tun sowie mit dem Gefühl, dass es mit der Doppelmonarchie allmählich zu Ende geht. Deswegen stellte der Glanz der Ringstraßenarchitektur zwar eine pompöse Inszenierung nach außen dar, doch war das ganze System indes bereits morsch, und es knisterte an allen Ecken und Enden des Riesenreiches: „Die Ringstraße ist eine steingewordene Lüge. Sie täuschte eine Macht vor, die verloren war, sie schlüpfte in die Masken vergangener Stile, bot den Schein aus Steinen als Wirklichkeit an, in dem sich die Menschen willig einrichteten“ (Urbach 1972, 19).
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Außerdem hatten Industrialisierung und Großstadtbildung zu einer Dynamisierung des Lebensgefühls geführt, die sich in einer zeittypischen „Nervosität“ äußerte und in einem eigentümlichen Gegensatz stand zu den traditionellen Werten, die auf „Ewigkeit“ angelegt waren, genauso übrigens wie die das Weichbild prägenden klassizistischen Prachtbauten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Das sind zwar teils Erscheinungen, die auch in anderen Staaten oder Städten Europas auffindbar waren, doch kommen spezifische mentale Strukturen hinzu, die es in dieser Kombination und gepaart mit den bereits erwähnten Elementen nur in der Donaumetropole gab. Wien war und ist die größte deutschsprachige Stadt außerhalb der BRD und seit jeher Anziehungspunkt für unterschiedliche Völker und Kulturen. Von Westen her, die Donau abwärts, kamen die „Donauschwaben“ und andere Deutsche, aus dem Osten und Süden Ungarn, Griechen, Levantiner sowie die slawischen Nachbarn – Tschechen, Slowaken, Kroaten, Slowenen, Serben – und darüber hinaus Angehörige jener mediterranen Länder, die von den Habsburgern regiert wurden, nämlich Spanier und Italiener. Typisch für diese Stadt sei, so der Schriftsteller György Sebestyén, „dass in Wien die Gegensätze nicht ausgetragen, auch nicht miteinander versöhnt wurden [. . . ]. Das hat eine gewisse Skepsis zur Folge, durchaus im Sinne Nestroys: ‚Die edelste Nation ist die Resignation‘ “ (Sebestyén 1981, 12 f.). Die Verewigung der Konflikte habe zu einer allmählichen Konturlosigkeit sowie „zu einer gewissen Unzuverlässigkeit und manchmal auch zur Frostigkeit der Beziehungen geführt“ (ebd., 13). Niemand wisse genau, „was er vom anderen halten soll oder darf. Das würde nicht weiter stören, denn in Wien liebt man das Spiel [. . . ]. Frostigkeit wird dagegen als störend empfunden und durch biedermännische Bonhomie und augenzwinkernde, schulterklopfende Kumpanei vergessen gemacht. In solchen Fällen bleiben die Beziehungen weiterhin frostig, aber man hat sich mit der Zeit daran gewöhnt. Und zum Schluss weiß man nicht mehr so recht: Hat man sich den Frost eingebildet oder die Freundschaft?“ (ebd.). Das ist eine bemerkenswerte Skizze, denn sie lenkt einerseits den Blick auf das spielerische Element sowie die Beziehung zwischen Sein und Schein, andererseits auf antagonistische Kräfte, denen es am Ausgleich gebricht und aus denen ein gewisses resignatives Element resultiert. Beides hängt zusammen mit der feudalistischabsolutistischen Stellung als katholischer Haupt- und Residenzstadt. Zum Unterschied von den freien Reichsstädten kam es in der Vergangenheit in Wien nie zur Ausbildung bürgerlicher Freiheiten. Charakteristisch waren barocke Prachtentfaltung mit ihrem „Willen zum Schein“ und eine auffällige Zurschaustellung höfischen Lebensstils, der großen Einfluss auch auf bürgerliche Kreise hatte, war doch jeder hausbesitzende Bürger verpflichtet, Hofangehörigen Quartier zu geben (Ehalt 1983, 171). Darüber hinaus war der Anteil des Dienstpersonals in der Wiener Bevölkerung extrem hoch, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag er bei 45 Prozent der Altstadtbewohner (ebd.). All dies führte zu einer ausgeprägten „Servili-
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tät, ‚Küss’ d’ Hand‘- und ‚Gschamster (gehorsamster) Diener‘-Mentalität“ (ebd.), die zwar durch besondere Höflichkeitskonventionen geprägt war, hinter denen sich aber oftmals Unverbindlichkeit und Kälte verbargen. „Fatalismus, Raunzer- und Querulantentum und eine Haltung des ‚Nur net anstreifen‘ sind die Kehrseite dieses Verhaltenstypus“ (ebd., 172). Die positive und doch auch zwiespältige Seite der Wiener Mentalität ist dagegen die viel beschworene „Wiener Gemütlichkeit“ mit ihrer eigenartigen Mischung aus Lebensfreude und Melancholie. Ein neuerer Reiseführer spricht von einem „seltsamen Widerspruch in Handlungen, Meinungen und Gefühlen. Die Walzerklänge, die Schrammelmusik, die frivole Leichtlebigkeit der Operetten spiegeln einen Wesenszug wider. Ein anderer sind Schwermut und Todessehnsucht“ (Kuballa u. Mayer 1981, 23). Ähnlich verhält es sich mit dem Wienerlied, das traditionell beim Heurigen gesungen wird und gleichermaßen Fröhlichkeit und Melancholie hervorruft. Das spiegelt sich auch in den Texten wieder, da sie einerseits von den schönen Dingen des Lebens, andererseits von Tod und Vergänglichkeit erzählen, und das in besonders ausgeprägter Form, wobei den Wienern eine innige Beziehung zum Morbiden nachgesagt wird. Als typische Merkmale gelten, um es zusammenzufassen, Eigenschaften, die, würde man sie auf einer Skala anordnen, recht weit voneinander entfernt liegen: Gemütlichkeit, Lebensfreude, Neigung zum Genuss und eine gewisse Leichtigkeit des Lebens einerseits, andererseits jedoch Resignation, Pessimismus und Melancholie, gepaart mit einem bemerkenswerten Naheverhältnis zum Tod. Die dualistische Stimmungslage hängt, verstärkt um den mentalitätsspezifischen „Willen zum Schein“, eng mit der Bühnenmetapher zusammen, denn wenn man zwischen Schwermut und Leichtmut schwankt, bleibt die Frage offen, worin denn nun das Eigentliche besteht. Bedenkt man all dies sowie die zuvor genannten zeitspezifischen allgemeinen Einflussfaktoren, dann wird es vielleicht etwas verständlicher, wieso die psychodynamischen Theorien in Wien ihren Ursprung haben und wieso ihr Gehalt eng mit der Theatrum-mundi-Metapher verknüpft ist. Lässt man das gesamte Kapitel (1.1 und 1.2) Revue passieren, so scheint der Bogen vom Schamanismus über die griechische Antike und die Renaissance mit Aufklärung und Romantik bis zum Wien um 1900 recht weit gespannt zu sein. Doch der historische Teil ist kein Selbstzweck, er sollte zum einen die Ursprünge psychotherapeutischen Handelns thematisieren und damit die Spezifik gegenwärtigen Heilens deutlicher zutage treten lassen sowie gleichzeitig ein Plädoyer dafür sein, moderne Vorstellungen nicht allzu eilfertig auf die Vergangenheit zu projizieren. Dazu neigen aber Analytiker mitunter aufgrund ihrer dogmatischen beruflichen Sozialisation (s. Kap. 7.1) und ihrer fehlenden historischen Ausbildung. Zum anderen sollte nicht nur verständlich gemacht werden, dass im Laufe der Neuzeit der Mensch durch die Individualisierungsprozesse komplexer und damit auch anfälliger geworden ist – weswegen es verständlicher wird, dass es nun auch Spezialisten für das Seelenleben
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gibt –, sondern auch, worin die genuin neuzeitlichen Wurzeln psychodynamischer Theorien begründet sind. Das kann für das eigene Selbstverständnis von Bedeutung sein, und zwar insbesondere für jene, die davon ausgehen, dass man die Dinge bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen sollte, um sie hinlänglich zu verstehen. Umso unverständlicher erscheint es mir, wenn in einführenden Werken aus Psychoanalyse und Individualpsychologie historische Grundlagen gar nicht oder nur marginal erwähnt werden. Ohne geschichtliche Kenntnisse fehlt ein Teil des Verständnisses, das gilt für das Individuum und seine Lebensgeschichte genauso wie für Gesellschaft und Kultur.
1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie Thomas Stephenson
Alfred Adler erfuhr mehrere Identitätswechsel in seinem Leben: Als Autor publizierte er seine ersten Text 1897 unter dem Pseudonym „Aladin“, ab 1898 dann alle weiteren Werke unter dem Namen Alfred Adler. Aladar Adler war der Name, den er im Heeresdienst als ungarischer Staatsbürger trug, bevor er 1911 die österreichische Staatsbürgerschaft annahm. 1911 war dann auch das Jahr, in dem er – sieben Jahre nach der Konvertierung vom Katholizismus zum protestantischen Glauben – aus einer ganz anderen Glaubensgemeinschaft austrat: im Oktober 1911 verlässt Adler die „Mittwoch-Gesellschaft“ und damit jenen Ort, den zu eröffnen er mit wenigen Auserwählten von Freud neun Jahre davor angehalten worden war. Seine eigene Gemeinschaft versammelt er dann zunächst in der Gründung des „Vereins für freie psychoanalytische Forschung“, zwei Jahre später aber gibt er seinem Kind einen neuen Namen: „Verein für Individualpsychologie“. 1935 schließlich übersiedelt der Wiener nach Amerika. Die Auflösung seines Vereins durch die Nationalsozialisten musste er dann nicht mehr erleben, auch nicht die „Spaltung“ der Individualpsychologie in „zwei Identitäten“, nämlich jener der „mitteleuropäischtiefenpsychologischen“ und der „nordamerikanisch-kognitiven“ Versionen der Individualpsychologie. Arbeiten zur Historie der Individualpsychologie sind bereits in großer Zahl erschienen, wenn auch kaum eine, die einen breit angelegten Überblick über den ganzen bisher zurückgelegten Weg zu geben vermag. Vor allem drei AutorInnen müssen hier jedenfalls explizit erwähnt werden, deren Werke mittlerweile Klassiker in diesem Bereich genannt werden dürfen: Bernhard Handlbauer zeichnet auf 455 Seiten akribisch genau „Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers“ (Handlbauer 1984) nach und berücksichtigt dabei sehr differenziert gesellschaftliche, kulturelle und politische Einflüsse ebenso wie problem- und ideengeschichtliche Dimensionen. Allerdings bezieht er sich im Wesentlichen nur auf die Zeit bis zum zweiten Weltkrieg, wie auch Jürg Rüedi, der „Die Bedeutung Alfred Adlers für die Pädagogik“ untersucht und dabei „eine historische Aufarbeitung der Individualpsychologie aus pädagogischer Perspektive“ leistet (Rüedi 1988). Zwar gibt es in beiden Werken einige Überlegungen zu Auswirkungen des Adler’schen Denkens auf die Gegenwart, aber lediglich Almuth Bruder-Bezzel hat in der 2. überarbeiteten Auflage ihrer „Geschichte der Individualpsychologie“ (1999) ein eigenes Kapitel zur „Neuorganisierung der Individualpsychologie nach 1945“ angefügt, in dem sie sich allerdings hauptsächlich auf die Entwicklungen in Deutschland bezieht. Es gibt eine Reihe von kleineren historischen Arbeiten, die sich entweder Alfred Adler in mehr oder weniger dezidiert biographischer Absicht widmen (Busch 1994, Hoffman 1997, Rattner 1972, Schiferer 1995, Sperber 1970), oder ganz speziellen Zeiträumen der Individualpsychologie-Geschichte (bspw. Handlbauer 1997 über die Zeit der
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
Emigration, Kretschmer 1982 über die Anfänge der Individualpsychologie als „Freie Psychoanalyse“ ) bzw. dem Einfluss der Individualpsychologie auf verschiedene kleinere oder größere geographische Räume (bspw. Kiss 1988 für Ungarn, Leibin 1988 für Russland, Gröner 1987, Schmidt 1985, 1987 für Deutschland, Gröner 1993 für die Individualpsychologie in München und dann 1994 für die 40jährige Geschichte der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie) oder sich historischen Entwicklungen in speziellen Betätigungsfeldern widmen (bspw. Saller (1994) für die Psychiatrie zwischen 1912 bis 1945, Gstach (2003) für die Erziehungsberatung der Zwischenkriegszeit). Im Folgenden soll in aller gebotenen Kürze der spannungsreiche und von Brüchen, Bindungen, Trennungen und Identitätswechseln begleitete Weg nachgezeichnet werden, den die Individualpsychologie von ihren ersten Anfängen bis zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Bandes im Jahre 2011 genommen hat. Diese Darstellung erfolgt aus der Perspektive eines österreichischen Individualpsychologen, daher werden auch die „regionsspezifischen“ Entwicklungen in diesem Bereich der deutschsprachigen Individualpsychologie Erwähnung finden. Es ist ein Weg, der geprägt ist von Auseinandersetzungen mit dem „Eigenen“ und dem „Anderen“, also mit Identitätsfragen, die auch den Gründer der Individualpsychologie zeitlebens begleitet haben. Und wenn wir lesen, was Almuth Bruder-Bezzel im Jahre 2007 anlässlich des Erscheinens der „Alfred Adler Studienausgabe“, also 83 bzw. 93 Jahre nachdem Sigmund Freud noch zu Lebzeiten diese Ehre zuteil geworden war 1 , im Vorwort zum ersten Band feststellen kann, so können wir bereits jetzt erahnen, welch komplexes Geschehen die Entwicklung der Individualpsychologie darstellt: „Das Interesse der individualpsychologisch orientierten Psychotherapeuten hat sich . . . verlagert. Sie verstehen sich heute als Psychoanalytiker mit einem spezifischen, humanistisch geprägten Therapiekonzept und Menschenbild. Ermöglicht wurde das unter anderem dadurch, dass die neue Psychoanalyse durch die Objektbeziehungstheorie, die Selbstpsychologie, den intersubjektiven und relationalen Ansatz sowie durch die Ergebnisse der psychoanalytisch inspirierten Entwicklungspsychologie eine Wende genommen hat, die vielen Intentionen Alfred Adlers und der Adlerianer entgegenkommt. Die Forschungsergebnisse und methodischen Differenzierungen der neueren analytisch orientierten Psychotherapie sind vielmehr unverzichtbarer Bestandteil auch der – in Adlers Verständnis – individualpsychologisch motivierten Psychoanalyse“ (Bruder-Bezzel 2007, 7). Wenn die Herausgeberin beim Erscheinen des ersten Bandes der ersten großen Werksammlung des Gründers der Individualpsychologie (ein Ereignis, das bekannt1
In den Jahren 1924–1934 erschienen die „Gesammelten Schriften von Sigmund Freud“ im „Internationalen Verlag für Psychoanalyse“ in Wien. 1938 wurde der Verlag von den Nationalsozialisten zwangsweise liquidiert und alle Exemplare vernichtet. 1952 wurden dann die „Gesammelten Werke“ herausgegeben, die seit damals als Hauptzitationsquelle des Freudschen Werkes gelten.
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lich viel mit der Identitätsbildung von Scientific Communities zu tun hat) fast ein Jahrhundert nach der Loslösung Adlers von Freud nicht mehr von der Individualpsychologie, sondern von der „individualpsychologisch motivierten Psychoanalyse“ spricht, ergibt sich ein Spannungsbogen, der fragen lässt, was denn Individualpsychologie eigentlich ausmacht, und wodurch sie bei ihrem ersten Erscheinen als solche zu erkennen war. Diese Frage nach dem „ersten Erscheinen“ ebenso wie jene nach dem „Eigenen“ der Individualpsychologie zu beantworten, ist kein leichtes Unterfangen, gibt es doch in jenen Jahren, in denen Alfred Adler noch einer der Getreuen um Sigmund Freud war, eine Reihe von Ansatzmöglichkeiten, das erste gleichzeitige Auftauchen einer größeren Anzahl jener für den Gründer der Individualpsychologie charakteristischen Setzungen zu markieren. Der folgende Versuch, den Beginn spezifisch individualpsychologischen Denkens bei dem damaligen Psychoanalytiker Adler auszumachen, ist nur eine dieser Ansatzmöglichkeiten, die allerdings für den gesamten in diesem Band gesetzten Rahmen besonders stimmig erscheint. 1904 veröffentlichte Adler in der ärztlichen Standeszeitung den Aufsatz „Der Arzt als Erzieher“. Betrachten wir den ersten Absatz dieser Schrift, um verstehen zu können, warum hier, neun Jahre vor der Gründung des gleichnamigen Vereins der „Beginn“ der Individualpsychologie angesetzt werden kann: „Das Problem der Erziehung, wie es Eltern und Lehrer auf ihrem Wege vorfinden, ist eines der schwierigsten. Man sollte meinen, dass die Jahrtausende menschlicher Kultur die strittigsten Fragen längst gelöst haben müssten, dass eigentlich jeder, der lange Objekt der Erziehung gewesen ist, das Erlernte auch an andere weitergeben und in klarer Erkenntnis der vorhandenen Kräfte und Ziele fruchtbar wirken könnte. Welch ein Trugschluss wäre das! Denn nirgendwo fällt uns so deutlich in die Augen, wie durchaus subjektiv unsere Anschauungsweise, und wie unser Denken und Trachten, unsere ganze Lebensführung vom innersten Willen beseelt ist. Ein nahezu unüberwindlicher Drang leitet den Erzieher Schritt für Schritt, das Kind auf die eigene Bahn herüber zu ziehen, es dem Erzieher gleich zu machen, und das nicht nur im Handeln, sondern auch in der Anschauungsweise und im Temperament. Nach einem Muster oder zu einem Muster das Kind zu erziehen, war vielfach und ist auch heute noch oft der oberste Leitstern der Eltern. Mit Unrecht natürlich! Aber diesem Zwang erliegen alle, die sich des Zwanges nicht bewusst werden“ (Adler 1904a, 26). Bereits in den ersten Worten dieses Textes erscheinen in rudimentärer Form alle jene Themenstellungen, die Adler und seine Epigonen letztlich zu einer eigenen Identität als (psychoanalytische) IndividualpsychologInnen führen: • Die Beschäftigung mit Erziehungsproblemen, die v. a. in Form von Erziehungsberatung und „Psychagogik“ eines der Hauptbetätigungsfelder der Individualpsychologie war und ist.
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
• Die Arbeit mit Eltern und LehrerInnen, die nach wie vor zu den bedeutendsten Leistungen individualpsychologischer Beratung und Erwachsenenbildung gehört. • Die Kräfte und vor allem die Ziele, die das Wirken des Menschen bestimmen, die sich im Begriff der „Schöpferischen Kraft“ und dem zentralen Konzept der Finalität wieder finden werden. • Das „Subjektive der Anschauungsweise“, für das er viel später die individualpsychologischen Begriffe der „tendenziösen Apperzeption“ und der „privaten Logik“ einsetzen wird. • Die Ganzheit der Lebensführung, die sich dadurch ergibt, dass das all „unser Denken und Trachten“ durch ein Wollen gelenkt wird, das ein „innerstes“ ist. Das wird er ausbauen zu den Konzepten der Ganzheitlichkeit bzw. der Einheit der Persönlichkeit und des Lebensstils. • Der „nahezu unüberwindliche Drang“, das Kind sich gleich zu machen, es auf die eigene Bahn herüberzuziehen etc. finden wir wieder im späteren Macht- und Geltungsstreben (hier noch jener der Eltern bezüglich der eigenen Kinder) und in einer Überhöhung des Triebkonzeptes durch den Begriff des Strebens (nach Macht, nach Geltung, nach Überlegenheit, nach Sicherheit, nach Lust). • Das Muster, durch das die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern hier geprägt wird, hat Verbindungen sowohl zu den Erziehungsstilen, als auch zu den Apperzeptionsschemata. • Der „oberste Leitstern“ trägt bereits den Keim des Leitbildes bzw. der leitenden Idee in sich. • Die kategorische Beurteilung dieses speziellen „Leitsternes“ durch die Aussage „Mit Unrecht natürlich“ bringt sowohl „Fiktion“ als auch „Irrtum“ ins Spiel, zwei Begriffe, mit denen Adler immer wieder operieren wird. • Und jenes „sich nicht des Zwanges bewusst sein“ (der sich aus dem unüberwindlichen Drang ergibt, gemäß dem innersten Willen dem obersten Leitstern als Ziel zu folgen) also eben nicht „in klarer Erkenntnis der Kräfte und Ziele, die das eigene Wirken bestimmen“, handeln zu können, weist den Weg zu Adlers Interpretation des Unbewussten als Unverstandenem. Alle aus dieser Textstelle herausgearbeiteten Punkte stellen die ersten aufkeimenden Gedankengänge dar, die gemeinsam die Basis für seine späteren drei zentralen Setzungen: Minderwertigkeitsgefühl – Kompensation – Gemeinschaftsgefühl darstellen. In den folgenden Kapiteln dieses Buches werden wir verschiedene Antwortmöglichkeiten zu vielen Detailfragen individualpsychologischer Theorie und Praxis erörtern, eines jedenfalls können wir jetzt bereits festhalten, wenn wir die nächsten Zeilen lesen, die in diesem ersten „prä-individualpsychologischen“ Text schon als richtungsweisend enthalten sind. Damals konnte zwar noch nicht die Rede sein von einem eigenen Berufsstand mit der Bezeichnung „PsychotherapeutIn“, und die Psychoanalyse selbst war gerade im frühesten Säuglingsalter, aber die folgenden Worte Alfred Adlers geben sehr klar die Identitätsorientierung auch noch für heutige „in-
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dividualpsychologisch motivierte“ AnalytikerInnen an, v. a. wenn wir uns vorstellen, Adler spräche hier vom idealen Psychotherapeuten 2 : „Ein Kenner der Höhen und Tiefen der Menschenseele, muss er mit seinem Späherauge seine eigenen wie die fremden Anlagen und ihr Wachstum erfassen. Er muss die Kraft besitzen, unter Hintansetzung seiner eigenen persönlichen Neigungen sich in die Persönlichkeit des anderen zu vertiefen und aus dem Schachte einer fremden Seele herauszuholen, was dort etwa geringes Wachstum zeigt. Findet sich solch eine Individualität einmal, unter Tausenden ein Mal, mit dieser ursprünglichen Finderfähigkeit ausgestattet: Das ist ein Erzieher“ (Adler 1904a, 27). Das „Eigene“ und das „Andere“ in all dem, was in ihm angelegt ist und in seinen zu befördernden Entwicklungsmöglichkeiten erfassen, sich in die Persönlichkeit des anderen zu vertiefen und der Seele zu größerem Wachstum zu verhelfen – treffender kann man wohl kaum formulieren, was Psychotherapie und Pädagogik zumindest aus individualpsychologischer Sicht zu zwei Seiten einer einzigen Medaille macht! Und deutlicher kann kaum werden, was Alfred Adler in seinem tiefsten Herzen immer geblieben ist: Ein Erzieher. Der „paid-agogos“ war in der Antike der Dienende 3 , der die Kinder zur Schule brachte, und in diesem Sinne war Adler wohl bis zuletzt jener Berufene, der die im Wachstum begriffenen Menschen zur Schule des Lebens führte.
1.3.1 Die Zeit der Gemeinschaft der frühen Tiefenpsychologie (Zusammenarbeit mit und Trennung von Freud) Als am 27.02.1899 Freud an Adler aus Anlass einer ärztlichen Konsultation bezüglich eines Patienten einen kurzen Brief schrieb (und wir darin den ersten belegten Kontakt zwischen den beiden Gründerpersönlichkeiten sehen dürfen (vgl. BruderBezzel 2007, 9), war das Verbindende zunächst nur die Mitgliedschaft im Ärztestand. Auch die oben zitierten Textstellen Adlers, die uns über die Verbindung von Psychotherapie und Pädagogik und die individualpsychologische Arbeit in der Erwachsenenbildung und Erziehungsberatung nachdenken ließen, wurden in der ärztlichen Standeszeitung geschrieben. An der Wurzel der Psychotherapie, an der Wurzel der Psychoanalyse wie auch der Individualpsychologie steht die Medizin, über dieses historische Faktum lässt sich nicht streiten. Als Freud erstmals den ärztlichen Kollegen kontaktierte, sollte es noch fast ein Jahrhundert dauern, bis zum ersten Mal eine eigene Berufsgruppe, die unabhängig vom Ärztestand ihre Tätigkeit ausüben kann, im 2 3
Damals war natürlich auch noch kein Rede von gendergerechtem Formulieren, das daher an dieser Stelle grammatikalisch leider mitgemacht werden muss. In diesem Sinne ist „Psycho-therapie“ ein passender Ausdruck, denn die „therapeina“ war in der Antike die „Magd“, die Dienende. So wird die Psychotherapie zur „Dienerin der Seele“ und TherapeutInnen zu Dienstleistenden, die im Adler’schen Sinn die KlientInnen zur Schule des Lebens geleiten.
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
Geburtsland der Gründer der ersten zwei psychotherapeutischen Schulen gesetzlich verankert wird. Und trotzdem ist bei beiden von Anfang an der Paradigmenwechsel aus der Medizin heraus in ein neues Gebiet der wissenschaftlichen und professionellen Beschäftigung mit dem Menschen zu erkennen. Um zu verstehen, welche Aspekte dieser beiden Persönlichkeiten und ihres Denkens hauptverantwortlich dafür waren, dass nach einer Zeit der engen Zusammenarbeit ein radikaler Bruch erfolgte, der sich einige Jahrzehnte als nahezu unüberbrückbar erwies, müssen wir allerdings einige Zeit vor der Begegnung dieser beiden starken Persönlichkeiten ansetzen und dabei pointiert eben jene Erkenntnisse nutzen und erweitern, die wir in jenen ersten Kap. 1.1 und 1.2 dieses Bandes errungen haben, die sich der Vorgeschichte der Psychotherapie und der Situation von Wissenschaft und Mentalität um 1900 widmeten. Wir werden zunächst auf Freuds allererste Ansätze zu jenem großen Paradigmenwechsel blicken, den die Geburt der Psychoanalyse für die Sicht auf den Menschen bedeutet. Wenn wir hier bestimmte Elemente seines Denkens und Handelns gekennzeichnet haben, wird es leichter fallen, zu verstehen, in welcher Weise dann der Beitrag Alfred Adlers zu der frühesten Entwicklung der Psychoanalyse sowohl befruchtend als auch irritierend sein musste. Unsere bisherigen historischen Erkundungen hatten uns im letzten Kapitel von der Antike bis zur Neuzeit geführt, und wir konnten den Wandel der Sicht auf den Menschen und auf „seelisches Leid“ als etwas erkennen, was mit kulturellen und gesellschaftlichen historischen Prozessen ebenso zusammenhängt wie mit dem Wandel des Umgangs mit menschlichem Wissen und mit dem, was dieses Wissen schafft. Vor diesem Hintergrund betrachten wir nun in mehreren Schritten das Geschehen, das wir als „Entwicklung der Individualpsychologie in den ersten hundert Jahren ihres Bestehens 4 “ in den Blick nehmen. In einem ersten Schritt betrachten wir zunächst die Jahre 1881 bis 1911, also jenen Zeitraum, in dem sich in Medizin, Psychologie und Philosophie bestimmte Phänomene zeigten, immer mehr verdichteten und schließlich von Sigmund Freud in einem großen Wurf überhöht werden konnten, bevor durch die immer mehr Eigenständigkeit beanspruchenden Denkgebäude von Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Wilhelm Reich, Otto Rank, Sandor Ferenczi und anderen „Dissidenten“ ein schließlich weltumspannender vielstufiger Prozess initiiert wurde – der Prozess der rasanten Entwicklung und Verzweigung jenes mittlerweile bereits nahezu unüberschaubar großen Bereich menschlichen Denkens und Handelns, der mit dem Namen „Psychotherapie“ belegt ist. Der mechanisierte Mensch als Ausgangspunkt Wir beginnen unsere Reise in Paris, am 5. April des Jahres 1881, wenige Wochen bevor Bertha Pappenheims Vater starb, und die Behandlung, die Josef Breuer an diesem 4
Dieser Band erscheint genau zu jenem Zeitpunkt, an dem in Wien der Internationale Kongress „100 Jahre Individualpsychologie“ stattfindet.
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Fall von Hysterie begonnen und 14 Jahre später unter dem Pseudonym „Anna O.“ mit Sigmund Freud publizieren sollte, eine erste von mehreren dramatischen Wendungen genommen hatte. An diesem Abend sahen die Pariser und Pariserinnen in der Opéra Comique an der Place Boieldieu eine weibliche Gestalt über die Bühne tanzen. Zu den Klängen Offenbachs und seiner an diesem Abend zur Uraufführung gelangenden Oper „Hoffmanns Erzählungen“ nahmen sie teil an der Geschichte Hoffmanns, dessen Begehrlichkeit von Coppelius mit folgenden Worten geweckt wird: „Habe Brillen, die jeden toten Gegenstand im Nu beleben. Ihr Glanz durchleuchtet alles, und man erblickt selbst die Seele. Auch dem Seelenlosen geben sie Seele, neues Leben“ (Barbier 1952, 30). Tatsächlich nimmt Hoffmann durch diese spezielle Brille die vor ihm tanzende mechanische Puppe Olympia, die ihm Coppelius vorführt, als lebende, seelenvolle Frau wahr. Das tragische Ende ist absehbar, am Ende des Aktes zerbricht die Puppe, Hoffmann geht leer aus. Wenige Monate später sehen wir – nur einige Straßen weiter – „eine bunte Hörerschaft aus ganz Paris: Schriftsteller, Journalisten, berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen und die elegante Halbwelt“ (Munthe 1928, 214). in der Pariser Salpêtrière die mittlerweile zum gesellschaftlichen Ereignis avancierten „Vorführungen“ des berühmten Jean Martin Charcot besuchen. „Seine berühmten „Dienstagsvorlesungen“, in denen er [. . . ] seine Paradepatientinnen vorführen ließ, [wurden] von „tout Paris“ besucht“ (Tömmel 1985, 162). Auf dieser akademischen „Bühne“ sehen die staunenden Zuschauer und Zuschauerinnen, wie der Neurologe nach der Reihe Menschen in Hypnose versetzt, die mit als „hysterische Lähmungen“ diagnostizierten Symptomen an ihn überwiesen wurden. Während der kataleptischen Phase der PatientInnen demonstriert Charcot nun die Haltung eines Vertreters der mechanistischen Medizin, wie wir sie im vorigen Kapitel in Kraepelins Entindividualisierung der Symptome und der Unterwerfung des Leidenden unter die Herrschaft des Arztes, der ihn als Objekt definiert, kennengelernt hatten. Und wie wir durch Hoffmanns Schicksal vorgeführt bekamen, dass „die Lebendigkeit des Gegenübers im Auge (bzw. der „Brille“) des Betrachters“ liegt, so sehen wir hier Charcots „Anti-Coppelius“-Variante, in der der Organmediziner lebende und leidende Menschen in all ihrer geistigen, körperlichen und seelischen Vielschichtigkeit zu Marionetten seiner „ärztlichen Kunst“ werden lässt:
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
„[. . . ] durch die Geberde und die Stellung, die wir der Hypnotisirten geben, können wir eine Vorstellung in ihr wachrufen. Schliesst man ihr z. B. die Fäuste zur Drohung, so sieht man, wie sie das Haupt nach rückwärts wirft, und wie Stirne, Augenbrauen und Nasenwurzel von Falten, die ihr einen drohenden Ausdruck geben, besetzt werden. Nähert man im Gegenteile ihre ausgestreckten Finger ihrem Munde, so öffnen sich die Lippen, ein Lächeln tritt auf, und das Gesicht nimmt einen freundlichen Ausdruck an [. . . ] Bringen wir bei unserer Versuchsperson z. B. den oberen Kreismuskel der Lider (den Muskel des Zornes nach D. de B.) zur Zusammenziehung, so sehen Sie, wie sich in der Miene die zornige Erregung ausprägt, und gleichzeitig nimmt der rechte Arm eine Angriffs-, der linke eine Abwehrstellung an. Wenn wir im Gegentheil den M. zygomaticus major (Lachmuskel nach D. de B.) erregen, so ändert sich der Gesichtsausdruck, wie die allgemeine Körperhaltung in der Weise, wie es dem Lachen entspricht“ (Charcot 1886, 276). Unmissverständlich bestätigt dann Charcot selbst unsere Vermutung: „Und dies ist der Grund, weshalb die Bewegungen, welche diese unbewussten psychischen Vorgänge nach aussen projizieren, durch einen automatischen, sozusagen rein mechanischen Charakter ausgezeichnet sind. Wir haben es wirklich mit dem l’homme machine in all seiner Einfachheit, wie ihn De la Mettrie ersonnen hat, zu thun“ (ebd., 275 f.). Nun kennzeichnen diese aus heutiger Sicht seltsam anmutenden Demonstrationen gerade in der Verbindung mit der Geschichte Hoffmanns in der Mechanisierung des Lebendigen eine bestimmte Haltung, die – wie wir später sehen werden – jener Adlers diametral entgegengesetzt war. Sie illustrieren auch, mit welcher Sicht auf den Menschen Freud zu kämpfen hatte, aber sie waren natürlich nicht die einzige wissenschaftliche Leistung Charcots. Als der junge Freud, bereits praktizierender Nervenfacharzt und frischgebackener Privatdozent der Neurologie (der um 14 Jahre jüngere Alfred drückte da gerade die Schulbank und war noch vier Jahre vom Beginn seines Medizinstudiums entfernt) im Zuge seines Studienaufenthaltes selbst Hörer der Vorlesungen des berühmten Kollegen wurde, war ihm sehr schnell klar geworden, dass man von den „grundlegenden Vorlesungen über Hysterie [. . . ] die Herbeiführung einer neuen Epoche in der Würdigung der wenig gekannten und dafür arg verleumdeten Neurose erwarten darf“ (Freud 1886f, IV) Dass sie eine grundlegend neue Epoche tatsächlich auf ganz andere Weise „herbeiführten“, ahnt Freud damals noch nicht. Denn die eigentliche Revolution leitet er wenige Jahre später selbst ein, und sie zieht einen Paradigmenwechsel nach sich, der weite Teile der Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts prägt und ein neues unermessliches Betätigungsfeld des Menschen eröffnet: die Ergründung seiner eigenen Untiefen in der Psychoanalyse und die Heilung seiner tiefsten Wunden in der Psychotherapie.
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Und wie so oft fand der Paradigmenwechsel seinen Auslöser in einer Situation, in der der spätere Paradigmengründer einen anderen Wissenschaftler dabei beobachtet, wie er sich systematisch in eine argumentatorische Sackgasse begibt (vgl. dazu Stephenson 2003). Tatsächlich bestand „die Pionierarbeit Charcots eigentlich im wissenschaftlich exakten, penibel genauen Aufzeigen seines Scheiterns“ (ebd., 420): Charcot hatte vor den Augen Freuds versucht, als Organmediziner eine direkte Kausalkette zwischen Auslöser und Symptom herzustellen. Die Symptomatik seines Patienten „Porcin“ bestand in einer Lähmung des rechten Armes. Die als Auslöser markierbare Situation war ein Unfall, im Zuge dessen Porcin vom Kutschbock seines Pferdefuhrwerks gefallen und beim Aufprall einen heftigen Schlag auf seine rechte Schulter erlitten hatte. In einer meisterlich geführten differentialdiagnostischen Untersuchung schließt Charcot jegliche organische Verursachung der Symptomatik aus. Damit stand der Mediziner allerdings dann auch gleich vor einer unangenehmen Aporie: Eine organische Ursache finden zu müssen, um in der Organmedizin verbleiben zu können und gleichzeitig eine nichtorganische Ursache annehmen zu müssen, um zu einer triftigen Erklärung des Phänomens gelangen zu können, ist eine wissenschaftliche Sackgasse ersten Ranges! Tatsächlich beginnt Charcot zwar, eine Reihe von nichtorganischen Aspekten in der Anamnese seines Patienten genauer zu betrachten, die Rolle in der gesuchten Kausalkette hingegen kann er in seinem Paradigma nicht bestimmen. Er kann allerdings Beeindruckendes an „seinem“ Patienten vorführen, wie es schon ein knappes Jahrhundert davor üblich gewesen war, nämlich seit der Landpfarrer Gassner an Menschen (mit aus heutiger Sicht klar als hysterische Konversion diagnostizierbarer Symptomatik) Exorzismen durchführte, innerhalb derer er alle vom Kranken angegebenen Symptome hervorrufen und wieder verschwinden lassen konnte. So wird auch Freud Zeuge, wie sein ärztlicher Kollege an verschiedenen Patienten mithilfe hypnoseorientierten Interventionen Symptome verschwinden und wiederkehren lässt. Als Charcot aber an das Ende seiner differentialdiagnostischen Reise mit Porcin gelangt, „erinnert“ er sich nicht mehr daran, dass er diese Art von Symptomatik als eine „Läsion sine materia“ bezeichnet hatte, also als eine „Verletzung ohne materiellen Boden“, und obwohl er selbst die tragende Rolle bestimmter „Vorstellungen“ in der Entstehung der Symptome betont hatte, endet er mit der lakonischen Bemerkung: „Es kann nur eine jener Läsionen in Betracht kommen, welche sich unseren gegenwärtigen anatomischen Untersuchungsmethoden entziehen, und für die man übereingekommen ist, den Namen „dynamische“ oder funktionelle Läsionen in Ermangelung eines besseren zu gebrauchen“ (Charcot 1886, 260; eigene Hervorhebung, T. S.). Charcot bleibt also dem Organischen als primärem Gegenstand verhaftet. Es wird erst Freud gelingen, die Annahme einer Läsion von Grund auf zu verwerfen, um bei der Ergründung der seelischen Verursachung
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
„sich von jeder ihr fremden Voraussetzung anatomischer, chemischer oder physiologischer Natur frei[zu]halten, durchaus mit rein psychologischen Hilfsbegriffen [zu] arbeiten“ (Freud 1916-17, 14). Wie lange aber hier noch der Kampf um den eigentlichen Paradigmenwechsel tobt, der eben genau darin bestand, dass die „neuen“ Begrifflichkeiten, die sich vom Organischen abgelöst hatten, eben keine „Hilfs“-Begriffe mehr sein müssen, und wie sehr es letztlich Adler war, der diesen Paradigmenwechsel vollendete (vgl. d. a. Stephenson 1995) wird uns erst genau zwanzig Jahre nach Charcots „Fehl“-Diagnose eine Bemerkung eines der Mitglieder der Mittwochgesellschaft am 7. November 1906 zeigen, wenn es dann in der Schar der Getreuen um Freud zum ersten Mal darum gehen wird, das Aufkommen von Dissidenz zu konfrontieren. Doch einstweilen verbleiben wir noch kurz bei Freuds Konfrontation mit Charcots Scheitern. Der verehrte Kollege hatte also bis ins kleinste Detail untersucht, ob Organisches als Verursachung für die Symptomatik seines Patienten in Frage kommt und kam zu dem unwiderruflichen Schluss, dass seine Untersuchungsmethoden nichts dergleichen zu Tage fördern können. Nun war Charcot in seinen Ausführungen bereits einen Schritt über die rein organische Untersuchung hinausgegangen, als er nämlich seine Patienten in bestimmten Situationen fragte, was sie denn empfinden bzw. welche Vorstellungen bestimmte Empfindungen begleiten. Er produziert dabei allerdings Daten, die für ihn nicht auslotbar sind, weil er über keine dahinterstehende Theorie verfügt, die sich sowohl um die Bedeutung des Symptoms als auch um die Bedeutung des Erfragens von Erlebnisinhalten bemüht. So zerrt er zwar vor aller Augen an den Gliedmaßen des fast vollständig entkleideten Patienten, nachdem er vor aller Ohren und im Beisein des Betroffenen von dessen mangelnder Intelligenz und moralischer Schlechtigkeit gesprochen hat – bezieht aber mit keinem einzigen Wort in seine Erörterungen mit ein, welche Gefühle, Ängste, Widerstände, Erregtheiten oder sonstige mentale und seelische Prozesse er damit auslöst, obwohl er die Ansatzpunkte zu den alternativen Interpretationen der Daten sehr wohl in seiner Anamnese bereitgestellt hatte! Und da er seinen „Untersuchungsgegenstand“ nicht als einen sehen kann, der aktiv (wenn auch nicht immer bewusst gesteuert) handelt, der Symptome kreativ „produziert“, und dessen Hauptfunktionsmodus im Bedeutung verleihen, erschließen und vermitteln liegt, gibt das Schicksal die Stafette an Charcots jüngeren Kollegen Sigmund Freud weiter. Drei Jahre zuvor hatte es bereits jene Frau als Patientin zu seinem Kollegen Josef Breuer geführt, die für Freud die paradigmatische Eigenart der neuen Therapiemethode auf den Punkt bringen sollte: Als ihre hysterischen Symptome immer wieder genau dann verschwanden, wenn ihr die vorher nicht mehr erinnerten ersten Anlässe, die ursprünglich zur Symptomatik geführt hatten, ins Bewusstsein treten konnten, und sie dann die Gelegenheit bekam, den diesem Erlebnis anhaftenden Affekt wieder zu spüren und darüber zu reden, bezeichnete sie selbst diese Vorgehensweise mit zwei äußerst prägnanten Begriffen: „chimney sweeping“ und „talking cure“!
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Als Freud dann von seiner Studienreise zurückkommt, greift er tatsächlich diesen Fall Breuers wieder auf, und stellt am 11. Jänner 1893 in einem Vortrag vor dem „Wiener Medizinischen Club“ seine ersten alternativen Überlegungen „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ vor. Damit macht er Breuers Patientin Bertha Pappenheim unter dem Pseudonym Anna O. zum ersten Musterbeispiel seiner neuen Methode, in der er sich kontinuierlich von seinem Vorbild Charcot absetzt. Er verlässt den methodischen Boden der Hypnose und gibt im Gespräch mit den Klientinnen dem Verstehen der Bedeutung des Symptoms den Vorrang. Die Wiederbelebung von Affekten und die dabei im Gespräch hergestellten Verbindungen zu den Symptomen, die sich entlang der 1892 erstmals explizit als „freie Assoziation“ bezeichneten gedanklichen Tätigkeit ergeben, weisen dann den Weg zu seiner 1896 erstmals so bezeichneten „Psychoanalyse“. Und dann findet Adler seinen Weg zur neuerschaffenen Psychoanalyse. Im Oktober 1902 lädt Freud auf Anregung von Wilhelm Stekel ihn zusammen mit den Ärzten Max Kahane und Rudolf Reitler ein, eine Gesprächsrunde zu eröffnen, die fortan als „die Mittwochgesellschaft“ immer mehr Mitglieder haben und die Geschicke der neuen Vereinigung leiten wird. Zu diesem Zeitpunkt hatte Freud nach den Schriften „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mitteilung.“ (1893), „Studien über Hysterie“ (1895) und „Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen“ (1898) über die erste Grundlegung hinaus bereits mit der „Traumdeutung“ (1900) einige wesentliche Ausdifferenzierungen seiner neuen Theorie vorgelegt, der seine Gesprächspartner zunächst vorbehaltlos folgten: „. . . an jedem Mittwochabend trafen wir uns bei Freud . . . Diese Abende waren erquickend . . . Es bestand eine vollendete Harmonie unter uns fünfen, ohne jegliche Dissonanz, wir waren wie Pioniere in einem unentdeckten Land, und Freud war unser Führer. Ein Funke schien von einem zum anderen überzuspringen, und jeder Abend war wie eine Offenbarung“ (Stekel 1950, zit. n. Handlbauer 1984, 10). Dementsprechend waren auch die Beiträge Adlers zunächst von dieser Gefolgschaft geprägt. Durch eben diese allererste Phase der Zusammenarbeit, die von weitgehend unkritischer Übernahme der Freudschen Position gekennzeichnet war, kam Adler aus allernächster Nähe auch mit bestimmten Aspekten des Freudschen Denkens in Kontakt, die aus einer Atmosphäre entstanden waren, in der menschliche Gefühle, Gedanken und Handlungen zu Präparaten wurden, in der der Umgang und die Gespräche mit den Patienten Experimenten gleichkamen, die therapeutische Beziehung einer Laborsituation entsprach und die „Analyse“ zu einer Vivisektion des „psychischen Apparates“ auf dem „Objektträger Couch“ wurde. Freud hatte in seiner Sozialisation hauptsächlich die mechanistische Medizin erlebt und in seiner Schulzeit auch Lindners Lehrbuch studiert, das sogar der damaligen Psychologie einen Weg für den Umgang mit der menschlichen Psyche vorgab, der seine Wegweiser in der Physik und Mechanik fand, wie z. B. in folgender Stelle deutlich wird:
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
„Erschütterung tritt [. . . ] ein, wenn die im Gleichgewicht befindlichen Vorstellungen durch den plötzlichen, überraschenden Eintritt einer Vorstellung, die meist eine sinnliche Wahrnehmung ist, einen solchen Stoß, d. h. eine solche Nötigung zum Steigen oder Sinken bekommen, daß die frühere Gleichgewichtslage der Vorstellungen eine plötzliche und gewaltsame Verschiebung erleidet, und [. . . ] Vorstellungen ins Bewußtsein gehoben oder aus dem selben gedrängt werden [. . . ] Das Plötzliche und Tumultuarische dieses Vorgangs läßt nämlich der Ichvorstellung nicht Zeit, [. . . ] die Gleichgewichtslage herzustellen“ (Lindner 1872, 170; eigene Hervorhebung, T. S.). Adler hingegen war von Beginn seiner Laufbahn als Mediziner durch andere Grundannahmen und Haltungen beeinflusst worden, so z. B. durch Rudolf Ludwig Karl Virchows Lebenswerk einer „Socialen Medizin“ und durch das Werk des deutschen Psychiaters und Internisten Wilhelm Griesinger, in dem Adler Aussagen lesen konnte, die wie die Vorwegnahme vieler seiner zentralen Ideen klingt, so der Idee der Ganzheitlichkeit und Gerichtetheit des menschlichen Seelenlebens und der integrativen Funktion des Ich, wie in folgenden zwei Stellen: „Indem für die empirische Betrachtung die Seele zunächst in eine Mannigfaltigkeit und Vielheit psychischer Vorgänge sich auseinanderbreitet, geht ihr darüber die Einheit im Seelenleben nicht verloren. Die erscheint zunächst als diejenige Einheit, die dem Accorde oder der Harmonie zu vergleichen ist, welche auch ein Eines aus mehreren Tönen sind. Sie erscheint aber auch als eine höhere und bewußte Einheit, indem aus dem Wechsel der Seelenzustände ein Eines, scheinbar Bleibendes sich sammelt, das Ich“ (Griesinger 1845, 56). Auch geht es hier immer wieder darum, das „Gesunde“ im Kranken „zu stärken“ (ebd.), wo es in der Psychotherapie viel später dann immer wieder um die ominöse „Ich-Stärkung“ gehen wird. Sowohl bei Virchow als auch bei Griesinger findet Adler Vor-Denker, die von vornherein außersomatische Faktoren als ganz wesentlich ansehen, Faktoren, die vornehmlich aus Modellen entstammen, die nicht organmedizinischer Abstammung sind. Ganzheitliches Denken, Ausweitung der Anamnese auf das, was später als „biografische Anamnese“ bekannt werden wird, die Anerkennung der Konstituierung eines Lebensstils in den Jahren der Kindheit und einiges mehr, was für das Adler’sche Gedankengut so wesentlich wurde, ist hier bereits in Ansätzen vorzufinden: „Es muß sich die [. . . ] Untersuchung auf die Gesamtheit der leiblichen und geistigen Antecedentien einer Persönlichkeit erstrecken, sie muß [. . . ] die herrschenden Neigungen des Individuums, seine Lebensrichtung [. . . ] auffassen und so ein allseitiges Bild der Geschichte einer Individualität zu gewinnen suchen“ (ebd., 116; eigene Hervorhebung, T. S.).
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1907–1911: Organminderwertigkeit, Aggressionstrieb, Kompensation In den ersten Jahren der Mitgliedschaft in der Mittwoch-Gesellschaft war Adler ein weitgehend treuer Gefolgsmann Freuds. Daher ließ er auch anfangs die Dominanz des Sexualtriebes in der Erklärung der Neurosen unangetastet. Sein erster eigenständiger Beitrag war der Begriff der Organminderwertigkeit. Mit diesem Begriff begann er Schritt für Schritt eine Alternative für Freuds Konzept herauszuarbeiten: Zunächst ging es nur darum, die auffällige biologische Tatsache in den Blick zu rücken, dass sich ein Organismus beim Ausfall oder der Minderleistung eines Organes oder Organsystems kompensatorisch verhält, dass er also reaktiv Anstrengungen unternimmt, die durch die Minderleistung eines Teils bewirkte Gesamtschwächung auszugleichen – und zwar indem entweder das minderwertige Organ so aktiviert und trainiert wird, dass seine Schwäche direkt aufgehoben werden kann, oder dadurch, dass ein anderes Organ oder Organsystem seine Aktivitäten in besonderer Weise steigert, sodass es insgesamt zu einer Erhaltung der Leistungsfähigkeit und damit der Überlebenschancen dieses Organismus kommt. Um diese Aktivitäten effektiv setzen zu können muss der Organismus dementsprechende Energien aktivieren und zielgerichtet einsetzen. Für Adler ist dabei jedoch nicht der Sexualtrieb als einzige oder auch nur entscheidende Komponente zu bedenken. Vielmehr postuliert er eine „Triebverschränkung“ des Sexualtriebes mit einem „Aggressionstrieb“. Die in letzterem angesiedelte Energie wird dazu eingesetzt, „anzupacken“, „Hindernisse zu überwinden“ etc. Damit hat Adler aber aus der Sicht Freuds und seiner Getreuen ein erstes Sakrileg begangen: Die Dominanz und alleinige Herrschaft des Sexualtriebes wird unterminiert, wenn es auf einmal einen zweiten Trieb gibt, der als Teil der conditio humana gelten soll. Die logische Folge dieser Setzung besteht nämlich darin, die Rolle dieses zweiten Triebes bzw. der Triebverschränkung beider Triebe auch und gerade für die Entstehung der Neurose zu bedenken. Dies war der erste Meilenstein bei der Erringung einer eigenständigen Position Adlers. Damit jedoch baute Adler auch gleichzeitig an seiner Dissidenz, die durch die nächste prinzipielle Setzung ihren Höhepunkt und damit den „point of no return“ erreichen sollte. In dem 1910 in „Fortschritte der Medizin“ erscheinenden Aufsatz „Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Zur Dynamik und Therapie der Neurosen“ setzt Adler den nächsten entscheidenden Schritt für die Individualpsychologie: Mit dem Satz „Diese objektiven Erscheinungen geben vielfach Anlass zu einem subjektiven Gefühl der Minderwertigkeit.“ (Adler 1910c, 105) markiert er den Übergang, der in der Priorisierung des Erlebens vor den „objektiven Gegebenheiten“ besteht. Damit wird auch der Erscheinungsort seiner Thesen, die Zeitschrift „Fortschritte der Medizin“ in ähnlicher Weise unpassend, wie es Freuds „Fehlleistung“ seiner Rede von „psychologischen „Hilfs“-Begriffen“ war. Der Gegenstand der nunmehr als erster und letzter „behandelt“ werden muss, ist das Geschehen, das in der
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
Person im Wechselspiel von bewussten und unbewussten Bewertungen, Einstellungen, Reaktionsweisen, Ängsten, Wünschen und Fantasien gestaltet wird. Die Dynamik wird ganz in die Psyche bzw. in den Vergleich verlegt, den die Persönlichkeit mit anderen Menschen und der Gemeinschaft herstellt. Seine „endgültige Abkehr vom Triebbegriff “ (Bruder-Bezzel 2007, 103) im Sinne einer Priorisierung des Psychischen vor dem Physischen ist zwar noch nicht abgeschlossen (immer noch schreibt er von einer „Hauptlinie, die immer auch vom Sexualtrieb konstituiert wird“ (Adler 1910c, 108)) und in seiner wahren Bedeutung noch teilweise überdeckt von dem beginnenden Bruch mit Freud (innerhalb von wenigen Zeilen Text wird er in der Überarbeitung von 1914 aus der „physiologische[n] Unselbständigkeit“ des Kindes eine „physiologische und seelische“ machen und aus dem Satzteil „lässt sich analytisch . . . leicht nachweisen“ das „analytisch“ ausmerzen 5 ) aber ein entscheidender Schritt ist gesetzt. Die Wahl des aus heutiger Sicht durchaus unpassenden Terminus des „männlichen Protestes“, ist geeignet, eher von der grundsätzlichen Bedeutung abzulenken, die Adler dem diesen Begriff zugrundeliegenden psychischen Geschehen gibt, weist diese doch bereits deutlich in Richtung des ab 1920 präferierten Begriffs des Strebens nach Macht und Überlegenheit. Denn dieser „männliche“ Protest, den Adler hier in den Blick bringt, betrifft vor allem „das Gefühl der Inferiorität gegenüber dem Stärkeren“ (Adler 1910c, 105). Es geht um die Pole innerlicher Bewertungen von einerseits „jede[r] Form der ungehemmten Aggression, der Aktivität, des Könnens, der Macht, mutig, frei, reich angreifend sadistisch“ (ebd., 106) sein zu können und andererseits um „alle Hemmungen und Mängel (auch Feigheit, Gehorsam, Armut usw.)“ (ebd.). Die Frage, zu welchen Zeiten, in welchen Kulturen und in welche gesellschaftlichen Prozesse die Verbindung dieser Pole mit dem Rollenverständnis von Frauen und Männern eingebunden ist, ist ein ganz eigener Diskurs (s. d. auch das Kapitel „Feministische Psychoanalyse“). Die vielfältigen Formen menschlichen „Strebens“, die Adlers psychologisch-intentionalistische Alternative zu Freuds organisch-physikalistischer Rede von „Trieben“ wird, implizieren ein „Streben nach“, also eine Zielkomponente. Das Minderwertigkeitsgefühl führt zu einem Streben nach seiner Überwindung, Adler nennt es „Kompensation“. Die Suche nach Möglichkeiten, Minderwertigkeit zu kompensie5
Diese Tätigkeit des „Ausmerzens“ Freudscher Positionen setzte sich fort: „„Später, nach Jahren der Teilnahme an der Psychoanalyse, trennte er sich gänzlich von diesen Ideen. Er überarbeitete die frühen Schriften mehrfach, ersetzte die alten Begriffe durch neue, was den Text einerseits relativ unverständlich macht, andererseits den Eindruck vermittelt, Adler habe von Beginn an Gemeinschaftsgefühl und Machtstreben in seine Theorien eingebaut. Was die Idee vom Aggressionstrieb anlangt, die ja er in die Psychoanalyse eingebracht hatte, war Adler besonders restriktiv. Er radierte gänzlich aus, was er früher darüber gedacht hatte. So glaubte Adler 1931 klarstellen zu müssen, dass es sich bei dem Phänomen, das er „unvorsichtiger Weise“ Aggressionstrieb genannt hatte, „gar nicht um einen Trieb handelte“ (Adler 1931e/1982, S. 86). Auch die Bedeutung, die Freud für ihn einstens hatte, sollte er nach Jahren der Gefolgschaft später abstreiten.“ (PresslichTitscher 2008, 395). An den Folgen dieser deutlich „überkompensatorischen“ Attitüde leidet die Individualpsychologie heute noch.
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ren ist für Adler ein Element der conditio humana, damit nicht schon per se ein neurotisches Element. Vielmehr sind es vor allem zwei andere Komponenten, die er im Wirken des „Nervösen Charakters“ und damit als Vorbedingungen der Neurose ansieht: das Vorliegen eines übermächtigen Dranges, die erlebte Minderwertigkeit ins Gegenteil zu verkehren, also in eine Form der „Überwertigkeit“ und die damit verbundene Orientierung an „sozial unnützlichen“ Zielen und Aktivitäten. Damit hatte Adler die zwei entscheidenden Schritte vollzogen: 1. Die Durchbrechung der Dominanz des Sexualtriebes bei der Erklärung des menschlichen Seelenlebens durch die Einführung eines „Aggressionstriebes“ und die Erweiterung der Dynamik von Triebspannung und (bedingter) Triebbefriedigung durch eine Dynamik, die sich durch Minderwertigkeit und eine daraus entstehende Kompensationsnotwendigkeit ergibt. 2. Das endgültige Verlassen der organisch-physikalistischen Denkweise und das Begründen einer psychologisch-intentionalistischen Terminologie und Argumentation. Am 22.1.1911 fand der seit Jahren schwelende Konflikt seinen Höhepunkt. Hitschmann hatte bei der Diskussion der „ketzerischen“ Thesen Adlers in der MittwochGesellschaft die schicksalhaften Worte gesprochen: „Man gebe dem Körper, was des Körpers und der Psyche, was der Psyche sei 6 !“ und damit die dann einsetzende Spaltung intoniert. Adler verlässt gemeinsam mit einigen anderen Mitgliedern die Mittwochgesellschaft bzw. die Psychoanalytische Vereinigung und gründet kurz darauf seinen eigenen Verein.
1.3.2 Die Zeit der Trennung von alten Bindungen und erste Identitätsbildungen Die Wahl des Namens „Individualpsychologie“ ist viel diskutiert worden, an dieser Stelle erscheint es nur wichtig, folgende zwei Bedeutungen hervorzuheben: 1. Die Betonung der Ganzheitlichkeit des Adler’schen Denkens, also die Absage an z. B. die Reifizierung von Instanzen („Ich“, „Es“, „Überich“), durch die die Gesamtpersönlichkeit aus Adlers Sicht unzulässig „aufgespalten“ wird und der „Gesamtsinn“ aus dem Blick zu geraten droht. 2. Das „Einmalige“ jeder Persönlichkeit und ihrer jeweiligen Lebensgeschichte Mit diesen Grundhaltungen baute Adler seine bis 1911 gesetzten Entwürfe weiter aus. Dieser Ausbau war unglücklicherweise über weite Strecken durch eine feindselige Haltung der „Freud’schen Psychoanalyse“ gegenüber geprägt, was auch im6
Auch hundert Jahre später tobt dieser Kampf in teilweise unverminderter Brisanz, wie an der Auseinandersetzung zwischen Tilmann Moser (Moser 1987) und Thea Bauriedl (Bauriedl 1998) zu erkennen ist. Da kann aber eine „analytische Köperpsychotherapie“ bereits mit einem Körperbild arbeiten, das „wesensmäßig das eines dialogischen Körpers ist.“ (Geißler 1998b, 9)
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mer wieder zur Folge hatte, dass seinem Nachdenken über den Menschen und seine Leidenszustände eine gewisse Verflachung anhaftete. Die Systematik, die Freud in seinem Begriffsnetz von Bewusstem-Vorbewusstem-Unbewussten, ÜbertragungGegenübertragung, Es-Ich-Über-Ich, Verdrängung und Bewusstwerdung usw. angelegt hatte, ging ihm darüber teilweise verloren. Dafür baute er das Gebäude der Individualpsychologie in mehrerlei Hinsicht fruchtbringend aus: Die Hinwendung zu psychologischer Begrifflichkeit und zur Bedeutung des Individuellen der zielgerichteten Lebensbewegungen und deren Orientierungen an der Relation des Einzelnen zur Gemeinschaft, der „sozialen Frage“, die Betonung des subjektiven Erlebens und Wertens in der „tendenziösen Apperzeption“ verband er mit seinem eigenen sozialen Engagement und seiner von Anfang an sichtbaren pädagogischen Ausrichtung. Getragen von einem immer wieder missionarischen Eifer und einer starken Verbundenheit mit den „einfachen Leuten“ entwickelte Adler nach der Trennung von Freud eine immer intensiver werdende „Werbe“Aktivität und hielt eine sehr große Anzahl von Vorträgen, Reden und Diskussionsrunden. Er vergrößerte den Radius seiner „individualpsychologischen Bewegung“ zusehends und gründete eine Reihe von Beratungsstellen (s. d. a. das Kapitel „Erziehung, Schule, Pädagogik“). Adlers in den 1920er Jahren immer intensiver werdende Reisetätigkeit erweiterte auch geographisch den Horizont seines Wirkens beträchtlich. In England, Schottland und Amerika fand er auch recht bald nicht nur eine dankbare und interessierte ZuhörerInnenschaft, sondern auch die Bereitschaft, eigene „Filialen“ zu gründen. In Kliniken in ganz Amerika fand er mit seinen Ideen regen Zuspruch, so vor allem in New York an der School for Social Research, der Columbia University und am Long Island Medical College (vgl. Hoffman 1997).
1.3.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie zwischen 1937 und 19907 In Nordamerika fand Adlers Terminologie und seine am Bewältigungsstreben und am positiven Wirken des Aggressionstriebes orientiertes Denken und Handeln besonderen Anklang. Auch kamen wohl seine „Loslösung und Befreiung vom Ursprungsland“ und seine „Eroberung eines neuen Kontinentes“ dem amerikanischen „spirit“ sehr gelegen. Daher bildete sich dort auch eine Version der Individualpsychologie heraus, die gewissermaßen die Zeit der Trennung von Freud und das vehemente Abgehen von zentralen Theoremen der Tiefenpsychologie perpetuierte, eine Zeit, die in Europa und den sich dort herausbildenden und sich weiterentwickelnden Vereinigungen letztlich nur als „notwendiges Übel“ in den ersten Phasen der Entwicklung einer eigenständigen Scientific Community gelten sollte.
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Im Weiteren wird hauptsächlich auf die Entwicklung in Österreich eingegangen. Für die entsprechenden Entwicklungen in Deutschland sei v. a. auf Bruder-Bezzel (1999) verwiesen.
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In den Versionen der Individualpsychologie, die sich in den Jahrzehnten nach dem Tod Alfred Adlers in Nordamerika ausformten, spielte vor allem das Konzept des Lebensstils eine entscheidende Rolle. Die Rolle der Individualpsychologie, die (die für viele Übersetzungen von Adlers Werken ins Englische verantwortlich zeichnenden) Heinz und Rowena Ansbacher 1955 anlässlich der Herausgabe des Bandes „The Individual Psychology of Alfred Adler. A Systematic Presentation in Selections from his Writings“ (Ansbacher u. Ansbacher 1956a) noch unmissverständlich mit den Worten „It is our thesis that Adler may be regarded as the original field theorist in a dynamic or depth psychology which has a social-science and „subjectivistic“ orientation“ (Ansbacher u. Ansbacher 1956b, VI) als eine innerhalb der Tiefenpsychologie angesiedelte Version von Psychoanalyse gekennzeichnet hatten, ging in Nordamerika zusehends verloren. Dafür bildeten sich an der Beratungssituation orientierte Interventionsformen heraus, die auf der einen Seite frühe Adler’sche Begrifflichkeiten und Positionen aufgreifen und weiterführen, andererseits zum Teil bereits eine verhaltenstherapeutische Ausrichtung zeigen. Dementsprechend programmatisch und operationalisiert tritt diese Version der Individualpsychologie auch auf: Der Untertitel zu „Understanding Life-Style“ (Power u. Griffith 1987) lautet „The Psycho-Clarity Process“ und markiert ein Verständnis einer therapeutischen Arbeit mit dem Lebensstil, die tatsächlich nur schwer mit den grundlegenden Positionen zu vereinbaren ist, die individualpsychologische AnalytikerInnen – am Paradigma des dynamischen Unbewussten und seiner Rolle im analytischen Prozess orientiert – im deutschsprachigen Raum einnehmen. Denn hier wird nach einer „Initial Interview Inquiry“ eine obligatorische „Life-Style Assessment Inquiry“ angeschlossen, wie sie bei Powers und Griffith im „Individual Psychology Client Workbook“ auf 30 Seiten bis ins kleinste Detail in einer großen Anzahl von genau vorgeschriebenen Fragen enthalten sind. Diese Vorgangsweise wird von Bernard Shulman und Harold Mosak noch überboten, indem sie in ihrem „Manual for Life Style Assessment“ (Shulman u. Mosak 1995) auf 259 Seiten genauestens operationalisierte Elemente des Lebensstils, seiner Einflüsse und Funktionen, der Familien- bzw. Geschwisterkonstellationen, den ersten Erinnerungen und anderen Adlerianischen „basics“ breiten Raum geben. Was – ähnlich wie in der Verhaltenstherapie – dadurch anderseits möglich wird, ist eine Vorgangsweise „how data are collected“ (ebd., 75 ff.) vorgeben zu können, die empirische Untersuchungen an größeren Stichproben möglich macht. Nicht nur diese Art empirischer Orientierung, sondern auch die Einbeziehung von Interventionsformen aus anderen psychotherapeutischen Richtungen ist diesem „american way of“ Individualpsychologie zu Eigen. Es werden z. B. in der Psychoanalyse von Anfang an aufgegebene Verfahren wie jenes der Hypnose (Fairfield 1997) mit einbezogen bzw. moderne Verfahren der Hypnotherapie (Sperry 1997b) in einem „multimodal treatment“ (Sperry u. Carlson 1997). Dabei orientieren sich nordamerikanische IndividualpsychologInnen an einer die unbewussten Bereiche ausschließenden „interpretation of patient behavior through goals, feelings and context“ (Mahrer 1997, 13) und einem Anamnese und Intervention verbindenden „Interven-
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tive Interviewing“ (Sperry 1997a) in Fokussierung auf „family constellation“ (Mosak 1997) und „personality diagnosis“ (Shulman 1997a), interventionsbezogen auf „confrontation techniques“ (Shulman 1997b, 1997c) und „encouragement“ (McBrien 1997). Insgesamt erweist sich die „Nordamerikanische IP-Szene“ jedenfalls tatsächlich als nicht-tiefenpsychologisch und verhaltensbezogen, aber andererseits auch innovativer und dialogbereiter und einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Verfahren offener als weite Teile der deutschsprachigen, jedenfalls aber der österreichischen Individualpsychologie. In Westeuropa hingegen fanden Entwicklungen statt, die nach einer durch den Tod Adlers und den 2. Weltkrieg bedingten Zäsur zunächst eine Phase der verstärkten sozialen und inhaltlichen Gemeinschaft mit FreudianerInnen ermöglichte, die gleichzeitig gekennzeichnet war durch eine starke Offenheit und Flexibilität im Umgang mit psychoanalytischen Grundannahmen wie auch mit anderen Denkgebäuden, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in immer größerer Vielfalt entstanden. Dieser von der zweiten Generation der Individualpsychologie, wie Ferdinand Birnbaum und Oskar Spiel geführten Zeit folgte eine Phase der verstärkten Institutionalisierung, im Zuge der unter der Führung von Persönlichkeiten der dritten Generation (als prominenteste Repräsentanten können hier Erwin Ringel und Walter Spiel genannt werden) wesentliche Strukturierungen der Ausbildung stattfanden. Gleichzeitig kam es vor allem unter Erwin Ringel noch einmal zu einer „Überbetonung“ des ärztlichen Standes gegenüber den anderen Berufsgruppen, eine klare Unterteilung in eine Gruppe der Individualpsychologie-TherapeutInnen und eine der Individualpsychologie-BeraterInnen folgte. In den 1990er Jahren fand in Österreich dann ein langsamer Wechsel in der Übergabe der Agenda an die vierte Generation statt, in der vor allem durch publikatorische Präsenz im individualpsychologischen Diskurs Eva Presslich-Titscher, Wilfried Datler, Margit Matschiner-Zollner und Bernd Rieken zu nennen sind. Dadurch verstärkte sich die Präferenz sowohl des objekttheoretischen Ansatzes als auch der Wirkung des Denkens von Melanie Kleins. In dieser Zeit entwickelte sich eine deutliche Unterschiedlichkeit zu Deutschland: während sich dort nach wie vor eine Vielfalt von Ansätzen halten konnte und sogar eine dezidiert körpertherapeutische Version durch Günter Heisterkamp eine starke Präsenz entwickeln konnte, verdichtete und verengte sich in Österreich und hier vor allem in Wien der Diskurs zusehends.
1.3.4 Aktuelle Entwicklungen (1991–2011) Als im Jahre 1990 in Österreich das Psychotherapiegesetz verabschiedet wurde, wurde damit wie für alle therapeutischen Schulen auch für die Individualpsychologie eine neue Ära eingeleitet. Wie alle Gruppierungen, die die Anerkennung als Fachspezifikum erlangen wollten, bedeutete das, sowohl Professionalität als auch Wissenschaftlichkeit gleichermaßen vorantreiben zu müssen, die theoretische Fundierung weiterzuentwickeln, Nachweise therapeutischer Wirksamkeit in kasuistischer und stichprobenorientierter empirischer Forschung zu erbringen und vieles mehr.
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Im Folgenden soll die Publikationslandschaft der Individualpsychologie der letzten zwanzig Jahre in den Blick genommen werden, um einige Aspekte der Entwicklungen individualpsychologischer Theorie und Praxisgestaltung innerhalb der deutschsprachigen Individualpsychologie und ihre aktuellen Entwicklungen beleuchten zu können. Weiterentwicklungen in Theorie und Praxis bilden sich wie in allen Scientific Communities überwiegend in den Hauptpublikationsorganen ab, in diesem Fall der „Zeitschrift für Individualpsychologie“ und den „Beiträgen zur Individualpsychologie“. Hier steht von Anfang an die Arbeit an der „Systematisierung der Individualpsychologie“ (Heisterkamp 1990, 83) im Vordergrund und zwar sowohl was ätiologische respektive pathogenetische Modelle als auch Fragen der Wirkungsweise und Legitimierung von individualpsychologischen therapeutischen und diagnostischen Instrumentarien anbelangt. Dabei wurde beispielsweise auf die Weiterentwicklung spezifisch psychotherapeutisch strukturierter Diagnoseinstrumente mit einer Spezifizierung der OPD5 in Richtung einer individual psychologischen Diagnostik reagiert (s. z. B. Jagmetti-Fischer u. Lattmann 2005). Spezifisch individualpsychologische Modelle zu speziellen Krankheitsbildern und Symptomatiken wurden vor dem Hintergrund der zunehmenden Konturierung neuerer individualpsychologischer Theorienbildung vorgelegt, sei es mit dem Schwerpunkt auf Theorieweiterentwicklung (z. B. Resch u. Schuch 1990; Bastian u. Hilgers 1991; Herpertz 1999; Kann 2001; Rüedi 2004; Kahl 2007; mit Fokussierung auf behandlungstechnische Fragen z. B. Günther 2004), sei es durch Darstellung ausführlicher und gut dokumentierter Behandlungsverläufe und Therapieprozesse (z. B. Tkaczenko 1990; Stadler 1990; Andriessens u. Wanitzek 1990; Steiner 1996; Stadler 1997; Tymister 1997; Geiger 1999; Kropiunigg 1999; Riedhammer 2001; Brey 2001; Tahmasebi 2001; Barta 2002; Eife 2009a; Dusy 2009; mit Fokussierung auf behandlungstechnische Fragen z. B. Rauber 2002). Dabei bleibt „die Geschichte der Individualpsychologie [. . . ] mit jener der Psychoanalyse ebenso untrennbar verbunden wie die Entwicklung der Theorien der beiden Gründer Alfred Adler und Sigmund Freud. Die im Zuge der historischen Auseinandersetzung dieser beiden Persönlichkeiten auftretenden Schwankungen zwischen Sachlichkeit und Emotionalität prägen auch die intensive Beschäftigung der ‚AdlerianerInnen‘ mit den ‚FreudianerInnen‘ von den Anfängen bis zum heutigen Tag“ (Stephenson u. Datler 2007, S. 139). Mit der Herausgabe der gesammelten Werke Alfred Adlers in einer Studienausgabe in den Jahren 2007 bis 2010, die in sieben Bänden in sehr aufwändiger Weise editorisch aufbereitet und mit ausführlichen Erläuterungen und Einführungen durch die jeweiligen HerausgeberInnen gestaltet wurde, erhielten diese auch wieder einen dezidierten Platz als Ausgangspunkt der Entwicklung der Individualpsychologie in ihrer systematischen Weiterentwicklung der „Ansatzpunkte bei Adler [. . . ] in seiner
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
Vorliebe für offene, weitreichende aber auch diffuse Begriffe“ (Gasser-Steiner 2011, 63) . Schwerpunkte der entsprechenden Publikationstätigkeit individualpsychologischer AutorInnen waren beispielsweise die Verbindung von Interventionstechniken, Prozessforschung und Identität, wenn Almuth Bruder-Bezzel fragt „Gibt es eine individualpsychologische Technik?“ (Bruder-Bezzel 1995), Wengler Antworten in historisierender Darstellung (Wengler 1995) und Rauber (2002) und Günter (2004) in aktuellen Weiterentwicklungen sucht, oder wenn sich Wilfried Datler auf den „Weg zu einer Theorie des psychoanalytischen Prozesses“ (Datler 1991, 247) begibt. An diese Publikationen schließen sich facettenreiche Diskursführungen in entsprechenden Themenschwerpunktheften der Zeitschrift für Individualpsychologie an: 1998: „Identität und psychoanalytisches Selbstverständnis in der Individualpsychologie“; 2000: „Die Zukunft individualpsychologischer Theorie und Praxis“, 2005: „Psychotherapieforschung“ und „Traditionen und Differenzen innerhalb der Individualpsychologie“, 2009: „Psychoanalyse und Forschung“. Weitere Kristallisationspunkte individualpsychologischer Entwicklungen bilden sich in der Diskussion von Ergebnissen der Erforschung der frühesten Entwicklungsphasen ab: 1994 thematisiert Lang zweimal „die Baby-Watcher“ (Lang 1994a; 1994b), 1999 greift er „neue Forschungsergebnisse über die frühe Kindheit im individualpsychologischen Kontext“ auf, 2002 legt Stadler individualpsychologische Überlegungen zum frühen Mutter-Kind-Dialog vor, und Lang stellt 2002 die Verbindung von Bindungstheorie, Säuglingsforschung und Psychoanalyse aus individualpsychologischer Sicht her. Speziell das Einsatzgebiet der Säuglingsbeobachtung wird dann mit Bezug auf das Holding und Containing-Konzept wieder von Voitl-Mikschi 2004 aufgegriffen, und 2009 stellen Trunkenpolz, Datler, Funder und Hover-Reisner langjährige individualpsychologische Forschungsprojekte zur Infant Observation nach dem Tavistock-Konzept vor. Gründerväter, prozessleitende Interventionen, Säuglingsund Bindungsforschung In der Analyse der individualpsychologische Textlandschaft kristallisieren sich vor allem drei Themenkomplexe heraus, die in diesen letzten zwei Jahrzehnten bevorzugter Anziehungspunkt für Weiterentwicklungen in Theorie und Praxis der modernen Individualpsychologie waren und sind: 1. Systematisierungs- und Weiterentwicklungsversuche in Theorie und Praxisgestaltung entlang identitätsstiftender Auseinandersetzungen mit „Gründervätern“ und deren Epigonen Die Auseinandersetzung mit den Gründervätern Freud und Adler bringt eine prinzipiell nicht aufhebbare Spannung in individualpsychologische Diskurse: Dadurch, dass Adler erst in einem (teilweise mit fatalen Folgen) hoch emotionalisierten Dreischritt (Anhängerschaft – Dissidenz – Integration) zu seiner individualpsychologi-
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schen Identität gefunden hat, reproduziert sich diese „Vorlage“ anscheinend auch in der Entwicklung individualpsychologischer Theorie und Praxisgestaltung der letzten Jahr zehnte, indem der Individualpsychologie-Diskurs ebenfalls zwischen diesen Handlungsoptionen oszilliert: Orthodoxe Freud-Anhängerschaft, Abwendung von und Kontrastierung zu essentiell freudianischen Grundannahmen und Theorien, Integration von originär individual psychologischen Terminologien und Ansätzen mit Weiterentwicklungen psychoanalytischer Theorienbildung und Praxisgestaltung. Diese „Grund-Spannung“ befördert dann auch die Inszenierung von „Exklusions-Inklusions-Diskursen“, wie sie im Stein-Edwards-Diskus und im Rieken-Diskurs manifest wurden (Stephenson 2011a, 2001b). 2. Diskursivierung von Fragen nach legitimen schulenspezifischen prozessleitenden Interventionstechniken. Die Frage, was in der Individualpsychologie als legitime Interventionstechnik gesehen werden kann bzw. darf, ist auch in den letzten zwanzig Jahren immer wieder gestellt worden, hat aber in den letzten fünf Jahren aber ein besondere Brisanz erreicht. Dies hängt mit der Frage zusammen, welche psychoanalytischen Schulen bzw. Entwicklungen für die Individualpsychologie anschlussfähig sind bzw., in ihre Gedankengebäude integriert werden können und sollen. Hier gehen die Meinungen immer mehr auseinander, neben AutorInnen, die nur die Objektbeziehungstheorien und die Selbstpsychologie für die Individualpsychologie Anschlussfähigkeit attestieren (vgl. z. B. Matschiner-Zollner 2005) sehen andere AutorInnen die Adler’sche Individualpsychologie auch als Narzissmustheorie, als Selbstregulationstheorie und als intersubjektiven Ansatz (vgl. Gasser-Steiner 2005). Gerade die Erkenntnisse der intersubjektiven Ansätze wie jener der Relationalen Psychoanalyse werden zusehends in den Wissensstand einer modernen Individualpsychologie hineinreklamiert (vgl. G. Heisterkamp 1990, Stephenson 2011a). 3. Integrationsversuche von Forschungsergebnissen aus Säuglings- und Bindungsforschung in das Theoriengebäude der Individualpsychologie. Sowohl Säuglings- als auch Bindungsforschung waren anfangs aus der Sicht psychoanalytischer Orthodoxie „Stiefkinder“. Bowlby war mit seinen „empirischen“ Ansätzen sehr schnell zur Persona non grata geworden, da er seine Erkenntnisse über die frühesten Phasen der Entwicklung nicht konventionell aus den Rekonstruktionen an Erwachsenen in Psychoanalysen zu gewinnen versuchte, sondern sie direkt aus der konkreten Erforschung der eigentlich Betroffenen, nämlich der Säuglinge und Kleinkinder und ihren tat sächlichen Interaktionen mit ihren Müttern bzw. aus ihrem Bindungsverhalten zu den primären Bezugspersonen bezog. Die Mentalisierungsforschung, die sich bereits in einer diversifizierten bzw. sich stark verändernden psychoanalytischen Paradigmenlandschaft bewegen konnte, hievte auch die Bindungsforschung wieder in einen weithin anerkannten Diskursstatus. Genau dieser Umstand aber verschärft das oben genannte Oszillieren: Im Zuge der breit angelegten, gut abgesicherten, vielfältigen und immer wieder bis auf Paradigmenebene hinauf-
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1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie
reichenden Forschungsergebnisse (der Säuglings- und Bindungsforschung) werden auch Modelle und Konzepte diskursdynamisch wirk mächtig, die bestimmte Grundsatzentscheidungen (der Psychoanalyse bzw. der an ihr orientierten Individualpsychologie) fragwürdig werden lassen. Und genau diese speziellen Grundsatzentscheidungen wirken dann als „Sollbruchstelle“ für etablierte Paradigmenlandschaften, wie jene zwei, die zu den beiden oben erwähnten Exklusions-Diskursen geführt hatten: Das Paradigma des Unbewussten als unaufgebbares Kernelement der Psychoanalyse und damit der Individualpsychologie als Tiefenpsychologie und das Paradigma der Relationalität als Drehscheibe alter Grundlagendiskussionen. Da dies die allerneuesten Entwicklungen in der deutschsprachigen Individualpsychologie betrifft, scheinen hier noch einige erläuternde Worte angebracht. Hier lässt sich nämlich ein Entwicklungsstrang beobachten, der derzeit von der Individualpsychologie vermehrt aufgegriffen und diskutiert wird. Er führt von einer aus der „schiefen Ebene“ der Arzt-Patient-Beziehung heraus betriebenen Pathologisierung der Patientensymptomatik in den Anfängen und zum Teil noch in der Mittelphase der Psychoanalyse hin zu einer Anerkennung der gemeinsamen Aufgespanntheit, Zwiespältigkeit, Eingespanntheit und Vielfältigkeit als Bedingung des MenschSeins und damit auch jeglicher analytischen Situation, wie sie in den intersubjektiven Ansätzen gerade in den letzten 5–15 Jahren sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Individualpsychologie diskutiert werden. Liest man die ersten so berühmt gewordenen Fallgeschichten Sigmund Freuds, so gewinnt man zwar den Eindruck, dass das „Unternehmen“ der Psychoanalyse, die der Analytiker hier mit viel Scharfsinn und Pioniergeist beitreibt, ein natürlich diffiziles, schwieriges ist, aber die Schwierigkeit ergibt sich eigentlich hauptsächlich aus der „Rätselhaftigkeit“ der Symptomatik. Es hat etwas von einem spannenden Detektivroman, wie Freud diese schwierigen Rätsel bravourös löst. Gleichwohl geht es anfänglich nur um das eigene Verstehen des Unbewussten des Anderen. In den Jahrzehnten danach fanden mannigfaltige Veränderungen und Weiterentwicklungen innerhalb der Tiefenpsychologie im Allgemeinen und er Psychoanalyse im Speziellen statt. Ein Entwicklungsstrang, der für die Individualpsychologie in mehrerlei Hinsicht relevant war und ist, betrifft das sich in den letzten über hundert Jahren verändernde Rollenverständnis von AnalytikerIn und AnalysandIn und verläuft von Charcots öffentlich hervorgerufenen hysterischen Symptomen, innerhalb dessen der andere manipulierbares Erkenntnisobjekt ist bis hin zu einem Verständnis des analytischen Prozesses als „kooperative Subjekttransformation“, in der es um das kommunikativ Verstandene des Eigenen im Anderen geht (Stephenson 2010). „Dies betrifft zum Beispiel das Problem der Beziehungsanalyse in der individualpsychologischen Therapie. In ihrer Selbstdarstellung dieser Zeit, die stark unter dem Einfluss von Rudolf Dreikurs und anderer in die angloamerikanischen Staaten emigrierter Schüler Adlers steht, versteht sich die Individualpsychologie noch immer einerseits, ganz im Sinne der frühen und bleibenden Auffassungen Adlers, als eine
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Beziehungspsychologie, andererseits sind die individualpsychologischen Lebensstilanalysen oft Einbahnstraßen, welcher der Therapeut der Vielwissende ist, während dem Patienten die Rolle eines freundlich Belehrten zugewiesen wird. Das Problem des Widerstandes wird einseitig dem Patienten zugeordnet. In allen tiefenpsychologischen Schulen beginnt damals ein vertieftes Nachdenken über das interaktionelle Geschehen in den therapeutischen Beziehung“ (Schmidt 2006a, 261). Vor allem jene Bände der Reihe „Beiträge zur Individualpsychologie“, die in den Jahren 2005–2010 erscheinen sind, spiegeln diesbezüglich die neuesten Entwicklungen der Individualpsychologie wieder: • Die Betonung der Bedeutung von Kreativität und Lebendigkeit für den individualpsychologisch-analytischen Prozess. • Ein Verständnis der Zusammenarbeit zwischen AnalytikerInnen und KlientInnen, in der ein von gegenseitigem Respekt und der Anerkennung der jeweiligen Kompetenzen geprägtes „therapeutischen Teams“ Kooperation im Ringen um Entwicklung stattfinden lässt. • Eine damit verbundene Offenheit für „individuelle“ und auch neue Wege in der therapeutischen resp. analytischen Arbeit. • Ein Aufgreifen und Ausbauen des intersubjektiven Aspektes der Psychotherapie, wie er im Zuge des „relational turn“ zu eigenständigen Entwicklungen innerhalb der internationalen Psychoanalyse geführt hatte, durch den das sich Einlassen der AnalytikerInnen als Personen und die „disziplinierte, aber vorbehaltlose Hingabe“ an den gemeinsam gestalteten Prozess umstrittene Themen wie jenes der „self disclosure“ nicht mehr gegenseitig ausschloss. Im selben Zeitraum hat in Wien an der Sigmund-Freud-Privatuniversität eine Gruppe von Personen erstmalig eine Community gebildet, die gleichzeitig sowohl eine schulenspezifische psychotherapeutische Berufsausbildung als auch eine schulenspezifische Ausbildung zum Psychotherapiewissenschaftler bzw. zur Psychotherapiewissenschaftlerin bietet und die in ihrem ersten Kongress 2010 und ihrem ersten Sammelband (Rieken 2011) gerade in den oben genannten Punkten eigene Beiträge und innovative Konzeptionen vorgelegt hat. Dementsprechend sind auch in den oben genannten Punkten die Verbindungen zwischen der österreichischen und der deutschen Individualpsychologie in neuer Entwicklung.
2 Individualpsychologische Theorie 2.1 Weltbild, Menschenbild, Persönlichkeitstheorie 2.1.1 Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation; Wirk- und Zielursache, Fiktionalismus Bernd Rieken Wilhelm von Ockham (1285–1349) war ein englischer Philosoph und Franziskanermönch, der heute noch in der Wissenschaftstheorie vor allem wegen des ihm zugeschriebenen Ökonomie- oder Sparsamkeitsprinzip bekannt ist, das als „Ockhams Rasiermesser“ („Ockham’s razor“) in die Literatur eingegangen ist und unter anderem in der folgenden Formulierung vorkommt: „Pluralitas non est ponenda sine necessitate“ (Wilhelm von Ockham 1967, 74; vgl. Beckmann 2010, 42–47; weitere Nachweise ebd., 194, Fußnote 12; vgl. auch Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 6, 1984, 1094 ff.), was übersetzt so viel bedeutet wie: „Eine große Anzahl darf ohne Notwendigkeit nicht zugrunde gelegt werden“. Das ist kein Plädoyer für Reduktionismus, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass Theorien, die weniger Vorannahmen erfordern, sinnvoller sein können als solche mit mehr Vorannahmen. Wenn das Dach eines Einfamilienhauses auf einmal im Garten liegt, kann man zum Beispiel annehmen, dass es entweder von einem heftigen Sturm abgetragen oder von einem Riesen abgehoben worden ist. Letzteres erfordert allerdings eine größere Anzahl an Vorannahmen, vor allem, dass Riesen überhaupt existieren, aber auch, dass es Gründe dafür geben muss, warum sie es ausgerechnet auf dieses spezielle Dach abgesehen haben, und anderes mehr. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „unbewusst“. Wenn Menschen aus naivpsychologischer Sicht zu unerklärlichen Verhaltensweisen neigen, indem sie beispielsweise immer wieder den gleichen schwerwiegenden Fehler begehen oder wie aus heiterem Himmel aggressiv werden, kann man dämonische Mächte als Ursache vermuten oder psychodynamische Kräfte im Inneren der jeweiligen Personen. Dieses erfordert „nur“ die Annahme, dass das Unbewusste in jedem Menschen existiert, jenes setzt unter anderem das Vorhandensein dämonischer Kräfte sowie das Interesse derselben an dem betreffendem Individuum voraus. Ockhams Rasiermesser kann also sinnvoll sein: Unnötige Vorannahmen werden einfach „weggeschnitten“, und so braucht es nicht zu überraschen, dass ihm von der neueren Sprachkritik eine prominente Rolle zugebilligt wird: „Wird ein Zeichen nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos. Das ist der Sinn der Devise Ockhams“, schreibt etwa Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein 1922, 3. 328). Daraus lässt sich schließen: Wird ein Zeichen oft gebraucht, so ist es für die Zeitgenossen bedeutungsvoll. Das gilt unter anderem für die Theorie des Unbewussten, welche im 20. Jahrhundert nicht nur entscheidenden Einfluss auf die psychologisch-medizinischen Fächer, B. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
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2.1 Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation
sondern auch auf viele Geisteswissenschaften ausgeübt hat. Daher braucht es nicht zu überraschen, wenn der New Yorker Historiker Eli Zaretsky eben diesen Zeitraum als „Freuds Jahrhundert“ bezeichnet (Zaretsky 2006). Entsprechendes trifft auf bestimmte Grundbegriffe der Individualpsychologie zu, vor allem auf „Minderwertigkeitsgefühl“ bzw. „Minderwertigkeitskomplex“ sowie auf „Kompensation“ bzw. „kompensieren“. Sie sprechen etwas Fundamentales an, was sich unter anderem daran zeigt, dass sie, ähnlich wie die Freud’schen Termini, in den medizinisch-psychologischen Fächern – auch in der Psychoanalyse (z. B. Bauriedl 1999, 49; Erikson 1981, 98) – genauso wie in geisteswissenschaftlichen Disziplinen verwendet werden, oftmals allerdings ohne sie mit Adler zu verbinden. Offensichtlich handelt es sich um Begriffe, die sosehr zum Allgemeingut geworden sind, dass man ihre Herkunft nicht mehr nachzuweisen braucht. Ein Indiz dafür ist, dass sie auch in die Populärkultur eingegangen sind und etwa im Witz eine prominente Rolle spielen. Dazu aus der Fülle des Materials nur ein einziges Beispiel: Ein recht boshafter Analytiker erklärt dem auf der Couch liegenden Patienten: „Ich kann bei Ihnen keinen Komplex feststellen . . . Sie sind minderwertig“ (Röhrich 1999, 256; vgl. ebd. 255–258). Es scheint so, als wäre der individualpsychologischen Theorie das gleiche Schicksal zuteil geworden wie dem, was sie thematisiert: Das vermeintlich Unbedeutende wird nur allzu leicht übersehen, die Individualpsychologie steht im Schatten der Psychoanalyse! Indes wollen wir nicht verzagen, sondern, inhaltlich passend, das zentrale Theorieelement der Adler’schen Lehre vorstellen: „Bedenkt man, dass eigentlich jedes Kind dem Leben gegenüber minderwertig ist und ohne ein erhebliches Maß von Gemeinschaftsgefühl der ihm nahe stehenden Menschen gar nicht bestehen könnte, fasst man die Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes ins Auge, die lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein, dann muss man annehmen, dass am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht. Dies ist die treibende Kraft, von der alle Bestrebungen des Kindes ausgehen und sich entwickeln, die ein Ziel erfordert, von dem das Kind alle Beruhigung und Sicherstellung seines Lebens für die Zukunft erwartet und die einen Weg einzuschlagen zwingt, der zur Erreichung dieses Zieles geeignet erscheint“ (Adler 1927a, 72). 1 1
Man könnte einwenden, Adler nähre die Illusion, dass „nahezu jedes menschliche Denken, Erleben oder Verhalten zufriedenstellend verstanden werden kann, wenn nur die klassischen Konzepte der Individualpsychologie bemüht werden, besonders jenes Konzept, das von Minderwertigkeitsgefühlen und deren Folgen handelt“ (Datler 2003, 82), doch sagt die Zentrierung auf ein Konzept noch nichts über die prinzipielle Brauchbarkeit desselben aus. Mit dem gleichen Argument könnte man sich von der Triebtheorie verabschieden, auf die Freud die Aufmerksamkeit richtet. Dass Schulen-Gründer ihre Perspektive verstärkt auf das lenken, was sie entdeckt oder entwickelt haben, ist nachvollziehbar. Daraus aber zu folgern, dass man aus eben diesem Grund darauf zur Gänze verzichten möge, ist Schwarz-Weiß-Denken, denn das Argument würde lauten: Wenn etwas in übertriebener Weise angewendet wird, ist es prinzipiell nichts wert – ein Begrün-
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Ähnlich wie in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Lehre Arnold Gehlens, wird der Mensch „hauptsächlich durch Mängel bestimmt [. . . ], also wesentlich negativ“ (Gehlen 1997, 33). Anfänglich ist das Kind hilflos, klein, unbeholfen und zur Gänze auf die anderen angewiesen, weswegen „am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht“. Dieses ist aber gleichzeitig die „treibende Kraft“, um ein Ziel zu erreichen, das Sicherheit verspricht – ein Vorgang, den Adler als Kompensation (Adler 1927a, 76) bzw. als Geltungsstreben bezeichnet (ebd., 73) und im günstigen Fall zu „sozialer Gleichwertigkeit“ führt (Brunner u. Titze 1995, 459–462). Im ungünstigen Fall, wenn das Minderwertigkeitsgefühl als „besonders drückend“ empfunden worden ist, mutiert die Kompensation zur „Überkompensation“, indem „das Streben nach Macht und Überlegenheit [überspitzt] und ins Krankhafte gesteigert“ wird (Adler 1927a, 76). Realistisch betrachtet darf man zwar annehmen, dass sich die normale Conditio humana irgendwo zwischen Kompensation und Überkompensation abspielt, da es wohl kaum jemanden geben dürfte, der nicht einmal das Bedürfnis verspürt, auf andere herabzuschauen. Doch ist das Ausmaß entscheidend, nämlich ob man in der Regel mit anderen auf „gleicher Augenhöhe“ auskommt oder mehrheitlich dem Verlangen erliegt, auf sie herabzuschauen oder bestrebt ist, sich allzu oft in den Vordergrund zu drängen. Als dem Geltungsstreben gegenläufige Phänomene gelten das „Zärtlichkeitsbedürfnis“, verstanden nicht als narzisstisch orientierte Libido, sondern als Befriedigung der „nach dem Objekt ringenden Regungen“ (Adler 1908d, 79), sowie das „Gemeinschaftsgefühl“ als „wichtigster Regulator des Aggressionstriebes [s. u., übernächster Absatz]“ (Adler 1908b, 76, Fußnote 63). Die bisher skizzierten theoretischen Grundlagen der Individualpsychologie zeigen deutlich ihre Verankerung in der Tiefenpsychologie – den Schulen Freuds, Adlers und Jungs –, welche unter anderem durch folgende Gemeinsamkeiten charakterisiert sind (Rieken 2010a): 1. die zentrale Bedeutung der frühen Kindheit für das spätere Leben; 2.psychodynamische, also antagonistische Kräfte, die das Licht des Bewusstseins scheuen, sodass sie 3. im Unbewussten als einer zentralen Instanz wirkmächtig sind. Antagonistische Kräfte bei Adler sind unter anderem die Gegenläufigkeit von Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben sowie von Geltungsstreben und Zärtlichkeitsbedürfnis bzw. Gemeinschaftsgefühl. Die „treibende Kraft“, welche der Kompensation dienlich ist, wird in einem frühen Aufsatz als Aggressionstrieb bezeichnet; dieser diene der „Erkämpfung einer Befriedigung“ (Adler 1908b, 72; vgl. ausführlicher Kap. 2.4) bzw. dem „Lustgewinn“ (ebd., 71). – Der zentrale Ausgangspunkt ist nach Adler eine Minus-Position, ein Defizit, die „Individualpsychologie [. . . ] beginnt und endet mit dem Problem der Minderwertigkeit“ (Adler 1929d/1978b, 147). Dieses ist in der Freud’schen Psychoanadungsmuster, das in der Individualpsychologie als „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ bezeichnet wird (Brunner u. Titze 1995, 24). Nähme man das ernst, bliebe im wissenschaftlichen Diskurs weitaus weniger übrig, als es der Fall ist.
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2.1 Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation
lyse der Libido vergleichbar, bei beiden Autoren dient als Ausgangspunkt der Theorie jeweils ein grundlegender Drang, der ein Gefühl der Unzufriedenheit im Geleit hat. Und beide Male wird ein ähnliches Ziel verfolgt, indem das Drängende nach Befriedigung sucht: entweder Abfuhr der Libido mithilfe geeigneter Objekte oder Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls durch den Aggressionstrieb bzw. das Geltungsstreben, um „sich in den Vordergrund zu drängen, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken“ (ebd., 73). Beide Male existieren auch hemmende Instanzen, die sich umfassender Befriedigung in den Weg stellen, nämlich Gesellschaft und Kultur. Das sind fundamentale Gemeinsamkeiten, die oftmals übersehen werden, und selbst Freud musste in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Adler in der Schrift „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ konzedieren, dass dessen Theorie „noch immer auf eine Trieblehre“ gegründet“ sei (Freud 1914d, 105). Doch sollte man die Gemeinsamkeiten auch nicht überstrapazieren, Freud und Adler sind in Feindschaft voneinander geschieden, und vor allem der späte Adler entfernte sich zum Teil recht weit von seinen analytischen Ursprüngen. Es wäre allerdings übertrieben und viel zu einseitig, die Individualpsychologie insgesamt als „Bewusstseinspsychologie“ zu bezeichnen und ihr zu unterstellen, sie sei konformistisch und verharre „ausschließlich an der Oberfläche“ (Jacoby 1978, 47). Angemessener ist es hingegen, darauf hinzuweisen, dass Adler einen anderen Begriff vom Ich hat als Freud. Für diesen ist es die vermittelnde Instanz zwischen Über-Ich und Es und spielt dabei oftmals nur „die lächerliche Rolle des dummen August im Zirkus, der den Zuschauern durch seine Gesten die Überzeugung beibringen will, dass sich alle Veränderungen in der Manege nur infolge seines Kommandos vollziehen“ (Freud 1914d, 97). Für Adler hingegen ist das Ich nicht eine zumeist recht schwache Instanz von mehreren, da er sie anders definiert, indem sie zwar nicht a priori stärker sein muss, ihr aber ein zentralerer Stellenwert zuerkannt wird, weil sie gleichbedeutend ist mit der Person, die er als Ganzheit bzw. Einheit versteht. Daraus leitet sich ja auch der Name Individualpsychologie ab, denn „Individuum“ bedeutet im Lateinischen das „Unteilbare“. In dieser Hinsicht steht Adler in einer Wissenschaftstradition, die wegen der Dominanz kausalanalytisch-naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen heute eher an den Rand gedrängt ist, nämlich dem ganzheitlichen Denken (vgl. Gloy 1996), das seinen Ursprung in der Antike hat. Der Begriff „ganz“ oder „holon“ ist zunächst mit Platon verbunden: Im „Timaios“ ist es der Demiurg oder Schöpfergott, der ein möglichst vollkommenes Lebewesen im Blick hat, dem nichts fehlt und das insofern als „ganz“, als „holon“ zu bezeichnen ist (Platon 1994, 32 d). Nicht minder prominent ist die auf Aristoteles zurückgehende Auffassung, das Ganze sei „nicht wie eine bloße Anhäufung“ zu verstehen, sondern „etwas außer den Teilen“ (Aristoteles 1999, Buch 8.6, 1045a, 9 f.), was spätere Generationen veranlasst hat zu formulieren: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Wir finden diese Vorstellung unter anderem bei Goethe mit einem kritischen Akzent gegen das ausschließlich analysierend und sezierend vorgehende Denken, wenn es im „Faust“ heißt: „Wer will was Lebendigs
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erkennen und beschreiben, // Sucht erst den Geist heraus zu treiben, // Dann hat er die Teile in seiner Hand, // Fehlt leider! Nur das geistige Band“ (Goethe 1993a [Faust 1], Verse 1936–1939). Im 20. Jahrhundert sind es aus den psychologischen Disziplinen vor allem die Gestaltpsychologie sowie die von Fritz Perls begründete Gestalttherapie, die sich dem ganzheitlichen Denken verschrieben haben. Dass dieser Aspekt auch für die Individualpsychologie bedeutungsvoll ist, ließe sich leicht durch eine Fülle von Zitaten belegen. Recht eindrucksvoll ist eine wie nebenbei hingestreute Bemerkung Adlers über einen individualpsychologisch gebildeten Lehrer, von dem es heißt, er habe bei seinem sozial auffälligen Schüler gewusst, dass er „an irgendeinem beliebigen Punkt beginnen konnte, weil in jedem Symptom immer die ganze große Melodie des Individuums steckt“ (Adler 1931m, 476; vgl. Eife 2011, 65). Das ist ein treffendes Bild und findet sich auch in der Dichtung, zum Beispiel bei Eichendorff, der in seinem Roman „Ahnung und Gegenwart“ von der „eigentümliche[n] Grundmelodie“ spricht, „die jedem in tiefster Seele mitgegeben ist“ (Eichendorff 1965a, 59). Diese eigentümliche „Melodie des Individuums“ bezeichnet Adler als Lebensstil, und dieser bildet „eine Einheit, weil er sich aus den Schwierigkeiten des früheren Lebens und aus dem Streben nach einem Ziel herausentwickelt hat“ (1929d/1978b, 53; eigene Hervorhebung, B. R.). Das ist eine interessante Formulierung, weil der kausalanalytische Blick, das heißt die Zentrierung auf den Ursprung in der Kindheit, verwoben wird mit dem Blick nach vorn. Das hat Konsequenzen für die Sicht auf das Unbewusste, denn es wird nicht nur ursächlich als Quelle für Handlungen betrachtet, sondern auch als Mittel zum Zweck. Daraus erklären sich so merkwürdige Formulierungen wie, dass es sich bei der Kompensation um eine „eigenartige Stellungnahme des Kindes“ handele (Adler 1927a, 72) oder dass der Patient „sich des Unbewussten [bedient], um [. . . ] dem alten Ziel der Überlegenheit folgen zu können“ (Adler 1913h, 105). Damit gerät Adler aber zu den Grundlagen seiner eigenen Lehre in einen gewissen Widerspruch, denn wenn das Minderwertigkeitsgefühl von Beginn an vorhanden ist, dann ist es auch ein unbewusster Urquell und ähnlich wie bei Freud eine Schicht, die vom Ich und vom Bewussten getrennt ist, sodass von einer „Stellungnahme“, die zumindest etwas Bewusstseinsnahes impliziert, keine Rede sein kann. Einen anderen Aspekt können wir hingegen akzeptieren, nämlich dass man sich des Unbewussten bedient, um etwas zu erreichen, denn Intentionalität hat nicht allein bewusste Anteile, sondern auch unbewusste. Darin ist ein großer Unterschied zwischen Individualpsychologie und Psychoanalyse begründet, vielleicht nicht primär in der Sache, aber hinsichtlich der Intention und des Fokus beider Autoren. Gemeint ist, dass alle Phänomene im Bereich des Humanen, um es aristotelisch zu formulieren (s. u.), eine Wirkursache haben und gleichzeitig eine Zielursache, einen Zweck. Das heißt man kann sich stets fragen, woher ein Verhalten oder eine Einstellung kommt und wohin es oder sie führt bzw. was man damit erreichen will. Beides ist sowohl bei Freud wie bei Adler angelegt: Die Libido ist eine Grundantriebskraft („Woher kommt es, dass X sich so verhält? Antwort: Ursache ist die aktivierte Libido“), aber durch ihr Verlangen nach Befriedigung hat sie auch ein Ziel
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2.1 Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation
(„Wohin führt X das, bzw. welche unbewusste Absicht verfolgt er?“). Ähnlich Adler: Das Minderwertigkeitsgefühl ist Quellgrund allen Handelns und ist gleichzeitig auf die Reduzierung desselben gerichtet. Während aber zumindest der spätere Adler in seinen Betrachtungen das Schwergewicht auf die Frage legt, was der Betreffende erreichen will, richtet Freud primär das Augenmerk auf die Frage nach der Herkunft. Das hängt mit unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen zusammen. Freud steht hinsichtlich seines theoretischen Selbstverständnis auf dem Boden der Naturwissenschaft und damit in der Tradition der neuzeitlichen Wirkursache, die David Hume kurz und bündig definiert hat als einen „Gegenstand, dem ein anderer folgt“ (Hume 1993, 92), mit anderen Worten: Der aktivierten Libido folgt ein entsprechendes Verhalten. Demgegenüber hat Adler nicht nur die Wirkursache, sondern auch die Zielursache im Blick, welche wiederum mit dem ganzheitlichen Denken verknüpft ist. Um das etwas verständlicher zu machen, sollten wir allerdings etwas weiter ausholen und zunächst auf die Ursachenlehre des Aristoteles zurückgreifen. Er unterscheidet vier verschiedene Formen der Ursache, nämlich 1. Stoff, 2. Form, 3. Bewegung und 4. Zweck (Aristoteles 1995, 194b; vgl. Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 11, 2001, 378 f.; Gloy 1995, 116–124). Dazu ein Beispiel: Wenn ich für meine Modelleisenbahn Lokomotiven der württembergischen Firma Märklin kauft, tue ich das möglicherweise 1. wegen des Stoffes, denn sie sind in der Regel aus Metall gefertigt statt aus Kunststoff, somit dem Vorbild ähnlicher und darüber hinaus von hoher Qualität. Ich kaufe sie 2. wegen der Form, da sie wohlproportioniert und detailliert sind. 3. spielt die Bewegung eine Rolle, wobei unter Bewegursache laut Aristoteles der „anfängliche Anstoß“ zu verstehen ist (Aristoteles 1995, 194b). Weil ich bereits in der Kindheit eine Modelleisenbahn hatte und sie mir glückliche Stunden bereitete, spiele ich auch heute noch mit ihr. Und schließlich hat 4. der Zweck eine Bedeutung als Ursache. Ich befasse mich mit diesem Hobby, um mich von den Anstrengungen des beruflichen Alltags zu erholen. Es ist hier nicht der Ort, sich eingehender mit den kontrovers diskutierten Fragen in der Aristoteles-Forschung zu befassen (vgl. Gloy 1995, 117). Wesentlich für unser Anliegen ist vielmehr, dass zwei der vier Ursachen, nämlich Bewegung und Zweck, für den weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte eine tragende Bedeutung erlangen sollten. In der scholastischen Rezeption durch Thomas von Aquin heißt die Bewegursache Causa efficiens, und sie ist diejenige, welche für die naturwissenschaftliche Kausalitätsvorstellung der Neuzeit maßgeblich geworden ist (Thomas von Aquin 2000, lib. 1 l. 4 n. 2.): Es handelt sich dabei um die Frage nach dem Warum und Woher, im neuzeitlichen Sinn nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung. Demgegenüber wurde der Zweckursache, von Thomas Causa finalis genannt (ebd.), in der scholastischen Wissenschaftsauffassung eine herausragende Stellung eingeräumt. Das hängt mit der Vorherrschaft der theologischen Sichtweise zusammen, denn aus christlicher Perspektive gilt die Welt als Schöpfung Gottes und damit als Verwirklichung eines weisen Planes, weswegen hinter allem eine tiefere Absicht vermutet wird (Gloy 1995, 117).
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Es braucht daher nicht zu überraschen, dass mit dem Beginn der Erfolgsgeschichte der modernen Naturwissenschaft, also seit der Frühen Neuzeit, die Zweckursache (Causa finalis) mehr und mehr an Einfluss verlor. Sie wurde zu sehr mit Metaphysik verbunden, um sie seriös für die Forschung verwenden zu können, und tatsächlich ist es kaum sinnvoll, sich zu fragen, zu welchem Zweck zum Beispiel ein Schnellzug in voller Fahrt verunglückt ist und Menschenleben gefordert hat (Causa finalis), sondern nur warum das geschehen ist (Causa efficiens). Doch im menschlichen Bereich ist die Frage nach der Zielursache oder Intention berechtigt, denn sie ist, wie es der Philosoph Gregor Schiemann formuliert, „am Vorbild des menschlichen Handelns orientiert. Der Mensch vermag sich Zwecke zu setzen und zu handeln, um diese Zwecke zu erreichen. Sein Handeln wird oftmals erst verstehbar, wenn man um das Ziel weiß, das mit dem erstrebten Endzustand einer Handlung gegeben ist“ (Schiemann 1998). Schiemann richtet allerdings das Hauptaugenmerk auf bewusste Intentionalität, und ähnlich ist es bei Franz von Brentano, der sie in die Psychologie des 19. Jahrhunderts eingeführt hat (Brentano 2008). Demgegenüber ist es das Verdienst Adlers, erstmals den Akzent auf unbewusste Intentionalität gelegt zu haben. Das wird deutlich, wenn wir das bereits erwähnte Zitat aus „Menschenkenntnis“ noch einmal zur Hand nehmen und uns daran erinnern, dass am „Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht“, welches „die treibende Kraft“ ist, um ein Ziel zu erreichen, von dem man sich Sicherheit erhofft (Adler 1927a, 72). Der Zielaspekt menschlichen Handelns ist nun eng mit dem Lebensstil als einem ganzheitlichen Phänomen verknüpft. Erwin Wexberg schreibt in seiner immer noch sehr lesenswerten Einführung in die Individualpsychologie, dass sich jeder lebende Organismus von unbelebter Materie dadurch unterscheide, dass er eine geschlossene Einheit bilde. Während man von einem Haufen Steine die Hälfte wegnehmen könne, ohne dass sich, abgesehen von der Menge, etwas an der Tatsache ändere, immer noch einen Steinhaufen vor sich zu haben, lasse sich ein Organismus nicht einfach spalten, weil er unteilbar, eben „in-dividuum“ sei; anderenfalls hätte man tote Materie. Dementsprechend könne man ein Haus genauso dann als eine Ansammlung toter Materie ansehen, wenn man es aus der Perspektive von jemandem betrachte, welcher keine Häuser kenne, etwa einem Höhlenbewohner. Für diesen bedeute „der in Trümmer gelegte Bau auch nicht weniger und nichts anderes als das unversehrte Gebäude. Für uns Häuserbewohner aber hat das Haus einen Sinn, weil wir diesem Haufen unbelebter Materie einen Zweck gegeben haben. So hat für uns das Haus eine Art Leben, freilich ein Leben, das wir ihm verliehen haben. Und weil es im Sinn dieser erborgten Lebendigkeit organisiert ist, erscheint es uns als ein Ganzes“ (Wexberg 1987, 12 f.). Demnach sind der Zweck bzw. der Sinn ein ganzheitliches Phänomen, und insofern trifft dies auch auf den Lebensstil zu. Das Zitat macht gleichzeitig deutlich, warum die
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2.1 Das Minderwertigkeitsgefühl und seine Kompensation
Naturwissenschaft Abstand vom Zweckbegriff genommen hat: Er ist ein spezifisch menschliches Phänomen und auf subhumane Bereiche nicht bzw. kaum anwendbar (vgl. genauer Spaemann, Löw 1981). Intentionalität spielt auch in anderen Psychotherapieschulen eine Rolle, prominent etwa in der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls durch die Zentrierung auf die Sinnfrage. 2 Man findet sie ferner in der Systemischen Therapie und Verhaltenstherapie als Reframing oder Umdeutung, womit gemeint ist, problematisches Verhalten in einem anderen Licht zu betrachten, zum Beispiel Zwanghaftigkeit als Wunsch nach Ordnung. Der Psychoanalytiker Gottfried Fischer sieht in der unbewussten Intentionalität sogar einen wesentlichen Baustein zur Etablierung einer eigenen Psychotherapiewissenschaft, um sich von Psychologie und Psychiatrie mit ihrem engen nomothetischen bzw. kausalanalytischen Verständnis abzugrenzen (Fischer 2008, 19–24; vgl. Rieken 2011b; vgl. Kap. 7.4). Auch in anderen Wissenschaften hat das Phänomen Bedeutung. So unterscheidet der Literaturwissenschaftler Horst-Jürgen Gerigk zwischen inner- und außerrealer Fiktionalität eines Kunstwerks und verbindet jene mit der Causa efficiens, diese mit der Causa finalis: Alles, was in einem literarischen Text vorhanden sei, sei vorhanden, um sich dem Betrachter zu zeigen (Gerigk 2006, 24 u. ö.). – Ein anderes Beispiel: Wilhelm Schapp, ein Philosoph in der Tradition der Phänomenologie, sieht den Menschen wesentlich als jemanden, der „in Geschichten verstrickt“ ist. Die Nahtstelle zwischen diesen Geschichten und der Außenwelt bestehe „in den Gebilden, die wir Wozudinge nennen“ (Schapp 2004, 3), womit die vom Menschen geschaffenen Gegenstände gemeint sind, welche zu irgendeinem Zweck hergestellt worden sind. – Ein weiteres Beispiel: Der amerikanische Philosoph John R. Searle thematisiert das Leib-Seele-Problem in Zusammenhang mit der modernen Hirnforschung. Aus seiner Sicht stehen zwar geistige Vorgänge in kausalen Beziehungen zu chemischen Prozessen im Gehirn, doch seien sie anders beschaffen als physische, weil sie auf etwas bezogen und gerichtet seien, kurzum intentionale Qualitäten hätten (Searle 2006). Adler selbst begründet das intentionale oder teleologische Prinzip ebenfalls philosophisch, und zwar in seinem Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“, indem er auf den Fiktionalismus des Neukantianers Hans Vaihinger zurückgreift, den dieser in seiner Habilitationsschrift mit dem schönen Titel „Die Philosophie des Als Ob“ entwickelt hat (Vaihinger 1911). Es handelt sich um eine frühe konstruktivistische Theorie, indem der Begriff Fiktion ins Zentrum gerückt und als bewusst gewählte Annahme definiert wird, welche von der Wirklichkeit abweicht und teilweise in sich widersprüchlich ist. Man müsse aber so tun, als ob man die Wirklichkeit angemessen erkenne, weil sie nur unter dieser Voraussetzung vorstellbar sei (ebd., 113). Die Aufgabe der Erkenntnistheorie könne daher nicht in der Abbildung der Realität liegen. Vielmehr entscheide über ihren Nutzen die praktische Brauchbarkeit (ebd., 5); sie sei demzufolge ein Instrument, um sich leichter in der Wirklichkeit zurechtzufinden 2
Zur Diskussion der Sinnfrage in der Individualpsychologie vgl. Lehmkuhl, Sasse u. Wahl 2007.
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(ebd., 22). Ein anschauliches Beispiel ist die Unterteilung der Erdkugel in Längenund Breitengrade. Diese existieren nicht eigentlich, aber wenn man so tut, als ob sie vorhanden wären, kann man sich in der Welt besser orientieren (ebd., 35). Adler überträgt diese Gedanken auf die Psychologie, indem er das Minderwertigkeitsgefühl mit seinen „anhaftenden Gefühlen der Unlust und Unbefriedigung“ als Ausgangspunkt und inneren Antrieb dafür betrachtet, „einem fiktiven Endziel näherzukommen. Das Schema, dessen sich das Kind bedient, um handeln zu können und sich zurechtzufinden, ist allgemein und entspricht dem Drängen des menschlichen Verstandes, durch unreale Annahmen, Fiktionen das Chaotische, Fließende, nie zu Erfassende in feste Formen zu bannen, um es zu berechnen.“ (Adler 1912a, 70 f.; vgl. Rattner 1987; Rieken 1996). Demnach ist Adlers Psychologie subjektivistisch, konstruktivistisch und hermeneutisch geprägt, indem sie unsere Anschauungswelt auf Fiktionen zurückführt, die aus der wechselseitigen Verschränkung von Minderwertigkeitsgefühlen und kompensatorischen Bestrebungen resultieren. So gesehen ist er „ein Avantgardist des heute so bezeichneten ‚postmodernen Bewusstseins‘; viel mehr als Freud und Jung dies waren, welche für den Objektivitätscharakter des Konzeptes Psyche votierten und uns metapsychologische Systeme von Hypothesen anbieten“, schreibt der jungianische Analytiker James Hillman in seinem ausgezeichneten Werk „Die Heilung erfinden. Eine psychotherapeutische Poetik“ (Hillman 1986, 153). Allerdings ist Adler kein radikaler Konstruktivist, weil es aus seiner Sicht der Wirklichkeit nähere und der Wirklichkeit entferntere Fiktionen gibt. Der Maßstab dafür steht in Zusammenhang mit der Bandbreite zwischen relativer psychischer Gesundheit und Krankheit, und so braucht es nicht zu überraschen, dass das dritte Kapitel im theoretischen Teil des „Nervösen Charakters“ den Titel „Die verstärkte Fiktion als leitende Idee in der Neurose“ trägt (Adler 1912a, 80–122; eigene Hervorhebungen, B. R.). Der Fiktionalismus weist aber noch auf etwas anderes hin, nämlich darauf, dass wir unsere Ziele nie zur Gänze erreichen können und wir lebenslang mit Unzulänglichkeiten konfrontiert sind. „Das seelische Gleichgewicht ist fortdauernd bedroht“ (Adler 1933b, 55), denn „Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt“ (ebd., 56). Ein an Defiziten orientiertes Menschenbild finden wir zwar auch bei Freud und Jung, doch stehen Unzulänglichkeiten bei Adler im Zentrum, und zwar als drängendes Verlangen nach „Heilung“ oder „Erlösung“ einerseits und andererseits als Gefühl eines schmerzlichen Mangels (s. Hillman 1986, 135). Das gilt für Patienten oder Lehranalysanden, die voller Hoffnung eine Therapie beginnen und sich am Ende mit weniger Erfolg bescheiden müssen als ursprünglich ersehnt, genauso wie für Therapeuten, wenn sie einen
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2.1.2 Lebensstil, Lebensstilanalyse und tendenziöse Apperzeption
kritischen Blick auf sich selbst und auf ihre Arbeit werfen. „Analytiker haben sich dauernd im Verdacht, dem Sturzbach von seelischem Material, das aus dem Patienten hervorbricht, nicht gewachsen zu sein“, heißt es beispielsweise bei Janet Malcolm (Malcolm 1992, 135). Zusammenfassend wollen wir festhalten, dass Adler hinsichtlich seiner theoretischen Grundlegung auf psychodynamischem Boden steht, indem er der Kindheit und dem Unbewussten mit seiner konfliktträchtigen Dynamik große Beachtung schenkt. Indes haben alternative Wissenschaftstraditionen einen höheren Stellenwert als in der Psychoanalyse. Damit ist nicht die Würdigung des Einzelfalls bei Freud als Gegenpol zum psychiatrischen Mainstream gemeint, sondern der Umstand, dass die Psychoanalyse primär im analytischen Denken der Wirkursache verankert ist, während in der Individualpsychologie neben der Wirkursache auch die Zielursache berücksichtigt und einer ganzheitlichen Betrachtungsweise Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Finalismus in der Philosophie, um sie vom wirkkausalen Zugang abzugrenzen, oftmals mit „Freiheit“ verbunden wird. Spätestens seit Nicolai Hartmanns „Ethik“ wissen wir indes, dass genauso finale wie kausale Determination existiert (Hartmann 1962, 664–675), indem man nachgerade auf ein Ziel fixiert ist. Dieses Dilemma lässt sich indes relativieren, wenn man mit Vaihinger „Freiheit“ als eine Fiktion betrachtet: theoretisch nicht begründbar, weil man in einen „infiniten Regress“ (Albert 1991, 15) der Begründung geraten würde (Ursache der Ursache der . . . ), aber unerlässlich fürs praktische Leben, da ohne sie keine Verantwortung denkbar ist; und auch primär begründbar nur übers praktische Leben, indem man zum Beispiel darauf hinweisen kann, dass eine erfolgreiche Psychotherapie in der Regel durch eine Zunahme von Freiheitsgraden charakterisiert ist: Impulse, Affekte, Triebregungen etc. determinieren das Individuum etwas weniger als vordem.
2.1.2 Lebensstil, Lebensstilanalyse und tendenziöse Apperzeption Thomas Stephenson Im Zuge des Strebens nach Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen und den jeweiligen individuellen lebensgeschichtlichen Entwicklungen folgend kristallisiert sich laut Adler bei jedem Menschen so etwas wie ein „Stil der Lebensbewegungen“ heraus. Da einerseits – wie wir im letzten Kapitel gesehen haben – das Minderwertigkeitsgefühl laut Adler zur Grundausstattung des Menschen gehört und daher von Anbeginn des Lebens an die basisbildende Wirkursache für die Aktivierung des Aggressionstriebes bildet, und andererseits das reaktive Streben des Menschen nach Kompensation ebenfalls von Beginn an die überdauernde Zielursache für alle seine bewusst und unbewusst gesteuerten Handlungen darstellt, bilden beide zusammen, Minderwertigkeitsgefühl und Kompensationsstreben, von Anfang an die intentiona-
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le und motivationale Grundlage für die Gestaltung des Lebens. Die konkret inhaltliche Ausgestaltung ist aber zunächst ein Ergebnis der gegenseitigen Anpassung von Gegebenheiten der Individualitäten (körperliche und geistige Ausstattung, Temperamentsunterschiede, etc.) des Kindes und seiner primären und weiteren Bezugspersonen als „bedeutsame Andere“. Hier fokussiert eine individualpsychologische Entwicklungstheorie (s. Kap. 2.2) vor allem die für Adler so entscheidende „Kooperation“, die als Basis für die unterschiedlich gestalteten gegenseitigen bewussten und unbewussten Anpassungsprozesse zwischen den Menschen gelten kann. Das bedeutet für das Individuum, dass es im Streben nach Bewältigung, nach eigener Geltung und Vervollkommnung Kompensationsmöglichkeiten ausprobiert, die immer auf die im Streben nach Bewältigung, nach eigener Geltung und Vervollkommnung realisierten Kompensationsmöglichkeiten der Anderen treffen. Beide Seiten müssen daher „gemeinsame Inszenierungen“ intendieren, die gewissermaßen als Resultat von „Angebot und Nachfrage“ gestaltet werden. Denn die eigene „Wertigkeit“ („Minder-“ oder „Über-“) ist, immer eine, die sich in der Konfrontation mit den Bewertungen der anderen ergibt, der Eltern, der anderen Familienmitglieder, der peers, der Gesellschaft. Wenn also das Kind zu versuchen beginnt, empfundene Minderwertigkeiten durch bestimmte Aktivitäten kompensatorisch zu verändern, so ist es zunächst „abhängig“ von der Reaktion der anderen, die sie auf seine Aktionen hin zeigen. Und je nachdem, welche der Aktivitäten zum Erfolg führen und welche nicht, „bahnt“ sich im Kind in einer Art „Ausleseprozeß“ (Ansbacher 1995, 283) eine Tendenz, die eine Art von Aktivitäten zu bevorzugen (nämlich jene, auf die es Reaktionen erhielt, die seinen Selbstwert (direkt oder auf Umwegen) steigern halfen) und die anderen zu vermeiden (nämlich jene, die seine Minderwertigkeitsgefühle durch abwertende Reaktionen steigern). Die Regulation von Triebbefriedigungen, die bei Freud im Vordergrund steht, wird bei Adler in die Regulationen des Selbstwertgefühls eingebunden und ihr damit auch untergeordnet: Unsere Versuch, drängende Strebungen zu befriedigen, hat ja immer auch eine „soziale Bedeutung“, wird immer von anderen (in Bezug auf die Aufrechterhaltung deren eigener Selbstwertgefühle) beurteilt und durch Wertungen „beantwortet“ 3 . Das ist die erste Bedeutung des Begriffs „Lebensstil“: 1. Es formieren sich nach Maßgabe von Erfolg und Misserfolg bei der Trieb- und Selbstwertregulation bestimmte Arten von Aktivitäten als beizubehaltende, andere werden zusehends vermieden. Die beizubehaltenden werden zum „Standard“, zu überdauernden Tendenzen des Wahrnehmens und Handelns. Der weiter oben verwendete Ausdruck „Angebot und Nachfrage“ bezieht sich also auf den Umstand, dass die bereits angesprochene „Kooperation“ unumgänglich ist: Da jeder Mensch immer wieder vor der Notwendigkeit steht unvermeidliche Minderwertigkeitsgefühle mit kompensatorischen Aktivitäten ausgleichen zu müssen 3
Diese „Bahnungen“ finden natürlich auch bezüglich des zweiten zentralen „Regulationskreises“ statt, nämlich jenes der Triebregulation bzw. Bedürfnisregulierung.
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2.1.2 Lebensstil, Lebensstilanalyse und tendenziöse Apperzeption
und dabei wie alle Mitglieder einer Gemeinschaft sowohl „in eigener Sache“ unterwegs ist und gleichzeitig von den wertenden Reaktionen der anderen „abhängig“ ist, müssen „Arrangements“ im Sinne von „Verhandlungsergebnissen“ angestrebt werden. Wie alle Eltern wissen, erlebt ja nicht nur das Kind Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Erwachsenen, sondern auch die Erwachsenen erleben gerade in ihrer Elternschaft immer wieder Momente der Hilflosigkeit, der Verzweiflung, des Aufbrechens von Versagensgefühlen etc. Es entsteht dadurch auf der „Bühne des (Miteinander-)Lebens“ sozusagen ein „Markt“, auf dem jeder versucht, mithilfe des Anderen Minderwertigkeit (in oft langen und zähen Verhandlungen) zu kompensieren und dabei davon abhängig ist, dass der andere „mittut“. Dabei werden die oben genannten Kompromisse gerade auch durch die Verbindung von bewussten und unbewussten Zielen geschlossen. Ein Mensch, der sich (unbewusst) entschließt, durch stetige Unterdrückung anderer Menschen das Ziel zu erreichen, die eigenen Hilflosigkeitsgefühle, die ihn quälen, nicht spüren zu müssen, verfolgt aus zwei Gründen „sozial unnützliche“ Ziele: Der „Nutzen“, den er dadurch erhält, dass diese Gefühle der Hilflosigkeit tatsächlich weitgehend seinem Bewusstsein „erspart“ bleiben, hat als Nebenwirkung einen zweifachen „Schaden“. Zum einen muss er ständig die andrängenden Hilflosigkeitsgefühle durch weitere, mit der Zeit immer heftigere Unterdrückungsaktivitäten gegenüber Anderen „in Schach“ halten und kann dadurch, dass er von diesen „notwendigen“ Abwehraktivitäten ständig okkupiert ist, nicht an seiner Entwicklung und jener seiner Umwelt produktiv arbeiten. Zum anderen müssen die „PartnerInnen“ dieses grausamen Spiels (wenn es ihnen nicht möglich ist, die Quintessenz dieses Spiels zu erkennen und aus ihm auszusteigen) andauernd mit den Hilflosigkeits- und Wutgefühlen, die in der Gegenübertragung auftauchen, kämpfen und verlieren damit auch einen u. U. wichtigen Teil ihrer freien Handlungsund Entscheidungsfähigkeit, die ja integrativer Bestandteil einer gedeihlichen Persönlichkeitsentwicklung sind. Die oben genannten Arrangements zeigen sich nun vor allem in der Übernahme von „Rollen“ in kurzzeitigen oder überdauernden „Inszenierungen“. Die jeweilige Rolle, die bewusst oder unbewusst dem jeweiligen anderen angeboten wird, muss eine sein, die in Verbindung mit jener Rolle, die man dabei für sich selbst vorsieht, direkt oder auf Umwegen den eigenen Selbstwert zu erhöhen hilft. Diese „Umwege“ haben den Charakter von Kompromissen, die den „unter den gegebenen Umständen“ höchstmöglichen Grad der Kompensation von Minderwertigkeiten als Ziel haben. Der „Klassenkasperl“ kompensiert u. U. seine körperliche Schwäche, die ihn in der Rangliste der „Raufer“ ganz weit nach unten gebracht hat, über den Einsatz seiner intellektuellen und schauspielerischen Fähigkeiten. Mit seinen „Kabarett-Einlagen“, in denen er die Lehrerschaft „auf die Schaufel“ nimmt, zeigt er eine andere Art von („sozialem“) Mut und Kampfbereitschaft, die sich die körperlich Starken wiederum nicht zutrauen, steigt dadurch wiederum im Ansehen und hilft gleichzeitig den körperlich Starken, sich durch das Miterleben des „Showeffekts“ selbst „mutig“ zu fühlen. In einer anderen Klassenkonstellation, die einerseits eine andere Verteilung von „Ressourcen“ (körperliche, geistige und soziale Fähigkeiten der einzelnen) aufwei-
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sen würde, anderseits weniger von aggressiven Tendenzen geprägt wäre, hätte eben dieser Schüler u. U. eine andere Rolle eingenommen. Im Laufe der Jahre kann sich so eine Rolle nicht nur für die jeweiligen Kontexte verfestigen, sondern integrativer Bestandteil des Selbstverständnisses der Person werden, die dann im Sinne von „Übertragung“ an jede neue Gruppenmitgliedschaft mit bestimmten „Bereitschaften zur Rollenübernahme“ herantritt. Das ist also die zweite Bedeutung von „Lebensstil“: 2. Es entsteht eine „Rollenpräferenz“ im Zusammenspiel zwischen den Kompensationsversuchen der EntwicklungspartnerInnen. Doch die „Abhängigkeit“ von der Reaktion des Anderen ist nicht absolut. Denn Adler fokussiert eine weitere spezielle Eigenart menschlicher Lebensgestaltung. Eine Eigenart, die die Herausbildung eines „Lebensstils“ ebenso maßgeblich formt wie die Aspekte der Individualität und die jeweiligen Reaktionen der anderen: von Anbeginn an sieht der Mensch das, was er sieht, nicht deshalb so, wie er es sieht, weil es so ist, wie es ist, sondern weil es so, wie er es sieht, für ihn nützlich ist. Eine weitere der Adler’schen Erkenntnisse, die sowohl in das Allgemeinwissen übergegangen ist (bzw. mit diesem immer schon kompatibel war) als auch von den Forschungen der Jahrzehnte nach seiner Konzeption der menschlichen Wahrnehmung vielfach und differenziert bestätigt wurde: die Wahrnehmung ist ebenso wie das Tun des Menschen aktives und zielorientiertes Handeln. Und sie ist dabei (ebenso wie die Gestaltung der kompensationsorientierten Reaktionen auf Minderwertigkeitsgefühle) „Mischergebnis“ einer Summe von Aktivitäten, die verschiedene Grade der Bewusstheit aufweisen. Alle menschlichen Aktivitäten verfolgen aus der Sicht der Tiefenpsychologie ein Ziel: die Lösung von unerträglichen Spannungszuständen, wie sie durch das aktiv werden von drängenden Bedürfnisse entstehen. Die für die Individualpsychologie zentrale Bedürfnislage liegt in der Selbstwertregulation im Sinne glückender Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen. Das gilt demnach auch für die Wahrnehmung, die in ihrer aktiven (aber nur zum geringen Teil bewussten) Gestaltung also einer Tendenz folgt, nämlich prinzipiell jener nach Lösung von unerträglich werdenden Spannungen, die aus bedeutsamen Istwert-Sollwert-Differenzen entstehen, und speziell nach Anpassung des „Ist-Zustandes ‚Gefühlte Minderwertigkeit‘“ an den „Soll-Zustand ‚Gefühlte Gleich(oder Über-)Wertigkeit‘“. Was daher wie und aus welcher Perspektive in den Blick und folglich „wahr“-genommen (also erfasst und interpretiert) werden darf, folgt der „Tendenziösen Apperzeption“, wie Adler dieses Phänomen nennt. Dabei setzt die jeweilige „Tendenz“ an mehreren Punkten des Wahrnehmungsprozesses an: So steuert sie z. B. sowohl die „Kameraführung“, als auch die Interpretation des Wahrgenommen im Hinblick auf die Steigerungen oder Senkung des Minderwertigkeitsgefühls – und sie tut das nicht nur im Hinblick auf das, was soeben als im Außen sich Ereignendes wahrgenommen wird, sondern auch auf alles, was als „Erinnerung“ in unsere bewusste Wahrnehmung gelangt.
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2.1.2 Lebensstil, Lebensstilanalyse und tendenziöse Apperzeption
Das ist die dritte Bedeutung von „Lebensstil“: 3. er ist auch „Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Interpretations-Stil“. In seinen Schriften verwendet Alfred Adler eine Reihe anderer Begriff weitgehend synonym zu jenem des Lebensstils, den er ab 1929 präferiert, vor allem jene der „Leitlinie“, des „Leitbildes“, des „Lebensplans“ und der „Grundmelodie“ (vgl. Ansbacher 1995, 281 ff.). Sie stellen letztlich jeweils bestimmte Aspekte des Lebensstils in den Vordergrund, und sind daher auch nützlich, wenn man die Differenzierungskraft dieses Begriffs steigern will: Handlungstendenzen, Rollenpräferenzen und Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Interpretationsstil folgen dem „roten Faden“ einer bestimmten Art von Minderwertigkeitskompensation („Leitlinie“). Diese Leitlinie wiederum folgt dem Zielpunkt einer bestimmten Vorstellung jenes Zustandes, in dem die Minderwertigkeitsgefühle „perfekt“ 4 kompensiert sind („Leitbild“). Leitlinie und Leitbild gemeinsam bilden den Orientierungsrahmen, wie ich einen „Gesamtplan“ („was muss ich alles wann wie machen, um dorthin zu kommen, wo ich hinwill“) erstelle („Lebensplan“). Mit dem Begriff der „Grundmelodie“ legt Adler schließlich „seinen“ IndividualpsychologInnen und Individualpsychologen einen bestimmten „paradigmatischen Apperzeptionsstil“ nahe, wie sie den Menschen und damit jeden Klienten und jede Klientin, mit der sie individualpsychologisch arbeiten wollen, sehen sollten: als eine einmalige und unverwechselbare individuelle Persönlichkeit, die in ihrer Einmaligkeit auch nur mit einem „ganzheitlichen Wahrnehmungs- und Interpretationsstil“ auf Seiten der AnalytikerInnen adäquat erfasst werden kann. In diesem Sinn betreiben also IndividualpsychologInnen immer Lebensstilanalyse, wenn sie versuchen, sich auf die „Grundmelodie“ ihrer KlientInnen einzustimmen, auch wenn sie zumeist an „Details“ dieses Lebensstils, bzw. an seinen jeweiligen konkreten Ausformungen im Hier und Jetzt der analytischen Situation ansetzen und sich gemeinsam mit den KlientInnen die unbewussten Bedeutungen arbeiten. Wie hier „Detailanalyse“ und „Lebensstilanalyse“ ineinander greifen, kann man an folgendem Beispiel gezeigt werden: M. B. hatte einen meiner Vorträge besucht. An bestimmten Stellen meiner Ausführungen, die sich auf die Erläuterung bestimmter psychopathologischer Aspekte bezogen, hatte M. B. „festgestellt“, dass ich sie „fixierte“. Sie war empört darüber, weil sie überzeugt war, ich wolle ihr damit zu verstehen geben, dass diese Pathologie genau auf sie zutreffe. Ich konnte mich nach längerem Nachdenken an diese Situation erinnern, entdeckte aber beim Nachspüren keinerlei Tendenz, Impuls oder ratio4
In diesem Sinne ist das Leitbild vergleichbar mit dem berühmten Bild von jenem Esel, dessen Reiter ihm eine an eine Angel gebundene Karotte vor die Nase hält, um seinem Tragtier einerseits eine ständige Motivation zum Weitergehen und andererseits diese Richtung der Fortbewegung vorzugeben. Das funktioniert jedoch nur, weil der Esel diese Karotte eben nie erreicht, so wie wir die Perfektion in unserem „Leitbild“ nie erreichen.
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nalen Grund, sie aus diesem Grund angesehen zu haben, und nachdem M. B. ihre Empörung noch mit einigen Erläuterungen versehen hatte, konfrontierte ich sie mit zweierlei: zum einen, dass ich selbst bei mir keinerlei derartige Absichten entdecken konnte, und zum Anderen, dass mir aus Anlass dieses Beispiels auffällt, dass ich in unseren Stunden immer wieder und immer deutlicher zwei Diskrepanzen erlebe: die eine zwischen dem, wie ich mich selbst empfinde, als welcher Interaktionspartner ich mich auch anbiete, und dem, „was sie aus mir macht“, die andere zwischen dem, wie ich sie sehe und wie sie sich (in Bezug auf mich) sieht. Denn immer wieder betonte sie, dass ich sie unmöglich aushalten könne, wenn sie sich so zeigt wie sie „wirklich“ ist bzw. dass ich an dieser „wirklichen“ M. B. unmöglich interessiert sein könne, weil sie nur mühsam und intellektuell vollkommen minderwertig sei. Ich erlebte in diesen Situationen immer wieder Gefühle von Hilf- und Ratlosigkeit. Tatsächlich erlebte ich M. B. durchgängig als hochintelligent in mehrerlei Hinsicht. Sie konnte sowohl Zusammenhänge zwischen „Symptomen“ und „zugrundeliegender Psychodynamik“ bei sich und bei anderen sehr genau erkennen und nachvollziehend subtil darstellen als auch in jeder Thematik sehr differenziert und auf sehr hohem Niveau sprachliche und logische Fähigkeiten einsetzen. Die Spannung und die intensiven Affekte, die bei allen vorherigen Gelegenheiten zum Teil sehr heftig geworden war, in denen sie sich als „unzumutbar“ empfunden hatte und über meine „Verweigerung“ dem zuzustimmen, in Wut geraten war (ich habe bis heute ein „Mal“ an meiner Wand neben der Couch, das sie durch einen heftigen Schlag ihrer Faust erzeugt hat) begannen sich nach dieser „Offenbarung von Übertragung und Gegenübertragung“ (als die man meine Konfrontation mit dieser „doppelten Diskrepanz“ auch bezeichnen könnte) immer mehr aufzulösen, unsere gemeinsame Arbeit an einem tieferen Verständnis für ihre eigene Psychodynamik gestaltete sich im weiteren Verlauf der Analyse deutlich konstruktiver. Dieses tiefere Verständnis zeigt einen Lebensstil, der dadurch geprägt war, dass die Klientin in ihrem andauernden Versuch, eine „lebbare“ Identität zu erlangen, inmitten eines unlösbar erscheinenden Konflikts keinen anderen Weg sah, als das Erleben von Abwertungen ihrer Person in den verschiedensten Situationen ihres Lebens (am unmittelbarsten in der analytischen Situation) gleichzeitig zu bekämpfen und im Wiederholungszwang zu erzeugen. Dieser Konflikt bestand in der Unvereinbarkeit zweier Tendenzen: sich mit Autoritäten zu identifizieren und gleichzeitig gegen deren phantasierte Abwertungen zu kämpfen. Dabei arbeiteten die drei genannten Anteile des Lebensstils zusammen: ihre „rebellischen“, kämpferischen Handlungstendenzen des wütenden Protestes richteten sich auf phantasierte Rollenzuweisungen und prägten ihren Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Interpretationsstil. 5 In diesem Sinne verweisen M. B.s lebenstiltypische Tendenzen einerseits auf „im Lebensstil eingebaute Meinungen über sich und die Welt . . . [als] ein Versuch des 5
Dabei wechselten charakteristischerweise zwei Grundhaltungen einander ab: entweder sie musste rebellisch und wütend gegen die Autorität ankämpfen oder sich ihr demütig unterordnen.
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2.1.3 Individualität und Gemeinschaft: Gemeinschaftsgefühl als Bindeglied
Menschen, sich im sozialen Bezug zurechtzufinden“ (Bogyi 2007, 120), andererseits werden diese Meinungen zu einem brüchigen Boden, auf dem eine tragfähige konsistente Identität nicht zu erreichen ist. Wir gelangten zum bewussten und reflektierten Gewahrwerden dieser zentralen Lebensstilkomponente durch einen Wechsel zwischen Detail- und Gesamtperspektive: aus Anlass der oben geschilderten konkreten Situation und deren lebensstiltypischen „Äußerungsbewegung im Hier und Jetzt“ (Presslich-Titscher 2006, 148) der aktuellen Übertragungs-Gegenübertragungskonstellation „ordneten sich“ frühere Erlebnisse in der Analyse nach einem „Muster“, für das jenes von mir in den Blick gebrachte momentane Phänomen ein „Musterbeispiel“ darstellte. Durch diese „neue Erkenntnis des alten“ im Sinne einer ordnenden Bewusstmachung vormals unbewusster/unverstandener und damit unverfügbarer Tendenzen war eine „Fruchtbarmachung der im Lebensstil gebundenen schöpferischen Kraft“ (Schmidt 2005, 353) durch eine „Neuordnung“ maßgeblicher Komponenten des Lebensstils möglich geworden und danach – am Ende einer langen Zeit des „Durcharbeitens“ – auch erreicht worden 6 . Lebensstilanalyse 7 zu betreiben bedeutete dabei nicht mehr und nicht weniger als das Entwicklungspotential der absoluten Bezogenheit zu nutzen: aus der Spannung der inneren und äußeren Alterität heraus, im Bewusstsein des existentiellen „Risses“ in der Intersubjektivität immer wieder zu aktualisierten Synthetisierungen und Integrierungen zu gelangen, in denen durch modulierende Spiegelung und (aus)haltende Mitbewegung Geltungsstreben und Minderwertigkeitsgefühle immer wieder im gemeinsam reflektierten Gemeinschaftsgefühl kompensiert und in der Gleichwertigkeit aufgehoben werden. Die Tatsache, dass Projektion nicht einfach nur ein („neurotischer“) Abwehrmechanismus ist, sondern ein notwendiger Vorgang, um das in einem selbst nicht Erkennbare durch die Projektion auf das Gegenüber „vor sich“ zu haben, wird in einer Lebensstilanalyse, die innerhalb der Übertragungs-Gegenübertragungsmanifestationen der analytischen Beziehung ihr Material sucht und findet, durch die Grundhaltung der„reflektierten Projektivität“ (Stephenson 2010) genutzt. Sie liegt in der Akzeptanz unserer grundlegenden Tendenz zur Projektion als Element der conditio humana („Projektivität“) und verbindet diese mit dem Grundelement des „homo psychoanalyticus“, der Reflexion.
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Die Analyse mit M. B. enthielt mehrere Prozessaspekte, die mich zu grundlegenden Elementen einer „Relationalen Individualpsychologie“ führten, u. a. zu dem in dieser geschilderten Sequenz so deutlich werdenden Entwicklungspotential der absoluten Bezogenheit: aus der oben genannten Spannung der inneren und äußeren Alterität, des „Risses“ heraus immer wieder zu aktualisierten Synthetisierungen und Integrierungen eines Gemeinschaftsgefühls gelangen zu können, das durch mannigfaltige Bezüge zu den Forschungsergebnissen der Affektregulierung, der Mentalisierung, der Bindung und der Intersubjektivität gekennzeichnet ist (s. d. das Kapitel „Individualpsychologische Entwicklungstheorie“). Wie sehr allerdings letztlich jede Lebensstilanalyse, die sich nur auf die Zeit der Analyse selbst bezieht, zu kurz greift, hat Robert Akeret in seiner ungewöhnlichen Art der Katamnese, die eine originelle Alternative zu den üblichen Katamneseforschungen in der Psychoanalyse bietet (vgl. z. B. Leuzinger-Bohleber u. Stuhr 2001) sehr deutlich aufgezeigt (Akeret 2005).
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2.1.3 Individualität und Gemeinschaft: Gemeinschaftsgefühl als Bindeglied Thomas Stephenson Das oben genannte „Zusammenspiel“ in der Übernahme von Rollen beinhaltet auch die Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft, die bei Adler eine spezifische Färbung erhält: Da er in der „Gemeinschaft sub specie aeternitatis“, also in der Vision einer „vollendeten“ Gemeinschaft am „Ende aller Zeiten“, die höchste Finalität erblickt, bringt er das Individuum gewissermaßen in „Zugzwang“: Es hat, will es (in Adlers Augen) „gesund“ sein (siehe nächstes Kapitel) , sein Tun auf das Wohl der anderen, und zwar der „Summe“ der anderen, also der ganzen Menschheit zu richten. Dieser normative Anspruch, der Adlers Schaffen wie ein „roter Faden“ durchzieht, ist gleichzeitig auch das „rote Tuch“, mit dem er vor den Augen jenes Stieres wedelt, der seit den Epochen der Aufklärung und Romantik für die Individualisierung des Menschen, für die „Selbstverwirklichung“, die „Selbstbestimmtheit“ etc. in die Arena des Streites um das „richtige Menschenbild“ geschickt wird. Die hier auftauchende Frage, nämlich inwiefern es Aufgabe der AnalytikerInnen sei, ein „richtiges“ Ziel vorzugeben, betrifft einen sehr breit angelegten und alten Diskurs, nämlich die Rolle von Werten in der Psychotherapie. Von allen Begriffen, die Adlers Denken wesentlich bestimmen, ist hier jener des Gemeinschaftsgefühls am meisten von diesem Diskurs betroffen. Daher soll im Folgenden eine knappe Diskussion dieses Begriffes begonnen werden, die einerseits die wesentlichsten Bestimmungsmerkmale nach Adler skizziert, andererseits der Kritik an diesem Begriff entsprechenden Raum gibt und die systematische Rekonstruktion dieses zentralen Konzeptes der Individualpsychologie durch die Konfrontation mit modernen Forschungsergebnissen der Entwicklungsforschung vorbereitet, wie sie im Kap. 2.2.1 durchgeführt wird. Wenn das Individuum an Symptomen leidet, leidet es aus Adlers Sicht „aus eigenem Verschulden“, also daran, dass es sich in „irrtümlicher Stellungnahme“ zu den „Aufgaben des Lebens“ auf die „sozial unnützliche“ Seite geschlagen hat. „Sozial unnützlich“ ist dabei speziell die Überkompensation von Minderwertigkeit im Zuge von an Überkompensation ausgerichtetem Macht- und Geltungsstreben. Der „Neurotiker“, der hier gewissermaßen „blindlings überkompensiert“ fügt dabei den Anderen, und zwar der Summe der Anderen, also der Menschheit (s. o.) Schaden zu. Tatsächlich genügt ein Blick in die Medien jedes beliebigen Tages um überdeutlich jene die Menschheit schädigenden Folgen des „an Überkompensation ausgerichtetem Macht- und Geltungsstrebens“ wahrnehmen zu können. Der springende Punkt dabei ist für dieses Kapitel die dadurch in den Blick rückende erste Bestimmungsmöglichkeit der Begriffsbedeutung von „Gemeinschaftsgefühl“: 1. „Gemeinschaftsgefühl“ meint das Gewahrwerden einer unauflöslichen Bezogenheit zwischen Teil und Ganzem, zwischen Kind und Familie, zwischen dem einzelnen Menschen und der Menschheit, zwischen Einzelwesen und der Summe aller Wesen, zwischen Seiendem und Sein. Diese unauflösliche Bezogenheit betrifft
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2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie
die niemals in eine Einseitigkeit auflösbaren Wechselwirkungen zwischen Teil und Ganzem, also zwischen Individuum und Gemeinschaft. Dieses Gewahrwerden ist die Basis und der Ausgangspunkt für alle weiteren Bedeutungen dieses Begriffs „Gemeinschaftsgefühl“, und für alle Folgerungen dieser Bedeutungen für die Bereiche Weltbild, Menschenbild, Persönlichkeitstheorien, Entwicklungstheorien, Psychopathologie oder therapeutische Techniken der Individualpsychologie. Damit ist aber erst ein erster Ansatzpunkt für eine systematische Rekonstruktion des vagen Gemeinschaftsgefühlsbegriffs gegeben. Im Kapitel „Individualpsychologische Entwicklungstheorie“ wird dieser wieder aufgegriffen und vor einem breiteren theoretischen Hintergrund konsequent weitergeführt.
2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie und eine individualpsychologische Antwort auf die absolute Fragilität der analytischen Praxis Thomas Stephenson Der Individualpsychologie wurde von Anfang an vorgeworfen, sie sei zu „unwissenschaftlich“, zu wenig systematisch, zu wenig analytisch eben. Dies schuldet sich u. a. wohl der nicht zu leugnenden Tendenz ihres Schulengründers, normativ und in Begriffsbestimmungen eher großzügig zu sein. Tatsächlich bekommt man bei der Lektüre Adlers immer wieder an manchen Stellen den Eindruck, es genüge, die KlientInnen über ihren „Irrtum“ aufzuklären, aufgrund dessen sie sich für die „sozial unnützliche“ Seite entschieden hatten (und dann vielleicht noch dafür zu sorgen, dass sie fürderhin auf der sozial nützlichen Seite verbleiben), um menschliches Leid ein für alle Mal der Vergangenheit angehören zu lassen. Nun hat zwar Adler in Abhebung zur Frühzeit der Psychoanalyse nicht nur der Dominanz des Es den Eigenwert des Ich entgegengestellt, sondern auch der von Freud ausgehenden „pessimistischen“ Sicht auf den Menschen (inklusive der Charakterisierung des Unbewussten und des Es als „böse“) die Kreativität (die im Konzept der „Schöpferischen Kraft“ in der modernen Individualpsychologie immer wieder aufgegriffen wird 8 (s. z. B. Bruder-Bezzel 2001)) und die konstruktive Kraft der „dunklen“ Bereiche des Individuums – zwei Positionierungen, die dann in der Selbstpsychologie und allgemein humanistischen Therapierichtungen ausgebaut und in Theorie und Praxis wirksam wurden. Seine rastlose Vortrags- und Reisetätigkeit und sein nahezu missionarischer Eifer prägte aber auch viele seiner Schriften und einen Großteil seiner theoretischen Arbeit. Un8
Anne Marie Schlösser und Alf Gerlach haben 2001 einen bemerkenswerten HerausgeberInnenband zum Thema „Kreativität und Scheitern“ (Schlösser u. Gerlach 2001) vorgelegt, in dem unter verschiedensten Aspekten AutorInnen unterschiedlicher Richtungen ein buntes Spektrum dessen vorlegen, was in diesem Kapitel als die „Fragilität der therapeutischen Praxis“ thematisiert wird. Die analytische Befassung mit künstlerischen Prozessen (s. d. a. die Fallbeispiele in Kap. 6.3) ist hier ein besonders fruchtbarer Boden für die Bearbeitung dieses Themas (s. z. B. Soldt 2007).
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ter anderem ist es wohl diesen Aspekten geschuldet, dass sich auch Versionen der Individualpsychologie entwickelten, die tatsächlich hauptsächlich „an der Oberfläche“ arbeiten und hier oft programmatisch mit Ich-Stärkung und Lebensberatungsstrategien auszukommen vermeinen. Diese Gefahr, Adlers überkommene Polemiken gegen Freuds Positionen zu übernehmen, und damit auf eine weiter voranzutreibenden Systematisierung individualpsychologischer Theoriebildung entwicklungshemmend zu wirken, formuliert wohl Eva Presslich-Titscher am markantesten, wenn Sie prägnante Zitate gegenüberstellt: „. . . Vergangenheitsbewältigung tut Not, zumal sie uns helfen könnte, den Stellenwert klassischer psychoanalytischer Konzepte unter heutigen Gesichtspunkten neu zu bewerten. Immerhin kam unser Schulengründer zu der Überzeugung, der Individualpsychologie komme „wie ein Segen zu Hilfe, dass sie als erste psychologische Schule mit der Annahme von inneren Kräften (Instinkten, Trieben, Unbewusstem, etc.) als irrationalem Material gebrochen hat.“(Adler 1937/1974, S. 163) Wahl . . . , der an diese Charakterisierung der Individualpsychologie erinnert, fragt mit Befremden: „Das soll ein Segen für die Individualpsychologie sein, dass sie mit der Annahme von inneren Kräften, den Instinkten, den Trieben und dem Unbewussten als irrationales Material gebrochen hat?“ (Presslich-Titscher 2006, 147). Gerade die „Annahme von inneren Kräften, den Instinkten, den Trieben und dem Unbewussten als irrationales Material“ ist notwendig, um sich die Dichte von Spannungen erklären zu können, die sich zeitweilig zu nahezu unaushaltbarer Intensität steigern, die heftigen affektgeladenen Zustände, deren Klärung sich oft über Jahre erstrecken, und die über lange Strecken nicht verstehbaren Leidenszustände, die sich in einem Raum abspielen, wo von außen gesehen nichts anderes passiert, als das zwei Menschen miteinander reden, wobei der eine entspannt auf einer Couch liegt und der andere freundlich zugewandt dahinter sitzt. Individualpsychologische AnalytikerInnen erleben in der extremen Verdichtung der direkten und unverstellten Begegnung (die keinen anderen Zweck hat, als die gesamte Individualität der Klientin bzw. des Klienten, die in eben dieser Begegnung aktiviert wird, konzentriert und unabgelenkt erleben zu können) die volle Bedeutung dessen, was den „Homo Psychoanalyticus“ (Pontalis, 1974, 98) als „tragischen Menschen“ (Roudinesco 2002, 132 ff.) in seiner Ganzheit ausmacht: Ambivalenz und Konflikt, Mehrdeutigkeit und Paradoxie. Um diese Dimensionen ausloten zu können, die die alltägliche therapeutische Arbeit dominieren und die „absolute Fragilität“ (Burda 2010) unserer Phantasmen bedingen, dem „in unlösbaren Widersprüchen und Antinomien verfangenen Menschen“ (Mentzos 2009, 282) mit geschickter Handhabung unseres therapeutischen Instrumentariums durchleuchten zu können, müssen wir einiges aus dem bisher gesagten zusammenfassen und einiges vorwegnehmen (Abb. 1). Wenn wir mit dem späten Freud (der Adler in vielen Aspekten wieder nähersteht) von zwei antagonistischen Grundenergien im Menschen ausgehen, und die eine wie Freud aus verschiedenen systematischen Blickpunkten als „Libido“ oder als „Eros“
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2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie
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Entwicklungsbefördernde Kontinuität/Wechsel-Kombinationen urc
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Abb. 1 Entwicklungsbefördernde und entwicklungshemmende Kontinuität/Wechsel-Konstellationen in der Verschränkung „erhaltender“ und „auflösender“ Impulse
oder als „Sexualtrieb“ bezeichnen und die andere als „Destrudo“ 9 bzw. „Thanatos“ oder „Aggressionstrieb“, können wir das stete Streben des Menschen nach Vermehrung der Lust und Verringerung der Unlust (die Freud betonte) ebenso wie das Stre9
Dieser Begriff wurde 1935 vom Freud-Schüler Eduardo Weiss geschaffen, man findet ihn selten in psychoanalytischen Publikationen, gleichwohl kennzeichnet er sehr prägnant sowohl die direkte Antinomie zu „Libido“ als auch den hier hervorgehobenen „auflösenden“ Charakter der aus dieser Energiequelle stammenden Impulse. „De-struere“ bedeutet wörtlich ab-bauen, und zwar im Sinne von „zugrunde richten“, was wiederum auf Freuds ursprüngliche Bedeutung des Todestriebes verweist, nämlich jene, in der dieser Trieb darauf ausgerichtet ist, in letzter Konsequenz alles wieder in den jeweiligen „Urzustand“ zu versetzen, im Sinne des paraphrasierten Goethe-Wortes: Ich bin der Trieb, „der stets verneint – und das mit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“. Während also das durch den Einsatz von Libido zu erreichende „Ziel . . . ist, immer größere Einheiten herzustellen und so zu erhalten , also Bindung, [ist es] das Ziel des anderen im Gegenteil, Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören. Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, daß als sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand zu überführen.“ (Freud 1940a, 17 f.). Die hier angezogene Parallelisierung folgt einer Systematik, die Michael Hasenfratz am kompaktesten herausgehoben hat: „zwei Grundtriebe des Menschen, Eros und Thanatos, mit ihren Energien Libido und Destrudo“ (Hasenfratz 2003, 309). Die dritte Parallelisierung „Sexualtrieb ⇔ Aggressionstrieb“ markiert darüber hinaus den historischen Aspekt, da Freud den Sexualtrieb zunächst als einzigen Grundtrieb postulierte, und die Auseinandersetzung mit Adler vor allem an dessen Postulierung des „Aggressionstriebes“ als „zweiten“ Grundtrieb entbrannte, der damit die „Machtstellung“ des Sexualtriebes relativierte.
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ben nach Sicherung des Selbstwertgefühls vor Gefühlen der Minderwertigkeit (die Adler betonte) als etwas verstehen, das im Spannungsfeld ebenjener zwei Energiequellen steht, aus denen prinzipiell gegenläufige Impulse entstehen (ich kann etwas nicht gleichzeitig erhalten und auflösen, ich kann mich nicht gleichzeitig binden und trennen usw.). Da von der Grundkonzeption diese zwei Energiequellen gleichrangig und gleichwertig angelegt sind, da also nicht die eine der anderen untergeordnet sondern stets beigeordnet ist 10 , und nachdem keine der beiden jemals vollkommen versiegen oder letztgültig über die andere obsiegen kann 11 , stehen immer beide in ihrer Verschränkung als Ressource für den Erfolg des eben genannten Strebens (nach Vermehrung der Lust und Verringerung der Unlust und nach Erhöhung des Selbstwertes bzw. zur Verringerung von Minderwertigkeitsgefühlen) zur Verfügung: Wir alle wissen aus ureigenster und lebenslanger (aber nur teilweise „geouteter“) Erfahrung, dass sowohl erhaltende, verbindende, „liebevolle“ Aktivitäten Lust wie Unlust und Selbstsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle erzeugen können, als auch auflösende, zerstörende, „hasserfüllte“! Geht man von Freud und diesen ersten Annahmen aus, so ergibt die Richtung, in der die Verschränkung 12 der beiden Grundenergien 13 aktiviert werden kann, eine 10 Diese Überlegungen folgen einer Konzeption des Adler’schen Aggressionstriebes, die seine ursprünglichen Ansätze dazu enthält, wie er sie 1908 deklariert und später wieder in der Phase der destruktiven und selbstbehindernden Polemisierung der „Freud’schen“ Psychoanalyse wieder zurückgenommen hat: „die treibende Kraft stammt aber bei Gesunden, Perversen und Neurotikern offenbar aus zwei ursprünglich gesonderten Trieben, die späterhin eine Verschränkung erfahren haben, derzufolge das [. . . ] Ergebnis zwei Trieben zugleich entspricht, dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb“ (Adler 1908b, 66). Hier interpretiert er Aggression nicht nur reaktiv, sondern behauptet, das destruktive Impulse, eben solche, die auf „Trennung und Auflösung“ gerichtet sind, von Anbeginn des Lebens an aktiv seien. Damit kann er in die Nähe zu Melanie Kleins Grundposition gestellt werden, was in der modernen Individualpsychologie z. B. von Eva Presslich-Titscher (2008) und Peter Zumer (2008) nahegelegt wird. 11 Dass dies ein unaufhebbarer Bestandteil der conditio humana ist, wird mittlerweile auch in den Naturwissenschaften anerkannt, wenn beispielsweise Maryanne speziell in der Hirnforschung, wenn Maryanne Wolf den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung, dass die derzeitige Kapazität unseres Gehirns von 1016 bis 1019 Berechnungen pro Sekunde sich in absehbarer Zeit auf 1060 steigen wird, und dass wir uns noch gar nicht vorstellen können, was das für die Zivilastion bedeuten wird, den lapidaren Satz entgegenhält: „Dass unsere guten und destruktiven Anteile ebenfalls exponentiell zu nehmen werden, können wir uns dagegen sehr wohl vorstellen.“ (Wolf 2010, 250) 12 Das war Adlers ursprüngliches „Angebot“ an Freud gewesen: Im ersten Anlauf ging es ihm noch nicht darum, die Dominanz des Sexualtriebes durch die Dominanz eines neuen anderen Triebes, also in diesem Fall des Aggressionstriebes zu brechen, sondern eine „Verschränkung“ der beiden zu postulieren. Dies wies Freud zunächst zurück, wohl um die Alleinherrschaft des Sexualtriebes besorgt, griff aber später selbst den Grundgedanken der „Verschränkung“, der als erstes von Adler eingebracht worden war, wieder auf. 13 Ob es sich tatsächlich um zwei Grundenergien handelt, ob also Freud in der Annahme eines Todestriebes beizupflichten sei, ist nach wie vor umstritten. Die hier vertretene Annahme einer in der conditio humana eingeschriebenen Polarität erhaltender und auflösender Grundenergien, die mit der Todestriebkonzeption Freuds korrespondiert, wird allerdings nicht aufgehoben durch die Tatsache, dass z. B. Selbstzerstörung, wie sie sich im Suizid manifestiert, immer auch als reaktives Geschehen deutbar ist, wie viele KritikerInnen betonen (s. z. B. Battegay 1999).
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2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie
weitere Differenzierungsmöglichkeit, die sich durch die Verbindung mit einem Interpretationsansatz des „Aggressionstriebes“ ergibt, in dem die von Adler hervorgehobene wörtliche Bedeutung von „Aggression 14 “ in den Vordergrund gestellt wird: das „Herangehen“, im Gegensatz zur „Vermeidung“. Somit ergibt sich, wie in Abb. 1 dargestellt, eine mehrdimensionale Matrix der Verschränkungsergebnisse zwischen den auf Kontinuität und den auf Wechsel ausgerichteten Impulsen. Diese soll eine differenziertere Erfassung und Beurteilung der jeweiligen „Lebensbewegungen“ der am analytischen Prozess Beteiligten ermöglichen – inmitten der durch Antinomien und Widersprüchlichkeiten gekennzeichneten und daher an der Oberfläche oft schwer nachvollziehbaren jeweiligen Lebensstilmanifestationen. Eine solche differenzierte Erfassung wird ja immer wieder dann dringend notwendig, wenn wir z. B. die Sinnhaftigkeit bestimmter Wünsche von KlientInnen oder auch AusbildungskandidatInnen nach „Wechsel“ (der Settingbedingungen bei KlientInnen, des Lehranalytikers bzw. der Lehranalytikerin, der Ausbildungsgruppe o.ä. bei AusbildungskandidatInnen) prüfen müssen. Wie wir im Abschnitt „Individualpsychologische Entwicklungstheorien“ sehen werden, gehört zur Ausbildung einer tragfähigen Identität auch das Gefühl von „Selbst-Wirksamkeit“ 15 , also das Erleben, das die eigenen Entscheidungen zur Gestaltung des Lebenslaufes ohne unlösbaren Konflikt mit den Anforderungen des Gemeinschaftsgefühls aus eigener Kraft und Kompetenz heraus realisiert werden können. In dieser Systematik wird also einerseits zwischen „entwicklungsbefördernden“ und „entwicklungshemmenden Kontinuität/Wechsel-Kombinationen“ unterschieden. Andererseits werden sowohl „Kontinuität“ als auch „Wechsel“ als Möglichkeiten angesetzt, die prinzipiell sowohl durch „Herangehen“ als auch durch „Vermeiden“ realisiert werden können. „Erhaltung“ kann also sowohl dadurch realisiert werden, dass ich aktiv Bindungen herstelle als auch dadurch, dass ich ganz bestimmte Entscheidungen, die eine „Erhaltung“ unmöglich machen würden, nicht treffe, also „vermeide“. Adler hat hier eine eigene spezifische Form der „entwicklungsverhindernden Aggressionshemmung“ markiert, und zwar mit dem Begriff der „zögernden Attitüde“. Inwiefern diese eine Entwicklungshemmung bedeutet, lässt sich an diesem Ausschnitt aus einer Falldarstellung Adlers illustrieren, in der er die zögernde Attitüde eines Siebzehnjährigen in direkte Verbindung mit der Entwicklungsaufgaben von aktiven Lösungen der „Lebensprobleme“ bringt: „Die Einstellung des Patienten dem Leben gegenüber bestand im Zögern. . . . er konnte sich überhaupt nicht entschließen, was er nach dem Schulabgang tun solle. 14 Diese liegt in der Verbindung der Vorsilbe „ad“ („an etwas heran“) und dem Verb „gredior“ (das nur als compositum (hier mit „ad“) vorkommt), das „gehen, schreiten“ bedeutet. 15 Zur psychotherapierelevanten Verbindung zwischen Selbstwirksamkeitserwartungen und Gesundheit siehe z. B. Pervin, Cervone und John 2005.
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Er suchte keine Freunde . . . und er fürchtete sich vor sexuellen Kontakten. . . . All dies läßt typische Unentschlossenheit . . . hinsichtlich der drei Lebensprobleme erkennen: Gemeinschaft, Beruf und Liebe“ (Adler 1929, 23). Betrachten wir dies sowohl unter dem Aspekt der oben genannten „Verschränkung“ (von auflösenden und erhaltenden Impulsen), als auch bezüglich der Frage nach dem entwicklungsbefördernden oder entwicklungshemmenden Effekt und darüber hinaus unter dem individualpsychologischen Aspekt der Finalität, so kann dieses (wie jedes andere) „Zögern“ prinzipiell zwei grundlegenden Zielen (nämlich der „Kontinuität“ oder dem „Wandel“) dienen, deren Verfolgung wiederum zwei grundlegend unterschiedliche Ergebnisse zeitigen können: Fortschritt oder Rückschritt, Entwicklungsbeförderung oder Entwicklungsbehinderung. Um Errungenes zu sichern, müssen wir manchmal energisch auftreten, manchmal uns „verbindlich“ geben. Um Neues zu schaffen, benötigen wir manchmal aggressive Durchsetzungskraft (um z. B. Behinderndes aus dem Weg zu räumen), manchmal stützende und haltende Kompetenzen um „Geburtshilfe“ leisten zu können. Aber genauso kann der aggressive Einsatz von Kraft beginnende Entwicklungen abstoppen, indem er Brücken abbricht und Errungenes vernichtet. Ebenso kann aber auch die Quelle, die auf Kontinuität ausgerichtete bindende und erhaltende Impulse aussendet, Weiterentwicklungen behindern: Adlers Betonung der neurotisierenden „Kraft“ von Verzärtelung und Überbehütung können als Beispiele dafür dienen. In Verbindung mit dem Lust/Unlust-Prinzip (Lust anstreben, Unlust vermeiden) und jenem der Selbstwertsicherung (Selbstwerterhöhung anstreben, Selbstwertminderung vermeiden) bedeutet dies: beides kann in einem „Herangehen“ ebenso realisiert werden wie in einem „Vermeiden“ – wir können Lust ebenso wie Unlust sowohl im aktiven Zupacken wie im passiven Verharren erleben und wir können in beidem Erhöhung oder Absinken unseres Selbstwertes erleben. In diesen Polaritäten, „aktiv-passiv“ bzw. „herangehend-vermeidend“ etc. gründet letztlich das, was Adler von Anfang an mit der Einführung seines „Aggressionstriebes“ erreicht hat: wir können seitdem erkennen, dass das Überwiegen der Energie der Libido oder aber jener der Destrudo noch nicht entscheidet, ob wir uns einem Anlass gegenüber aktiv oder passiv verhalten, ob wir „es angehen“ oder ob wir „lieber abwarten“. Wir können töten, indem wir zustechen oder Hilfe verweigern, also ob wir „aktiv“ oder „passiv“ sind, und wir können Leben retten, indem wir im richtigen Moment Gas geben oder auf die Bremse treten usw. Unter dem Entwicklungsaspekt (s. d. a. Kap. 2.2) betrachtet, können wir daher auch „Progression“ und „Regression“ als Widerspiel von „Aggression(= aktiv Herangehen)“ und „Vermeidung“ erkennen. Dabei ist das kurzzeitige Auftauchen weder des einen noch des anderen absolutes Kennzeichen von „Gesundheit“ oder „Krankheit“. Wir alle regredieren tagtäglich, wenn wir von der „progressiven“ Tätigkeit des Arbeitens am Abend uns in die Wohligkeit des warmen Sofas, die Versorgtheit mit dem wohlschmeckendem Essen und Trinken und der intellektuellen Unterbietung unseres Entwicklungsstandes durch die Lektüre seichter Literatur oder dem Kon-
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2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie
sum von amerikanischen Sitcoms entspannen. Und wir alle kennen in unseren Analysen auch in langen und zermürbenden Phasen, in denen wir keinerlei progressive Tendenzen ausmachen können, die kurz aufflackernden „hellen Momente“ progressiver Bewegungen, die sofort wieder von regressiv verharrenden verdrängt werden. Es geht in der oben gezeigten Abb. 1 nicht um kurzzeitiges Auftauchen progressiver oder regressiver 16 Aktivitäten, sondern nur um die Richtungen des jeweiligen Prozesses selbst. Und wenn wir dann zwischen einem progressiven und einem regressiven Prozess unterscheiden, sind beide Ergebnis einer Verschränkung von Libido und Destrudo: um neue Fähigkeiten und in progressiven Entwicklungsbewegungen innere Strukturen aufbauen zu können, muss ich sowohl alte Konflikte auflösen (Wechsel durch „Herangehen“ im Einsatz der auf „Trennung“ und „Auflösung“ gerichteten Impulse) als auch gleichzeitig meine Identität erhalten können (Kontinuität durch „Herangehen“ im Einsatz der auf „Bindung“ und „Erhaltung“ ausgerichteten Impulse), muss also das eine „zerstören“ und das andere „bewahren“! Und wenn ich Abbau meiner Fähigkeiten und Strukturen betreibe, meine bereits realisierbaren Möglichkeiten unterbiete und in „alte schlechte Gewohnheiten“ „zurückfalle“, dann zerstöre ich meine Zukunft (Auflösungsimpulse) ebenso wie ich meiner Vergangenheit „treu“ bleibe (Erhaltungsimpulse). Eine Klientin, die in einer langjährigen Analyse den Missbrauch durch ihren Vater aufzuarbeiten versuchte, verfiel auch nach Jahren der harten Arbeit immer wieder in bestimmte „alte Übertragungsmuster“. Erst als sie bewusst zu spüren beginnen konnte, dass dies einer inneren Tendenz geschuldet war, die sie unbewusst dem gehassten und in jeder Hinsicht zerstörerische Wut in ihr auslösenden Vater „in Treue“ verbunden sein ließ, erst als sie gewahr werden durfte, dass sie so etwas wie einen unbewussten „Pakt“ mit ihm eingegangen war, den sie auf keinen Fall brechen durfte 17 , konnte erneut ein progressiver Prozess in Gang gesetzt werden. 16 Während ich an diesem Text schreibe, kommt meine vierjährige Tochter Lili in mein Arbeitszimmer. Sie sieht meine mit einem „Original“-Micky-Mauskopf verzierten „PEZ-Spender“ (eine limited edition dieses Kinderspielzeuges für Nostalgiker), und fragt mich ob ich sie noch brauche. Ich bejahe vehement, worauf sie aufmerksam fragt: „Was, soo lange? Bis Du wieder klein bist?“ Während ich herzlich lachen muss, dämmert mir der tiefe Sinn ihrer Formulierung: Regressive Tendenzen finden nie letzte Erfüllung, weil man „soo lange“ das Ziel des wieder Zurückkehrens in den kindlichen Zustand verfolgen muss, und es doch nie erreichen kann. Die kindliche Unorthodoxie ihrer Formulierung kennzeichnet sehr prägnant die Paradoxie des „neurotischen Irrtums“ und dessen irrationale Details: Die Vorwärtsbewegung des menschlichen Lebens ist nicht umzukehren, deswegen (hier die Paradoxie!) versucht der Neurotiker so lange zu seinem „Vergangenheitsbild“ unterwegs zu sein, um im unveränderlichen Vorwärtsgehen wieder an den Anfang seines Weges zu kommen, ignorierend, dass er mit jedem Schritt weiter weg von seinem „irrtümlichen Ziel“ kommt. Wir haben uns dann den Gebrauch des Micky-Maus-PEZ-Spenders lustvoll geteilt. 17 Wie verzweifelt die Situation von Kindern ist, die einem sowohl missbrauchenden als auch in seinem Wechsel zwischen zärtlicher (aber eben sexualisierter) Zuwendung und zynischdemütigender Verachtung unberechenbaren Vater ausgeliefert sind, zeigen die PionierInnen der
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Die oben angesprochene Frage einer notwendigen Prüfung von „Wechsel“ im Sinne von Veränderung der Settingbedingungen in individualpsychologischen Analysen betrifft genau die in diesem Kapitel angesprochene „Fragilität“ einer Gratwanderung psychoanalytisch-individualpsychologischen Handelns und Entscheidens, die zwischen Kreativität und Disziplin angesichts von Ambivalenzen, Konflikten, Mehrdeutigkeiten und Paradoxien in der durch Antinomien und Widersprüchlichkeiten geprägten menschlichen Natur in jedem Moment verantwortlich vollzogen werden muss. Und die Entscheidungen sind oft nicht leicht zu fällen (und oft noch schwerer rational zu legitimieren), denn sowohl positive Weiterentwicklung als auch Stagnation können durch „Kontinuität“ oder durch „Wechsel“ erreicht werden: Mit Frau A. O. begann die Analyse in einem Setting, das sowohl eine Frequenz von drei Stunden in der Woche einschloss – als auch die Tatsache, dass sie in diesen Stunden auf der Couch lag. Das führte in kürzester Zeit zu einem besorgniserregenden Phänomen: Sobald sie sich auf die Couch legte, erstarrte sie zusehends und verlor jegliche körperliche, aber auch sprachliche Beweglichkeit. In dieser ersten Zeit hatte ich noch keine Kenntnis von dem verheerenden Vernichtungskrieg, den ihr Vater gegen sie geführt hatte, es entstand aber mit der Zeit in mir ein Bild in der Gegenübertragung, das immer unabweislicher und intensiver wurde: Immer wieder hatte ich das Gefühl, ihr „Henker“ zu sein. Doch es schien so, als ob kein Henker hier seine Tätigkeit mehr ausüben konnte: Ihr „Totstellreflex“ führte so weit, dass sie wie leblos wirkte – und eine Tote kann man nicht mehr töten. Erst im Laufe der Jahre kristallisierte sich dieser zentrale Aspekt ihres Lebensstils heraus: Jeder auch nur vermutete Vernichtungskrieg sollte bei ihr ins Leere treffen – denn sie war ja bereits Nichts. Nachdem klar war, dass die Symptome sich von Stunde zu Stunde verschlimmern würden (sie war in diesem Zustand wirklich „totenbleich“ und beim Verabschieden am Ende der Stunde fühlte ich jedes Mal, dass ihre Hand eiskalt und starr war), gab es nur eine Alternative: Abbruch – oder ein Wechsel des Settings. Ich war zunächst unsicher, wie ich ihr weiter helfen könne, erkannte nur sehr deutlich, dass ein Beharren auf dem Couch-Setting in diesem Fall die Problematik nur unproduktiv verschärfen würde. Nach einiger Zeit, in der wir uns beide mit dieser Sachlage konfrontierten und nach Lösungen suchten, bot sie mir schließlich einen „Kompromiss“ an, den ich letztlich als sinnvoll empfand: Für die nächsten zwei Jahre sah daraufhin das Setting so aus: Ich blieb, wo ich war, nämlich sitzend in meinem Mentalisierungsforschung Gergely, Fonagy und Target in ihren differenzierten Überlegungen zu den Verbindungen zwischen Bindung, Mentalisierung und der Ätiologie der BorderlinePersönlichkeitsstörung sehr eindrücklich (Gergely, Fonagy u. Target 2005, 227 ff.). Kompliziert werden diese inneren entwicklungshemmenden Prozesse noch durch die individualpsychologisch besonders relevante Tatsache, „dass das Opfer den eigenen Körper zu einem Nicht-Selbst macht, um ein Objekt zu haben, über das es nun seinerseits Macht bekommt und welches es behandeln und misshandeln kann, und zwar in einer grandiosen nachahmenden Identifikation mit dem Aggressor“ (Hirsch 2010, 23).
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Sessel hinter der Couch – und sie stand an der gegenüberliegenden Wand, so nahe neben der Türe, dass sie mit einem Griff die Türklinke erreichen und damit „den Fluchtweg sichern“ konnte. Es ist klar, dass mich dieses Setting in meiner professionellen Identität verunsicherte. Weder in meiner Ausbildung, noch in den Jahren meiner Praxis hatte ich je davon gehört, dass man in einer solchen Situation eine Analyse führen könne. Ich hatte zwar das Gefühl, dass sich dadurch nichts an meiner analytischen Grundhaltung geändert hatte, aber was den anerkannten Kanon der analytischen Settings anbelangte, war ich mir nicht so sicher, ob das noch eine Analyse sein konnte 18 . Gleichzeitig war mir klar, dass der von ihr angebotene Kompromiss die einzige Chance war, weiter therapeutische Hilfe anbieten zu können – von der immer deutlicher wurde, wie sehr sie diese wünschte. In den folgenden Jahren kam es noch mehrmals zu einem Wechsel des Settings. Das Kriterium dafür war stets, ob wir beide zu der Ansicht kommen konnten, dass der jeweilige Wechsel Möglichkeiten zur Weiterentwicklung für sie enthielt, die im vorhergehenden nicht mehr ausgeschöpft werden konnten. In den oben beschriebenen Szenen sehen wir alle vier möglichen Kombinationen zwischen „entwicklungsbefördernden“ und „entwicklungshemmenden“ Entscheidungen auf der einen Seite und „Kontinuität“ und „Wechsel“ auf der anderen Seite: • „entwicklungshemmende Kontinuität“: Das Beharren auf dem Couch-Setting führte zu vollkommener „Erstarrung“ • „entwicklungsfördernde Kontinuität“: Das Aufrechterhalten der therapeutischen Grundhaltung und der Analyse selbst ermöglichte überhaupt erst die Entwicklungen der darauffolgenden Jahre • „entwicklungshemmendender Wechsel“: Der Wechsel vom sitzenden „Erziehungsberatungssetting“ in das „Couch-Analyse-Setting“ löste die Regression aus, die in diesem Fall eine destruktives Ausmaß annahm • „entwicklungsfördernder Wechsel“: Erst der „Standort-Wechsel“ initiierte progressive Entwicklungen 19 . Erst vor dieser Folie wird sowohl das, was Adler mit dem so problematischen Ausdruck „sozial nützlich“ bzw. „sozial unnützlich“ belegt hatte, als auch seine Rede vom „irrtümlichen Ziel des Neurotikers“ differenziert versteh- und umsetzbar:
18 Mir schwebten Aussagen klassischer Analytiker im Kopf herum wie jene von Leo Stone: „Die rigide Strenge der analytischen Situation ist subtil, kumulativ und [. . . ] außerordentlich wirksam“ (Stone 1973, 24), oder von Harold Stern: „Die fortgesetzte Verwendung der Couch in der Behandlung beruht auf wissenschaftlichen Anhaltspunkten, daß sie für den Patienten wie für den Analytiker entscheiden von Vorteil ist“ (Stone 1988, 77). 19 Siehe dazu auch Heisterkamps Ausführungen zum „Umgang des Analytikers mit passageren Überschreitungen des Settings durch den Patienten“ (Heisterkamp 1998).
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Im „sozial Nützlichen“ verschränken sich „bewahrende“ und „auflösende“ Impulse in der Hingabe an Entwicklung, die positive Veränderung zum Ziel hat, indem Kontinuität und Wechsel entwicklungsfördernd kombiniert werden. Das „irrtümliche Ziel“, das „sozial unnützliches“ beinhaltet, liegt in einer „Fehlanpassung“: die Klientin verhielt sich in der Übertragung mir gegenüber so, wie sie sich dem Vater gegenüber verhalten hatte, nämlich in einer Art Totstellreflex, der ihr in der Kindheit tatsächlich ermöglicht hatte, damals unaushaltbare und unverarbeitbare Konfrontationen zu vermeiden. Hinter ihr saß jedoch diesmal nicht ihr „Henker“, sondern ihr Analytiker, der deklariertermaßen dazu da war, ihr „zu ihrem Recht“ zu verhelfen, dass ihr Vater ihr damals verweigert hatte, nämlich jenes auf eine eigene und eigenständige Existenz in einer Beziehung. Das nicht realisieren können dieser Situation war insofern „sozial unnützlich“, als wir beide damit die Ressourcen dieser Situation nicht nutzen konnten 20 . In ihrer regressiven Leichenstarre verbanden sich ebenfalls erhaltende und auflösende Impulse, aber indem sie die Beziehungsform zu ihrem Vater aufrechterhielt und die erkenntnisfördernde Funktion des Couch-Settings auflöste, betrieb sie durch ihre spezielle Art der Passivität und Vermeidung Abbau vorhandener Ressourcen 21 , (sie verlor nicht nur ihre vorhandene Fähigkeiten sich zu bewegen sondern auch zu reden oder auch nur zu denken) und bewegte sie sich in diesem Sinn auf der „sozial unnützlichen“ Seite des Lebens. Das gesamte Geschehen, dessen wir in der Praxis gewahr werden, ist also gekennzeichnet durch eine unauflösliche Verschränkung von bewahrenden und zerstörenden Energien in einander ständig abwechselnden aktiv-progressiven und passivregressiven Bewegungen, die einander bedingende Kontinuitäten und Wechsel erzeugen. Diese „Basis-Struktur“ des analytischen Prozesses ist der Grund, warum wir es unabhängig von „Erfolg“ oder „Misserfolg“ unseres analytischen Tuns immer mit Ambivalenz und Konflikt zu tun haben: jede unserer Wahrnehmungen und Handlungen ist ja ein Produkt der Verschränkung erhaltender und zerstörender Energien. Wenn ich sage: „meine Beziehung zu S. ist ambivalent“ drücke ich nur eine 20 Über das „Schicksal unerträglicher Affekte in der Übertragung“ entscheidet dann eben die Tiefe des Verständnisses von Gemeinschaftsgefühl in Situationen, „in denen der Analytiker dann nicht mehr als hilfreich, sondern als die eigentliche Bedrohung empfunden wird und er und die Analyse als Feind bekämpft werden. Die Analyse wird zum Schauplatz eines Kampfes um Leben und Tod, um Rettung und Zerstörung. Trotzdem kann sie nicht aufgegeben werden, da sie lebenswichtig geworden ist. Die analytische Situation selbst mit ihrer Möglichkeit der Reflexion schwebt in Gefahr. Auch im Analytiker werden dann Gefühle lebendig, die er nur schwer ertragen kann. Er fühlt sich inkompetent, zweifelt die Eignung seines Patienten für eine Analyse an und die eigene Befähigung, oder er hadert mit seiner Methode und beginnt, nach Modifikationen zu suchen. Unseres Handwerkzeuges beraubt, geraten wir selbst wie unser Patient in einen Zustand der Hilflosigkeit und der Wut. Diese Reaktion läßt sich jedoch [. . . ] als eine weitere unbewußte Manifestation einer Übertragungsbeziehung verstehen, in der es um die Frage geht: Kann der Analytiker Unerträgliches in sich aufnehmen und es ertragen, oder weist auch er es zurück?“ (Focke 2004, 227). 21 Dabei ist nicht entscheidend, ob vordergründig hier einem Einzelnen oder einer Gruppe „Nützliches“ oder „Unnützliches“ angetan wird, den in beiden Fällen geht es um die „Gemeinschaft sub specie aeternitatis“.
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2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie
conditio sine qua non jeder Beziehung zwischen Menschen aus. In der Vielschichtigkeit meiner Bedürfnislagen bedeutet jede Aktivität meines Gegenübers die Erfüllung (mindestens) eines Bedürfnisses und die Frustration (mindestens) eines anderen. So wie jede Entscheidung zu einem Gegenüber hin die Entscheidung von einem anderen Gegenüber weg bedeutet. Mit jeder Entscheidung, in der ich mir eine Möglichkeit der Realisierung meiner Wünsche eröffne, verschließe ich mir damit andere. Damit ist aber auch die unvermeidliche Konflikthaftigkeit aller unserer Wahrnehmungen und Handlungen gegeben: Wenn Konflikt bedeutet, dass zwei Kräfte so ausgerichtet sind, dass sie nicht gleichzeitig ans Ziel gelangen können, weil sie einander „im Weg stehen“, also gegenläufig ausgerichtet sind, ist all mein Handeln im ersten Anheben konfliktgeladen: Libido und Destrudo sind a priori gegenläufig. Ich kann etwas nicht gleichzeitig zerstören und bewahren, obwohl alles immer den Anlass zu Erhaltung und Zerstörung gleichzeitig bietet (da es immer gleichzeitig Aspekte enthält, die der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse entgegenstehen und solche, die der Befriedigung bestimmter anderer Bedürfnisse potentiell dienen). Damit ist auch all unser Tun mehrdeutig: Wenn wir mit jeder unserer Aktivitäten gleichzeitig (das eine) erhalten und (das andere) zerstören, gleichzeitig (das eine) vermehren und (das andere) verminderen, gleichzeitig Kontinuität (im einen) und Wechsel (im anderen) betreiben, gibt es immer mehrere Deutungsmöglichkeiten für jede unserer Handlungen. Nicht umsonst gilt für viele AnalytikerInnen genau der im jeweiligen Lebensstil präferierte Umgang mit dieser unauflöslichen Mehrdeutigkeit menschlichen Tuns und mit genau diesem Paradoxon von ubiquitärer Ambivalenz und primärer Konflikthaftigkeit (obwohl alles gleichzeitig Anlass zu Erhaltung und Zerstörung bietet, kann ich nicht gleichzeitig etwas erhalten und zerstören) als diagnostisch bedeutsam. Der „neurotische Lebensstil“ ist sowohl geprägt von einer Art „Unproduktivität“ der Verschränkung der (zumeist unbewussten) Impulse der Erhaltung und der Auflösung, als auch auf eine Rigidität in der Anwendung der Impulse: Der ständige Versuch, Veränderungen aus dem Weg zu gehen und nur auf Passivität und Vermeidung zu setzen verhindert Weiterentwicklung ebenso wie ein ständige Verweigerung von Kontinuität, indem immer Wechsel gesucht und betrieben wird. Die Grundfrage, die sich allen Beteiligten in Erziehung, Partnerschaft und Therapie stellt und die – Adler folgend – „in Bewegung aufgelöst“ und damit stets neu und der Situation im Hier und jetzt gemäß beantwortet werden muss, ist also nicht, ob in den Handlungen der Beteiligten bewusst und unbewusst libidinöse oder aggressive, „erhaltende“ oder „auflösende“ Impulse enthalten sind (denn die Quelle beider Impulse, also Libido/Eros/Sexualtrieb und Destrudo/Thanatos/Aggressionstrieb sind immer beide enthalten), sondern lediglich ob das jeweilige zu beobachtende Resultat ihrer Verschränkung mehr entwicklungshemmende oder mehr entwicklungsbefördernde Anteile enthält. Doch das ist noch nicht alles, was die oben erwähnte „Fragilität“ der analytischen Praxis bedingt.
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„Unser bewusstes Ich ist die letzte Instanz, die erfährt, was in uns wirklich los ist.“ Diese markante Formulierung des amerikanischen Neurobiologen Michael Gazzaniga (zit. n. Roth 2001, 370) fasst pointiert den aktuellen Forschungsstand (s. d. a. Brigitte Sindelars Ausführungen zu „Neurowissenschaft und Individualpsychologie“ in diesem Band) zu diesem dritten Punkt zusammen: Die bewussten Entscheidungen, die wir treffen, sind immer ein Folgeprodukt sehr komplexer und vielschichtiger Prozesse, die sich unserem Bewusstsein entziehen. Wir können zwar im Nachhinein versuchen, unsere einzelnen Interventionen, die wir in jedem Moment der analytischen Praxis spontan generieren, zu re-konstruieren (und zu legitimieren), das ändert aber nichts daran, dass der allergrößte Teil der von uns als AnalytikerInnen (genauso wie der von AnalysandInnen) gesetzten (verbalen und averbalen) Handlungen nicht aus dem bewussten Bereich unserer menschlichen Existenz stammen, sondern aus dem unbewussten! Die hier angezogene Fragilität ergibt sich also auch aus dieser Tatsache. Denn aus der Verbindung welcher unbewusster Elemente unserer Persönlichkeit sich der jeweilige Akt (des Intervenierens, Deutens, etc.) ergeben hat, können wir nie letztgültig feststellen. Die „absolute Fragilität“ der analytischen Praxis ergibt sich also aus vier zentralen Grundgegebenheiten, die immer wirkmächtig sind und niemals ausgesetzt werden können: 1. Alles, was wir an uns und an unserem Gegenüber bewusst wahrnehmen, ist ein Bruchteil dessen, was unsere Ganzheit als Ich, als Du und als Wir ausmacht. Der größte Teil der inneren und äußeren Aktivitäten läuft auf einer Ebene ab, für die wir die verschiedenen Konnotationen des Terminus „Unbewusst“ einsetzen (s. d. Kapitel „Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten“). Von diesen haben wir keine bewusste Kenntnis und können daher auch nicht über sie verfügen 22 . 2. Wir können auch bei größter Empathie niemals vollständig die „Schranke der Alterität“ außer Kraft setzen. Die Fragilität der analytischen Praxis – auch und gerade wenn Sie Intersubjektivität in den Blick nimmt – entsteht auch aus dieser Tatsache, die in der Individualpsychologie wohl Gisela Eife am dichtesten in unseren Wahrnehmungsraum gestellt hat: „Unverfügbarkeit: Wenn ich diesen Aspekt [. . . ] der Intersubjektivität [. . . ] bedenke, dann erschöpft sich der ‚Andere‘ (Levinas) nicht in seiner Funktion für das Ich, nicht in der imaginären Spiegelung (Lacan). Der Andere entzieht sich einer vollständigen Einordnung in die Intentionalität meiner je eigenen Welt. 22 Schon seit langem ist in der Psychoanalyse die Annahme aufgegeben worden, dass „die durch Deutungen provozierten „Bewusstmachungen“ tatsächlich als ein „vor den Vorhang treten“ bereits vor der Deutung vorhandener psychischer Inhalte gesehen werden darf“ (Stephenson 1990, 86). Per definitionem sind unbewusste Inhalte nicht unmittelbar und direkt in unsere Verfügbarkeit zu übertragen, vielmehr sind unsere „Bewusstmachungen“ als „begründete (Re-)Konstruktionen“ anzusehen.
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2.1.4 Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie
Die Begegnung mit dem Anderen wird dann nicht nur als = ‚Vagina‘ Spiegelung verstanden. Vielmehr steckt in der Begegnung auch das ‚gegen‘, die Mangelerfahrung in der Begegnung, der Sand im Getriebe des Intersubjektivismus. Von daher lässt sich das Nichtwissen, die Andersheit, welche ‚die intersubjektive Sphäre des Du transzendiert‘ (Warsitz 2004, S. 804), als die ‚Unverfügbarkeit des Anderen‘ (Warsitz 2004, S. 784) fassen. Adlers Prinzip in dieser Weise verstanden stellt für mich Adlers wertvolles Vermächtnis dar“ (Eife 2005, 110 f.). 3. Jede Entscheidung der AnalytikerInnen etwas zu tun oder nicht zu tun, etwas in den Blick zu nehmen oder es auszublenden, ein Bedürfnis zu erfüllen oder nicht zu erfüllen, auf etwas zu reflektieren oder nicht, ist nicht nur niemals alternativenlos 23 , sondern weder in ihrer Herkunft noch in ihren Auswirkungen letztgültig zu bestimmen 24 . Daraus ergibt sich der Fragilitätsaspekt der unbewussten Determiniertheit unserer Handlungen, deren Gründe und Folgen weder unauslotbar noch verfügbar sind. 4. Es kann zwar immer wieder gelingen, die unauslöschbare Alterität und Differenz der am Prozess Beteiligten in der therapeutischen Kooperation zu kompensieren, wir entscheiden uns aber immer und in jedem Fall aufgrund von Apperzeptionen, die auf keiner der beiden Seiten vollkommen „untendenziös“ sein können. Das betrifft den Fragilitätsaspekt des menschlichen Lebens schlechthin, das subjektiv organisiert wird durch den Einsatz tendenziöser Apperzeptionen – die 23 Das betrifft den Aspekt der „multiplen Thematisierbarkeit“ psychoanalytischen Materials und steht in Verbindung mit spezifischen erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen bzw. Diskursen: „Multiple Thematisierbarkeit hängt zunächst mit der systematischen Möglichkeit, autopoietische Realität auf verschiedene Weise zu analysieren, zusammen – je nach Gewichtung der jeweiligen Dimensionen und Aspekte des Themas, nach Paradigmen und Prämissen, kann derselbe Sachverhalt unterschiedlich begriffen und kontextualisiert werden. Multiple Struktur erlaubt/verlangt multiple Thematisierung. – Dazu kommt, daß unterschiedliche Gegenstandsstrukturen nicht zugleich hinreichend differenziert symbolisiert werden können. Daher besteht ein Bedarf an begrifflicher Spezialisierung. Begriffliche Spezialisierung schließt jedoch aus, daß zugleich andere mögliche Perspektiven auf gleiche Weise behandelt werden. – Das bedeutet, daß verschiedene Theorien mit gleichem Recht angemessenen Gegenstandsbezug behaupten können. Deshalb gibt es nicht eine Theorie der Psyche, sondern viele, nicht eine Gesellschaftstheorie, sondern viele. Eines der damit verbundenen Folgeprobleme betrifft die Beurteilung. Die übliche Schematisierung wahr/falsch funktioniert hier nicht ohne weiteres. Zwar konkurrieren die verschiedenen Theorien und nehmen jeweils für sich Wahrheitswert in Anspruch, sie lassen sich jedoch nicht unmittelbar vergleichen und an gleichen Maßstäben messen. Das Problem der multiplen Thematisierbarkeit mündet gewissermaßen in das Problem der multiplen Legitimierbarkeit bzw. der Unmöglichkeit monologischer Evaluation. . . . Damit stellt sich eine Reihe von Problemen, die (so) in denotativen Symbolsystemen nicht auftauchen.“ (Schülein 1999, 59) Dies zieht eine Reihe von Folgerungen für die Eigenart psychoanalytischer Theorien und empirischer „Festschreibungen“ nach sich: „Dazu gehört zunächst das Problem des Gegenstandsbezuges der Theorie: Er ist notorisch instabil und uneindeutig“ (ebd., 58). 24 Dabei hat Britton ausführlich erläutert, inwiefern der Vorgang, im Zuge dessen „Analytiker eine intuitiv ausgewählte Tatsache verwenden, [. . . ] der Situation gefährlich ähnlich ist, in der sich aus einer überwertigen Idee eine wahnhafte Gewißheit herauskristallisiert“ (Britton 2001, 129).
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zwar manchmal in ihren rigiden „überbordenden“ Formen als jene markiert werden können, die den „therapiewürdigen“ KlientInnen zuzumessen sind, gleichwohl unausweichlich auch die Wahrnehmung von uns AnalytikerInnen prägt. Zusammengenommen bedeuten diese zwei Grundgegebenheiten, dass das, was anfangs durch die „ärztliche Autorität“ und deren Besitz des „objektiven“ Wissens sowohl um die treffende Diagnose als auch um die anzusetzende Therapie geschützt schien in einer ethischen Aporie endet, die darin besteht, dass wir nicht letztgültig sagen können, warum wir tatsächlich dies oder jenes am Klienten zu erkennen meinen noch warum wir im Moment diese und jene „therapeutische“ Handlung setzen 25 . Welche Haltung kann man als psychoanalytischer Individualpsychologe bzw. psychoanalytische Individualpsychologin gegenüber dieser Fragilität begründet einnehmen? Im folgenden Abschnitt soll am Beispiel einer Fallbeschreibung illustriert werden, inwiefern es möglich ist, über die Bewusstmachung der Omnipräsenz und Gleichzeitigkeit von erhaltenden und auflösenden Impulsen zu deren Akzeptanz zu gelangen und schließlich mit eben dieser Omnipräsenz therapeutisch arbeiten zu können. Ermöglichung einer „Lebendigen Ordnung“ durch „Kooperative Subjekt-Transformation“ in „zyklischen Chaos-Kosmos-Strukturen“ Jessica Benjamins Arbeit mit ihrer Klientin Aliza (Benjamin 2006) war immer wieder zu sehr dramatisch destruktiven Punkten des Prozesses gekommen, auch und gerade als sie beide der inneren Bedeutung der Beziehung Alizas zu ihrer Mutter auf die Spur gekommen waren. In diesen Momenten waren die Kommunikation und die Kooperation der beiden durch kaum regulierbare Übertragungsprobleme schwer belastet. Die Therapeutin hatte dabei immer wieder das Gefühl, dass sie die Rolle, die ihr in der Übertragung unbewusst angeboten wurde, trotz analytischer Reflexion immer wieder übernimmt und ähnlich wie die Mutter der Klientin reagiert. Nach langen und immer wieder von Abbruch überschatteten Kämpfen gelingt eine Wende zu einer neuen produktiven Zusammenarbeit, in der eine Art den Prozess reflektierender Rückschau möglich und schließlich therapeutisch wirksam wird. Die Analytikerin reagiert in dieser Reflexion der schwer überschaubaren Verflechtung von „alten“ und „neuen“ Emotionen und Affekten immer wieder mit einer Deklarierung sowohl ihrer Gegenübertragungsgefühle als auch ihrer „eigenen“ Gefühle dabei:
25 Dies gerade, weil in der Psychotherapie im Gegensatz zur Mathematik, Logik und theoretischen Physik keine Algorhythmen bei der Lösung eines Problems eingesetzt werden können, sondern durch die Kontingenz menschlichen Handelns immer (außer in den im Nachhinein gesetzten Reflexionen darauf!) epigenetisches Vorgehen (der nächste Schritt ergibt sich ausschließlich nach Maßgabe der (unvorhersagbaren) Reaktion auf den vorhergehenden Schritt) gewählt werden muss, will man nicht schon nach dem zweiten Schritt, der ausschließlich dem „Lehrbuch“ gefolgt war, weit weg vom tatsächlichen Geschehen zwischen den beiden präsenten Individuen sein.
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„Nachdem wir nämlich ein dramatisches Bild davon gewonnen hatten, wie sich die Mutter während der schrecklichen Ereignisse in Alizas früher Kindheit verhalten hatte . . . konnte ich etwas sagen, was vorher nicht hatte gesagt werden können: Wie unerträglich für Aliza das Gefühl sei, sich ihrer eigenen Tochter gegenüber heute in gewisser Weise so zu verhalten, wie ihre Mutter sich damals ihr gegenüber verhalten hatte; aber genauso wenig wie sie könne ich es selbst ertragen, wie diese Mutter zu sein, weil ich dann für sie eine fürchterliche Belastung darstellen würde. Sichtlich erschüttert gab Aliza zu erkennen, wie zutreffend sie meine Beschreibung ihres Dilemmas fand, und konnte auch sehen, wie dieses Dilemma mich wiederum lähmte und daran hinderte, sie besser zu verstehen: Ihr sei unbegreiflich, wie ich es mit ihr in dieser entsetzlichen Situation habe aushalten können. Noch einmal konnte ich ihr mitteilen, wie traurig ich darüber sei, dass ich ihr das Gefühl nicht hatte ersparen können, mit einer bedrohlichen Mutter zusammen zu sein, die verleugnet, was sie gerade tut. Spontan antwortete Aliza, sie sei nun zur festen Überzeugung gelangt, um jeden Preis – auch wenn die Last noch so schwer sei – ertragen zu müssen, mit ihrer krank machenden Mutter identifiziert zu sein. Ihr sei bewusst, und sie bedauere das zutiefst, wie schwer es für mich gewesen sein müsse, sie durch diese Phase hindurch zu begleiten. Ihre Reaktion war in der Tat so intensiv, dass ich einen Moment lang in Sorge war, meiner Patientin etwas aufgenötigt zu haben. Als sie jedoch nach einer zweimonatigen Sommerpause zurückkam, berichtete Aliza, wie verwandelt und gestärkt sie sich nach dieser Sitzung gefühlt habe (eine Veränderung, die das gesamte Jahr hindurch anhielt), wie sie häufig über sich selbst staunte und sich fragte, ob sie noch derselbe Mensch sei. Nun habe sie die Erfahrung gemacht, dass ihre Zuneigung zu mir die destruktive Seite unserer Auseinandersetzung einschließlich meiner Schwächen und Grenzen überlebt hätte [. . . ]. So schufen wir etwas Drittes, einen von Nachsicht, Großzügigkeit und Gleichberechtigung getragenen Dialog, der zwischen uns einen Schutzraum entstehen ließ, in dem jeder Verantwortung übernehmen konnte“ (Benjamin 2006, 98 f.). Jessica Benjamin zieht aus all dem die Schlussfolgerung, dass AnalytikerIn nur dann zu seiner bzw. ihrer Verantwortung stehen kann, „wenn er [bzw. sie] jene schmerzliche Selbsterfahrung durcharbeitet, die um Gefühle von Destruktivität und Verlust kreist. Insofern bedeutet die Vorstellung eines moralischen Dritten auch, anzuerkennen, dass [. . . ] Zerfall und Wiederherstellung zur Entwicklung einer therapeutischen Beziehung unvermeidlich dazugehören. Erst wenn wir das anerkennen, können wir die Verantwortung unseren Patienten und dem psychoanalytischen Prozess gegenüber einen Rahmen geben, in dem sich unser Mitempfinden bezeugen lässt. Diese Form einer sittlichen Triangulierung scheint mir im Wesen der Intersubjektivität selbst begründet zu sein, sie bildet gewissermaßen den kategorischen Imperativ der relationalen Psychoanalyse: Wir können gar nicht anders, als an einer Interaktion teilzunehmen, die von beiden Seiten gestaltet wird.“ (ebd.)
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Hier zeigt sich eine therapeutische Haltung gegenüber der oft eindrücklichen Fragilität der analytischen Praxis, die in vielen Aspekten mit Adler’schen Ideen und individualpsychologischen Grundannahmen konvergiert. „Das Sprechen im Deutungsmodus und das Gefühl verstanden zu werden“ (Ornstein u. Ornstein 2001b, 219) ergänzen einander in einem Verständnis des Gemeinschaftsgefühls, wie sie im Kapitel „Individualpsychologische Entwicklungstheorie“ entfaltet wird. Ergänzend zu den Ausführungen zur Entwicklungstheorie (Kap. 2.2.1) und den Ausführungen zu Psychopathologie (Kap. 2.2.2) und Technik (Kap. 3) werden wir im Kapitel „Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse“ (Kap. 2.5.3) noch einmal auf den Ansatz, den Jessica Benjamin vertritt, zurückkommen, um seine Bedeutung für eine Gestaltung psychoanalytisch-individualpsychologischer Praxis beleuchten zu können. Einstweilen sei die genannte Haltung entsprechend dem Kapiteltitel lediglich als eine skizziert, die von der Erkenntnis getragen ist, dass auch und gerade dann, wenn in Analysen die Fragilität des analytischen Prozesses durch das Zusammenwirken von Ambivalenzen und Konflikten, Mehrdeutigkeiten und Paradoxien virulent wird, das Bewussthalten der Tatsache betrieben werden soll, dass der Mensch immer unverbrüchlich aufgespannt ist zwischen den unterschiedlichen Ressourcen von Trieb und Reflexivität, in der ubiquitären Ambivalenz zwiespältig in ein intra- und interpersonelle Feld antagonistischer Energien eingespannt ist und durch die in vielen Schattierungen sich gestaltende Strukturierung von Bewusstheit und Unbewusstheit in einer nie auslotbaren Vielfältigkeit steht. Dass das unausweichlich sowohl für AnalysandIn als auch für AnalytikerIn gilt sollte dann zugunsten der AnalysandInnen so weit wie möglich bewusst gehalten werden können!
2.1.5 Kriterien psychischer Gesundheit Brigitte Sindelar Adler hatte eine klare Vorstellung davon, was seelische Gesundheit kennzeichnet und wie sie zu erreichen sei: werden die drei Lebensaufgaben der Partnerschaft und Familie, der Leistungs- und Arbeitssituation und der Integration in die Gemeinschaft (Adler 1912a) mithilfe eines mutigen Lebensstils erfolgreich gelöst, so befindet sich der Mensch – zum Unterschied vom „nervösen Charakter“ – im seelischen Gleichgewicht. Psychische Gesundheit hängt davon ab, wie gut es dem Menschen gelingt, diese Lebensaufgaben zu lösen, denen in unterschiedlichen Lebensphasen durchaus unterschiedliche Priorität zukommen kann, aber niemals eine von den dreien vollständig außer Acht gelassen werden darf. Damit erstellt Adler Kriterien zur psychischen Gesundheit, die mit aktuellen Formulierungen der Psychiatrie übereinstimmen: „Indikatoren der psychischen Gesundheit sind unter anderem • das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit und der Verankerung innerhalb der Familie, in einer sozialen Gruppe und in der Gesellschaft, • das Erleben einer sozialen Identität und einer beruflichen Bedeutung,
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2.1.5 Kriterien psychischer Gesundheit
• das Bewusstsein, Teil eines sinngebenden Gesellschaftsgefüges zu sein, • die Sicherheit, das eigene Leben kontrollieren zu können • und normalen Belastungen gewachsen zu sein“ (Hinterhuber, Rutz u. Meise 2007, 181). Adler sah die Individualpsychologie von Anfang an nicht nur als eine Lehre zur Behandlung psychischer Störungen, sondern als eine umfassende Psychologie, die ebenso durch Aufklärung über die Bedeutung der frühkindlichen Prägungen für die Bildung des Charakters, auch des „nervösen“ Charakters, präventiven Auftrag und Potential hat: „Nicht erkrankte Kinder zu behandeln und zu heilen, sondern gesunde vor der Krankheit zu schützen, ist die konsequente, erhabene Forderung der medizinischen Wissenschaft.“ (Adler 1904a, 28). Die Individualpsychologie in ihrer Identität nicht nur als Psychotherapie, sondern auch als Sozialpsychologie wird außerhalb des Kreises ihrer Vertreter allerdings nur begrenzt wahrgenommen, wenngleich ihre Anwendung zur Förderung und zum Schutze der psychischen Gesundheit evident ist. Eine mögliche Begründung für diese mangelnde Wahrnehmung des sozialpsychologischen Anteils der Individualpsychologie vermuten King und Shelley in der Namensgebung: “Whereas depth psychology is commonly associated with treatment modalities, community psychology argues that psychotherapy is ultimately unnecessary when prevention strategies are adequately deployed. [. . . ] Adlerian psychology, which espouses a method of psychotherapy, nevertheless holds key points of synergy with community psychology. To distinguish the school from psychoanalysis Alfred Adler named his approach ‘Individual Psychology’, which could obscure its’ social orientation” (King u. Shelley 2008, 96). Förderlich für die psychische Gesundheit erachtet Adler das Gleichgewicht von Fiktion der Überlegenheit und ihrer Gegenfiktion, aus dem das Gemeinschaftsgefühl wachsen kann: „Diese Gegenfiktion, stets gegenwärtige korrigierende Instanz, bewerkstelligt den Formenwandel der leitenden Fiktion, indem sie ihr Rücksichten aufzwingt, soziale, ethische Zukunftsforderungen mit ihrem realen Gewicht in Anschlag bringt und so die Vernünftigkeit des Denkens und Handelns sichert. Sie ist der Sicherungskoeffizient der Leitlinie zur Macht, und die Harmonie bei der Fiktion, ihre gegenseitige Verträglichkeit sind das Zeichen psychischer Gesundheit“ (Adler 1912a, 98). Als entscheidend für die Ausbildung eines mutigen und konstruktiven Lebensstils sah er die Beziehungserfahrungen der ersten Kindheitsjahre, in denen die Eltern dem Kind das Bild von der Welt und den Strategien, mithilfe derer Lebensprobleme zu lösen sind, vermitteln: „Das ‚Werk der guten Kinderstube‘ [. . . ] ist unvergänglich und ein sicheres Bollwerk fürs Leben“ (Adler 1912f, 225). In der guten Kinderstube wird
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mit der Befriedigung des Zärtlichkeitsbedürfnisses der Grundstein zur Entwicklung eines psychisch gesunden Charakters gelegt, denn bereits im Zärtlichkeitsbedürfnis, dessen Befriedigung von anderen Menschen abhängt, manifestiert sich die soziale Bezogenheit des Menschen (ebd.). Der so gebildete, oft unbewusste, zumeist aber unverstandene Lebensstil ist Orientierung und Leitlinie im Erwachsenenalter und verlangt nur dann nach Änderung, wenn er sich zur Lösung der Lebensaufgaben als ungeeignet erweist, wie es eben beim „nervösen Charakter“ der Fall ist. Denn verläuft die frühkindliche Beziehungsentwicklung ungünstig, so resultiert daraus ein entmutigter Lebensstil, der die Erfüllung der Lebensaufgaben misslingen lässt, da statt des Gemeinschaftsgefühls Machtstreben entwickelt ist. Dann ist psychotherapeutische Hilfestellung notwendig, da mithilfe derselben „Nervöse“ „durch eine Veränderung des Lebensstils, durch Herabsetzung der seelischen Entspannung, durch Erweiterung des Gemeinschaftsgefühls möglicherweise einer dauernden Heilung zuzuführen sind“ (Adler 1933b, 58 f.). Das Gemeinschaftsgefühl ist das Ergebnis einer günstigen psychischen Entwicklungsbewegung zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls in sozial verträglicher und nützlicher Weise, das Ausmaß an Gemeinschaftsgefühl das Maß der seelischen Gesundheit. Mit dem Gemeinschaftsgefühl erhält das Leben des Einzelnen seinen Sinn, der dem Zustand der psychischen Gesundheit innewohnt. Dieser Sinn des Lebens ist aber keinesfalls die Aufopferung des Einzelnen für den Anderen oder die Gemeinschaft, in der Fiktion, dass sicher geliebt wird, wer gebraucht wird, sondern eine Position der sozialen Gleichwertigkeit, in der der Einzelne von der Gemeinschaft genauso profitiert wie sie von ihm. Im Zustand der seelischen Gesundheit fühlt sich der Mensch sicher gebunden und wertgeschätzt, was ihm den Mut gibt, sich immer weiter zu entwickeln. Da stimmt die frühe Individualpsychologie vollkommen überein mit dem, was die Bindungstheorie vertritt (vgl. Baumeister u. Leary 1995). Zugleich finden sich die in den frühen Schriften Adlers vertretenen Grundkonzepte der Individualpsychologie in den Schlüssen, die die Neurobiologie aus ihren aktuellen Forschungsergebnissen zieht, bestätigt, wenn Gerald Hüther meint, dass der Mensch in Wahrheit lediglich zwei Grundbedürfnisse habe, nach deren Erfüllung er strebt: sicher gebunden zu sein und im Erleben der Selbstwirksamkeit in Freiheit wachsen zu dürfen (Hüther 2003). Lebensstil und Gemeinschaftsgefühl sind also bereits in den Anfängen der Individualpsychologie als durch frühkindliche Erfahrung geprägte Determinanten der psychischen Gesundheit identifiziert, wobei das Kind mittels seiner schöpferischen Kraft die Bedeutung dieser frühen Erfahrungen gestaltet. Es ist also nie ausschließlich das Produkt von genetischer Ausstattung und frühen Erfahrungen. Diese Individualität in der Gestaltung des Lebensstils ist ein Faktum, das in der aktuellen Resiliezenzforschung fokussiert wird. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Resilienz, zu verstehen als psychische Widerstandsfähigkeit einer Person oder auch einer sozialen Gruppe, hat ihren Ursprung in der Entwicklungspsychopathologie. Diese ressourcenorientierte, salutogenetische Sichtweise benennt als Resilienzfaktoren jene, die Resch den protektiven Faktoren zuordnet, die in der Summe mit den
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Risikofaktoren der kindlichen Entwicklung das „adaptive Potential“ ergeben (Resch, Parzer u. Brunner 1999). Protektive Faktoren sind dabei als psychologische Merkmale oder Eigenschaften des Individuums und der sozialen Umwelt zu verstehen, die die Anfälligkeit für psychische Störungen reduzieren, also die „psychische Widerstandskraft von Menschen gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Risiken“ steigern (Frick 2009, 295 f.). Resilienz befähigt die Person (oder auch eine soziale Gruppe), mit belastenden Lebensumständen erfolgreich umzugehen und daraus Bewältigungskompetenzen zu entwickeln, oder mit Adler formuliert: „Einer, der sich zu Hause fühlt auf dieser armen Erdkruste, davon durchdrungen ist, dass nicht nur die Annehmlichkeiten des Lebens zu ihm gehören, sondern auch die Unannehmlichkeiten, der darauf gefasst ist, etwas beizutragen, der wird keine Überempfindlichkeiten an den Tag legen“ (Adler 1933b, 99). Resilienzforschung ist zwar ein relativ neuer Terminus der psychologischen, psychiatrischen, psychotherapeutischen und soziologischen Wissenschaften, der insbesondere im Hinblick auf die Prävention psychischer Störungen erforscht wird, allerdings sind die bis dato erreichten Erkenntnisse keineswegs neu, höchsten neu benannt. Die Resilienz ist die andere Seite der Münze der posttraumatischen Belastungsstörung und eigentlich nur vernetzt mit dieser zu erforschen, ausgehend von der Beobachtung, dass sich dieselben traumatischen Ereignisse (wie zum Beispiel Naturkatastrophen oder politische und Wirtschaftskrisen) nicht auf alle davon betroffenen Individuen gleich auswirken, also deren psychische Gesundheit nicht im gleichen Ausmaß gefährden. Dass belastende Lebensereignisse unterschiedlich beantwortet werden, formulierte Adler mehrfach, zum Beispiel 1926: „Nie wirkt das gleiche Erlebnis auf zwei Menschen in genau der gleichen Weise“ (Adler 1926m, 274). So manches im Rahmen der Resilienzforschung Artikulierte mutet als Wiederholung der Gedanken Adlers an, ohne dass auf ihn Bezug genommen wird: „Kein Kind ist per Geburt resilient. Was die Entwicklung von Resilienzen ausmacht, sind Beziehungserfahrungen“ (Wustmann 2009, 71). Resilienz wäre demnach, in individualpsychologischer Terminologie benannt, Ausdruck eines mutigen Lebensstils, durch die Erfahrungen des Kindes mit seiner sozialen Umwelt geprägt. Resilienz setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen und wird als dynamischer oder kompensatorischer Prozess positiver Anpassung angesichts belastender Umstände verstanden (Frick 2009), oder, wiederum in der Sprache Alfred Adlers ausgedrückt, als seelische Bewegung, die durch einen mutigen und konstruktiven Lebensstil zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls seine Richtung erhält, wobei belastende Ereignisse als Situationen zu verstehen sind, in denen sich das Gefühl der Unterlegenheit und Hilflosigkeit verstärkt. Als der Resilienz förderliche Faktoren zählt Frick im Zusammenhang mit resilienten Kindern insgesamt 18 Punkte auf, die allesamt im theoretischen Gebäude der Individualpsychologie bereits zu deren Beginn ihren Raum bezogen hatten und sich wie die Beschreibung des psychisch gesunden Kindes und Erwachsenen in der Individualpsychologie lesen: eine enge, stabile und sichere positiv-emotionale Beziehung zu (mindestens) einer Bezugsperson, soziale Unterstützung innerhalb und außerhalb der Familie, ein emo-
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tional warmes, offenes, aber auch angemessen strukturierendes und normorientiertes Erziehungsverhalten und Erziehungsklima, überzeugende soziale Modelle, dosierte soziale Verantwortlichkeiten und individuell angemessene Leistungsanforderungen, kognitive und soziale Kompetenzen, individuell angemessene, eigene persönliche Zielsetzungen, günstige Temperaments- und Charaktereigenschaften, die eine effektive Bewältigung begünstigen, günstige Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen, ein gesundes Selbstvertrauen, ein eher hohes Selbstwertgefühl und positives Selbstbild, ein angemessen positives Selbstkonzept, akute Bewältigungsmuster bei Problemen, aktiver und nicht nur ausreichender Umgang mit Belastungen (günstige Coping-Strategien), Erfahrungen von Sinn, Struktur und Bedeutung in der eigenen Entwicklung, Gefühl von Kohärenz im Sinne einer normativen Selbstverankerung; die Fantasie, die Hoffnung, die Antizipation einer besseren Zukunft. Ab dem Schulalter nennt Frick: Schreiben (Tagebücher, Gedichte) und Lesen; Interesse, Motivation und Erfolg in der Schule und in einzelnen Schulfächern, meistens gekoppelt mit der positiven Bestärkung durch eine oder mehrere Lehrpersonen, positive Erfahrungen (zum Beispiel mit Gleichaltrigen) in der Schule und im Schulumfeld; Interessen und Hobbys, die Freude und Selbstbestätigung fördern, zu positiven Umdeutungen fähig zu sein, die „das Gute im Schlechten“ erkennen lassen, Fähigkeit, sich von Problemen zu distanzieren (nach Frick 2009). Rieken nennt in einer Arbeit zur Katastrophenforschung als Resilienzfaktoren zur Bewältigung einer Umweltkatastrophe personale Ressourcen wie Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, soziale Kompetenz, soziale Ressourcen wie stabile Bezugspersonen, aber auch kollektive Ressourcen wie Weltanschauung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, warnt aber zugleich davor, den Resilienzbegriff überzustrapazieren, indem man belastende Lebensumstände der frühen Kindheit bagatellisiert oder meint, durch geeignetes Risikomanagement in einer real bedrohlichen Situation Sorgen und Befürchtungen ausschalten zu können. Den Einfluss der Gemeinschaft auf die Resilienz ihrer Mitglieder zeigt Rieken auf, wenn er auf Unterschiede zwischen Gruppen, die ähnlichen Katastrophen, im speziellen Fall Lawinen, ausgesetzt waren, in ihrer Bewältigung der Ereignisse hinweist und abschließend Individualität und soziale Bezogenheit als gemeinsam gestaltend nennt: „Im Hinblick auf Lebensqualität und psychische Gesundheit ist eine tief schürfende persönliche Auseinandersetzung mit dem Erlebnis unerlässlich“ (Rieken 2010f, 195 f.). Insbesondere im Zusammenhang mit dem Symptombild des Burn-Out, das als eigenständige psychische Störung oder als Ausdruck einer psychischen Grundkrankheit wissenschaftlich diskutiert wird, wird Stress als Einflussgröße auf die psychische Gesundheit zum populärwissenschaftlich identifizierten Störenfried des seelischen Wohlbefindens. Stress als Verursachungsmoment der psychischen Störung anzusehen hat auch eine entlastende Funktion von der Stigmatisierung (Rössler 2005; Kranke et al. 2010), der Menschen, die unter psychischen Störungen leiden, immer noch im sozialen Umfeld begegnen (entgegen der optimistischen, aber lebensrealitätsfernen Äußerung der finnischen Ministerin für Gesundheit und Soziales, Liisa Hyssälä,
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im Vorwort zum Bericht über die Konferenz der Gesundheitsminister aller Mitgliedstaaten der WHO-Region Europa 2005 in Helsinki: „. . . kann man heute sagen, dass psychische Gesundheit nicht mehr zu den mit einem Makel behafteten, unaussprechbaren Dingen zählt. Stattdessen ist sie im Bereich Bevölkerungsgesundheit in den Mittelpunkt des Interesses gerückt“ (Hyssälä im Bericht der Europäischen Gesundheitsminister 2006, IX). Innerpsychische Vorurteile, wie Gefühle der Schuld und der Scham, hindern immer noch, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Soziale Vorurteile lassen psychische Störungen immer noch als Makel und persönliches Versagen erleben und bewerten, wodurch die späte Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe die Chronifizierung psychischer Störungen befördert. Als Risikofaktor für die psychische Gesundheit ortet Rieken das Ungleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung: „Ein Nachteil gegenwärtiger Verhältnisse ist die Vernachlässigung des Ruhe-Pols. Er hat aber Bedeutung vor allem für Grundstörungen und darüber hinaus in allgemeiner Form, wenn man ‚Entschleunigung‘ auch als eine psychohygienisch bzw. psychotherapeutisch relevante Kategorie ansieht und der Meinung ist, dass nicht nur Anspannung, sondern auch Entspannung sinnvoll ist“ (Rieken 2007b, 76). In einem Zeitgeist, der Perfektionismus, Produktivitäts- und Leistungssteigerung als das sozial erwünschte Streben wertschätzt, der die Beschleunigung des Lebensablaufs idealisiert, gibt das Leiden „Burn-Out“ die Chance, in sozial weniger abgewerteter Weise psychisch zu erkranken und sich daher auch Hilfe holen zu dürfen. Denn die Diagnose „Burn-Out“ ordnet implizit dem Erkrankten die Identität eines Opfers zu, das sich im übereifrigen Gehorsam der Forderung nach kontinuierlicher Leistungssteigerung zwar verausgabt hat, aber doch im Strom der aktuellen Werte mitgeschwommen ist. Allerdings begegnet diesem „guten psychisch Kranken“ die Abwertung dennoch, und zwar in Form des Mitleids all derer, die sich ebenso in den Wettlauf gegen sich selbst einbringen und (noch) nicht gestrauchelt sind und sich ihm daher überlegen fühlen. Das „Burn-Out“ wird zwar als Resultat eines überfordernden Lebensstils konnotiert, aber nicht sozial geächtet, da es das soziale Umfeld nicht in der Abwehr der eigenen Minderwertigkeit bedroht. Zugleich ist das Gefühl der Überbelastung zumeist dem sozialen Umfeld nicht unbekannt, was eine xenophobe Reaktion auf die Gefühle des Erkrankten verhindert: „Burn-Out“ wird als ein Zuviel dessen, was man aus eigener Erfahrung zu kennen meint, wahrgenommen und nicht als derart fremd wie etwa die Äußerungen eines Psychotikers. Im Zusammenhang damit ist auch bemerkenswert, dass im Gegensatz zur körperlichen Gesundheitsvorsorge, die als verantwortungsbewusstes Verhalten zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit als Stärke gesehen wird, seelische Gesundheitsvorsorge als Schwäche als Ausdruck des Mangels im Sinne der geringen psychischen Belastbarkeit gilt. Dass psychischer Di-Stress psychische Störungen verursacht, Eu-Stress
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dagegen ein Schutzfaktor ist, vergleichbar dem Ausdauertraining in der körperlichen Gesundheitsvorsorge, ist anerkannter Konsens der Gesundheitsberufe. Psychohygienische Selbstverantwortung wahrnehmen zu können, heißt damit – und das ist allen Theorien zur Entstehung psychischer Störungen gemeinsam, so unterschiedlich sie auch sein mögen – Stresskultur im Duett von Gefühl und Verstand zu entwickeln. Wenn es mithilfe des mutigen Lebensstils gelingt, Herausforderungen anzunehmen anstatt sich selbst zu überfordern, Selbstkritik ohne Selbstvorwurf zu üben anstatt von Schuldgefühlen und Machtstreben getrieben zu sein, Offenheit für neues Wissen und neue Erfahrungen aufzubringen anstatt Vorurteile gegenüber dem Neuen zu entwickeln, dann ist Eu-Stress im Sinne der Entwicklungsherausforderung der erfolgreichen Bewältigung der Lebensaufgaben und damit der psychischen Gesundheit förderlich. Intrauterin vorgeformt durch das Erleben, in Geborgenheit gewachsen zu sein, ist das Bedürfnis nach sicherer Bindung und freiem Wachstum, dessen Erfüllung die kindliche Entwicklung gelingen lässt. Vorurteile gegenüber diesen grundlegenden Bedürfnissen, in Geborgenheit wachsen zu können und in Freiheit gebunden zu sein, lassen diese beiden Bedürfnisse als widersprüchlich und daher nur alternativ erfüllbar erscheinen. In der Fiktion, dass der Verzicht auf das eine das andere vergrößern würde, also die Geborgenheit zulasten der Freiheit gehen muss, die Freiheit dagegen Geborgenheit verunmöglicht, gelangt der Mensch in emotionalen Stress. Tatsächlich aber sind Freiheit und Geborgenheit einander wechselseitig nährend, wenn sie in zwischenmenschlichen Beziehungen, die von Wertschätzung und Toleranz geprägt und getragen sind, wenn Gefühl und Verstand nicht kontradiktorisch, sondern kooperierend gelebt werden. Stresskultur bedeutet, über sich selbst statt über andere hinauswachsen zu wollen, Beziehungskultur bedeutet Gemeinschaftsgefühl statt Machtstreben zu entwickeln, Individualität als Bereicherung statt als Abweichung zu erkennen, mit dem Ziel, sich selbst gut genug zu sein. Für die individuelle psychische Gesundheit sind aber nicht nur Resilienzfaktoren des Individuums ausschlaggebend, sondern natürlich auch die Lebensbedingungen, die der Mensch in seiner jeweiligen Gesellschaft vorfindet. Wenn Alfred Adler seine sozialmedizinische Publikationstätigkeit mit einem „Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe“ beginnt, so stellt er damit implizit bereits fest, dass nicht nur intersubjektive Bedingungen der Beziehungsstrukturen, sondern auch ökonomische und politische Umfeldbedingungen auf die individuelle Gesundheit einwirken, das Ausmaß des Wohlbefindens der Gesellschaft mit dem Wohlbefinden des Einzelnen interagiert: „Alfred Adler understood that the individual’s and society’s well-beings were inextricably interwoven“ (Ferguson-Dreikurs 2010, 1). Darauf wies Markos Kyprianou in der Funktion des EU-Kommissars für Gesundheit hin: „Die Gesellschaften, die wir geschaffen haben, generieren psychische Gesundheitsprobleme“ (zit. nach Hinterhuber, Rutz u. Meise 2007, 181). Damit ist die Politik in ihrer Verantwortlichkeit für die Gesundheit der Bevölkerung gefordert, was bereits der Pathologe, Politiker und Sozialreformer Rudolf Virchow 1848, im Jahr der gescheiterten März-Revolution, in seinem Journal mit
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2.1.6 Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten
dem programmatischen Titel: „Die medicinische Reform“ veröffentlichte: „Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft [. . . ] und die Politik ist nichts anderes als Medicin im Großen.“ (Virchow 1848, nach Hinterhuber, Rutz u. Meise 2007, 180). Gesundheit ist in der Konstitution der Weltgesundheitsorganisation definiert als „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“. Die WHO listet im Kapitel II ihrer Konstitution auf Seite 3 zu ihren Aufgaben auf: „to foster activities in the field of mental health, especially those affecting the harmony of human relations“ (WHO 2011). An aktuellen Zahlen, bezogen auf die Staaten der Europäischen Union und Island, Norwegen und die Schweiz, berichtet die WHO Europa 2010, dass im vorangegangen Jahr 27 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 65 Jahren an zumindest einer psychischen Störung erkrankt war, relativiert im selben Bericht diese Zahlen in ihrer Aussagekraft über die psychische Gesundheit der europäischen Bevölkerung durch den Hinweis, dass nur eine begrenzte Anzahl an Störungen aufgenommen wurde und die Hochrisikogruppe der Über-Sechzigjährigen unberücksichtigt blieb. Psychische Erkrankungen werden nicht zuletzt aufgrund der durch psychische Störungen bedingten Arbeitsausfälle zum wirtschaftspolitisch relevanten Faktor: „Neuropsychiatric disorders are the second cause of disability-adjusted life years (DALYs) in Europe and account for 19 %, with only 4 % after cardiovascular disorders“ (WHO 2011). Psychisches Wohlbefinden wird damit zum zentralen Thema der Gesundheitsvorsorge. Die Integration individualpsychologischen Gedankenguts in die individuelle und gesundheitspolitische psychische Gesundheitsvorsorge könnte diese Bestrebungen befördern: “Like community psychologists, Adlerians similarly argue for a sense of cohesive community as crucial to mental health. They have also adopted an ecological holism as core epistemology, and argue for reducing the necessity of psychotherapy by working in tandem on community-based prevention strategies” (King u. Shelley 2008, 96). Den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und seelischem Befinden hat Adler bereits in der Idee der Organminderwertigkeit als psychopathogenetischem Wirkfaktor dargelegt, hat aber ebenso die Option der Salutogenese im präventiven Potential der zwischenmenschlichen Bindung gesehen: “His [Adlers, Anm. B. S.] perspective, that early childhood family life has long-term influences on the shape of personality, and his understanding that a well-developed ‚social interest‘ is the hallmark of mental health, led to his postulating many decades ago that fundamentally humans all have a need to belong. When humans feel belonging, they function well. When they do not feel belonging, healthy functioning decreases” (Ferguson-Dreikurs 2010, 1).
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Die europäische ministerielle WHO-Konferenz 2005 schloss mit den Worten: Vorsorge zur psychischen Gesundheit „Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit.“ (nach Hinterhuber, Rutz u. Meise 2007, 184). Dieser Aussage würde Alfred Adler vorbehaltlos und vollinhaltlich zustimmen.
2.1.6 Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten Thomas Stephenson Die Annahme eines Unbewussten in uns Menschen ist vielleicht die einzige Grundannahme, die alle Versionen der Psychoanalyse resp. der Tiefenpsychologie teilen. Freuds revolutionäre Tat, die ja nicht darin bestand, die Existenz nicht bewusster Bereiche im Menschen zu postulieren (diese Erkenntnis war lange vor ihm in verschiedenen Phasen der Menschheitsentwicklung in verschiedenen Kulturen und Orten immer wieder da gewesen), sondern dem Unbewussten einen systematischen Ort in einem wissenschaftlichen System zu geben und dabei zu behaupten, dass das Bewusstsein, auf das der Mensch so stolz ist, gar nicht „Herr im eigenen Haus“ sei, sondern der größte Teil menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns in diesem Bereich des Unbewussten angesiedelt sei, bzw. insofern es bewusst sei, von diesem bestimmt worden zu sein. Diese „dritte große Kränkung“ (nach Darwins „Entthronung“ und Kopernikus Dezentrierung) wurde in den modernen Forschungen, vor allem jenen der sogenannten „Neurowissenschaften“ nicht nur bestätigt, sondern letztlich radikalisiert, wie sich am prägnantesten in der Aussage Michael Gazzanigas „Unser bewusstes Ich ist die letzte Instanz, die erfährt, was in uns wirklich los ist.“ (zit. n. Roth 2001, 370) zeigt. Doch diese Aussage markiert zugleich eine Entwicklung im Verständnis des Begriffs „Unbewusst“. In einer aktualisierten Psychoanalytischen Individualpsychologie, die gleichzeitig die modernen Forschungsergebnisse und die Grundgedanken Alfred Adlers berücksichtigen will, ist ein eindimensionales Verständnis des „Unbewussten“ als „das Verdrängte“ nicht mehr ausreichend. Im Folgenden soll daher sowohl ein knapper Überblick 26 über verschiedene Interpretationen gegeben werden, im Besonderen jene, die in einem bestimmten Sinn und mit gewissem Recht als „spezifisch individualpsychologisch“ bezeichnet werden kann. Interpretationen des Ausdrucks „unbewusst“ Als Sigmund Freud begann, den zu seiner Zeit mit besonderem Interesse betrachteten Bereich menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns, der paradoxerweise nur 26 Eine Darstellung dieses Gegenstandsbereiches des Unbewussten, dessen publikatorischer Umfang 2011 nicht mehr zu messen ist, und dessen Behandlung in jüngster Zeit beispielsweise Buchholz und Gödde in drei Herausgeberbänden (Buchholz u. Gödde 2005) über 2500 Seiten gewidmet haben, kann nur entweder sehr ausführlich oder sehr knapp werden. Nachdem an dieser Stelle nur ein orientierender Überblick ermöglicht werden soll, wurde die zweite Variante gewählt, wohl wissend, dass dadurch nur eine Auflistung möglich wird.
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2.1.6 Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten
vermutet, weil nicht als bewusst erlebt werden kann, für psychologische, psychopathologische und „Behandlungs“-Phänomene zu systematisieren und behandlungstechnisch aufzubereiten, waren es im ersten Anlauf die verdrängten Motive, Phantasien, Gedanken und Gefühle, aus denen er „das Unbewusste“ konstituierte. Dies führte zur ersten Interpretation: 1. „unbewusst“ = „verdrängt“ bzw. „abgewehrt“ 27 Damit war eine entscheidende Differenz zwischen zwei Gruppen von psychischen Inhalten gegeben, die in einem jeweiligen Moment gerade nicht in unserem bewussten Denken, Fühlen und Handeln zu finden sind: Auf der einen Seite stehen sowohl jene Inhalte, die wir „im Moment“ nicht im Zentrum unserer bewussten Aufmerksamkeit haben, aber anlassbezogen jederzeit ohne Mühe fokussieren und damit bewusst wahrnehmen können (und für die Freud dann den Ausdruck „vorbewusst“ einsetzte), als auch jene psychischen Inhalte, die „verloren“ gehen, also „vergessen“ werden. Beide Gruppen von Inhalten üben per definitionem keinen erhebbaren Einfluss auf unser bewusstes Denken, Fühlen und Handeln aus und fallen daher auch nicht in die Kategorie des Unbewussten. Auf der anderen Seite stehen nun alle jene psychischen Inhalte, die „aus bestimmten Gründen“ nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen dürfen. Der allgemeinste Grund dafür liegt in einem bestimmten Aspekt der Natur des Menschen, insofern sie ihn dazu antreibt, Lust zu empfinden, diese zu mehren und prinzipiell unendlich werden zu lassen. Ein Erleben, das Unlust bereiten würde, wird hingegen prinzipiell vermieden. Ein solches Erleben also nicht stattfinden zu lassen, indem der unmittelbare Anlass für ein Erleben nicht „zugelassen“ wird, indem dieser Anlass gar nicht erst wahrgenommen wird und in diesem Sinne „gar nicht ist“, stellt also die einfachste und gleichzeitig effektivste Vorgangsweise dar. Im zweiten Anlauf sprach Freud jenen psychischen Inhalten, die primär nicht bewusstseinsfähig sind, die also nicht einstmals bewusst und dann durch Verdrängung unbewusst geworden waren, sondern eben jenen, die niemals bewusst waren, ebenfalls den Status des Unbewussten zu. Dadurch entstand eine zweite Interpretationsmöglichkeit: 2. „unbewusst“ = „nicht bewusstseinsfähig“ Hier handelt es sich um psychische Inhalte, die sich zu einer Zeit bildeten, als das sich entwickelnde Individuum noch nicht „reif“ genug war, sie bewusst zu erleben (vor allem durch noch nicht entwickelte sprachliche Fähigkeiten), wie auch Adler in Bezug auf den Lebensstil festhielt: „Wichtiger ist der Umstand, dass das Ganze des Lebens, 27 Die Bezeichnung „verdrängt“, die gleichzeitig der Namen für einen Abwehrmechanismus enthält, wurde gemeinsam mit dem Ausdruck „abgewehrt“ als Überbegriff über alles durch die verschiedenen Abwehrmechanismen aus dem bewussten Gewahrwerden hinausgedrängte gewählt, weil damit der prinzipielle Charakter aller dieser psychischen Akte am prägnantesten charakterisiert sein dürfte. Alle anderen Abwehrmechanismen sind dann letztlich Spezialformen, etwas aus dem bewussten Gewahrwerden wegzudrängen.
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von mir konkret Lebensstil genannt, vom Kinde in einer Zeit aufgebaut wird, wo es weder eine zureichende Sprache noch zureichende Begriffe hat.“ (Adler 1933b, S. 24). Freud reiht unter diese Kategorie aber auch Inhalte, die so „archaisch“ sind, dass sie im individuellen Bewusstsein nicht adäquat repräsentiert werden können. Vor allem letzterer Interpretation hat sich Carl Gustav Jung ein Leben lang gewidmet und sie dann in einer eigenen Kategorie markiert, dem „kollektiven Unbewussten“: 3. „unbewusst“ = „kollektiv unbewusst“ Alfred Adler hat seine Interpretationen bereits im Zuge der Auseinandersetzung mit Freud gefunden und nach der Trennung weiter entwickelt, was letztlich dazu führte, dass in den meisten Stellen, in denen er über „Unbewusstes“ spricht, die Polemik gegenüber Freud Adlers eigenständige Darstellungen einigermaßen verzerren. Trotzdem sind es vor allem zwei Versionen, die hier Eigenständigkeit beanspruchen dürfen: 4. „unbewusst“ = „unbeachtet“ Diese Bedeutung geht nicht in jener des Vorbewussten auf. Vielmehr geht es Adler darum, zu zeigen, inwiefern der Mangel an Reflexion die Weiterentwicklung der Bewusstheit des Individuums behindert, wenn das Individuum sich der Betrachtung bestimmter Tatsachen, Umständen, Ereignisse resp. bestimmten Erlebnisinhalten nicht aufmerksam zuwendet. Als Folge dieser „Nicht-Beachtung“ können dem Individuum dann noch immer wesentliche Entwicklungsressourcen versperrt bleiben, wenn es nämlich nicht das, was es zunächst einmal (dann doch) aufmerksam betrachtet, in Zusammenhänge mit anderen Inhalten bringt, die ihm ein Verständnis seines eigenen Handelns, bei Adler speziell einem Verständnis des Entstehens des eigenen Lebensstils ermöglicht. Viele Jahrzehnte später wird die Mentalisierungsforschung diesen Gedanken aufgreifen und zur Grundbedeutung ihres leitenden Begriffes (Mentalisierung) machen. Hier sieht Adler die zentrale Aufgabe individualpsychologischer Analysen in einer Arbeit, die den KlientInnen zu eben jenem Verstehen verhilft, einem Verstehen des eigenen Gewordenseins und des eigenen Lebensstils als einem an unbewussten Zielen der je individuellen Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen ausgerichteten Lebensentwurf. In diesem Sinn versieht Adler das Unbewusste mit einer weiteren, v. a. für die Individualpsychologie zentralen Bedeutung: 5. „unbewusst“ = „unverstanden“ Diese Bedeutung ist zumindest soweit die Individualpsychologie Adler folgt, die vielleicht spezifischste individualpsychologische Version des tiefenpsychologischen Paradigmas des Unbewussten. Wir finden ihren Einsatz auch in der modernen Individualpsychologie immer wieder (z. B. Nicolay 2005, Tinguela Hardegger 2005, Schmidt 2006b, Mohrbach 2007, Witte 2007, Sasse 2008, Wiegand 2008, Penning 2008, Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2008a, Zumer 2008, Eife 2009b). Zugleich handelt es
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2.1.6 Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten
sich hier um jene Interpretation des Unbewussten, die sich – wie oben bereits angedeutet – direkt mit einer essentiellen Entwicklungsressource, nämlich der Fähigkeit zur Mentalisierung verbinden lässt. Nach den Interpretationen, die vor allem von Freud, Adler und Jung gewählt wurden, sollen hier noch zwei weitere Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden: 6. „unbewusst“ = „implizites/prozedurales Wissen“ Diese Bedeutung ergibt sich aus Erkenntnissen der Entwicklungsforschung, wie sie vor allem Martin Dornes dargestellt hat: „1. Im Säuglingsalter ist es reines Handlungswissen, dargestellt durch automatisierte Gefühlsgewohnheiten in bestimmten Situationen, die auch im späteren Alter erhalten bleiben. 2. Die Gefühlsgewohnheiten können ab etwa eineinhalb bis zwei Jahren in symbolischen Spielhandlungen dargestellt werden. In dieser letzten Form sind sie dann dem Bewusstsein verfügbar und deklaratives Wissen geworden, d. h. ein Wissen, das man nicht nur „hat“, sondern eines, das man sich auch vergegenwärtigen kann. Erst dann kann Wissen auch in Gestalt autobiographischer Erzählungen mitgeteilt werden“ (Dornes 1997, 316). „Implizit“ verweist hier zum einen auf eine Wissensstruktur, die „im Hintergrund“ abläuft. Es ist sozusagen das, „was mir die Erfahrung sagt“. Hier handelt es sich um Vorgänge, die sich auf einer Ebene ereignen, die eigenständig Handlungsabläufe steuern kann (und zwar bisweilen auf einem sehr hohen Komplexitäts- und Subtilitätsniveau) ohne dass der rational-kognitive Teil des Menschen dafür „Worte“ finden kann/muss. Viele erfahrene und erfolgreiche TherapeutInnen können auf Befragung nicht immer erklären, warum sie diese oder jene Handlung gesetzt haben, obwohl sie angeben, ihrer Sache sicher gewesen zu sein. Zum anderen verweist „implizit“ aber auch auf die Ebene der direkten sinnlichen Wahrnehmung, in der „Bedeutungsbildung und -kommunikation körperlich-kinetisch statt[finden]. Letzten Endes sind die einzelnen Sinneswahrnehmungen [. . . ] Bedeutungsempfänger für eine vom Objekt bzw. vom Geschehen ausgelöste, körperlich erlebte emotionale Zustandsänderung auf der Ebene des impliziten Beziehungswissens“ (Ware 2010, 21). Damit wird der Blick auch auf „nonverbale Dialoge in der psychoanalytischen Therapie“ (Christian-Widmaier 2008) gelenkt. 7. „unbewusst“ = „unvalidiert“ (= nicht „gespiegelt“ und nicht „contained“) Hier handelt es sich um Bereiche menschlichen Erlebens, „die niemals in einem intersubjektiven Kontext Validierung erfahren haben.“ (Ehlers u. Holder 2009, 197).
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Sie sind also weder verdrängt noch „implizit“ wirksam, sondern eher als „erratische“ Elemente (ähnlich den Betaelementen bei Bion) im Ressourcenraum des Individuums ungenutzt. Dieser Anteil des Unbewussten wurde im Kontext der Erforschung von Mentalisierungs- und Affektregulierungsprozessen der frühesten Kindheit postuliert, da dort die Rolle von modulierendem Spiegeln und „(aus)haltender Mitbewegung“ (containing) für die emotionale, geistige und sozialen Entwicklung so klar zutage trat: jene Elemente des Kindes, die nicht gespiegelt und nicht „contained“ werden, können nicht in die Persönlichkeitsentwicklung integriert und damit auch nicht dem Bewusstsein zur Verfügung gestellt werden 28 . Auswirkungen des Vorhandenseins von „Unbewusstem“ Allen Versionen von „Unbewusst“ ist eines gemeinsam: sie bezeichnen das „(noch) Unverfügbare 29 “ im Menschen. Sie stellen in dieser Eigenschaft für den einzelnen Menschen eine potentielle Behinderung seiner eigenen (Persönlichkeits-)Entwicklung dar – und damit ebenso für die Weiterentwicklung zunächst jener Gemeinschaft, deren Teil der jeweilige Mensch ist, in Folge des Gedankens „menschliche Gemeinschaft sub specie aeternitatis“ dann letztlich auch für jene der Menschheit. In diesem Gedankengang liegt auch der Schlüssel für ein adäquates Verständnis des „sozial (un)nützlichen“: von unreflektiertem Macht- und Geltungsstreben getriebene Handlungsweisen, die nicht als Kompensationsversuche „ausgeblendeter“ Minderwertigkeitsgefühle verstanden werden, blockieren einerseits durch das Ersetzen eines „Miteinander“ durch ein (konkurrenzbedingtes) „Gegeneinander“ das Kooperationspotential, das integrativer Bestandteil des Gemeinschaftsgefühls ist. Andererseits lassen sie eben dieses Kooperationspotential deshalb nicht zu voller Geltung kommen, weil dieses auf einem Wissen aufbauen muss, in dem alle Beteiligten über alle Bedingungen, unter denen ein Ziel erreicht werden soll, Bescheid wissen müssen, um sinnvoll und zielführend planen und handeln zu können. Hier ist auch jener so oft kritisierte Aspekt Adler’schen Denkens begründet, nämlich jener, unter dem Adlers Aussagen über psychisches oft als „kognitivistisch“ bezeichnet wurden. Adler betont tatsächlich die aktive, bewusste, vernunftorientierte Seite des Menschen, allerdings nur als die Möglichkeit, Ordnung im unleugbar drohenden Chaos gegenläufiger Intentionen, Motivationen, Interpretationen und Zielorientierungen zu schaffen. Und zu dieser Ordnung gehört zunächst eine „vollständige Inventur“, also ein Bescheid 28 Insgesamt könnte hier auch der Aspekt des „In-Sprache-Heben des Gewahrwerdens“ als Überbegriff über alle hier angeführten Interpretationen von „(un)bewusst“ eingeführt werden: unbewusst ist alles, was Teil des Menschen ist, wessen er aber nicht gewahr wird bzw. es nicht in Sprache heben kann. 29 „Noch“ unverfügbar markiert die Herangehensweise jeder tiefenpsychologischen Psychotherapie: sie setzt jenem angenommenen, aber per definitionem unverfügbarem, das Potential der bewusstseinserweiternden Qualität der gemeinsamen Reflexion entgegen, um den Bereich des Verfügbaren im Klienten und der Klientin zu vergrößern. Siehe zur Charakteristik des „Unverfügbaren“ auch das Kap. 2.1.6 „Ambivalenz und Konflikt, Mehrdeutigkeit und Paradoxie“.
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2.1.6 Individualpsychologisch gedachte Formen des Unbewussten
wissen über dieses „Chaos“ im Eigenen wie im Anderen. Dieses „Bescheid wissen“ allerdings erfordert – so haben die letzten 120 Jahre analytischer Praxiserfahrung unmissverständlich gezeigt – nicht nur kognitive, sondern auch „emotionale“ Einsicht. Doch auch wenn das Gewahr-Werden in Sprache gehoben wurde und emotionale Einsicht die kognitive ergänzt und vervollkommnet hat, bleibt noch immer die Tatsache, dass die konkreten Ausformungen der „neurotischen Strukturen“ auf der prozeduralen Ebene stattfanden und noch immer stattfinden. Das ist der Grund, warum Verhaltenstherapie so erfolgreich ist: Sie setzt direkt auf der prozeduralen Ebene an, also auf jener, die alle unser bewussten und unbewussten Ziel unseres Lebensplanes in die Tat umsetzt, und gleichzeitig jene Dimension des Menschlichen ist, über Konditionierungen effektiv verändert werden kann. Versionen des Unbewussten als Inhalt der Reflexion Die hier angeführten sieben Interpretationen des Unbewussten können in der Analyse in den Blick genommen werden und fordern unterschiedlichen Umgang: „Verdrängtes“ erfordert Deutung, „nicht bewusstseinsfähiges“ braucht körpernahes Wiedererleben und Versprachlichung, „kollektiv unbewusstes“ erfordert Übersetzung in Individualität, „nicht beachtetes“ muss fokussiert werden, „unverstandenes“ verlangt verstehendes Durchdringen der Wirkungszusammenhänge zwischen den verschiedenen Erlebnisbereichen und „implizit/prozedurales“ benötigt ein mehrstufiges fokussierendes und versprachlichendes Markieren im bewussten Vollzug. Alle genannten Formen des Umgangs mit den jeweiligen Versionen des Unbewussten haben zum Ziel, das vormals nicht oder nur eingeschränkt Verfügbare in die erhöhte Verfügbarkeit des Individuums, des Paares, der Gruppe gelangen zu lassen. In dem Ausmaß, in dem die eigenen Intentionen, Motivationslagen, Angst- und Wunschphantasien als Bedingungsgefüge für das Erreichen individueller und gemeinsamer Ziele „bekannt“ sind, sind sie bereits mehr als nur „erkannte Gefahren“, sie sind darüber hinaus auch noch potentielle Ressourcen: Jeder Prozess, in dem Widerstände überwunden, in Folge dessen vormals als unaushaltbar phantasierte Bilder, Vorstellungen, Ängste, Wünsche etc. ins Bewusstsein aufgenommen und gehalten (also contained) werden können und eine Integration dieser „ausgeschlossenen“ eigenen Anteile erreicht wird, vergrößert die Selbstkompetenz und die Kapazitäten zur Affektkontrolle ebenso wie zur Mentalisierung (s. „Individualpsychologische Entwicklungstheorie“).
2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre Thomas Stephenson
Die bisher dargestellten Aspekte des Unbewussten bieten einen direkten Übergang zu zwei weiteren Kapiteln psychoanalytischer Individualpsychologie: den Entwicklungstheorien und der Krankheitslehre. Die Entscheidung, beide Themenbereiche als Unterkapitel eines gemeinsamen Kapitels zu behandeln, liegt in folgender Überlegung: Zum einen waren Psychoanalyse und Individualpsychologie aus der Medizin heraus entstehend primär auf Krankenbehandlung ausgerichtet gewesen. Dieser Bereich ist auch nach wie vor ein wesentliches Element der professionellen und wissenschaftlichen Identität der Psychotherapie, so sehr auch die Frage diskurswürdig bleibt, ob „Krankheit“ und „Gesundheit“ als zentrale Begriffe für den Bereich Psychotherapie, der sich immer wieder von medizinischen Krankenbehandlungen abzuheben versucht, sinnvoll und angebracht sind (s. d. z. B. Pritz u. Petzold 1992). Aus diesem zwar spannungsvollen aber nicht zu ignorierenden Bestimmungselement heraus ist jede anerkannte psychotherapeutische Schule in Österreich angehalten, u. a. systematische Theoriegestaltungen für einen Bereich „Krankheitslehre“ auszuweisen. Zum anderen war in der Psychoanalyse resp. in der Tiefenpsychologie ebenso von Anfang an der epigenetische 1 Aspekt von prominenter Bedeutung. Symptome als etwas zu verstehen, was eine (individuelle und unverwechselbare) Geschichte hat (sowohl im Sinne der „Entstehungsgeschichte“ und ihrer Kausalitäten als auch im Sinne dessen, was „erzählt“ werden kann, was also verstanden und nicht nur erklärt werden muss, um es einer Veränderung zuführen zu können 2 ), und einen bestimmten Zeitraum (zumeist die erstens sechs Lebensjahre) als besonders entscheidend für die Persönlichkeitsentwicklung ebenso wie für bestimmte Pathologien zu bestimmen, weist prinzipiell den Entwicklungstheorien im Theoriengebäude der Tiefenpsychologien, also auch der Individualpsychologie, einen besonderen Wert zu. Darüber hinaus erlangte in der Ausgestaltung des Theoriehintergrundes, vor dem „Psychopathologien“ diagnostizierbar werden und diskutiert wurden und werden, die Bedachtnahme auf den Zeitpunkt, an dem eine „Störung“ ihren Ausgang nahm, hervorragende Bedeutung. Am deutlichsten wurde das in dem breit angelegten Dis-
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„Epigenetisch“ meint hier die Tatsache, dass jede individuelle Entwicklung ein Abfolge von Abstimmungen zwischen inneren und äußeren Bedingungen darstellt, „vergleichbar mit einer Kugel, die durch eine hügelige, leicht abschüssige Landschaft rollt und dabei immer den gangbarsten Weg durch Täler nimmt.“ (Geißler u. Heisterkamp 2007, 107) Diese Interpretation der Vermittlungsaufgabe, deren Einlösung AutorInnen in „Fallvignetten“, „Falldarstellungen“, „Kasuistiken“ nachzukommen versuchen, führt mittlerweile dazu, dass auch von „Therapiegeschichten“ die Rede ist (vgl. Kächele u. Pfäfflin 2009).
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
kurs, der in mehreren Phasen seiner Entwicklung im letzten Jahrhundert entstand bzw. ausgebaut wurde und nach wie vor in vollem Gange ist und der insbesondere auf die Technikdiskussion einen nachhaltigen Einfluss genommen hat: der Diskurs um die sogenannten „Frühstörungen“. Da in Analysen explizit Strukturveränderungen intendiert werden, ist die Frage der Reife der jeweiligen psychischen Struktur für die Konzipierung und Durchführung therapeutischer Interventionen von entscheidender Bedeutung. Daher dienen die Ausführungen zu beiden Kapiteln (individualpsychologische Entwicklungstheorien und individualpsychologische Psychopathologie (im Sinne einer „Krankheitslehre“)) einem gemeinsamen Ziel: den Hintergrund zu erhellen, vor dem in der Individualpsychologie „therapiewürdiges“ (sowohl in seiner Eigenart als auch in seiner Entstehung) als solches bestimmt wird.
2.2.1 Entwicklungstheorie Im Jahre 2011 bietet sich LeserIn eine nahezu unüberblickbare Vielfalt an Fachliteratur zum Thema „Entwicklung“ und all seinen mannigfaltigen Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten. Richtet sich die Suche jedoch auf Werke, in denen man eine spezifisch individualpsychologische Entwicklungstheorie zu finden hofft, so bleibt die Suche erfolglos. In früheren individualpsychologischen Übersichtswerken, Handbüchern, Anthologien und Bibliographien (Wexberg 1926, Ansbacher u. Ansbacher 1965, Mosak u. Mosak 1975) ist der Begriff Entwicklung nicht einmal im Stichwortverzeichnis zu finden. Erst im von Reinhard Brunner und Michael Titze herausgegebenen „Wörterbuch der Individualpsychologie“ finden sich in der ersten und der überarbeiteten und erweiterten zweiten Auflage (1995, 107 ff.) ein nennenswerter Eintrag zu diesem nicht nur aber besonders für jede Tiefenpsychologie so zentralen Begriff. Hier stellt Rogner die „Frage, warum Entwicklung in der Individualpsychologie offensichtlich kein eigenständiges Thema darstellt“ (Rogner 1995, 107). Die von ihm in Anlehnungen an Ansbacher angebotene Antwort, dass eben in einem holistischen Ansatz wie jenem Alfred Adlers „zwischen Werden und Sein im Grunde nicht differenziert werden kann“ (ebd.) kann natürlich nicht befriedigen. Nicht nur die Tatsache, dass mit der Ignorierung der menschlichen Entwicklung als eines eigenen und eigenständigen Forschungs- und Wissensbereiches die in den letzten Jahrzehnten explosionsartig angewachsenen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Theorienbildung der Individualpsychologie ungenützt bleiben würden, lässt dieses Argument absurd erscheinen, sondern auch der Grundgedanke Alfred Adlers, der hier nicht nur die unverbrüchliche gegenseitige Verwiesenheit von Werden und Sein klar ausgedrückt hat, sondern auch einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie eine formale Richtlinie vorgibt: „Insbesondere ist es [. . . ] selbstverständlich, mit dem Entwicklungsgedanken zu rechnen [. . . ]. Der menschliche Geist ist nur allzu sehr gewöhnt, alles Fließende in eine Form zu bringen, nicht die Bewegung, sondern die gefrorene Bewegung zu betrachten, Bewegung, die Form geworden ist. Wir Individualpsychologen sind seit
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jeher auf dem Weg, was wir als Form erfassen, in Bewegung aufzulösen, und da müssen wir für das einzelne Individuum unserer Zeit sowie für die Entwicklung der Lebewesen feststellen, dass Leben sich entwickeln heißt“ (Adler 1933i, 552). Eine individualpsychologische Entwicklungstheorie hat also vier Leistungen gleichzeitig zu erfüllen: Erstens hat sie den Erkenntnissen der aktuellen einschlägigen Forschung Rechnung zu tragen, z. B. jener in den letzten beiden Jahrzehnten in Quantität und Qualität stetig anwachsenden Forschungsfelder „Affektregulierung“, „Mentalisierung“, „Bindung“ und „Intersubjektivität“. Zweitens muss sie sich an den zentralen entwicklungsrelevanten Grundbegriffen orientieren, die in den Basistheoremen ihres Menschenbildes und ihrer Persönlichkeitstheorie konstelliert sind und damit die Grundlagen für ein individualpsychologisches Verständnis mehr oder weniger „geglückter“ Entwicklungen darstellen, also v. a. die Bewältigung der entwicklungsspezifischen Lebensaufgaben angesichts der im Gemeinschaftsgefühl kompensierbaren Minderwertigkeitsgefühle und des in der Gleichwertigkeit aufgehobenen Geltungsstrebens. Dabei muss sie in ihrem Selbstverständnis als Tiefenpsychologie, will sie dem hier vorangestellten Titel als „psychoanalytische Individualpsychologie“ gerecht werden, den paradigmatischen Theoremen der Psychoanalyse, wie dem Unbewussten (in allen seinen Eigenarten und Erscheinungsformen), den Phänomenen von Übertragung und Gegenübertragung 3 , Wiederholungszwang, Projektion u. dgl. Rechnung tragen. Drittens muss sie, will sie nicht Selbstzweck sondern Grundlage therapeutischer Praxis sein, auch jene entwicklungstheoretischen Erkenntnisse maßgeblich mit einbeziehen, die für die Basis der therapeutischen Beziehung und des analytischen Prozesses relevant sind. Diesbezüglich werden hier vor allem die entwicklungstheoretischen Konzepte des „Virtuellen Anderen“ und des „Intermediären Raumes“ herangezogen. Und drittens muss sie, will sie an Adlers Grundintentionen orientiert bleiben, bei all dem versuchen, „was wir als Form erfassen, in Bewegung aufzulösen“ (ebd.). Es gäbe also für eine Psychoanalytische Individualpsychologie die Möglichkeit und die Notwendigkeit, an aktuellen Forschungsergebnissen ebenso wie an individualpsychologischen Grundbegriffen ausgerichtete Entwicklungstheorien zu erstellen, die prozessorientiert angelegt sind. Tatsächlich finden sich im deutschsprachigen Raum, in dem Individualpsychologie immer auch Tiefenpsychologie bedeutet, zwar in verschiedensten Rahmensetzungen (Fachartikel, Beiträge in HerausgeberInnen-Bänden, Kongressbeiträge, Monografien etc.) viele Beiträge individualpsychologischer Autoren und Autorinnen, die in unterschiedlichster Intensität und Extensität entwicklungsbezogene Themen behandeln, aber ein Werk, in dem ein solches systematisches Theoriengebäude zur 3
Wobei dieser Begriff der Gegenübertragung hier einem Begriffsverständnis folgt, wie es ich in großen Teilen der psychoanalytischen Community mittlerweile weitestgehend durchgesetzt hat, nämlich generell als „die emotionalen Reaktionen des Therapeuten als Antwort auf das Verhalten des Patienten in der therapeutischen Situation“ (Cashdan 197).
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
menschlichen Entwicklung nach Maßgabe individualpsychologischer Grundbegriffe und Grundannahmen erstellt wurde, ist noch immer ausständig. Nun kann von diesem Kapitel ein Theoriengebäude natürlich auch nicht erwartet werden. Gleichwohl soll hier der Versuch unternommen werden, eine „individualpsychologische Linie“ durch einen repräsentativen Ausschnitt der oben genannten aktuellen Forschungslandschaft zu spezifischen Entwicklungsthemen zu legen. Dieser Versuch stellt eine für die moderne Individualpsychologie legitime Vorgangsweise dar: „In der Analyse dieser Umstände können die modernen Konzepte der Psychoanalyse, Selbstpsychologie, Traumatherapie etc. angewandt werden. Das Konzept der Mentalisierung, der paranoid-schizoiden und depressiven Position, der projektiven Identifizierung und des Enactments (Feldman 1994) sind sehr nützlich, wenn sie als beschreibende Einschätzungen und nicht als theoretische Dogmen genommen werden. Die adlerianische psychodynamische Therapie macht Gebrauch von all diesen Instrumenten. Wir übersetzen nicht adlerianische Konzepte, um sie in die psychoanalytische Theorie zu integrieren, sondern im Gegenteil, wir fügen psychoanalytische Beschreibungen in Adlers Lebensstil-Theorie ein“ (Eife 2006, 8). Dabei wird zum einen ein spezielles Entwicklungsmodell einbezogen, das sich aus mehreren Gründen, vor allem durch seine Nähe zu den Adler’schen „Lebensaufgaben“ für eine solche „individualpsychologische Rekonstruktion“ geradezu anbietet, nämlich jenes, das Erik H. Erikson als eine Abfolge von Lebensthemen über die gesamte Lebensspanne hinweg erarbeitet hat. Erikson kann als „Klassiker“ der IchPsychologie und Neopsychoanalyse bezeichnet werden, seine Arbeiten stammen aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, haben großen Einfluss auf Bereiche der psychoanalytischen Theoriebildung bis heute gehabt, sind aber auch von mehreren AutorInnen kritisiert worden. Auch Bernd Rieken wird sich in Kap. 2.5.1 kritisch auf Erikson und bestimmte Aspekte seines Modells beziehen. Dies wird aber eher zwei Aspekte seines Werkes betreffen, die im Folgenden in einem gewissen Sinn relativiert werden, nämlich die Annahme, es könne in jeder Phase zu einer „dauerhaften“ Lösung des jeweiligen Grundproblems kommen und die Annahme, dass die von Erikson behaupteten Lebensthemen für alle Kulturen gelten könnten. Die Nähe zur Individualpsychologie wird auch Rieken hervorheben, vor allem was die Aspekte der Grundannahmen eines ganzheitlichen Menschenbildes und der Berücksichtigung der Rolle der sozialen Außenwelt für die Entwicklung des Individuums betrifft. Zum anderen soll Bedacht genommen werden auf zwei Konzepte, die zumindest teilweise die dritte der oben geforderten Leistungen einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie erbringen helfen. Hier gilt es die Grundlage darzustellen, auf der sich die Erreichung zentraler individualpsychologischer Therapieziele (wie jener einer „Aufgabe der Neurose“ zugunsten einer „Kompensation von Minderwertigkeit im Gemeinschaftsgefühl“) innerhalb eines analytischen Settings überhaupt den-
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ken lässt. Zu diesem Zweck wird das Konzept des „Virtuellen Anderen“ von Stein Bråten zu einem individualpsychologischen Konzept der „Virtuellen Positionen“ erweitert, der „Intermediäre Raum“ Donald W. Winnicotts als „intermediärer Transformationsraum“ verstanden und in der Verbindung beider menschliche Entwicklung als „kooperative Subjekttransformation“ dargestellt, die Kennzeichen menschlichen Zusammenlebens ist und sich im therapeutischen Beziehungsprozess lediglich auf eine spezielle und besonders effektive Weise ereignet. Eine solche individualpsychologische Entwicklungstheorie wird dadurch zur systematischen Grundlage für eine individualpsychologische „Psychopathologie“ oder „Krankheitslehre“ wie auch fruchtbarer Ausgangspunkt für eine theoretische wie praktische Gestaltung und Formung individualpsychologischen Wissens über den „therapeutischen Prozess“ und die „Behandlungstechnik“. 2.2.1.1 Die „Big Four“ der modernen Entwicklungsforschung Wenn Adler davon spricht, „dass eigentlich jedes Kind . . . ohne ein erhebliches Maß von Gemeinschaftsgefühl der ihm nahe stehenden Menschen gar nicht bestehen könnte“ (Adler 1927a, 72), dann ist jeder individualpsychologischen Entwicklungstheorie aufgegeben, ein differenziertes Bild dessen zu erstellen, was Adler hier so undifferenziert als „Gemeinschaftsgefühl“ bezeichnet und wovon er mit Recht behauptet, dass der Mensch immer aber ganz besonders zu Beginn des Lebens darauf existentiell angewiesen ist. Die psychoanalytische Kleinkindforschung hat von Anfang an den Menschen auch und gerade in seinen frühesten Phasen „nicht nur als empirisches, sondern auch als epistemisches Subjekt betrachtet“ (Dornes 2000). Dadurch kommt sie einer bestimmten Grundhaltung Adlers entgegen, indem es ihr Anliegen ist, „durch das Studium der frühen Lebensjahre alte philosophische Fragen – wie zum Beispiel die nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, nach der Konstitution von Intersubjektivität oder nach der Stellung des Menschen in der Welt – mit anderen Methoden als denen rein philosophischen Denkens zu beantworten“ (ebd.). Jener Ausschnitt aus der aktuellen Forschungslandschaft, der einige Schritte auf dem Weg zu einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie ermöglichen soll, beinhaltet vor allem vier wesentliche Themenbereiche der Persönlichkeitsentwicklung: a) b) c) d)
Affektregulierung Mentalisierung Bindung Intersubjektivität
Diese vier Begriffe charakterisieren Gebiete der aktuellen Entwicklungsforschung, die sich im letzten Jahrzehnt als jene herauskristallisiert haben, in denen am inten-
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
sivsten und am folgenreichsten für die Therapielandschaft geforscht wird. Gerade in den letzten Jahren steigert sich die Zahl der Publikationen, in denen eine intensivierte und auf aktuellstem wissenschaftlichem Niveau arbeitende Erforschung der frühesten Kindheit psychoanalytisches Wissen mit Ergebnissen bereichert, deren Bedeutung für die individualpsychologische Theoriebildung und Praxisgestaltung noch lange keineswegs befriedigend ausgelotet ist. Debatten über die Legitimität und Sinnhaftigkeit (bis Notwendigkeit) einer empirischen Erforschung der frühesten Kindheit aus psychoanalytischer Sicht, wie sie noch 1997 zwischen dem wütend-orthodoxen Kritiker André Green und dem subtilen Protagonisten Daniel Stern 4 stattfanden, sind im Wesentlichen abgeklungen, die Etablierung dieses Forschungsgebietes innerhalb der Psychoanalyse und die Einarbeitung seiner Erkenntnisse in die Theorienbildung und Praxisgestaltung aller tiefenpsychologisch orientierten Therapierichtungen (und nicht nur dieser) schreitet zusehends voran und wird immer intensiver und auf immer breiterer Basis rezipiert und umgesetzt. Namen wie Peter Fonagy, Mary Target, Esther Bick, György Gergely, Beatrice Beebe, Frank M. Lachmann, Martin Dornes, Daniel Stern sind hier nur die bekanntesten unter der großen Zahl von ProtagonistInnen dieses weiten Forschungsgebietes, in dem das, was in immer engerer Zusammenarbeit zwischen den Ansätzen der Säuglingsbeobachtung und der Bindungsforschung erarbeitet wird, die Psychotherapie Erwachsener zusehends nachhaltiger und weiterreichend beeinflusst (Beebe u. Lachmann 2002) 5 . Und sie haben in frappierend vielen Aspekten ihrer Grundannahmen eine deutliche Nähe zu jenen Alfred Adlers. Wenn wir an seine „Grundierung“ des Gemeinschaftsgefühls als evolutionäre Notwendigkeit bzw. als Gegengewicht gegen die Neurose und seine Betonung „sozialer Nützlichkeit“ in der Bewältigung der Lebensaufgaben Gemeinschaft, Liebe und Arbeit denken, klingen die Worte des Pioniers der Mentalisierungsforschung, Peter Fonagy, wie eine Deklaration jener Brücke zwischen Adler’schen Gemeinschaftsgefühl und Lebensaufgaben, Bowlby Bindungs4
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Die von Joseph Sandler eröffnete Tagung in London fand gleich zu Beginn ihren Höhepunkt in den aufeinanderfolgenden Vorträgen von Green und Stern. Die Auseinandersetzung entzündete sich an der von Green besonders heftig geführten Grundsatzdiskussion über die Frage, ob Säuglingsforschung überhaupt legitimer Teil des Psychoanalytischen Hoheitsgebietes sein dürfe. Die angeblich vom Behaviorismus getragene Verweigerung der SäuglingsforscherInnen, Erkenntnisse über das Kind (das laut psychoanalytischer „Hardliner“ wie Green nur als das Kind im erwachsenen Patienten des Couch-Settings legitimes Objekt von Psychoanalyse sein darf) nur der Rekonstruktion aus dem Wissen über Erwachsene zu überlassen und die damit verbundene Entscheidung, empirisches Beobachtungswissen als legitimes Forschungsziel zu erachten, hat als gegen sie geführtes Argument mehrere Vorläufer und wurde mit ebensolcher Heftigkeit damals gegen Bowlby und die Bindungsforschung eingesetzt. Es ist ein ironisches Detail der von Sandler (Sandler u. a. 2000) publizierten Tagung, das gerade diese „Streit-Tagung“ in London stattfand, denn Grundsatzdebatten über die „Spezifität“ und „Exklusivität“ der Psychoanalyse in Bezug auf die Art ihrer „Wissenschaftlichkeit“ gehören zu Vergangenheit und Gegenwart der Psychoanalyse wie der Regen zu London. Aus der Mentalisierungsforschung haben sich mittlerweile eigene therapeutische Verfahren, wie z. B. jenes der „Mentalisierungsgestützten Therapie“ (MBT) (Allen u. Fonagy 2009, Bolm 2009) entwickelt.
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konzept und Fonagys Mentalisierungsmodell, eine Brücke, die in diesem Kapitel geschlagen werden soll: „Unsere Theorie der Affektregulierung und Mentalisierung ermöglicht es uns, die Überlegungen zu erweitern und zu vertiefen, die von Theoretikern wie John Bowlby über die Evolutionsfunktion der Bindung formuliert wurden. Wir behaupten, daß eine evolutionäre Aufgabe der frühen Objektbeziehungen darin besteht, dem Säugling und das Kleinkind mit einer Umwelt zu versorgen, in die sich das Verstehen fremder und eigener mentaler Zustände voll entfalten kann. . . . Da die Mentalisierung ein zentraler Aspekt des menschlichen Funktionierens in Sozialzusammenhängen ist, können wir folgern, daß die Evolution besonderen Wert auf die Entwicklung mentaler Strukturen gelegt hat, mit deren Hilfe interpersonales Handeln interpretiert werden kann. . . . Innere Zustände müssen eine Bedeutung haben, die anderen mitgeteilt und in anderen interpretiert werden kann, denn diese Interpretationen dienen als Orientierung bei der Arbeit, in der Liebe und beim Spiel“ (Fonagy et al. 2004, 13). Die vier anfangs aufgelisteten Begriffe „Affektregulierung“, „Mentalisierung“, „Bindung“ und „Intersubjektivität“ markieren die prominentesten Themen dieser Forschungslandschaft. Sie werden daher im Folgenden auch immer wieder als die „Big Four“ der modernen Entwicklungsforschung bezeichnet werden. In ihnen geht es einerseits um die Ausbildung spezifischer Kompetenzen, in denen die Individualpsychologie grundlegende Voraussetzungen für die Ausbildung des für Adler so zentralen „Gemeinschaftsgefühls“ und einer an ihm orientierten „geglückten Lebensführung“ sieht, andererseits gelten sie für Individualpsychologen und Individualpsychologinnen als jene vier „Hauptübungsfelder“, in denen die Entwicklungsfähigkeit des Menschen ihre größten Herausforderungen findet: seine Gefühlswelt regulieren und kommunizieren zu können, sich selbst und die anderen zu verstehen und anzuerkennen, tragfähige Bindungen eingehen und aufrechterhalten zu können und sich der gemeinsamen Arbeit am Zwischenmenschlichen hinzugeben ohne seine Individualität zu verlieren. Gleichzeitig enthalten eben diese „Lebensaufgaben“ auch die brisantesten Anlässe für Minderwertigkeitsgefühle und deren glückende oder scheiternde Kompensationsversuche in der Verfolgung der lebensstilbestimmenden Zielvorstellungen von Geltung und sozialer Gleichwertigkeit. In der „Affektregulierung“ liegt die zentrale Herausforderung in der Integration stetig oder zumindest immer wieder drängender innerer Bedürfnislagen und energetischer Drangzustände (deren Auftreten durch Gehalt und Intensität für das Selbsterleben potentiell desintegrierend ist), vor dem Hintergrund zweier für den Menschen existentieller Orientierungen: der Erreichung einer ausreichenden Stabilität der eigenen Persönlichkeit und ihres Selbstwertgefühls und der eigenen Ausgerichtetheit auf ein Bestehen im Zusammenleben mit den „Anderen“. Daher erfordert die „Regulierung“ der Affekte sowohl deren Zulassen, Gewahrwerden und Identifizieren, sowie
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deren Modulation in Bezug auf deren Intensität und Wirkmächtigkeit, als auch deren Äußerung im Sinne einer kommunikativen Vermittlung. „Mentalisierung“ erfordert ein (An-)Erkennen der eigenen Person und jener der „Anderen“ als einer „mentalen (und speziell intentionalen) Entität“, also als je eigenständige Wesenheiten, die in aller unleugbaren Alterität eines gemeinsam haben: sie sind alle erfüllt von Gedanken und Gefühlen, Wünschen und Ängsten, Phantasien und Erinnerungen, Erklärungen und Zielvorstellungen, Plänen und Vorhaben, Werten und Einschätzungen. Diese Fähigkeit umfasst zwei Teilfähigkeiten: zunächst geht es um das Erkennen und Annehmen der eigenen und anderen Mentalität. Darauf aufbauend entwickelt sich im Normalfall eine wesentlich komplexere, lebenslang zu erweiternde Fähigkeit, nämlich jene, die eigene und andere Mentalität ganzheitlich zu erfassen und in verstehendem Nachvollzug durchdringen zu können 6 . „Bindung“ meint das Erschaffen und Aufrechterhalten einer tiefgehenden und umfassenden Bezogenheit 7 zu einem Gegenüber und verweist unmittelbar auf „Trennung“ und damit auf die gegenseitige Verwiesenheit der InteraktionspartnerInnen von Entwicklungsverläufen. Die Reaktionen auf Trennungssituationen, in denen diese Verwiesenheit schmerzhaft deutlich wird, enthält eine besondere Herausforderung, nämlich sowohl jene leidvollen Gefühle zulassen zu können, die durch die Trennung von einer bedeutsamen und relevanten Person (also einer, zu der eine entsprechende Bindung bereits besteht) ausgelöst werden, als auch gleichzeitig die innere Bezogenheit nicht zugunsten einer prekären und daher schwer aufrechtzuerhaltenden Integrität und Stabilität aufgeben (resp. verdrängen bzw. verleugnen) zu müssen. „Intersubjektivität“ 8 schließlich beinhaltet ein ganzes Bündel an Herausforderungen. Angefangen von den Möglichkeiten und Grenzen von „Kommunikation“, also dem Herstellen eines gemeinsamen Bedeutungsraumes, innerhalb dessen das je Andere und das je Eigene vermittelt und verhandelt werden kann und der im Wesent-
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Man könnte, dieser Definition folgend, den Psychotherapieberuf als einen sehen, der eine spezielle und tiefgehende „Ausbildung in Mentalisierung“ betreibt. Dieser Begriff eignet sich für individualpsychologische Überlegungen auch und gerade zur Analyse von Übertragungsaspekten, wie auch Eife feststellt: IndividualpsychologInnen „halten die Übertragungen für Weisen der Bezogenheit, die Gefahr, Sicherheit oder Entfaltungsmöglichkeit bedeuteten“ (Eife 2006, 8). Die vielfältigen Wurzeln der Erforschung der Intersubjektivität und die mit ihr verbundene große Anzahl von PionierInnen auf diesem Gebiet können hier nicht vorgeführt werden. Als prominentes Beispiel gilt natürlich Daniel Stern, dessen 1985 im Original erschienenen Werk „The Interpersonal World oft he Infant“ bereits auf diesen Aspekt des Intersubjektiven hinweist, was im Titel der deutschen Übersetzung „Die Lebenserfahrung des Säuglings“ (Stern 2003) wieder verloren geht. Stern ist jedenfalls durch Werke wie „Die Mutterschaftskonstellation“ (Stern1998) oder „Der Gegenwartsmoment“ (Stern 2005) auch im deutschsprachigen Raum berühmt geworden. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Bandes sprach Stern anlässlich eines Aufenthaltes in Wien von seinem gerade fertiggestellten neuesten Werk, das im deutschsprachigen Raum noch nicht erschienen ist, in dem er das Konzept der „Vitalität“ (und damit den alten Begriff des „elan vital“) auf der Basis der neuestens Forschungen wieder in den Vordergrund rückt.
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lichen ein intermediärer Raum 9 ist, bis hin zu der Bewältigung von Spannungsfeldern, die aus den Unterschieden und Gegenläufigkeiten dessen entstehen, was der je Andere für die je eigenen Bedürfnislagen bedeutet bzw. bedeuten oder nicht bedeuten kann. Im Begriff des „Relationalen“ 10 , in dem bestimmte Aspekte des Intersubjektiven verschärft und konsequent weiterentwickelt werden, ist die absolute Hingabe an diesen gemeinsam erschaffenen Raum im Sinne des Ortes, an dem Transformation immer wieder entstehen kann, von zentraler Bedeutung. Alle vier Bereiche weisen untereinander vielfältige Verbindungen auf: Bindung ist durch die in ihr enthaltene essentielle gegenseitige Bezogenheit und Verwiesenheit die Basis, auf der Interaktionen als Realisierungen von Intersubjektivität bedeutsam und relevant werden und gemeinsam mit der „Verständnishilfe“ der Mentalisierung Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen entstehen lassen, die an ausbalancierten Beziehungsformen ausgerichtet sind und einen dafür notwendigen regulierenden Rahmen für aufkommende Affekte bieten 11 .
Intersubjektivität: ________________ Hingabe an einen gemeinsam erschaffenen Bedeutungs- und Transformationsraum
Mentalisierung: ______________
Affektregulierung: ________________
Erkennen und annehmen der eigenen und anderen Mentalität
Zulassen, Gewahrwerden, Identifizierung, Modulierung und kommunikative Vermittlung von Affekten
Erfassen und verstehen der eigenen und anderen Mentalität
Bindung: ________ Erschaffen und Aufrechterhalten der Bezogenheit und gegenseitigen Verwiesenheit
Abb. 1 Die „Big Four“ der Entwicklungsforschung als Themenverbund
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Also jener Raum, der gewissermaßen einen Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft bildet, zwischen bisher erreichten Kompetenzen und gerade notwendig gewordenen Kompetenzen, die erst aufgebaut werden müssen (s. d.Winnicott 2010). 10 Dieser Begriff wird im Kapitel „Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse“ erläutert. 11 Die Verbindungen zwischen den Big Four sind damit natürlich nur in einem Bruchteil angedeutet. Hier geht es um ein dichtes Feld von Querverbindungen innerhalb der vier, aber auch zu anderen entwicklungspsychologischen wichtigen Themen, wie z. B. in der Verbindung zwischen Bindung
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2.2.1.2 Eriksons Konzept der Lebensthemen als Hintergrund für ein individualpsychologisches Konzept der Lebensaufgaben Erik Homburger Eriksons Werk in Adler’sches resp. individualpsychologisches Denken zu integrieren, fällt nicht schwer. Dabei geht es weniger um die immer wieder hervorgehobene Tatsache, dass beide Autoren wesentliche Beiträge zu einer psychoanalytischen Ich-Theorie geleistet haben, sondern vielmehr um den grundlegenden Duktus ihres Denkens, der das Eingebettetsein des Individuums in Gemeinschaft als Quell grundlegender Ambivalenzen, tiefgehender Krisen ebenso wie als unersetzlicher Boden aller Entwicklungschancen sieht. Es gibt eine Vielzahl von Stellen, die wörtlich als charakteristische Aussagen Alfred Adlers gelten können, so z. B. wenn Erikson über die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft spricht, und diesbezüglich meint, dass „. . . jede Einzelerfahrung, die ein Mitglied . . . machte, . . . hinsichtlich ihres Ortes auf den Koordinaten der . . . ineinander eingreifenden Lebenspläne definiert werden“ muss“ (Erikson 1977, 16) oder wenn er vom „Lebensplan der Gruppe“ (ebd.) spricht. Als Beispiel für viele seien hier nur zwei Stellen ausführlicher zitiert, weil sie als Musterbeispiele für den hier behaupteten Gleichklang gelten können: „[. . . ] Brüche können eine Krisis auslösen; sie erfordern eine entschiedene, strategische Umformung der Verhaltensmuster und führend damit zu Kompromissen, die nur durch das stetig wachsende Gefühl des sozialen Wertes solcher vermehrten Verpflichtungen kompensiert werden können. [. . . ] Die Gemeinschaft unterstützt diese Entwicklung insoweit, als sie dem Kind erlaubt, sich bei jedem Schritt an einem vollständigen ‚Lebensplan‘ [. . . ] zu orientieren“ (ebd., 142). „Wir müssen den Zusammenhang finden zwischen den sozialen Leitbildern und den Kräften des Organismus – nicht nur in dem Sinne, daß Leitbilder und Kräfte in einer Wechselbeziehung stehen. Vielmehr stellt das komplementäre Verhältnis von Ethos und Ich, von Gruppen-Identität und Ich-Identität sowohl der Ich-Synthese als auch der sozialen Organisation ein größeres Potential zur Verfügung“ (ebd.). Mit solchen und vielen anderen Positionierungen steht Erikson zweifellos dem individualpsychologischen Gedankengut sehr nahe. Was ihn als „psychoanalytischen Individualpsychologen“ so besonders wertvoll erscheinen lässt, ist aber nicht nur die Tatsache, dass er als einer der ganz wenigen Tiefenpsychologen ein Entwicklungsmodell geschaffen hat, das die ganze Lebensspanne umfasst, sondern dass er die Bedeutung des unentrinnbaren Antagonismus in jenen Kräften sieht und integriert, die – in der conditio humana begründet – des Menschen Leben in jeder Sekunde durchwirken. In diesem Spannungsfeld markiert er acht „Lebensthemen“. Im Folgenden werden diese auch als antagonistische „Lebensgefühle“ interpretiert werden, die im Zuge und der Entwicklung mentaler Repräsentationen (Steele 2005), oder jener zwischen Affektregulation, mit Symbolbildung und Sprachentwicklung (Greenspan u. Shanker 2004) u. dgl. m.
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der Auseinandersetzung mit diesen Lebensthemen entstehen. Sie sind individualpsychologisch gesehen jeweils integrativer Bestandteil jeder mehr oder weniger gelungenen Lebensführung und ermöglichen nur dann eine kooperativer Haltung zur Gemeinschaft, wenn sie einer tragfähigen und nachhaltigen Integration zugeführt werden. Insofern markieren sie gleichzeitig Lebensaufgaben im Sinne von Unterkategorien der Adler’schen Lebensaufgaben Gemeinschaft, Liebe und Beruf: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Urvertrauen versus Urmisstrauen Autonomie versus Scham und Zweifel Initiative versus Schuldgefühl Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl Identität und Ablehnung versus Identitätsdiffusion Intimität und Solidarität versus Isolierung Generativität versus Selbstabsorption und Stagnation Integrität versus Verzweiflung und Lebensekel
Die acht Lebensthemen, die Erikson in einem vielzitierten Diagramm zusammengestellt hat, sind also als Polaritäten innerhalb eines thematisch organisierten Lebensgefühls zu verstehen und markieren den Stachel, der, wie Bernd Rieken bereits gezeigt hat, gerade auch der individualpsychologischen Konzeptionierung eines Minderwertigkeitsgefühls innewohnt, das von Anfang an als stete Irritation Anreiz zu Kompensationsleistungen und damit zu Entwicklung bietet: „Das hier vorgelegte Diagramm wird oft insofern mißbraucht, als man das Gefühl des Vertrauens (und auch alle anderen in dem Diagramm postulierten positiven Gefühle) als eine Errungenschaft auffaßt, die in der betreffenden Phase ein für allemal erworben worden ist. Manche Autoren sind tatsächlich so darauf fixiert, Skalen solcher Errungenschaften aufzustellen, daß sie alle negativen Qualitäten (wie das ‚Ur-Mißtrauen‘), die doch den lebenslänglichen Kontrapunkt der positiven Einstellungen bilden, einfach weglassen. (So die „Reifungs-Skala“der Eltern- und LehrerOrganisation in Omaha, Nebraska [. . . ], die zwar unsere Stadien ‚adaptiert‘, aber jeden Hinweis auf Krisen unterschlägt). Was das Kind in den einzelnen Phasen erwirbt, ist ein relatives Gleichgewischt zwischen positiv und negativ; wenn die Waagschale sich mehr zum Positiven neigt, sind die Chancen für eine Überwindung späterer Krisen und eine unbehinderte Gesamtentwicklung günstiger. Die Vorstellung, es werde auf irgendeiner Stufe ein Zustand erreicht, der für neue Konflikte von innen und Änderungen von außen unangreifbar sei, ist eine Projektion jener Erfolgsideologie auf das Kind, die unsere privaten und öffentlichen Tagträume auf gefährliche Weise durchtränkt und uns unfähig machen kann für den immer schwerer werdenden Kampf um eine sinnvolle Existenz in unserer Zeit. Nur im Lichte der inneren Spaltung und der gesellschaftlichen Antagonismen ist der Glaube an die natürliche Widerstands- und Schöpferkraft des Menschen berechtigt und fruchtbar“ (Erikson 1977, 69).
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Die acht Lebensthemen bzw. „Lebensgefühle“, die Erikson mit Bezeichnungen versehen hat, die positiv wie auch negativ besetzte „Qualitäten“ des jeweiligen Lebensthemas markieren, bilden darüber hinaus auch kein Entwicklungsmodell, das im Sinne von Stufen zu interpretieren ist, wie ein erster oberflächlicher Blick nahelegen würde. Erikson gibt zwar Zeiträume an, innerhalb derer die jeweiligen Themen besonders virulent werden, aber alle acht Themen sind einerseits in der Entwicklung aller Menschen immer angelegt und können andererseits trotz der Tatsache, dass sie zu bestimmten Zeiten besondere Bedeutung und damit auch gesteigerte Fragilität erlangen, in allen Phasen der menschlichen Entwicklung nicht nur zu neuer gesteigerter Bedeutung gelangen (z. B., durch bestimmte life events), sondern auch bis zu einem u. U. hohen Maße „nachbearbeitet“ werden – eine These, die die Basis für einen essentiell notwendigen (vorsichtigen) therapeutischen Optimismus bietet. Im Folgenden wird zunächst wie bei den vier Forschungsbereichen der Affektregulierung, der Mentalisierung, der Bindung und der Intersubjektivität (den „Big Four“ der Entwicklungsforschung) eine Kurzbeschreibung der für die Individualpsychologie relevantesten Aspekte der acht Lebensthemen geboten. Im Anschluss daran werden nach einer kurzen Erläuterung der „individualpsychologischen Linie“ die – wie angekündigt – durch die Forschungsbereiche und die Lebensthemen gezogen werden soll, zwei ebenfalls prominente Konzepte (der „Virtuelle Andere“ und der „Intermediäre Raum“) skizziert, individualpsychologisch erweitert und im Konzept der „kooperativen Subjekttransformation“ zusammengeführt. Vor dem Hintergrund einer solchen „individualpsychologischen Entwicklungsmatrix“ wird dann eine kurze Skizze einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie als Integration dieser vier Elemente (Aktuelle Forschungsbereiche, Lebensthemen/Lebensaufgaben, „individualpsychologische Linie“, „kooperative Subjekttransformation“) angefertigt. 1. Urvertrauen versus Urmisstrauen Die ersten grundlegenden Antworten, die der Mensch existentiell erwartet, wenn er ins Leben tritt, sind jene, die auf Fragen gegeben werden können wie „Bin ich willkommen 12 oder komme ich ‚ungelegen‘?“ „Macht es Sinn, hier zu sein oder verlier ich mich im Nichts?“ „Bin ich in Sicherheit oder in Gefahr?“ „Werde ich in der Befriedigung meiner Bedürfnisse unterstützt oder behindert?“ „Hab ich ein Gegenüber, das ich erkennen kann und dass mich erkennen kann?“ u. ä. m.
12 Wie zentral genau diese Formulierung auf bestimmte existentielle Probleme speziell bei frühgestörten KlientInnen zutrifft, zeigt Heisterkamp sehr prägnant auf: „Es fordert eine besondere Kompetenz, mit dem Patienten die defizitären und konflikthaften Lebensbewegungen durchzuarbeiten und ihm quasi zu einer zweiten Geburt zu verhelfen, bei der er willkommen geheißen und freudig dabei begleitet wird, wenn es ihm immer besser gelingt, sich selbst zu übernehmen und selbst zu verantworten. Aus unserer täglichen Erfahrung wissen wir, wie langwierig und schwierig das ist und wie lange auch liebevolle Bereitstellungen umgedeutet oder zurückgewiesen werden“ (Heisterkamp 2005, 230).
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Entsprechend der eigenen Ausstattung und der Erfahrungen, die man eingebettet in eine Umwelt mit sich macht, changiert das Lebensgefühl in dieser Dimension zwischen a) einem Gefühl darauf vertrauen zu können, dass da prinzipiell alles ein Gegenüber darstellt, dem man willkommen ist für das es Sinn macht, hier zu sein und das ausreichend Sicherheit und Unterstützung bietet und b) einem Gefühl, das man in etwas hineingeworfen ist, für das man unwillkommen und sinnlos ist und das Gefahr und Einschränkung bedeutet. In diesen möglichen Polaritäten eines ersten existentiellen Lebensgefühls schwingen bereits die individualpsychologischen Aspekte des Minderwertigkeitsgefühls und des Gemeinschaftsgefühls mit. Natürlich ist das Lebensgefühl in dieser Dimension am Beginn des Lebens, vor allem im ersten Lebensjahr besonders prekär. Es ist aber auch offensichtlich, dass diese oben genannten „basalen“ Lebensgefühle im Laufe unseres Lebens durch verschiedenste Umstände immer wieder aktualisiert bzw. virulent werden. Dabei ist eine Integration des negativen Poles „Misstrauen“ mit dem positiven „Vertrauen“ notwendige Voraussetzung für die Implementierung des Realitätsprinzips in unseren Lebensplan und Lebensstil. 2. Autonomie versus Scham und Zweifel Ebenso ist die früheste Lebenszeit davon besonders stark geprägt, dass die Frage, inwieweit ich selbst derjenige bin, der darüber bestimmt, was ich tue und was mit mir geschieht, 24 Stunden am Tag absolute Brisanz aufweist. Wenn im zweiten Lebensjahr sich durch die Fähigkeit gehen und laufen 13 zu können der Aktionsradius vergrößert, werden auch die Möglichkeiten der Selbstbestimmung sprungartig ansteigen – und von der Umwelt mehr oder weniger unterstützt bzw. behindert. Worum es hier primär geht, ist die Verbindung zweier prinzipieller Thematiken, nämlich von „Selbst- und Fremdbestimmung“ und von „Zurückhalten“ und „Loslassen“. Die Herausforderung dabei bringt Erikson auf den Punkt: es gehe darum „Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls“ zu erreichen (Erikson 1977, 78). Die Gegenspieler der Autonomie sind die Lebensgefühle des Schames und des Zweifels, wenn durch die Reaktionen des Gegenübers der Eindruck entsteht, dass das, was ich selbst entschieden habe, nicht gut ausgegangen ist, und ich es besser den Entscheidungen meines Gegenübers überlassen hätte. Auch hier ist zwar die Zeit, in welcher der Mensch nicht nur lernt, sich selbständig fortzubewegen, sondern auch über seine Ausscheidungen zu verfügen, also das erste bis dritte Lebensjahr, die erste Zeit, in der dieses Lebensthema von besonderer Brisanz ist. Gleichwohl wissen wir, dass im Laufe des gesamten Lebens immer wieder Situationen entstehen, in denen wir (egal in welchem Alter und mit wem als Gegenüber) das Gefühl entwickeln können, nicht 13 Natürlich sind diese beiden Aktionsbereiche „laufen“ und „gehen“ weder die einzigen noch die ersten Bereiche, in den bereits in den frühesten Stadien des Lebens das Thema „Autonomie“ eine wesentliche Rolle spielt, wie im Folgenden durch die Erkenntnis der Säuglingsforschung sehr deutlich werden wird. Sie bleiben aber die auch für „fachfremde“ LeserInnen bekanntesten und offensichtlichsten Veränderungen im selbst bestimmbaren Aktionsradius.
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gut genug vorbereitet, nicht gut genug ausgerüstet, nicht kompetent genug zu sein, um selbst zu bestimmen, was (für uns) das Beste ist. Auch hier ist eine Ausgewogenheit von Selbstbewusstsein und Selbstkritik die beste Voraussetzung für eine Entwicklung, die sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft nützt. 3. Initiative versus Schuldgefühl Eine mehr vertrauensvolle, selbstbewusste oder aber eine mehr misstrauische, selbstzweiflerische und schambesetzte Haltung sind unterschiedliche Ausgangsbedingungen für die Entwicklung eines grundlegenden Gefühls dafür, in welcher Art sich der Mensch als handelnde Person versteht. Etwa zwischen vier und sechs verfügt das Kind bereits über eine breite Palette von Handlungsmöglichkeiten und entwickelt immer kreativere aber auch folgenreichere Ideen, was es alles „initiieren“ könnte. Im Familienverband ist es im Zuge seiner ödipalen Auseinandersetzung immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen es „aus seiner Rolle fällt“ und in rivalisierender Weise Aktivitäten setzt, mit denen es in Strukturen und Reviere „eindringt“, die darauf u. U. empfindlich reagieren. Was es dabei gerade im Sinne des Adler’schen Geltungsstrebens „in Gang setzt“, kann durch die Wahrnehmung der Folgen das gegenläufige Lebensgefühl der Schuld zur Folge haben – ein Szenario, das durch das ganze Leben hindurch immer wieder aktiviert wird. Eine „Mittellage“ zwischen dem ungebremsten Gefühl, initiativ sein zu dürfen und dem nagenden Schuldgefühl liegt in der Verantwortlichkeit, die die Folgen der Tat nicht für irrelevant für die Entscheidung zur Tat hält. 4. Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl In allen bisherigen Themen waren verschiedene Varianten des Minderwertigkeitsgefühls bereits relevant: Nicht „willkommen“ zu sein und vom Gegenüber nicht genährt und gehalten zu werden, kann bereits ein Gefühl, „es“ nicht wert zu sein, provozieren, in Scham und Zweifel liegt immer auch ein Ansatzpunkt für das Gefühl der Minderwertigkeit, und Initiativen mit bösen Folgen zu setzen verändert auch das Selbstwertgefühl. Aber erst jetzt, in der Zeit zwischen sechs und zwölf, wird der Mensch mehr und mehr dazu angehalten und verfügt auch erst jetzt über immer mehr Möglichkeiten, etwas zu „schaffen“ (oder eben nicht), und zwar im doppelten Sinn: „Werksinn“ zu entwickeln bedeutet sowohl das Gefühl, etwas „erschaffen“ zu können, als auch ein Gefühl, dass man die Anforderungen, die das erfolgreiche zu Ende führen eines Schaffensprozesses erbringen, auch wirklich erfüllen kann – ein lebenslanges Thema. Ein Aspekt des individualpsychologischen Minderwertigkeitsgefühls liegt also im Gefühl eines „Versagens“ angesichts der Anforderung, etwas zu „schaffen“. Hier ist die Erringung einer inneren Position, die mit den eigenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten gelernt hat umzugehen (bzw. vorab sie realitätsgerecht einzuschätzen), die fruchtbringendste.
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5. Identität (und Ablehnung) versus Identitätsdiffusion Hier ist die (in den meisten Darstellungen seines Modells selten einbezogene) Bezeichnung „Ablehnung“ (in Gegenüberstellung zur „Solidarität“ als Element der nächsten Thematik), die in Eriksons Matrix ursprünglich enthalten ist, recht aufschlussreich. Worum es Erikson nämlich hier geht, ist die Betonung eines Prozesses, in dem der Jugendliche, für den dieses Thema jetzt zum ersten Mal eine existentielle Bedeutung erlangt hat, einerseits verschiedene sich anbietende Identitätsversionen ausprobiert und wieder verwirft (also in diesem Sinne ablehnt) und gleichzeitig gegen andere Identitäten rebelliert (sie also in einem weiteren Sinne „ablehnt“). Das Einnehmen einer Stellung im sozialen Gefüge, die auch und gerade für Adler eine prominente Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung spielen, ist hier unmittelbar thematisch. Die Neuauflage der ödipalen Auseinandersetzung, die durch den alle Dimensionen des Menschen einbeziehenden sexuellen Reifungsschub der Pubertät eine nie zuvor gekannte Dynamik entfesselt, erfordert eine grundlegend neue Definition der eigenen Person. Als Grundgefühl bleibt aus dieser Phase (die in dieser tiefgreifenden Umwälzung aller Bereiche im weiteren Leben nur mehr bei massiven life events erlebt werden kann bzw. muss), eine mehr oder weniger stabile Grundlage für konvergierendes Selbsterleben, ein anhaltendes Selbstgefühl und tragende Vorstellungen über die eigene Unverwechselbarkeit im sozialen Gefüge. Diese mehr oder weniger tragfähige Grundlage allerdings wird wiederum in jeder Situation und jeder weiteren Krise die Basis für die Gestaltung der Situation sein. 6. Intimität (und Solidarität) versus Isolierung Mit der Hochkonjunktur des nächsten Themas, das eine besonders deutliche Korrespondenz zu Adlers Lebensaufgabe der „Liebesfrage“ aufweist, beginnt im frühen Erwachsenenalter gleichsam ein neuer Themen-Zyklus. Bevor es dazu kommt, dass der junge Erwachsene selbst eine Familie gründet oder in anderer Weise für die nächste Generation Sorge trägt, muss er nämlich in einem bestimmten Sinn „noch einmal von vorne anfangen“: eine intime Beziehung zu einer Person des Partnergeschlechts 14 einzugehen, bedeutet eine Nähe zuzulassen, die in bestimmten Aspekten 14 Der Autor dieses Kapitels vertritt eine bestimmte Position in der Frage der Wahl von PartnerInnen intimer Liebesbeziehungen. Kurz gesagt, dürfte die Version, die hier eingesetzt wird, nämlich neutral das „eigene Geschlecht“ und das „Partnergeschlecht“ zu benennen, jene zu sein, die die individualpsychologische Forderung nach „sozialer Gleichwertigkeit“ am meisten realisiert. Das Geschlecht, das mein Liebespartner bzw. meine Liebespartnerin hat, ist gegeben. Meines ebenfalls. Welche Kombination sich auch immer nun finden lässt, sie stellt nicht mehr und nicht weniger als eine der möglichen Kombinationen dar (s. d. „Die unneurotische Entwicklung zur Homosexualität“ bei Fritz Morgenthaler (Morgenthaler 2004, 86 ff.)), mit allen dazu gehörigen Implikaten. Jegliche Kategorisierung, die vor dieser Kombinationsfeststellung ansetzt, indem sie die eine als „normal“, die andere als „abweichend“ (oder gar als „Perversion“ oder „Krankheit“) markiert, ist aus der Sicht des Autors eine Stigmatisierung, die das freie Nachdenken und die freie Bezugnahme auf die tatsächlichen intersubjektiven Geschehnisse und Prozesse kontraproduktiv vorbelastet.
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jener gleicht, die der Heranwachsende am Anfang seines Lebens erfahren hatte. Körperlich und mental erfolgt eine derart konzentrierte und exklusive Aktivierung und Öffnung der Affektivität, dass alle bisherigen Themen noch einmal vehement aufbrechen: vorhandenes oder fehlendes Vertrauen, willkommen und wertvoll zu sein (Urvertrauen ⇔ Urmisstrauen), eine mehr oder weniger tragfähige Überzeugung, dass man selbst darüber entscheiden kann, was und wie man aktiv sein will (Autonomie ⇔ Scham und Zweifel) und dass die eigenen Aktivitäten etwas Positives bewirken (Initiative ⇔ Schuldgefühl), sowie das vorhandene oder fehlende Gefühl, zu wissen, wie man eine kreativen Prozess erfolgreich vollendet (Werksinn ⇔ Minderwertigkeitsgefühl) sind gerade in sexueller Intimität entscheidende Elemente von Erfüllung oder Frustration. Im Falle von überwiegend negativen Lösungen der vorhergehenden Phasen sieht sich das Individuum geradezu genötigt, sich angesichts „drohender“ Intimität zurückzuziehen und sich zu isolieren 15 . „Positiv“ ausgeprägte Lösungen der vorhergehenden Phasen hingegen erleichtern das Erreichen jener Dimension des Gemeinschaftsgefühls, die eine der wichtigsten Voraussetzungen für gelingende Intersubjektivität darstellt und die man mit Erikson „Solidarität in der Intimität“ nennen könnte: sich in ein verbindendes Gefühl der Zusammengehörigkeit bei starker Nähe und Exklusivität einzulassen, ohne dass die Stabilität des Selbstwertgefühls als gefährdet erlebt werden muss. 7. Generativität versus Stagnation/Selbstabsorption Hat sich die Persönlichkeit soweit ausgebildet und stabilisiert, dass sie alle Ressourcen erworben hat, um ein „vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft“ sein zu können, das mit einer gesunden Mischung von Vertrauen und Skepsis, Selbstbewusstsein und Selbstkritik, Handlungsbereitschaft und Verantwortungsgefühl, Bereitschaft zur Vollendung kreativ begonnener Aktivitäten und Erkennen und Akzeptieren der Grenzen des eigenen Könnens, sowie der Bereitschaft und Fähigkeit, sich ohne Gefährdung der eigenen Stabilität in eine umfassende Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft einzulassen, entsteht ein Bedürfnis, in einem bestimmten Sinn „über sich hinauszuwachsen“, nämlich das Erreichte einzusetzen, um dem, was einen
Eine solche Haltung scheint gerade angesichts der Tatsache der nach wie vor fehlenden Aktualisierung antiquierter Adler’scher Gedanken zum Thema „Homosexualität“ in der Individualpsychologie besonders vonnöten. 15 Diese Art der Isolation ist nicht zu verwechseln mit dem Rückzug, den Pubertierende immer wieder sehr intensiv betreiben. In der Pubertät absorbieren erstens die massiven inneren Umwälzungs- und Umschichtungsvorgänge, die zum überwiegenden Teil unbewusst ablaufen, einen so hohen Energiebetrag, dass sich der Jugendliche an der „Oberfläche“ immer wieder ruhig stellen muss, und zweitens sind die inneren Prozesse so irritierend, erschütternd und gleichzeitig so faszinierend, dass das Individuum sich in diesen Zeiten immer wieder zurückziehen muss, um in Ruhe „in sich hineinhorchen“ zu können. Die Isolierung als Gegenpol zur Intimität bezieht sich jedoch auf einen Rückzug, der intentional die Vermeidung von Nähe zu einem Gegenüber beinhaltet.
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heranwachsen hat lassen, also der Gemeinschaft, dabei behilflich zu sein, weitere Persönlichkeiten heranreifen zu lassen. Insofern ist die Bezeichnung „Generativität“, die Erikson hier gewählt hat, durchaus passend: es geht um das Bedürfnis und die Fähigkeit zu „generieren“, also gleichzeitig etwas Bleibendes zu erschaffen, das die eigene Generation überdauert, als auch den Boden dafür zu bereiten, auf dem eine nächste Generation wachsen kann. Hier klingen deutlich Adler’sche Gedanken zum „sozial nützlichen“ resp. „sozial unnützlichen“ an. Fehlen die Ressourcen aus gelungenen Lösungen der vorhergehenden Phasen, dann wird sich diese Strebung nicht auf das Gegenüber, die Anderen richten können, sondern in einer Art „Selbstabsorption“ unfruchtbar bleiben und damit einem Gefühl der Stagnation den Boden bereiten. 8. Integrität versus Verzweiflung/Lebensekel Die letzte Phase des Lebens enthält auch den finalen Entwicklungsschritt: Die Vollendung in der „Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig da sein mußten und durch keine anderen ersetzt werden könnten. Er bedeutet eine neue, andere Liebe zu den Eltern, frei von dem Wunsch, sie möchten anders gewesen sein als sie waren, und die Bejahung der Tatsache, daß man für das eigene Leben alleine verantwortlich ist 16 “ (ebd., 118). Ist eine solche Bejahung nicht möglich, ist Verzweiflung und oft Lebensekel die Folge. Dementsprechende Verachtung gegenüber anderen Menschen und Gemeinschaften ist dann eine auf diese gerichtete Projektion der Selbstverachtung des Individuums, deren direktes Gewahrwerden das volle Ausmaß der Verzweiflung zum Tragen bringen würde. Eriksons Modell kann zusammenfassend als Hintergrund für eine differenziertere Bestimmung dessen herangezogen werden, was Adler mit den drei Lebensaufgaben Gemeinschaft, Liebe und Arbeit meinte. Die acht oben unter individualpsychologischen Gesichtspunkten skizzierten Lebensthemen enthalten diesbezüglich folgende Aspekte menschlicher Entwicklung, in denen Ressourcen ausgebildet werden, die bei der Bewältigung dieser drei großen Herausforderungen im menschliche Leben notwendige Basis sind: • Grundvertrauen und Realitätssinn, • Selbstbestimmtheit und Selbstkritik, 16 Ein beeindruckendes Beispiel für das, was Erikson mit „Integrität“ als Lebensaufgabe in diesem letzten Lebensabschnitt gemeint hat und gleichzeitig eine konkrete Umsetzung des Ganzheitsgedankens als Lebensaufgabe führt uns die Analytikerin Danielle Quinodoz vor, in ihrem „Versuch, den Blick auf die Gesamtheit unserer persönlichen Geschichte zu richten, um das Ende unseres Lebens in dessen Gesamtverlauf einordnen zu können: mit seinem Anfang und seinem Ende“ (Quinodoz 2010, 15).
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Kreativität und Verantwortung, Schaffensvollendung und Anerkennung der eigenen Schwächen, Identitätskoninuität und Rollenflexibilität, Kommunikationsbereitschaft und Abstimmung der Grenzen, Fremdfürsorge und Eigenfürsorge 17 , Wertschätzende Akzeptanz und Trauerarbeit.
2.2.1.3 Die „individualpsychologische Linie“ Die angekündigte Skizzierung einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie, in der die „Big Four“ (Affektregulierung, Mentalisierung, Bindung, Intersubjektivität) gemeinsam mit einem an Erikson angelehnten Modell der Lebensaufgaben als Hintergrund dienen sollen, um eine psychoanalytisch orientierte Strukturierung zu erreichen, die die Grundsituation des in verschiedene Formen von Gemeinschaft integrierten Individuums erhellt, bedarf noch einer vorgängigen Entscheidung, welche psychoanalytischen und individualpsychologischen Grundbegriffe als Orientierungshilfen für eine „individualpsychologische Linie“ eingesetzt werden sollen. In Rückblick auf die bisherigen Erörterungen und in Vorgriff auf die zentralen Gedanken der weiteren Kapitel (vor allem der Krankheitslehre und der Behandlungstechnik) bieten sich dazu folgende Begrifflichkeiten an, die in den folgenden Sätzen kompakt verbunden werden sollen (wobei dann die „Form“ der Begriffe in die „Bewegung“ der Aussagen aufgelöst wird): Die Spezifik der menschlichen Entwicklung ergibt sich aus der Sicht der psychoanalytischen Individualpsychologie vor allem aus dem in der leitenden Fiktion verdichteten und im Lebensstil repräsentierten lebenslangen Versuch im sozialen Gefüge Geltung zu erlangen, dabei gefühlte Minderwertigkeit zu kompensieren und das Andauern eines möglichst hohen Selbstwertes im Bewusstsein zu sichern. Für diese Kompensation und Sicherung werden verschiedene Mittel eingesetzt, die darauf abzielen, den im menschlichen Leben unvermeidlichen Ambivalenzen und Konflikten in einer Weise zu begegnen, die eine unter den gegebenen inneren und äußeren Umständen bestmögliche Befindlichkeit schaffen. Konfliktlösungen, die unter gesteigertem Einsatz von rigiden tendenziösen Apperzeptionen und Überkompensationen zustande gekommen sind, oder in denen ein Ungleichgewicht zwischen (bzw. eine mangelhafte Integration von) libidinösen und aggressiven Strebungen und Drangzuständen herrscht, neigen dazu, getragen von den Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung, sich im Wiederholungszwang
17 Wie sehr beides, nämlich die Fähigkeit und Bereitschaft für andere zu sorgen, und die Fähigkeit und Bereitschaft für sich selbst gut zu sorgen, gerade in der Psychotherapie ein bedeutsames Ressourcenpaar sind, zeigt sich besonders in den Fällen, in denen KlientInnen ihre zerstörerischen Energien auf ihren eigene Körper richten (s. z. B. Grözinger 1999, Raguse 1999, Küchenhoff 1999, Bürgin 1999).
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immer wieder aus dem Unbewussten im Sinne 18 des Ausgeblendeten und/oder Unbeachteten und/oder Unvalidierten und/oder Unverstandenen in das Zentrum des intraund interpsychischen Geschehens zu drängen. Dieses inter- und intrapsychische Geschehen realisiert sich in einem gemeinsam (bewusst und unbewusst) gestalteten Beziehungsraum, innerhalb dessen im Zuge von Projektionen und Internalisierungen szenisch 19 gestaltete Interaktionen sowohl Wiederholungen als auch Modifikationen bisheriger Muster von Erleben und Verhalten realisieren. Das durch wechselseitiges modulierendes Spiegeln 20 und gegenseitige (aus)haltende Mitbewegung 21 sich entwickelnde und zu fördernde Gemeinschaftsgefühl bietet in seinen verschiedenen Anteilen und Aspekten phasenspezifische Kompensationsmöglichkeiten für Minderwertigkeitsgefühle, die eine bewusst und aktiv gestaltete Integration konstruktiver und zerstörerischer Kräfte im Dienste des Einzelnen und der Gemeinschaft ermöglichen sollen. Diese Kurzfassung des hier vertretenen psychoanalytisch-individualpsychologischen Paradigmas soll im Folgenden als Orientierung dienen, wenn es darum geht, eine individualpsychologische Linie durch die von den „Big Four“ und dem Modell der Lebensaufgaben strukturierten Landkarte der menschlichen Entwicklung zu legen.
18 Die folgenden Formen des Unbewussten wurden in Kap. 2.1.6 erläutert. 19 Seit Hermann Argelander (1967, 1970, 1981) und Alfred Lorenzer (1970) das „Szene-Paradigma“ (Stephenson 2003, 561) in den Diskurs der Psychoanalyse eingebracht haben, ist diese Dimension, die bei Freud von Anfang an angelegt war, wieder in ihre ursprüngliche Bedeutung als szenische Verfasstheit der Subjektstrukturen eingesetzt worden. Dieses Paradigma besagt, dass wir prinzipiell alle Erfahrungen als Szenen abspeichern, und dass die in diese Szenen eingelassenen Konflikte auch wieder nur über ein „in Szene setzen“ in den „Handlungsdialog“ (Klüwer 2001) eingebracht werden (vgl. zu den verschiedenen Dimensionen des szenischen Verstehens in der modernen Psychoanalyse, insofern sie mit „Enactments“ und „szenischen Darstellungen“ als integrativer Bestandteil des analytischen Prozesses operiert, auch Streeck 2000). 20 Mit „Spiegeln“ wird der Terminus der Entwicklungsforschung eingesetzt. Dieser hat allerdings neben der einfachsten Bedeutung (die zur Bezeichnung „spiegeln“ geführt hat), in der er vor allem jene Aktivitäten der Mutter meint, mit denen sie Ausdrucksformen ihres Babys in ihrem eigenen Ausdrucksverhalten „doppelt“, also übernimmt und dem Baby sozusagen „zeigt, wie es gerade dreinschaut“, noch weitaus mehr und subtilere Bedeutungen. Diese sollen in der hier gewählten Bezeichnung „modulierendes Spiegeln“ angedeutet sein, werden im Folgenden eingehend erläutert und betreffen allesamt auch die Kommunikation unter Erwachsenen (daher auch jene der analytischen Situation). 21 Dieser Terminus „(aus-)haltende Mitbewegung“ verdichtet die Konzepte des Holding (Winnicott 1990) und des Containing (Bion 1992) in einem von Adler und ebenso von modernen individualpsychologischen AutorInnen, vor allem von Gisela Eife (s. z. B. Eife 2005, 2006, 2009) und Heisterkamp (s. z. B. Heisterkamp 2007, 2008) verwendeten Ausdruck. Zu den verschiedenen subtilen Dimensionen des „container-contained“, seinen paradigmatischen Bedeutungen und bestimmten systematischen Rezeptionsaspekten sei auch auf die Arbeit Barbara Schreibers (2008) verwiesen.
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
Exkurs: „Soziale Gleichwertigkeit“ in paradigmatischen Szenarien Das Zusammenspiel entwicklungsbefördernder und entwicklungshemmender Faktoren kann an drei paradigmatischen Situationen illustriert werden, in denen die „Big Four“ in besonderer Weise transformatorisches Potential aufweisen: Der frühesten Mutter-Kind-Situation, der reifen Liebespartnerschaft und der analytischen Situation. In allen diesen Grundsituationen sind spezielle Varianten von Bindung, Intersubjektivität, Mentalisierung und Affektregulierung zentrales Thema, in allen drei gelangen die Lebensthemen/Lebensaufgaben/Lebensgefühle bei einem oder beiden der Interaktionspartner zu unterschiedlicher Ausformung und ermöglichen unterschiedliche Veränderungsprozesse. Der Grad der expliziten Reflexivität steigt allerdings von der ersten zur dritten jeweils sprunghaft an. Dies hat u. a. mit einer bestimmten Antwort auf die Frage zu tun, was es denn in diesen drei Beziehungsformen mit der von Alfred Adler so hochgehaltenen „sozialen Gleichwertigkeit“ auf sich hat. An der Unterschiedlichkeit der drei kann die grundlegenden Bedeutung dieses Begriffes illustriert werden: Der Entwicklungsunterschied zwischen Mutter und Säugling ist eklatant. Der eine Entwicklungspartner hat einen so großen „Vorsprung“, dass auf den ersten Blick nur der andere „Entwicklungswert“ aus der Beziehung schöpfen kann. Im Falle der Liebespartnerschaft stehen zwei entwickelte Erwachsene miteinander in Beziehung, so dass die Frage gestellt werden kann, wo und inwiefern hier gegenseitige „Entwicklungshilfe“ überhaupt angesagt ist. Im dritten Fall sind es ebenfalls zwei erwachsene Personen 22 , von denen die eine explizit Entwicklungsbedarf anmeldet und die andere ihre Kompetenzen einzubringen verspricht. Wieder scheint der Entwicklungswert ein einseitiger zu sein. Betrachtet man allerdings alle drei Situationen als Realisierungen dessen, was mit „Relationalität“ gemeint ist (s. Kap. 2.5.3.2), ist auch die Frage nach der sozialen Gleichwertigkeit einer spezifischen Antwort zugeführt: Da unter den „Big Four“ alle in jeder Situation aktiviert sind und da alle acht Lebensthemen ebenfalls in ständiger Bearbeitung stehen, ist Entwicklung in jedem Fall allen Beteiligten unverbrüchlich aufgegeben. Wenn der hier immer wieder verwendete Ausdruck „Transformation“ als jener Prozess verstanden wird, in dem der Einzelne und die Gemeinschaft die Bewältigung von Krisen zu fundamentalen Weiterentwicklungen nutzt, und der die im jeweiligen Zeitpunkt zu realisierende „Grundformel“ als Basis hat 23 , sind alle Beteiligten in allen drei Situationen auf Kooperation angewiesen und auf Transformation ausgelegt. Es profitieren daher in jedem Fall beide Seiten 22 Die Situationen, durch die Kinder- und Jugendlichentherapie gekennzeichnet sind (s. d. a. Brigitte Sindelars Beitrag „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“), enthalten wiederum einen größeren Abstand in den Lebensjahren der beiden EntwicklungspartnerInnen. Für die grobe Gegenüberstellung wird das hier zunächst ignoriert. 23 „Phasenspezifisch geformtes, von innen und von außen aktivierbares, durch wechselseitige modulierende Spiegelung und wechselseitiges Containment im Gemeinschaftsgefühl immer wieder kompensierbares Minderwertigkeitsgefühl und in der Gleichwertigkeit aufgehobenes Geltungsstreben“
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des „Teams“ von den Ergebnissen dieser Kooperation. In diesem Sinne sind alle Beteiligten aller drei Situationen auch „sozial gleichwertig“: jeder bringt gemäß seines Entwicklungsstandes und seiner Kompetenzen seinen Beitrag zur Erschaffung des gemeinsamen Transformationsraumes ein und ist für sich gehalten, sich nach seinen Möglichkeiten diesem hinzugeben, mit dem Ziel gemeinsam an den für die jeweiligen Beteiligten notwendigen Transformationen zu arbeiten. Dieser Kooperationsgedanke ist die Basis für die These von der „sozialen Gleichwertigkeit“, die demgemäß nicht erst herzustellen ist, sondern nur immer wieder bewusst gemacht werden muss. Das, was Adler als Über- oder Fehlkompensationen von Minderwertigkeitsgefühlen bezeichnet hat, ist letztlich eine Reaktion darauf, dass eine solche „basale soziale Gleichwertigkeit“ als Grundlage des menschlichen Zusammenseins nicht realisiert bzw. deren Realisierung verhindert wird. Diese Grundlage ist gleichzeitig der Ausgangspunkt sowohl für das, was Adler „sozial nützlich“ als auch für das, was die Individualpsychologie „Ermutigung“ nennt nachdem die Leistungen des Individuums nur relativ zu seinem Entwicklungsstand beurteilt werden können, kann aus dieser Sicht „berechtigtes“ Minderwertigkeitsgefühl nur entstehen, wenn eine Diskrepanz besteht zwischen dem, was dem Individuum (gerade noch bzw. schon) möglich ist und was von ihm aktuell realisiert wird, wenn das Individuum also seine eigenen Möglichkeiten (und die, die ihm geboten werden) unterbietet: „Selbstverwirklichung als Entwicklung der individuellen physischen, psychischen und sozialen Anlagen, Möglichkeiten und Fähigkeiten bringt Reife sowie Gesundheit. Mangelnde Selbstverwirklichung dagegen führt zu Unruhe, Spannungen, Ängsten und Schuldgefühlen – kurz: zu psychosozialen Störungen, das Individuum bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, entfremdet sich selbst. Selbstentfremdung bzw. noch nicht geglückte Selbstverwirklichung sind als Hinweise auf zukünftige Entwicklungschancen zu bewerten“ (Seidenfuß 1995, 441 f.). Ein Charakteristikum jenes Minderwertigkeitsgefühls, das „unverarbeitbar“ erscheint, bzw. Anlass zu „Überkompensationen“ oder „Fehlkompensationen“ gibt, ist jener, in dem das „ich kann es nicht“ als „ich kann es nie“ erscheint, statt als „ich kann es jetzt noch nicht“. Letzteres gibt Anlass zu wachsen, es nochmal zu versuchen und dann erfolgreicher zu werden, für ersteres bleibt nur mehr der Ausweg in „Winkelzüge“, um den Folgen der „absoluten Minderwertigkeit“ auszuweichen. Wenn das Individuum seine Möglichkeiten allerdings unterbietet, unterläuft es auch gleichzeitig die Weiterentwicklung jener sozialen Gruppierungen, an denen es teilhat (Familie, Partnerschaft, Berufsgruppe, etc.), da die Entwicklung von Gemeinschaften egal welcher Größenordnung unmittelbar davon abhängt, in welchem Ausmaß alle Mitglieder der Gemeinschaft ihre Möglichkeiten voll ausnutzen bzw. zu überbieten bereit sind. Wenn das Individuum hingegen erkennen kann, dass es hier nur seinen Ängsten erliegt, nicht erfolgreich sein zu können, weil es aus verschiedenen Gründen nicht an seine Möglichkeiten des Wachstums und der Weiterentwicklung im Sinne eines „sich selbst Überholens“ glauben kann, stagniert Entwicklung. Und hier setzt
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
„Ermutigung“ und Herausforderung als sinnvolle Kompensationshilfe an: „Ja, Du kannst es jetzt nicht, aber Du kannst es nur noch nicht. Du hast die Möglichkeit, es zu lernen, und ich als Dein/e Entwicklungspartner/in glaube daran, dass Du es schaffen wirst!“ „Sozial nützlich“ ist diesbezüglich alles, was „entwicklungsförderlich“ ist, was also hilft, das Entwicklungspotential von Individuum und Gemeinschaft zur vollen Entfaltung zu bringen, „sozial unnützlich“ alles, was ein Hindernis dafür darstellt. In diesem Sinne sind „neurotische Lösungen“ tatsächlich „sozial unnützlich“ und eine „Fehlkompensation“ (weil sie den Entwicklungsgang hemmen) aufgrund einer „irrtümlichen Meinung“ (nämlich jener, dass es keine andere Möglichkeit mehr als die neurotische Symptombildung gibt, mit Konfliktlagen umzugehen 24 ) – allerdings nur in diesem Sinn. Trotzdem also „soziale Gleichwertigkeit“ durch die Relativität der Entwicklungsstände immer schon gegeben ist, sind die drei Situationen bezüglich Verantwortlichkeiten und Reflexivität wesentlich unterschiedlich: In der Mutter-Säugling-Situation liegt die volle Verantwortung für das Wohlergehen beider bei der Mutter, in der Liebespartnerschaft gleich aufgeteilt bei beiden und in der analytischen Situation bis zu einem gewissen Grad mehr bei der Position des Analytikers bzw. der Analytikerin. Reflexivität ist in der Mutter-Säugling-Situation nur zu einem geringeren Maße tragend, in der Liebespartnerschaft Teil einer großen Anzahl von Aufgaben in der Beziehungsgestaltung, in der analytischen Situation stellt sie hingegen den zentralen Aspekt der gesamten Beziehung und der gesamten in ihr realisierten Entwicklung dar. Die Rollen(verteilungen), in denen jeder an der Kooperation Teil hat, sind also sehr unterschiedlich, der soziale Wert für diese ist jedoch ident. 2.2.1.4 Eine individualpsychologische Erweiterung des „Virtuellen Anderen“ (Bråten) und des „Intermediären Raumes“ (Winnicott) In der Säuglingsforschung entstand – wie in den meisten revolutionären Forschungsunternehmungen – immer wieder eine Situation, die der Ausgangspunkt für theoretische Neuerungen darstellt: Genauere und exaktere Beobachtungen erbrachten Phänomene, für deren Erklärung keine der traditionellen Theorien hinreichend waren. Alte Positionen, in denen der Säugling als ein Wesen erschienen war, das bezüglich der späteren Fertigkeiten und Fähigkeiten des Erwachsenen und seiner Kompetenzen bei „Null“ anfangen muss, waren schon länger obsolet geworden. Spezifische Untersuchungen, in denen einerseits mit videographischen und physiologischen Datenanalysen die Reaktionen von Neugeborenen auf verschiedene Reizkonstellationen bei belebten und unbelebten Objekten und bei einem menschlichen und 24 Natürlich ist es einigermaßen gewagt, hier von „Meinungen“ zureden. Denn die wesentlichen Grundlagen dessen, was hier mit „Meinung“ bezeichnet wird, sind ja unbewusst. Folgt man allerdings der Adler’schen Grundhaltung dem Menschen gegenüber, die darin liegt, ihn immer als Ganzheit und als eine und einheitliche Persönlichkeit zu betrachten, so erscheint es wiederum bis zu einem gewissen Grad berechtigt, davon, dass diese Persönlichkeit (als Ganzes) der Meinung ist, es sei notwendig, sich (wovor auch immer) „in die Neurose zu flüchten“.
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nichtmenschlichen Gegenüber und andererseits mikroanalytisch die frühesten Interaktionen zwischen Säugling und Mutter beobachtet wurden, brachten eine Reihe von Reaktionen und Verhaltensweisen des Säuglings deutlicher in den Blick, die nur erklärt werden konnten, wenn bestimmte Strukturen als Grundlage für Wahrnehmung und Verhalten als bereits vorhanden angenommen werden. So postulierte Stein Bråten, ein norwegischer Säuglingsforscher, den „virtuellen Anderen“ (Bråten 1992). Auf den Punkt gebracht liegt der Grundgedanke dieses Erklärungsansatzes in der Annahme eines „Platzhalters“ in der Psyche des Neugeborenen, eines inneren „Erwartungsraumes“ für ein menschliches „Du“ als Gegenüber. Diese Idee des Platzhalters, der einen potentiellen inneren Raum „freihält“, der dann im Laufe der Entwicklungen aus dem „Material“, das im Zuge der konkreten Interaktionen entsteht, „befüllt“ wird, stellt sowohl einen theoretischen Angelpunkt für alle in den „Big Four“ benannten Bereichen (Affektregulierung, Mentalisierung, Bindung, Intersubjektivität) dar, als auch eine Grundlage für eine entsprechende theoretische Strukturierung des „Gemeinschaftsgefühls“. a) Virtuelle Positionen in den InteraktionspartnerInnen Die fortschreitende Entwicklung (= Ausformung und Ausdifferenzierung) eines Gemeinschaftsgefühls ist – in konsequenter Weiterführung der Annahmen Stein Bråtens – also in der conditio humana verankert: Die Annahme eines von Beginn an angelegten „virtuellen Anderen“ („Du“) bedingt logisch eine ebensolche innere Position des „virtuellen Eigenen“ („Ich“) – und die Differenz zwischen beiden eröffnet zwangsläufig einen „Verweisungszwischenraum“, in dem die existentielle Verbundenheit ebenso wie die existentielle Getrenntheit der beiden zusammen „virtuelles Wir“ bedingt. In den potentiellen Mitgliedern einer Gemeinschaft bestehen also immer schon Erwartungen bezüglich eines menschlichen Gegenüber, seien sie so rudimentär und basal wie die Erwartungen des Säuglings, die sich auf bestimmte statische (charakteristische Elemente eines menschlichen Gesichtes) und dynamische (artspezifisches Bewegungen wie Nicken und Kopfschütteln etc.) Reizkonstellationen beziehen oder komplexe und vielschichtige Erwartungen, wie sie im psychoanalytischen Konzept der Übertragung enthalten sind. In jedem Fall stehen den InteraktionspartnerInnen und potentiellen Mitgliedern einer Gemeinschaft immer schon grundlegende Strukturierungen von „Ich“, „Du“ und „Wir“ zur Verfügung, die je nach Lebensalter und Interaktionsgeschichte mit unterschiedlichen Inhalten befüllt und aktiviert sind. Es handelt sich hier um ein „Basistheorem“, das v. a. die Objektbeziehungstheorie auf eine neue Grundlage stellt: das, was als Selbst- und Objektrepräsentanzen durch im Außen stattfindende Interaktionen und im Innen entstehende Repräsentationen im innerpsychischen Raum aufgebaut wird, findet laut dieses Basistheorems immer schon in einem „vorkonfigurierten“ Raum statt. Diese „Vorkonfiguration“ unterlegt allen Wahrnehmungen und Handlungen a priori eine Interaktionsstruktur. Das verleiht der gesamten Psychodynamik ein spezifisches Gepräge: wir befinden uns immer
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schon „in Interaktion“, weil wir uns immer schon „in Relation“ befinden 25 . Das, was wir an Regungen, Motiven, Impulsen, Absichten etc. uns selbst zumessen, also als dem „Ich“ zugehörig empfinden, ist Regung oder Impuls zu einem „Du“ hin, ist Motiv und Absicht in Hinblick auf ein „Wir“. b) Der Intermediäre Raum als „das Dritte“ Die InteraktionspartnerInnen eröffnen, wenn sie in Interaktion treten (also ihre Aufmerksamkeit synchron aufeinander richten und ihre inneren (kognitiven wie emotionalen) Strukturen aktivieren), innerhalb eines „bipersonalen Feldes“ (Ferro 2003) einen „Zwischenraum“, in den hinein sie – gemäß des aktuellen Zustandes ihrer „virtuellen Positionen“ („Ich“-„Du“-„Wir“) – nicht nur ihre konkreten (bewussten und unbewussten) Erwartungen an das gegenüber „füllen“, sondern der auch eine spezielle Eigenart hat, die Winnicott dazu brachte, den Begriff des „Intermediären Raumes“ (Winnicott 2010) zu erschaffen 26 . Es handelt sich allerdings nicht im strengen Sinn um einen „Zwischenraum“, also einen, der gewissermaßen dort anfängt, wo die InteraktionspartnerInnen aufhören, sondern um einen „Übergangsraum 27 “, alExternalisierung
Internalisierung
EntwicklungspartnerIn
Externalisierung
Interaktion
EntwicklungspartnerIn
Internalisierung
Abb. 2 Intermediärer Raum als Externalisierung virtueller Positionen und Internalisierung von Interaktionspositionen
25 Das ist eine noch radikalere Position als jene, die u. a. durch die Vorläufer des Intersubjektivität angelegt wurde, wie z. B. bei Winnicott, wenn er meint, „daß Ich bin nichts weiter bedeutet, als daß Ich zunächst mit einem anderen Menschen zusammen bin“ (Winnicott 1990, 24). 26 Katharina Stephenson hat dieses Geschehen, das zur Eröffnung eines intermediären Raumes führt, und das zugleich individuelle und gemeinsame Handlungsstränge zusammenführt (nämlich alles das, was ich einbringe, alles das, was Du einbringst und alles das, was wir gemeinsam aus dem machen) sehr treffend mit dem Ausdruck „Co-Konstruktion von Intermediären Räumen“ (K. Stephenson 2009, 15) markiert, der „im Prozess des tiefen Eintauchens in das Gemeinsame entsteht und ein geschützter Lern- und Entwicklungsraum ist“ (K. Stephenson 2010, 41). 27 Die Interpretation der analytischen Situation als potentieller Entwicklungsraum im Sinne des Winnicottschen Übergangsraumes korrespondiert mit einer großen Anzahl von Erkenntnissen aus den Big Four (s. z. B. Michael Ermanns „Mentalisierung im Übergangsraum“ (Ermann 2009b).
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so einen, der – um in der eben angezogenen Sprachfigur zu verbleiben – bereits dort anfängt, wo die InteraktionspartnerInnen noch nicht aufhören. Er ermöglicht also „Übergänge“, indem er gleichermaßen Anteile enthält, die dem jeweiligen psychischen Innenraum angehören und ebenso Anteile, die als nach außen projizierte Repräsentanten der interagierenden Strukturen gelten können und die jenen Teil des therapeutischen Prozesses gestalten, der als „intersubjektiv“ bezeichnet wird: Alle unsere im Zuge von Externalisierungen (unserer virtuellen Positionen in den gemeinsamen Interaktionsraum) auf das Gegenüber gerichteten Handlungen (= Aktionen + Reaktionen) bilden gemeinsam mit allen Handlungen unseres auf uns gerichteten Gegenübers (= Aktionen + Reaktionen) einen „Interaktionsraum“, aus dem das „interaktionell realisierte“ „Ich“, „Du“ und „Wir“ im Zuge von Internalisierungen wieder in die jeweiligen virtuellen Positionen „eingespeist“ wird. Da beide EntwicklungspartnerInnen (wie im psychoanalytischen Konzept der Übertragung vorgesehen ist) in jede neue Interaktionssituation mit den „alten Erfahrungen“ hineingehen (= ihre Handlungen auf das Gegenüber hin auf der Grundlage des aktuellen Standes in den virtuellen Positionen ausrichten) treffen im „Intermediären Raum“ sozusagen zwei Kopien der jeweiligen „Ich-Wir-Du“-Konstellation zusammen: Beide InteraktionspartnerInnen setzen jede Handlung, die sie „in den Intermediären Raum hineinstellen“, als eine mehr oder weniger auf die Gegebenheiten der aktuellen Situation abgestimmten „Kopie“ der innen bereits durch das „virtuelle Wir“ hindurch zum „virtuellen Du“ hin erfolgten Handlung des „virtuellen Ich“. Komplementär dazu erfolgt jede Wahrnehmung in Erwartung einer Reizkonstellation, die der bisherigen Erfahrung und der inneren virtuellen Struktur entspricht. In diesem Sinn werden bestimmte Anteile des Wahrgenommenen dann jeweils einer der drei inneren virtuellen Positionen zugeordnet. So entsteht eine je einmalige Kombination von dem, was mein Gegenüber aus mir als sein „Du“ macht und dem, wie ich mein „Wir-Ich“ angelegt habe. Und komplementär, was ich aus meinem Gegenüber für ein „Wir-Du“ gemacht habe und als was für ein Wir-Ich er/sie sich angelegt hatte.
Internalisierung
„Wir-Du“ „Ich“
„Wir“
Externalisierung
„Wir-Wir“ „Wir-Ich“
„Du“
„Du“ „Wir-Ich“
Externalisierung
„Wir“
„Wir-Wir“ „Wir-Du“
Internalisierung
Abb. 3 Externalisierung aus und Internalisierung in virtuelle Positionen
„Ich“
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
In dieser Grundstruktur umfasst Interaktion vier spezifische Aktivitätsbündel, von denen die ersten beiden bereits erwähnt wurden: im ersten werden die virtuellen Positionen der InteraktionspartnerInnen in ihrer inneren bewussten und vor allem unbewussten Dynamik aktiviert. Im zweiten werden die jeweiligen inneren Interaktionen zwischen den virtuellen Positionen von beiden in den intermediären Raum und damit in die Dynamik der Interaktion externalisiert. c) „Szenische28 Äquilibration29 “ im Abgleich zwischen drei Prozessräumen In jedem Fall einer Interaktion gibt es nun mehr oder weniger große Diskrepanzen, zwischen dem, was hier mit „Angebot und Nachfrage“ markiert wird: Der Säugling entspricht genauso wenig zu hundert Prozent dem, was die Mutter erwartet, wie die gegenseitigen Erwartungen der LiebespartnerInnen in der Realität der Beziehung vollkommen kompatibel sind (was man nach dem Abklingen des Anästhetikums der Verliebtheit dann auch oft schmerzhaft zu spüren bekommt), und die Übertragungsangebote der KlientInnen treffen auf ein anderes Gegenüber, als der Wiederholungszwang es erwarten lässt 30 . Die Notwendigkeit der (mehr oder weniger effizient ausgebildeten) Affektregulierung, die Hilfen der (mehr oder weniger differenziert ausgeformten) Mentalisierungsfähigkeit 31 und der (mehr oder weniger 28 Psychoanalytische und individualpsychologische Falldarstellungen arbeiten häufig mit Begriffen wie „inszenieren“, „reinszenieren“, „szenische Gestaltungen“ u. ä. m. Diese Formulierungen verweisen implizit oder explizit auf das Konzept des „Szenischen Verstehens“ Alfred Lorenzers (Lorenzer 1970), dem ein „Szene-Paradigma“ (Stephenson 2003, 544 ff.) der Psychoanalyse inhärent ist, dass sich besonders gut für die Darstellung und das Verstehen von Interaktionen auch und vor allem in analytischen Situationen eignet: bestimmte unbewusste Themen werden vor allem in konflikthaften Situationen aktiviert, in der Übertragung werden daraufhin unbewusst „Rollen verteilt“ und in der „Inszenierung“ ein Spannungsbogen aufgebaut, der Spannungslösungen zugeführt werden muss, die im einen Fall die im Wiederholungszwang neurotischen Muster perpetuieren und im Fall analytischen Erfolges zu neuen, reiferen Lösungen führen. 29 Äquilibration ist ein Terminus, der ein Konzept Jean Piagets kennzeichnet: Entwicklung findet in gegenseitigen Abstimmungsprozessen statt, bei denen im günstigen Fall ein Gleichgewicht (Äquilibrium) herrscht zwischen jenen inneren Prozessen, in denen das Wahrgenommene an die inneren Strukturen angeglichen wird (=Assimilation) und jenen, in denen sich die inneren Strukturen angesichts neuer Wahrnehmungsinhalte „anpasst“ (= Akkommodation), also „lernt“, indem es diese inneren Strukturen, die Grundlage für die Interpretation der „Wirklichkeit“ sind, transformiert. 30 AnalytikerIn tritt in einer „psychotherapeutischen Übertragung“ in jede analytische Situation immer mit der (Vor-)Annahme, dass auf sie alte Muster übertragen werden, dass aber gleichzeitig in AnalysandIn ein Relativierungswunsch besteht, der Grundlage für ein tragfähiges Arbeitsbündnis ist. 31 In mehreren Wissenschaftsgebieten haben Forschungen Erkenntnisse erbracht, die ein immer differenzierteres Verständnis von den komplexen Kompetenzbündeln und den verschiedenen Erfahrungsmöglichkeiten, die Mentalisierung ausmachen und befördern, ermöglichen. So durchleuchtet Maryanne Wolf, Professorin und Leiterin des Center of Reading and Language Research an der Tufts University „das lesende Gehirn“ (Wolf 2010) und verweist auf einen Umstand ind er Entwicklung der Menschheit, der in der Bibliotherapie implizit oder explizit genutzt wird: „Lesen ließ
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tragfähige) Boden der Bindung führen dann im Rahmen der Interaktionsdynamik zu Abstimmungsprozessen, in denen Diskrepanzen zwischen „Angebot und Nachfrage“ zum Anlass genommen werden, die externalisierten Positionen zunächst innerhalb der Interaktion zu modifizieren, sodass die Diskrepanzen (und damit die Spannung, die sie auslösen) geringer werden. Dies läuft auf eine in der Analyse genauso wie in den Mutter-Kind-Abstimmungen und jenen der Liebespartnerschaft über lange Zeit und in vielen „Verhandlungen“ sich langsam einstellende gegenseitige Anerkennung hinaus: AnalytikerIn anerkennt die innere Dynamik von AnalysandIn, „beugt“ sich aber den Übertragungsangeboten nicht, sondern deutet sie. AnalysandIn anerkennt die innere Haltung von AnalytikerIn, beugt sich ihr im Falle eines gelungenen analytischen Prozesses aber nicht im Sinne einer Unterwerfung unter eine Machtposition, sondern im Sinne einer Relativierung alter Muster. Nachdem also im ersten Aktivitätsbündel die inneren Positionen aktiviert und im zweiten in den intermediären Raum externalisiert wurden, finden im dritten Aktivitätsbündel nun die genannten Abstimmungsaktivitäten statt, innerhalb derer ein „Drittes“ entsteht, das weder ganz das „Eigene“ noch ganz das „andere“ ist. Dabei geht es nicht nur um die „wechselseitig abgestimmten synchronisierten Interaktionen“ (Schore 2007, 64), sondern auch um die Herausbildung komplexerer Verhaltensmuster: „Wenn Anwesende interagieren, passen sie ihr Verhalten wechselseitig aneinander an. In der Folge entstehen neue Muster mit neuen Eigenschaften, die über die Eigenschaften jedes einzelnen der interagierenden Partner für sich genommen hinausgehen.“ (Streeck 207, 36). In einem weiteren Schritt, der die Dynamik der Intersubjektivität vollendet, werden dann die Ergebnisse dieser Abstimmungsaktivitäten (also die externalisierten, aber im Zuge des Interaktionsprozesses mehr oder weniger modifizierten Positionen) im vierten Aktivitätsbündel durch Zuordnen des Geschehens zu den inneren virtuellen Positionen (re)internalisiert.
die Menschen auf eine neue Weise über das Denken nachdenken. Wenn wir – von Lesis Enthüllungen in Anna Karenina bis zum Dilemma einer Spinne in Wilbur und Charlotte – in der Lage sind, die Gedanken eines anderen nachzuverfolgen, führt uns dies sowohl das fremde wie auch das eigene Bewusstsein vor Augen. Dass wir über 3000 Jahre hinweg Einblick in die Gedankengänge anderer Menschen haben, ermöglicht uns, auf eine andere Weise in ihr Bewusstsein einzutauchen, die sonst nicht denkbar wäre – wie etwa in das des größten Verfechters der mündlichen Überlieferung, Sokrates. Nur weil Platon Texte über seine eigene Zerrissenheit verfasst hat, können wir Sokrates und die Allgemeingültigkeit seiner Bedenken verstehen.“ (Wolf 2010, 257 f.).
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
Das erste Aktivitätsbündel entspricht weitgehend dem Aktivieren von Übertragung (s. a. Kap. 3.1.1), das zweite dem, was AnalytikerInnen als „Agieren“ 32 bezeichnen und das dritte dem analytischen Prozess im engeren Sinn, also jenem Geschehen, innerhalb dessen durch Deutung Diskrepanzen bewusst, deren unbewusste Grundlagen erhellt und therapeutische Abstimmungsprozesse in Gang gesetzt werden. Das vierte ist im Sinne einer „therapeutischen Akkommodation“ (also einer Veränderung bestimmter Aspekte der virtuellen Positionen) zu verstehen. Wenn beide InteraktionspartnerInnen ihre erwartete „Ich-Wir-Du“-Konstellation in den intermediären Raum eingebracht haben, entstehen gewissermaßen zwei mal zwei Paare von „Entwürfen“, denn jede der beiden Personen erlebt sich und das Gegenüber quasi in zweifacher Weise gedoppelt: sie erlebt sich und das Gegenüber gleichzeitig als „Wir-Ich“ und als „Wir-Du“. Dieses Erleben ist zunächst spontan und unreflektiert, aber durch Vorerfahrungen und bewusste wie unbewusste Erwartungen vermittelt. Diese Doppelung in der Systematik reagiert auf Realitäten: Unsere KlientInnen (ge)brauchen uns sowohl neurotisch als auch salutogenetisch: Wir unterstellen ihnen zu Recht, dass sie „mit ihren Neurosen“ zu uns kommen, also uns im Widerholungszwang und unter intensiviertem Einsatz tendenziöser Apperzeption als „Objekt“ ansehen und uns innerhalb ihrer neurotischen Inszenierungen übertragungsbedingte Rollen zuweisen. Aber ebenso benötigen und verwenden sie uns (bei positiv geschlossenem Arbeitsbündnis) als „Selbstobjekte“, also als solche, die der Erreichung der eigenen Stabilität und der eigene positiven Entwicklung durch Wertschätzung, modulierendes Spiegeln und (aus)haltende Mitbewegung dienen. Daher ist es wichtig für AnalytikerInnen, immer wieder bewusst zu berücksichtigen, dass sie sich stets in zweierlei Positionen der Innenwelt der KlientInnen anbieten: als „Objekt“ im Sinne eines eigenstrukturierten, eigengesetzlichen und eigenständigen Individuums, das ein Gegen-über in der Auseinandersetzung ist und sich an bestimmten Punkten auch gegen unpassende Zuschreibungen „wehrt“, und als „Selbstobjekt“, dass sich unverbrüchlich und ganz der Hingabe an wertschätzende Ausrichtung auf ihn bzw. sie verschrieben hat.
32 Im ersten und zweiten Aktivitätsbündel, dem Aktivieren der Übertragung und dem Agieren, kommt der („neurotische“) Aspekt der Tendenziösen Apperzeption zum Tragen, der in der „szenischen Äquilibration“ einem Überhang „rigider Assimilationen“ entspricht: Dem Abgleich stehen immer wieder Abwehrvorgänge und Sicherungstendenzen entgegen, die bewirken, dass das Geschehen u. U. lange Zeit dominiert wird durch die Verweigerung von Akkommodation an die „neuen“ Gegebenheiten, die nicht mehr jenen entsprechen, in denen die neurotischen Muster entstanden sind.
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Diskrepanzen zwischen „Angebot und Nachfrage“ Abstimmungen zwischen „Angebot und Nachfrage“
„Wir-Du“Nachfrage
„Wir-Ich“Angebot
„Wir-Du“Angebot
„Wir-Ich“Nachfrage
„Wir-Ich“Nachfrage
„Wir-Du“Angebot
„Wir-Ich“Angebot
„Wir-Du“Nachfrage
Abb. 4 Diskrepanzen und Abstimmungen zwischen „Angebot und Nachfrage“ Legende: „Wir-Du-Angebot“: Welches „Du“ (im Sinne eines „Selbstobjektes 33 “) ich für Dich zu sein anbiete. „Wir-Du-Nachfrage“: Als welches „Du“ mein Gegenüber (im Sinne seines „Selbstobjektes“) mich haben möchte. „Wir-Ich-Angebot“: Welches „Ich“ (im Sinne meines „Objektselbst 34 “) meinem Du von mir angeboten wird. „Wir-Ich-Nachfrage“: Als welches „Ich“ mein Gegenüber (im Sinne eines „Objektes“) mich braucht.
d) Ko-konstruktive szenische Gestaltung der Situation als Äquilibrationen im intersubjektiven Raum der Diskrepanzen zwischen „Angebot“ und „Nachfrage“ Jeder der beiden InteraktionspartnerInnen „braucht“ für seine (therapeutischen) Inszenierungen ein Gegenüber in einer bestimmten Rolle und einer bestimmten Rol33 Ein Konzept Heinz Kohuts, das in der Selbstpsychologie tragend geworden ist (s. Kap. 2.5.3.1). 34 Die Formulierung Heiner Sasses „Psychotherapie bedarf der auf dieser Basis wirkenden wertvollen Intersubjektivität und Interobjektivität, um der Subjekt-Objekt-Einheit des Menschen gerecht werden zu können.“ (Sasse 2005, 66) enthält in diesem Zusammenhang eine Querverbindung zu einem Konzept der Selbstpsychologie und damit ein gedankliches Potential, das hier aufgegriffen werden soll: Das „Selbstobjekt“ Heinz Kohuts (s.d. das Kapitel „Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse“) findet auf der Basis der Forschungen zur Intersubjektivität, speziell des Virtuellen Anderen von Stein Bråten und den hier erweiterten Stufen der Intersubjektivität nach Trevarthen in Verbindung mit dem hier entfalteten Verständnis des Adler’schen Gemeinschaftsgefühls ein notwendiges Pendant in dem, was hier „Objektselbst“ genannt werden könnte. Beide, also auch das von Kohut als positiv und selbststützend angelegt ist, steht aber in Verbindung mit beiden Grundenergien, der erhaltenden und der auflösenden, sodass eben auch Selbstobjektbeziehungen „selbstzerstörerisches Potential“ besitzen können (Kind 2004).
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
lenauslegung. Im Normalfall der analytischen Situation bietet sich AnalytikerIn als ein anderes Objekt an als AnalysandIn dies in der Übertragung bzw. im Wiederholungszwang provoziert. Daraufhin muss ich an die Aspekte des Vaters adaptieren, die entwicklungsfördernde Kontinuität aufrechterhalten und jene, die entwicklungshemmende Kontinuität bedeuten würden, ansprechen („Deutung“). Und jene meiner Ich-Aspekte, die im Du für mein Gegenüber (m. E.) entwicklungsfördernden Wandel bedeuten, muss ich aufrechterhalten (gegen den Druck des Wiederholungszwang-Vaters sozusagen). Dadurch kann mein Gegenüber mich nicht ganz ablehnen, muss also akkommodieren. Dieses verwirrend klingende Geschehen der „Ko-konstruktiven szenischen Gestaltung der Situation als Äquilibrationen im intersubjektiven Raum der Diskrepanzen zwischen „ Angebot“ und „Nachfrage““ ist zunächst einmal eine immer wieder stattfindende Alltagserfahrung: Wir bringen uns in ein Gespräch als jemand bestimmter ein („Wir-Ich“) und bieten uns damit gleichzeitig als eine bestimmte Art von GesprächspartnerIn („Wir-Du“) an. Ein „angebotenes Ich“ sind wir durch das direkte und/oder indirekte Vermitteln unserer eigenen Ansprüche, Bedürfnisse, Vorhaben, ein „angebotenes Du“ werden wir durch das Signalisieren bestimmter Bereitschaften, den Ansprüchen, Bedürfnissen, Vorhaben des gegenüber zu „dienen“. In manchen Situationen erleben wir, dass wir als ebenjenes „Ich“ und ebenjenes „Du“ angenommen werden, als das wir uns jeweils angeboten haben, aber immer wieder mal erleben wir auch, dass das Gegenüber anders auf uns reagiert, als wir es ihm „angeboten“ haben, und zwar entweder auf uns als ein anderes Ich oder auf uns als ein anderes Du (oder auch beides). So geben wir uns z. B. in eine zufällige Begegnungssituation als ein neutrales Ich im kurzen „Wir“, das sich als ein neutrales Du anbietet, mit dem man freundliche Floskeln austauschen kann um sich einerseits gegenseitig zu versichern „dass eh noch alles stimmt“ und um andererseits keine emotional belastenden „neuen“ Situationen herstellen zu müssen. Diese „Botschaft“ im Sinne eines „Rollenverteilungsangebotes“ erfolgt zum größten Teil „unausgesprochen“ und am Rande oder auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle, indem wir einfach in einer bestimmten („genormten“) Art, mit einer bestimmten Betonung und einem bestimmten Gesichtsausdruck „Wie geht’s Dir?“ fragen. Das darauf zumeist erfolgende „Gut.“ des Gegenübers enthält auch in den verschiedenen Ausdrucksdimensionen durch spezifisch genormte Mikrosignale, die den sprachlichen Ausdruck „gut“ unweigerlich begleiten, ein bestimmtes „Gegenangebot“. Meistens bieten wir einander dann spiegelbildliche Aktionen und Reaktionen, und die durch die Begegnung und die gesellschaftlichen Konventionen unvermeidliche Interaktion wird damit zeitlich und aufwandmäßig minimalistisch absolviert 35 . 35 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass wir einander fast immer das Ausstiegszenario des Sprachlichen anbieten. Wenn das übliche „gut“ in einer Weise gesagt wird, die dem Gegenüber etwas anders signalisieren als der sprachliche Ausdruck es tut, haben wir die freie Wahl einzusteigen oder nicht. Wir können rückfragen: „Wirklich?“ oder „Na das klingt
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Wenn die „Passgenauigkeit“ zwischen den beiden Rollenverteilungsangeboten innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen verbleibt, spricht man üblicherweise von einer „gelungenen Interaktion“, im anderen Fall zunächst einmal von einer „Störung“ oder „Irritation“ innerhalb der Interaktion. „Relevante“ Diskrepanzen zwischen „Angebot und Nachfrage“ können dann in vier unterschiedlich gelagerten Fällen entstehen: 1. 2. 3. 4.
Mein „Ich-Angebot“ passt nicht zur „Ich-Nachfrage“ meines Gegenübers. Mein „Du-Angebot“ passt nicht zur „Du-Nachfrage“ meines Gegenübers. Das „Ich-Angebot“ meines Gegenübers passt nicht zu meiner „Ich-Nachfrage“. Das „Du-Angebot“ meines Gegenübers passt nicht zu meiner „Du-Nachfrage“.
In den drei Musterbeispielssituationen erläutert: Ad 1: Das, was Säugling/LiebespartnerIn A/KlientIn „ist“, entspricht nicht dem, was die Mutter/LiebespartnerIn B/AnalytikerIn sich erhofft hat, dass er sein möge. Ad 2: Das, was Säugling/LiebespartnerIn A/KlientIn „zu bieten hat“, genügt Mutter/LiebespartnerIn B/AnalytikerIn nicht als „Hilfe“. Ad 3: Das, was Mutter/LiebespartnerIn B/AnalytikerIn „ist“, entspricht nicht dem, was Säugling/LiebespartnerIn A/KlientIn sich erhofft hat, dass er sein möge. Ad 4: Das, was Mutter/LiebespartnerIn B/AnalytikerIn „zu bieten hat“, genügt Säugling/LiebespartnerIn A/KlientIn nicht als „Hilfe“. Wenn das, was (re-)internalisiert wird, Veränderungspotential haben soll, wenn also die „neuen“ Wahrnehmungen eine strukturelle Veränderung dessen nach sich ziehen können sollen, was in den jeweiligen virtuellen Positionen wirkmächtig ist, dann muss es zu einer Irritation kommen, und zwar einer, die durch einen nicht mehr zu ignorierenden Unterschied zwischen dem was von dem einen und dem anderen in den intermediären Raum eingebracht wird. Diese Irritation wird dann entweder durch den Einsatz tendenziöser Apperzeption (s. Kap. 2.1.2) „neutralisiert“, oder zum Anlass zu strukturellen Veränderungen genommen. Ein Ausgleich zwischen „Neutralisierung“ und Strukturveränderung ist im von Jean Piaget geprägten Begriff der „Äquilibration“ beschrieben. Dieser aus dem Jahre 1937 stammende Begriff (Piaget 1937) bringt die Balancierungsprozesse zwischen Assimilation (ich passe die Außenwelt meiner Innenwelt an) und Akkommodation (ich passe meine Innenwelt der Außenwelt an) von Wahrnehmungsund Handlungsstrukturen in den Blick und hat nach wie vor Systematisierungspotential, markiert er doch einen Prozess, der sowohl in den aktuellen Forschungsbereichen Affektregulierung, Mentalisierung und Intersubjektivität, als auch innerhalb der tendenziösen Apperzeption und der entwicklungsbedingten und therapeutischen Transformationen so maßgeblich ist und ununterbrochen (weitestgehend ohaber nicht ganz so!“ und uns damit u. U. in eine längere Gesprächssituation mit LebensbeichteCharakter begeben oder wir können die Begleitsignale ignorieren und uns auf das sprachliche Signal „Gut.“ (= Belassen wir’s dabei) berufen und weitergehen.
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
ne bewusste Wahrnehmung und Reflexion) abläuft: die InteraktionspartnerInnen versuchen sowohl das, was passiert als etwas Bekanntes zu interpretieren, also zu „assimilieren“, als auch ihre Wahrnehmungsgrundlagen an neue Gegebenheiten anzupassen, also zu akkommodieren. Eine Ausgeglichenheit dieser beiden gegenläufigen Tendenzen ist die Basis für eine positive Entwicklung. Ein Übermaß an Assimilation verhindert Weiterentwicklungen. Ein Übermaß an Akkommodation verhindert Kontinuität und das Vollenden begonnener Werke. 2.2.1.5 Individualpsychologisch interpretierte „Stufen der Intersubjektivität“ (Trevarthen) Im Folgenden wird ein fünfstufiges Modell der Entwicklung der Intersubjektivität skizziert, das auf den Überlegungen Colin Trevarthens (Trevarthen 1979, Trevarthen u. Hubley 1978) aufbaut. Es ist für das hier angezogene Unternehmen sinnvoll, sich über Trevarthens Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Intersubjektivität hinaus weitere Entwicklungen und Reifungsschritte der Formen von Intersubjektivität vor Augen zu führen und begrifflich zu markieren. Denn die hier vorzufindenden Ergänzungen, die durch die gleichzeitige Bedachtnahme auf „Intersubjektivität“ und „Gemeinschaftsgefühl“ für ein individualpsychologisches Verständnis von Entwicklung erarbeitet werden können, sind gerade für einen ersten Entwurf einer solchen Entwicklungstheorie besonders wertvoll. Daher wird in dieser „Skizze“ einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie im Sinne einer „individualpsychologischen Linie“ in der dargestellten „Entwicklungsmatrix“ das Hauptgewicht auf die Entwicklung der aufeinander teils aufbauenden, teils ergänzenden Teilformen der Intersubjektivität und des Gemeinschaftsgefühls gelegt. Die Verbindung beider Konzepte ermöglicht es dann bei der Rekonstruktion des individualpsychologischen Begriffs „Gemeinschaftsgefühl“ auch zwischen insgesamt vier „Wir-Stufen“ in der Dezentrierung des Selbstgefühls hin zum Gemeinschaftsgefühl zu unterscheiden Trevarthen (Trevarthen 1979) unterschied zwei Formen von Intersubjektivität (diese sind in der Abb. 5 grau unterlegt): Primäre Intersubjektivität, in der Interaktionen gegenseitig und gegenläufig in der direkten und exklusiven Ich-Du-Bezogenheit ablaufen. In den ersten Monaten, so Trevarthen, ist dies im Wesentlichen die einzige Form, in der der Säugling Intersubjektivität erlebt: Der intermediäre Raum schließt also für den Säugling gewissermaßen nur „ein Ich und ein Du in Verbindung“ ein, mit ungebrochen reziproken Interaktionen, sozusagen ein „face to face-Gemeinschaftsgefühl“. Ein „Er,Sie,Es“ in Verbindung mit einem „Ich + Du“ ist dabei noch nicht enthalten, als Alternative für das „Wir“ ist ein „Ihr“ oder gar ein „Sie“ noch nicht in Sicht. In der sekundären Intersubjektivität (Trevarthen u. Hubley 1978) hingegen tritt ein Drittes zwischen das Ich und das Du. Wenn der Säugling realisiert, dass sein Gegenüber und er selbst die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf ein „Objekt“ richten – und das kann auch ein „Teil“ des Säuglings, also z. B. seine Füße seien, die die Mutter
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zärtlich in die Hand nimmt, und während beide auf „diese Füße in diesen Händen“ schauen, der Säugling gurrt und die Mutter „Begleitworte“ murmelt, oder das Fläschchen, oder der hereinkommende Vater – dann lernt er in diesen gemeinsamen „objektbezogenen“ Interaktionen, dass die beiden nicht nur einander Objekt sein können, sondern dass ein Drittes für ihn selbst und sein Gegenüber Bedeutung hat – und dass diese Bedeutung mehr oder weniger ähnlich, mehr oder weniger unterschiedlich sein kann. Der entscheidende Punkt, der für die sich entwickelnde Selbstkohärenz des Säuglings wichtig ist, ist die Frage, ob dieses Dritte die Gemeinsamkeit der primären Intersubjektivität gefährdet oder sogar zerstört, oder ob es diese bereichert! Ob also der Säugling das Gefühl hat, dass die Mutter, wenn sie sich dem „Dritten“ zuwendet, ihn damit gleichzeitig verlässt, oder ob er selbst, wenn er sich einem Dritten zuwendet, das Gefühl entwickelt, dass er damit auch die Mutter verlässt 36 . Hier spielt das, was in der Psychoanalyse „Objektkonstanz“ genannt wird, eine große Rolle: der Säugling kann sich nur dann mit dem Gefühl einer ungefährdeten Sicherheit im „Wir“ einem Dritten zuwenden, wenn er die Mutter schon so weit „in sich trägt“ (also „Repräsentanzen“ ausgebildet hat), dass er sie auch dann noch im „inneren Blickfeld“ halten kann, wenn er sie im Außen „aus den Augen verliert“. Eine gut ausgebildete Fähigkeit zur „Triangulierung“ ist Basis übrigens die Basis für alle weiteren Stufen der Intersubjektivität 37 . Zusätzlich zu diesen zwei von Trevarthen postulierten Stufen werden hier weitere Formen der Intersubjektivität eingeführt: Als Vorstufe von Intersubjektivität kann die Zeit vor der Geburt gelten, in der zwar bereits „Umwelt“ für den Foetus resp. Embryo vorhanden ist, er aber nur als „Subjekt in einem Subjekt“ (inter)agiert 38 – daher die Bezeichnung „In-Subjektivität“. In den weiteren Phasen der Entwicklung sind nach der primären und sekundären Intersubjektivität zumindest zwei weitere große Sprünge in der Qualität des Intersubjektiven zu verzeichnen, die für die Ausbildung eines reifen Gemeinschaftsgefühl von unmittelbarer Bedeutung sind: 36 Diese „innere Frage“, die eine „innere Antwort“ (im Sinne der „Objektkonstanz“ (Hartmann 1952b)) erhalten muss, ist dann auch Basis für den sich entwickelnden Bindungsstil. 37 Das „triangulierte Wir“ bzw. das zur Triade fähig gewordene Selbst ist auch die Grundlage für subtilste Prozesse in Erwachsenenanalysen, wie sie z.B. bei Ogden so subtil erfasst werden (Ogden 2001). 38 Welch reiches Feld an Interaktionen (bis hin zu jenen, die „die seelischen Wurzeln der Musik“ (Oberhoff 2005) betreffen) und welch dramatisches szenisches Geschehen sich hier einer entsprechenden Forschung erschließt, hat uns die Psychoanalytikerin und empirische Pränatalforscherin Alessandra Piontelli eindrucksvoll gezeigt (Piontelli 1996). Zwei weitere Psychoanalytikerinnen haben für die postnatale Zeit der frühesten Entwicklung ebenfalls Pionierinnenarbeit geleistet: Miriam Szejer in ihr Arbeit mit Neugeborenen (Szejer 1998) und Caroline Eliacheff in ihren revolutionären psychoanalytischen Behandlungen schwerstgestörter Kleinstkinder (Eliacheff 2003). Wie in all diesen schwer erforschbaren Phänomenen ein Denken in „Sphären“ eine Ahnung von den Tiefen intersubjektiven Seins ermöglicht, hat Peter Sloterdijk in seiner Trilogie eindrucksvoll vorgeführt (Sloterdijk 1998, 1999, 2004).
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
Quartäre Intersubjektivität
„Menschheits-Wir“
Tertiäre Intersubjektivität
„Gruppen-Wir“
Sekundäre Intersubjektivität
„Trianguliertes Wir“
Primäre Intersubjektivität
„Dyadisches Wir“
In-Subjektivität
Abb. 5 Formen der Intersubjektivität als „Wir-Stufen“ des Gemeinschaftsgefühls
Wenn das Kind aus der Dyade der Mutter-Kind-Beziehung und aus der Triade 39 Vater-Mutter-Kind 40 heraus in die komplexeren Gemeinschaftsformen der tertiären Intersubjektivität eintritt, erhält auch die Bezogenheit eine neue Dimension: die Gruppe. Sei es innerhalb der Familie die Gruppe der Geschwister, oder dann in Kindergarten und Schule die „peers“, oder später mehr oder weniger organisierte Gruppen in Beruf und Privatleben, immer ist das Eingebunden- und Eingeordnetsein als Teil einer größeren „Wir-Einheit“ Anlass für das Individuum, seine Lebensgefühle von Vertrauen, Selbständigkeit, Initiative, Identität, Intimität und Generativität immer neuen Prüfungen zu unterziehen. In dieser Stufe gibt es aber noch ein deutliches Abheben des „Wir“ von einem „Ihr“ (also einer anderen Gruppe, mit der man in Kooperation oder Konkurrenz lebt, oder einem „Sie“, also einer Gruppe, die aus der Kommunikation und Interaktion ausgeschlossen wird. Erst in der Stufe der „quartären Intersubjektivität“, die im reifen Erwachsenenalter und gegen Ende des Lebens sich ausbilden kann, nähert sich das Gemeinschaftsgefühl dem Ziel, das Adler vorschwebte: Der Mensch versteht sich als eingebunden in, bezogen auf und verbunden mit verschiedensten Einzelindividuen, Gruppierun39 Über die noch immer nicht ausgelotete Tiefe der Bedeutung dieses Wechsels zwischen Dyade und Triade sieh z. B. Fonagy 2005. 40 Wie sehr hier Forschungsergebnisse der „Big Four“ eine neue entwicklungspsychologisch hochkomplexe Sicht auf alte psychoanalytische Konzeptionierungen, v. a. jene der ödipalen Auseinandersetzung des dritten bis sechsten Lebensjahres, ermöglichen, ist sehr pointiert und mit großem Gewinn bei Wilhelm Brüggen nachzulesen (Brüggen 2005).
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gen und der Menschheit als Ganzes, organisiert in verschiedenen „geographischen“ und „chronologischen“ Nähe-Distanz-Kreisen der größeren oder geringeren Unmittelbarkeit der Interaktion und der Verantwortlichkeit, die der Einzelne für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Menschen hat – Gemeinschaftsgefühl „sub specie aeternitatis“. 2.2.1.6 Gemeinschaftsgefühl im Spiegel einer individualpsychologisch interpretierten Matrix der menschlichen Entwicklung: Dimensionen, Wir-Stufen, Kompetenzbündel Die Konstituierung der verschiedenen Elemente, aus denen die hier vorgestellte „individualpsychologisch interpretierte Matrix der menschlichen Entwicklung“ gebildet wurde, lief auf Eines hinaus: auf die systematische Rekonstruktion des Begriffs „Gemeinschaftsgefühl“. Der Grund für diese Entscheidung liegt in folgender prinzipiellen Überlegung: Auch wenn Begriffe wie „Minderwertigkeitsgefühl“, „Geltungsstreben“ oder „(Über)Kompensation“ von den frühesten (1911-1937) bis zu den aktuellsten Phasen (1990–2011) der Individualpsychologie durchgängig zu ihren identitätsstiftendsten Grundbegriffen gehört, und obwohl der schillernde, aber immer noch vage Begriff Gemeinschaftsgefühl zugleich tragender und unsicherer (weil theoretisch nicht klar gefasster) Boden einer individualpsychologisch orientierten Entwicklungstheorie ist, enthält er dessen ungeachtet das meiste Potential für einen „echten“ Paradigmakandidaten (vgl. d. a. Stephenson 2003). Es gilt zwar auch und besonders bezüglich dieses Begriffs das Wort Gisela Eifes „Adler hinterließ uns ein psychodynamisches Modell, das eher einem allgemeinen Lebensprinzip entspricht als einer psychologischen Theorie.“ (Eife 2009, 120), doch sollte das in diesem Kontext eher als Ermutigung zur Nutzung ebendieses Grundbegriffes für eine Erhöhung der Systematik des individualpsychologischen Theoriengebäudes Anlass geben. Gerade in ihm lässt sich nämlich das Zusammenwirken aller Determinanten der Psychodynamik (seien sie nun „mehr psychoanalytisch“ oder „mehr individualpsychologisch“) am umfassendsten zeigen. Denn „individualpsychologische“ Minderwertigkeitsgefühle und deren Regulation durch Kompensationen und durch Geltungsstreben stehen neben „psychoanalytischen“ Triebregulationen und anderen zentralen tiefenpsychologischen Begrifflichkeiten mit weitreichender resp. zentraler Bedeutung. Sie können in einer bestimmten Rekonstruktion des Gemeinschaftsgefühlsbegriffes in diesen als Unter- bzw. Teilbegriffe integriert werden. Gleichzeitig ist es das Gemeinschaftsgefühl, für das sich am besten anhand der modernen Forschungsergebnisse zeigen lässt, wie es sich im Laufe des menschlichen Lebens aus ersten Vorformen in mehreren Übergängen bis hin zur „Vollform“ entwickelt und aufbaut. Minderwertigkeitsgefühle unterliegen zwar auch einer lebenslangen Entwicklung, aber eher im Sinne von phasenspezifischen Varianten, während die Vollform des Gemeinschaftsgefühls, wie sie sich am Ende des (geglückten) Lebens konfiguriert, ein strukturiertes Ganzes von ineinander greifenden Teilelementen darstellt. Um hier Systematik zu ermöglichen, wird im Folgenden zwischen zwei Dimensionen des Gemeinschaftsgefühls, nämlich jener, die im Ausdruck
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
„ein Gefühl von etwas haben“ als Qualitäten des Gewahrwerdens gekennzeichnet ist und jener, die als „ein Gefühl für etwas haben“ bezeichnet wird und mehreren, sich im Laufe des Lebens zu entwickelnden bzw. auszubauenden Kompetenzbündeln entspricht. Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen im Aufbau des Gemeinschaftsgefühls Damit spannt sich ein Bestimmungsfeld für eine systematische Rekonstruktion des für Adler und die Individualpsychologie zentralen Begriffs „Gemeinschaftsgefühl“ auf, das auf vier verschiedenen Wir-Stufen unterschiedlich zur realisierende vier Kompetenzbündel benennt, die basisbildende Ressourcen sowohl für das ganzheitliche Gewahrwerden (umfassendes Erkennen, Annehmen und Verstehen) als auch für das ganzheitliche Gestalten (umfassendes Integrieren in und Weiterentwickeln) von Gemeinschaft darstellen. Die erste Bestimmungsmöglichkeit lag in der Unterscheidung der zwei Dimensionen • „Gefühl von“ (= kompetentes Gewahrwerden von „Gemeinschaft“) und • „Gefühl für“ (= kompetentes Gestalten von „Gemeinschaft)“. Die zweite wurde anlässlich der Formen der Intersubjektivität als „Wir-Stufen“ erläutert: 1. Wir-Stufe: „Dyadisches Wir“: Ich und mein Gegenüber in direkter Bezogenheit und Verwiesenheit. Erleben von Affektregulationskooperation und Bedeutungskokonstruktion, 2. Wir-Stufe: „Trianguliertes Wir“: Erleben einer verbindenden Triangulierung, in der Differenz und Abstimmung Gemeinsamkeit erzeugt, 3. Wir-Stufe: „Gruppen-Wir“: Erleben einer Eingebundenheit in eine größere Gruppe von Gleichgestellten, in der Rollenverteilungen ausgehandelt werden müssen, 4. Wir-Stufe: „Menschheits-Wir“: Erleben, eigenständiger und eigenverantwortlicher Teil eines großen, für das Individuum in Abstufungen von Nähe, Verbundenheit und Verantwortlichkeit strukturierten Ganzen zu sein. Die dritte Bestimmungsmöglichkeit einer systematisierenden Begriffsrekonstruktion von „Gemeinschaftsgefühl“ liegt in vier „Kompetenzbündeln“: • • • •
Koordination, Kollaboration, Kooperation, Kokonstruktion.
Was mit diesen Ausdrücken gemeint ist, lässt sich am eindrücklichsten in der Parallelisierung der beiden paradigmatischen Szenarien „Mütter-Säugling“ und der analytischen Situation illustrieren:
„Dyadisches Wir“ „Trianguliertes Wir“ „Gruppen-Wir“ „Menschheits-Wir“
•
•
•
•
Ko-ordination Ko-laboration Ko-operation Ko-konstruktion
Lebensekel
Stagnation
Isolierung
Identitätsdiffusion
Kooperative Subjekttransformation (Virtuelle Positionen, Intermediärer Transformationsraum)
1. 2. 3. 4.
Kompetenzbündel des Gemeinschaftsgefühls
Abb. 6 Gemeinschaftsgefühl im Spiegel einer individualpsychologisch interpretierten Matrix der menschlichen Entwicklung: Dimensionen, Wir-Stufen, Kompetenzbündel
Integrität
Generativität
Intimität
Identität
Minderwert.gefühl
Werksinn
Wir-Stufen des Gemeinschaftsgefühls (aus der Ich-Dezentrierung):
Schuldgefühl
Initiative
Dimensionen des Gemeinschaftsgefühls: „Gefühl von Gemeinschaft“ „Gefühl für Gemeinschaft“
Scham & Zweifel
Intersubjektivität
Hingabe an einen gemeinsam erschaffenen Bedeutungs- und Transformationsraum
Autonomie
Bindung
Erschaffen und Aufrechterhalten der Bezogenheit und gegenseitigen Verwiesenheit
Urmisstrauen
Erfassen u. Verstehen eigener u. fremder Mentalität Mentalisierung
Erkennen und Annehmen eigener u. fremder Mentalität
Urvertrauen
Affektregulierung
Zulassen, Gewahrwerden, Identifizierung, Modulierung u. kommunikative Vermittlung von Affekten
Phasenspezifisch geformtes, von innen und außen aktivierbares, durch wechselseitige modulierende Spiegelung und wechselseitige (aus)haltende Mitbewegung im Gemeinschaftsgefühl immer wieder kompensierbares Minderwertigkeitsgefühl und in der Gleichwertigkeit aufgehobenes Geltungsstreben
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
Mutter und Säugling dienen einander nur dann erfolgreich als EntwicklungspartnerInnen, wenn sie sowohl ihre eigenen Aktivtäten koordinieren können, als auch ihre beider Aktivitäten koordinierend aufeinander abstimmen können. Dass es sich hier um ein ganzes Bündel von Kompetenzen handelt, ist schnell gezeigt: es geht hier im „Zusammen-ordnen“ (Ko-ordination) u. a. nicht nur um die „richtige“ Aneinanderreihung von Einzelaktivitäten in ihrer zum Ziel führenden zeitlichen An-Ordnung, sonder auch um die „Unter-Ordnung“ weniger wichtiger Handlungen (also solcher, die für die Erreichung eines aktuellen Zieles nicht direkt notwendig oder hilfreich sind) unter wichtigere. Und diese Unterordnung betrifft nicht nur die Handlungen sondern auch die Wahrnehmungen im Differenzieren von relevanten und irrelevanten Reizen. Das gleiche, nur in einer deutlich höheren Komplexitätsstufe, gilt auch für die analytische Situation: Erfolgreiches „Teamwork“ in einer Analyse gelingt nur, wenn beide in ihren Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden können 41 . „Kollaboration“ meint hier das „Zusammenarbeiten“ im Sinne einer gleichberechtigten Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel. „Kooperation“ hingegen markiert das „Arbeitsteilige“ an der Zusammenarbeit 42 : Jeder übernimmt entsprechend seinen jeweiligen Möglichkeiten eine bestimmte Rolle im Gesamt der zu erfüllenden Funktionen (Planung, Leitung, Ausführung etc.). Zwischen Mutter und Säugling ergeben sich diese Ausrichtungen und Verteilungen ebenso entsprechend den Entwicklungsnotwendigkeiten und Ausgangsbedingungen wie in der analytischen Situation: Wer in einer Entwicklungsherausforderung mehr Erfahrung und Kompetenz vorzuweisen hat, übernimmt die Rolle von Mutter/AnalytikerIn, der andere nimmt die Rolle Säugling/AnalysandIn ein. Wenn dann mit verteilten Rollen und auf ein gemeinsames Ziel hin koordiniert interagiert werden kann, dann geht es an die gemeinsame Erarbeitung (= KoKonstruktion) von Bedeutungen 43 als den tragenden Elementen jeder emotionalen und kognitiven Entwicklung des Menschen. 41 Das gilt selbstverständlich auch unter den Bedingungen von freier Assoziation und Deutung: Auch wenn es hier letztlich um Intuition geht, so „bewertet“ etwas in AnalytikerIn das von AnalysandIn in freier Assoziation vorgebrachte und kraft dieser Wertung entscheidet er/sie sich, dieses zu deuten und jenes nicht. 42 Hier handelt es sich um eine von der Individualpsychologie besonders hervorgehobene gemeinschaftsgefühlsbefördernde „Lebensbewegung“, nämlich jene „von der Kommunikation zur Kooperation“ (Antoch 1989). 43 In der analytischen Situation, dieser „eigentümliche[n] Art, miteinander zu reden“ (Müller-Pozzi 1995, 11) die gleichzeitig und rückbezüglich dazu dient, dass „die Analysepartner diese Interaktionen erforschen“ (Schachter 2006b, 11), vollendet sich dieses Kompetenzbündel z. B. in einer „Psychoanalyse als Erzählkunst“ (Ferro 2009) in der Kokonstruktion einer „gemeinsame[n] Erzählung“ (ebd., 31). Dabei geht diese Vorgangsweise letztlich auf das Freud-Diktum „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben“ (Freud 1936, 423) zurück, das in neuerer Zeit zu einer Renaissance des Diskurses um den Wirklichkeitsbegriff in seiner Bedeutung für die Psychotherapie geführt hat (s. z. B. Fazekas 2000).
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Was bedeutet nun „Gemeinschaftsgefühl im Spiegel der individualpsychologisch interpretierten Matrix der menschlichen Entwicklung“? Die Beantwortung dieser Frage bietet gleichzeitig die Möglichkeit, alle in diesem Kapitels „individualpsychologische Entwicklungstheorie“ ausgeführten Überlegungen in verdichteter Form zusammenzufassen: Das wahrnehmungs- und handlungsbezogene Gemeinschaftsgefühl des Individuums (als Gegenstand von entwicklungstheoretischen Überlegungen oder von psychotherapeutischen Behandlungen) in seinen „Wir-Stufen-Kompetenzen“ entwickelt sich über die Externalisierung der inneren virtuellen Positionen „Ich“-„Wir“„Du“ in einen intermediären Raum als potentiellen Entwicklungsraum für kooperative Subjekttransformation. Das Ergebnis gemeinsam gestalteter und wahrgenommener Abstimmungsprozesse zwischen „Angebot und Nachfrage“ wirkt über den Prozess der (Re-)Internalisierung mehr entwicklungsbefördernd oder mehr entwicklungshemmend auf das „Wir-Gefühl“ und auf das „Selbst-Gefühl“ als integrative Bestandteile des Gemeinschaftsgefühls. Kompetenzbündel und Wir-Stufen entwickeln sich phasenspezifisch durch wechselseitige modulierende Spiegelung und wechselseitige (aus)haltende Mitbewegung. Dabei konfigurieren sich Affektregulierungen, Mentalisierungen, Bindungsverhalten und Intersubjektivitätsgestaltungen nach Maßgabe der Lebensthemen/Lebensaufgaben/Lebensgefühle und der in ihr enthaltenen Anlässe für das Aufkommen von und der Reaktionsmöglichkeiten auf Bedürfnis- und Mangellagen. Die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls bietet dann Kompensationsmöglichkeiten von im Zuge der Entwicklung aufkommenden phasenspezifischen Minderwertigkeitsgefühlen und nur in der Gleichwertigkeit auflösbarem Geltungsstreben.
2.2.2 Die gegenseitige Verwiesenheit von Entwicklungstheorie und Krankheitslehre/Psychopathologie In der Zusammenfassung des Kapitels „Individualpsychologische Entwicklungstheorien“ wurde das Gemeinschaftsgefühl angesprochen „als Gegenstand von entwicklungstheoretischen Überlegungen oder von psychotherapeutischen Behandlungen“. Damit wurde implizit eine Verbindung zwischen den Bereichen „Entwicklungstheorie“, „Krankheitslehre“ und „Behandlungstechnik“ hergestellt. Diese Verbindung ist als eine systematische angelegt: der dritte Bereich, in dem von einer therapeutischen Schule die Grundlagen und Richtlinien dafür bereitgestellt werden, wann, wo, wie, und mit welchem Ziel die TherapeutInnen Interventionen setzen (sollen) um Behandlungserfolg zu ermöglichen, sollte aus dem zweiten Bereich abgeleitet sein (oder sich zumindest auf diesen beziehen), in dem dargelegt wird, was die Community für „behandlungsbedürftig“, mithin „therapiewürdig“ ansieht. Wie anders aber können diese Inhalte einer solchen Krankheitslehre/Psychopathologie anders entstehen, als in Bezug auf Annahmen darüber, wie sich der Mensch entwickelt? Die Reihe lautet also: Entwicklungstheorie → Krankheitslehre → Behandlungstechnik. Alle bisherigen Überlegungen zu einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie bilden da-
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
her die Basis, auf der die folgenden Erläuterungen, wie in einer Psychoanalytischen Individualpsychologie Überlegungen zu „behandlungsbedürftigem“ oder „therapiewürdigem“ gestaltet werden sollen.
2.2.3 Individualpsychologische Krankheitslehre „Die Individualpsychologie ist keine Krankheitslehre und enthält auch keine solche“ (Kretschmer 1995, 270). Mit dieser Aussage, die der Autor in seinem Beitrag zum Stichwort „Krankheit“ in der letzten Auflage des „Wörterbuchs der Individualpsychologie“ formuliert, scheint er die Verfassung eines Kapitels „Krankheitslehre“ in einem Lehrbuch der Individualpsychologie zunächst ad absurdum zu führen. Daran ändert auch die unmittelbar angeschlossene „Abmilderung“ nichts: „Allerdings halten sich die Individualpsychologen, um ihre Befunde in einen weiteren Rahmen zu stellen, deskriptiv an die gängige Psychopathologie, die – ungeachtet mancher Wandlungen – nie ernstlich in Zweifel gezogen wurde“ (ebd.). Denn dass Individualpsychologie im Sinne einer anerkannten psychotherapeutischen Methode zu betreiben natürlich auch bedeutet, sich an anerkannte diagnostische Kriterien halten zu müssen (vor allem wenn es um die Frage geht, ob KlientInnen beim Sozialversicherungsträger um Refundierung ansuchen können), setzt ja die grundsätzliche Frage nicht außer Kraft, was in der Individualpsychologie als „therapiewürdig“ angesehen wird, wo also aus der Sicht der hier vertretenen theoretischen Standpunkte Veränderung, Transformation, Weiterentwicklung sinnvoll und notwendig erscheint. Tatsächlich ist ja die Individualpsychologie wie auch die Psychoanalyse aus den Wurzeln der ärztlichen Behandlung von Krankheiten hervorgegangen, und wie auch immer der Diskurs zu den Anwendungsmöglichkeiten psychoanalytischen Wissens geführt wird, die Tatsache, dass der überwiegende Anlass zur Anwendung individualpsychologischen Wissens zumindest im deutschsprachigen Raum die Leidenszustände sind, mit denen KlientInnen individualpsychologische PsychotherapeutInnen aufsuchen, erfordert eine systematische und schulenspezifische Beschäftigung mit diesen Leidenszuständen, und damit jedenfalls bis zu einem gewissen Grad auch mit deren Kategorisierung und Erklärung. Im letzten Kapitel wurde eine individualpsychologische Version einer Entwicklungstheorie als Grundlage einer individualpsychologischen Krankheitslehre/Psychopathologie 44 vorgestellt. Dabei wurde bereits eine Ableitung individualpsychologischer Überlegungen zur Krankheitslehre/Psychopathologie vorbereitet. 44 Eigentlich müsste man konsequenterweise schulenübergreifend von einer „Leidenslehre“ sprechen, möchte man nicht die Überwertigkeit des medizinischen Anteils, wie er in den Ausdrücken „Krankheit“ als auch „Pathologie“ durchschlägt, perpetuieren. Wenn der Mensch wahrnimmt, dass seine Lebensgestaltungen (inkl. der Gestaltung der Beziehung zu sich selbst und seinen „bedeutsamen Anderen“) so weit von seinem individuellen Bild eines „Glücklich-Seins“ entfernt ist, dass er Veränderung, Transformation, Weiterentwicklung für unabdingbar hält, und wenn er
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Dementsprechend sind „Psychoanalytische Modelle . . . das Resultat unterschiedlicher Versuche, zu erklären, weshalb und auf welche Weise Individuen vom normalen Entwicklungspfad abgewichen und in gravierende intrapsychische und interpersonale Schwierigkeiten geraten sind, die sie schließlich in analytische Behandlung geführt haben“ (Fonagy u. Target 2006). Der oben genannte Autor des Wörterbucheintrages selbst trifft an der zitierten Stelle zwar noch eine diesbezügliche Aussage, sie hilft uns aber nicht sonderlich weiter: „Als Psychologie kann sie [die Individualpsychologie, Anm. T. S.] nur seelische Gesetze durch die Bereiche hindurch verfolgen, die wir krank oder gesund zu nennen pflegen, indem sie Glücken und Scheitern, Fiktion und Echtheit, Vereinzelung und Gemeinschaft untersucht“ (Kretschmer 1995, 270). Denn einerseits ist die Bezugnahme auf „seelische Gesetze“ nicht unbedingt das, was den aktuellen Forschungsstand der modernen Psychotherapiewissenschaft derzeit kennzeichnet, und andererseits sind Unterscheidungen wie jene zwischen „Glücken“ und „Scheitern“ und zwischen „Fiktion“ und „Echtheit“ zumindest erläuterungsbedürftig, jedenfalls markieren sie nicht eine Systematik, die hier einfach übernommen werden könnte. Tatsächlich findet sich ebenso wie bei den Entwicklungstheorien kein eigenständiges individualpsychologisches Werk zur Krankheitslehre/Psychopathologie, auch wenn diese einen unabdingbaren Bestandteil der Selbstdefinition darstellt, wie sie in Anträgen zur Anerkennung als Fachspezifikum vorgesehen ist. Und so wie bei der Einleitung zum letzten Kapitel kann und muss hier ebenfalls dem Weiteren die Deklaration vorangestellt werden, dass im Rahmen dieses Kapitels keine differenzierte Ausgestaltung einer solchen eigenständigen Version einer spezifisch individualpsychologischen Theorie der Psychopathologie untergebracht werden kann. Gleichwohl haben die Ausführungen zum Kapitel „Entwicklungstheorien“ nicht nur gezeigt, inwiefern die gewählte Vorgangsweise, bestimmte Modellvorstellungen durch eine „individualpsychologische Linie“ der Rezeption zu vermitteln, auch für dieses Kapitel eingesetzt werden kann und soll, sondern bieten auch inhaltdann glaubt, mit „Beratung“ nicht an sein Ziel zu kommen, weil sein Leid tiefere und komplexere Ursachen hat, die ohne spezifische professionelle Hilfe nicht mehr transformiert werden können, dann sucht er Psychotherapie auf. Wenn KlientInnen das Gefühl haben, ihr psychisches Leid nicht mehr auszuhalten, dann suchen sie psychotherapeutische Hilfe, wenn PatientInnen das Gefühl haben, „krank“ zu sein, dann suchen sie medizinische Hilfe auf. Derzeit sind aber auch die Ausbildungsstätten für PsychotherapeutInnen noch immer daran gebunden, „Krankheitslehre“ resp. „Psychopathologie“ zu lehren. Daher werden wir auch in diesem Individualpsychologie-Lehrbuch bei diesen Ausdrücken bleiben, obwohl schon der ursprüngliche Mediziner Alfred Adler sich gegen eine eigene individualpsychologisch „Krankheits-Lehre“ gewehrt hat.
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
lich Ansatzpunkte für die Erstellung von Richtlinien, an denen sich Erläuterungen zu einer individualpsychologischen Krankheitslehre resp. entsprechende Überlegungen zur Psychopathologie orientieren können. Für die Wahl des folgenden Modells als „Grundpfeiler“ der Gestaltung dieses Kapitels spricht also sowohl die unmittelbare Anschlussfähigkeit an die oben referierten aktuellen Forschungsergebnisse, als auch die Tatsache, dass sie in der individualpsychologischen Ausbildung, die von den AutorInnen dieses Bandes geleitet werden, als jene Modelle vorgestellt werden, die eine besonders hohe Kompatibilität mit individualpsychologischen Grundannahmen und Theoremen auszeichnet. Das dreidimensionale Dysfunktionalitätsmodell (Stavros Mentzos) Spätestens in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts war bis auf einigen fundamentalistischen Kreisen innerhalb der Psychoanalyse nicht nur allen praktisch Tätigen sondern auch den meisten PsychoanalytikerInnen, die publizierenderweise sich an der Verwaltung psychoanalytischen Wissens arbeiteten, klar geworden, dass die ursprüngliche von Sigmund Freud im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts entworfene Krankheitslehre angesichts vieler „von der Theorie abweichender Beobachtungen“ (Mentzos 2009, 21) nicht mehr haltbar ist. Denn „es zeigten sich immer mehr Schwächen; das bis dahin solide erscheinende Theoriegebäude bekam immer mehr Risse.“ (ebd.) Zu dicht und drängend waren die Erfahrungen mit der Not „atypischer Fälle“ geworden. Die gängigen Klassifikationssysteme (ICD, DSM) boten hier auch keine befriedigende Alternative, da sie nur von der Phänomenologie der „psychischen Krankheiten“ ausgingen und die dahinterliegende Dynamik, die aber den zentralen Ansatzpunkt für psychoanalytisches Handeln bietet, gänzlich außer Acht ließen. Bereits seit den achtziger Jahren hatte daraufhin Stavros Mentzos, Psychiater, Psychoanalytiker und Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik des Klinikums der Universität Frankfurt am Main, begonnen, ein Modell zu entwerfen, das zwar weitestgehend auf den Grundannahmen Freuds aufbaut, aber mehrdimensional angelegt ist. 2009 legte er dann die bisher ausgereifteste Version in Form eines „Lehrbuches der Psychodynamik“ vor. Diese versteht das Symptom „als Bestandteil eines dynamischen Gebildes“ (ebd., 22), wobei Mentzos an zentralen Stellen Adler’sches Denken bedient, wenn er davon spricht, dass die „psychosoziale, Dimension“ (ebd.) nicht vernachlässigt werden darf und dass „. . . nicht schon wegen der negativen Konnotation Symptome und Beschwerden als nur passiv erlittene Leidenszustände und Störungen verstanden werden [sollten], sondern auch als Elemente von zum großen Teil aktiven Reaktionen“ (ebd., zweite Hervorhebung T. S.), womit sowohl die „schöpferische Kraft“ als auch die „Finalität“ der Symptomatik in den Blick geraten kann. Der Konflikt behält bei Mentzos seine zentrale Bedeutung im Verständnis der Symptomatik der KlientInnen, allerdings gibt er diesem Bereich psychoanalytischen Wissens ein spezielles Gepräge, indem er nämlich eine ganze Reihe von „Primärkon-
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flikten“ postuliert, die gewissermaßen die Basis bilden, die „Grundfarben“, aus denen dann die ganze Palette der in der Praxis sichtbar und wirksam werdenden Konfliktlagen „zusammengemischt“ wird. So unterscheidet Mentzos zwischen sieben grundlegenden Konfliktarten, denen spezifische Ängste zugeordnet werden können (vgl. Mentzos 2009, 31): I. II.
III.
IV.
V.
VI. VII.
Autistischer Rückzug versus Fusion mit dem Objekt, verbunden mit Angst vor Selbstverlust durch Objektlosigkeit oder durch Fusion mit dem Objekt. Absolut autonome Selbstwertigkeit versus vom Objekt absolute abhängige Selbstwertigkeit, verbunden mit der Angst vor Selbstwertverlust durch Selbstentwertung des idealisierten Objekts. Separation – Individuation versus Bindung – Abhängigkeit, verbunden mit der Angst vor Selbstgefährdung durch Objektverlust oder durch Umklammerung seitens des Objekts. Autarkie versus Unterwerfung und Unselbständigkeit, verbunden mit der Angst abgelehnt und nicht geliebt zu werden, vor Trennung oder demütigender Abhängigkeit. Identifikation mit dem Männlichen versus Identifikation mit dem Weiblichen, verbunden mit der Angst vor totalem Aufgeben des Weiblichen versus endgültigem Aufgeben des Männlichen (bzw. Geschlechtsdiffusion). Loyalitätskonflikte, verbunden mit der Angst vor Aufgeben oder Verraten müssen des einen oder anderen Objekts. Triadische „ödipale“ Konflikte, verbunden mit der Angst vor Ausschluss durch das Elternpaar, Bedrohung der eigenen Integrität und Sicherheit; Kastrationsangst.
Bevor wir diese Liste genauer betrachten, müssen wir noch die zwei Dimensionen, die Mentzos dem Konfliktmodell hinzufügt, in den Blick nehmen, denn erst die Konstellation aller drei Dimensionalitäten macht den eigentlich innovativen Stellenwert seines Konzepts aus und begründet die systematisierende Kraft seiner Modellvorstellungen. Die zweite Dimension, die Mentzos also der ersten Dimension der Grundkonflikte zur Seite stellt, ist diejenige der strukturellen Reife. Damit antwortete er direkt auf die oben erwähnte Tatsache, dass die vielen „atypischen“ Fälle, die dann als „Borderline“ „oder „Grundstörung“ oder „frühe Störung“ markiert wurden, offensichtlich das „reife“ Niveau der Neurose nicht erreicht haben, sondern weitgehend in sich zerrissen, zwischen extremen Zuständen affektiver Haltlosigkeit und psychosozialer „Beziehungsnot“ aufgespannt bleiben. Mentzos führt hier seine Systematik zwar prinzipiell auf fünf Stufen „aufsteigender Reife 45 “, legt aber eine Beschreibung vor, die der doch letztlich immer willkürli45 Dass Mentzos alle Stufen der Reife (also auch die höchste) durchgängig als Reife der Abwehr anlegt, hat einen gewissen „Charme des Irritierenden“, weil sie in ihrer Konsequenz dazu führt, das wir dann auch in der Individualpsychologie von „einem Abwehrmechanismus [reden müssen], den wir gemeinsam als Gemeinschaftsgefühl bezeichnen“! (Morbach 2007, 125; Hvh. T. S.)
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chen Wahl der Anzahl solcher Stufen eine sowohl realistischere Einschätzungsmöglichkeit biete, als auch eine, die „in fließenden Übergangen“ denkt: „Pragmatisch lässt sich der Grad der Unreife eines Abwehrmechanismus aber schneller dadurch abschätzen, was ein Abwehrvorgang dem psychophysischen Organismus „kostet“,. Das heißt: Welche Art und welches Ausmaß von Nachteilen sind es, die für diese Abwehr – um die intrapsychische Spannung zu reduzieren und dadurch Angst, Scham, Schuld etc. zu mildern – in Kauf genommen werden müssen? Ist also im Abwehrvorgang beispielsweise eine kleinere oder größere Vernachlässigung der Realität eine kleinere oder größere Einschränkung der Freiheitsgrade usw. impliziert?“ (ebd., 45). Die dritte Dimension bezeichnet Mentzos als den „Modus der Verarbeitung von Konflikten, Traumata und Mangellagen“. Letztere bezieht Mentzos an bestimmten Stellen ein, an anderen nicht. Wir werden diesen Aspekt aber, da er ein individualpsychologisch besonders relevanter ist, prinzipiell mit einbeziehen. Der „Modus“ ist also der individuelle Weg, der bei der Abwehr des Konflikt, des Traumas bzw. der Kompensation des Trauma und/oder des Mangels „gewählt“ 46 wird. Hier folgt Mentzos auf den ersten Blick klassisch-psychoanalytischen Nomenklaturen, wenn er • • • • • • •
hysterische, zwangsneurotische, phobische (und angstneurotische), depressive, süchtige (und perverse), psychosomatische und psychotische
Modi anführt. Der entscheidende und (gegenüber dem klassischen Pathologiemodell Freuds) „revolutionäre“ Ansatz liegt in der Annahme, dass man „z. B. den hysterischen oder zwangsneurotischen Modus auf allen Stufen, vom Borderline-Niveau bis zum reifen Level des sogenannten Neurotischen treffen“ (ebd., 87) kann 47 . 46 So wie auch schon bei der Dimension der Konfliktart ist auch hier natürlich im Wesentlichen immer die unbewusste Qualität in der Dynamik der zentrale Ansatzpunkt für Diagnose und Therapie. 47 Mentzos Argumentation ist hier sehr schlüssig und kommt der Erfahrung der klinischen Praxis sehr entgegen: Er fügt zu dieser prinzipiellen „Freiheit“ des Modus, sich nicht nur auf neurotischem sondern eben auch auf dem Niveau der sogenannten Frühstörungen zu äußern, die realistische Einschränkung: „Es gibt statistische Anhäufungen der Fälle mit einem bestimmten Modus auf einem bestimmten Niveau, die eine . . . Systematik erleichtern. So trifft man den hysterischen Modus tatsächlich häufig auf dem ödipalen Niveau“ (Mentzos 2009, 87).
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Im Folgenden wird der Versuch unternommen, den „Handlungskern“ des jeweiligen von Mentzos beschriebenen Abwehrmodus individualpsychologisch als „Lebensbewegung“ zu interpretieren, also als Bewegung zur (unter den gegeben äußeren und inneren Bedingungen „bestmöglichen“) Sicherung vor der selbstwertgefährdenden Konfrontation mit unerträglich konflikthaften Inhalten: Im hysterischen Modus benimmt sich die Persönlichkeit so, dass sie „anders erscheint“ (als sie unbewusst konflikthaft erlebt). Es wird also der Konfrontationsinhalt durch entsprechende „Ablenkungsbewegungen“, die einen „vorgeschobenen“ Inhalt vor den verdrängten stellen und so die Persönlichkeit (vor den anderen und sich selbst) in einem anderen Licht bzw. als eine andere Persönlichkeit erscheinen lassen, sozusagen „maskiert“. Der zwangsneurotische Modus hingegen nimmt den Konfrontationsinhalt gewissermaßen in „Schutzhaft“, indem er ein Gefängnis starrer Ordnung aus immer wieder und immer wieder gleich durchzuführenden Handlungen erschafft, aus dem heraus der Inhalt niemals „ins Freie“ kann. In der Abwehr des Konfrontationsinhaltes im phobischen Modus wird eine Art Stellvertreter generiert. Dieser Prozess läuft in den drei Stufen Verdrängung-Verschiebung-Vermeidung ab: Der angstbesetzte Inhalt wird zunächst verdrängt, im Unbewussten auf ein anderes Objekt (bzw. eine andere Objektkategorie wie Spinnen, enge Räume etc.) verschoben, das dann im Außen bewusst gemieden werden kann, um so unbewusst die Fiktion aufrecht erhalten zu können, dem unbewussten Konflikt damit seinen Stachel genommen zu haben. Hingegen setzt der angstneurotische Modus gewissermaßen einen „Super-GAU“ in Gang, in dem „alles verstrahlt und eingeschmolzen“ werden soll. Jeder, der entweder selbst einmal eine Panikattacke erlebt oder mit solchen zu tun gehabt hat, weiß, welch tsunamiartigen Affektquantitäten den ganzen Mensch hier überschwemmen. Es handelt sich im Überblick aller Abwehrbewegungen, die gegen das Bewusstwerden des spannungsauslösenden Konflikts eingesetzt werden können (und diesbezüglich ist der Mensch ja wirklich beeindruckend erfinderisch) um die auf den ersten Blick ineffektivste Abwehrbewegung, was die als Folge der Verdrängungsleistung einsetzende „Spannungslösung“ anbelangt. Denn durch den Angstanfall ist tatsächlich der Grad der bewusst erlebten Spannung so enorm, dass kaum mehr vorstellbar erscheint, inwiefern es hier einen psychodynamischen „Nutzen“ gibt. Tatsächlich aber erzielt der „Flächenbrand“ der Angstanfalles eine „perfekte“ Abwehr des Konfrontationsinhaltes: man kann nicht wie in der Hysterie, dem Zwang und der Phobie damit rechnen, dass der Inhalt, der im Bewusstsein erscheint, in symbolisierter, gewissermaßen „codierter“ Form den eigentlichen Konfrontationsinhalt enthält, den es dann entlang der gelegten Spuren nur mehr zu „ent-decken“ gilt. Vielmehr verhindert die „Objektlosigkeit“ der Angst, dass konkrete Spuren gelegt werden. Der depressive Modus erweist sich als der komplexeste, indem der Zusammenbruch des Selbstwertgefühls, der Sinngebung, der durch die Gefahr des Objektverlustes droht, durch aggressive, sadistische oder masochistische Verarbeitungen „gebannt“ werden soll. Gemeinsam ist diesen Varianten der „vorauseilende Gehorsam“,
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
in dem der Konfrontationsinhalt der absoluten Hilflosigkeit und Verlassenheit durch „vorwegnehmende Unterwerfung“ (aktiv oder passiv) verhindert werden soll. Dem perversen 48 Modus, der am meisten von allen Modi den Bereich der Sexualität unmittelbar in den Vordergrund rückt, liegt auch eine spezifische Dynamik zugrunde: „Eine offenbar vorliegende Brüchigkeit der Selbstkohäsion und Selbstidentität führt dazu, dass die bei einer sexuellen oder erotischen Beziehung antizipierte Begegnung mit dem ganzen Objekt als eine Gefährdung erlebt wird. Die Perversion schützt das Selbst vor dieser Gefahr, indem sie diese Begegnung mit einer anderen, weniger bedrohlichen ersetzt“ (ebd., 175). In diesem Modus wird also der Konfrontationsinhalt durch „Zerstückelung“ des „Ganzen als Gefahr“ entschärft. Mentzos rückt hier etwas in den Vordergrund, was Adlers „Sicherungstendenzen“, die er den „Freud’schen“ Abwehrmechanismen entgegengehalten hat, sehr nahe kommt, indem er in der Ergründung des perversiven Modus in den Vordergrund rückt, dass durch die „Zerstückelung“ des (unaushaltbare Spannung erzeugenden und damit gefährdenden) Konfrontationsinhaltes (= das Ganze der Person als „LustpartnerIn“) eine Sicherung vor dem phantasierten und gefürchteten Zerfall des Selbst erreicht (und nicht so sehr ein ins Bewusstsein drängender Inhalt abgewehrt) werden soll. Bezeichnend ist, dass sozusagen „Gleiches mit Gleichem vergolten“ wird: die phantasierte Gefahr des Verlustes der Selbstkohäsion, also des Ganzen des Selbst, wird mit einer Zerstückelung des Objektes als Ganzem beantwortet. Der süchtige Modus ist insofern den anderen „übergeordnet“, als er die Massivität des Wiederholungsaspektes aller Modi in den Vordergrund rückt. Der süchtige Mensch erreicht durch die Zufuhr der jeweiligen Substanz oder durch den Einsatz bestimmter Reizsituationen 49 eine Art „Doping“, indem er mit der Sucht eine Art „Reizschutz“ vor dem Gewahr- bzw. virulent werden des abgewehrten Konfliktes erreicht bzw. seine diesbezüglichen Abwehrleistungen mit „zugekauften“ Ressourcen verstärkt. In der Ausübung der Sucht wird tatsächlich eine u. U. im Moment äußerst effektive Lösung der unbewusst immer wieder andrängenden Spannung erreicht, der damit erreichte „Belohnungseffekt“ ist dabei so groß, dass im Sinne einer operanten Konditionierung das Suchtverhalten immer öfter und immer intensiver eingesetzt werden „muss“. 48 Eine klare systematische Unterscheidung zwischen „Abweichung“, „Variante“ und „Perversion“ aus psychoanalytischer Sicht findet sich bei Robert J. Stoller (Stoller 1998). 49 Mittlerweile werden auch „nicht substanzgebundene“ Süchte als solche erfasst und erforscht, wie Glücksspielsucht (vgl. Böning u. Grüsser-Sinopoli 2009; Zanki u. Fischer 2009), Kaufsucht (vgl. Raab u. Neuner 2009), das Messie-Syndrom (vgl. Reboly u. Pritz 2009), Arbeitssucht (vgl. Städele u. Poppenreuter), Sportsucht (vgl. Breuer u. Kleinert 2009), Sexsucht (vgl. Roth 2009), Internetabhängigkeit (vgl. Wildt 2009) und – Adler merke auf – „Die Sucht nach Macht“ (Parin 2009)!
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Im „Borderline“-Modus, sofern er als Abwehr und Kompensationsmodus verstanden werden soll und kann, kommt es zu einem abrupten Wechsel zwischen den Polen der Ambivalenz bzw. zu einem die Integration verhindernden „Springen“ zwischen den Impulsen libidinöser und aggressiver Energiequellen, die im Versuch, die Integrationsschwäche durch die „Kraft“ der jeweils dann überwertigen Seite der Ambivalenz kompensieren gesehen werden kann. 50 Kompensiert wird hier die Integrationsschwäche durch abwechselndes Bevorzugen des jeweiligen Poles. Dies wird in der Bezeichnung „Wechselsprung“ als Name für die entsprechende „Lesbenbewegung“ dieses Modus markiert 51 . Im psychotischen Modus (der schizophrenen Form) erfolgt ein Rückzug auf primärprozesshafte Strukturierungen, gewissermaßen eine „Auflösung“ des Konfrontationsinhaltes im „Säurebad der Psychose“. Im psychosomatischen Modus kommt es in einer Art „Materialisierung“ mentaler Zustände bzw. Inhalte zu einer „Verkörperlichung“ psychischen Konfliktgeschehens und damit zu einer „Desymbolisierung“ im Sinne der „Resomatisierung“. In dieser „Liste der Fiktionen und (Abwehr-)Bewegungsarten“ werden hier Vorgänge beschrieben, die erst durch die Perspektive, die Mentzos in seinem dreidimensionalen Modell vorgeschlagen hat, als weitgehend eigenständig erkannt werden konnten. Für den klinischen Diagnostiker der „alten Schule“ muss es irritierend erscheinen, wenn in einer Liste „neurotische“ Strukturen („Hysterie“, „Zwang“, „Phobie“) und solche, die in den sogenannten „Frühstörungen“ erfasst werden („Borderline“, „Psychose“) „vermischt“ werden. Der Grund dafür wurde bereits eingehend erläutert: der Reifegrad der Strukturen ist in diesen „Diagnosen 52 “ (Neurose, Borderline, Psychose) sehr unterschiedlich. Doch dies bedeutet nicht, dass der jeweiligen Struktur zur Abwehr unerträglicher Bewusstwerdungen nur eine Möglichkeit aus der breiten Palette menschlichen Abwehrverhaltens zur Verfügung steht, auch wenn es 50 Wie in allen anderen Darstellungen in diesem Kapitel, geht hier natürlich durch die Notwendigkeit der verkürzenden und vereinfachenden Darstellung, wie sie Vor- und Nachteil jedes lehrbuchartigen Werkes ist, die Komplexität gerade der Persönlichkeit und auch ihrer „AbwehrLebensbewegungen“ verloren. Der Autor dieses Kapitels hofft, dass man dieser dann wieder zumindest teilweise gerecht werden kann, wenn man die angebotene Systematik der „Matrix“ voll ausnützt. 51 Genau dieser Aspekt der Symptomatik war von Anfang an der entscheidende bei der seit 1937 anzutreffenden Markierung als eines eigenen, nicht mit klassisch-psychoanalytischen Interventionstechniken zu behandelnden Typus von Patienten (vgl. a. Kernberg, Dulz, Sachse 2010), wie Rohde-Dachser im historischen Rückblick hervorhebt: „Stern gelang es bereits damals, bestimmte Charakteristika der Borderline-Pathologie herauszuarbeiten, die später von Kernberg aufgegriffen und weiter differenziert wurden. Dazu gehörte insbesondere die Neigung dieser Patienten, im Analytiker ein gutes und allmächtiges Objekt zu sehen, das sich abrupt in ein feindliches verwandelte, sobald der Therapeut nicht in allem den Erwartungen des Patienten entsprach.“ (RohdeDachser 2003, 9). In der mittlerweile nahezu unüberschaubaren Menge an Fachliteratur zu diesem Thema gilt nach wie vor Rohde-Dachsers Band „Das Borderline-Syndrom“ (Rohde-Dachser 2004) als das Standardwerk. 52 Daher ist in der Abbildung „Diagnose“ in der Liste der Abwehrmodi auch unter Anführung gesetzt.
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2.2 Individualpsychologische Entwicklungstheorie und Krankheitslehre
„statische“ Häufungen gibt, die eben dazu führen, dass die Abwehrbewegung des „Wechselsprungs“ zwischen den Positionen der Ambivalenz ein für den Reifegrad der frühen Störung in „Borderline“-PatientInnen besonders typisches ist. Hingegen hat die klinische Praxis schon lange deutliche „Irritationen“ enthalten, nämlich das Phänomen, dass auch als „Borderline“ diagnostizierte KlientInnen immer wieder auch „hysterische Symptombildungen“ zeigen, dass im Zuge des herannahenden psychotischen Schubes Symptome der Diagnosekategorie „Zwangsneurose“ auftauchen (die dann eben eine Abwehrbewegung gegen den drohenden Zerfall darstellen) und ähnliche Phänomene mehr, die allesamt nahelegen, mindestens die von Mentzos vorgeschlagenen drei Dimensionen heranzuziehen, um dem komplexen Geschehen der Lebensbewegungen (als die auch „Symptome“ individualpsychologisch gesehen werden) so weit wie möglich gerecht werden zu können. Trotzdem soll ein diagnostischer Terminus noch einmal etwas genauer betrachtet werden: Der in den aktuellen diagnostischen Instrumentarien (ICD-11, DSM-IVR, OPD 2) verwendete Begriff der „Persönlichkeitsstörungen“, hebt die „alten“ Begriffe der „Charakterneurosen“ der älteren Psychoanalyse (Freud, Reich), jenen der „Psychopathien“ der älteren Psychiatrie und die „narzisstischen Persönlichkeitsstörungen“ der späteren Psychoanalyse (Kohut, Kernberg) in einer neuen umfassenderen Systematik auf. Persönlichkeitsstörungen „werden nicht durch besondere Symptome oder Kombinationen von Symptomen (Syndromen) – wie die Erkrankungen in der Medizin – definiert. Vielmehr stellen sie überdauernde Muster von Erlebens- und Verhaltensweisen dar, welche erstens merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen und zweitens mehr durch Charakterzüge und weniger durch Funktionsstörungen definiert werden“ (ebd., 147). In den Persönlichkeitsstörungen „diffundiert“ das abgegrenzte Symptom (also eine einzelne charakteristische Verhaltensweise wie das Händewaschen der Zwangsneurose) in generalisierten Verhaltenscharakteristika, die daher auch weniger deutlich zu „greifen“ und weniger klar zu „fassen“ sind. Die „Charakterneurosen“ enthielten nicht die mittlerweile als häufig erkannten schizoiden, paranoiden, antisozialen usw. Formen. „Psychopathie“ hatte prinzipiell zu wenig Differenzierungspotential und stellte auch eine zu deutlich kriminalisierende und diffamierende Konnotation in den Raum und die Namensgebung der „narzisstischen Persönlichkeitsstörungen“ engte den Spielraum genetischer Überlegungen zu sehr ein. Die Charakterisierung der „Symptomatik“ der Persönlichkeitsstörung als „dauerhafte Abwehr- und Kompensationsmechanismen“ (ebd., 150) lenkt den Blick also auf die Frage, ob es sich bei der „Symptomatik“ um etwas handelt, was zu einem relativ klar abgrenzbaren Zeitpunkt „neu“ aufritt, zu einer entsprechenden Intensität gelangt und im Sinne einer im Zuge „kathartischer“ Prozesse auch wieder „verschwinden“ kann. In diesen Fällen spricht man eher von einer „neurotischen Symptomatik“.
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Durchzieht es hingegen das entsprechende Verhalten das Leben der KlientInnen als „Leitlinie“, handelt es sich gewissermaßen um die „tragenden Säulen“ des Lebensplanes und der durch ihn bestimmten Lebensgestaltung, so tritt das, was im Begriff der Persönlichkeitsstörung markiert wurde, in den Vordergrund. Dann geht es auch weniger um Katharsis und Durcharbeiten, sondern mehr um jene Art der Transformation, in denen eine „Grundrenovierung“ bzw. „Nachreifung“ erzielt werden soll. Das Dysfunktionalitätsmodell im Spiegel der individualpsychologisch interpretierten Entwicklungsmatrix Alle Modi 53 dienen dem gleichen: der Entwicklungsverweigerung/-vermeidung. Man könnte vereinfachend mit der wie bereits diskutiert durchaus problematischen Adler’schen Diktion sagen: Die Betroffenen haben nicht den Mut 54 , die Spannung einer direkten und bewussten Begegnung mit dem Konfrontationsinhalt auszuhalten. Daher wird das Spannungserzeugende „maskiert“, wie bei der Hysterie, oder im zwangsneurotischen Modus „in Schutzhaft genommen“, nur „in Vertretung“ zugelassen wie beim phobischen Modus oder durch den „Flächenbrand“ des generalisierten Angstanfalles „weggeschmolzen“, durch die „Zerstückelung“ des perversiven Modus „geschwächt“ oder durch die gegen sich selbst gewendete Aggression des depressiven Modus „vorweggenommen“, in seiner Wirkung abgemildert, indem die Schwäche des Containers im süchtigen Modus durch „Doping“ kompensiert wird, oder ganz der Grundlage enthoben durch tiefstgehende Auflösung im „Säurebad der Psychose“ bzw. durch „Materialisierung“ in den Körper aus der Psyche „ausgelagert“ wie beim psychosomatischen Modus. Betrachten wir nun das soeben entfaltete Psychopathologie-Modell vor dem Hintergrund der in Kap. 2.2.1 erarbeiteten Matrix: Die zu verstehende und zu beeinflussende Dynamik, die unsere KlientInnen zeigen bzw. uns via Übertragung/Gegenübertragung spüren lassen, spannt sich nun nicht nur zwischen diesen drei Dimensionen „Abwehrmodus“, „Konfliktart“, „Strukturreife“ auf, sondern kann über diese Betrachtungsweise hin zu den verschiede-
53 Mentzos differenziert noch weiter. So unterscheidet er zwischen mehreren depressiven Modi, spricht auch z. B. von einem hypochondrischen Modus, unterscheidet diesen vom hysterischen und vom psychosomatischen Modus, zu denen dieser Modus deutliche Affinitäten aber eben auch Unterschiede zeigt. Diese Differenzierungen sind bereichernd, ändern zwar nichts an der „Grunddifferenzierung“, wie sie oben dargestellt wird, können aber mit Gewinn bei Mentzos (2009) nachgelesen werden. 54 Bei sehr schweren und frühen Störungen gleitet eine solche an Adlers Diktion angelehnte Formulierung leicht ins Zynische. Für eine zutiefst brüchige und nur minimal tragfähige Struktur ist es nicht einfach eine Frage des Mutes, ob sie sich dem bewussten Erleben von essentiellen inneren Konfliktlagen aussetzt. Im Gegenteil ist es eine Frage der Vernunft, ob sie dies nur dann tut, wenn sie sich im Schutz eines entsprechenden tragenden Beziehungssystems befindet, das eine Transformation unter passenden Bedingungen wie jenen der analytischen Situation bzw. der therapeutischen Beziehung überhaupt erst möglich macht.
Intersubjektivität
Hingabe an einen gemeinsam erschaffenen Bedeutungs- und Transformationsraum
I. Rückzug ⇔ Fusion (soz. Gleichwertigkeit) II. Selbstbewert. ⇔ Fremdbewert. (Geltungsstr.) III. Separation/Individuation ⇔ Bindung/Abhängigkeit (Partnerschaftlichkeit) IV. Autarkie ⇔ Unterwerfung/Unselbstständigkeit (Kooperation) V. Identifikation männlich ⇔ weiblich (Rolle) VI. Loyalität A ⇔ Loyalität B (Gem.gefühl) VII. Triadische Konflikte (Tert. Intersubj.)
Art des Konflikts bzw. der Diskrepanzen und des Mangels Diskrepanzthema ⇔ Diskrepanzthema (IP-Thema)
Reifegrad der Struktur „Kosten“ der Abwehr (Realitätsbezug, Freiheitsgrade, Reflexionsressourcen etc.) bewirkt durch „Qualität“ des „SelbstContainments“
Bindung
Erschaffen und Aufrechterhalten der Bezogenheit und gegenseitigen Verwiesenheit
Schuldgefühl
Scham & Zweifel
Urmisstrauen
Lebensekel
Stagnation
Isolierung
Identitätsdiffusion
Minderwert.gefühl
Kooperative Subjekttransformation (Virtuelle Positionen, Intermediärer Transformationsraum)
(Hysterie) • „Inhaftierung“ (Zwang) • „Stellvertretung“ (Phobie) • „Zerstrahlung“ (Angstneurose) • „Zerstückelung“ (Perversion) • „Vorwegnahme“ (Depression) • „Doping“ (Sucht) • „Wechselsprung“ (Borderline) • „Auflösung“ (Psychose) • „Materialisierung“ (Psychosomatik)
• „Maskierung“
Modus von Abwehr und Kompensation „Fiktion & Bewegungsart“ („Diagnose“)
Erfassen u. Verstehen eigener u. fremder Mentalität Mentalisierung
Erkennen und Annehmen eigener u. fremder Mentalität
Abb. 7 Das Dysfunktionalitätsmodell im Spiegel einer individualpsychologisch interpretierten Entwicklungsmatrix
Integrität
Generativität
Intimität
Identität
Werksinn
Initiative
Autonomie
Urvertrauen
Affektregulierung
Zulassen, Gewahrwerden, Identifizierung, Modulierung u. kommunikative Vermittlung von Affekten
Phasenspezifisch geformtes, von innen und außen aktivierbares, durch wechselseitige modulierende Spiegelung und wechselseitige (aus)haltende Mitbewegung im Gemeinschaftsgefühl immer wieder kompensierbares Minderwertigkeitsgefühl und in der Gleichwertigkeit aufgehobenes Geltungsstreben
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nen Entwicklungsdimensionen erweitert und entlang einer „individualpsychologische Linie“ interpretiert werden. Die allen Formen gemeinsame Lebensbewegung kann darin gesehen werden, dass sich die Persönlichkeit die Konfrontation selbst nicht zutraut, es nicht wagt, das spannungsauslösende (bzw. eigentlich die von ihr ausgelöste Spannung) „(aus)zuhalten“. Die dabei eingesetzten Abwehrmechanismen erfüllen tatsächlich – sonst könnten sie sich nicht auf Dauer etablieren – teilweise ihre Funktion. Es kommt immer wieder bei Symptom- und damit Abwehreinsatz zur „Spannungslösung“. Warum die „Symptome“ trotzdem „therapiewürdig“ sind, hat drei Gründe: 1. Die Spannungslösungen sind keine nachhaltigen, tragfähigen, dauerhaften. Die Spannung, deren Quelle ja durch die Verweigerung der Konfrontation auch nicht aufgelöst werden konnten, produziert (unterschiedlich) schnell wieder Spannung, die „Kompromisslösungen“ müssen wieder eingesetzt werden, u. U. mit noch höherem Aufwand (da die innere Gegenbewegung, die zum Bewusstwerden des Abgewehrten drängt, durch den „Nichterfolg“ noch vehementer „anklopfen“ muss). 2. Die „Nebenkosten“ sind zu hoch. Die einzelnen Modi kosten nicht nur Energie (und durch die Wiederholung ständig und immer mehr), sondern es treten auch Kollateralschäden auf, v. a. im psychosozialen Bereich kommt es immer wieder zu sozialen Reaktionen auf Symptomatiken, die geeignet sind Minderwertigkeitsgefühl auszulösen bzw. zu steigern. 3. Die Entwicklungsaufgabe, die aus dem entsprechenden Lebensthema erwächst, wird nicht bewältigt, Wachstum und Weiterentwicklung daher unterbunden – zwei Elemente der conditio humana, deren Ignorierung fatale Folgen hat. Betrachtet man die Abbildung unter diesem Aspekt genauer, so fällt die Parallele zu den referierten individualpsychologischen Entwicklungsthemen auf. Gleichwohl muss individualpsychologisch eine Sichtweise, die nur den Konflikt selbst betrachtet, durch die systematische Berücksichtigung der Verbindung zwischen Diskrepanzen und Konflikten ergänzt werden. Diese kann als Integration des individualpsychologischen Begriffs der „Mangellage“ mit dem psychoanalytischen Begriff des „Konflikts“ entfaltet werden. Ein solcher Zusatz ändert allerdings nichts an der Priorität des Konfliktbegriffes bei der Erkundung von menschlichen Leidenszuständen. „Vielmehr gelangt man dadurch zu einer Betrachtungsweise, die es erlaubt, zwei unterschiedliche Erlebnisweisen von Mangellagen im Sinne unterschiedlich erlebter Diskrepanzen zwischen Ist- und Soll-Zuständen auseinander zu halten: eine, die sich auf den minderbewerteten Ist-Zustand konzentriert und die Dynamik des Handelns hauptsächlich oder ausschließlich aus der Vermeidung und Abwehr dieses zu verhütenden Zustandes bezieht – und eine, die den Soll-Zustand, den gewünschten Handlungserfolg, als Dreh- und Angelpunkt der Erwartungen und Tätigkeiten beinhaltet“ (Antoch 1995, 317).
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Der Grundgedanke eines solchen individualpsychologischen „Diskrepanzen ⇔ Konflikt“-Modells liegt in folgender Überlegung: Jeder Konflikt 55 entsteht allgemein gesagt dadurch, dass zwei Kräfte gegeneinander wirken. In der von uns in diesem Band vielfältig charakterisierten Psychodynamik erscheint der Mensch in individualpsychologischer Sicht aus zwei Gründen prinzipiell als konfliktträchtiges Wesen: Zum einen speist sich sein Seelenleben in seiner Dynamik aus zwei Energiequellen, von denen die eine auf Kontinuität und Erhaltung ausgerichtet ist und die andere auf Wechsel und Auflösung (s. Kap. 2.1.4). Nur bestimmte Verschränkungen der an sich gegenläufigen Impulse im Sinne einer entwicklungsbefördernden Integration ermöglichen hier individuell nachhaltig spannungslösende und gleichzeitig „sozial nützliche“ Konfliktbearbeitungen (die in Abb. 6 genannten „Kompetenzbündel des Gemeinschaftsgefühls“ („Koordination/ Kollaboration/Kooperation/Kokonstruktion“) markieren hier den „Königsweg“). Zum anderen erbringen die vielfältig angelegten und breit facettierten und oft gleichzeitig aktiven Mangel- und Bedürfnislagen des Individuums in ihrer komplexen Struktur andauernd Konflikte bei den jeweiligen Versuchen die verschiedenen Mangellagen zu beheben und die vielfältigen Bedürfnisse zu befriedigen. In jedem Bereich des Lebens stellt sich die Frage, ob ich mit der Befriedigung des einen Bedürfnisses nicht gerade ein anderes verstärke. Mein Entschluss um drei Uhr in der Früh aufzustehen, um mein Schreibbedürfnis zu befriedigen gerät in Konflikt mit meinem Schlafbedürfnis. Die Ausführung des Entschlusses befriedigt zwar das eine Bedürfnis, verstärkt aber das andere anstatt es zu befriedigen, erzeugt bzw. verstärkt also den Konflikt. Ich kann also in diesem Fall nicht beide Ziele (der Befriedigung von Bedürfnissen oder des Behebens von Mangellagen) gleichzeitig erreichen. In allen Fällen jedoch, in denen Impulse gegenläufiger Natur zu einem Konflikt führen, ist noch ein Geschehen maßgeblich beteiligt: Kein Impuls entsteht, wenn nicht davor eine Diskrepanz entstanden ist. Und zwar eine, die man als Diskrepanz zwischen Ist- und Sollwert beschreiben kann . Ist- und Sollwert, egal auf welche Dimension unseres Seins und damit auch unseres Innenlebens bezogen, sind selten, und wenn, dann meist nur über eine endliche Zeitspanne ident. Bezeichnenderweise kann die Abweichung in beide Richtungen gehen, denn ich kann z. B. zu wenig oder zu viel gegessen haben, zu wenig Sicherheit oder zu viel Sicherheit geschaffen haben (die dann Stagnation bedeuten kann) usw. Ein Impuls, der auf die Behebung der Ist-Soll-Diskrepanz gerichtet ist, wird allerdings nur dann ausgelöst, wenn die Diskrepanz eine Toleranzschwelle überschreitet (Affektkontrolle zu erreichen, bedeutet u. a. auch, genau diese Toleranzschwelle zu verändern, somit aufkommende Affekte nicht sofort mit Handlungen zu beantworten, sondern sie zunächst in ihrer Spannung zwischen Ist- und Sollwert zu „halten“.) 55 Psychoanalytisch gesehen sind hier prinzipiell die inneren Konflikte gemeint, denn sie sind jene, die „im eigenen Haus“ unter Einsatz unbewusster Abwehrbewegungen „geregelt“ werden und damit die individuelle Psychodynamik ausmachen. Die folgenden Überlegungen können aber auch bis zu einem hohen Grad auf „äußere“ Konflikte angewendet werden.
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Je nachdem, wie reif die Struktur ist, innerhalb derer sich die Diskrepanz ergibt, wie brisant gerade das Thema (⇒ Lebensthemen/Lebensaufgaben/Lebensgefühle) ist, das sie betrifft und wie sehr sie ins Zentrum des Lebensplanes zielt, ist die Größe der Diskrepanz mehr oder weniger „bedeutsam“ 56 . An einem Konflikt sind also (im einfachsten Fall und zumindest) zwei Diskrepanzen beteiligt, die so bedeutsam waren, dass sie imstande waren Handlungsimpulse auszulösen, die aber nicht gleichzeitig als Handlung erfolgreich sein können. Das Individuum muss also so reagieren, dass eine nachhaltige Lösung für diesen bedeutsamen Konflikt erreicht wird, indem Handlungen gefunden werden, die allen Impulsen, die am Konfliktgeschehen beteiligt sind, so weit nachkommen, dass die dadurch erreichte Bedürfnisbefriedigung bzw. Mangelbehebung nicht (oder zumindest nicht zu lang) ein kritisches Niveau unterschreitet. Die dabei notwendigen Integrationsleistungen können die psychische Leistungsfähigkeit (emotional wie kognitiv) fordern oder überfordern. Bei Überforderung besteht eine klassisch „neurotische“ Konfliktlösung darin, dass (zumindest) einer der beiden Impulse (inklusive der Wahrnehmung der zugehörigen Diskrepanz) ins Unbewusste verlegt wird. Dieser „Kunstgriff “ (ein Ausdruck, den Adler oft verwendet, wenn er eigentlich von neurotischer Symptombildung spricht) führt dazu, dass zwar (vordergründig und für den Moment) eine Spannungsreduktion in dieser neurotischen Konfliktlösung stattfindet, der verdrängte Anteil des scheinbar gelösten (weil an der Oberfläche „aufgelösten“) Konfliktes aber im Wiederholungszwang immer wieder zu seinem Recht kommen möchte. Ein „Diskrepanzen-Konflikte-Modell“, wie es soeben in seinem Grundgedanken skizziert wurde, kann nicht nur eine individualpsychologische Krankheitslehre/Psychopathologie, sondern auch behandlungstechnische Überlegungen systematisch bereichern. Denn bei der Erforschung und bei der Veränderung von Konfliktlagen kann in der Praxis immer wieder beobachtet werden, dass jene ungelösten (oder „neurotisch“ gelösten) Konflikte, die als die Basis für den jeweiligen Leidenszustand in der Analyse herausgearbeitet wurden, nicht immer durch eine „Lösung“ beantwortet werden müssen (und können), sondern eine Leidensminderung dadurch erreicht wird, dass die Diskrepanzen, die die Grundlage des Konfliktes waren, an „Brisanz“ verlieren 57 . Und zwar entweder, weil die Struktur, die diese Diskrepanz „con-
56 Dass bedeutet, dass u. U. auch sehr große Diskrepanzen zwischen bestimmten Ist- und Sollwerten deswegen zu keinem Handlungsimpuls führen (und daher auch nicht an einem Konflikt beteiligt sind), weil sie zum Zeitpunkt ihres Auftretens nicht nur auf eine reife Struktur treffen, sondern auch vom Individuum (bewusst oder unbewusst) als irrelevant für den im Moment aktivierten Bereich des Lebensplanes eingeschätzt werden, während im anderen Fall schon eine kleine Diskrepanz, wenn sie existentielles betrifft (z. B. Atemnot) und/oder auf eine unreife Struktur trifft, zu heftigen Impulsen führen kann. 57 Eine zynische Version dieser Behandlungseffekte zeigt sich in dem bekannten Analytikerwitz: Treffen sich zwei Freunde. Fragt der eine den anderen: „Du warst doch wegen Deinem nächtlichen Einnässen in Psychoanalyse? Hat das schon aufgehört?“ Worauf der andere antwortet: „Nein, aber es macht mir nichts mehr aus!“
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tainen“ (also in einer (aus)haltenden Mitbewegung auffangen und ihr die destruktive und destabilisierende Brisanz nehmen) soll, im Zuge der Analyse nachreifen konnte, oder weil bestimmte Bedürfnisse in paradigmatischer Weise nachhaltig gestillt werden konnten, und dieser Prozess zu einer Transformation des „Konfliktmanagement“ des Klienten bzw. der Klientin geführt hat. Die Entwicklung von innerpsychischen und Persönlichkeits-Strukturen, intersubjektiven Beziehungsgestaltungen und der Bewältigungsformen von Herausforderungen und Aufgaben kann damit als Grundlage für Überlegungen zu „Pathologien“ bzw. einer individualpsychologischen Krankheitslehre eingeführt werden. Das ermöglicht es, die Grundstruktur einer individualpsychologischen Krankheitslehre/Psychopathologie so anzulegen, dass die entscheidende Frage nach den aufgrund von „Fehlentwicklungen“ in den „Big Four“ „nicht geglückten“ Lösungen der Lebensaufgaben mit der Frage nach den Konstellationen von Modus, Konfliktart und Strukturreife verbunden wird. Damit werden wir sowohl der Systematik als auch der Pragmatik psychoanalytisch-individualpsychologischen Arbeitens in Theorie und Praxis gerecht: wenn wir vor der Aufgabe stehen, einem bestimmten Verhalten unserer KlientInnen „auf den Grund zu gehen“, das wir als „symptomatisch“ ansehen (also als eines, das auf etwas hinweist, was nach unserer Meinung nach „therapiewürdig“ ist), so haben wir im Gegensatz zu der noch undifferenzierten Idee, es handle sich um eine „Überkompensation von Minderwertigkeitsgefühlen auf Kosten des Gemeinschaftsgefühls“ eine wesentlich näher an analytischen und interventionsorientierten Handlungsentscheidungen liegende differenziertere Möglichkeit der Hypothesenformulierung: So können wir dann beispielsweise bei der in Kap. 2.1.4 dargestellten Klientin M. B. das wütende Agieren einerseits als hysterischen Modus der Abwehr des Grundkonfliktes IV (Autarkie ⇔ Unterwerfung) und einer entsprechend tief (aber teilweise unbewusst) empfundenen Mangellage auf einem mittleren Strukturreifeniveau 58 beschreiben, das durch „Fehlentwicklungen“ in der Affektregulierung, verbunden mit Defiziten in der Mentalisierung des Selbst bei unsicher-ambivalenter Bindung und resultierenden Mängeln in der Gestaltung von Intersubjektivität geformt wurde, wobei speziell die Lebensaufgabe der (bzw. ein entsprechendes tragfähiges Lebensgefühl zwischen) Identität und Identitätsdiffusion (und in Folge dann der Intimität ⇔ Isolierung) zu bearbeiten sind.
58 Diese grobe „graduelle“ Unterscheidung des Reifegrades im Strukturniveau zeigte sich auch in der Art der Übertragungsangebote. „Während sich Patienten mit neurotischen Störungen [also mit „hohem Strukturreifeniveau“, Anm. T. S.] gleichsam damit begnügen, den Psychotherapeuten in ihrer Fantasie in einer der jeweiligen Übertragung gemäßen Weise auszustatten, versuchen Patienten mit strukturellen Störungen, den Therapeuten dazu zu bringen, sich tatsächlich so zu verhalten, dass sein Verhalten vergangene Erfahrungen bestätigen“ (Streeck 2007, 36). M. B. wechselte zwischen der einen und der anderen Übertragungsart, wobei sich im Laufe der Analyse das Verhältnis zugunsten der in der Fantasie erscheinenden Übertragung verschob, worin sich auch das „Nachreifen des Strukturniveaus“ zeigte.
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Vor dem Hintergrund einer solchen (hier nur angedeuteten) differenzierten mehrdimensionalen individualpsychologischen Hypothese, die die Grundzüge einer Krankheitslehre/Psychopathologie als Ableitung aus einer individualpsychologischen Entwicklungstheorie ermöglicht, wird dann die „abstrakte Formel“ der Abb. 7 („Phasenspezifisch geformtes, von innen und von außen aktivierbares, durch wechselseitige modulierende Spiegelung und wechselseitige (aus)haltende Mitbewegung im Gemeinschaftsgefühl immer wieder kompensierbares Minderwertigkeitsgefühl und in der Gleichwertigkeit aufgehobenes Geltungsstreben“) auch konkret inhaltlich erfüllbar: Die Symptomatik der Klientin ist dann in dem oben genannten konkreten Sinn • „phasenspezifisch“ (also in ihrer konkreten Erscheinungsformen im psychosozialen Kontext des frühen Erwachsenenalters) geformt, • von innen durch die auf mittlerem Niveau („Mittlere Kosten“ bei „mittlerer Qualität des self-containments“) abgewehrten konkreten Grundkonflikte und von außen durch die in der Gegenübertragung „gelieferten“ Anlässe unbewusster Inszenierungen aktivierbar. • zu klären (und umzusetzen) wäre in Folge, was dann „modulierend gespiegelt“ und in einer „(aus)haltenden Mitbewegung“ aufgefangen werden muss, um das grundlegende Minderwertigkeitsgefühl der Klientin in einem in der Gleichwertigkeit aufgehobenen Geltungsstreben zu kompensieren. Durch an die Abb. 6 angelehnte Überlegungen werden daher dann auch konkrete Interventionen in der jeweiligen Situation zielgenauer und effizienter einsetzbar (und nachfolgend differenzierter reflektierbar).
2.3 Triebtheorie: Sexualität und Aggression Bernd Rieken Wenn man die herkömmliche Einteilung des Menschen in Körper, Psyche und Geist ernstnimmt, wird man nicht ohne weiteres von der Behauptung Abstand nehmen können, dass der Mensch – neben vielem anderen – auch ein Produkt der biologischen Evolution ist. Akzeptiert man das, so kann man der Behauptung des Ethologen Eibl-Eibesfeldts zustimmen, dass der Mensch „wie jedes andere Wirbeltier wechselnden Stimmungen unterworfen [ist], die nicht allein auf entsprechende Schwankungen in den äußeren Umweltbedingungen zurückzuführen sind“, sondern auch auf „motivierende Mechanismen“, welche „spezifische Handlungsbereitschaften [bewirken], die wir als ‚Stimmungen‘ erleben und in denen wir, quasi getrieben, aktiv nach Reizsituationen suchen, die es erlauben, bestimmte Verhaltensweisen auszuführen“ (Eibl-Eibesfeldt 1995, 105). Dazu zählten primär Hunger und Durst, während beim Sexualtrieb hormonale Einflüsse langanhaltende Bereitschaften aufbauten, die von Außenreizen, inneren Sinnesreizen und zentralnervösen Instanzen bedingt würden (ebd., 105 f.). Für die Annahme eines Aggressionstriebs spreche vor allem, dass Individuen in der Bereitschaft, aggressiv zu handeln, deutliche Schwankungen zeigten, die nicht allein auf parallel laufende Änderungen in der Umwelt zurückgeführt werden könnten, da nachgewiesenermaßen auch hormonale Vorgänge eine Rolle spielten, etwa Androgen-Ausschüttung und Änderungen im Serotonin-Stoffwechsel des Hirns (ebd., 105; 535–543). Schließlich erwähnt Eibl-Eibesfeldt noch Neugier und lokomotorische Betätigung. Während diese unter anderem auf der spontanen Aktivität motorischer Neuronen-Gruppen basiere (ebd., 107), stelle jene einen Sonderfall dar, weil es nicht um die Herstellung eines physiologischen Gleichgewichts gehe, sondern Erregung gesucht werde (ebd., 106). Der Brisanz des soeben Referierten hinsichtlich der Frage nach der Übertragbarkeit auf den Menschen bin ich mir bewusst, daher sei zunächst auf vorhandene Kompatibilitäten mit der psychologischen Sicht auf den Trieb hingewiesen. Die neueste Ausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie, der man Seriosität und das Bemühen um Objektivität kaum absprechen kann, bezeichnet ihn als „Antrieb, der gefühlsmäßig als dranghaft erlebt wird und ohne Vermittlung des Bewusstseins entstehen kann“. Er löse gerichtete Handlungsweisen aus, „die eine Aufhebung des psychophysischen Spannungszustandes [. . . ] zum Ziel haben“. Erwähnt werden unter anderem Nahrungs-, Sexual- und Selbsterhaltungstrieb, bei denen „gewisse Parallelen zu Instinkt und Appetenzverhalten beim Tier“ bestünden. Indes sei das menschliche Triebleben „sehr variabel“, da die Gegenstände „gewechselt, Triebbefriedigung aufgeschoben, Triebimpulse in gewissen Grenzen vergeistigt oder sekundär verfestigte Gewohnheiten triebhaft besetzt werden (z. B. in der Sucht)“ (Brockhaus, Bd. 27, 2006, 732). Zu Zeiten Freuds hat vor allem die Frage nach der Bedeutung des Sexualtriebs heftige Diskussionen ausgelöst. Die Libido-Theorie ist ja, wie es Kutter und Mül-
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ler formulieren, „das bekannte Markenzeichen der Psychoanalyse“ (Kutter u. Müller 2008, 105), zumindest in ihrer traditionellen Variante, und sie hat in den autoritär regierten und konservativ-religiös eingestellten Gesellschaften des beginnenden 20. Jahrhunderts wütende Proteste hervorgerufen. Unter den veränderten Bedingungen der Postmoderne wird sie zwar im wissenschaftlichen und populären Diskurs als weniger anstößig wahrgenommen, doch geht ein liberaleres gesellschaftliches Klima nicht zwangsläufig mit einer weitgehenden Entschärfung von sexuellen Problemen im zwischenmenschlichen Geschehen einher. Viele Psychoanalytiker sehen daher heute genauso wie damals das Konfliktpotential, das die Sexualität in sich birgt; indes wird die Triebtheorie mehrheitlich von der Biologie abgekoppelt und rein psychologisch betrachtet. So wird vor allem der „ökonomische“ Aspekt in der Freud’schen Libidotheorie, also die homöostatisch inspirierte Auffassung von Spannungsaufbau und -abfuhr, nämlich „dass die Unlustempfindung mit Steigerung, die Lustempfindung mit Herabsetzung des Reizes zu tun hat“ (Freud 1915c, 214; vgl. Freud 1905d), als mechanistisch-reduktionistisch kritisiert. Das laufe auf einen „materialistischen Monismus“ hinaus, klagen Thomä und Kächele (Thomä u. Kächele 2006a, 27), die „Begriffe der psychoanalytischen Theorie sind keine physikalischen, biologischen oder neurophysiologischen“, lehrt uns Müller-Pozzi (Müller-Pozzi 2008, 14 f.), weswegen die genannten Autoren dafür plädieren, eine klare Grenzlinie zwischen Biologie und Psychologie zu ziehen und die Psychoanalyse primär (tiefen-)psychologisch zu verankern (ebd.; Thomä u. Kächele, ebd.). Darüber hinaus sei menschliche Sexualität mehr als ein Instinkt und habe noch andere Aufgaben, als nur im Dienste der Fortpflanzung zu stehen, ergänzt MüllerPozzi (Müller-Pozzi 2008, 22). Dass sie weitere Dimensionen mit umfasst, braucht nicht eigens betont zu werden, und wer beispielsweise einmal die „Die Fragmente einer Sprache der Liebe“ von Roland Barthes gelesen hat (Barthes 1988), weiß um die das Alltagsleben transzendierende und jegliche gesellschaftliche Konventionen sprengende Kraft derselben. Freuds Auffassung, dass Spannung mit Unlust und Spannungsabfuhr mit Lust einhergeht, ist sicher zu einfach, denn es kann zum Beispiel auch Reizsteigerung mit Lust zu tun haben, etwa beim Flirten, während die beim Geschlechtsverkehr eintretende Reizreduktion zuweilen mit Unlustgefühlen einhergeht, wenn die Beziehung zwischen den Partnern bereits brüchig oder marode geworden ist. Doch ist Freuds Ansicht keineswegs unberechtigt, sofern man etwa an ein frisch verliebtes Paar denkt, dessen Lust sich ins Grenzenlose steigert und danach fiebert, endlich ins Bett zu steigen. Vor allem aber argumentieren Freuds Kritiker ebenfalls monistisch, indem sie die Libidotheorie zur Gänze dem psychologischen Bereich einverleiben wollen. Das mag mit dem aus der Ethologie bekannten Phänomen der Territorialität zu tun haben – dem Drang, Reviere zu verteidigen (Eibl-Eibesfeldt 1995, 455–475; Ardrey 1972) –, vielleicht liegt aber auch eine narzisstische Kränkung im Freud’schen Sinn vor, aufgrund deren es als unerträglich empfunden wird, den Menschen vermeintlich oder tatsächlich auf biologische Verhaltensmechanismen zu re-
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duzieren. Aus meiner Sicht ist das Phänomen weniger brisant, wenn man akzeptiert, dass man der Vielgestaltigkeit des Menschen am ehesten dann gerecht wird, wenn man ihn aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Das mag selbstverständlich klingen, nur ist es das keineswegs, weil in der Regel jede wissenschaftliche Disziplin das Eigene zum „Eigentlichen“ erklärt. Für Kulturwissenschaftler ist der Mensch zumeist „nichts anderes als“ ein Produkt der Kultur, und Entsprechendes gilt für Psychologen oder Biologen. Aber es existieren auch Ausnahmen. So schreibt der heute fast vergessene Psychiater und Psychotherapeut Rudolf Bilz in seiner „Paläoanthropologie“, es sei allgemein bekannt, dass das Tier „von Trieben beherrscht und bewegt“ werde, „aber auch der Mensch ist der Macht seiner Triebhaftigkeit ausgesetzt, nur ist ihm als Geistwesen dabei zugleich aufgegeben, mit diesen treibenden Mächten sich menschlich auseinanderzusetzen“ (Bilz 1973, 191). Das ist eine abgewogene Position, weil ganz unterschiedlichen Perspektiven auf den Menschen ein Erkenntnispotential zugebilligt wird, und insofern ist es gerechtfertigt, ihn auch als Produkt der Evolution zu betrachten und eine biologische Seite seines Verhaltens und Erlebens anzuerkennen. Das sah bereits Goethe, als er, wie es Freud formuliert, „eine Idee aus dem Vorstellungskreis der Chemie auf das Liebesleben anwendete“ (Freud 1930e, 549), womit die „attractio electiva“ gemeint ist, auch als „Wahlverwandtschaften“ bekannt, die der Weimarer Dichter gleichnishaft als Titel für einen seiner bekanntesten Romane gewählt hat (vgl. Goethe 1993b, 700). Darunter wurde in der Chemie des 18. Jahrhunderts die Eigenschaft zweier Körper verstanden, sich zu vereinigen, obwohl der eine oder beide anderweitig verbunden ist. 1 Ähnliches ist auch dem Volksmund bekannt, wenn es heißt, man könne jemanden gut oder gar nicht „riechen“ (vgl. Röhrich 1994, Bd. 4, 1244), oder es müsse „die Chemie stimmen“, wenn man mit irgendwem zusammen sein wolle. Für die Tierwelt ist das längst erwiesen, man weiß um die Bedeutung der Pheromone, das heißt jener Botenstoffe, die unter anderem dem Auffinden von Geschlechtspartnern oder der Markierung von Revieren dienlich sind (Wyatt 2008). Entsprechendes gilt aber auch für den Menschen, beginnend bereits nach der Geburt, indem der Säugling Emotionen zur Mutter durch Wahrnehmung ihres Körpergeruchs entwickelt. Das hängt zusammen mit dem Haupthistokompatibilitätskomplex (MHC = Major Histocompatibility Complex), einer Gruppe von Genen, welche Proteine codieren, die für die Immunerkennung entscheidend sind. Sie werden durch den Stoffwechsel in ihre Bestandteile aufgelöst und über die Schweißdrüsen abgesondert. Untersuchungen an Mäusen haben nun gezeigt, dass Brutpflege bevorzugt mit MHC-ähnlichen Artgenossen vorgenommen wird – wegen der bei Verwandten erwarteten größeren Hil-
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Bei Goethe liest sich das so: „Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe“ (Goethe 1993b, 276).
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2.3 Triebtheorie: Sexualität und Aggression
feleistung –, während bei der Partnerwahl abweichende Muster bevorzugt werden, was mit Blick auf genetische Vielfalt sinnvoll ist. Ähnliches gilt auch für den Menschen, wie der Schweizer Biologe Claus Wedekind nachweisen konnte. Er bestimmte den MHC-Typ von 49 Frauen, die dann die Duftnoten von jeweils sechs Männern bewerten sollten, davon drei mit einem ähnlichen und drei mit einem abweichenden MHC. Positiv beurteilten die meisten Frauen die Körperausdünstungen der Männer mit den unähnlichsten MHC’s, negativ mit den ähnlichsten (Wedekind et al. 1995; Wedekind u. Füri 1997). 2 Damit ist die Frage nach der Wahl des (Trieb-)Objekts zwar nicht umfassend erklärt, weil es selbstverständlich auch psychologische und kulturelle Einflüsse zu berücksichtigen gilt, doch zeigt Wedekinds Untersuchung, dass ferner biologische Einflüsse möglich sind und es zu einseitig wäre, die Libidotheorie auf Psychologie zu reduzieren. Entsprechendes gilt für den Aggressionstrieb, und damit begeben wir uns auf ein noch umstritteneres Gebiet. Auch die Psychoanalyse hat damit ihre Schwierigkeiten, beginnend mit Freud, der zunächst zwischen Sexual- und (der Selbsterhaltung dienenden) Ich-Trieben unterschied (1894–1912), dann zwischen narzisstischer und Objektlibido trennte (1914), später zwischen Sexual- und Aggressionstrieben differenzierte (1915–1921) und ab 1920, in „Jenseits des Lustprinzips“ (Freud 1920g), Eros von Thanatos sonderte (vgl. Kutter u. Müller 2008, 106.). Letzteres, der so genannte Todestrieb, ist in der Psychoanalyse bis heute umstritten, denn man weiß nicht recht, ob so etwas wie primäre Destruktivität existiert und inwieweit sie in der klinischen Praxis nachweisbar ist (vgl. Müller, Kutter 2008, 107). Freud selber konzediert in „Jenseits des Lustprinzips“, dass „der dritte Schritt in der Trieblehre, den ich hier unternehme, nicht dieselbe Sicherheit beanspruchen kann wie die beiden früheren“ (Freud 1920g, 64). Zwar begründet er den Todestrieb dualistisch als Gegenspieler zum Lebenstrieb und erklärt ihn mit „dem Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes“ (ebd., 62) bzw. „dem allgemeinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren“ (ebd., 68). Doch argumentiert er andererseits biologisch und beruft sich auf Grundsätze „Darwin’scher Denkungsart“ (ebd., 61), die nun wiederum durch und durch geprägt sind vom Gedanken der Lebensbewahrung: Die Triebe stehen im Dienste der Selbst- und Arterhaltung. Etwas Weiteres kommt hinzu, nämlich dass ausgerechnet ein so zentrales Element wie die Aggression, das überdies eng mit Sexualität verknüpft ist, keinen stringenten Widerhall im Werk des Begründers der Psychoanalyse gefunden hat. Das dürfte Alfred Adler bewusst gewesen sein, als er 1908 der Mittwochsgesellschaft seinen Aufsatz „Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose“ präsentiert und mit der erstmaligen Einführung dieses Begriffs eine heftige Diskussion auslöst (Handlbauer 2002, 62–71; Nunberg u. Federn, Bd. 1, 2008, 382–385; Prand2
Bei Einnahme der Antibabypille war es indes umgekehrt, was dadurch erklärt wird, dass Ovulationshemmer eine Schwangerschaft vortäuschen und die dazugehörige Verhaltensstrategie darin besteht, Schutz in der Familie, also bei MHC-ähnlichen Personen zu suchen.
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stetter 2011). 3 Er entwickelt nämlich, bevor Freud das getan hat, eine dualistische Triebtheorie, indem er ausführt, dass „die treibende Kraft“ bei „Gesunden [. . . ], Perversen und Neurotikern [. . . ] offenbar aus zwei ursprünglich gesonderten Trieben [stammt], die späterhin eine Verschränkung erfahren haben, der zufolge das sadistisch-masochistische Ergebnis zwei Trieben zugleich entspricht, dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb“ (Adler 1908b, 66). Indem Adler beiden Trieben eine gleiche Berechtigung zuspricht, leugnet er den Vorrang der Libido und spricht dem Aggressionstrieb eine gleichberechtigte Bedeutung bei der Entstehung seelischer Krankheiten zu. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes geht er allerdings noch einen Schritt weiter und rückt ihn in ein noch prominenteres Licht, ähnlich wie es Freud mit der Libido getan hat. Denn er schreibt, dass der Aggressionstrieb zwar im Dienst der „Lustgewinnung“ stehe, aber darüber hinaus „dem Gesamtüberbau angehöre und ein übergeordnetes, die Triebe verbindendes psychisches Feld darstellt“ (ebd., 72). Das steht bereits in Zusammenhang mit seiner etwas später entwickelten Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie, deren Zentrum die Selbstwertproblematik bildet und in der das Minderwertigkeitsgefühl eng mit dem Aggressionstrieb verzahnt ist: „Das Gefühl der Minderwertigkeit peitscht [. . . ] das Triebleben, steigert die Wünsche ins Ungemessene, ruft die Überempfindlichkeit hervor und erzeugt eine Gier der Befriedigung, die keine Anpassung verträgt und in ein dauerndes überhitztes Gefühl der Erwartung und Erwartungsangst ausmündet“ (Adler 1910c, 109). Auch wenn für den späten Adler der Aggressionstrieb an Bedeutung verliert und er ihn durch „Machtstreben“ oder „männlichen Protest“ ersetzt, bleibt er Teil seiner Theorie, wobei der Aufsatz auch noch in der letzten Auflage von „Heilen und Bilden“ aus dem Jahre 1928 enthalten ist (Adler 1908b, in: Adler u. Furtmüller 1928, 33–42). Aus meiner Sicht ist er unerlässlich für eine Individualpsychologie, welche in ähnlicher Weise psychodynamisch orientiert sein möchte wie die Psychoanalyse mit der Libidotheorie. Allerdings wollen wir offenlassen, ob der Sexualität oder der Aggression das Primat zukommt, denn wir halten beide für wichtige Quellen menschlichen Verhaltens. Daher lehnen wir die Ansicht ab, dass ausschließlich Objektbeziehungstheorien und Selbstpsychologie für die Individualpsychologie von Bedeutung wären, wie Matschiner-Zollner behauptet (2005; vgl. dazu Stephenson 2011a, 19 f.; Stephenson 2011b, 81 f.). Wäre das der Fall, dann wäre es indes auch konsequent, den
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Vgl. auch die Diskussion in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung vom 2. Juni 1909 zu Adlers Vortrag „Über die Einheit der Neurosen“, in der es heftige Auseinandersetzungen über den Aggressionstrieb gab und Freud unter anderem den Vorwurf erhob, Adlers Theorie wäre „Bewusstseinspsychologie“ (Nunberg u. Federn, Bd. 2, 2008, 234–247).
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2.3 Triebtheorie: Sexualität und Aggression
Begriff „Minderwertigkeitsgefühl“ durch „Mangel“ zu ersetzen, was dieselbe Autorin gemeinsam mit Wilfried Datler in der Tat fordert (Datler u. Matschiner-Zollner 1992, 135–138). Dem ist Folgendes entgegenzuhalten: Zunächst einmal differieren die beiden Termini hinsichtlich ihrer Tiefenschärfe, denn „Mangel“ impliziert ein objektives Fehlen von etwas, das man braucht, während „Minderwertigkeitsgefühl“ weiter ins Subjekt eindringt, weil es um ein Gefühl geht, das „objektiv“ berechtigt sein kann oder auch nicht – und somit aus analytischer Sicht weitaus relevanter ist. Außerdem nimmt „Mangel“ dem Phänomen, das er beschreibt, gleichsam den giftigen Stachel, vor allem das (gesellschafts-)kritische Potential, welches in „Minderwertigkeitsgefühl“ enthalten ist. Wenn es um narzisstisches Streben geht, um handfeste oder subtile Herabsetzung, um Eitelkeit, Machtgehabe oder die Inszenierung der „feinen Unterschiede“, dann ist es nämlich nicht gleichgültig, welchen Terminus man verwendet. Wer oft auf andere herabschaut, glaubt in der überlegenen Position zu sein, und umso prekärer ist es, wenn man sich dann vor Augen halten muss, dass diese Einstellung von einem tief sitzenden, unbewussten Gefühl der Minderwertigkeit herrührt. Das ist vor allem in Gesellschaften mit schichtenspezifischem Dünkel ähnlich brisant, um nicht zu sagen skandalös, wie die Freud’sche Triebtheorie im Wien der Jahrhundertwende und darüber hinaus. Beide Male wird hinter die Fassade geschaut und entweder die herabsetzende Attitüde oder das moralische Gebaren als Abwehrmechanismus gegen Triebimpulse enttarnt. Insofern ist die Individualpsychologie alles andere als eine „konformistische Ich-Psychologie“ (Jacoby 1978, 47). Ähnlich wie die Freud’sche Libidotheorie hat das Postulat des Aggressionstriebs daher etwas Unerhörtes, weil Bedrohliches an sich, und es braucht nicht zu überraschen, dass er im wissenschaftlichen Diskurs mehrheitlich abgelehnt wird, selbst vonseiten der heutigen Biologie, und zwar mit der Begründung, „dass Aggression Ausdruck sehr unterschiedlicher biologischer Motivationen sein kann und in anderen (biologischen) Zusammenhängen auftritt, beispielsweise im Dienste der Fortpflanzung, der Revierverteidigung, der Feststellung von Rangordnungen in einer Gruppe usw.“ (Wuketits 1999, 74). Das ist schon deswegen kein überzeugendes Gegenargument, weil Triebbetätigung nicht als mechanisch determiniertes Räderwerk verstanden wird, sondern als formund veränderbar: Die Gegenstände können gewechselt, Triebbefriedigung aufgeschoben und Triebimpulse in gewissen Grenzen sublimiert werden (Brockhaus, Bd. 27, 2006, 732). Doch dürften bei der Kritik am Aggressionstrieb auch unbewusste Ängste eine Rolle spielen, zum Beispiel die Auffassung, damit würde man postulieren, der Mensch wäre von Natur aus eine Bestie und in keiner Weise veränderbar (vgl. Rieken 2011c). Dabei deutet zunächst schon die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Verbs „aggredi“ auf Wertneutralität hin, denn übersetzt wird es mit „(an jemanden oder etwas) herangehen“, „sich (an jemanden) wenden“, „unternehmen“, „beginnen“, „ver-
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suchen“ – und eben längst nicht nur als „angreifen“. Insofern ist es als Schwungkraft für eine aktive Lebensgestaltung zu verstehen. Ähnlich sieht das auch Konrad Lorenz, der Begründer der vergleichenden Verhaltensforschung. Für ihn stehen die Triebe, allem voran Sexualität und Aggression, im Dienst der Selbst- und Arterhaltung, weswegen er vom „so genannten Bösen“ spricht, wenn er den Aggressionstrieb meint (Lorenz 1975, 30–54; vgl. Rieken 2011c). Erst durch spezifische negative Einflüsse könne er destruktive Folgen zeitigen, und das ist eine Sicht, die mit Adlers Konzept durchaus kompatibel ist. Bei beiden existiert auch ein enger Zusammenhang zwischen Angst und Aggression, nämlich als Verteidigungs- oder Fluchtbereitschaft bei Bedrohung bzw. wenn das Minderwertigkeitsgefühl belastend oder unerträglich wird. Berührungspunkte ergeben sich, ohne das jetzt weiter ausführen zu können, ferner mit Dollards Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard 1970), obwohl diese einen gänzlich anderen, weil behavioristischen Hintergrund aufweist, sowie mit dem motivationspsychologischen Ansatz des Pädagogen Kornadt, der wie Adler mit Anlage- und Umwelteinflüssen rechnet, indem er von Dispositionen ausgeht, die im Individuum angelegt sind, das Aggressionsmotiv selber aber nicht als festgelegtes Verhaltensprogramm versteht (Kornadt 1982a; ders. 1982b; ders. 2011). 4 Es sprechen also gute Gründe dafür, das Konzept des Aggressionstriebs bestehen zu lassen, wenngleich das manche Vertreter der zeitgenössischen Psychoanalyse anders sehen (z. B. Mentzos 2010, 42). Doch bereits Winnicott hat darauf hingewiesen, dass Aggression für den Aufbau der Objektbeziehungen wichtig sei (Winnicott 2008, 92), und Müller-Pozzi, der dem Thema jüngst eine Monografie gewidmet hat, sieht in ihr ein zentrales Element der modernen psychoanalytischen Triebtheorie (Müller-Pozzi 2008, 157–184), auch wenn er diese von „biologistischem Ballast“ befreien will (Klappentext, ebd.), indem er sie ausschließlich psychologisch begründet. Letzteres wollen wir, wie bereits ausgeführt, nicht, möchten aber doch darauf hinweisen, dass die von uns postulierte Berechtigung einer biologisch-psychologischen Perspektive nicht bedeutet, ergänzenden Sichtweisen Erkenntniswert abzusprechen, etwa Lichtenbergs Theorie der Motivationssysteme, Dornes Selbstkonzept des Kindes oder Fonagys Arbeiten zur Mentalisierung und Affektregulierung (vgl. m. w. N. Kutter u. Müller 2008, 84–95; Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2008a; dgl. die Diskussion in der Zeitschrift für Individualpsychologie: Lang 2010a; 2010b; White 2010). Denn sie können Einseitigkeiten in der Triebtheorie korrigieren, vor allem dann, wenn diese mit dem Anspruch auftritt, das Phänomen Mensch hinreichend zu erklären. Eine Erweiterung und klarere Präzisierung mithilfe von Bedürfnissen, Affekten, Motiven, etwa Sicherheit, Schutz oder Geborgenheit, ist sinnvoll, sollte aber nicht dazu führen, seinerseits mit Alleinerklärungsanspruch aufzutreten, denn dann würde man ignorieren, dass der Mensch auch ein Produkt der biologischen Evolution ist.
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Allerdings definiert Kornadt Aggression weniger umfassend, als es hier der Fall ist, nämlich nicht als aktives Prinzip mit positiven oder negativen Folgen, sondern als „spezifischen Typ einer Handlung, die auf eine Verletzung, Beeinträchtigung, Schädigung o. Ä. zielt“ (Kornadt 2011, 31).
2.4 Gender und Sexualität Brigitte Sindelar
Seit dem Beginn der Individualpsychologie sind wohl wenige Themen des menschlichen Daseins im Kontext der historischen Entwicklung so sehr einem Wandel unterzogen wie die Erziehung – und die Sexualität. Thesen zur Sexualität erfahren in kürzester Zeit Veränderungen in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und sind daher immer nur im Kontext der Zeit zu verstehen, so auch die Schriften zu Geschlechtsrollen, Sexualität und sexuellen Perversionen der frühen Individualpsychologie (vgl. Bruder-Bezzel 1999). Adler verweist die Sexualität von dem prioren Platz, den sie in der Psychoanalyse bekommen hat, und stellt sie in den Zusammenhang der sozialen Bezogenheit. Dies impliziert, Geschlechterrollen und -identitäten zu thematisieren, was dem Szenario des gesellschaftlichen Umbruchs der Zeit entspricht: Um 1900 wird die symbolische Ordnung der Männlichkeit und Weiblichkeit und die ihnen zugeordneten Wertvorstellungen, die seit der Antike quasi als Naturgesetz bestanden hatten und in der westlichen Welt festgeschrieben waren, hinterfragt: „Im Zuge dieser Entwicklung wurde aber nicht nur die Sexualität, sondern auch das Geschlecht selbst zunehmend als Produkt kultureller Zuschreibung verstanden, etwa in den Schriften des Juristen Karl Heinrich Ulrichs, der schon ab Mitte der 1860er Jahre die These vom ‚dritten Geschlecht‘ verkündete“ (von Braun 1997, 8). Die Zulassung von Frauen an Universitäten, damals in höchstem Maße kontroversiell diskutiert unter den Männern der Wissenschaft, markiert den revolutionärer Umbruch in der Sichtweise der Geschlechterrollen (vgl. ebd.). Die Zentrierung der Dynamik der menschlichen Seele auf den Sexualtrieb befreit zwar die Sexualität aus dem Kerker des Tabus, kann aber nicht anders, als den Unterschied zwischen den Geschlechtern auf die Körperlichkeit einzuengen und die sozialen Rollen als Folgeerscheinung der Körperlichkeit zu verstehen – die These des weiblichen „Penisneid“ hat die Schablone der Überlegenheit und Höherwertigkeit des Männlichen, definiert aus dem männlichen Körper, zur Prämisse. Bei allem Revolutionären, das der primären Positionierung der Sexualität anhaftet, bewegt sie sich innerhalb des Rahmens der damaligen Konzepte der körperlichen und geistigen Schwäche der Frau, wie sie ein Mediziner der Charité zu dieser Zeit attestiert, wenn er in der universitären Ausbildung von Frauen durch „die hereditäre Übertragung von der unter den studierenden Mädchen ohne Zweifel erheblich zunehmenden Kurzsichtigkeit und der nervösen Disposition“ nicht nur eine Gefährdung der studierenden Mädchen, sondern gleich der Genetik befürchtet (von Braun 1996, 2). Adler dagegen betrachtet die Geschlechtszugehörigkeit als eine soziale Zuordnung, die in der herrschenden patriarchalischen Gesellschaft mit der Höherwertung
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2.4 Gender und Sexualität
des Männlichen gegenüber der Entwertung des Weiblichen verbunden ist, dessen Charakteristika allerdings, wie Alice Rühle-Gerstel in den 30er Jahren beschreibt, in einer Matrix der Erotik wiederum die weibliche Attraktivität attribuiert werden (vgl. Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1988). Die Haltung Alfred Adlers, Sexualität als Aspekt der Gesamtpersönlichkeit und diese wiederum in ihrer sozialen Bezogenheit zu verstehen, liegt im Trend der damaligen Zeit, im Gleichklang mit der Frauenbewegung, und legt daher auch nahe, sich aus individualpsychologischer Sicht mit GenderFragen zu beschäftigen: „Without question, he was the first mainstream psychologist of the 20th century to address the alleged inferiority of women and the myth of masculine superiority“ (Bitter et al. 2009, 13). Adler trat immer gegen die Geringschätzung der Frau und für ihre Gleichstellung ein, für ihn bestand „eine generelle Gleichwertigkeit von Mann und Frau, die jedoch in der Gesellschaft noch realisiert werden müßte“ (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1988, 78). Aus der Konstitution und Terminologie seiner psychologischen Theorie ist ablesbar, welchen zentralen Stellenwert die Thematik der Wertigkeiten des Männlichen und des Weiblichen in Adlers Denken hat, das auch seine Kulturkritik bestimmte: „der Krebsschaden unserer Kultur, der zu starke Vorrang der Männlichkeit“ (Adler 1910d, 127). Die Ungleichwertigkeit der Geschlechter drückt sich nach Adler in der Geschlechtermetaphorik aus: männlich wird als oben und stark, weiblich als unten und schwach gesehen. Das „Schwanken, die Doppelrolle zwischen Männlich und Weiblich“ (Bruder-Bezzel 2007, 103), von Adler in Übernahme eines Ausdrucks von Krafft-Ebbing „psychischer Hermaphroditismus“ genannt (Adler 1910c), wird durch den „männlichen Protest“ kompensiert, der sowohl beim Normalen als auch beim Neurotiker zum inneren Zwang führt: „Dieser männliche Protest erfolgt zwangsmäßig, als Überkompensation, weil die „weibliche“ Tendenz vom kindlichen Urteil etwa wie ein Kinderfehler abfällig gewertet und nur in sublimierter Form und wegen äußerer Vorteile [. . . ] festgehalten wird“ (Adler ebd., 108). Das Konzept des „männlichen Protest“ richtet sich also an den gesellschaftlichen Bezug des Wertigkeitsgefälles von Männlichkeit zur Weiblichkeit und nicht, wie der Penisneid bei Freud, an geschlechtsspezifische biologische Gegebenheiten. Es hat in seinen Anfängen nicht nur neurotischen, sondern auch emanzipatorischen Inhalt als „Tendenz der Frauen, mit dem Mann gleichrangig zu sein und sich gleichrangig zu fühlen“ (Adler 1925b, 165). Zugleich spielt die – in aktueller Terminologie benannt – Gender-Frage auch in Adlers Neurosenlehre eine zentrale Rolle, wenn er konstatiert: „Das Gefühl der Minderwertigkeit und seine Folgen werden mit dem Gefühl der Weiblichkeit identifiziert, der kompensatorische Zwang drängt im psychischen Überbau auf Sicherungen behufs Festhaltung der männlichen Rolle, und der Sinn der Neurose kleidet sich in den gegensätzlichen Grundgedanken: Ich bin ein Weib und will ein Mann sein“ (Adler 1912a, 66/67).
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Dabei sieht Adler den männlichen Protest als ein Drängen, das beiderlei Geschlechtern im Wunsch, Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, innewohnt und sich nicht nur männlicher, sondern als Umweg, falls diese auf große Widerstände stoßen, auch weiblicher Mittel bedient: „Die Rolle des Weibes wird höher gewertet, [. . . ] kurz: der männliche Protest bedient sich weiblicher Mittel“ (ebd., 67). Adlers Position zur Frauenfrage entspricht einem Feminismus der Gleichheit der Geschlechter, wenn er weibliche Charakterzüge nicht als angeboren sieht, sondern aus der untergeordneten Lage der Frau erklärt. Dabei nimmt er anfangs insbesondere auf die intellektuelle Gleichwertigkeit der Frau Bezug, wenn er feststellt, dass weibliche Charakterzüge ein Notprodukt seien, das zustande kommen müsse, weil das kleine Mädchen einen männlichen Aberglauben von der Aussichtslosigkeit ihres geistigen Strebens in sich aufgenommen hätte (vgl. Bruder-Bezzel 1999). Adler verstand auch die Frauenfrage nicht als isoliertes sozialpolitisches Problemfeld, sondern als einen Aspekt der Fragen der sozialen Gleichwertigkeit im Spannungsfeld des Minderwertigkeitsgefühls und seiner Kompensation bzw. Überwindung oder Machtstreben gegenüber der Frau in ihrer sozial nützlichen oder unnützlichen Ausformung. Er stellt den Emanzipationskampf der Frau neben den Klassenkampf und findet deren Gemeinsamkeit in der Angst vor Degradierung. Wenn Adler den sozialen Fortschritt über den Fortschritt in der Befreiung der Frau definiert, so schließt er damit nahtlos an Charles Fourier (1772–1837) an, der dies ebenso formulierte (s. Thiessen 2010). Den Machtansprüchen der männlichen Welt ordnet er die Angst vor der Überlegenheit der Frau zu, die er als Motor auch in den sexuellen Perversionen erkennt (siehe weiter unten). In Bestätigung der Einheit der Persönlichkeit findet seine eigene Haltung zu Männlichkeit und Weiblichkeit nicht nur in der wissenschaftlichen Dimension ihren Niederschlag, sondern zeigt sich auch gestaltend im privaten Leben: so heiratet Alfred Adler die russische Feministin Raissa Epstein, die von Moskau über Zürich nach Wien kommt, um hier an der Universität zu studieren. Wie Adler selbst, identifiziert sie sich politisch mit dem Gedankengut der Sozialdemokratie: „Understanding these relations may help readers emulate the attention given by Adler and his associates to the social problems that plagued the lives of their working class and unemployed clients“ (Santiago-Valles 2009, 360). Bei aller Nähe der politischen Einstellungen tragen die politischen Differenzen in der Familie Adler erheblich zu Spannungen in Adlers Ehe bei (Bruder-Bezzel 1999) – Adler steht dem politischen Engagement seiner Frau zumindest in seinen späteren Jahren offensichtlich mit einer gewissen Ambivalenz gegenüber, wie sein Brief, den er 1934 an seine Tochter Cornelia in scherzhaftem Ton schreibt, vermuten lässt: „Seit Mama ihr freilich harmloses Interesse für Politik, ein Nebenprodukt ihrer Launen, aufgegeben hat, fühlen wir uns alle viel glücklicher“ (Adler 1934, zit. n. Bruder-Bezzel 1999, 154). Auch in seinen Schriften zu GenderFragen aus dieser Zeit findet sich diese Zuwendung zu einem traditionellen Rollenbild der Frau: Weiterhin spricht Adler von Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit zwischen den Geschlechtern, aber kaum mehr vom Beruf der Frau, sondern von der Ehefrau, Mutter und Haushälterin, als welche die Frau ihre Gemeinschaftsaufgabe er-
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2.4 Gender und Sexualität
füllt, insbesondere in ihrer Mutterrolle, der durch ihre Bedeutung für das Wohl der Gemeinschaft hoher Status zukommt: „Auch die Leistung der Hausfrau, derzeit mit Unrecht tiefer gewertet, kann vollgültige Werte schaffen, wenn sie durch gute Handhabung oder künstlerische Ausgestaltung der Arbeitsfähigkeit des Mannes Vorschub leistet“ (Adler 1925b, 152). Adler fordert nun nicht mehr eine Veränderung der Umstände, sondern eine Anpassung der Sichtweise auf die Rolle der Frau (vgl. BruderBezzel 1999, 2009). In etwa zeitgleich mit seiner Rückkehr zu einem traditionelleren Verständnis der weiblichen Rolle verliert in seinen Schriften der Begriff des männlichen Protests an Bedeutung zugunsten des Strebens nach Macht und Überlegenheit (vgl. Bruder-Bezzel 2007). Wenngleich Adler der Sexualität nicht die Priorität im menschlichen Seelenleben zuordnet wie Freud, bleibt sie aber dennoch natürlich nicht unbeachtet. Er weist die zentrale Bedeutung der Sexualität für die psychische Entwicklung zurück, versteht diese nicht als ätiologisch für neurotische Entwicklungen Die große Bedeutung der Sexualität in der Neurose belegt nach Adler nicht die Vorherrschaft des triebhaften sexuellen Begehrens, sondern ist Ausdruck der Furcht vor der unterlegenen weiblichen Rolle und damit verbunden der Entwertung der Frau. Die neurotischen Symptome bezeichnet er daher als „sexuellen Jargon“, das Machtstreben als zentrale Ätiologie der neurotischen Entwicklung und die Sexualität diesem untergeordnet (Adler 1912). Zugleich stellt Adler die Sexualität unter den theoretischen Schirm des Mangels, wenn er im Streben nach Lust den Versuch, einen Mangel oder eine Unlustempfindung zu überwinden, sieht (Adler ebd.). Die Zentrierung der Psychoanalyse auf die Sexualität als treibende Kraft des menschlichen Seelenlebens beantwortet Adler in Abgrenzung zum psychoanalytischen Konzept des Primats der Sexualität in der menschlichen Existenz durch die Hinwendung zur sozialen Dimension: „Während Freud uns zeigte, daß sich Sexuelles in Nichtsexuellem ausdrücken kann, hat Adler diesen Kreis von der anderen Seite geschlossen, indem er uns aufmerksam machte, wie sich in Sexuellem auch Nichtsexuelles ausformt“ (Heisterkamp 1988, 41). Adler versteht also Sexualität als Ausdrucksform der Persönlichkeit in ihrer sozialen Bezogenheit, stellt sie zunehmend mehr „in den sozialen Kontext von Liebe, Ehe und Familie“ (Bruder-Bezzel 1999, 129). „Die Liebesfähigkeit eines Menschen ist also nicht abhängig von seinen Sexualtrieben, nicht abhängig von seinem Geschlecht, sondern nur abhängig von seiner Einstellung zum Leben, von seinem Gemeinschaftsgefühl, seinem Mut, kurz abhängig von der Vorbereitung, die er für seine Aufgaben empfangen hat“ (R. Künkel 1926, 115).
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In dieser Formulierung: „nicht abhängig von seinem Geschlecht“ impliziert Ruth Künkel bereits die Gleichstellung der Geschlechter, auch in Fragen der Sexualität, und definiert nicht die Triebe, nicht das sexuelle Begehren als Motor des Verhaltens, sondern das Streben nach Stärke zur Überwindung der Schwäche, und das Maß an Gemeinschaftsgefühl als gestaltend auch in der Sexualität. Ausgehend von Adlers theoretischen Überlegungen bleiben die Frauenfrage, Sexualität, Liebe und Ehe zentrale Themen der individualpsychologischen Literatur in den zwanziger und dreißiger Jahren. Schriften zur Auswirkung des männlichen Protests auf die Rolle und Anerkennung der Frau gehen Hand in Hand mit zum Teil für die damalige Zeit freimütigen Abhandlungen zur Sexualität. Gerade die frühen Individualpsychologinnen haben sich ausführlich zu Sexualität, insbesondere allerdings aus der Sicht der Frau, geäußert, wie zum Beispiel Else Freistadt Herzka in ihren freizügigen Tagebüchern, in denen sie auch über ein über einige Monate dauerndes sexuelles Verhältnis zu Alfred Adler berichtet, oder Sophie Lazarsfeld. Sie befasst sich, auf dem Boden einer eher traditionellen Position in Bezug auf die Ehe, vor allem mit Fragen der Frauenemanzipation, tritt dabei für die Selbständigkeit und Berufstätigkeit von Frauen als Gegenpol zum Verharren in erlernter Hilflosigkeit und Ohnmacht ein. Im weiblichen Streben nach Gleichwertigkeit sieht sie die Chance, das Geltungsstreben des Mannes zu erschüttern, woraus beide Partner in gemeinsamer Verantwortlichkeit bessere Bedingungen für ein Zusammenleben schaffen und einander bis dato ungeahnte Möglichkeiten persönlicher Entwicklung eröffnen könnten (vgl. z. B. Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1988, Kenner 2007; Bruder-Bezzel 2007). „Die Ehe als Gemeinschaftsaufgabe“ (Adler 1925b, 147) ist somit die kleinste gesellschaftliche Zelle des gelebten Gemeinschaftsgefühls, von den Ehepartnern selbst gestaltet: „Denn die Ehe ist kein ausgebautes Land, dem man sich nähert, kein Fatum, dem man entgegengeht, sondern Aufgabe der Gegenwart und Zukunft, eine schöpferische Leistung in rasch verfließender Zeit, eine Aufgabe, in das Nichts der Zukunft gesellschaftliche Werte zu bauen. Man wird in ihr immer nur finden, was man in sie hinein geschaffen hat“ (ebd., 152). Alice Rühle-Gerstel stellt eine Beziehung zwischen Adlers Theorie der Organminderwertigkeit und der Frauenrolle her, indem sie überlegt, inwieweit die Zähigkeit des weiblichen Körpers das Ergebnis einer Jahrtausende langen Kompensation der Zartheit des weiblichen Körpers durch verstärktes Trainings sei (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 1988). Die Widersprüchlichkeit der Bewertung der weiblichen Körperlichkeit fasst die Kulturwissenschaftlerin und Gender-Forscherin Christina von Braun aus historischer Perspektive zusammen: „Einerseits symbolisiert der Frauenkörper als das ‚Mütterliche‘ die Ganzheitlichkeit; andererseits wird er aber auch als Inkarnation des ‚Unvollständigen‘, Sterblichen begriffen. Zu dieser Paradoxie gibt es meiner Ansicht nach keine Auflösung“ (von Braun 1996, 19 f.).
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Wenn, wie Adler es sieht, die zentrale Rolle der Sexualität in der Neurose bereits als neurotisches Symptom an sich zu verstehen, ließe dies, konsequent weitergedacht, die Psychoanalyse zu einer neurotischen Psychologie werden: „Der Sexualfetischismus des Neurotikers äußert sich sowohl darin, dass er stets bestrebt ist, das Geschlechtsproblem als solches gesondert von allen Lebensproblemen zu betrachten, als wohnte der Sexualität eine geheimnisvolle Kraft und Gabe inne, die sie von allen Entwicklungsbedingungen im Menschen und von allen Regeln des mitmenschlichen Verkehrs emanzipiert; und zweitens darin, dass er der Sexualität einen übermäßig großen Raum in seinem Existenzplan und eine tyrannische Herrschaft über seine Entschlüsse eingeräumt“ (Kaus u. Künkel 1926, 562). Adler setzt sich auch mit speziellen Themen der Sexualität unter Bezugnahme auf seine Theorie der Persönlichkeit auseinander. So erklärt er die Homosexualität aus der Abwehr der Angst vor der Überlegenheit der Frau einerseits, als Abwehr der unterlegenen Weiblichkeit andrerseits in für die damalige Zeit mit seinen Theorien schlüssiger, wenngleich heute nicht mehr haltbarer Argumentation (Adler 1917b). 1920 stellt er eine psychologische Analyse von Prostituierten, Zuhältern und Prostitutionsbedürftigen, also den Betreiber der Prostitution, an, indem er die Reziprozität von Machtstreben und Minderwertigkeitsgefühl innerhalb des Systems der Prostitution aufschlüsselt (Adler 1920c). Wie in anderen Erlebniswelten auch, so ist in der Sexualität die Abgrenzung von „Normalität“ zur Perversion keine kategoriale, sondern eine dimensionale: „Es ist nicht ohne weiteres festzustellen, welche Formen der Sexualbetätigung im konventionellen Sprachgebrauch des Alltags und der Fachwissenschaft als abnorm gelten“ (Kaus u. Künkel, 1926, 555). Wenn Sexualität eine der Ausdrucksformen der Persönlichkeit ist, so ist sie im Sinne der Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit als entsprechend dieser gestaltet und gelebt zu erwarten, womit auch das Rollenverständnis, das die Gender-Identität bestimmt, Eingang findet. Und so bildet sich auch im sexuellen Leben der Lebensstil ab, finden neurotische Strukturen ihre Aktionsplattform, auch wenn die sexuelle Betätigung an sich diese nicht erkennen lässt: Sexualität hat immer eine körperliche und eine seelische Dimension, einen Handlungs- und einen Erlebensinhalt: . . . daß auch bei Wahrung des äußerlichen Zeremoniells der Norm der Sexualbetätigung des Menschen ein tief perverser, pathologischer, beide Partner schädigender Sinn zukommen kann. Dies wird überall dort der Fall sein, wo die Sexualität im Individuum einer problematischen Linie folgt, überwertigen Charakter annimmt und zum Tummelplatz gehemmter Aggression- und Machttendenzen ausartet“ (ebd., 555).
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Adler expliziert die individualpsychologischen Charakteristika der sexuellen Perversion aus Kompensationsversuchen genderbezogener Minderwertigkeitsgefühle, dabei die mangelnde Nähe zwischen Mann und Frau als Ausgangspunkt: 1. Jede Perversion ist der Ausdruck einer vergrößerten seelischen Distanz zwischen Mann und Frau. 2. Sie deutet gleichzeitig eine mehr oder weniger tief gehende Revolte gegen die Einfügung in die normale Geschlechtsrolle an und äußert sich als ein planmäßiger, aber unbewusster Kunstgriff zur Erhöhung des eigenen gesunkenen Persönlichkeitsgefühls. 3. Niemals fehlt dabei die Tendenz der Entwertung des normal zu erwartenden Partners, so dass bei genauem Einblick die Züge der Gehässigkeit und des Kampfes gegen diesen als wesentlich für die Haltung des Perversen hervortreten. 4. Perversionsneigungen der Männer erweisen sich als kompensatorische Bestrebungen, die zur Behebung eines Gefühls der Minderwertigkeit gegenüber der überschätzten Macht der Frau eingeleitet und erprobt wurden. Perversionen der Frauen sind in gleicher Weise kompensatorische Versuche, das Gefühl der weiblichen Minderwertigkeit gegenüber dem als stärker empfundenen Manne wettzumachen. 5. Die Perversion erwächst regelmäßig aus einem Seelenleben, das durchweg Züge verstärkter Überempfindlichkeit, überstiegenen Ehrgeizes und Trotzes aufweist. [. . . ] Infolgedessen finden wir auch starke Begrenzungen des gesellschaftlichen Interesse“ (Adler 1917b, 92 f.). Wenngleich die individualpsychologische Psychotherapie nicht Symptombeseitigung anstrebt, sondern die Korrektur des Lebensstils, sodass eine befriedigende Lösung der Lebensaufgaben möglich wird, so gibt es natürlich zahlreiche störungsspezifische Publikationen zur individualpsychologischen Psychotherapie von deren Beginn an bis heute. Eher randständig beachtet wird dabei die Behandlung sexueller Störungen. In einer Aufschlüsselung der „Verstehensformen“ sexueller Störungen ordnet Heisterkamp diesen „exemplarische Bedeutung für die Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen überhaupt“ zu (Heisterkamp 1988, 41) und stellt fest: „Wenn sexuelle Störungen eine spezifische Ausdrucksform und ein spezifisches Ausdrucksfeld der umfassenden Lebensstilbewegung sind, dann werden sie immer schon mitbehandelt, selbst wenn sie überhaupt noch nicht thematisiert wurden oder nicht einmal zu den ausdrücklichen Konsultationsgründen gehören“ (ebd., 44). Konzepte zur Sexualität sind in höchstem Maße beeinflusst durch gesellschaftliche Normen, kulturelle Eigenheiten und Moralvorstellungen und daher veränderlich, weil sensibel auf gesellschaftliche Veränderungen (vgl. Kaus u. Künkel 1926; BruderBezzel 1999), weswegen die Sichtweisen der frühen Individualpsychologie nur im
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Kontext ihrer Zeit zu verstehen sind. Allein in den letzten beiden Generationen hat sich die Einstellung zur Sexualität und zu Genderfragen enorm gewandelt: die sexuelle Revolution der „68er Generation“ des vorigen Jahrhunderts wollte die Sexualität der zwischenmenschlichen Beziehung entledigen, weil sie, innerhalb einer Liebesbeziehung gelebt, als Ausdruck reaktionären Denkens betrachtet wurde: „Wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört zum Establishment“, so der Wahlspruch der deutschsprachigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieser Zeit, im angloamerikanischen Raum wurde Sexualität ohne Beziehung – „zipless fuck“ (Jong 1973) – zum Optimum erklärt. Sexualität wird in diesem Verständnis auf egozentrierte Triebbefriedigung reduziert, was eine neue Form der sexuellen Frustration einleitet. So wird „Der Tod des Märchenprinzen“ (Merian 1980) zum Bestseller, ebenso die Antwort „Ich war der Märchenprinz“ (Piewitz alias Hennske 1982). Die Psychoanalyse findet in der beziehungsbefreiten Sexualität den „sexuellen Jargon“ (ohne dies so zu benennen) einer Beziehungsangst wieder (Schmidbauer 1985) und stimmt damit mit der Sichtweise Adlers überein, der Sexualität als Form einer sozialen Bezogenheit versteht und das „Liebesproblem“ als soziales Problem begreift (Adler 1933). Ausgehend vom anglo-amerikanischen Raum wird in einer Gegenbewegung zur sexuellen Revolution Jungfräulichkeit neu definiert, die den Geschlechtsverkehr vor der Ehe wiederum verbietet, aber nicht die Sexualität. Natürlich sind diese Entwicklungen nicht unabhängig von Themen wie der Bedrohung durch die Gefahr einer HIV-Infektion zu sehen. Diese wiederum aber erzeugt neue psychopathologische Verhaltensmuster, wie die AIDS-Phobie, deren Entsprechung wir aber auch in der frühen Individualpsychologie in der Syphilidophobie finden (Adler 1911f). Dies regt zu Überlegungen an, inwiefern die Angst des Mannes vor der Frau, die Adler als unverstandenen Hintergrund der Syphilidophobie versteht, in der AIDS-Phobie durch die Angst der Frau vor dem Mann abgelöst wurde oder auch als Angst vor der Homosexualität verstanden werden kann. So reich die Publikationstätigkeit zu Sexualität und partnerschaftlicher Liebe in den Anfängen der Individualpsychologie war, so selten werden diese Themen in der aktuellen Individualpsychologie behandelt, verglichen mit der Häufigkeit, in der die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit anderen individualpsychologischen Themen stattfindet – und dies, obwohl Adler selbst die Liebe als eine der drei großen Lebensaufgaben definiert hat. Die Liebesbeziehung als bipersonal gelebtes Gemeinschaftsgefühl imponiert in den Schriften Adlers über die partnerschaftliche Liebe wenig liebevoll, sondern recht „vernünftig“ – in seiner auf Minderwertigkeitsgefühle, Macht- und Dominanzstreben und vor allem auf die Gleichwertigkeiten der Geschlechter zentrierten Auseinandersetzung mit der Sexualität kommt das Thema Erotik zu kurz. Aktuellere individualpsychologische Schriften erkennen dieses Begegnungsfeld der partnerschaftlichen Liebe an: Der „Attraktor der Liebe“ besteht aus zwei Komponenten: dem Empfinden, dass der Partner geeignet ist, um mit ihm die traumatischen Beziehungen der eigenen Lebensgeschichte zu reinszenieren und zugleich zu heilen im „unerschöpflichen Streben nach platonischer Ganzheit“ (Moeller 1999, 16). Im wissenschaftlichen Diskurs der Komplexität der Se-
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xualität oder gar der Liebe gerecht zu werden, ist allerdings wohl kaum machbar, weil „wir die Liebe theoretisch nur bruchstückhaft fassen können [Hervorhebung vom Autor], weil sie selbst keine Theorie ist, sondern jene gelebte Lebendigkeit, die jede Frage nach dem Sinn unserer Existenz aufhebt“ (ebd.). Obwohl vereinzelt Arbeiten zu recht isolierten Themensegmenten zur Sexualität und Liebe vorliegen, wie zum Beispiel die Untersuchung der Unterschiede des Lebensstils zwischen alkoholabhängigen und nicht-alkoholabhängigen homosexuellen Männern (Suprina u. a. 2010), hat die individualpsychologische Forschung diese Lebensaufgabe insgesamt eher vernachlässigt. Insbesondere sind Bestrebungen zu vermissen, individualpsychologische Konzepte und Thesen im Hinblick auf die gewandelte Sichtweise der Homosexualität zu überdenken, auch im Hinblick auf die Situation der Elternschaft homosexueller, transsexueller oder bisexueller Paare (Fox 2008). Sexuelle Begegnungen bieten Raum für eine Vielfalt von Beziehungsstrukturen und Beziehungsbefindlichkeiten: Sexuelle Begegnungen können innerhalb der Beziehung der Partner funktional fungieren, indem sie Konflikte beruhigen und beenden oder aber auch entfachen; indem sie durch körperliche Nähe emotionale Verbundenheit simulieren oder vollenden; indem sie Angst vor Nähe durch körperliche Intimität verschleiern oder die Sehnsucht nach Nähe stillen; indem sie Angst vor der Übermacht des anderen durch die Macht der zärtlichen körperlichen Hingabe bannen oder die Entspannung durch Machtfreiheit in Zärtlichkeit schenken. Sexuelle Begegnungen können Minderwertigkeitsgefühle und Misserfolgserlebnisse beeinflussen, indem sie sie durch das Erleben der eigenen erotischen Attraktivität ausgleichen oder durch erotische Zurückweisung verstärken; indem sie Sexualität als Arena des Erfolgs oder des Misserfolgs erleben lassen; indem sie trösten oder kränken, indem sie Zorn beruhigen oder Ärger wachsen lassen. Sexualität kann spielerisch dem Ernst zum Ausgleich verhelfen, eine überwuchernde Rationalität durch phantasievolle Emotion begrenzen, dem Intellekt mithilfe der sinnlichen Erlebniswelt Körper geben. Sexualität auf die Funktion der Triebbefriedigung zu reduzieren hieße, sie ihres Chancenreichtums zu berauben, ohne ihr damit die riskante Seite nehmen zu können.
2.5 Querverbindungen zu neueren Strömungen in der Psychoanalyse 2.5.1 Ich-Psychologie und Neopsychoanalyse Bernd Rieken Wie bereits in Kap. 1.1.3 skizziert wurde, spielt das Individuum in der europäischen Kulturgeschichte eine besondere Rolle – und damit auch sein Träger aller psychischen Akte, das Ich. In der Individualpsychologie hat es ebenfalls, wie der Name bereits andeutet, eine große Bedeutung, was vor allem mit der ganzheitlichen Betrachtungsweise Adlers zu tun hat und weniger mit der Frage, ob das Ich „an sich“ stark oder schwach ist. Diesbezüglich äußert sich Freud eindeutiger, aus seiner Sicht besteht eine große Abhängigkeit vom Es, und das Ich hat Mühe, diese mit den Forderungen des Über-Ichs in Einklang zu bringen. Indes würden wohl die meisten Psychoanalytiker an ihrer beruflichen Aufgabe verzweifeln, wenn sie sich nicht zum Ziel setzten, „das Ich zu stärken“, um eine Formulierung Freuds aufzugreifen (Freud 1933a, 86). Trotz des Vorhandenseins unbewusster Konflikte und eines regen Trieblebens ist es daher kaum möglich, dass Ich aus den Augen zu verlieren. 1 Der Begründer der Psychoanalyse öffnet bereits 1926 mit seiner Schrift „Hemmung, Symptom und Angst“ das Tor zu einer stärkeren Berücksichtigung des Ichs, indem er bestimmte Abwehrmechanismen als Funktionen desselben darstellt (Freud 1926d; vgl. Drews u. Brecht 1982, 100–149; Ermann 2008, 35–43). Stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt es dann bei Anna Freud, indem sie in ihrem Buch „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ der Frage nachgeht, wie es sich gegen innere Triebe und äußere Gefahren zu behaupten trachtet (A. Freud 1984). Einen Schritt weiter geht Heinz Hartmann, der zwar ähnlich wie Anna Freud die Konflikttheorie nicht aufgibt, sie aber ergänzt um die Idee einer konfliktfreien Sphäre, in der sich das Ich entwickelt (Hartmann 1970). Die Frage, inwieweit das berechtigt ist, würde uns zu weit vom Thema wegführen, zumal wir uns dann auch eingehender mit der Begriffsbestimmung des Konflikts auseinanderzusetzen hätten. Hier genügt es festzuhalten, dass durch die Ich-Psychologie neben der inneren Realität auch die äußere Realität für die Entwicklung des Individuums wichtig geworden ist, wodurch die Aufmerksamkeit nicht mehr allein auf innere Konflikte gelenkt wurde. Damit wurde „die Voraussetzung für ein besseres Verständnis der ich-strukturellen Störungen [geschaffen], die nun als Entwicklungsstörungen des Ich betrachtet werden“ können (Ermann 2009a, 47).
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Über die Grundlagen der Ich-Psychologie bei Freud informieren Drews u. Brecht 1982, 15–149. Als umfassende und praktische Einführung in die Ich-Psychologie empfehlenswert sind Blanck u. Blanck 1993; dies. 1994.
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2.5.1 Ich-Psychologie und Neopsychoanalyse
Heuristisch wertvoll ist in dem Zusammenhang der Begriff Ich-Identität, welcher durch Erik Erikson in Psychologie und Gesellschaftswissenschaften Anerkennung gefunden hat, in der gegenwärtigen Psychoanalyse indes weniger rezipiert wird (Erikson 1981; Hauser 1995; Keupp et al. 1999; Krappmann 1997). Im Gegensatz zur Gruppen-Identität – mit ihrer Konstanz der Symbole trotz Fluktuation von Gruppenmitgliedern – sei Ich-Identität charakterisiert durch das Gefühl, „dass das Ich wesentliche Schritte in Richtung auf eine greifbare Zukunft zu machen lernt und sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt“ (Erikson 1981, 17). Dieses Gefühl beruhe auf „der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ (ebd., 18). Diese Begriffsbestimmungen wirken vielleicht ein wenig skizzenhaft (vgl. Hauser 1995, 75–79; Hernegger 1982, 200–204), sind aber recht brauchbar, um deutlich zu machen, dass man sich einerseits Gruppen bzw. größeren Kollektiven zugehörig und anderseits als einmaliges Individuum fühlen kann (Erikson 1981, 124). Erikson berücksichtigt also im Gegensatz zu Freud nicht nur innere Konflikte, sondern auch die soziale Außenwelt, indem er betont, dass die Ich-Identität sich in Wechselwirkung mit ihr entwickele, womit auch pathogene Umweltfaktoren in den Blick geraten, etwa die Tendenz zur Anpassung und „Mechanisierung des Menschen“ im „Maschinenzeitalter“ (ebd., 50). Neu ist ferner, dass er Entwicklung als lebenslangen Prozess definiert und dazu ein Schema mit acht Phasen entwirft, beginnend mit der oral-sensorischen Phase, deren Thema „Urvertrauen gegen Ur-Misstrauen“ sei, und endend mit dem Stadium der „Reife“, in der es um „Integrität gegen Verzweiflung und Ekel“ gehe. Dazwischen liegen sechs weitere Phasen: muskulär-anal, lokomotorisch-genital, Latenz, Pubertät und Adoleszenz, frühes Erwachsenenalter, Erwachsenen-Alter (ebd., 62–120; ders. 2005, 241–270). Bemerkenswert ist, dass Erikson sowohl pathologische als auch normale Leitlinien definiert („Urvertrauen gegen Ur-Misstrauen“ etc.), 2 wodurch er dazu beigetragen hat, die enge Bindung der Psychoanalyse an seelische Erkrankung zu lockern, sodass seither ihr Gedankengut verstärkt von jenen Wissenschaften wahrgenommen wird, die sich eher mit „normalen“ Ich-Strukturen befassen, etwa Pädagogik oder Entwicklungspsychologie. Andererseits hat die Hinwendung zum „Normalen“ bei Erikson zu einer zweifachen Normierung bzw. Ontologisierung beigetragen, indem er erstens behauptet, dass die mit jeder Phase verbundene Krise „ihre dauernde Lösung“ finde (Erikson 2005, 266), und er zweitens den Anschein erweckt, als hätte seine Phasentheorie universelle Gültigkeit und könne auf jede beliebige Gesellschaft angewendet werden – und das, obgleich er nicht nur engen persönlichen Kontakt mit prominenten Vertre-
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Theodore Lidz, ebenfalls ein Vertreter der psychoanalytischen Ich-Psychologie und heute noch bekannt durch seine Arbeiten über die Familienumwelt Schizophrener, welche Einseitigkeiten in der biologischen Psychiatrie relativiert, beginnt seine umfangreiche Darstellung über die Entwicklung der Persönlichkeit mit den folgenden Worten: „Der Gegenstand dieses Buches ist die normale Entwicklung, Struktur und Funktion des Menschen“ (Lidz 1974, Bd. 1, 18).
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terinnen des Kulturrelativismus, den Ethnologinnen Margaret Mead und Ruth Benedict, hatte, sondern auch selber bei nordamerikanischen Indianerstämmen ethnologisch geforscht hat, wovon er in seinem bekannten Buch „Kindheit und Gesellschaft“ berichtet (2005, 107–182). Die Behauptung, dass jede Stufe nach der ihr eigenen krisenhaften Entwicklungsphase eine „dauernde Lösung“ finde, hängt wahrscheinlich mit der Machbarkeitsideologie zusammen, die zu den mentalen Grundlagen der US-amerikanischen Gesellschaft zählt (Rieken 2010d). Russell Jacoby, den wir bereits als leidenschaftlichen Kritiker Adlers kennengelernt haben, zieht auch in diesem Fall kräftig vom Leder, indem er der „populären Ich-Psychologie der Neo- und Nach-Freudianer“ attestiert, dass sie nur „Oberflächenphänomene“ widerspiegele und übersehe, dass „die Existenz von Unsicherheit [. . . ] in der Unsicherheit der Existenz begründet“ sei (Russell 1978, 69). „Soziale Amnesie“ lautet dementsprechend der Titel seines Buches, und gemeint ist damit die „Gesellschaftsvergessenheit“ der aufs Klinische zentrierten Psychotherapeuten und Psychoanalytiker. Russells marxistisch inspirierte Kritik hat durchaus ihre Berechtigung, aber gerade Autoren wie Erikson oder Adler beziehen kritisch gesellschaftliche Probleme in ihre Überlegungen mit ein, auch wenn der Optimismus, der aus Eriksons Identitätskonzept spricht, für skeptizistisch eingestellte Europäer ein wenig übertrieben klingen mag. Aber aus der Theorie Adlers sind es gleichfalls die eher „unverdächtigen“ Elemente, welche in den USA, passend zur Mentalität, rezipiert wurden und werden. Das sind gerade nicht die analytischskeptizistisch-dekonstruktivistischen Bestandteile seiner Lehre, sondern, zentriert auf das Spätwerk, jene Passagen, die zur eifrig gepflegten Gemeinschaftsideologie der Amerikaner passen (Rieken 2010d, 101 ff.; 106 ff.), nebst solchen, die mit ihrer Machbarkeitsphilosophie in trauter Einheit leben, also primär die kognitiven Elemente, etwa Ermutigung. Und tatsächlich stellt das Spätwerk Alfred Adlers eine eigentümliche Mischung aus alldem dar. Einerseits lesen wir zum Beispiel im „Sinn des Lebens“, „dass Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt“ (Adler 1933b, 56), andererseits definiert er „Gemeinschaftsgefühl“ als „Streben nach einer Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muss, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat“ (ebd., 160). Indes muss das nicht zwingend als Widerspruch aufgefasst werden; im logischrationalen Sinn kann man das so verstehen, im psycho-logischen Sinn nicht unbedingt, weil aus dem auseinanderklaffenden Zwiespalt des „Nebeneinander[s] von Minderwertigkeit und Vollkommenheit“ (Hillman 1986, 135) eine tiefe Sehnsucht nach Aufhebung aller Gegensätze resultiert, die noch nichts aussagt über die Möglichkeit zur Realisierung. Jenes Verlangen hat in regressiven Phasen eine gewisse Nähe zum Bedürfnis nach präödipaler Harmonie, nach, wie Freud es formuliert, „etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem‘“ (Freud 1930a, 422). Als nüchterner Wissenschaftler ist er allerdings bestrebt, sogleich hinzuzufügen, dass er Derartiges in sich nicht entdecken könne (ebd.). In weniger regressiven Phasen steht wohl eher der Wunsch nach Ganzheit dahinter; Erikson spricht vom Verlangen nach
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2.5.1 Ich-Psychologie und Neopsychoanalyse
Integration „zu einer relativen ‚Ganzheit‘“ (1981, 168) und davon, dass ein „starkes Ich, das durch seine Gruppe in seiner Identität gesichert ist“, Probleme nicht zu überspielen brauche (ebd., 51). Hieran werden bereits Gemeinsamkeiten zwischen Eriksons Konzept der IchIdentität und der Individualpsychologie deutlich. Sie beziehen sich auf die Betrachtung der Persönlichkeit als eines ganzheitlichen Wesens und, damit verbunden, auf die Kontinuität des Lebensstils im Wandel der individuellen Biografie, und zwar in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Veränderungen. So heißt es bei Adler: „Wir sehen den Lebensstil in Abhängigkeit von bestimmten Umweltbedingungen, und unsere Aufgabe besteht nun darin, seine genaue Beziehung zu den vorhandenen Umständen zu analysieren, dabei den Gedanken im Auge behaltend, dass die Psyche sich mit den jeweiligen Umweltänderungen wandelt“ (1929d/1978b, 53). Damit ist implizit auch die für Erikson zentrale Vorstellung der Entwicklung als eines lebenslangen Prozesses angesprochen, die bei Adler ihre Entsprechung darin findet, „dass Menschsein heißt, ein Minderwertigkeitsgefühl zu besitzen, das ständig nach seiner Überwindung drängt“. Gewisse Übereinstimmungen findet man darüber hinaus in der Genese der normalen und pathologischen Entwicklung. „Urvertrauen gegen Ur-Misstrauen“ sind die zentralen Stichworte bei Erikson, und gemeint ist damit, inwieweit „ein Gefühl des Sich-verlassen-Dürfens“ die frühe Kindheit geprägt hat oder nicht (Erikson 1981, 62). Diese Überlegungen lassen sich auf individualpsychologischer Seite mit der Frage in Verbindung bringen, wie aufseiten der Bezugspersonen mit dem konstitutiv verankerten Minderwertigkeitsgefühl umgegangen worden ist. Da aus der Perspektive Adlers von Beginn an, vom ersten Schrei, „eine Stellung des Kindes zur Außenwelt [besteht], die nicht anders denn als feindselig bezeichnet werden kann“ (Adler 1908b, 71 f.), anderseits sich „das Zärtlichkeitsbedürfnis ziemlich früh bemerkbar“ macht (Adler 1908d, 78) und man mit dem „bei jedem Kind vorhandene[n] Gemeinschaftsgefühl“ rechnen kann (Adler 1927a, 75), ist die Unsicherheit des frühen Lebens bis zu einem gewissen Grad eindämmbar. Erikson spricht ähnlich wie Adler von einem Gefühl, eben dem Gefühl des „Sich-verlassen-Dürfens“, das zum Ur-Vertrauen führt, während dieser das Minderwertigkeitsgefühl ins Auge fasst, das kompensatorisch „Beruhigung und Sicherstellung“ anstrebt (Adler 1927a, 72), was umso eher gelingt, je mehr die Eltern versuchen, „dem Kind aus seiner Unsicherheit herauszuhelfen“ (ebd., 75). Deckungsgleich sind die Theorien allerdings nicht, denn Eriksons Anthropologie ist etwas optimistischer getönt, indem er von der Möglichkeit zu einem positiven Phänomen, dem Ur-Vertrauen, ausgeht. Adler denkt skeptizistischer und „verwaltet“ gewissermaßen den Mangel, da der Gradmesser für psychische Gesundheit darin besteht, dass das a priori vorhandene Minderwertigkeitsgefühl nicht zu übermächtig seine Netze webt und es durch eine liebevolle Erziehung in Grenzen gehalten wird. Doch das Phänomen, welches beide meinen, ist ähnlich, nämlich die Gretchenfra-
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ge, ob und inwieweit dem Kind von Beginn an eine solide emotionale Basis ermöglicht wird, die ein Gefühl hinreichenden Vertrauens bzw. hinreichender Sicherheit zur Folge hat. Diese Frage steht auch im Zentrum der Neopsychoanalyse, einer Richtung, die im zeitgenössischen analytischen Mainstream kaum noch Erwähnung findet. „Das Grundübel ist immer wieder ein Mangel an echter Liebe und Wärme“, heißt es bei Karen Horney (1979, 62), und daraus entstünden Feindseligkeit und Angst, die „in heutigen Neurosen die wesentlichsten psychologischen Kräfte“ seien (ebd., 50). Dabei bestehe die Gefahr, dass sie im Laufe der Zeit durch die Außenwelt verstärkt würden (ebd., 53) und in einen „Teufelskreis“ mündeten, ein Begriff, der nota bene auf den Individualpsychologen Fritz Künkel zurückgeht (1965, 23; 63; 81) und einen ähnlichen Vorgang bezeichnet, wie ihn später Paul Watzlawick mit dem Begriff „selbsterfüllende Prophezeiung“ umschreibt (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1985, 95 f.). Was bei Erikson Ur-Misstrauen und bei Adler das übersteigerte Minderwertigkeitsgefühl genannt wird, ist bei Horney die Grundangst. Sie beschreibt unterschiedliche neurotische Folgen derselben, und diesbezüglich existieren einige interessante Übereinstimmungen mit Adler. So betrachtet sie übertriebenes sexuelles Verlangen weniger als Folge einer unbefriedigten Libido, sondern eher als Bedürfnis nach Sicherheit (Horney 1979, 111), und in entsprechender Weise kritisiert sie auch den Ödipus-Komplex, der zwar eine sexuelle Färbung annehmen könne, aber vorwiegend im Dienste „eines durch Angst bedingten Liebesbedürfnisses“ stehe (Horney 1977, 66 f.). Dementsprechend sieht sie den Penisneid ebenfalls eher in einem soziokulturellen als in einem biologischen Licht, das heißt in Zusammenhang mit der politischen und gesellschaftlichen Vorrangstellung des Mannes im Patriarchat (ebd., 87). Adler argumentiert ähnlich, wenn er vom „männlichen Protest“ als einer Haltung spricht, die alles Weibliche geringschätze. So berichtet er von einer Patientin die immer wieder davon träume, beim Geschlechtsverkehr oben zu sein oder sich den Mann in Frauenkleidern vorzustellen oder ihn zu kastrieren: Stets drücke sich so „in sexuellem Jargon aus, was ihr ganzes Leben bewirkt, die Gier, oben zu sein“ (1911k, 3 156). Die Berücksichtigung soziokultureller Faktoren bei der Entstehung von Neurosen teilt Adler mit Horney. 4 Doch legt er, wenngleich das Streben nach Sicherheit dahintersteht, den Akzent auf die Beziehung zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben. Ähnlich argumentiert er, als er Anfang 1911 von Freud aufgefordert wird, seine Haltung zur Libidotheorie zu skizzieren. Er beginnt seinen Vortrag mit der Feststellung, dass es zwar müßig sei, sich zu überlegen, ob eine Neurose ohne Einbeziehung des Sexualtriebs möglich sei, weil dieser für alle Menschen eine ähnlich 3
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Der Aufsatz fehlt in den Bibliographien von Ansbacher u. Ansbacher (2004, 391) sowie Brunner u. Titze (1995, 573). Da Adlers Schriften von 1911 mit „1911j“ enden, wird dieser Beitrag als „1911k“ bezeichnet. Über die soziologischen Aspekte der Neopsychoanalyse vgl. Wiegand (1973).
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große Bedeutung habe (1911a, 5 162), doch stelle er sich sogleich die Frage, ob das, was der Neurotiker an Libido zeige, in jedem Fall überhaupt echt sei: „Seine Frühreife ist erzwungen, sein Onanierzwang dient dem Trotz und der Sicherung gegen den Dämon Weib, seine Liebesleidenschaft geht bloß auf den Sieg“ (ebd., 165). Ähnlich wie Adler billigt Horney auch Minderwertigkeitsgefühlen eine tragende Rolle zu: Sie sieht sie im Zusammenhang mit übertriebenem Ehrgeiz und phantastischen Vorstellungen vom Wert der eigenen Person (Horney 1979, 165), berücksichtigt also die Kompensation, fragt aber auch nach deren Funktion im Sinne der unbewussten Causa finalis: „Ihr Wert besteht darin, dass, indem man sich durch Selbsterniedrigung anderen Menschen unterstellt und seinen Ehrgeiz bändigt, die mit dem Wettbewerb verbundene Angst beschwichtigt wird“ (ebd., 163). Demnach berücksichtigt sie, ähnlich wie Adler, sowohl das kompensatorisch-aktive Element der Minderwertigkeitsgefühle als auch das resignative, das Adler mitunter als „zögernde Attitüde“ bezeichnet (1912h, 239) bzw. als „Ja, aber“, der „beste[n] und kürzeste[n] Definition der Neurose“ (1928e, 24). 6 Abschließend sollen noch zwei weitere Vertreter der nordamerikanischen Neopsychoanalyse erwähnt werden, Erich Fromm und Harry Stack Sullivan. Dieser bietet vorwiegend Anknüpfungspunkte mit Adlers Persönlichkeitstheorie, jener mit den soziokulturellen Aspekten. Der wesentliche Punkt in Sullivans Persönlichkeitstheorie ist die Vorstellung, dass der Mensch primär das Produkt interpersonaler Kräfte sei. Die Bedeutung sexueller Triebbedürfnisse stellt er nicht in Abrede, Lust sei ein mächtiger „Dynamismus in interpersonalen Beziehungen“ (Sullivan 1980, 300), aber da unsere Kultur mit „sonderbaren Hemmnissen“ ausgestattet sei, kollidiere sie „natürlich prompt mit einer ganzen Anzahl sehr mächtiger anderer Dynamismen der Persönlichkeit“ (ebd.). Am häufigsten sei der Widerstreit „zwischen Lust und persönlicher Sicherheit – Sicherheit dabei verstanden als Selbstachtung und Selbstwertgefühl“ (ebd., 301). Dies sei besonders brisant, weil dadurch Spannung in Form von Angst hervorgerufen werde und die Wiederherstellung des Gleichgewichts „nicht die Erfahrung von Befriedigung, sondern von interpersonaler Sicherheit ist“ (ebd., 66). Das Verhältnis von Angst und Sicherheit sei daher das entscheidende Element in der frühen Mutter-Kind-Beziehung (ebd., 65).
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Dieser Aufsatz wird in den Bibliographien von Ansbacher u. Ansbacher (2004, 390) sowie Brunner u. Titze (1995, 573) unter dem Titel „Die Rolle der Sexualität in der Neurose“ geführt. Bei dem dort auch erwähnten Wiederabdruck in Adler u. Furtmüller (1928) werden als Seitenangaben 94–102 genannt, doch geht der Beitrag von 92–109 und heißt in dem Band „Zur Kritik der Freud’schen Sexualtheorie des Seelenlebens“. Die neue Studienausgabe, Bd. 1, herausgegeben von Bruder-Bezzel, aus der hier zitiert wird, führt ihn unter dem Titel „Zur Kritik der Freud’schen Sexualtheorie der Nervosität“ an (161–180). Dass Horney trotz mannigfacher Übereinstimmungen fast nie auf Adler Bezug nimmt und falls ja, dann zumeist in ablehnender Weise, hängt wahrscheinlich mit dem von Freud ausgesprochenen Zitierverbot der Werke Adlers zusammen (s. Schmidt 2005, 52). Nur ganz selten äußert sie sich positiv, etwa als sie konstatiert, dass er die kulturellen Faktoren beim Wunsch, ein Mann zu sein, herausgearbeitet habe (Horney 1977, 87).
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Einen etwas anderen Akzent setzt Erich Fromm, ihm geht es ebenfalls um Angst, aber in einer spezifischen Form als „Furcht vor der Freiheit“ (Fromm 1983), die er zunächst geschichtlich aus den europäischen Individualisierungsprozessen ableitet: Die Kultur der Neuzeit sei charakterisiert durch eine zunehmende Befreiung von autoritären Instanzen, doch rufe dieser Vorgang auch die Furcht vor derselben hervor, weswegen das Individuum auf eine ständige Interaktion mit der Gesellschaft angewiesen sei, damit Freiheit und Gemeinschaft einander die Waage hielten. Ähnlich wie Adler geht es Fromm, der Anfang der 1930er Jahre am marxistisch orientierten „Institut für Sozialforschung“ der Frankfurter Universität tätig war, nicht nur um die Entneurotisierung des Individuums, sondern auch um die Humanisierung der Gesellschaft. Und so wie dabei die Durchsetzung der Freiheitsrechte das wesentliche Element sei, sei der Kern einer jeden Neurose und auch der normalen psychischen Entwicklung „der Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit“ (Fromm 1983, 145). Demgemäß interpretiert er den Ödipus-Komplex nicht primär als Versuch des Sohnes, sich mit der Mutter geschlechtlich zu vereinigen und den Vater aus dem Wege zu räumen, sondern in erster Linie als Aufbegehren gegenüber dem Vater als Repräsentanten einer autoritär-patriarchalischen Gesellschaftsordnung (ebd., 144 f.). Wenn wir dieses Kapitel noch einmal Revue passieren lassen, wird deutlich, dass die Zentrierung auf das Ich in engem Zusammenhang steht mit persönlichen Ängsten, die individualpsychologisch betrachtet große Schnittmengen mit Minderwertigkeitsgefühlen aufweisen. Individualisierung bedeutet in psychologischer wie in kulturgeschichtlicher Hinsicht eine Zunahme an Komplexität, aber damit auch an „Kompliziertheit“ und Problemen. Dass „die Ich-Psychologie die Voraussetzung für ein besseres Verständnis der ich-strukturellen Störungen“ geschaffen habe (Ermann 2009a, 47), wurde bereits erwähnt. Und vor allem die Zunahme dieser Störungen hat auch mit dem Komplexitätszuwachs in den postmodernen Gesellschaften der Gegenwart zu tun, die durch eine zunehmende Fragmentierung bzw. Infragestellung bisher gültiger Wahrheiten und Lebensentwürfe charakterisiert sind und vielen Menschen anstelle eines geradlinigen Lebensentwurfs im privaten und beruflichen Bereich allerlei Patchwork-Identitäten abverlangen (vgl. Gergen 1996; Helsper 1997). Umso brisanter ist daher die Frage nach den Kernpunkten der eigenen Identität geworden und umso größer der Wunsch oder die Sehnsucht, nicht etwas zu sein, das „auseinanderzufallen“ droht, sondern ein „Ganzes“ zu bilden. Das ist die Aktualität der in der Mainstream-Psychoanalyse viel geschmähten Ich-Psychologie und Neopsychoanalyse, aber es ist auch die Aktualität der Individualpsychologie.
2.5.2 Objektbeziehungstheorie Bernd Rieken Es mutet ein wenig eigentümlich an, dass so etwas spezifisch Menschliches wie Zuneigung und Liebe zu einer anderen Person mit dem sterilen Begriff „Objektbeziehung“ benannt wird. Das zugrundeliegende lateinische Verb „obiecere“, von dem
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2.5.2 Objektbeziehungstheorie
sich das deutsche Adjektiv „objektiv“ ableitet, bedeutet nämlich „entgegenstellen“, „entgegentreten“, während eine enge persönliche Beziehung nachgerade durch das Gegenteil charakterisiert ist, nämlich Verbundenheit. Doch zugrunde liegt bei der Wahl dieses Wortes Freuds Objektbegriff, der darunter eine Person oder einen Gegenstand versteht, durch welchen ein Trieb sein Ziel erreicht, also befriedigt werden kann. Dennoch hat sich unter der Bezeichnung „Objektbeziehungstheorie“, von London ausgehend, eine neue Strömung innerhalb der Psychoanalyse etabliert, welche ganz eigene Akzente setzt und durch bedeutende Nahtstellen mit der Individualpsychologie als einer Theorie verbunden ist, welche das Augenmerk auf die Qualität früher Beziehungserfahrungen richtet. Wie bereits erwähnt, liegt nach Adler die Intention des kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses „in der Befriedigung dieser nach dem Objekt ringenden Regungen“ (Adler 1908d, 78 f.). Bereits in der Zwischenkriegszeit kann die Psychoanalyse in London Fuß fassen und setzt eigene Schwerpunkte in der Kinderanalyse, allerdings mit unterschiedlicher Akzentuierung, die heftige Dispute auslöst. Während Anna Freud einen eher pädagogisch betonten Ansatz vertritt und die Abwehrfunktionen des Ichs hervorhebt, geht Melanie Klein in die Frühphase des Kindes zurück, thematisiert die symbolische Interpretation archaischer Entwicklungsphasen (vgl. ausführlicher Ermann 2009a, 53–65) und prägt fortan die psychoanalytische Terminologie mit, indem sie die paranoid-schizoide von der depressiven Position unterscheidet und als eigenen Abwehrmechanismus die projektive Identifikation einführt. Ähnlich wie Adler stellt sie bei Kindern von Beginn an einen Konflikt zwischen Aggression 7 und Liebe fest, der in Zusammenhang damit stehe, „dass die frühesten Erfahrungen des Säuglings beim Gestillt-Werden und die Nähe der Mutter eine Objektbeziehung zu ihr einleiten“ (Klein 2001, 188). Folglich seien oral-libidinöse und oral-destruktive Triebe vornehmlich auf die mütterliche Brust gerichtet, wobei in Phasen, die frei von Hunger und Spannung seien, ein Gleichgewicht zwischen libidinöser und aggressiver Spannung bestehe. Dieses werde indes dann gestört und führe zu einer Verstärkung aggressiver Triebe, wenn es zu Versagungen aufgrund innerer oder äußerer Ursachen komme (ebd.). „Demzufolge wird die Brust, insoweit sie befriedigt, geliebt und als ‚gut‘ empfunden, insoweit sie die Quelle von Versagung ist, wird sie gehasst und als ‚böse‘ empfunden“ (ebd., 189). Das Konzept der „guten“ und der „bösen“ Brust wird im populären Diskurs vielleicht als ein wenig bizarr empfunden, aber nun ist es gerade die populäre Kultur, in welcher man mannigfache Bestätigungen für Melanie Kleins Theorie finden kann. So stoßen wir in einer Sequenz aus Woody Allens Film „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten“, auf eine „Titte“, die einen jungen Mann verfolgt, der „schließlich von ihr begraben wird“ (Allen 1985, 130). Und in Richard Beitls volkskundlicher Habilitationsschrift über kindliche Ängste und mythologische Kinderschreckfiguren aus dem Jahre 1933 begegnen dem Leser unter anderem weib7
Allerdings ist zum Unterschied von Adler die theoretische Grundlage Kleins das Todestriebkonzept Freuds (Klein 2001, 188).
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liche Wesen mit entsetzlichem Busen, an denen unfolgsame Kinder zur Strafe saugen müssen. Diese Gestalten stellt man sich teils mit brennenden Brüsten (Beitl 2007, 42) und teils mit solchen vor, aus denen „schwarzer, erstickender Teer, schwarze giftige Milch, dunkler todbringender Blutstrom“ herausquillt (ebd.). Oberflächlich betrachtet sind das merkwürdige, um nicht zu sagen absonderliche Vorstellungen, doch entsprechen sie der Auffassung Melanie Kleins insofern, als diese davon ausgeht, dass die frühen Bezugspersonen nicht als einfaches Abbild verinnerlicht, sondern unter dem Einfluss unbewusster Vorstellungen verzehrt und mitunter als grausame Trugbilder internalisiert werden. Weil aus ihrer Sicht die ersten drei, vier Lebensmonate – unter dem Einfluss des Todestrieb und einer daraus resultierenden Vernichtungsangst (Klein 2001, 169) – „durch paranoide Angst und Spaltungsprozesse charakterisiert“ seien (ebd., 34), dominiere am Beginn des seelischen Lebens die paranoid-schizoide Position. Werde das Gefühl der Bedrohung zu groß, komme es zur projektiven Identifikation, und das äußere Objekt werde „zu einem Ausläufer des Selbst“ (ebd., 197) – wodurch im Sinne einer selbst erfüllenden Prophezeiung die betreffende Person tatsächlich dazu gebracht werden kann, sich so zu verhalten, wie man befürchtet, dass sie sich verhalten wird. Es sei das Verdienst Melanie Kleins, so Thomä und Kächele, „die Aufmerksamkeit auf aggressive Phänomene in der Entwicklung und Symptombildung gerichtet zu haben“ (2006a, 42), doch widmet sich ihnen bereits Adler, wenn er davon spricht, dass mit dem ersten Schrei des Kindes eine Tendenz am Werke sei, „die nicht anders denn als feindselig bezeichnet werden“ könne (Adler 1908b, 71 f.) – eine „feindliche Aggression“ (Adler 1912a, 57), welche aus der „Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes“ resultiere (Adler 1927a, 72). Und bei beiden geht es weniger, zum Unterschied von der klassischen Psychoanalyse, um den Trieb als solchen, sondern primär um den Bezug zu Objekten, und zwar über das Zärtlichkeitsbedürfnis bei Adler (1908d) und über Teilobjekte bei Melanie Klein (2001, 188), wobei in ihrer Theorie die Spaltung in gute bzw. böse Anteile eine die Ängste reduzierende Funktion hat. Später, ungefähr zwischen dem vierten und sechsten Lebensmonat, werde die Beziehung zur äußeren Welt differenzierter, die „gute“ und die „böse“ Mutter kämen näher zusammen, sie werde als ein Objekt wahrgenommen. Die daraus resultierende Ambivalenz sowie Schuldgefühle aufgrund eigener aggressiver Triebimpulse führten das Kind zur depressiven Position mit ihren reiferen Verarbeitungsformen (ebd., 201–207). Die Begriffe paranoid-schizoid und depressiv sollten nicht im Sinn der psychiatrischen Diagnostik missverstanden werden, denn es handelt sich dabei um „Positionen“, die zeitlebens vorhanden sind. Indes sei es ein Teil der normalen Entwicklung, „dass in dem Aufeinander-Wirken von Regression und Fortschritt die bereits erreichten wesentlichen Anteile des Fortschritts erhalten bleiben“ (ebd., 224). Falls jedoch widrige Umstände dazu führten, die depressive zugunsten der paranoid-schizoiden Position zeitweilig aufzugeben, „werden wir von Rückzug, Verfolgungsängsten und Erleben von Teilobjekten bestimmt. Das führt zu Schwarz-Weiß-Denken, untröstlichem Katastrophendenken und anderen paranoiden Zuständen“ (Ermann 2009a, 74).
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2.5.2 Objektbeziehungstheorie
Aus Sicht der Individualpsychologie ist insbesondere das Schwarz-Weiß-Denken für das Seelenleben des Neurotikers bedeutsam. Das habe, so Adler, zwar auch einen allgemeinen Aspekt, weil „die Abstraktion der Begriffe ‚Oben – Unten‘ [. . . ] in der Kulturentwicklung des Menschen offenbar eine ungeheure Rolle [spielt], die wahrscheinlich schon an den Beginn des aufrechten Ganges der Menschheit anknüpft“ (1912a, 247). Doch komme die Tendenz zur antithetischen Apperzeption insbesondere beim „nervösen Charakter“ klar zum Vorschein, weil dieser dazu tendiere, analog zum so genannten Gegensatz zwischen Mann und Frau „Minderwertigkeitsgefühl, Unsicherheit, Unten-Sein, Weiblichkeit auf die eine Seite der Gegensatztafel, Sicherheit, Oben-Sein, Persönlichkeitsideal, Männlichkeit auf die andere Seite“ zu stellen (1912a, 109). Um Gegensätze geht es auch bei Michael Balint, aber, ähnlich wie bei Melanie Klein, weniger im neurotisch-konfliktbehafteten Kontext als auf einer sehr frühen Stufe der Entwicklung, die das „Paradies“ genauso wie die „Hölle“ bedeuten kann – Letzteres dann, wenn die Ebene der Grundstörung besonders ausgeprägt ist. Während Innovationen durch die Objektbeziehungstheorie überwiegend mit der kleinianischen Schule in Verbindung gebracht werden und schwere seelische Belastungen im Kleinkindalter zumeist als „strukturelle“ oder „Frühstörung“ bezeichnet werden, fristet Balints Modell der Grundstörung ein eher randständiges Dasein. Wahrscheinlich fände eine Modediagnose wie „Borderline-Störung“ weniger häufig Verwendung, würde man sich seiner Überlegungen in einem stärkeren Ausmaß besinnen und bedenken, dass zum Beispiel Tendenzen zu instabiler Stimmung und innerer Leere zunächst typische Merkmale auf der Ebene der Grundstörung sind. Außerdem kommt ihm das Verdienst zu, diese als Erster systematisch von der neurotischödipalen Ebene abgegrenzt zu haben. Letztere sei nämlich erstens durch eine Dreierbeziehung charakterisiert, bei der außer dem Subjekt zumindest zwei Objekte beteiligt seien. Zweitens sei dieser Bereich immer mit Konflikten verbunden, die aus der Ambivalenz herrührten, welche aus der Beziehung des Individuums zu seinen beiden Objekten resultiere. Und drittens könne die konventionelle Sprache der Erwachsenen als angemessenes und tragfähiges Verständigungsmittel verwendet werden. Demgegenüber seien alle Vorgänge auf der Ebene der Grundstörung Teil einer Zweierbeziehung, welche sich von den herkömmlichen Beziehungen auf der ödipalen Ebene grundlegend unterscheide. Zweitens sei die Dynamik nicht durch Konflikte gekennzeichnet, und drittens sei dabei die Sprache der Erwachsenen oftmals unbrauchbar und irreführend. Patienten auf dieser Ebene würden spüren, dass ihnen etwas Grundlegendes fehle, dass sie an einem Defekt litten und nicht an einem Konflikt (Balint 1997a, 24 ff.). Ein Triebbedürfnis könne befriedigt, ein Konflikt gelöst, doch eine Grundstörung im besten Fall geheilt werden, „vorausgesetzt, dass die seinerzeit fehlenden Bestandteile gefunden werden. Selbst dann kommt vielleicht nur eine Heilung mit Defekt zustande“ (ebd., 32). Doch es gebe noch weitere Argumente für die Wahl des Wortes „Grund“, nämlich „dass es sich um Bedingungen handelt, die einfacher sind als diejenigen, die den
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Ödipuskomplex charakterisieren“ und „dass ihr Einfluss weiter reicht, sich möglicherweise über die gesamte psychobiologische Struktur des betreffenden Menschen erstreckt und in wechselndem Ausmaß Körper und Seele erfasst“ (ebd.). Während die Unterscheidung zwischen „früher“ und „neurotischer“ Störung möglicherweise den Anschein erweckt, in jedem Fall eine klare Zäsur treffen zu können, macht Balint unmissverständlich klar, dass auch Neurosen vom Bereich der Grundstörung erfasst werden können, weswegen damit zu rechnen ist, dass die Patienten in regressiven Phasen der Therapie auf diese Ebene gelangen. Der Ursprung des Defekts gehe auf frühe Phasen der Entwicklung zurück und hänge mit einer Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der mangelnden Versorgung durch ein Primärobjekt zusammen (ebd., 33), worunter Balint die Beziehung zu einer Person oder einem Element versteht, welche „primitiver [ist] als die zu allen anderen in der Welt“ (ebd., 84). Dazu zählten in erster Linie die Mutter sowie die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft als „archaische Muttersymbole“ (ebd.). Sie seien durch Unzerstörbarkeit (ebd., 167) und die Beziehung zu ihnen durch „harmonische Verschränkung“ (ebd., 81) zwischen Ich und Umwelt charakterisiert. Wenn wir beispielsweise im Sommer am Strand liegen, dann schmiegt sich der Sand direkt an unserem Körper an, und wir können ihn formen, wie wir wollen, oder gar auf ihn einschlagen – er wird nicht zerstört. Ähnliches gilt für die Luft, welche wir atmen, die Sonne (Element Feuer), die unseren Körper bescheint, und das Wasser, das uns trägt, wenn wir in ihm schwimmen. Sofern die Mutter ein gutes Primärobjekt ist, dann wird sich das Kind einigermaßen gedeihlich entwickeln, doch falls sie es nicht ist, weil sie „zerstörbar“ erscheint, wenig belastbar ist und das Kind unzureichend versorgt, dann kann es zu Problemen auf der Ebene der Grundstörung kommen. Ähnlich verhält es sich mit den realen Elementen. Das Wasser nährt die Menschen (Flüssigkeitszufuhr, Fischfang etc.) und dient der Rekreation beim Baden, aber es kann auch zerstörerische Ausmaße annehmen, wenn Flüsse über die Ufer treten oder Sturmfluten Küsten und Inseln bedrohen (vgl. Böhme u. Böhme 2004, 261–298; H. Böhme 2000; Rieken 2005, 145–150; 247 f.; ders. 2007a; Stephan 2000). Es handelt sich dabei im wahrsten Sinn des Wortes um „elementare“ Beziehungen, und ähnlich wie die klassischen Elemente Segen und Fluch zugleich bedeuten können, kann es die Beziehung zu einem menschlichen Primärobjekt sein. Es erinnert uns an das Paradies, aus dem die Menschen vertrieben worden sind und nach dem sie sich immer wieder sehnen – vor allem dann, wenn es in der frühen Kindheit nicht in hinreichender Weise tragende Funktionen erfüllt hat. Kaum jemand hat diese elementaren Verhältnisse besser beschrieben als Michael Balint. Seine Überlegungen haben großen Einfluss auf die psychoanalytische „Technik“ gehabt – ein schrecklicher Begriff übrigens im Kontext des Zwischenmenschlichen, der indes nicht allein Distanz, sondern kompensatorisch auch Machbarkeit auf einem schwierigen Gebiet suggerieren soll. Bei Patienten mit Grundstörung versage nämlich, so Balint, oftmals die klassische Technik der Deutung, die vonseiten des psychoanalytischen „Zentralmassivs“ (Gysling 2009, 101) als schlechthinnige Me-
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2.5.2 Objektbeziehungstheorie
thode der Wahl propagiert wurde. „Freud war fordernd, aktiv, bedrängend, ein Bollwerk, an dem ich-starke Patienten sich messen und wachsen konnten“ (ebd., 83), während bei Patienten auf der Ebene der Grundstörung noch keine hinreichende Struktur vorhanden ist, um Deutungen überhaupt auszuhalten. In solchen Fällen müsse der Analytiker sich wie ein gutes Primärobjekt verhalten, er „darf nicht widerstreben, muss einwilligen, muss keinen Anlass zu starker Reibung geben, muss den Patienten für eine Weile annehmen und tragen, muss sich als mehr oder weniger unzerstörbar erweisen, muss nicht auf starren Grenzen bestehen, sondern muss die Entwicklung einer Art von Vermischung zwischen ihm und dem Patienten zulassen“ (Balint 1997a, 177). Symbolischer Ausdruck dieser „primitiven, arglosen Beziehung“ sei oftmals „irgendeine Form körperlichen Kontakts mit dem Analytiker, am häufigsten der Wunsch, seine Hand oder einen seiner Finger halten [. . . ] zu dürfen“ (ebd., 177 f.), wobei die Berührung „natürlich libidinös“ besetzt sei, aber „immer lebenswichtig für den Fortschritt der Behandlung“ (ebd., 178). Genauso wie Melanie Klein war Michael Balint ein Schüler Sandor Ferenczis, und allzumal haben sie sich mit Patienten befasst, die so schwer gestört waren, dass ihnen mit der üblichen Technik nicht beizukommen und es wichtig war, die Gegenübertragung genau zu beachten, um nicht zu sehr ins Agieren zu geraten und gleichzeitig in hinreichendem Ausmaß Empathie und Intuition zu entwickeln. Aus Sicht der kleinianischen Schule ist das unter anderem deswegen möglich, weil sich die Unterschiede zwischen Analytiker und Patient verwischen, indem jeder in seiner Entwicklung dem Pendeln zwischen den gleichen Positionen – paranoid-schizoid und depressiv – unterliegt (s. Gysling 2009, 185 f.). Daher gilt es, vor allem dann, wenn die projektive Identifikation am Werke ist, einen sensiblen Umgang mit den Patienten zu entwickeln (vgl. Ermann 2009a, 77 ff.). Ähnlich Balint: Auf der Ebene der Grundstörung muss man wie ein gutes Primärobjekt sein, denn Deutungen würden entweder als Angriffe oder als erregend und verführerisch missverstanden werden (Balint 1997a, 28). All das setzt Fingerspitzengefühl voraus, und das ist am ehesten dann vorhanden, wenn man trotz aller professionell notwendigen Distanz die Patienten schätzt und in gewisser Weise auch liebt. „Ohne Sympathie keine Heilung“, lautet der Titel des klinischen Tagebuches von Sandor Ferenczi (1999), und in ähnlicher Art geht David Mann, ein jüngerer Analytiker aus der britischen Schule der Objektbeziehungstheorie, davon aus, dass Psychotherapie „eine erotische Beziehung“ sei (Mann 1999). Johannes Cremerius bezeichnet diese Richtung der psychoanalytischen Technik als „mütterliche Liebestherapie“ (1990b, 208) bzw. als „Therapie der emotionalen Erfahrung“ (ebd., 190) und unterscheidet sie von der klassischen Haltung, welche er „Einsichtstherapie (ebd.) oder „paternistische Vernunfttherapie“ nennt (ebd., 208). Die individualpsychologisch-analytische Technik hat mit der erstgenannten Richtung mehr Berührungspunkte als mit der zweiten. Das legt zum einen das Konzept
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des Gemeinschaftsgefühls nahe, zum anderen das Postulat sozialer Gleichwertigkeit (vgl. Brunner u. Titze 1995, 459–462). Letzteres ist, ideengeschichtlich betrachtet, eine Folge der Aufklärungsphilosophie und findet ihren politischen Niederschlag als unveräußerliches Grundrecht in den Verfassungen westlicher Demokratien, zum Beispiel im Grundgesetz der BRD unter Artikel 3, dem Gleichheitsgrundsatz. 8 Für die therapeutische Situation bedeutet dies, die „Deutungshoheit“ des Analytikers zu relativieren, und, um es präziser zu fassen, „dass in dieser eigenartigen Begegnung, die eine Psychotherapie ist, jeder, der ein Menschenantlitz trägt, dem anderen gleicht, und dass Therapeut und Patient einander stets in Augenhöhe betrachten“, wie es Manès Sperber in Rainer Schmidts Lehrbuch der Individualpsychologie formuliert (Sperber 1989, 19; vgl. Rieken 2003a). Unterschiede existieren lediglich im höheren Fachwissen des Analytikers und darin, dass er mit der Gegenübertragung besser umgehen und weniger agieren sollte – aber dafür wird er letztlich auch bezahlt (vgl. Kap. 3.1.1 u. 3.1.2). Doch kehren wir wieder direkt zu Balint zurück, denn es gilt noch kurz eine andere Entdeckung von ihm zu streifen, die enge Bezüge zur Individualpsychologie aufweist und seinem bekannten Buch „Angstlust und Regression“ entnommen ist. Es geht um die Unterscheidung zwischen Oknophilen und Philobaten, das heißt zwischen denen, die nahe Bindungen meiden und „freundliche Weiten“ lieben, „deren Harmonie noch nicht durch irgendein Objekt gestört ist“ (Balint 1999, 64), sowie jenen, welche enge Bande wünschen und eine Tendenz zum Anklammern haben nebst einer Furcht vor Leerräumen (ebd., 22; 28–36). Beide Bindungstypen sind, so unterschiedlich sie sein mögen, mit der Ebene der Grundstörung verbunden. Der Oknophile klammert sich an ein gutes Primärobjekt, das keinerlei Ansprüche stellt, der Philobat findet es in den „freundlichen Weiten“ sowie in liebevoll und hilfsbereit erscheinenden Personen, kann sie aber sofort wieder verlassen, wenn sie sich ins Gegenteil zu verwandeln scheinen. „Während der Oknophile in der Illusion lebt, dass er, solange er in Berührung mit einem sicheren Objekt steht, auch selbst sicher ist, beruht die Illusion des Philobaten darauf, dass er außer seiner eigenen Ausrüstung keiner Objekte bedürfe [. . . ]. Der Oknophile vertraut darauf, dass sein Wahlobjekt auf ihn ‚einschnappen‘ und ihn gegen die leere, unvertraute und möglicherweise gefährliche Welt beschützen werde. Der Philobat hat das Gefühl, dass er mit seiner Ausrüstung gewiss mit jeder Situation fertig werden könne: Die Welt als Ganzes werde ‚einschnappen‘, und er werde wohl trügerische Objekte zu vermeiden wissen“ (ebd., 30). Bei beiden Typen hat Sicherheit einen hohen Stellenwert, beim Oknophilen in direkter, beim Philobaten in indirekter Weise, denn dieser gibt sie auf in der Gewissheit, dass er wieder unversehrt landen oder ankommen wird. Balint illustriert das 8
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“
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2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse
anschaulich am Beispiel von Jahrmarktslustbarkeiten (ebd., 17–22), dazu zählen etwa Fahrten mit der Achterbahn oder Geisterbahn. Hermann Argelander analysiert in einem ausführlichen Fallbericht einen typischen Philobaten, der als leidenschaftlicher Segelflieger „mit einem ganz diffusen Objekt elementarer Art“ verbunden ist (Argelander 1985, 26), und der Amerikanist Gerd Raeithel skizziert in einer psychohistorischen Studie die philobatische Komponente in der Mentalität der US-Bürger (Raeithel 1981). Diese ziehen signifikant häufiger um als die Angehörigen anderer Nationen, und sie zeigen eine auffällige Tendenz zur Eroberung „freundlicher Weiten“, etwa die Go-West-Mentalität in der Pionierzeit oder der Anspruch, die gesamte Welt mit den „Segnungen“ des American way of life zu beglücken. Andererseits müssen Amerikaner einander ständig das „I-love-You“ versichern und sind bestrebt, ihre Häuser – die oftmals wenig solide gebaut und keinesfalls für die „Ewigkeit“ bestimmt sind – mit Waffengewalt zu verteidigen. Daran zeigt sich indirekt ebenfalls die „Sicherungstendenz“, um ein Wort Alfred Adlers aufzugreifen (Adler 1933b, 68). Auf sie richtet die Individualpsychologie ihr Augenmerk in Sonderheit. Indem sie sich für die psychodynamisch geleitete Entwicklung der Seele auf ein Ziel hin interessiert, zeigt sich der Mensch „in einer dauernden Stimmungslage des Minderwertigkeitsgefühls, das stets unser Tun anspornt, um zu größerer Sicherheit zu gelangen“ (ebd.; eigene Hervorhebung, B. R.). Balint lokalisiert die möglichen Varianten derselben in zwei Persönlichkeitstypen, den Oknophilen und den Philobaten, doch sollte man sie, wie jede Typologie, cum grano salis nehmen, weil in der Regel Mischformen mit allerdings unterschiedlichen Akzentuierungen vorkommen. Von Erwin Wexberg stammt dazu das anschauliche Beispiel eines Kindes, dessen Angst als „charakteristische[r] Ausdruck“ seines Minderwertigkeitsgefühls, „geflissentlich gesteigert und ausgebaut wird, um aller Benefizien seiner Hilflosigkeit teilhaftig zu werden. Das Finale ist immer die ersehnte Anwesenheit der Eltern“, denn „bei der Mutter geborgen [zu] sein, bedeutet Sicherung des Persönlichkeitsgefühls“ (Wexberg 1987, 235). „Dass aber dasselbe Kind, allein auf der Straße, gar keine Angst vor den wirklichen Gefahren des Verkehrs hat, dass es auf dem Spielplatz und im Turnsaal sogar tollkühn und verwegen sein kann, ist weiter nicht erstaunlich: Auch bei diesen Gelegenheiten geht es um Sicherung und Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls; nur ist hier nicht Feigheit, sondern Tapferkeit das richtige Mittel zum Zweck“ (ebd., 235 f.). Fast könnte man geneigt sein zu glauben, Wexberg hätte bereits Balints Buch „Angstlust und Regression“ gekannt, doch dürfte der plausiblere Schluss lauten, dass die Sicherungstendenz ein ubiquitäres (s. u.) und darüber hinaus ein besonders ausgeprägtes Phänomen in den individualistischen Gesellschaften der europäischen Moderne ist. Das zeigt sich auch im Werk von Donald W. Winnicott, der, ähnlich wie es bei Balints Primärobjekt der Fall ist, den Fokus auf die „primäre Mütterlichkeit“ lenkt (2008, 139), die dazu diene, sich in das Kind einzufühlen und auf seine Bedürfnisse einzugehen (ebd.). Am wichtigsten sei dabei zunächst das „physische Halten“ als
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„Grundlage all der komplexeren Aspekte des Haltens und der Versorgung mit einer geeigneten Umwelt“ (2006, 69). Wenn die Mutter „hinreichend gut ist, wird der Säugling fähig, ihre Mängel durch geistig-seelische Aktivität auszugleichen“ (2008, 146). Dazu gehöre auch, dass die anfänglichen Gefühle der Verschmelzung mit der Mutter nach einiger Zeit einer Trennung zwischen Selbst und Nicht-Selbst wichen. Das sei ein schmerzhafter Prozess, und um diesen zu erleichtern, suche sich das Kind so genannte Übergangsobjekte, die in einen „intermediären Raum“ (2008, 258) zwischen Innen und Außen gehörten, der „zwischen dem Daumenlutschen und der Liebe zum Teddybär liegt, zwischen der oralen Autoerotik und der echten Objektbeziehung“ (ebd.). Diese Gegenstände ersetzten die abwesende Mutter, und „sie bilden Brücken zwischen dem Selbst und den Objekten der äußeren Realität“ (Ermann 2009a, 87). Wir gehen nicht fehl in der Annahme, dass Übergangsobjekte auch und insbesondere im Dienste der Sicherung stehen, um Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefert-Seins in Anbetracht des Trennungs-Erlebens Einhalt zu gebieten. Eine Analogie aus der Ethnologie sind die Übergangsriten, die als Erster und systematisch der Franzose Arnold van Gennep beschrieben hat (1999). Gemeint sind damit einerseits räumliche Übergänge (Jahreswechsel etc.), andererseits solche im Lebenszyklus, vor allem Geburt, Pubertät, Heirat und Tod. Sie weisen stets die gleiche dreigliedrige Struktur auf mit Ablösungsphase vom ursprünglichen Zustand, Umwandlungsphase sowie Integrationsphase, die in den neuen Zustand eingliedert (ebd., 21). Die Übergangsriten haben wie die Übergangsobjekte eine sichernde Funktion, denn sie dienen dazu, die Dynamik des sozialen Lebens nicht aus dem Ruder laufen zu lassen und gegenüber jenen Gefährdungen gewappnet zu sein, welche sich aus der Instabilität von Übergängen ergeben. Traditioneller Auffassung nach droht Gefahr vor allem vonseiten „der außenweltlichen Fremdeinwirkungen, etwa in Gestalt unheilstiftender Geistwesen, die während dieser ‚Phasenbrüche‘ ja ungehinderter als sonst Zugang zur diesseitigen Binnenwelt der Gruppe finden“ (K. E. Müller 1987, 106). Die ubiquitäre Verbreitung der Übergangsriten zeigt, dass der Mensch sich als ein gefährdetes Wesen erlebt, dem Ungemach von vielen Seiten droht. Aus ethnologischer Sicht bedarf er daher bestimmter Riten, die seine Ängste und Minderwertigkeitsgefühle verringern, und aus tiefenpsychologischer Perspektive benötigt er „hinreichend gute“ Objektbeziehungen, die es ihm ermöglichen, den primären Narzissmus zu überwinden, um sich in der Welt einigermaßen zurechtzufinden. Das machen die Arbeiten von Melanie Klein, Michael Balint und Donald W. Winnicott auf anschauliche Weise deutlich.
2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse Thomas Stephenson Beiden hier vorzustellenden Richtungen der Psychoanalyse ist vieles gemeinsam. Die Entscheidung, sie in einem Kapitel zu behandeln, wird auch durch die Tatsache gerechtfertigt, dass es eine Klammer gibt, die alle u. U. auch nicht vollständig konver-
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2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse
gierenden Konzeptionen dieser zwei Theoriengebäude zusammenhält: Intersubjektivität. Dieser von Atwood und Stolorov (1984) in den psychoanalytischen Diskurs eingeführte Terminus markiert die Grundannahme, dass „alle psychologischen Phänomene, einschließlich Entwicklungsprozessen, Pathogenese und psychoanalytischer Behandlung, innerhalb eines bestimmten psychologischen Feldes oder Systems, das durch das Zusammenspiel von unterschiedlich organisierten Erfahrungswelten gebildet wird“ (Stolorov u. Orange 2000, 327) erscheinen, sich in diesem Feld der Intersubjektivität bearbeiten und verändern lassen. Mittlerweile ist dieser Begriff der Intersubjektivität in sehr vielen Publikationen zu finden, und zwar sowohl in seiner „schwachen“, als auch in seiner „starken“ Version. In der „schwachen“ Version wird er zumeist eher unspezifisch zur Kennzeichnung der „Beziehungsdimension“ des therapeutischen Prozesses eingesetzt, ohne dass jene Konzepte, die sich auf Intersubjektivität als Paradigma und damit als Grundannahme ihres Theoriengebäudes beziehen, genannt oder auch nur implizit mitgedacht werden. In seiner „starken“ Version verweist er auf ein komplexes System von Annahmen 9 , auf denen ProtagonistInnen wie Peter Fonagy, Daniel Stern, Stephen Mitchell, Donna Orange, Jessica Benjamin, und andere maßgebliche AutorInnen, die größere Arbeiten zum psychoanalytischen Theoriengebäude beigesteuert haben, ihre einzelnen Aussagen beziehen 10 . (Zu den Formen der Intersubjektivität siehe die entsprechenden Ausführungen im Kapitel „Individualpsychologische Entwicklungstheorie“). Diese ineinander verschränkten Entwicklungsstränge innerhalb
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Diese Komplexität beinhaltet auch spezifische erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Problemstellungen: „Die „Gegenübertragung“ des Analytikers, die latente Resonanz der Identität des Analytikers auf die latenten Beziehungsmuster des Patienten, wurde erst in der Wende von der „Widerstands-„ zur „Übertragungsanalyse“ deutlicher. Damit verschob sich der Akzent von der Korrektheit der Detektivarbeit des Analytikers zur Fähigkeit, angemessen mitzuerleben und daraus die passenden begrifflichen und praktischen Schlüsse zu ziehen. Die von Freud postulierte Einheit von Erkennen und Heilen wurde dadurch komplizierter. Während Freud sozusagen nur die eine Seite eines Interaktionsprozesses als aktiv, die andere als passiv und reflexiv betrachtet hatte, erschienen nunmehr beide Seiten als aktive Teilnehmer der Interaktion. Mit dieser Einsicht ergaben sich völlig neue Stabilisierungs- und Begründungsprobleme. Denn wenn es stimmt, dass der Analytiker durch seine Persönlichkeit selektiv und konstitutiv auf die Interaktion einwirkt, läßt sich eine personenunabhängige Interaktionsstrategie nicht mehr ohne weiteres begründen. Darüber hinaus muss nunmehr damit gerechnet werden, daß jede Interaktion systematisch anders verläuft und dabei vom Therapeuten (mit-)gesteuert wird“ (Schülein 1999, 65, Hervorhebungen T. S.). Damit eröffnen sich auch neue Möglichkeiten des Diskurses um „Spielräume des Erlebens“ (Pflichthofer 2008) und „Wissen und Autorität in der psychoanalytischen Beziehung“ (Hardt u. Vaihinger 1999). 10 Auch außerhalb der Psychoanalyse wird dieser Begriff eingesetzt, aber nur selten als zentraler Begriff eines ganzen Theoriengebäudes, wie im Fall der von Hilarion Petzold gegründeten Integrativen Therapie (s. z. B. Rahm et al. 1999)
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der Psychoanalyse wurden schon früh in der Geschichte der Psychoanalyse von Persönlichkeiten wie beispielsweise William Ronald Dodds Fairbairn (1889–1964) gelegt, die dann sowohl bestimmten Entwicklungen in der Selbstpsychologie als auch in der relationalen Psychoanalyse als spezielle Variante des Intersubjektiven Ansatzes als Basis dienten. Entscheidend wie bei Fairbairn ist der paradigmatische Blickwechsel der Interpretation menschlicher Motivationslagen von den Trieben hin zu den Objektbeziehungen (Fairbairn 2007). 2.5.3.1 Selbstpsychologie Heinz Kohut (1913–1981 11 ), der Begründer der psychoanalytischen Selbstpsychologie, hatte Freud persönlich nur im Moment seiner Abreise in die Emigration am 4. Juni 1938 gesehen. Er emigrierte selbst ein knappes Jahr später, zuerst nach England, dann in die USA, wo er seine Ausbildungen in Psychiatrie und Psychoanalyse abschloss. Dort erhielt er auch seine zweite Analyse (die erste bei August Aichhorn in Wien) bei Ruth Eissler. Er war maßgeblich an einer Entwicklung in den 1950er Jahren beteiligt, die man als die „Wiederentdeckung der Einfühlung“ (Bolognini 2003, 46 ff.) bezeichnen könnte. In den 1960er Jahren wurde er dann Präsident der Chicagoer Psychoanalytischen Gesellschaft, der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung und Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft. Er war also einerseits etabliertes und hochrangiges Mitglied der psychoanalytischen Scientific Community, allerdings jener der „zweiten psychoanalytischen Generation“ (s. Kap. 1.3.3), die nicht mehr unter dem direkten persönlichen Einfluss Freuds herangewachsen waren. Andererseits war Kohut auch Revolutionär und „Abweichler“, da er Freud’sche Positionen, ähnlich wie Adler und Freud einige Jahrzehnte davor, an bestimmten zentralen Punkten veränderte. So sehr auch seine bahnbrechenden Arbeiten über den Narzissmus noch in Begriffen der klassischen Metapsychologie formuliert waren, so sehr war seine Betonung der Empathie als die einzig legitime Quelle von Informationen, die Ausgangspunkt aller analytischen Aktivitäten sein können, ein „Paradigmenwechsel von der Beobachtung zur Einfühlung“ (Pawlowsky 2000, 257). Der Terminus „Selbst“ korrespondiert in seiner Bedeutung sehr mit dem holistischen Ansatz Alfred Adlers, denn das Selbst ist – im Gegensatz zum „Ich“ im Freud’schen Instanzenmodell – nicht Teil der Persönlichkeit, sondern die Persönlichkeit in toto. Nur so lässt sich auch die zunächst seltsam anmutende Wortkonstruktion des „Selbstobjekts“ (anfangs noch als „Selbst-Objekt“ geschrieben) verstehen: Es ist jenes Objekt, das für die Entwicklung des Selbst unentbehrlich ist. „Kohut bereicherte die Psychoanalyse um eine kohärente Theorie der Selbstentwicklung und hob über11 Kohut war bis zum letzten Moment aktiv. Seinen sehr berührenden Vortrag über Empathie, den er vier Tage vor seinem Tod am 8.10.1981 hielt und in dem er über die verschiedenen Fehlinterpretationen seines Werks spricht, kann man unter dieser Internetadresse genießen: http://www. youtube.com/watch?v=ZQYhoKIU.
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2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse
dies hervor, dass Objektbeziehungen für ein gesundes Selbstwertgefühl unverzichtbar sind.“ (Fonagy u. Target 2006, 249) Kohuts Sichtweise auf die AnalytikerInnen als potentielle Selbstobjekte hat der intersubjektiven Sichtweise – und wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden – auch und vor allem der Relationalen Psychoanalyse diesbezüglich den Weg bereitet: „Um Patienten behandeln zu können, müssen wir akzeptieren, daß vieles, was von der klassischen Theorie als Übertragungsagieren oder Widerstand betrachtet wurde, in Wirklichkeit ein legitimes Bedürfnis zum Ausdruck bringt“ (ebd.). Ein „Selbstobjekt“ markiert „diejenige Dimension unseres Erlebens eines Mitmenschen, die mit dessen Funktion als Stütze unseres Selbst verbunden ist“ (Hartmann 2005, 528). In seinem ersten für seine weitere Arbeit an einer eigenständigen Theorie programmatischen Werk über Introspektion und Empathie (Kohut 1959) hielt er dem Freud’schen Lustprinzip bzw. dessen alleiniger Orientierung an der gelingenden oder missglückenden Befriedigung des Sexualtriebes und/oder des Aggressionstriebes ein anderes Grundbedürfnis entgegen, das in seiner Bedeutung erst in den kommenden Jahrzehnten ganz erfasst werden sollte: das Grundbedürfnis nach einem kohäsiven Selbstzustand, also nach dem Gefühl als Persönlichkeit ein zusammenhängendes, ungeteiltes Ganzes, eine gut strukturierter Gesamtheit ohne existentielle Brüche und Risse zu sein. Das Problem dabei ist: Wenn es immer schon da ist, muss es nicht angestrebt werden, ist auch nicht gefährdet. Kohut hat aus Adlers unveräußerlicher Tatsache, die integrativer Bestandteil der conditio humana ist, einen prekären Zustand gemacht, der immer wieder angestrebt werden muss, um dessen Kontinuität und Konstanz gekämpft werden muss, dessen Erreichung aber existentielle Notwendigkeit darstellt: „Selbstobjekterfahrungen sind . . . grundsätzlich wie die Luft zum Atmen lebenslang notwendig, um das Selbstgefühl aufrecht zu erhalten“ (ebd., 529). In diesem Sinn betont die Selbstpsychologie „die Wichtigkeit der emotionalen Spiegelung als Strategie, die psychischen Strukturaufbau fördert“ (Sassenfeld 2010, 84). Kohut stellt (in Analogie zur Adler’schen Betonung des Minderwertigkeitsgefühls und dessen Kompensation, die er der Freud’schen Getriebenheit des Menschen durch libidinöse Triebenergien entgegenhielt) der Triebregulierung die Selbstregulierung als zweiten großen Bereich zur Seite, für dessen Gelingen der Mensch ständig Sorge tragen muss. Für die Individualpsychologie stellt das eine essentielle Erweiterung der auf der Basis des Minderwertigkeitsgefühls entstehenden Motivationsstruktur der Selbstwertregulierung durch Kompensation von (gefühltem) Minderwertigkeitsgefühl dar: Der Mensch kämpft nicht nur gegen das Gefühl, selbst minderwertig zu sein, sondern auch gegen das Gefühl, die Kohäsion seines Selbst zu verlieren. Dabei unterscheidet den „normal“ und den „neurotisch“, „psychotisch“ oder anders (s. Kap. 2.2.3) strukturierten Menschen nur der „Folgezustand“ der jeweiligen „Vollform 12 “ dieser Aktivitäten: das Selbstgefühl wird dann entweder als „stabil
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im Hintergrund“ („normal“), als „nur auf Umwegen, mit hohen Kosten und prekär bleibend“ („neurotisch“) oder als „im Widerspiegeln der zerbrochenen Kohäsion steckenbleibend“ (Borderline, Psychose) erlebt. Kohuts Paradigma lässt auch die analytische Situation und die in ihr eingebetteten Phänomene von Übertragung und Gegenübertragung in einem Licht erscheinen, dass individualpsychologische Färbungen aufweist: „Wenn der Erwachsene die selbststützende Wirkung eines reif gewählten Selbstobjekts erlebt, hallen unbewusst die Selbst-Objekt-Erfahrungen aller vorhergehenden Stadien seines Lebens wider“ (Kohut 1987, 81). Die dabei in der Übertragung aktivierten Bedürfnisse umfassen nach Kohut sowohl das Bedürfnis nach Spiegelung, nach Idealisierung und das Bedürfnis nach Gleichheit und Zugehörigkeit (vgl. Kohut 1977). Gerade in letzterem ist die Parallelität zu Adlers Streben nach sozialer Gleichwertigkeit und dem Gemeinschaftsgefühl nicht mehr zu übersehen. 2.5.3.2 Relationale Psychoanalyse Stephen Mitchell war „der führende Kopf“ (Altmeyer u. Thomä 2006, 6) und gemeinsam mit Lewis Aron und Jessica Benjamin Begründer dessen, was mittlerweile unter dem Begriff „Relationale Psychoanalyse“ bekannt geworden ist und durch Institutionalisierungen und entsprechende Publikations- und Kongresstätigkeiten Eigenständigkeit in der Diskurslandschaft der Psychoanalyse erreicht hat. Er hat durch seine reiche und international breit rezipierte Publikationstätigkeit auf der Basis eines umfassenden Wissens um die Geschichte der Psychoanalyse mannigfaltige Weiterentwicklungen psychoanalytischer Theoriebildungen vorangetrieben und galt als „eine der besten Kenner der psychoanalytischen Theorie in ihren traditionellen und modernen Varianten, und das bedeutet auch, er kannte deren Probleme in großer Genauigkeit“ (Buchholz 2003c, 7). Der Paradigmenwechsel 13 , der auf die genau herausgearbeiteten Probleme der Psychoanalyse für die Gruppe um Stephen Mitchell hin notwendig erschien und der in den Grundannahmen der Relationalen Psychoanalyse gegenüber frühen Freud’schen Positionen enthalten ist, basiert auf dem gleichen Perspektivenwechsel, der auch der Intersubjektivität zugrunde liegt, nämlich in der radikalen Abgrenzung von einer Position, in der „das Seelenleben als etwas verstanden [wird], das aus der monadischen Psyche des Einzelnen auftaucht und sich erst sekundär in Beziehungen mit anderen hineinziehen lässt“ (Mitchell 2003, 24). Intersubjektivität, Interpersona12 Weder der „normale“, noch der „neurotische“ oder „psychotische“ Mensch zeigt 86 400 Sekunden am Tag die „Vollform“ dieser drei Zustandsmöglichkeiten, sondern hält sich unterschiedlich lang und unterschiedlich intensiv in Zuständen auf, die dann jeweils diese Zustandsbeschreibungen provozieren. 13 Eine hervorragende Darstellung der Entwicklung des relationalen Ansatzes von 1946–2000, also von der „gemeinsamen psychotherapeutischen Sprache“ Harry Stack Sullivans zur relationalen Psychoanalyse Stephen Mitchells gibt Marco Conci (Conci 2005), der in verdienstvoller Weise die Bedeutung Sullivans für diesen Ansatz rekonstruiert.
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2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse
lität und Relationalität haben in diesem radikalen Umdenken hin zu einer Sicht auf die analytische Situation, in der alle Phänomene „in Kooperation“ entstehen, weil die Psyche in ihrer Anlage und daher auch in allen ihren konkreten Äußerungsformen dialogisch angelegt ist unmittelbar von Kohuts Arbeiten profitiert 14 , denn dieser „. . . machte Ernst mit der Idee, dass Patienten ihrerseits ihre Therapeuten beobachten, also auf sie reagieren und dass das, was Patienten sagen, nicht nur als Emanation ihres Unbewussten, sondern als aktuelle Verarbeitung einer soeben stattfindenden Interaktion aufzufassen sei“ (Buchholz 2005, 628). Mit folgenden Worten charakterisiert Mitchell wohl am prägnantesten die Tradition jener Strömung innerhalb der Psychoanalyse, die als relationale oder intersubjektive bezeichnet wird: „Im Zentrum [. . . ] steht die Authentizität des Analytikers bei der Teilnahme am Prozess des Patienten. [. . . ] Der Patient kämpft darum, den Analytiker als Person (sowie als Sachkundigen) zu finden, ihn kennen zu lernen und zu ihm in Verbindung zu treten, und der Analytiker wird von den Bemühungen des Patienten unvermeidlich berührt, bewegt, verängstigt und in vielerlei Hinsicht betroffen. . . . Wenn der Analytiker etwas intensiv empfindet und er das Empfundene nicht als einen Aspekt seiner eigenen neurotischen Reste erkennt, sieht er dieses Erlebnis als wahrscheinlich für das Problem des Patienten aufschlussreich an und als etwas, das es wert ist, von ihm und dem Patienten gemeinsam untersucht zu werden“ (Mitchell 2005, 333). Die Chance eines solchen „mutual surrender“ als einer legitimen Grundhaltung einer psychoanalytischen Individualpsychologie liegt in einer reifen reflexionsgeleiteten Transformation der Affektkontrolle. Eine solche kann nur erreicht werden durch das intensive Erleben des Klienten bzw. der Klientin, dass im Hier und Jetzt eine gegenseitige erfolgreiche Hingabe an die sich im gemeinsam gestalteten Beziehungsraum entfaltende spezielle Dynamik stattfindet. Erst dadurch verlieren am Ende eines zugegeben langen und alle Ressourcen fordernden Weges neurotische Mechanismen ihren Zweck und ihre Notwendigkeit. Stephen Mitchell sieht „surrender of the analyst to a deep emotional engagement with the patient as a precondition to effective treatment“ (Mitchell 1983, 128). Karen Maroda drückt es noch deutlicher aus, wenn sie meint: “We have to recognize that both analyst and patient are essentially trying to do the same thing, namely, break down each other’s defenses [. . . ] if we speak of mutuality 14 Besonders prominente Vertreterinnen des intersubjektiven Ansatzes entstammen der Tradition der Selbstpsychologie, allen voran Donna Orange, Robert Stolorov und George Atwood.
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in the sense of mutual emotional giving over or surrender, the analyst need not to do more than reveal his emotional reactions to the patient in the moment [. . . ] the heart of the therapeutic exchange lies in the mutual expression of deep feeling, and in the experience of shared vulnerability – not in the accumulation of personal informations” (Maroda 1999, 28; eigene Hervorhebung, T. S.). Und sie zeigt auch ganz klar auf, inwiefern die übliche Kritik dieser Vorgangsweise an der Sache vorbeigeht bzw. auf sich selbst zurückfällt: “Mutual emotional surrender, which involves respecting and expressing the analyst’s feelings as well as the patient’s, is not what leads to boundary violations. Rather it is the denial of strong feelings and vulnerabilities, the inappropriate disclosure of personal information, and the masochistic submission that leads to boundary violations [. . . ] the therapist’s resistance to the experience of surrender results in perversions of surrender, for example, pacification, masochistic submission, sadism, inappropriate self-disclosure, and/or sexual boundary violations. [. . . ] Mutual surrender is not the same as mutual analysis 15 [. . . ]. Rather, mutual surrender constitutes an emotional opening up, a falling away of the analyst’s resistance to being known by the patient in the deepest way possible14” (ebd., 58; eigene Hervorhebung, T. S.). Die „Selfdisclosure“ (s. Kap. 3.1.3) von AnalytikerInnen ist eben nicht nur „SelbstOffenbarung“ sondern „dis-closure“, also sowohl ein Sich-nicht-(mehr)-Verschließen als auch das wörtlich genommene „Ent-schließen“: es bedarf eines ganz bestimmten Entschlusses, „gemeinsam auf Sinnsuche [zu] gehen“ (Orange, 13), sich als Analytiker bzw. Analytikerin in einer unverbrüchlichen Verbundenheit mit dem Gegenüber zu verstehen und sich in diesen gemeinsamen Zwischenraum hinein zu öffnen 16 –, und zwar in der Vermittlung jener Resonanz, die wohl inmitten der eigenen Dynamik angesiedelt bleibt, aber dennoch als Gegenübertragung durch die Teilhabe am
15 Hier spielt die Autorin auf das Experiment Sandor Ferenczis an, in dem er sich auf die Couch legte und seine PatientInnen zu seinen „AnalytikerInnen“ machte, um so die von ihm geforderte „gegenseitige Analyse“ zu betreiben. 16 Die von Mitchell und Maroda hervorgehobene Bedeutung der Hingabe des Analytikers hat in der Psychoanalyse schon in den 1940er Jahren eine Reihe von bekannten Vorläufern wie Sandor Ferenczi und Michael Balint (s. d. a. Haynal 2000), aber auch weniger bekannte Vorläufer wie Harry Guntrip (s. Sutherland 2010) oder Leo Berman, den in neuester Zeit erst Andrea Gysling wieder hervorgehoben hat, indem sie zeigt, dass für Berman die „restlose Hingabe des Analytikers [. . . ] das wichtigste therapeutische Agens“ (Gysling 2009, 168) ist.
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2.5.3 Selbstpsychologie und Relationale Psychoanalyse
gemeinsam eröffneten, gemeinsam bearbeiteten und gemeinsam „verwalteten“ Zwischenraum 17 entstanden ist. 2.5.3.3 Die Rolle von Selbstpsychologie und Relationaler Psychoanalyse für eine Psychoanalytische Individualpsychologie Die Meinungen darüber, welche Richtungen innerhalb der Psychoanalyse für die Individualpsychologie legitimer Bezugsrahmen sein können und dürfen, gehen bei individualpsychologischen AutorInnen teilweise weit auseinander 18 . Dabei kann schon der Ausgangspunkt einer solchen Einschätzung (die nicht selten den diskurshemmenden Charakter eines apodiktischen Urteils hat), nämlich die „Kartographie“ der psychoanalytischen Theorielandschaft in eine diskrete Anzahl von „Richtungen“, sowohl innerhalb der Psychoanalyse als auch in ihrer Rezeption in der Individualpsychologie keineswegs als konsensuell bezeichnet werden. So stellt z. B. Margot Matschiner-Zollner die These auf, dass „aus diversen Publikationen“ hervorgehe, dass nur zwei aus sieben psychoanalytischen Richtungen, nämlich die Selbstpsychologie und die Objektbeziehungstheorien als für die Individualpsychologie fruchtbar bezeichnet werden können (Matschiner-Zollner 2005). Peter Gasser-Steiner sieht mehr Differenzierungsmöglichkeiten und zieht andere Schlussfolgerungen: Individualpsychologie könne sowohl als Narzissmustheorie gelesen werden, ebenso als Selbstregulationstheorie gesehen und drittens aus der intersubjektiven Perspektive betrachtet werden. (Gasser-Steiner 2005). Diese Gegenüberstellung, die nur als ein (allerdings bezeichnendes) Beispiel unter vielen im individualpsychologischen Identitäts-Diskurs 19 gelten kann, kennzeichnet indirekt auch einen Unterschied innerhalb der deutschsprachigen Individualpsychologie, und zwar einen, der bis vor kurzem auch für die geographische Unterscheidung zwischen „österreichischer“ und „deutscher“ Individualpsychologie galt: wesentliche Bereiche der Beiträge österreichischer AutorInnen und Autoren zu den beiden Publikationsorganen der deutschsprachigen Individualpsychologie (das Periodikum „Zeitschrift für Individualpsychologie“ und die Schriftenreihe „Beiträge zur Individualpsychologie“) haben einen „freudianisch-kleinianischen“ Hintergrund, der tatsächlich nur schwer mit einer intersubjektiven oder gar 20 relationalen Sichtweise kompatibel erscheint, wie man 17 Dass diese „Offenbarung“ auch einen direkten Bezug zu dem in den Big Four erbrachten Erkenntnisse über die notwendigen Bedingungen zur Erlangung der sozial überlebensnotwendigen Fähigkeit zur Mentalisierung aufweist, wird zunehmend diskutiert, z. B. in der Verbindung von „Mentalisierung und Transparenz“ (König 2005, 144). 18 Zu diesem „legitimen Bezugsrahmen“ siehe auch das Kap. 3.4 „Die Frage der Orthodoxie in den Behandlungstechniken einer Psychoanalytischen Individualpsychologie“. 19 Dieser Identitätsdiskurs ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass es eine „Dauerübung“ für die Individualpsychologie zu sein scheint, sich im Tiefenpsychologie-Diskurs bezüglich „Nähe und Distanz zu den psychoanalytischen Strömungen“ (Gasser-Steiner 2011, 61) zu positionieren. 20 In diesem Kapitel wird an mehreren Stellen unterschieden zwischen „intersubjektiver“, „interpersonaler“ und „relationaler“ Sichtweise. Die Unterschiede sind teilweise subtiler Natur und können
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noch vor wenigen Jahren am „Rieken-Diskurs“ überdeutlich sehen konnte (vgl. Stephenson 2011a und 2011b). Auf der anderen Seite kommen die immerhin sechzehn AutorInnen des aktuellen Bandes 36 der Beiträge zur Individualpsychologie aus verschiedenen Adler-Instituten Deutschlandes, österreichische AutorInnen finden sich hier keine. Das hängt wohl auch mit dem Titel diese Bandes zusammen: „Intersubjektivität oder Robinson Crusoe“. Der Mainstream der vom ÖVIP vertretenen Linie spart im Gegensatz zu Deutschland die intersubjektive und ganz besonders die relationale Sichtweise aus. Seit der Etablierung einer neuen Gruppe von IndividualpsychologInnen an der Sigmund-Freud-Privatuniversität hat sich dieser Befund aber deutlich geändert. Nun finden wir auch in der österreichischen Individualpsychologie Brückenschläge wie bei Peter Gasser-Steiner, wenn er zunächst eine Kurzfassung des state of the art kommunikationstheoretischen Wissens und aller in der Enactment-Forschung erarbeiteten Erkenntnisse gibt: „Das szenische Geschehen zwischen Klient und Therapeut wird als Handlungsdialog aufgefasst, in dem der Therapeut mit allem, was er tut, zu einer gemeinsamen Inszenierung beiträgt“ (Gasser-Steiner 2005, 187; eigene Hervorhebung, T. S.) und dann mit Bezug auf Stephen Mitchell die Rolle des Analytikers bzw. der Analytikerin als spezifischer Teil in der Inszenierung einer konstruktiven analytischen Situation darin sieht, dass dieser Teil „sich damit befasst, die Gefühle auf beiden Seiten der Beziehung zum Nutzen der analytischen Arbeit zu verwenden – für konstruktive Einsichten, die Wachstum und Entwicklung fördern“ (ebd., S. 189). Eine diesbezüglich radikalere Formulierung durch direkte und tiefgehende und weitreichende Verbindung zwischen individualpsychologischen und relationalen Paradigmen findet sich dann (in Anlehnung an die hier am Beginn des Kapitels zitierte Bestimmung der relationalen Grundhaltung durch Stephen Mitchell) in einem zeitnahe erschienenen individualpsychologischen Sammelband: „Wenn sich • in der Innenwelt von individualpsychologischen AnalytikerInnen während der Analyse Prozesse ereignen, in denen sie • in ihren dabei auftauchenden Wünschen, Gedanken, Gefühlen, Ängsten etc. analyserelevante Gegenübertragungsaspekte erkennen, und wenn individualpsychologische AnalytikerInnen • im expliziten Einbringen dieser Inhalte in den gemeinsamen Dialog und damit in den Wirkungsraum der Analyse
an dieser Stelle nicht ausreichend dargestellt werden. Als grobe Richtlinie kann bei der Prüfung eines diesbezüglich in Frage stehenden Textes dienen, ob dieser mehr das Feld fokussiert, das sich zwischen den Subjekten als Akteuren („Intersubjektivität“) bzw. zwischen den vielschichtigen und komplex organsierten Persönlichkeiten („Interpersonalität“) eröffnet, oder ob das Schwergewicht der Ausführungen auf dem „mutual surrender“, der bedingungslosen Hingabe an den gemeinsam gestalteten Prozess und auf dem tiefen Eintauchen in den gemeinsam eröffneten potentiellen Transformationsraum („Relationalität“) liegt.
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• konkrete Möglichkeiten sehen, die sich dem Fortgang des analytischen Prozesses und der persönlichen Weiterentwicklung der AnalysandInnen innerhalb der Analyse bieten, dann weist • dieses Einbringen entscheidende Merkmale des von Alfred Adler postulierten • „sozial Nützlichen“ als zentrales Bestimmungsmerkmal des Gemeinschaftsgefühls auf und ist somit • als legitimes individualpsychologisches Analyseinstrument zu betrachten.“ (Stephenson 2011b, 80). Stephen Mitchell selbst sah Alfred Adler als den ersten „interpersonellen Psychoanalytiker“ als er feststellte: „In the first, Freud charges that Adler has substituted an interpersonal motive for an instinctional one“ (Greenberg und Mitchell 1983, 51), und dies an anderer Stelle noch einmal verdeutlichte: “The early writings of both Adler and Jung, before they embarked on their unique theoretical paths, strikingly resemble the contributions of recent relational/structure model theorists. Adler emphasized the role of the interactions that characterize the relationships” (ebd., 50). In Deutschland hatte ja nicht nur Günter Heisterkamp Intersubjektivität systematisch in individualpsychologisches Denken eingearbeitet, sondern speziell auch Petra Heisterkamp 1996 aufgezeigt, dass relationales Denken und „die intersubjektive Perspektive“ zutiefst im Adler’schen Denken verankert sind und damit ein Ausgangspunkt für eine spezifische individualpsychologische Variante von Relationalität und Intersubjektivität immer schon gegeben war und ist 21 . In der Publikationslandschaft der Individualpsychologie finden sich neben einigen kleineren Arbeiten, in denen Intersubjektivität und Relationalität explizit erst in den letzten Jahren und dann meist nur randständig vorkommt (z. B. Penning 2008, Binder-Klinsing 2009) nur selten Stellen, die eine Auseinandersetzung mit dieser im Diskurs der Psychoanalyse immer wirkmächtiger werdenden Richtung versuchen, und wenn, dann in Verbindung mit Heisterkamps Ansatz: „Sie [die Relationalität; Anm. T. S.] findet sich in Heisterkamps Dialektik und ist ein Phänomen des adlerianischen Gemeinschaftsgefühls. Treffend drücken dies die modernen Selbstpsychologen, die Relationalisten aus, die das Unbewusste als die rätselhafte Anwesenheit des Anderen im eigenen Inneren beschreiben. Andreas Tapken weist in seiner Auseinandersetzung mit Kohut und Edith Stein darauf hin, dass das Unbewusste hier relational strukturiert zu sehen sei“ (Schramm-Geiger 2006, S. 71). 21 In der psychoanalytischen Diskurslandschaft gibt es einige Ausformungen theoretischen und behandlungstechnischen psychoanalytischen Wissens, die mit dem Adler’schen „Sinn des Lebens“ in einer relationalen Perspektive korrespondieren, so v. a. Irvin Yaloms Existentielle Psychotherapie (Yalom 2005).
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Im Jahre 2007 erschien dann das Lehrbuch „Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie.“, in dem sich die Autoren Peter Geißler und Günter Heisterkamp auf weiten Strecken explizit und ausführlich auf dem Gebiet der Intersubjektivität bewegen. Ein Lehrbuch „Relationale Individualpsychologie“ steht allerdings noch aus.
2.5.4 Feministische Psychoanalyse Thomas Stephenson Kaum ein menschliches Phänomen erregt die Gemüter so, wie es der „Kampf der Geschlechter“ tut. Sei es in vordergründiger und massiv-manifester Form wie im heiß umfehdeten Thema „Rechte der Frauen“ in den Bereichen Beruf, Politik, Familie, sei es in „Graubereichen“ emanzipatorischen Bemühens wie beim geschlechtergerechten Formulieren (das bei genauerer Betrachtung das gleiche Thema „im Druckformat“ darstellt). Beide Bereiche bieten Absurdes zuhauf: Warum sollten zwei Menschen gleicher Kompetenz und Ausbildung für gleiche erbrachte Leistungen unterschiedliche finanzielle Abgeltungen bekommen, nur weil sie nicht dasselbe Geschlecht haben? Und doch geschieht es. Und warum sollte man – ohne sich auf geistige Verwirrtheit ausreden zu können – Geschlechterbezeichnungen durcheinander würfeln? Und doch geschieht es – interessanterweise allerdings nur in eine Richtung! Oder haben Sie schon mal in einem Text „Herr Lehrerin“ oder „Herr Bürgermeisterin“ gelesen? Sicher nicht, während Ihnen ein „Frau Lehrer“ oder „Frau Bürgermeister“ wahrscheinlich schon gar nicht mehr auffällt. Und doch ist beides von einem rationallogischen Standpunkt gleich absurd. Dass es hier nicht nur – nicht einmal hauptsächlich – um logisch-rationale Aspekte geht, sondern dass sich gerade in diesem Thema immer wieder aufs Neue „Ambivalenz und Konflikt, Mehrdeutigkeit und Paradoxie“ (s. Kap. 2.1.4) vom Urgrund des Unbewussten hinauf in die bewusste Oberfläche der Symptomatik drängen, müsste gerade der Psychoanalyse differenziert und in tiefer und nachhaltiger Weise zugänglich sein. Insbesondere da in ihr der Diskurs über die Weiblichkeit und ihre Rolle in unbewussten Dynamiken von Anfang an breitesten Raum sowohl in der psychoanalytischen Theoriebildung, als auch in der psychoanalytischen Praxisgestaltung eingenommen hat. Trotzdem dauerte es bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, bis „die allgemeine Höherbewertung des Männlichen und damit einhergehend die Sicht der Frau als kastriertes Mängelwesen“ (Kruse 2009, 4) Feministinnen dazu brachte, die Psychoanalyse Sigmund Freuds in diesem Punkt einer tiefgreifenden Kritik zu unterziehen. Davor war aber schon aus den Reihen der Psychoanalytikerinnen immer wieder Kritisches in den psychoanalytischen Diskurs eingebracht worden. Schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hielt Karen Horney dem von Freud postulierten Penisneid der Frau (den sie soziokulturell erklärte) den Gebärneid der Männer entgegen. Auch Melanie Klein, Helene Deutsch und einige andere Protagonis-
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2.5.4 Feministische Psychoanalyse
tinnen des Weiblichkeitsdiskurses lieferten entsprechende kritische Beiträge. Die inhaltliche Diskussion der zwanziger und dreißiger Jahre flaute dann allerdings wieder ab und kam erst wieder in den 60er und 70er Jahren in Gang, dann allerdings mit der Tendenz, „den einst so kontroversen Gegenstand nun nicht mehr inhaltlich, sondern v. a. in seinem kulturhistorischen Zusammenhang zu diskutieren“ (Rohde-Dachser 2003, 8). Der Erfolg dieser erneut aufflammenden Diskurse war jedenfalls, dass einige der anachronistischsten Positionen Sigmund Freuds definitiv obsolet geworden sind, wie jene, die Frau müsse die Klitoris als erogene Zone zugunsten der Vagina als erogene Zone aufgeben, die Erklärung vorgeblicher weiblicher Charakterdefizite durch den Penisneid, oder die These von der „Primären Männlichkeit“ (die auf der gleichen Linie wie Adlers Postulierung des „männlichen Protests“ liegt). Andere Freudsche zentrale Konzeptionen, die in direktem Zusammenhang mit der Diskursivierung von Weiblichkeit aus psychoanalytischer Perspektive verbunden sind, erleben „überarbeitete Neuauflagen“, wie jene des Ödipuskomplexes (s. Schäfer 2005, Blank-Knaut 2005, Putz-Meinhardt 2005). Im Jahre 1996 konnten Margarete Mitscherlich und Christa Rohde-Dachser dann feststellen: „Wo Freud noch im Penisneid und der damit verknüpften Hinwendung des Mädchens zum Vater den Angelpunkt der weiblichen Entwicklung sah, wird heute die Rolle des Loslösungs- und Individuationsprozesses für die Entwicklung der weiblichen Identität betont und der Einfluß insbesondere der Mutter auf die Entwicklung des Mädchens hervorgehoben“ (Mitscherlich u. Rohde-Dachser 1996, 7). Die verschiedenen „Detailerfolge“ in der Überwindung anachronistischer Positionen, wie sie oben angedeutet wurden, ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass Freuds Weiblichkeitstheorie „kein vom Ganzen der Psychoanalyse ablösbarer Teilbereich ist, dessen Grundpositionen konsequenzenlos abgewandelt oder aufgegeben werden könnten; vielmehr erweist sich diese als ein Prüfstein, an dem aufklärerischer Anspruch, innere Stimmigkeit und weiterwirkende methodologische und erkenntnistheoretische Interessen der Psychoanalyse gemessen werden können“ (Schlesier 1981, 11). In den individualpsychologischen Publikationen der letzten zwanzig Jahre (also seit der Einführung des Psychotherapiegesetzes in Österreich und damit der erhöhten Identitätsbildung als wissenschaftlich angeleitetes Fachspezifikum) finden sich vergleichsweise nur ganz wenige Arbeiten, die sich zumindest im weitesten Sinn dem Thema des Kapiteltitels dezidiert widmen (Roberts 1991, Groetschel 1991, Großmaß u. Schuch-Minssen 1992, Kummer 1992, Petra Heisterkamp 1992, Peters 1993, Schulze 1994, Wengler 1995, Hirtz u. Radtke 1996, Minssen 1997, Ulrike Lehmkuhl 2001, Uhde 2002), in den letzten neun Jahren keine einzige mehr. Das ist verwunderlich,
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hat doch Adler, der für damalige Verhältnisse eine revolutionäre Gleichstellung von Mann und Frau intendierte, mit dem „männlichen Protest“ und dem Konzept der Minderwertigkeit und der Überkompensation nicht nur wie Freud Anlass, sondern auch Instrumentarium zu kritischer Reflexion des „Geschlechterkampfes“ aus weiblicher Sicht gegeben. Aber vielleicht wundert mich das ja nur als Mann, der naturgemäß diese Sicht nicht in der vollen Tiefe ausloten kann. Jedenfalls besteht immer noch ein Spannungsfeld im psychoanalytischen Diskurs, das sich zwischen zwei Extrempositionen aufspannt, wie sich an Christa RohdeDachsers Formulierungen zeigt: „Könnte es sein, daß die Kritik an der Psychoanalyse, mit der die Frauenbewegung einmal angetreten ist [. . . ] sich mittlerweile tatsächlich selbst überholt hat und jene wenigen versprengten Häuflein, die sie weiter auf ihre Fahnen schreiben, allenfalls für die Existenz jenes chronischen weiblichen Benachteiligungsgefühls Zeugnis ablegen, das auch schon für Freuds Penisneid Pate stand?“ (Rohde-Dachser 2003, 12). „Es sind insbesondere männliche Psychoanalytiker, die sich in dieser Weise äußern; die Frauen in der Profession sprechen, wenn auch nicht immer öffentlich, demgegenüber häufiger von ihrem Eindruck, die Diskussion der Geschlechterfrage innerhalb der Psychoanalyse habe noch gar nicht recht begonnen“ (ebd.). Die Zukunft des sich (auch) im Kampf der Geschlechter aufspannenden psychoanalytisch(-individualpsychologisch)en Diskurses bleibt offen, die Frage nach dem „weiblichen Protest“, von dem Rohde-Dachser in diesem Zusammenhang spricht, sollte aber von beiden Seiten mehr in den Blick genommen werden können. Das Adlerauge, das der männliche Gründer der Individualpsychologie auf den „männlichen Protest“ wirft, trägt ja schließlich schon in seiner Anlage die Möglichkeit in sich, den Gegenpol in die Überlegungen mit einzubeziehen: In der Individualpsychologie ist immer wieder die Rede davon, dass die im Machtstreben betriebenen Überkompensationen von tendenziös wahrgenommen vorgeblichen Minderwertigkeiten Kern der Neurose seien. Dabei ist das Neurotische letztlich ein Effekt des männlichen Protests, der sich ja gegen die durch Zuschreibung erzeugten Minderwertigkeitsgefühle richtet. Dann könnte ein „weiblicher Protest“ ja als eine „Gegenbewegung“ gegen jegliche Zuschreibung von Überlegenheit und Überwertigkeit (sei sie „männlich“ oder „weiblich“) gesehen werden und wäre bei humorvoller Betrachtung dann durchaus neurosenprophylaktisch angelegt. Jedenfalls wär er Basis für eine „sachgerechte und Behandlung von männlichen und weiblichen Wertungen“, wie sie nicht nur für ein tragfähiges Gemeinschaftsgefühl unabdingbar ist, sondern auch für eine anstelle des „Kampfes der Geschlechter“ anzustrebende „Kooperation der Geschlechter“.
3 Technik der individualpsychologischanalytischen Praxis 3.1 Die therapeutische Beziehung Bernd Rieken
3.1.1 „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ Übertragung und Gegenübertragung sind, genauso wie „Technik“, hässliche Worte im Kontext des Zwischenmenschlichen, aber wir verwenden sie wie alle anderen Analytiker auch, weil sie eingebürgert sind und es bisher keine Alternative zu ihnen gibt. Hässlich sind sie deswegen, weil es sich um Begriffe aus dem Bereich der Physik handelt, die auf etwas zutiefst Menschliches angewendet werden. Dennoch entbehren sie nicht einer gewissen Logik und Plausibilität, da das ursprüngliche Übertragungskonzept mit dem Wiederholungszwang rechnet, dem ein mechanistischdeterministisches Menschenbild zugrunde liegt, das trotz seiner Begrenztheit nicht ohne Berechtigung ist. Die Problematik lässt sich indes auch ein wenig poetischer formulieren, denn dazu brauchen wir uns nur den ersten Satz aus Heimito von Doderers Roman „Ein Mord, den jeder begeht“ anzuschauen, der folgendermaßen lautet: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will“ (Doderer 1986, 5). Wer in die ewig gleichen Fallen tappt, sich immer wieder Partnerinnen oder Partner vom gleichen problematischen Zuschnitt anlacht oder stets über wechselnde Vorgesetzte stolpert, an dem rinnt in der Tat besagter Eimer „ein ganzes Leben lang“ herunter. Und dann wäre es vielleicht angebracht, sich in die Rolle des Klienten zu begeben, um den Wiederholungszwang „zu bändigen und ihn zu einem Motiv fürs Erinnern umzuschaffen“ (Freud 1914g, 134). Wenn der Patient zumindest bereit sei, die „Existenzbedingungen der Behandlung“ zu akzeptieren, dann, so Freud weiter, „gelingt es uns regelmäßig, allen Symptomen der Krankheit eine neue Übertragungsbedeutung zu geben, seine gemeine Neurose durch eine Übertragungsneurose zu ersetzen, von der er durch die therapeutische Arbeit geheilt werden kann. Die Übertragung schafft so ein Zwischenreich zwischen der Krankheit und dem Leben, durch welches sich der Übergang von der Ersteren zum Letzteren vollzieht“ (ebd., 134 f.). B. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
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3.1 Die therapeutische Beziehung
Ähnlich sieht es Adler, wenn er schreibt, „dass ich von dem Patienten die gleiche Haltung – und immer wieder die gleiche Haltung – erwarte, die er, seinem Lebensplan gemäß, zu den Personen seiner früheren Umgebung, noch früher seiner Familie gegenüber, eingenommen hat. Im Augenblick der Vorstellung beim Arzt, oft noch früher, besteht beim Patienten die gleiche Gefühlskonstellation wie sonst belangreichen Personen gegenüber“ (Adler 1913a, 70). Für Adler wie für Freud ist das Verhalten ihrer Patienten zunächst vollständig festgelegt, allerdings aus unterschiedlicher Perspektive, denn Freud lenkt die Aufmerksamkeit auf kausale Determination, indem er vom Wiederholungszwang ausgeht, während Adler durch seinen Hinweis auf den „Lebensplan“ die finale Determination ins Visier nimmt. 1 Demnach haben wir im erwachsenen Leben gleichsam eine innere Bühne aufgebaut, auf der bedeutende Bezugspersonen aus unserer Kindheit die Fäden ziehen, indem sie die „Neuankömmlinge“ – das heißt die bis dahin fremden Personen – jeweils untereinander aufteilen und ihnen dergestalt festgelegte Rollen zuweisen. Der Wiederholungszwang steht individualpsychologisch formuliert im Dienste der Sicherung, und das aus wenigsten drei Gründen. Zum einen entspricht er „dem Drängen des menschlichen Verstandes, durch unreale Annahmen, Fiktionen das Chaotische, Fließende, nie zu Erfassende in feste Formen zu bannen, um es zu berechnen“ (Adler 1912a, 70). Adler nimmt dabei auf Vaihingers „Philosophie des Als Ob“ Bezug, und in dessen Sinn können wir den letzten Satz auch folgendermaßen formulieren: Wir „tun so, als ob“ wir die Realität angemessen erfassen, indem wir die Menschen, welche uns im späteren Leben begegnen, allzumal frühen Bezugspersonen zuordnen. Zum anderen ist die Kindheit trotz all der erlebten Unzulänglichkeiten und verschiedentlich zugefügten Traumata eine Zeit, die nur allzu gern in einem rosaroten Licht gesehen und zur „guten alten Zeit“ stilisiert wird (Rieken 2010e), zumal, um es mit Jean Paul zu formulieren, „die Erinnerung [. . . ] das einzige Paradies [ist], aus welchem wir nicht getrieben werden können“ (1932, 820). Daher handelt es sich trotz allem um eine Lebensphase, die uns anscheinend oder scheinbar Sicherheit, Zuversicht, Trost und Geborgenheit zu spenden vermag, weswegen wir uns unbewusst darum bemühen, neue Beziehungsmuster nach dem Vorbild der alten zu gestalten. Und zum Dritten ist diese Neigung oftmals mit einem mehr oder weniger utopischen Anspruch verbunden, genauer der Hoffnung, dass die im Banne der Wiederholung stehende Entscheidung für eine neue Person diesmal doch eine positivere Wende nehmen und zu einer besseren Beziehung führen möge oder man selber es schaffen könne, ihr eine Wendung ins Positive zu geben. 1
Vgl. zur kausalen und finalen Determination aus philosophischer Sicht Hartmann 1962, 664–675.
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Bedenkt man all dies, dann ist es verständlich, wenn Adler von der „Eintragung eines unwirklichen abstrakten Schemas in das wirkliche Leben“ (Adler 1912a, 71) spricht, das für „den Neurotiker, der nicht zur Wirklichkeit zurückfindet und an seine Fiktion glaubt“, genauso gelte wie für „den Gesunden, der es benützt, um ein reales Ziel zu erreichen“ (ebd.). Der Grund dafür, „sich solcher Kunstgriffe zu bedienen [. . . ] stammt aus dem Gefühl der Unsicherheit, ist die Tendenz der Sicherung, die in letzter Linie darauf abzielt, des Gefühls der Minderwertigkeit ledig zu werden, um sich zur vollen Höhe des Persönlichkeitsgefühls, zur ganzen Männlichkeit, zum Ideal des Oben-Seins aufzuschwingen“ (ebd.). Wenn also nach traditioneller Auffassung der Mensch im Banne des Wiederholungszwangs steht und er frühe Beziehungsmuster auch in die analytische Situation hineinträgt, dann entbehrt es nicht einer gewissen Logik, wenn der Therapeut als Individuum quasi verschwindet, damit sich die Übertragungsneurose möglichst ungehindert entfalten kann. Darum solle „der Arzt [. . . ] undurchsichtig für den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird“ (Freud 1912e, 384). Dementsprechend müsse „die analytische Kur [. . . ] in der Entbehrung“ (Freud 1915a, 313) bzw. „Abstinenz durchgeführt werden“ (ebd.), weswegen Freud seinen Kollegen empfiehlt, „sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen“ (Freud 1912e, 380 f.). Der Spiegel- und Chirurgenmetapher liegen therapeutische Erfahrungen Freuds zugrunde, zum einen, dass „von einer edlen Frau, die sich zu ihrer Leidenschaft bekennt, [. . . ] trotz Neurose und Widerstand ein unvergleichlicher Zauber“ ausgehe (1915a, 319; vgl. Krutzenbichler u. Essers 2002, 31–39), zum anderen unliebsame Erlebnisse mit seinen Schülern Ferenczi und Jung, die intime Beziehungen mit Patientinnen hatten (Krutzenbichler u. Essers 2002, 41–63). Darüber hinaus steht die Spiegel- und Chirurgenmetapher im Kontext der naturwissenschaftlichen Bemühungen Freuds, denen ein ähnlich mechanistisches Menschenbild zugrunde liegt wie der modernen Schulmedizin, welche von Karl Rothschuh als „iatrotechnisches Konzept“ bezeichnet worden ist (1978, 417). Gemäß dem klassischen Modell von Ursache und Wirkung stellt sich der Therapeut als Übertragungsobjekt zur Verfügung, um die Übertragung, welche hernach gedeutet wird, ungetrübt wirken zu lassen. Freud selber hielt sich an seine strikten Vorgaben allerdings nur bedingt, denn er „war in der Praxis bereits weiter als in der Theorie“ (Cremerius 1990c, 359), weil er „das knochentrockene Unperson-Ideal, das er gesetzt hatte [. . . ], täglich Lügen“
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3.1 Die therapeutische Beziehung
gestraft habe (Gysling 2009, 43). Dennoch hat er nachhaltig mit seinen rigiden Vorstellungen die psychoanalytische Technik bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus beeinflusst, auch wenn Autoren wie Ferenczi oder Balint sie bereits zuvor infrage gestellt hatten (s. Haynal 2000). Auf die Dauer wäre indes das Ideal des anonymen, sich streng zurücknehmenden Analytikers weder aus praktischen noch aus theoretischen Gründen haltbar gewesen. Zum einen überfordert es ihn, bar jeglicher Emotion zu erscheinen, zum anderen ist es nicht möglich, nicht zu beeinflussen, das legt bereits die systemtheoretische Perspektive nahe, welche stets mit Wechselwirkungen rechnet (vgl. Krieger 1998). Hinzukam 2 eine Neubewertung der Gegenübertragung, die nicht mehr als ein zu eliminierendes Übel angesehen oder als „Restneurose“ des Analytikers beklagt wurde, sondern als ein Phänomen, mit dem es verantwortungsvoll umzugehen gilt und in dem bedeutende Informationen über den Patienten enthalten sein können, was spätestens seit der Entdeckung der projektiven Identifikation durch Melanie Klein bekannt war. Die damit zusammenhängende Ausweitung der analytischen Behandlung in Richtung schwere Pathologie erforderte ohnehin teils alternative Behandlungskonzepte, weil sie statt des „SpiegelplattenIdeals“ verstärkte emotionale Zuwendung erforderlich machten, um den von Grund auf gestörten Patienten eine „korrigierende emotionale Erfahrung“ zu ermöglichen (Alexander 1950), ein „gutes Primärobjekt“ anzubieten (Balint 1997a) oder wichtige Funktionen des „Holding“ zu übernehmen (Winnicott 2006). Darüber hinaus erforderte die allmählich wachsende Erkenntnis, dass es in der Therapie nicht allein um die Reaktivierung von Beziehungsmodellen aus der Vergangenheit, sondern auch um die Aktivierung aktuell wirksamer Phantasien des Unbewussten im „Hier und Jetzt“ geht, eine verstärkte Beachtung der Gegenübertragung. Die Wiederholungsmuster verlaufen zwar auch und oftmals massiv, aber eben nicht ausschließlich in den alten Gleisen, da sie gleichzeitig mit der Hoffnung verbunden sind, dass es nun endlich „anders“ werden möge, eine Hoffnung, die nicht zur Gänze unberechtigt ist, wenn man sich auf die Couch legt. Aber genau das erfordert ein sensibles Verhalten aufseiten des Analytikers, weil er damit rechnen muss, dass Psychotherapie, um es mit David Mann zu formulieren, eine „erotische Beziehung“ wird, in die beide Seiten involviert sind (Mann 1999). Noch einen Schritt weiter geht der Intersubjektivismus, der im Gegensatz zur Objektbeziehungstheorie die Verbindung zwischen Patient und Therapeut nicht allein als Rahmen betrachtet, um Entwicklung zu ermöglichen, sondern als ein intersubjektives Feld, in welchem das Selbst sich konstituiert (s. Ermann 2010, 52 ff.). Phänomene wie Übertragung und Gegenübertragung sind „nicht einfach vorgegeben, sondern werden in der Begegnung im Hier und Jetzt als gemeinsames Werkstück erschaffen“ (ebd., 54).
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Vgl. zum Folgenden ausführlicher Bettighofer 2000; Bohleber 1999; Gysling 2009; Krutzenbichler u. Essers 2002; Kutter u. Müller 2008, 309–340; Rieken 2003a; Thomä u. Kächele 2006a, 61–118.
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Während der Intersubjektivismus als neues Paradigma von Psychoanalytikern verschiedener Schulen adaptiert wird, hat ihn Stephen A. Mitchell zur eigenen Richtung entwickelt und nennt sie relationale Psychoanalyse (Mitchell 2003; vgl. Kap. 2.5.3.2 u. 2.5.3.3). Im Zentrum seiner Theorie steht die Auffassung, dass die Wirklichkeit der Beziehung von Patient und Analytiker gemeinsam konstruiert wird (Mitchell 2005, 126; 182). Das bedeutet einen Verzicht auf „Wahrheit“ im naturwissenschaftlichen Sinn, wie sie bei Freud angelegt ist, der die Übertragungsneurose gewissermaßen in ihrer reinen Form zum „Blühen“ bringen wollte. Aber es impliziert genauso einen Verzicht auf perspektivische Wahrnehmung, wie sie bei Adler angelegt ist, der sich zwar auf die frühe konstruktivistische Theorie Hans Vaihingers beruft, jedoch postuliert, dass es Fiktionen gibt, die der Realität näher, und andere, die ihr weniger nahestehen, was für ihn ja den Unterschied zwischen seelischer Gesundheit und Krankheit ausmacht. Mitchell hält jedoch nicht viel von perspektivischer Wahrnehmung (2005, 126), obwohl diese in der Erkenntnistheorie seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (2005a) Plausibilität beansprucht und erst vor wenigen Jahren vom Germanisten Wilhelm Köller in seinem Opus magnum „Perspektivität und Sprache“ (2004) erneut mit überzeugenden Argumenten begründet worden ist. Am Konstruktivismus scheiden sich in der Psychoanalyse die Geister, genauer an der Frage, ob wir die Vergangenheit rekonstruieren oder konstruieren, ob wir sie finden oder erfinden. Mithilfe des Perspektivitäts-Postulats lässt sich diese Alternative indes entschärfen: Selbstverständlich können wir gar nicht anders, als die Vergangenheit zu konstruieren, wenn wir sie ex post betrachten, weil wir für eine „objektive“ Erkenntnis derselben die Quadratur des Kreises ermöglichen müssten, indem wir uns einerseits im Modus unmittelbaren Erlebens befinden und andererseits hinreichende Distanz zum Geschehenen entwickelt haben müssten. Aber zu fragen ist, ob man nicht doch Randbereiche und mitunter sogar zentrale Bereiche dessen, was gewesen ist, perspektivisch erfahren kann, vor allem, wenn man annimmt, dass altes „Material“ an die Oberfläche dringt, das die emotionale Situation in der Kindheit widerzuspiegeln vermag. Kutter und Müller beispielsweise bejahen diese Frage, indem sie sich nicht nur auf die Ergebnisse der Säuglingsforschung beziehen, sondern auch argumentieren, dass man mitunter durch historisches Material wie Fotos oder Dokumente die in der Analyse gefundene Vorstellung vom Vater oder der Mutter verifizieren könne (Kutter u. Müller 2008, 343). Dazu ein Beispiel aus dem eigenen Erfahrungsbereich: Als es in meiner Lehranalyse einmal um die Angst vor Autoritäten ging, glaubte ich mich daran zu erinnern, dass mein Vater als Tierarzt bei Schweinen des Öfteren einen Hoden aus der Bauchdecke zu entfernen pflegte. Meine Lehranalytikerin, eine ältere Dame aus dem Wiener Großbürgertum und mit reichlicher Autorität ausgestattet, erwiderte, dass das unmöglich sei und es sich daher um eine Frucht meiner Phantasie handeln müsse. Unsicher geworden, rief ich meinen Vater an, dem ich das Ganze schilderte, doch er antwortete, dass ich meiner Lehranalytikerin schöne Grüße ausrichten, ihr indes sagen möge, dass sie in diesem Fall fehlgehe,
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weil es zu den Routinegeschäften eines Tierarztes zähle, so genannte Binneneber 3 zu kastrieren. Das analytische Geschehen führte in diesem Fall also nicht in die Irre und beruhte nicht auf Konstruktion, sondern ließ seinen realen Kern verifizieren. Meine Lehranalytikerin nahm dann zwar die Information meines Vaters mit einigem Erstaunen zur Kenntnis, und wir konnten die Autoritätsproblematik, welche sich mit ihm verband, weiter problematisieren, doch die Frage, was diese Episode nun mit dem „Hier rund Jetzt“ der analytischen Situation – mit ihrer Autorität – zu tun hatte, blieb unbeleuchtet. An sich wäre das naheliegend gewesen, zumal sie die Generalsekretärin des Vereins war und als ältere, gepflegte Dame aus „gutem Hause“ sich zwar nie in den Vordergrund spielte, aber eine Ausstrahlungskraft hatte, die dezenten, aber nachhaltigen Einfluss ausübte. Indes befand ich mich in einer Phase positiver Übertragung und war froh, in ihr ein zuverlässiges Primärobjekt gefunden zu haben, das ich zunächst nicht infrage stellen wollte. Damit können wir bereits zum nächsten Kapitel überleiten, in dem es um ein genuin individualpsychologisches Anliegen geht.
3.1.2 Machtgefälle und soziale Gleichwertigkeit Bereits die archaischen Vorgänger der Psychotherapeuten, die Schamanen, waren mit hohem Ansehen und einem außergewöhnlichen Charisma ausgestattet, war es doch ihre Aufgabe, „die Unzulänglichkeiten der Schöpfung auszugleichen“ (K. E. Müller 2006, 96). Entsprechendes gilt cum grano salis auch für Analytiker, zu deren Obliegenheit es zählt, „die Unzulänglichkeiten der Erziehung auszugleichen“, gewissermaßen als Ausdruck einer säkularen Schöpfung. Kein Wunder also, dass der Patient zu vielfältigen, prononcierten Übertragungen und Projektionen bereit ist, wenn er sich in die analytische Kur begibt. Folglich besteht von vornherein ein ausgeprägtes Machtungleichgewicht zwischen dem mit allerhand Mängeln versehenen leidenden Menschen und seinem Gegenüber, das gewissermaßen und zur Gänze auf der anderen Seite des Ufers sich befindet, nämlich im Reich der seelischen Gesundheit, und noch dazu als ausgewiesener und amtlich beglaubigter Experte auf diesem Gebiet, der mithin als „Wissender“ die Verhältnisse sofort durchschaut und die Dinge auf den Punkt bringt, während der Patient nicht nur unter einem außergewöhnlichen Leidensdruck ächzt, sondern diesbezüglich auch im Dunkeln tappt!
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„Als Folge einer erblich bedingten, gestörten Geschlechtsdifferenzierung steigen bei einem kleinen Prozentsatz der Tiere die Hoden, in den meisten Fällen nur einer der Hoden, nicht oder nicht vollständig in den Hodensack ab und verbleiben als ‚Bauchhoden‘ in der hinteren Bauchhöhle oder im Leistenkanal. Dieser Zustand wird bei der Kastration leicht übersehen, und die Tiere kommen dann als Binneneber zur Schlachtung“ (Zrenner u. Haffner 1999, 131). Obwohl der Bauchhoden unfruchtbar ist, entwickelt er Geschlechtshormone, was zu einem mehr oder weniger deutlichen Geruch des Fleisches führt, der den Verkaufswert des geschlachteten Tieres beeinträchtigt. Daher wird der Hoden vom Tierarzt entfernt.
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Wir befinden uns hier auf einer elementaren Ebene des Beziehungslebens, weswegen wir triebtheoretisch argumentieren wollen, indem wir darauf hinweisen, dass dieses extreme Machtungleichgewicht libidinöser Zufuhr aufseiten des Analytikers dienlich und gleichzeitig aggressiver Abfuhr gegenüber dem Patienten förderlich ist, denn wenn jemand zu einem heraufschaut, ist es nahezu unausweichlich, dass jener auf diesen zumindest unbewusst herabschaut. Zu Zeiten Freuds wurde das Problem noch durch hierarchische Denkschemata in der autoritär und patriarchalisch strukturierten Doppelmonarchie verstärkt. Außerdem befand sich die Wissenschaft in einer anderen Position, war doch, um es mit „Hamlet“ zu formulieren „die angeborne Farbe der Entschließung“ noch nicht von „des Gedankens Blässe angekränkelt“ (Shakespeare 1979b, 156 [3. Akt, 1. Szene]) wie heutzutage. Denn seinerzeit glaubte man noch, Natur und Welt „objektiv“ erfassen zu können. 4 Insofern sind es wissenschaftshistorische und soziologische Einflüsse, welche Freud dazu veranlassten zu glauben, sein quasi „evidenzbasiertes“ Wissen verleihe ihm die Autorität, gegenüber den Patienten tatsächliche Einsichten in die Natur und den Menschen formulieren zu können. Viele seiner Schüler sind ihm darin gefolgt, zumal sie „oft Anspruch auf esoterisches Wissen über geheimnisvolle Sphären erhoben und dieses Wissen in stark von einem speziellen Jargon geprägten Darstellungen zum Ausdruck gebracht [haben], den Uneingeweihte nicht zu verstehen vermochten. Weil die traditionellen psychoanalytischen Autoren glaubten, im Besitz des alleinigen und unveräußerlichen Zugangsrechts zum Unbewussten zu sein, beanspruchten sie für sich ein einzigartiges Wissen über die Fundamente allen menschlichen Erlebens“ (Mitchell 2005, 266). Eine derartige Haltung erklärt sich unter anderem aus der Rigidität und dem Dogmatismus, die in den traditionellen Ausbildungsvereinen herrschen, welche die Lehranalyse „zu einem Unterwerfungsritual und zur Indoktrination umfunktioniert“ haben (Cremerius 1996, 165; vgl. Kap. 7.1). Statt, wie es in einer Analyse üblich sein sollte, freier zu werden, passt man sich unbewusst an die herrschenden Strukturen an, was aus individualpsychologischer Sicht schlechte Fiktionen in Form einer problematischen „Gegensatztafel“ zur Folge hat. Denn damit ist gleichzeitig ein Zu-Viel und ein Zu-Wenig verbunden, eine zu prononcierte Dichotomie von Minderwertigkeitsgefühlen und Geltungsstreben: einerseits die schale Befürchtung, nicht hinreichend analysiert zu sein, andererseits das Gefühl, einer elitären Organisation anzugehören, zumal man gewissermaßen mit den „heiligen Sakramenten der Lehranalyse“ versehen und wie ein katholischer Priester im Besitz der „Wahrheit“ ist. 4
Dass auch heute noch einige Naturwissenschaftler und Mediziner einem naiven Abbildungsrealismus frönen, steht auf einem anderen Blatt und hängt mit der mangelnden Bereitschaft zusammen, wahrzunehmen, dass sich die Physik als Vorbilddisziplin für ihre eigene Wissenschaft spätestens seit den Entdeckungen der Quantenphysik vom Ideal der objektiven Erkenntnis verabschiedet hat.
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Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass es in der Regel die eigenen, oftmals tief sitzenden seelischen Wunden sind, welche einen dazu antreiben, den Beruf des Psychoanalytikers zu ergreifen, diese aber aus den skizzierten Gründen nicht immer hinreichend bearbeitet werden, dann braucht es nicht zu überraschen, dass man in der täglichen Praxis dazu tendiert, kompensatorisch ein Machtgefälle zwischen dem „agierenden“ Patienten und dem „durchanalysierten“ Therapeuten zu konstatieren, und das mitunter auf recht selbstgefällige Weise. Das ist ein fragwürdiges Ideal, eine schlechte Fiktion, aber sie steht im Dienste der Sicherung, und das oftmals zulasten der Patienten, für die die distanzierte Haltung des Analytikers zu einem Problem werden kann, wenn er bar jeglicher Emotion erscheint und sie sich alleingelassen fühlen. Außerdem kann die Distanz aufseiten des Patienten zu irrationalen Vorstellungen führen, etwa dass er eine Art Übermensch wäre, womit die Gefahr besteht, in die Falle des Wiederholungszwangs zu tappen, indem die einst unerreichten Eltern in Gestalt des Therapeuten idealisiert werden. Nun wird man einwenden, dass eine gewisse Abstinenz notwendig sei und es wenig zielführend wäre, genauso wie der Patient agieren zu dürfen. Das ist unbestritten, und wir werden im nächsten Kapitel anhand eines praktischen Beispiels (drittes Beispiel) die Notwendigkeit illustrieren, auf dem schmalen Grat zwischen Empathie und Distanz zu wandeln. Man könnte den bisherigen Ausführungen darüber hinaus entgegenhalten, dass die Technik-Debatte doch ein klares Indiz für eine demokratischere und weniger hierarchische Einstellung der Analytiker gegenüber ihren Patienten sei. Das mag zu einem Teil berechtigt sein, aber es bleiben Unwägbarkeiten, weil es voraussetzen würde, die veröffentlichte Meinung der publizierenden Minderheit nahezu deckungsgleich auf das Gros der Therapeuten übertragen zu können. Außerdem gilt es zu bedenken, dass die skizzierten Ausbildungsbedingungen weiterhin dazu verleiten, die Spannung zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben in einem unausgewogenen Maße aufrechtzuerhalten (vgl. Jaeggi 2001, 167–193). Ähnlich hat sich Freud noch 1937 geäußert, als er meinte, „dass die Analytiker in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht durchwegs das Maß von psychischer Normalität erreicht haben, zu dem sie ihre Patienten erziehen wollen“ (Freud 1937c, 93). Das sei deswegen problematisch, weil er „eine gewisse Überlegenheit benötigt, um auf den Patienten in gewissen analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken. Und endlich ist nicht zu vergessen, dass die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, d. h. auf die Anerkennung der Realität gegründet ist und jeden Schein und Trug ausschließt“ (ebd., 94). Das ist eine aufschlussreiche Textstelle, denn man kann aus der Kritik an „Schein und Trug“ durchaus ein Plädoyer für Authentizität herauslesen. In Anbetracht dessen und eingedenk der ungesunden Machtdynamik in der traditionellen Psychoanalyse und ihrer Ausbildung kann man es als großen Fort-
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schritt bewerten, wenn Autoren wie Mitchell dafür plädieren, die patriarchalischhierarchische Position des „Wissenden“ zu relativieren, um stattdessen einen um Authentizität bemühten Dialog mit dem Patienten auf „gleicher Augenhöhe“ zu pflegen. Das hat ebenfalls mit soziokulturellen bzw. gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu tun, da die postmodernen Gesellschaften an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zunehmend egalitärer geworden sind und der in den Grundrechten verbriefte Gleichheitsgrundsatz dadurch allmählich mit Leben erfüllt wird, weswegen der in den Ausbildungsvereinen weiterhin kultivierte Wahrheitsanspruch recht unzeitgemäß, um nicht zu sagen archaisch wirkt. Es handelt sich darüber hinaus um eine Sichtweise, die enge Berührungspunkte mit individualpsychologischem Gedankengut aufweist. Adler war Sozialist, hat sich früh mit sozialmedizinischen Fragestellungen befasst (Adler 1898; ders. 1902a), seelische Gesundheit nicht nur als Liebes- und Arbeitsfähigkeit, sondern auch als Gemeinschaftsfähigkeit definiert (Adler 1933b, 40) und stärker an die „Machbarkeit der Verhältnisse“ geglaubt denn Freud. 5 Seine Schüler haben sich eingehend mit gesellschaftlichen Fragestellungen befasst (z. B. Brachfeld 2002, 196–222; Wexberg 1987, 124–142), und auch heute existieren Stimmen in der Individualpsychologie, welche die Ansicht vertreten, dass man „nur so ‚gesund‘ sein [kann], wie die Gesellschaft, in der man lebt, es ermöglicht“ (Welter 2006, 28). Ein eher egalitär getöntes Weltbild hat selbstverständlich Konsequenzen für die analytische Praxis. Wenn „soziale Gleichwertigkeit“ zum Grundverständnis der Individualpsychologie zählt (Brunner u. Titze 1995, 459–462), dann kann Psychotherapie als „eine Übung in Kooperation und eine Prüfung in Kooperation“ verstanden werden (Adler 1931b, 64). Sobald sich der Patient „mit seinen Mitmenschen auf gleichberechtigtem und freundschaftlichem Fuße trifft, ist er geheilt“ (ebd., 204; vgl. Antoch 1989). Petra Heisterkamp hat bereits 1996 auf „Alfred Adler als Vordenker der intersubjektiven Perspektive in der Psychoanalyse“ (Heisterkamp 1996) hingewiesen, und auch Peter Gasser-Steiner weist auf die engen inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen diesem neuen Denkansatz und der modernen Individualpsychologie hin: Neben dem symmetrischen Charakter der therapeutischen Beziehung sei das schöpferische Element von zentraler Bedeutung, weil es ein künstlerisches Nachspüren erfordere und zu einem Wechselspiel im intersubjektiven Feld führe. Darüber hinaus sei Adlers „tendenziöse Apperzeption“ gut vereinbar mit der relationalen Auffassung, dass zwei Subjekte zusammenkämen und aus ihrer Sicht und Erfahrung heraus gemeinsam Sinn konstruierten, zumal der Adler’sche Leitbegriff der Fiktion sich einfüge in die Vorstellung, dass Analytiker und Patient Ko-Konstrukteure einer subjektiven Wirklichkeit seien. Und schließlich stehe die Fokussierung auf Finalität den hermeneutischen Bestandteilen der Psychoanalyse näher als den kausalanalytischnaturwissenschaftlichen (Gasser-Steiner 2011, 69 f.). 5
Zum Beispiel dynamisches Prinzip des Lebensstils statt Charaktertypen; Unterschiede zwischen den Geschlechtern soziokulturell begründet statt anatomisch (vgl. Freud 1925j).
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Dass das Intersubjektivitätsparadigma und die relationale Psychoanalyse „zutiefst im Adler’schen Denken verankert und damit als ein Ausgangspunkt für eine spezifisch individualpsychologische Variante von Relationalität und Intersubjektivität immer schon“ vorhanden gewesen seien, betont Thomas Stephenson ebenfalls (2011a, 24) und skizziert das ausführlich nicht nur in diesem Lehrbuch (Kap. 2.5.3.2 u. 2.5.3.3), sondern auch anhand zweier Beiträge in einem 2011 erschienenen Sammelband (Rieken 2011a). Die Übereinstimmungen sind in der Tat erstaunlich und die Ausführungen der genannten Autoren plausibel, doch möchte ich einem Punkt aus der Argumentation von Peter Gasser-Steiner ergänzende Bemerkungen hinzufügen. Sie ergeben sich aus dem, was bereits im letzten Kapitel angedeutet worden ist, dass nämlich das intersubjektive Feld nicht allein eine Ko-Konstruktion sein kann, weil aus meiner Sicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit sowohl „Fund“ als auch „Erfindung“ ist. Selbstverständlich hat der Konstruktivismus seine Berechtigung, und er hat in der Psychotherapie allzu lang ein Schattendasein geführt, weil er bisher nur auf systemische Ansätze beschränkt war (vgl. Kriz 2007, 210–237). Essentialismus und naiver Abbildungsrealismus der Naturwissenschaft sind dagegen Ausdruck einer vom männlichen Protest mit getragenen patriarchalischen Gesinnung, weil sie mit phallischen Phantasien verknüpft ist, indem „richtige“ Wissenschaft „harte“ Wissenschaft sein muss, die beeindrucken soll. Insofern hat Mitchell Recht, wenn er etwa Autoren wie Charles Brenner oder Otto F. Kernberg kritisiert, die ihre Sicht der Dinge als objektive Tatsachen anpreisen (Mitchell 2005, 273–278). Doch der Konstruktivismus überspannt den Bogen in die andere Richtung, was wahrscheinlich auch damit zu tun hat, dass er im Zuge eines postmodernen Wissenschaftsverständnisses, durch das die „großen Erzählungen des Abendlandes“ fragwürdig geworden sind (vgl. Lyotard 1993), zur Mainstream-Theorie in den Kulturwissenschaften avanciert ist. Denn wenn man ihn konsequent durchdenkt und auf ihn selbst anwendet, gelangt man in nicht auflösbare Widersprüche. Er frönt nämlich insofern dem Essentialismus, als er davon ausgeht, dass Konstruktion eine „Wahrheit“ ist. Hier liegt das gleiche Paradoxon vor wie in jenem des Epimenides, jenes Einwohners von Kreta, der behauptet hat, alle Einwohner Kretas seien Lügner. 6 Das heißt, wenn alles konstruiert ist, ist auch diese Auffassung ein Konstrukt – und schon ist der „Scherbenhaufen“ da. Angemessener ist es daher, wie bereits im letzten Kapitel erwähnt, von der anthropologisch bedingten Perspektivität allen menschlichen Erkennens als einer vermittelnden Position zwischen Essentialismus und Konstruktivismus auszugehen, einer Sicht, die in Übereinstimmung steht mit den Grundlagen der philosophischen Erkenntnistheorie. Einfacher formuliert: Wir tappen zwar immer wieder in die Fallen unserer Fiktionen, aber manche davon stehen der sogenannten Wirklichkeit näher, andere sind entfernter davon. 6
Denn wenn er selber die Wahrheit sagt („Alle Einwohner Kretas sind Lügner“), lügt auch er, weil er selber ein Einwohner Kretas ist. Und wenn er lügt, stimmt seine Aussage von vornherein nicht.
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3.1.3 Abstinenz, Authentizität und Selbstenthüllung Der soeben skizzierte Gegensatz zwischen Essentialisten, die „hart“ an der Wirklichkeit zu segeln glauben, und Konstruktivisten, die auf dem „weichen“ Feld des Subjektiven und Intersubjektiven unterwegs sind, spiegelt sich auch in der auf Johannes Cremerius zurückgehenden Unterscheidung zwischen „paternistischer Vernunfttherapie“ und „mütterlicher Liebestherapie“ wider (Cremerius 1990b). Jene ist gewissermaßen naturwissenschaftlich ausgestattet, indem sie Wert auf Distanz legt und den Schwerpunkt auf die Deutung der Übertragung setzt, diese ist von der Überzeugung getragen, dass die emotionale Erfahrung, welche der Patient mit dem Therapeuten macht, ebenso wichtig und häufiger bedeutsamer ist als die Deutungen, welche er bekommt, was in den „sanften“ Methoden geisteswissenschaftlichen Denkens mit ihrem Spürsinn für Interpretation und Verstehen einige Analogien findet. Daraus können wir folgenden Schluss ziehen: Wenn das Perspektivitäts-Postulat eine vermittelnde Position zwischen Essentialismus und Konstruktivismus ist, dann bedarf es ebenso vermittelnder Positionen in der Frage nach der Berechtigung von „paternistischer Vernunfttherapie“ und „mütterlicher Liebestherapie“, weil es entscheidende Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen beiden Gegensatzpaaren gibt. Dafür sprechen zumindest zwei Gründe: zum einen die selbstverständliche Unterscheidung zwischen der Frage, ob der Patient ein „klassischer“ Neurotiker mit klarem „Konflikt“ ist oder jemand mit „strukturellen“ Defiziten und einem „Defekt“. Zum anderen die nicht mehr ganz so selbstverständliche Frage, ob ein und derselbe Patient sich gerade auf neurotischen Niveau befindet oder, um es mit Michael Balint zu formulieren, auf der Ebene der Grundstörung (Balint 1997a). Mit anderen Worten: Die Frage nach dem Stellenwert der Abstinenz, das heißt nach der „Zurückhaltung von privaten Gefühlen in Beziehung zum Patienten“ (Kutter u. Müller 2008, 303) hängt von der Art seiner Erkrankung und von seiner momentanen Situation in der „Kur“ ab. Doch bei all dem sollten wir uns auch an Freuds Worte aus dem letzten Kapitel erinnern, „dass die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, d. h. auf die Anerkennung der Realität gegründet ist und jeden Schein und Trug ausschließt“ (Freud 1937c, 94). Dann aber kann es sich mit der Abstinenz des Analytikers ähnlich verhalten wie mit der Abstinenz gegenüber dem Alkohol: Strikte Enthaltsamkeit kann ein Signal dafür sein, dass man Angst vor Trieb- und Affektansprüchen – sei es vor eigenen, sei es vor denen des Patienten – hat. Mäßiger Alkoholkonsum hingegen bereichert das Leben, und Wahrheitsliebe, die „jeden Schein und Trug ausschließt“, ist der Beziehung zum Patienten förderlich, weil er sich ernst genommen und akzeptiert fühlt. Wenn in einer Therapie die Täuschungen und Selbsttäuschungen, welche der Entwicklung der Persönlichkeit im Wege stehen, verringert und mit anderen Worten die Abwehrmechanismen und schlechten Fiktionen mit ihrem in die Irre leitenden „Sotun-als-ob“ entschärft werden sollen, dann kann Authentizität etwas sehr Sinnvolles sein. Und dann ist es von Nutzen, „das der Analytiker zur Förderung der wechsel-
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seitigen Exploration einige eigene Erlebnisse offenlegt“ (Mitchell 2005, 128). Damit berühren wir allerdings ein „heißes Eisen“, nämlich die Frage der Selbstenthüllung. Als ich vor längerer Zeit die These vertreten habe, dass eine Offenlegung der Gegenübertragung in sehr problematischen Phasen der Therapie hilfreich sein kann (Rieken 2003a), brandete mir eine Woge empörten Widerspruchs entgegen, die sich nicht nur in einer emotional aufgeladenen Diskussionsveranstaltung meines damaligen Ausbildungsvereins entlud, sondern auch ihren Niederschlag in der Zeitschrift für Individualpsychologie fand (Datler 2005a) 7 und auch später noch kommentiert wurde (Witte 2005; vgl. dazu Stephenson 2011b). Die damals geäußerte Auffassung, die Mitteilung eigener Gefühle ausschließlich auf Krisensituationen zu beschränken, war dem Umstand geschuldet, dass ich in Anbetracht des im Wiener Verein vorherrschenden paternistisch-abstinenten Mainstreams noch zu eingeschüchtert war, um sie zu einer für mich generellen Maxime zu erklären (vgl. Stephenson 2011b, 80). Heute teile ich Gefühle auch außerhalb von Krisensituationen mit, 8 sofern ich glaube, dass das der Therapie förderlich ist, denn mir ist mittlerweile klar geworden, dass „die Realbeziehung als Wirkfaktor in der theoretischen und praxeologischen Diskussion der Psychoanalyse ein unterschätztes Thema“ ist, obgleich „die therapeutische Beziehung sich in den Outcome-Studien als der bedeutendste Wirkfaktor jeder Psychotherapie erwiesen hat“ (Witte 2005, 390). Und der therapeutischen Beziehung kann Authentizität in Form der Selbstenthüllung sehr wohl dienlich sein, denn es geht um ein situationsgebundenes Gefühl, das Teil der Interaktion ist und dem Patienten zu verdeutlichen hilft, welche Wirkung er auf andere hat (s. Thomä u. Kächele 2006a, 114). Daher wäre es ein Missverständnis zu glauben, man wolle sozusagen munter drauflos plaudern, sein Privatleben enthüllen und die Patienten an den eigenen Problemen teilhaben lassen. Nur darauf beziehe sich übrigens Freuds „Inkognitoregel“, wie Thomä und Kächele schreiben (ebd., 113). Gegenübertragungsäußerungen bedürfen selbstverständlich vorheriger Reflexion. Außerdem muss man sich überlegen, ob der Patient diese aushält – aber das muss man bei Deutungen auch tun – und welchem Zweck sie dienlich sein sollen. Sie können pathologische Verstrickungen entschärfen, und sie sind geeignet, den Patienten ein realistischeres Bild davon zu zeichnen, wie sie auf andere wirken, denn diesbe-
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Auffällig an den Diskussionsbeiträgen war, dass die Kritikerinnen (Matschiner-Zollner 2005; Presslich-Titscher 2005; Voitl-Mikschi 2005) sich allzumal auf ein einziges Fallbeispiel beschränkten, das ihnen besonders prekär erschien, weil es darum ging, dass ich mich in eine Patientin verliebt hatte. Die anderen Beispiele (Aggression [s. u.]; Müdigkeitsreaktion) wurden nicht beachtet, und vor allem der Umstand, dass ich die ablehnende Haltung des analytischen „Zentralmassivs“ zur Mitteilung von Gegenübertragungen ursächlich mit den rigiden und Angst einflößenden Ausbildungsbedingungen verknüpft hatte, ließ man vollständig unter den Tisch fallen – anscheinend weil es sich um ein Tabuthema handelt und Teil des Unbewussten in diesen Institutionen bleiben muss. Und auch in der Supervision, wenn es notwendig erscheint (vgl. Langer 2011, dazu Stephenson 2011a, 26).
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züglich haben sie oftmals irrige Vorstellungen. Ein Extrembeispiel habe ich bereits in dem oben erwähnten Aufsatz skizziert (Rieken 2003a): Nachdem der Patient mich stundenlang mit Vorwürfen überhäuft hatte, platzte mir eines Tages der Kragen, und ich erklärte ihm, dass ich ihn nicht mehr aushalte. Obwohl ich von derartigen, trieb- und affektmotivierten Äußerungen dringend abrate und sie nur aus der Not der damaligen Situation und meiner bis dahin geringen therapeutischen Erfahrung zu verstehen sind, vollzog sich danach eine Wende ins Positive, weil er, wie er mir später mitteilte, bis zu diesem Zeitpunkt in dem Glauben befangen gewesen sei, jedermann würde ihn problemlos aushalten. Nun aber sei ihm klar geworden, dass ihn seine geschiedene Frau einfach nicht mehr ertragen habe, genauso übrigens wie sein früherer Analytiker, der die Therapie nach sieben Jahren relativ abrupt beendet hatte. Darüber hinaus bewog das Eingeständnis meiner eigenen Schwäche ihn dazu, perfektionistische Ansprüche nach dem Allesoder-Nichts-Prinzip zu relativieren. Und schließlich wurde ihm auch deutlich, dass aggressiv aufgeladene Situationen nicht automatisch in ein Desaster führen müssen. Neben den beiden zuletzt genannten Aspekten wurde dem Patienten also schlagartig klar, dass er seine tatsächliche Wirkung auf andere vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Zudem illustriert das Fallbeispiel die kurative Wirkung der Selbstenthüllung, auch wenn diese zu unvermittelt kam. Doch das hängt mit meiner „zögerlichen Attitüde“ zusammen, denn ich hatte zu lange gewartet – mit der Konsequenz, dass der „Dampfkessel“ irgendwann explodiert ist, durchaus ein Indiz für die Stimmigkeit des „hydraulischen“ Triebmodells der Spannungsabfuhr und gleichzeitig als ein Hinweis darauf zu verstehen, dass das Ideal der Abstinenz zur mühseligen und die Lebensqualität beeinträchtigenden Fiktion werden kann, wenn man heftige Gegenübertragungsgefühle niederzuhalten bestrebt ist. Ein weiteres Beispiel: Eine hübsche junge, kluge, gebildete Frau aus „gutem Hause“ und auf neurotischem Niveau kommt in Analyse, weil sie unter anderem potentielle Partner, aber auch Freundinnen und Freunde im Laufe der Zeit sosehr gegen sich aufbringt, dass diese nach heftigen Diskussionen stets das Weite suchen. Sie kann sich das nicht erklären, ist sichtlich beunruhigt und bittet mich, es mir auf jeden Fall mitzuteilen, wenn sich in mir aggressive Tendenzen ihr gegenüber regen. Ich finde die Frau sympathisch, glaube aber auf der Hut sein zu müssen, weil nach ihrer Aussage das aggressive Element auf leisen Sohlen daherkomme und sich ganz allmählich in Beziehungen einzuschleichen beginne. Lange können wir das Phänomen nicht greifen, sie fragt mich immer wieder, wie es mir mit ihr gehe, und ich sage wahrheitsgemäß, dass ich sie zwar sympathisch fände, aber im Hintergrund leichte Spuren derweil noch unerklärlicher aggressiver Gestimmtheit vorhanden seien. Das beunruhigt uns beide. Als ich am Ende einer weiteren Stunde zu ihr sage, es sei für mich merkwürdig,
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dass sie zu Beginn und am Schluss stets sehr natürlich und freundlich wirke, auf der Couch hingegen mitunter Äußerungen von sich gebe, die ein klein wenig geziert und herablassend in meinen Ohren klängen, ist sie, wie sie mir in der darauf folgenden Stunde mitteilt, beleidigt. Es sei das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich wirklich bemühe, authentisch zu sein, und dann höre sie aus meinem Munde das Gegenteil! Ich bin daraufhin betroffen, teile das auch mit und sage, dass ich ihr Unrecht getan hätte. Die Wogen beginnen sich allmählich wieder zu glätten, und es wird deutlich, dass auch ich in die gleiche Falle getappt bin wie ihre Freunde und Partner. Und nun beginnt sich allmählich ein Verständnis für das mysteriös erscheinende Phänomen einzustellen: Die Patientin neigt zu herablassenden Äußerungen, aber nicht in einer direkten Art, sondern in feinsten Mengen, gewissermaßen auf dem Niveau homöopathischer Hochpotenzen, die quasi unsichtbar und aufgrund geringster Dosierung nicht auf den Körper, sondern auf die Seele wirken (sollen) (Bailay 2000, 15; Ernst-Hieber u. Hieber 1995). Interessant ist diese Geschichte aus zwei Gründen: zum einen, weil man als Therapeut anscheinend nie davor gefeit ist, in Übertragungsfallen hineinzutappen, und es dann wenig glaubhaft wirken würde, abstinent zu bleiben und sich bedeckt zu halten. In solchen Fällen ist es allemal besser, authentisch von den eigenen Gefühlen zu berichten, soweit sie mit dem „intersubjektiven Feld“ zu tun haben. Zum anderen der Umstand, dass die Patientin mich von sich aus gebeten hatte, ehrlich zu sein und es mir mitzuteilen, wenn sich in meinem Inneren etwas Aggressives in mir rege. Das setzt eine gewisse Ich-Stärke und ein Vertrauen in die Beziehung voraus, was bedeutet, dass derartige Äußerungen sich dann verkraften lassen, wenn dem Patienten deutlich geworden ist, dass man nicht prinzipiell etwas gegen ihn hat, sondern dass bestimmte negative Gefühle Erkenntniswert haben, aber keine Verurteilung bedeuten müssen, weil dadurch die Beziehung insgesamt nicht infrage gestellt wird. Kommen wir nun zum dritten Beispiel, das als Plädoyer für ein ausbalanciertes Verhältnis von Abstinenz und Selbstenthüllung zu verstehen ist. Herr Felsner – so wollen wir den Patienten nennen – hatte bereits verschiedentlich Psychotherapieerfahrung gesammelt, als er sich zu mir in Analyse begab. Zuvor war er 15 Monate bei einer Systemikerin, die ihm zu Beginn erklärt hatte, das kurative Mittel der Wahl sei die Beziehung zu ihr. Doch er dachte, genau das werde nun das Letzte sein, worauf er sich einlassen werde. Denn das Verhältnis zu seiner übergriffigen, ihn herabsetzenden und an Dysthymie leidenden Mutter, die zu allem Unglück noch stets darauf bedacht war, ihm erhebliche Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle einzupflanzen, hatte ihn derart traumatisiert, dass auch nur der Anflug von Nähe eine eminente Gefahr bedeutete. Die Therapeutin bemerkte indes, dass er auf Distanz blieb, und um ihm ihre Zuneigung zu demonstrieren und seine zu evozieren, bot sie ihm angesichts seiner begrenzten finanziellen Verhältnisse an, die Stundenfrequenz zu verdoppeln, ohne mehr dafür zahlen zu müssen. Darauf ging er– einerseits froh, andererseits mit einer Portion Verachtung – ein, war
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aber weiterhin auf der Hut und blieb auf Abstand. Obgleich ihm einige Einsichten vermittelt wurden, schritt die Therapie nicht recht voran, und er entschloss sich, in Analyse zu gehen. Mir wurde relativ bald klar, dass seine Probleme ihren Ursprung auf der Ebene der Grundstörung hatten, litt er doch unter dem Eindruck, dass ihm etwas Grundlegendes fehle und dass er von Gefühlen existentieller Sinnlosigkeit bedroht war, die er durch geschäftliche Betriebsamkeit sowie zunehmenden beruflichen Erfolg ausglich und sich einerseits nach einer primärobjekthaften Beziehung sehnte, die ihm alle Wünsche erfüllte und keinerlei eigene Ansprüche stellte, sich indes gleichzeitig immens davor fürchtete, weil Nähe für ihn bedeutete, aufgrund seines fragilen Selbst in einen Sog zum anderen zu geraten, durch den er sich aufzulösen wähnte, so als wäre er ein „Plastiksack“, eine leere Hülle ohne Inhalt, wie er es zu formulieren pflegte. Also war Abstinenz geboten, denn auf der Ebene der Grundstörung reicht es nicht aus, „Wasser“ in das „auslaufende Fass“ zu schütten – das hatte bereits seine Therapeutin mit wenig Erfolg versucht –, weil man danach trachten sollte, die „Löcher zu stopfen“. Also ging es die ersten fünf, sechs Jahre darum zu versuchen, ihn in Anbetracht seiner gegenläufigen Beziehungswünsche – Sehnsucht nach und Angst vor Nähe – gleich einem guten Primärobjekt einfach auszuhalten und ihm einerseits Schranken zu setzen, wenn er übergriffig zu werden drohte, ihm andererseits so viel Zuneigung zu geben, dass er nicht zu sehr frustriert wurde. Gleichzeitig wurde es aber auch immer wichtiger, authentisch zu sein, denn durch seine immensen Grundstörungsanteile hatte er eine beachtliche Sensibilität für die Stimmungslage seines Gegenübers entwickelt und reagierte auf jede Form von Täuschung äußerst verstimmt. Daher begann ich, wenn es mir sinnvoll erschien, gelegentlich selbstenthüllende Äußerungen mitzuteilen. Dazu zwei Ausschnitte aus Stundenprotokollen: „Anfangs total frostig, er ist völlig abgegrenzt. Er sagt, ich helfe ihm nicht. Ich erkläre, das gleiche zu empfinden, nämlich Hilflosigkeit, so als wären mir die Hände gebunden, Dann wird es persönlicher, und er sagt, er empfinde nur Distanz oder völliges Hingezogen-Sein mit der Gefahr des Vernichtet-Werdens“ (482. Std., 09.08.2005). „Ihm gehe es schlecht, aber er finde kein Vertrauen zu mir, denn ginge er auf mich zu, würde er sich ganz aufgeben, und erzählte er alles von sich, würde ich ihn verachten. Dann berichtet er doch davon, wie negativ er sich sieht, dass er nichts wert sei, dass er nichts begreife, nichts hier weitergehe, er ein schlechter Mensch sei etc. Dann frage ich ihn, ob er das wirklich glaube, und er antwortet, jetzt sei das eingetreten, was er immer befürchte, nämlich dass es mir tatsächlich zu viel werde, wenn er seine negativen Gefühle hier ausbreite [. . . ]. Und dann wird uns klar – was ich auch zugebe –, dass es mir diesmal doch zu viel geworden sei, wobei er ergänzend hinzufügt, dass es ihm nicht unrecht gewesen sei, durch meine Frage aus den Emotionen aussteigen zu können, weil es auch ihm vielleicht zu viel geworden sei. Indes sei ihm klar geworden, dass es notwendig sei, ganz in die negative Gefühlswelt einzusteigen, nur so könne er sie loswerden“ (726. Std., 31.07.2007).
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3.1 Die therapeutische Beziehung
Es dauerte dann noch einige Jahre, bis sich seine Probleme allmählich zu entschärfen begannen und er eine objektivere Sicht auf ihren Ursprung bekam, wie der folgende Ausschnitt aus dem Stundenprotokoll deutlich macht: „Er fühle sich mittlerweile freier als früher, was daran liege, dass er weniger Ängste im Umgang mit Nähe zu anderen verspüre. Allerdings sei es noch nicht gut, denn Besorgnisse seien weiterhin vorhanden, und hier fehle es noch am Vertrauen, denn aufgrund seiner starken Minderwertigkeitsgefühle zweifle er immer noch daran, dass ich ihn wirklich akzeptieren und mögen würde. Das Kernproblem sei Folgendes: Er habe sich früher für seine Mutter verantwortlich gefühlt und vorwiegend auf ihre Gefühle und Bedürfnisse geachtet. Durch diese Nähe sei er in einen Sog geraten, der auch verletzend gewesen sei, weil sie ihn immer wieder verletzt habe. Analoges befürchte er hier und auch in anderen Beziehungen, wenn Nähe auftrete, nämlich dass er in einen Sog gerate und dann verletzt werde“ (963. Std., 31.01.2011). Das Alpha und das Omega seiner Gefühlswelt war in der Tat die Mutter, die im Sinne der Wirkursache Quellgrund seines Übels war, die aber aus dem Blickwinkel der Zielursache – der Frage nach dem unbewussten Zweck des pathologischen Verhaltens – gleichzeitig über viele Jahre hinweg in lebensstiltypischer Weise die bedeutendste Bezugsperson darstellte, welche ihm trotz aller Traumatisierungen Sicherheit vermittelte, weil er von ihr sagte, sie sei die einzige Person in der Welt, die ihn nie fallenlassen werde. Daher braucht es nicht zu überraschen, dass die Analyse über weite Strecken durch eine „Zwei-Personen-Psychologie“ im Sinne Balints (1997a) charakterisiert war, ging es doch immer wieder um unsere Beziehung und in der gemeinsamen Arbeit darum, allmählich „die Löcher zu stopfen“, statt immer nur „Wasser nachzufüllen“. Dabei die Balance zwischen Empathie und Distanz zu halten, glich einem Segeln zwischen Skylla und Charybdis, wie bereits anhand der Stundenprotokolle deutlich geworden sein dürfte. Doch es kam noch etwas anderes hinzu, was die Therapie nicht leicht machte. Weil Herr Felsner den Kontakt zu etwas Primärobjekthaftem benötigte, war ich einerseits bestrebt, ihm möglichst nahezukommen und ihn möglichst genau zu verstehen. Das führte allerdings immer wieder dazu, dass ich mit einem Mal genauso ratlos war wie er selbst. Im Zuge der voranschreitenden Therapie wurde es indes und andererseits möglich, ihm qua Selbstenthüllung genau dieses mitzuteilen, was er auch zu ertragen bzw. zu akzeptieren lernte, weil er einzusehen begann, dass für ihn eine gewisse Distanz von meiner Seite zeitweilig vorteilhaft sei, da ich dann wie ein Steuermann eine etwas klarere Sicht vermitteln konnte, die für ihn hilfreich war. Wenn wir die letzten drei Kapitel Revue passieren lassen, ist zumindest in der theoretischen Diskussion eine Relativierung der traditionellen Sicht auf die Übertragung sowie auf die Handhabung der Gegenübertragung festzustellen. Allerdings üben die alten Muster der „paternistischen Vernunfttherapie“ weiterhin eine große Faszination aus, weil ihnen die verführerische Kraft der Machtinszenierung innewohnt und es aus Gründen des seelischen Gleichgewichts einfacher erscheint, sich
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nicht zu sehr involvieren zu lassen und als Person möglichst außen vor zu bleiben – eine Sicht, die zwar im Dienste der Sicherung steht und den Therapeuten vor allzu großer emotionaler Involvierung schützen, aber auch zu frustrierenden Mangellagen führen kann. Die Individualpsychologie steht wegen einiger zentraler Grundannahmen (soziale Gleichwertigkeit, Kooperation, Gemeinschaft,) der „mütterlichen Liebestherapie“ näher als der „männlich-harten“, gleichsam erigierten Haltung des analytischen „Zentralmassivs“, wobei insbesondere breite Schnittmengen mit der relationalen Psychoanalyse und ihrem Plädoyer für Authentizität existieren. Die von ihr propagierte Empfehlung zur Selbstenthüllung im intersubjektiven Feld kann ein probates Mittel sein, um die analytische Beziehung zu stabilisieren und ihr eine ehrlichere und authentischere Grundlage zu geben, ähnlich wie es auch im alltäglichen Leben der Fall ist. Wenn Psychotherapie bedeutet, die Kluft zwischen Fiktion und Wirklichkeit ein wenig geringer zu machen und die Bedeutung der Abwehrmechanismen zu reduzieren, indem man zu mehr Authentizität gelangt, dann mutet es kurios an, wenn man glaubt, sich als Analytiker zu diesem Behufe als Person gänzlich verstecken zu müssen. Zwar ist Abstinenz notwendig und der Analytiker verantwortlich dafür, weniger zu agieren als der Patient, doch wirkt die vom analytischen Mainstream eingenommene Skepsis gegenüber Mitteilungen aus der Gegenübertragung recht übertrieben und dürfte ursächlich mit der Angst einflößenden Sozialisation in den Ausbildungsvereinen zu tun haben, durch die man lernt, sich bedeckt zu halten und ja nicht zu viel von sich preiszugeben.
3.2 Das Erstgespräch und die individualpsychologische Diagnostik Brigitte Sindelar
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ (Hesse 1987a, 19): Das psychotherapeutische Erstgespräch markiert den Anfang der Begegnung zwischen Patient und Therapeut, in das der Patient mit Hoffnung auf Heilung, auf den Anfang eines „neuen“, lebenswerten Lebens geht. Zugleich ist es der Abschluss einer inneren Bewegung des Patienten: Jedem psychotherapeutischen Erstgespräch geht ein innerer Prozess im Patienten voraus, bis sein Leidensdruck ihn die Entscheidung, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, treffen lässt. Phantasien, Erwartungen, Hoffnungen, aber auch Ängste und Vorurteile zur Psychotherapie bewegen den Leidenden, bevor er seine Schwellenangst überwindet und diesen Schritt zur Übernahme der Verantwortung für seine seelische Gesundung setzt. Abgesehen von Realgegebenheiten wie der zeitlichen und örtlichen Verfügbarkeit und der Kostenfrage wählt der Patient den Psychotherapeuten innerhalb und in der Gerichtetheit seines Lebensstils. Vorinformationen aus der öffentlichen Präsentation des Therapeuten, wie zum Beispiel seiner Website, oder aus Erzählungen oder Empfehlungen aus dem sozialen Umfeld des Patienten, möglicherweise auch Vorerfahrungen aus früheren psychotherapeutischen Behandlungen lassen Erwartungen wachsen, eingebettet in seine tendenziöse Apperzeption. Hypothesen über die Ursachen seines Leidens bestimmen dazu die Erwartungen des Patienten an die Psychotherapie und deren Wirkpotential. Unbewusste Projektionen und Übertragungssehnsüchte lassen Wünsche zu Geschlecht und Alter konkretisieren. Somit beginnt der psychotherapeutische Prozess bereits, bevor der Psychotherapeut daran beteiligt ist und ohne dass er vorab Kenntnis über diese Prozesse hat. Die erste Kontaktaufnahme, sei sie mit dem Psychotherapeuten persönlich, sei sie mit seinem Hilfspersonal, bietet dem Patienten nun weitere Wahrnehmungen, die er gemäß seinem individuellen Apperzeptionsschema adaptiert und integriert. „Bereits im telefonischen Erstkontakt vermittelt die Stimme einen ersten Eindruck, ruft innere Bilder, Stimmungen, positiv oder negativ getönte Gefühle bzw. affektive Gestimmtheiten des Angezogen- oder Abgestoßenseins sowie charakteristische Antworttendenzen hervor“ (P. Heisterkamp 2010, 111). Der Patient nimmt Psychotherapie in Anspruch, da seine Symptomatik ihn in seiner Lebensqualität beeinträchtigt, ihn an einer befriedigenden Lösung der drei großen Lebensaufgaben der Liebesfähigkeit, der Arbeitsfähigkeit und der Gemeinschaftsfähigkeit hindert, er also an seiner Symptomatik leidet. Er versteht seine Symptome nicht, kann sie nicht kontrollieren und ist durch sie verängstigt. In diesem Zustand braucht der Patient zuallererst einmal Sicherheit. Ihn diese Sicherheit erleben zu lassen bedeutet, professionelle Kompetenz sowie Verlässlichkeit in Raum und
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3.2 Das Erstgespräch und die individualpsychologische Diagnostik
Zeit spürbar zu machen. Der Patient braucht das Gefühl, erwartet und erwünscht zu sein, um ankommen zu können. Er erwartet von der Therapie Symptomfreiheit. Zugleich beginnt er das Erstgespräch mit der Unsicherheit, was ihn nun erwarten möge: „Diese Frage nach dem eigentlichen Zwecks seines Kommens beschäftigt auch den Patienten. [. . . ] Eine Antwort darauf fällt selten so einfach aus, wie sie es in manchen Büchern tut“ (Hillman 1986, 119). Der Anspruch des individualpsychologischen Psychotherapeuten an die Behandlung ist umfassender als das Erreichen von Symptomfreiheit: er nimmt das menschliche Leiden zum Ausgangspunkt, um den Patienten in seiner Gesamtpersönlichkeit zu verstehen und ihm bisher unverstandene Zusammenhänge und subjektive Meinungen über sich und die Welt bewusst zu machen. Sein Ziel ist, den Patienten in einen Veränderungsprozess mit der Arbeit an den persönlichen Zielen und an den unbewussten Einstellungen zu begleiten. Er bringt in die therapeutische Arbeit als grundlegende Voraussetzungen für deren Wirksamkeit Verlässlichkeit, einen sicheren Rahmen, Wertschätzung, die Freiheit von moralischen Wertungen und die Bereitschaft zu Mitgefühl ohne Mitleid ein. Er strebt danach, dem Patienten zu ermöglichen, bisher unbekannte Gefühle zu erkennen und dann auch auszudrücken, auch oder gerade wenn der Patient diese für unsozial, unerwünscht, unmoralisch oder verrückt hält. „Das [sich dem Patienten zu nähern, Anmerkung BS] beginnt beim ersten Erscheinen des Patienten. Es ist notwendig, so unvoreingenommen als möglich sich dem Patienten gegenüberzustellen, alles zu vermeiden, was ihn in den Glauben versetzen könnte, dass Sie sich für ihn opfern“ (Adler 1932l, 542). Der Psychotherapeut erwartet vom psychotherapeutischen Prozess, dass es ihm gelingt, den Patienten in einem dialogischen, von der Gleichwertigkeit von Patient und Therapeut ausgehenden Gespräch schrittweise zum besseren Verstehen seiner selbst in allen Lebensäußerungen hinzuführen. Diese Zielsetzung gestaltet den Dialog in einer für den Patienten bislang unbekannten Form. So begegnen im Erstgespräch einander zwei Menschen mit unterschiedlichen Ideen über Zweck, Verlauf und Ziel der Behandlung und mit einem unterschiedlichen Expertenstatus: der Patient ist Experte für seine Existenz und für seine Symptomatik, der Psychotherapeut hat seine Expertise über das Seelenleben auf die Individualität seines Patienten in Anwendung zu bringen. Bei aller Besonderheit, die dem Psychotherapeuten als Kontaktperson zukommt, begegnet ihm der Patient mit den Beziehungsmodi, die er in seinem alltäglichen Leben erfahren, gestaltet und etabliert hat und die auch seine Kriterien zur Auswahl des Psychotherapeuten, oft von ihm unverstanden, definiert haben. „Da der Lebensstil innerhalb der frühen Eltern-Kind-Beziehung entwickelt wird, ist zu erwarten, dass die Muster der frühen Beziehungen in der Patient-TherapeutBeziehung wiederholt werden. [. . . ] Wir halten die Übertragungen für Weisen der
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Bezogenheit, die Gefahr, Sicherheit oder Entfaltungsmöglichkeiten bedeuteten“ (Eife 2006, 8). Der Patient gestaltet von Beginn an die Beziehung zum Therapeuten und den Umgang mit der Situation innerhalb des Mikrokosmos des psychotherapeutischen Setting genauso wie er es im Makrokosmos seines Lebens außerhalb der Therapie tut. Dabei sind seine Verhaltensweisen auf Verinnerlichungen von Interaktionserfahrungen zurückzuführen, wobei er mithilfe einer „szenischen Funktion des Ich“ (vgl. Argelander 1970a) Interaktionsrepräsentanzen in gegenwärtigen Beziehungen wiederbelebt. Der Therapeut übernimmt zwangsläufig eine mitgestaltende Rolle. Aus diesen Elementen des Ganzen gestaltet der Patient die Inszenierung des Erstgesprächs (vgl. Argelander 1970a), die das szenische Verstehen seitens des Therapeuten verlangt: „Es [das Verstehen der Szene, Anm. B. S.] markiert die paradoxale Besonderheit, dass ein Patient, der von seinen Symptomen und Beschwerden zu berichten beginnt, zugleich mit seinem Therapeuten unvermeidlich eine neue Beziehung aufzubauen beginnt, in der er stillschweigend [Hervorhebung Buchholz], aber wirkungsvoll all jene unbewussten Erwartungen einzutragen beginnt, die er sich als Lösung und Erlösung von seinen Beschwerden erhofft. Aber auch das, was er befürchtet“ (Buchholz 2009, 2). Der Psychotherapeut ist in diesem Geschehen Teilnehmer und Beobachter zugleich, wobei die Teilnahme zeitgleich mit der Beobachtung erfolgt oder auch oft vorangeht: „Während sprachliche Mitteilungen im therapeutischen Prozess sich oft auf die Vergangenheit beziehen, betonen Inszenierung die aktuelle Gegenwart der therapeutischen Bühne“ (Streeck 2000b, 33). So wie ein Textbuch immer nur einen Teil eines Stückes abbildet, jede Szene des Stückes aber die Bühne braucht, um lebendig zu werden, zugleich jede Regie und jedes Ensemble gestaltend der Aufführung individuellen Charakter verleiht, so ist die Inszenierung im Erstgespräch ein intersubjektives Geschehen zwischen Patient und Therapeut. Formuliert in der Terminologie Adlers ist die erste Aufgabe des Psychotherapeuten, getragen von seinem Gemeinschaftsgefühl die Voraussetzungen für eine Behandlung zu schaffen (Adler 1929c). Die Antworten, die der Psychotherapeut gibt, die Fragen, die er stellt, die Anmerkungen, die er macht, lassen in dem Patienten Annahmen über die professionelle Kompetenz, zugleich über die Empathiefähigkeit, Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit des Psychotherapeuten entstehen. Dies erfordert, „mit den Augen eines Anderen zu sehen, mit den Ohren eines Anderen zu hören, mit dem Herzen eines Anderen zu fühlen“ (Adler 1928f, 315), ohne Ansprüche an den Patienten zu implizieren, die des Therapeuten Streben nach Erfolg erfüllen sollen. Dass der Therapeut grundsätzlich darum bemüht ist, dass die Behandlung erfolgreich sein möge, ist selbstverständlich – denn warum und wozu sonst sollte er eine Behandlung beginnen wollen? –, dennoch verfehlt er gewiss dieses Ziel, wenn diese Zielsetzung seine Interventionen bestimmt: Die erforderliche Geduld wäre damit ausgeschlossen, seine Aufmerksamkeit fehlgeleitet: „Notwendig ist auch äußerste Geduld und Nachsicht“ (Adler 1932l,
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3.2 Das Erstgespräch und die individualpsychologische Diagnostik
549). Mit „Nachsicht“ meint Adler den Verzicht auf Wertungen. Adlers Forderung nach Empathie dem Patienten gegenüber impliziert auch die Art der Antwort des Therapeuten: in der Sprache des Anderen zu sprechen. Das Erstgespräch ist die Schiene, auf die der psychotherapeutische Prozess gestellt wird. Wenn es dem Therapeuten gelingt, eine Atmosphäre des Vertrauens herzustellen, so wird dies der Boden sein, auf dem das Verständnis des Patienten für sich selbst wachsen wird können. Dazu nimmt der Therapeut im Sinne des Containing in selbstreflektierter Form die Gefühle des Patienten auf, die für den Patienten selbst unerträglich sind, ist emotional verfügbar und beantwortet das Enactment in einer Form, die das Verstehen fördert. Die Begriffe„holding“ als Funktion der „primären Mütterlichkeit“ im Sinne Winnicotts (Winnicott 1998) und „container-contained“ als Beziehungsangebot der Mutter an den Säugling (Bion 1992) in ihrer Bedeutung für die Beziehung zwischen Mutter und Säugling entstammen der psychoanalytischen Literatur. Ogden führt dazu im Zusammenhang mit dem psychotherapeutischen Prozess aus: „The idea of the container-contained addresses the dynamic interaction of predominantly unconscious thoughts (the contained) and the capacity for dreaming and thinking those thoughts (the container)“ (Ogden 2004, 1349). Die Begriffe „holding“ und „containing“ lassen jedoch Anknüpfungspunkte an Adlers Begrifflichkeit des „Zärtlichkeitsbedürfnisses des Kindes“ zu (Adler 1908d). In weiteren individualpsychologischen Arbeiten zum psychotherapeutischen Prozess werden „holding“ und „containing“ als übergreifende Beziehungsqualitäten in ihrer Bedeutsamkeit im psychotherapeutischen Kontext zwischen Therapeut und Klient ausgeführt, die psychisches Wachstum ermöglichen: „Über das Zur-Verfügung-Stellen der eigenen Sinne und eigenen Gedanken wird die Befindlichkeit und die Bedürfnislage des Gegenübers erfasst, was ein Sichemotional-berühren-Lassen mit einschließt. Auf die Empfindungen und Bedürfnisse des/der anderen wird ‚passend‘, wie es Situation und Person erfordert, reagiert“ (Voitl-Mikschi, 2004, S 147). Gelingt es dem Psychotherapeuten dann, Metaphern zu finden, die zu einer gemeinsamen Sprachlichkeit der Erkenntnis jenseits der Intellektualisierung führt, so hat er dem Patienten das Gefühl gegeben, erkannt worden zu sein. Alfred Adler hat in seinem Verständnis des Charakters des psychotherapeutischen Prozesses einen Wandel vollzogen: fokussierte er zu Beginn eher das Ziel, der Patient möge in einer Art des kognitiven Verstehens seinen Lebensstil und sein „neurotisches System“ (Adler 1913a, 69) entschlüsseln können, um so einen alternativen Lebensstil entwerfen zu können, so stellt er in seinen späteren Arbeiten immer mehr das intersubjektive Geschehen zwischen Psychotherapeut und Patient in den Mittelpunkt und ordnet dabei dem Therapeuten mütterliche Funktionen zu. Wenn er davon spricht, dass der Psychotherapeut zuerst einmal den Patienten „gewinnen“ müsse und das unbefriedigte Zärtlichkeitsbedürfnis befriedigen müsse, also eine Art des Nachholens zur Verfügung stellen müsse, bevor er mit dem Patienten an einer Analy-
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se des Lebensstils und letztendlich der Ermutigung arbeiten könne, so impliziert dies, dass jede Psychotherapie verschiedene Phasen zu durchlaufen habe, die erste davon eine „Nachholfunktion“ des unbefriedigten Zärtlichkeitsbedürfnisses innerhalb der Beziehung zwischen Patient und Therapeut zu erfüllen habe (vgl. Eife 2011). Daher markiert das Erstgespräch den Beginn dieses Nachholens. In Adlers Arbeit zeichnet sich die Entwicklung ab, die viel später auch in der Psychoanalyse festzustellen ist, wenn der psychotherapeutische Prozess in seiner interaktiven Gestaltung zwischen Patient und Therapeut vermehrt an Interesse gewinnt. „Auch Auffassungen über Bindungswünsche in der Bindungstheorie und Untersuchungen über frühe Interaktionen in der Säuglingsforschung werden hier vorweggenommen“ (Bruder-Bezzel 2008, 375). Auch Gerd und Ulrike Lehmkuhl weisen auf diese Berührungsflächen der Beziehungskonzepte hin: „Rückblickend muss festgestellt werden, dass Adlers Begriffe mit ihren neuen Perspektiven nicht konsequent weiter verfolgt wurden und heute eine Renaissance erleben, durch neue Ergebnisse der Bindungs- und Säuglingsforschung“ (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2008a, 391). Diese Entwicklung Adlers erinnert außerdem an den aktuellen Diskurs der „Polarität von ‚mütterlicher Liebestherapie‘ [. . . ] und ‚paternistischer Vernunfttherapie‘“ innerhalb der Individualpsychologie in Österreich (Stephenson 2011a, 17), wobei es Adler offensichtlich gelungen ist, diese beiden Haltungen zu integrieren und im Behandlungsprozess den Entwicklungsprozess des Kindes nachzuzeichnen, der mit dem Zärtlichkeitsbedürfnis beginnt, also mit dem Etablieren einer sicheren Bindung (vgl. Bowlby 2005). Die Vorstellung, dass Psychotherapie nicht nur korrigierende, sondern auch „nachholende“ Erfahrungen anzubieten habe, um Nachreifung möglich zu machen, findet sich in der von Greenspan in Vernetzung von Entwicklungspsychologie, Psychopathologie und psychoanalytischer Psychotherapie elaborierten Entwicklungspsychotherapie wieder (Greenspan 1997) und wird auch in aktuellen psychoanalytischen Arbeiten herausgestrichen, wie zum Beispiel Streeck-Fischer im Zusammenhang mit der Behandlung früh traumatisierter Jugendlicher „Entwicklungspsychotherapie ‚Bindung und Beziehung first‘“ als Vorbedingung der psychotherapeutischen Arbeit nennt (Streeck-Fischer 2006, 206). Im Erstgespräch vermittelt der Patient dem Therapeuten aber nicht nur durch sprachliche Mitteilungen zu seiner Biographie und seinem aktuellen Leidenszustand, sondern auch durch seine Form der verbalen und nonverbalen Kommunikation, der Wort-, Gebärden- und Körpersprache seinen Lebensstil: „Der Blick, die Gangart, die Stärke oder Schwäche der Annäherung können viel verraten“ (Adler 1933b, 166). Das psychotherapeutische Erstgespräch ist, wie der psychotherapeutische Prozess insgesamt, ein Dialog, der auf mehreren Ebenen stattfindet: „Psychotherapeutische und psychoanalytische Behandlungen werden sowohl in der Dimension der gesprochenen Sprache als auch in einer Dimension des Handelns durchgeführt“ (Streeck 2000b, 7). Sprachliche Mitteilungen übermitteln dem Psychotherapeuten Sympto-
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3.2 Das Erstgespräch und die individualpsychologische Diagnostik
matologie und Lebensgeschichte; Sprachlichkeit und Sprachmelodie des Patienten geben Einblick in Wortschatz, Symbolisierungs- und Verbalisierungsfähigkeit, aber auch in die Stimmungslage; Mimik und Gestik transportieren sowohl Rapport als auch Resonanzfähigkeit als interaktionelle und intersubjektive Parameter. Während des „Austausches von Wörtern“ im Erstgespräch sind die körpersprachlichen Antworten des Psychotherapeuten gleichrangig mit seinen sprachlichen Äußerungen in ihrer Bedeutung für die Gestaltung des Prozesses zu beachten: ermutigen sie den Patienten körpersprachlich, zum Beispiel durch Kopfnicken, sobald dieser über seine Gefühle berichtet, dann sind sie dem Prozess förderlich. Nickt der Psychotherapeut aber zum Beispiel zustimmend, wenn der Patient Wertungen äußert, so behindert diese Gestik den Prozess. Die Kunst des Therapeuten liegt darin, im Erstgespräch sowohl Sicherheit zu vermitteln als auch dem Patienten Spielraum zu bieten, innerhalb dessen er unbefangen auch ungezielt und unbeabsichtigt Ausdruck verleihen kann: „Wenn der Patient kommt, so wäre es ein großer Fehler, ihm einen bestimmten Platz zuzuweisen, denn aus der Wahl des Platzes lassen sich Schlüsse ziehen“ (Adler 1932l, 541). Dazu ein Beispiel aus einem Erstgespräch mit einem Paar (Anmerkung B. S.: Die Dokumentation der Körpersprache entstammt dem Beobachtungsprotokoll einer in Ausbildung befindlichen Psychotherapeutin, deren Auftrag war, meine körpersprachlichen Interventionen im Dialog mit den Patienten zu beobachten): Das Erstgespräch mit einem Ehepaar beginnt mit der Inszenierung, wer auf welcher Sitzgelegenheit im Behandlungsraum Platz nimmt: der Mann setzt sich ohne zu überlegen auf die Sitzcouch, seine Frau bleibt zögernd stehen, unentschlossen, ob sie sich zu ihm setzen möchte oder auf einen der beiden noch nicht besetzten Polstersessel. Die Therapeutin bleibt stehen, bis sich die Frau entschlossen hat, sich neben ihren Mann zu setzen, und nimmt dann den beiden gegenüber Platz. Die Frau beginnt mit heftigen Anschuldigungen gegen ihren Mann, spricht dabei zur Therapeutin. Während ihres minutenlangen Monologs zieht sich der Mann immer mehr in seine Ecke der Couch zurück, verschränkt de Arme, schlägt die Beine übereinander, sitzt schließlich in die Ecke des Möbels gekauert, sein Blick wandert von seiner Frau zur Therapeutin, die wiederum ihren Blick zwischen den beiden hin und her schweifen lässt, in leicht vorgebeugter Haltung, zu Beginn liegen ihre beiden Arme auf den Armlehnen des Polstersessels. Während der eloquenten Darstellung der ehelichen Problemlage durch die Frau lehnt sich die Therapeutin langsam immer mehr auf die Seite des Mannes, nimmt den Arm, der der Frau gegenüber ist, von der Armlehne zur eigenen Körpermitte und schlägt schließlich ein Bein über das andere, sodass ihr Knie in Richtung des Mannes zeigt. In kurzer zeitlicher Verzögerung zur Körperbewegung der Therapeutin beginnt sich der Mann wieder aufzurichten, die Beine nebeneinander zu stellen und den Arm, der der Therapeutin näher ist, aus der Verschränkung zu lösen. In diesem Moment beendet die Frau ihre Erzählung. Er ergreift das Wort. Bevor also die Therapeutin noch ein Wort gesprochen hat, hat das Ehepaar körpersprachlich die aktuelle Beziehungssituation dargestellt, die Frau
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in ihren sprachlichen Äußerungen die Geschichte der Beziehung berichtet, und die Therapeutin auf die aktuelle Beziehungssituation körpersprachlich antwortend den Mann miteinbezogen. Wenngleich das tragende und bestimmende Element der Interaktion der sprachliche, mimische und gestische Dialog als innerer Raum zwischen Patient und Psychotherapeut ist, so sollte dennoch auch dem umgebenden Raum mehr Beachtung geschenkt werden als wissenschaftlichen Publikationen zu entnehmen. Die Würdigung des Patienten geschieht nicht nur im inneren Raum, sondern auch im umgebenden Raum, der einerseits Sicherheit vermitteln muss (wie zum Beispiel in der Einrichtung und farblichen Gestaltung, oder auch dadurch, dass der Patient nicht mit dem Rücken zur Tür sitzt oder liegt), andrerseits ihm aber auch Freiraum bieten muss (wie zum Beispiel dadurch, dass keine Gegenstände oder Bilder der Privatsphäre den Patienten zu spekulativen Vermutungen über den Therapeuten verführen). Auch das Äußere des Therapeuten wird von Patienten aufmerksam oder unterschwellig wahrgenommen und bewirkt eine emotionale Antwort, auch wenn sie nicht verbalisiert wird. Aufgabe des Therapeuten ist, sowohl das Ambiente als auch sein eigenes Äußeres so zu gestalten, dass er damit die Inhalte transportiert, die er für die Behandlung förderlich bewertet – so wie er das Äußere des Patienten als Botschaft seines Lebensstils zu erkennen hat, so übermittelt auch er Botschaften, die auf das intersubjektive Geschehen Einfluss nehmen. Die Reflexion und detaillierte Analyse des Erstgesprächs in allen Dimensionen des intersubjektiven Dialogs geben Aufschluss über den zu erwartenden Therapieverlauf, wenn die Inszenierung, insbesondere das intersubjektive Geschehen, in seiner Ganzheit und in seinen Details vom Psychotherapeuten wahrgenommen wird: „Man findet das Gemeinsame“ (Adler 1932l, 546). Aufgabe des Therapeuten ist, die Äußerungen des Patienten fruchtbringend zu nutzen, indem er die Auswirkungen der tendenziösen Apperzeption des Patienten erkennt, seinen Lebensstil versteht und die Finalität der Symptome begreift: „Während der wissenschaftliche Denkweg von der Diagnose einer Störung zur Entwicklung eines autonomen Selbst, vom Einzelnen zum Ganzen geht, ist Adlers Denkweg umgekehrt: Er schlägt vor, vom intuitiv wahrgenommenen Ganzen auszugehen und dies kognitiv zu analysieren“ (Eife 2010, 50). Somit hat das Erstgespräch nicht nur die Anbahnung der therapeutischen Beziehung als Arbeitsgrundlage des therapeutischen Prozesses einzuleiten, sondern auch diagnostische Aufgaben zu erfüllen, um Interventionstechniken an die Bedürfnisse, aber auch die Möglichkeiten des Patienten anzupassen, im Sinne des „SchlüsselSchloss-Paradigmas“ (die Therapie muss zum Patienten passen wie der Schlüssel zum Schloss), wobei Diagnostik und Beziehungsaufbau interdependent sind. Ausgehend von der individualpsychologischen Krankheitslehre und dem Ätiologiemodell ist die Diagnostik generell ausgerichtet auf die Frage des Vorliegens eines neurotischen Konflikts versus primärer Defizite der Persönlichkeit im Sinne der Früh- oder
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3.2 Das Erstgespräch und die individualpsychologische Diagnostik
Grundstörung, die sich jeweils auch im individuell typischen Lebensstil abbilden, und zwar sowohl in seiner analytischen als auch seiner ganzheitlichen Dimension: „Psychoanalytikern geht es nicht primär um Erfassen und Beschreiben der Merkmale der Störungen, sie interessiert die spezifische Konfliktstruktur des Patienten, seine innere Realität (Titscher u. Kral 1987, 43). In den Symptomen des Patienten sind die Erfahrungen, die dem Patienten großteils nicht mehr bewusst verfügbar sind, verborgen, sodass Symptome als bedeutungsgeladene Zeichen zu verstehen sind, die ihm Angst machen und sich seiner bewussten Kontrolle entziehen. Sie sind Spuren seiner Vergangenheit, wirksam in der Gegenwart, den Weg zu einem Ziel weisend, das dem auf bewusster Ebene intendierten Ziel widerspricht. Zu Beginn der Psychotherapie stehen diese Erfahrungen dem Patienten nicht mehr zur Reflexion zur Verfügung, er versteht also deren Wirksamkeit nicht. Dennoch, auch wenn diese Erfahrungen von dem Patienten nicht als sein Leiden determinierend verstanden werden und ihm nicht mehr gegenwärtig sind, sind sie untrennbare Anteile seiner Persönlichkeit, die quasi das „Echo“ der Erlebnisse darstellen, die sie bewirkt haben: „Der Mensch ist ein Wesen mit Natur und Geschichte – dieser zweifachen Wurzel seines Seins muss jede Form der Psychotherapie Rechnung tragen.“ (Resch u. Schulte-Markwort 2008, 2). Adler hat dabei klare Vorstellungen und Anleitung, wie dieser Anspruch in der individualpsychologischen Diagnostik erfüllt werden kann: „Die bis jetzt meiner Erfahrung nach am besten bewährten Zugänge zur Erforschung der Persönlichkeit sind gegeben in einem umfassenden Verständnis der ersten Kindheitserinnerungen, der Position des Kindes in der Geschwisterreihe, irgendwelcher Kinderfehler, in Tag- und Nachtträumen und in der Art des exogenen, krankmachenden Faktors“ (Adler 1933b, 40). Den ersten Kindheitserinnerungen wird in der individualpsychologischen Diagnostik besonderer Wert beigemessen, wobei es bedeutungslos ist, ob sie objektiven Ereignissen entsprechen oder eine Abänderung dieser darstellen oder Fantasie sind. Der Wert der ersten Kindheitserinnerungen für das Verstehen des Patienten liegt darin, dass sie die innere Welt des Menschen widerspiegeln, also seinen Lebensstil erkennen lassen (Ansbacher u. Ansbacher 2004). Die Diagnostik findet auf zwei Ebenen statt: eine davon ist die Ebene der verbalen Äußerungen des Patienten zu Inhalten seiner Gegenwart und seiner Vergangenheit und auch seiner Zukunftsperspektiven, die andere Ebene ist die des gegenwärtigen intersubjektiven verbalen und non-verbalen Geschehens im Erstgespräch, in dem sich die Auswirkungen dieser Inhalte widerspiegeln: „Bei richtiger Anwendung des individualpsychologischen Grundsatzes, keine Formel zu verwenden, [. . . ] sondern den Spuren zu folgen, die das Kind gegangen ist, wird man der kindlichen Konstruktion der ‚psychischen Konstitution‘ gerecht werden“ (Adler 1931n, 485).
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Unermüdlich belegt Adler sein Modell anhand individueller Fallgeschichten. Seine diagnostische Analyse des Lebensstils seiner Patienten beeindruckt in der akribischen Detailbeachtung und legt zugleich vorbildhaftes Zeugnis für seine Offenheit und Flexibilität, Thesen über diesen zu erstellen, diese aber auch gleich wieder zu verwerfen und durch neue zu ersetzen. Er verlangt, dass der diagnostische Prozesses, der immer vom interaktiven therapeutischen Geschehen mitbestimmt ist und im Gegenzug dieses gestaltet, offen bleiben muss für neues, vertieftes und erweitertes verstehendes Erkennen, genauso einem Bewegungsgesetz folgend wie der Lebensstil des Patienten, der die seelische Bewegung in die Neurose bestimmt. Dabei legt Adler besonderen Wert darauf, dass der Lebensstil, in obigem Zitat mit „psychischer Konstitution“ umschrieben, nicht voreilig vom Psychotherapeuten identifiziert werden darf: „Alle Ergebnisse einer solchen Untersuchung, die auch die Stellung zum Arzt einschließen, sind mit größer Vorsicht zu bewerten und ihr Bewegungsablauf ist stets auf den Gleichklang mit anderen Feststellungen zu prüfen“ (Adler 1933b, 40). Wenn Adler hier bereits anmerkt, dass die „Untersuchung“, also die Diagnostik auch die „Stellung zum Arzt einschließen“ muss, so nimmt Adler vorweg, was wir später und aktuell in den tiefenpsychologischen Schulen als „relational“ oder „intersubjektiv“ wiederfinden (s. Kap. 2.5.3). Adler mahnt zur Vorsicht gegenüber einer starren und voreiligen Diagnostik, weist darauf hin, dass „vorgefasste Meinungen“ kritisch dahingehend zu hinterfragen seien, da das „Einmalige des Individuums“ sich nicht „in eine kurze Formel fassen“ lässt (Adler 1933b, 25). Ein blasser Widerschein dieser Behutsamkeit und bedachten Grundhaltung in der Diagnostik lässt sich, mit aller Vorsicht und mit individualpsychologischem Optimismus betrachtet, in einer kompetenten professionellen Handhabung des Konzepts der „Komorbidität“ psychischer Störungen vermuten. Auch wenn im Erstgespräch der diagnostische Prozess im Vordergrund stehen muss, um die Therapieplanung dem Bedürfnis des Patienten entsprechend gestalten zu können, ist dieser mit dem Erstgespräch natürlich nicht abgeschlossen, sondern auch im weiteren Verlauf mit dem therapeutischen Prozess verwoben, will er der Bedeutung des „διαγνωσκειν“, des gründlichen Kennenlernens, gerecht werden. Und dann wird die individualpsychologische Diagnostik dem gerecht, was die Individualpsychologie so besonders auszeichnet und attraktiv macht: die Zurückweisung jeder Dogmatik, von Adler als persönliches Credo seines psychotherapeutischen Selbstverständnisses formuliert: „Da ich mich an keine strenge Regel und Voreingenommenheit gebunden glaube, vielmehr dem Grundsatz huldige: Alles kann auch anders sein. Das Einmalige des Individuums lässt sich nicht in eine kurze Formel fassen, und allgemeine Regeln, wie sie auch die von mir geschaffene Individualpsychologie aufstellt, sollen nicht mehr sein als Hilfsmittel, um vorläufig ein Gesichtsfeld zu beleuchten, auf dem das einzelne Individuum gefunden – oder vermisst werden kann“ (Adler 1933b, 25).
3.3 Interpretation des Traumes Bernd Rieken Der Traum fasziniert den Menschen seit jeher, denn wir begeben uns durch ihn in ungeordnete Areale des Geisteslebens und stoßen in Bereiche jenseits der Gesellschaft vor (s. Douglas 1988, 125). Dadurch werden Phänomene miteinander verbunden, „die am Tage nicht zueinander gehören“ und „dem Einzelnen etwas Subversives zu Bewusstsein [bringen], etwas Oppositionelles, das sich gegen die etablierte Ordnung der Dinge richtet“ (Ahrens 1996, 10). Aus der Sicht traditioneller Kulturen stellt der Traum nicht nur eine seelische Macht dar, welche aus dem Inneren des Menschen heraus wirkt, sondern auch eine „in das Innere hineinwirkende übernatürliche Kraft“ (ebd., 11). Letzteres ist uns fremd geworden, wiewohl die Grenzen nicht immer ganz klar sind, wenn wir etwa nächtens aufwachen und für einen Moment nicht wissen, ob Spukgestalten oder Einbrecher nicht doch ihr Unwesen treiben. Mitunter kann dieses flüchtige Phänomen eine prägendere Kraft auf das Alltagsleben ausüben als reale Erlebnisse: In Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ erlangt Albertine im Traum das, was ihr Mann vergeblich sucht, nämlich einen erfüllenden und befriedigenden Seitensprung, der sie am Ende resümieren lässt, „dass die Wirklichkeit einer Nacht [. . . ] zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet“ (Schnitzler 1979, 128; vgl. Alt 2002, 345–348). Diese Aussage hätte wohl auch Freud unterschrieben, der in Schnitzler seinen literarischen Zwillingsbruder sieht 1 (Erdheim 1992, 105; vgl. Rella 1981) und mit der „Traumdeutung“ (Freud 1900a) erstmals eine Sicht auf jenes rätselhafte Phänomen empfiehlt, die voll und ganz auf das Individuum und sein Unbewusstes zentriert ist, während Überlegungen zum kollektiven Unbewussten, auf das C. G. Jung so großen Wert legt, bereits seit der Romantik bekannt sind. Freud hat sein Werk mit Bedacht im Jahre 1900, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erscheinen lassen, das Eli Zaretsky als „Freuds Jahrhundert“ bezeichnet (2006). Das ist nicht abwegig, denn die „Traumdeutung“ ist die Schlüsselschrift zum hermeneutischen Verständnis des Unbewussten, weil die Frage nach dem „unbewussten individuellen Sinn“ gestellt wird (Ermann 2008, 30). Dementsprechend bezeichnet die bekannte Anglistin Elisabeth Bronfen sein Werk als „Erzählung einer Reise durch die Nacht“ (Bronfen 2008, 202; eigene Hervorhebung, B. R.) und das Unbewusste „als Bühne für ein nächtliches psychisches Theaterspiel“ (ebd., 203; eigene Hervorhebung, B. R.). 1
Schnitzler sieht das indes differenzierter, weil er als Dichter nicht an eine bestimmte Theorie gebunden ist. Wenn man den Text genau liest, wird nämlich klar, dass die Aussage von Albertine nicht so eindeutig ist wie der Anschein, den das Zitat erweckt, und dass man von der Ansicht der Protagonistin nicht unbedingt auf die des Autors schließen kann. Denn der oben zitierten Aussage ist der Satz vorangestellt, „dass wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind“ (Schnitzler 1979, 128). Ob sie das auch ganz sicher wisse, möchte ihr Mann daraufhin wissen – dann folgt zwar das nämliche Zitat („dass die Wirklichkeit einer Nacht . . . “) (ebd.), aber auch der Nachsatz: „Niemals in die Zukunft fragen“ (ebd., 129).
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3.3 Interpretation des Traumes
Das Text auslegende Element ist primär in der Unterscheidung zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken begründet (Freud 1916–1917, 111–123); jener sei das, woran man sich erinnere und was man erzähle, dieser müsse erst erschlossen werden, sei er doch „der entstellte Ersatz für etwas anderes, Unbewusstes“ (ebd., 112). Daher sei „die Traumdeutung [. . . ] die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“ (Freud 1900a, 613), und es lasse sich „nach vollendeter Deutungsarbeit [. . . ] der Traum als eine Wunscherfüllung erkennen“ (ebd., 126), und zwar vorwiegend libidinöser Natur. Damit entfernt sich Freud allerdings von den Grundprinzipien der Interpretation, weil diese in den Geisteswissenschaften als ein mehrdimensionales und nicht als ein monokausal-reduktionistisches Verfahren angesehen wird, 2 doch steht bei der These der sexuellen Wunschbefriedigung die naturwissenschaftlich verstandene Triebtheorie mit ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit im Hintergrund. Ein luftiges Gebilde wie der Traum, das es gleichzeitig ermöglicht, als unendliches Auffangbecken für schwerwiegende Lebensprobleme jeglicher Art zu fungieren, vermag indes auch anderen Zwecken dienlich zu sein als der Triebbefriedigung. Es kann zum Beispiel dem Bedürfnis nach Objektbeziehungen Ausdruck verleihen (Balint 1999, 59–64), Verarbeitungsprozesse des Ichs (Blanck u. Blanck 1993, 289–312) oder Zustände des Selbst thematisieren (Kohut 1989, 171– 185) bzw. allgemein als „Mittel der Selbstdarstellung“ fungieren (Thomä u. Kächele 2006a, 178). Darüber hinaus können allgemeinmenschliche Probleme thematisiert werden, die über das Individuum hinausweisen (s. u.), worauf Jung sein Augenmerk richtet, wenn er von archetypischen Bildern spricht (Jung 1987; ders. 1995), was allerdings aus literaturwissenschaftlich-hermeneutischer Perspektive nicht weniger dogmatisch ist als die Freud’sche Sicht. In Hinblick auf einen offenen Horizont der Traum-Interpretation könnte man ferner gesellschaftliche Aspekte beachten, sofern man der Meinung ist, dass nicht nur die Psyche unser Erleben prägt, sondern auch mentale Strukturen bzw. gesellschaftliche Einflüsse und das soziokulturelle Umfeld (s. u.; vgl. Rieken 2007b, 74 ff.; s. auch Kap. 3.5.3). Es ist zum Beispiel ein Unterschied, ob jemand, der aus einfachen oder großbürgerlichen Verhältnissen stammt, von etwas Bedeutendem träumt, das in einer engen Vorstadtwohnung oder einer geräumigen Villa stattfindet. All dies könnte Teil einer umfänglichen Interpretation sein, womit nicht empfohlen wird, dass jeder Traum nach allen möglichen Seiten hin „abgegrast“ werden sollte, sondern nur, dass er als Text betrachtet in einem Kontext (s. u.) steht, der nicht nur über die Triebdynamik, sondern auch über das Individuelle hinausweisen kann, wiewohl das Individuum, welches ihn produziert, im Rahmen einer Psychoanalyse selbstverständlich im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Bedenkt man all dies, so erscheint es angemessen, dem Traum „zu begegnen etwa wie ein Literaturwissenschaftler – den Aufbau zu betrachten, die genaue Wirkung der Bilder, die Wahl der Worte, die innere Dynamik“ – so Rainer Schmidt in seiner individualpsychologisch-analytischen Monografie über den Traum (2005, 30). 2
Daher sprechen wir in diesem Kapitel von der „Interpretation des Traumes“.
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Nun ist es aber an der Zeit, Alfred Adlers spezifische Sicht ins Auge zu fassen. In seinen ersten Arbeiten steht er noch zur Gänze auf dem Boden von Freuds Theorie, „dessen Auffassung vom Traume ich in allen Punkten bestätigen kann“ (Adler 1908f, 48). Denn anhand zweier Beispiele macht er deutlich, dass „der andauernde Angstaffekt“ der Träumenden gedeutet werden müsse „als die der Außenwelt zugekehrte Seite eines im Wachen verdrängten Wunsches, dessen Intensitätsmaximum im Unbewussten sitzt“ (ebd., 49). Im „Nervösen Charakter“ klingen Adlers Ausführungen zum Traum bereits ganz anders, denn nun löst sich „die von Freud behauptete Erfüllung von infantilen Wünschen im Traum [. . . ] auf in einen Versuch des Vorausdenkens, um zur Sicherung zu gelangen“ (Adler 1912a, 116). Er zeige die charakteristische Art an, wie die betreffende Person mit einem bevorstehenden Problem umgehe, und in gleicher Weise würden „mehr oder weniger abstrakt die Einstellung des Träumers zur Mitwelt und somit auch seine Charakterzüge und deren neurotische Abbiegungen“ zutage treten (ebd., 114), was Adler später unter dem Begriff „Lebensstil“ fassen wird. Die Abstraktion sei „durch die Sicherungstendenz erzwungen, die ein Problem durch Vereinfachung und Zurückführung auf ein einfacheres, kindlicher gelegenes zu lösen sucht“ (ebd., 114 f.) Der Traum könne außerdem als eine Fiktion gelesen werden, „in der sich die Vorversuche und Proben verdeutlichen, durch welche die Vorsicht zur Beherrschung einer Situation in der Zukunft gelangen will“ (ebd., 115; vgl. Adler 1920a). Adler argumentiert in erster Linie zielkausal, denn im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht die Frage nach dem unbewussten Zweck des Traumes: Er sei ein fiktiver Versuch des Vorausdenkens, um bevorstehende Probleme einer möglichen Lösung zuzuführen, und stehe demnach im Dienste der Sicherung. Gleichzeitig werden aber auch wirkkausale Aspekte berücksichtigt, weil er erstens von Charakterzügen spricht – die ihren Ursprung in der Kindheit haben – und zweitens im Traum Schemata verwendet würden, die in ihrer Einfachheit auf kindliche Muster zurückzuführen seien. Und wenn er Freuds Wunscherfüllung aufgreift und sie zu einem Verlangen nach Sicherung uminterpretiert, wird deutlich, dass auch beim Begründer der Psychoanalyse wirk- und zielkausale Aspekte zu finden sind. Die Libido wirkt ursächlich, aber sie drängt nach vorn, hat ein Ziel, indem sie befriedigt werden möchte. Umgekehrt hat auch die Sicherungstendenz ihren kausalanalytischen Ursprung, nämlich im Minderwertigkeitsgefühl, das mithilfe des Aggressionstriebes bzw. des Strebens nach Macht als Motor wirkt und den Menschen antreibt. Damit sollen die Unterschiede nicht verwischt werden – Rainer Schmidt hat sich mit ihnen, aber auch mit den Gemeinsamkeiten zwischen Freud und Adler ausführlich befasst (Schmidt 2005, 50–76; vgl. Wexberg 1987, 37–51) –, denn wir wollen nur deutlich machen, dass wirk- und zielkausale Aspekte nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten, sondern einander ergänzen können und das in der Regel auch tun, weil es sich um nicht mehr als unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen handelt. Freud selbst legt bereits das Augenmerk auf Intentionalität, wenn er auf die Wunscherfüllung im Traum fokussiert, und ähnlich ist es bei späteren Analytikern. Donald Meltzer betrachtet ihn beispielsweise als zwar unbewusstes, aber aktives
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3.3 Interpretation des Traumes
Denken, das einen Raum für Kreativität und Bedeutungszuschreibungen ermögliche (Meltzer 1988), womit wir wieder in die Nähe der geisteswissenschaftlichen Dimensionen von Texten und ihren Interpretationen gelangen. Mertens spricht von einer „funktionalen Erklärungsebene (Mertens 2003, 118) – einer Wortkombination, die Wirk- und Zielkausalität miteinander verbindet – und Ermann, wie bereits erwähnt, vom „unbewussten individuellen Sinn“ (Ermann 2008, 30). Damit ergeben sich einige Anknüpfungspunkte an Adlers Sicht und seine Zentrierung auf intentionale Aspekte. Doch noch erfreuter wäre er wahrscheinlich gewesen, wenn er bei Thomä und Kächele Folgendes gelesen hätte: „So notwendig und wichtig die Vergangenheit des Träumers mit seinen lebensgeschichtlichen Entwicklungshindernissen auch ist, sein Leben spielt sich im Hier und Jetzt ab und ist auf die Zukunft orientiert“ (2006a, 180; eigene Hervorhebung, B. R.). Ähnlich hat das bereits 1928 Erwin Wexberg formuliert, als er meinte, „die Erfahrungen der Individualpsychologie weisen nun darauf hin, dass der Traum eine Form der Vorbereitung zukünftigen Geschehens leistet, die vom Wachdenken nicht ohne weiteres erfüllt werden kann“ (Wexberg 1987, 83; eigene Hervorhebung, B. R.). Damit soll keineswegs gesagt werden, dass Adler schon immer alles gewusst hätte, was spätere Generationen von Analytikern erarbeitet haben, sondern nur, dass er sich auf eine Perspektive zentriert, die heute anscheinend stärker in den Vordergrund rückt. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass es aus unserem Blickwinkel – im Gegensatz zu dem von Adler bzw. Thomä und Kächele – nicht darum geht, den Einfluss von Wirk- und Zielursache unterschiedlich zu gewichten, sondern beide gleichermaßen zu berücksichtigen, eine Sicht, für die wir, wie in Kap. 2.1.1 dargelegt, uns auf Aristoteles als Begründer einer umfassenden und bis heute akzeptierten philosophischen Ursachenlehre stützen dürfen. Wir wollen das anhand eines Traumes verdeutlichen: Die Patientin, eine Akademikerin Mitte 30, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit noch einmal ein Studium aus dem Bereich der Humanwissenschaften aufgenommen hat, träumt davon, sich in Sommerfrische auf jenem Bauernhof zu befinden, auf welchem sie bereits in Kindertagen mit den Eltern die Hauptferien zu verbringen pflegte. Sie bewohnt dort ein Extrazimmer, genauer ein Turmzimmer oberhalb der eigentlichen Ferienwohnung, worüber sie sehr glücklich ist. Gleichzeitig gibt es auf dem Anwesen einen Hörsaal ähnlich jenen an ihrer Universität, in dem sich neben einer befreundeten Studienkollegin erstaunlicherweise auch eine Muttersau mit Ferkeln befindet. Die Patientin möchte eines der Jungtiere streicheln, obzwar sie weiß, dass die Sau das nicht mag. Sie versucht es dennoch, und es kommt, wie es kommen muss, die Sau verfolgt sie quer durch die Sitzreihen, doch sie entflieht, indem sie über die Bänke springt. Auffällig ist die Verbindung von Kindheit und Ferien mit der Universität sowie der Sau samt ihren Ferkeln. Als erstes fiel der Patientin dazu ein, dass das Tier, da es sich in einem Hörsaal aufhalte, nicht artgerecht gehalten werde. Ihr sei es in der Kindheit
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ähnlich ergangen, hatte sie doch als Erstgeborene von mehreren Geschwistern Vorbildfunktionen übernehmen müssen, woraus sich eine lebensstiltypische Angepasstheit und Rücksichtnahme gegenüber anderen entfaltete, die in den „kategorischen Imperativ“ des Brav-sein-Müssens mündete – ähnlich wie man als Studentin in einem Hörsaal ebenfalls Anpassungsleistungen zu erbringen hat und sich dort dann unter Umständen wie eine „arme Sau“ fühlt. Aus den Angleichungszwängen entwickelte sich kompensatorisch eine subtile Protesthaltung mit aggressiver und autoaggressiver Note, die sich im Traum darin zeigt, dass sie wider besseres Wissen ein Ferkel zu streicheln versucht. Die oppositionelle Haltung wird auch anhand der Gleichsetzung von Urlaub und Hörsaal deutlich, laborierte sie doch geraume Zeit an ihrer Diplomarbeit und kam keinen Schritt voran. Dieser Aspekt ist dem Text indes nicht zu entnehmen, erschließt sich allerdings aus dem Kontext der vorangegangenen und der folgenden Stunde in derselben Woche. 3 Die frühere Einheit eröffnete sie nämlich mit Schweigen und der anschließenden Bemerkung, dass sie eigentlich nicht reden wolle, weil sie sich in der Arbeit extra habe krankschreiben lassen, um an der Diplomarbeit zu werkeln, bisher jedoch nichts zustande gebracht habe. Und in der Stunde nach dem Traum gab sie zu erkennen, dass sie die zögerliche Attitüde beim Verfassen entwickelt habe, weil sie Angst vor der mit dem neuen Beruf verbundenen Selbstständigkeit habe und offenkundig lieber in ihrem Angestelltenverhältnis verharren wolle. Individualpsychologisch formuliert und intentional betrachtet steht die Schreibhemmung demnach im Dienste der Sicherung, während sie wirkkausal aus dem unbewussten Konflikt zwischen dem aus der Kindheit stammenden Anpassungsdruck und einem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung resultiert, die in dem Fall allerdings auf ein falsches Gleis geleitet wurde, weil die Patientin in der Opposition verharrte. Mit anderen Worten: Das Aufbegehren gegen die nicht „artgerechte“ Haltung in Gestalt des Anpassungsdrucks führte kompensatorisch zu einem Protest gegen die universitären Verpflichtungen in Form der Diplomarbeit, weswegen sie das Verfassen derselben immerfort hinauszögerte. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Befürchtung, trotz aller Bemühungen beim Verfassen eine positive Note zu verfehlen, weswegen das Sicherheitsbedürfnis auf eigentümlich-neurotische Art befriedigt wurde, indem sie erst gar nicht zu schreiben begann. In diesem Sinn wähnte sich die Patientin „oben“, um ein Lieblingswort Adlers zu verwenden, und in diesem Sinn ist es auch zu verstehen, wenn sie im Traum das Turmzimmer bewohnt. Das Beispiel soll deutlich machen, dass wirk- und zielkausale Perspektiven bei der Interpretation eines Traumes Berücksichtigung finden sollten, aber auch der Kontext mit einbezogen werden kann, wozu unter anderem vorangegangene und nachfolgende „Texteinheiten“, sprich Analysestunden, zählen. In diesem Sinn definiert die
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Die Stunde mit dem Traum fand an einem Donnerstag statt, die beiden anderen waren der Dienstag davor und der Freitag danach.
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3.3 Interpretation des Traumes
volkskundliche Erzählforschung 4 „Kontext“ als „den weitgefassten Hintergrund eines Werks oder Phänomens ebenso wie (Text-)Passagen, die anderen vorangehen oder folgen“ (Ben-Amos 1996, 217; vgl. Rieken 2000, 22–30; 59–90). Darüber hinaus werden auch allgemeine Probleme des modernen Menschen thematisiert, die über das Individuum, welches den Traum erzählt, hinausweisen. Diese zu thematisieren kann indes nicht allein heuristischen, sondern auch kurativen Wert haben, weil man gewahr wird, mit seinem Problem nicht allein zu sein, und weil darüber hinaus neue Perspektiven ins Blickfeld geraten können. Gemeint ist in dem Fall der Umgang mit Anpassungsdruck, den wir auf eine bekannte Textstelle aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ beziehen wollen: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe“ (Nietzsche 1983, 307). Das Kamel sei ein „tragsamer Geist“, und werde, beladen mit „dem Schweren und Schwersten“, in die Wüste geschickt (ebd.). Dort vollziehe sich eine weitere Verwandlung, denn „zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste“, auch wenn diese Umformung noch nicht der Hervorbringung neuer Werte dienlich sei (ebd., 308). Die dritte Metamorphose sei die des Löwen zum Kind, sie sei „ein Neubeginnen, ein Spiel [. . . ], ein heiliges Ja-Sagen [. . . ]: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene“ (ebd.). Was Nietzsche hier in der ihm eigentümlichen Verbindung von dichterischer und philosophischer Sprache formuliert, kann einerseits bezogen werden auf den europäischen Prozess der Individualisierung, der im Zeitalter der Renaissance seien Anfang genommen hat (vgl. Kap. 1.1.3), und andererseits auf die Entwicklung des Einzelnen in eben diesen Gesellschaften. Am Beginn steht die Abhängigkeit von Autoritäten, etwa feudalen Herrschaftsstrukturen, denen gegenüber man sich als „tragsamer Geist“ erweisen muss. Irgendwann wird das den Menschen zu viel, und sie verwandeln sich in Löwen, indem sie gegen Unterdrückung anzukämpfen beginnen. Schließlich bedürfen sie in einem dritten Schritt auch bestimmter Werte, wie sie sich politisch in den Grundrechten manifestieren. Dies entspricht der dritten Verwandlung, der Metamorphose zum Kind. Das mag missverständlich klingen, weil man den Begriff eher mit etwas Infantilem und weniger mit einem hohen Entwicklungsniveau verbindet, doch das ist hier nicht gemeint, denn „Kind“ ist als Neubeginn im Sinne der Entdeckung seiner eigenen Welt, sprich seiner Individualität, zu verstehen. Wenn wir nun Nietzsches Worte auf die geistig-seelische Entwicklung des Individuums beziehen, so steht am Anfang die Abhängigkeit von den Eltern und anderen Autoritäten. In der Pubertät als Übergangsphase zwischen Kind und Erwachsenem wird man zum „Löwen“, indem man gegen die Erzieher protestiert, aber das ewige Nein-Sagen kann auch nur ein Zwischenstadium sein, weil, genauso wie in der Situa-
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Diese wird hier nicht grundlos erwähnt, denn Tiefenpsychologie und Ethnologie bzw. volkskundliche Erzählforschung haben etwas Essentielles gemeinsam, nämlich eine tiefschürfende Beschäftigung mit alltäglichen Phänomenen, denen im Allgemeinen wenig Beachtung geschenkt wird.
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tion des „Kamels“, die großen „Anderen“ Bezugspunkte bleiben, zuvor ex positivo, nun aber ex negativo. Das Stadium des „Kindes“ im Sinne Nietzsches hat man indes erst dann erreicht, wenn man „seine Welt gewinnt“, das heißt intrinsisch motiviert ist und nicht extrinsisch, um es wissenschaftlich zu formulieren. Erich Fromm, der ebenfalls die gesellschaftliche und individuelle Entwicklung ins Auge fasst, spricht in dem Zusammenhang von der „Freiheit von“ und der „Freiheit“ zu (Fromm 2003, 55). Erstere entspricht der Phase des „Löwen“ und sei charakterisiert durch „die Geburt der Individualität“, aber auch den „Schmerz des Alleinseins“ (Fromm 1983, 208), während Letztere mit der Phase des „Kindes“ in Verbindung gebracht werden kann, welche sich durch die „Bejahung der Einzigartigkeit des Individuums“ auszeichne (ebd., 209). Unsere Patientin befand sich demnach zur Zeit des Traumes irgendwo in einem Zwischenreich, leidend unter der Abhängigkeit vom elterlichen Diktum des BravSeins („Kamel“) und bereits dagegen aufbegehrend („Löwe“, „Freiheit von“), indem sie die Anfertigung der Diplomarbeit hinauszögerte. Im Stadium des „Kindes“ („Freiheit zu“) befand sie sich noch nicht, denn dann hätte sie sich – kognitiv und emotional – vergegenwärtigt, dass sie das Zweitstudium freiwillig begonnen hatte und daher auch das Verfassen der Abschlussarbeit in ihrem eigenen Interesse lag. Dementsprechend endet der Traum mit der Flucht vor der wütendem Sau und somit in der Phase der „Freiheit von“. Der Traum spiegelt aber auch gesellschaftliche Verhältnisse bzw. mentale Strukturen wider, die für das Land typisch sind. Erwin Ringel weist in seiner „Neuen Rede über Österreich“ darauf hin, dass in der Alpenrepublik Gehorsam, Höflichkeit und Sparsamkeit die wichtigsten Erziehungsziele seien (Ringel 1986b, 10). Natürlichkeit, Freundlichkeit, Selbstständigkeit oder Authentizität kommen in diesbezüglichen Umfragen nicht vor – im Gegenteil: Als höchste Frucht österreichischer Erziehungskunst gilt, wenn man von seinem Kinde behaupten kann, es sei „brav“. Unterordnung und Anpassung spielen eine große Rolle in der Mentalität, was auch seinen Niederschlag in der Kultur gefunden hat: „Die edelste Nation unter allen Nationen is’ die Resignation“, lesen wir bei Nestroy (1981a, 27), und in Johann Strauß’ Operette „Die Fledermaus“ heißt es: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ (Strauß 1986, 1. Akt). Bevor wir zum nächsten Fallbeispiel überleiten, wollen wir resümierend festhalten, dass die Patientin im Großen und Ganzen an Konflikten leidet, die irgendwann lösbar erscheinen und in einer Erwachsenensprache vermittelbar sind sowie zu einer Drei-Personen-Psychologie gehören, nämlich zum erzählenden Subjekt selbst und zu zwei Objekten, den Eltern und dem Problem (die Sau, die Abschlussarbeit). Mit anderen Worten: Es handelt sich vorwiegend um Geschehnisse auf der ödipalen Ebene. Träume aus dem dunklen Bereich der Grundstörung sind hingegen von anderer Tönung, da sprachlich schwieriger interpretierbar, einer Zwei-Personen-Psychologie zugehörig, weniger konfliktträchtig und eher als Defekt zu verstehen, der abschreckend wirkt (s. Balint 1997a, 24 ff. u. ö.). Vorrangige Themen, so Michael Ermann, seien
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3.3 Interpretation des Traumes
„Ungezügelte Aggressivität und Destruktivität [. . . ], Zerstückelung und Zerfall des Körpers, Verwendung von Tieren oder leblosen Objekten zur Traumgestaltung, Entleerung und Verfolgung erscheinen dabei als typische Merkmale. Ihnen allen scheinen das Bizarre und die Unmittelbarkeit von Affekt und Impulsivität eigen und geben ihnen einen chaotischen Charakter“ (Ermann 2005a, 162; s. ders. 2005b, 72–85). Um das zu illustrieren, sei ein kurzer Traum wiedergeben, der von Herrn Felsner stammt, dem wir bereits in Kapitel 3.1.3 begegnet sind: Im Garten seiner Eltern findet er einen Karton, worin sich die zerquetschte Leiche eines entfernten Bekannten befindet, der infolge eines schweren Autounfalls gestorben ist. Auf einem Müllhaufen aus Autoersatzteilen entdeckt er zudem den abgeschnittenen Finger des Mannes (338. Std., 08.05.2004). Die zerquetschte Leiche ist etwas Grauenerregendes, von dem man sich lieber fernhält, und es wurden Gefühle assoziiert, die jenen ähnlich waren, wenn er in den Strudel persönlicher Nähe zu anderen Menschen geriet, wodurch er sich aufzulösen und zerstört zu werden wähnte. Der Zusammenhang mit seiner Mutter als unzulänglichem Primärobjekt (s. Kap. 3.1.3) zeigt sich daran, dass sich die Szene im elterlichen Garten abspielt und dass dieser bzw. die Natur im Allgemeinen vorwiegend mit weiblichen Attributen des Nährenden und „natürlicher“ Geborgenheit versehen sind. Die Kastrationsangst, auf die im letzten Satz des Traumes verwiesen wird, hatte eine sichernde Funktion, denn sie schützte ihn nicht allein vor ödipalen Turbulenzen, sondern war auch und vor allem auf der Ebene der Grundstörung angesiedelt, weil sexuelle Intimität in dieser Phase der Therapie weitgehend vermieden wurde, um nicht durch diese besonders intensive Form der Nähe sich den Gefühlen des AusgeliefertSeins und Aufgelöst-Werdens auszusetzen. Während die wirkkausale Seite des Traums in der traumatisierenden Beziehung zur Mutter aufzulesen ist, ist das intentionale Element in dem Versuch begründet, sich von den grauenerregenden Gefühlen zu befreien. Ähnlich wird es in der psychoanalytischen Literatur gesehen: „Darin liegt ein Bewältigungsversuch, eine prototypische Art von Externalisierung, die freilich im seelischen Innenraum verbleibt. Dieser Versuch hat das Ziel, eine gewisse Distanz zu dem Erleben zu finden, das im Traum zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise dienen solche Träume der Selbst-Regulation. Sie sind ein Ansatz, um sich von überwältigenden Impulsen und Phantasien zu befreien und sich davor zu schützen“ (Ermann 2005a, 163). Die in der psychoanalytischen Literatur vertretene Auffassung, dass im Gegensatz zu höherstrukturierten Träumen niederstrukturierte nicht symbolisiert seien (s. ebd.;
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Ermann 2008, 31; Kutter-Müller 2008, 103), ist allerdings nur unter Verwendung eines engen, um nicht zu sagen, dogmatisch-freudianischen Symbolbegriffs nachzuvollziehen, der „Deutung“ primär oder ausschließlich im Kontext der Übertragung betrachtet, demzufolge symbolische Anspielungen auf die Übertragung enthalten sein müssten (s. Ermann 2005a, 165; vgl. Löchel 2008). Deswegen sprechen wir lieber von Interpretation als von Deutung, denn mit jener befinden wir uns im weitaus offeneren Land der Philologie, die bis heute Goethes Symbolbegriff verwendet, der folgendermaßen lautet: „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendigaugenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“ (Goethe 1994b, 471; eigene Hervorhebung, B. R.). Aus dieser Sicht ist die zerquetschte Leiche aus Herrn Felsners Traum selbstverständlich ein Symbol, weil sie nicht nur eine zerquetschte Leiche ist und ausschließlich für sich als das Besondere steht, sondern auch für ein Allgemeineres, nämlich seine von Grund auf gestörte Seele. Und in einem weiteren Schritt lässt sich das, ähnlich wie mit Nietzsches „drei Verwandlungen“ im vorigen Traum, auf ein noch Allgemeineres ausweiten, weil die Ebene der Grundstörung, gedacht als Vertreibung aus dem Paradiese, wohl jeden berührt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Die kritischen Bemerkungen zum freudianischen Symbolbegriff sollen nicht den heuristischen Wert der Unterscheidung zwischen nieder- und höherstrukturierten Träumen infrage stellen, sondern nur auf die Enge des psychoanalytischen Symbolbegriffs im Vergleich zum literaturwissenschaftlichen hinweisen. Lassen wir das Kapitel Revue passieren, so können wir festhalten, dass die Sicht von Freud und Adler auf den Traum zwar unterschiedlich akzentuiert ist, aber von beiden Wirk- und Zielursache berücksichtigt werden. In der neueren analytischen Literatur rücken allerdings die von der klassischen Individualpsychologie favorisierten intentionalen Aspekte in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der Freud’sche Symbolbegriff ist indes zu eng, um einem so vielfältigen Phänomen wie dem Traum in hinreichender Weise gerecht zu werden; diesbezüglich sind Herangehensweisen angemessener, welche sich literaturwissenschaftlich-hermeneutischer Zugänge befleißigen.
3.4 Die Frage der Orthodoxie in den Behandlungstechniken einer Psychoanalytischen Individualpsychologie Thomas Stephenson
Fragen des „rechten Glaubens“, also der „Ortho-doxie“ spielen bekanntlich nicht nur in der Religion eine gewichtige Rolle. Auch in der Wissenschaft kann man gerade an den „wissenschaftlichen Revolutionen“ und ihrer Dynamik (vgl. dazu z. B. Fleck 1935, Kuhn 1962, Stephenson 2003) erkennen, dass Erkenntnisfortschritt bisweilen zur kriegerischen Handlung wird, wenn es gilt, das Neue gegen das Alte zu verteidigen. Hexenverbrennungen gehören zwar der Vergangenheit an, aber das Schicksal von „Abtrünnigen“ kann auch heute noch ein gar grausames sein. In kaum einer Scientific Community jedoch gingen die Wellen so hoch, wenn ein neues Schiff am Horizont des etablierten Wissens auftauchte, wie in der Psychotherapie, und hier hat gerade die Psychoanalyse gute Chancen, im Wettstreit der Schulen um den ersten Platz in der Kategorie „Massivität von Reaktionen bei Verdacht auf Verletzung der Orthodoxie“ das Feld abgeschlagen hinter sich zu lassen. Die Reihe jener, die Freuds Linie zu seinen Lebzeiten oder auch danach verließen und sich damit für die „klassische Psychoanalyse“ ins Out manövrierten, ist lang, anfangs blieb es mit Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Wilhelm Reich, Sandor Ferenczi und einigen anderen eigenständig denkenden Persönlichkeiten, die ihrem Gedankengebäude auch noch einen eigenen Namen zu geben wagten (Individualpsychologie, Analytische Psychologie, etc.), noch überschaubar, mittlerweile ist von „der Psychoanalyse“ (ebenso wie von „der Tiefenpsychologie“) zu reden, eigentlich schon absurd, bedenkt man die Unzahl von Varianten, die in den über den ganzen Erdball verteilten Schriften von sich (zumindest im weitesten Sinn) zur psychoanalytischen Community zählenden AutorInnen auszumachen ist. Für die Individualpsychologie, die ihre eigene Existenz der ersten zum Durchbruch in eine neue selbständige Community führenden Verletzung der Orthodoxie verdankt, spielten Fragen der „Linientreue“ nicht in demselben Ausmaß eine Rolle wie in „der Psychoanalyse“. Zwar hatten sich nach Adlers Tod bereits zwei grundlegend unterschiedliche Versionen abgezeichnet, die sich mit den Jahrzehnten immer klarer als „die nordamerikanische(= kognitivistische)“ und „die deutschsprachige(= tiefenpsychologische)“ Individualpsychologie voneinander abgrenzten, aber sie hielten Distanz, kamen sich in diesem Sinne auch nie wirklich in die Quere. Kam es doch zu einer der seltenen Konfrontationen, so wurden diese regelmäßig mit einer Bestätigung der Unterschiede und der Distanz als einer wohlbegründeten beendet, wie noch vor ein paar Jahren im „Stein-Edwards-Diskurs“ (s. Stephenson 2011b). Anders aber als beim „großen Bruder“ kam es nie zu einer Aufspaltung von Schulen, die „drüben“ durch das Führen einer eigenen Bezeichnung („Neopsycho-
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3.4 Die Frage der Orthodoxie in den Behandlungstechniken
analyse“, „Selbstpsychologie“, „Relationale Psychoanalyse“ u. ä.) oder zumindest einer zitierbaren regionalen Kennzeichnung („die britische Gruppe“, „die New Yorker Gruppe“ u. ä.), u. U. auch nur durch eine terminologische Sonderstellung („Objekttheoretiker“) bzw. personale Gefolgschaft („Kleinianer“) einen eigenen Trakt im von Freud gestifteten Schloss bewohnen durften. Dabei war in der Hitze des jeweiligen Gefechtes um das Freudsche Erbe nicht immer klar erkennbar, ob nicht doch eine Verbannung aus dem Hoheitsgebiet der Psychoanalyse angezeigt wäre. Die identitätsbezogenen Biorhythmen zumindest innerhalb der deutschsprachigen Individualpsychologie verliefen hingegen eher flach und waren zumeist entweder als „eklektizistisches Echo“ der jeweiligen Entwicklungen bei „den PsychoanalytikerInnen“ zu vernehmen, oder als „Verwaltungsprobleme“ eines zum Teil auch ungeliebten Erbes des eigenen Gründervaters, der ja bekanntlich sein eigenes Erbe, nämlich jenes des Großvaters Freud 1 , in seiner gegen diesen gerichteten Polemik nicht vermehrt, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil verprasst hatte. Und während sich in Deutschland durch die über viele Jahrzehnte verteilten Gründungen verschiedener Alfred Adler Institute und einer Reihe von Persönlichkeiten, die „Anhängerschaften“ um sich scharen konnten (Dreikurs, Antoch, Lehmkuhl, Heisterkamp u. v. m.), die theoretische Vielfalt noch einigermaßen steigern konnte, kam es in Österreich in keinem nennenswerten Ausmaß zu theoretisch unterschiedlichen Profilierungen. Es blieb bis vor kurzem bei der Monopolstellung des einen und einzigen Österreichischen Vereins für Individualpsychologie mit seinem einen und einzigen angeschlossenen Alfred Adler Institut. Erst durch die Gründung einer neuen Community, die sich an der Sigmund-Freud-Privatuniversität 2006 bildete, durch einen 2010 abgehaltenen entsprechenden Kongress, einer Sammelpublikation der Mitglieder zu den verschiedenen Themengebieten der Individualpsychologie (Rieken 2011a) und einem eigenen Lehrbuch (das Sie gerade in Händen halten), waren die identitätsstiftenden Rituale einer Scientific Community vollzogen. Damit sind auch die auf diesem Wege zu setzenden Bausteine für eine größere Theorienvielfalt und die Basis für konstruktive Grundsatzdiskurse gegeben. In Österreich war es ein 2003 aufkeimender und 2005 zur Vollblüte gelangender paradigmenwertiger Streit um die fragliche Legitimität der „self-disclosure“ der AnalytikerInnen (Rieken 2003, Datler 2005b, Gasser-Steiner 2005, Matschiner-Zollner 2005, Presslich-Titscher 2005, Rieken 2005, Voitl-Mikschi 2005, Witte 2005), der die Frage der „Orthodoxie“ und seines angegliederten „Exklusionismus“ virulent werden ließ (siehe dazu Stephenson 2011a und 2011b). In Deutschland finden wir ein noch tiefergreifendes Beispiel für brisante Grundsatzfragen rund um die „Orthodoxie in den Behandlungstechniken“. Hier war es die „körpertherapeutische Dimension“, die Günter Heisterkamp in die Individualpsy1
Diese mittlerweile in der „modernen“ Individualpsychologie (der ja die Verwaltung des „Erbes“ nicht immer so leicht fällt) öfters verwendete Formulierung, derzufolge Adler der Vater der Individualpsychologie und Sigmund Freud ihr Großvater gewesen sei, geht zurück auf eine Bemerkung Erwin Ringels (Ringel 1987b, 84).
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chologie brachte, die für Aufregung sorgte. Ein Thema, das wie kaum ein anderes die Community in Angst versetzt, weil es an die Grundfesten des psychoanalytischen Selbstverständnisses rührt. Das nimmt nicht wunder, vergegenwärtigt man sich eine Tatsache bezüglich der Entwicklung der letzten 116 Jahre: In der Geschichte der Psychoanalyse – von ihrem Embryonalstadium der Charcot-Freud-Begegnung über die prä-, peri- und postnatalen Krisen um die Geburt der Psychoanalyse herum (die sich pikanterweise durch die Geburtswehen der hysterischen Scheinschwangerschaft der Patientin Anna O. beschleunigt hatten), sowie in der Kindergartenphase und Volksschulzeit der Mittwochgesellschaft mit den sich in ihr aufbauenden Dissidentenschaften und der Latenzzeit des Weltkrieges bis hin zur Adoleszenz des zweiten Drittels des vorigen Jahrhunderts und des frühen Erwachsenenalters, indem sie m. E. gerade steht – waren es immer die Kerngebiete der Sexualität und der Körperlichkeit, die Anlass zu Erdbeben einer existenzbedrohlichen Stufe boten, vor allem, wenn sie in die analytische Situation einzubrechen drohten. Die Erbitterung und die affektiven Entgleisungen, die in der Auseinandersetzung Thea Bauriedls mit Tilmann Mosers körpertherapeutischen Arbeiten in die Wahrnehmung der psychoanalytischen Scientific Community gelangten, sind ein erschütterndes Beispiel dafür, wie in der Psychoanalyse Fragen der Orthodoxie bestehende Kompetenzen zu differenzierter und besonnener Diskursführung in einer Sturmflut von Diffamierung, Pathologisierung und wütender Ausgrenzung hinwegfegen können. Mittlerweile hat sich eine sehr differenzierte Diskurslandschaft herausgebildet, die an vielen Stellen bereits zu einer Klarheit über die Gefahren unreflektierten Beharrens auf einer „Orthodoxie“, die die ungeheure Vielfalt der therapeutischen Ressourcen negiert, geführt hat. Diese Klarheit findet sich prägnant und pointiert in folgender Deklaration: „Mit dem traditionellen Verständnis von Technik waren klare Befehle verbunden: ‚Erhalte den analytischen Rahmen aufrecht.‘ – ‚Stelle niemals Fragen.‘ – ‚Beantworte niemals Fragen.‘ Doch solche Regeln erfüllen nicht mehr ausreichend ihren Zweck. Wir nehmen heute an, dass der Analysand diese Pose des Analytikers häufig durchschaut, und wir wollen, dass der analytische Kliniker sich auf eine für ihn persönlich authentische Weise verhält. Viele Analytiker sind heutzutage überzeugt, dass es nicht so wichtig ist, was man tut, und dass es eine wesentlich wichtigere Rolle spielt, wie offen das ist, was geschieht, mit dem Analysanden gemeinsam verarbeitet wird. [. . . ] Weil die klassischen Prinzipien der Technik so strikt mit Einschränkungen verbunden waren, die den Analytiker hindern sollten, sich emotional und in seinem Verhalten zu stark auf den Patienten einzulassen, sind in Verbindung mit dem Verblassen dieser Prinzipien Ängste aufgekommen, nun sei ‚alles erlaubt‘. Natürlich erklärt kein Autor ausdrücklich, dass nun alles möglich sein sollte, doch ändert dies nichts an der Befürchtung, das Aufgeben behandlungstechnischer Prinzipien wie Neutralität, Anonymität und Abstinenz führe uns letztendlich in eine verantwortungslose und unbekümmerte Selbstvergessenheit. [. . . ] Die Psychoana-
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3.4 Die Frage der Orthodoxie in den Behandlungstechniken
lyse [wird] heute in Wahrheit mit ebenso viel Disziplin praktiziert wie in der Zeit, als die klassische Theorie der Technik ihr als Rahmen diente. Doch hat Disziplin oder Technik in der heutigen psychoanalytischen Arbeit eine andere Funktion. Der Akzent liegt nicht mehr auf bestimmten Verhaltensweisen, sondern auf exaktem Denken, nicht auf [Verhaltens-]Einschränkungen, sondern in der Sensibilität, in der sich die Teilhabe des Analytikers äußert“ (Mitchell 2005, 10 f.).
3.5 Beispiele aus der Praxis: Fokaltherapien und Langzeitanalysen 3.5.1 Psychotherapeutische Begegnungen Brigitte Sindelar Auf der Suche nach Sicherheit Fritz Gärtner – so wollen wir ihn nennen – verlangt bei seiner telefonischen Vereinbarung des Erstgesprächs von der Sekretärin, mit mir selbst zu sprechen, da er eine dringende Frage klären müsse, bevor er sich zu einem Termin entschließe. Seine Frage an mich ist, ob er das Erstgespräch und dann auch eventuelle weitere Sitzungen auf Video aufnehmen dürfe. Auf meine Antwort, dass es ihm offensichtlich sehr wichtig sei, das Erstgespräch festzuhalten, antwortet er, dass er bereits acht psychotherapeutische Behandlungen in unterschiedlichsten Methoden hinter sich habe, er aus diesen Behandlungen ein großes Misstrauen mitgenommen habe, und es ihm jetzt so schlecht gehe, dass er kein Risiko mehr eingehen könne, wieder unverstanden zu bleiben. Ich antworte ihm, dass er derzeit offensichtlich keine andere Wahl hätte als sich mit der Video-Aufnahme des Erstgesprächs schützen zu wollen, also er die Video-Ausrüstung wohl mitbringen müsse. Das Erstgespräch gestaltet sich daher letztlich sehr kurz, da der Aufbau und Abbau der Videoauflage den größten Teil der für das Erstgespräch zur Verfügung stehenden Zeit in Anspruch nimmt. Seine Tätigkeit des Aufbaus begleitet er mit der Erklärung, dass er sich nicht sicher sei, ob er mich auch ausreichend beobachten könne, während er spricht, und daher das Erstgespräch aufnehmen müsse, damit er beim Betrachten der Aufnahme prüfen könne, ob er in meiner Mimik und Gestik vielleicht feindliche oder sogar sadistische Zeichen entdecke, oder in meinen Worten Überheblichkeit und mangelndes Mitgefühl mit seinem Leid. Die Psychotherapeutin, mit der er vorher gearbeitet hätte, habe ihm verboten, die Videoanlage mitzunehmen, und es sei ihm nach zehn Sitzungen mit ihr noch schlechter gegangen als vorher, er sei jetzt aufgrund seiner diffusen Schmerzattacken und Panikzustände noch viel schlechter „beisammen“ als vor der Beginn der Therapie. Was erzählt Fritz Gärtner damit aus seinem Leben? Fühlt er sich von Feinden umgeben, sodass er auch jemandem, der ihm Hilfe anbietet, nicht trauen kann, und glaubt, sich nur schützen zu können, indem er seine Mitmenschen ausreichend kontrolliert? Traut er seinen eigenen Wahrnehmungen nicht und muss diese (mittels der VideoAufzeichnung) kontrollieren? Erzählt er, dass es ihm an Objektkonstanz mangelt, wenn er meint, sich seiner Erinnerungen (an das Erstgespräch) nicht sicher zu sein? Strebt er nach Überlegenheit, die er an materielle Objekte (die Videoanlage) bindet,
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3.5.1 Psychotherapeutische Begegnungen
die ihm – fiktiv – kompensatorischen Halt geben? Versucht er, aus der Gemeinschaft (meiner anderen Patienten) herauszuragen, indem er eine Besonderheit (die Videoanlage) bietet? Muss er überprüfen, ob ich ihm Verhalten erlaube, das ihm verboten wurde? Ist sein Ziel, meine eigene Sicherheit zu prüfen, meine Belastbarkeit? Ist sein Ziel, mich zu lähmen, da ich ja während seiner Tätigkeit (mit der Videoanlage) nicht in einen therapeutischen Dialog der Worte finden kann? Zu den beiden nächsten Terminen bringt er wiederum seine Videoanlage mit und baut sie in der zur Verfügung stehenden Zeit auf und wieder ab. Zum dritten Termin stellt er selbst fest, dass er so nie zu einer psychotherapeutischen Behandlung kommen kann, weil er die gesamte Zeit mit der Videoanlage verbringt. Folgend bringt er die Videoanlage noch zwei Mal mit, ohne sie aufzubauen. Ab der fünften Sitzung kommt er ohne Videoanlage. Nun versucht er, die Sitzungen zu „verlängern“, indem er immer wenige Minuten vor Schluss ankündigt, dass er wahrscheinlich zur nächsten Sitzung nicht kommen werde, da er nicht so lange leben werde, und beginnt die jeweils nächste Sitzung mit heftigen Vorwürfen, weil ich ihm das letzte Mal nicht mehr an Zeit geschenkt hätte, also kein Mitgefühl mit seinem Leid habe – Beweis meiner Herzlosigkeit, die dem Berufsstand der Psychotherapeuten ohnehin zu eigen sei, wie seine Erfahrung ihn lehrte. Er kann sich nun auf einen psychotherapeutischen Dialog einlassen, nachdem er an Sicherheit in der psychotherapeutischen Beziehung gewonnen hat. Sein Streben nach Überlegenheit kann er nun von der materiellen Ebene (Videoanlage) weg in die therapeutische Beziehung bewegen, was ich als Zuwachs an Mut und Gewinn an Beziehungsfähigkeit verstehe: Nun strebt er danach, mich abzuwerten, um sein Minderwertigkeitsgefühl durch Überlegenheit (er ist der Einfühlsame, ich die Herzlose) zu kompensieren. Zugleich erprobt er, ob ich seinen Angriffen standhalten kann, ohne ihm feindselig zu begegnen. Die Ankündigung, dass die nächste Sitzung wahrscheinlich nicht mehr erleben werde, verstehe ich als seinen Versuch, durch seine Ohnmacht der Schwäche Macht über mich (Verlängerung der Stunden) auszuüben. Nach etwa zwanzig Sitzungen, in denen er ausdauernd die unterschiedlichsten Versuche unternimmt, die Sitzungsdauer zu verlängern, mittlerweile nicht mehr durch Drohungen, sondern indem er kurz vor Schluss beginnt, einen Traum zu erzählen, und sich damit jedes Mal von mir den Satz abholt: „Wenn Sie möchten, werden wir in unserer nächsten Sitzung mit diesem Traum arbeiten“, bemerkt er schmunzelnd am Ende der Sitzung: „Sie sind die erste Therapeutin, die die Uhr kennt. Alle anderen habe ich immer dazu gebracht, die Stunde zu verlängern.“ Jetzt bin ich mir sicher, dass sein Bedürfnis, das er mit den beschriebenen Inszenierungen ausdrückte, das nach Sicherheit, Vorhersehbarkeit und Stabilität war, aber auch danach, ihm etwas zuzutrauen, nämlich dass er den klaren Rahmen der Bedingungen der für ihn verfügbaren Zeit aushalten und auch die Trennungen zwischen
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den Sitzungen ertragen kann. Fritz Gärtner nahm eine mehrjährige Psychotherapie mit einer Frequenz von zwei Wochenstunden in Anspruch. Jahre nach Beendigung der Behandlung erreicht mich folgendes Mail von ihm: „Sie haben nicht einfach nur ‚dazu beigetragen‘ mich psychisch auf die Welt zu bringen, sondern waren die Hauptperson – die Mama, die mich ausgetragen (geduldig ertragen) und (daher) unter vielen Schmerzen auf die Welt gebracht hat!“ Damit bestätigt Fritz Gärtner meine Interpretation, dass sein vordringliches Anliegen war, (aus)gehalten zu werden, bevor er selbst stark genug war, in der Psychotherapie seinen Lebensstil zu erfahren und korrigieren zu können. Er erklärt in seinen Worten das „Holding“ (vgl. Kap. 2.5.2; 3.1) in der Psychotherapie. Eine Deutung seines zu Beginn der Therapie feindseligen Verhaltens hätte ihn in seiner Mentalisierungsfähigkeit überfordert. Auf der Suche nach dem Ich Die folgenden Passagen aus einer psychotherapeutischen Sitzung mit einem Jugendlichen 1 sind Auszüge aus einem Stundenprotokoll, das direkt nach der Sitzung angefertigt wurde. Die Dialoge sind daher nicht als Transkripte zu verstehen, kommen aber dem tatsächlichen Wortlaut sehr nahe. Stefan – wir wollen ihn so nennen – ist fünfzehn Jahre alt. Stefan sitzt mit geschlossenen Augen da, die Ruster-Locken verdecken sein Gesicht. Er summt und klopft dazu mit den Fingern einen Rhythmus. Was will er mir damit erzählen? Seine geschlossenen Augen, die Haare vor dem Gesicht – er zieht sich einerseits aus dem Kontakt zurück, macht sich unsichtbar. Das Summen, das Klopfen des Rhythmus andrerseits macht ihn hörbar. Ob in der Melodie eine Nachricht steckt, die er nicht in Worten ausdrücken kann? Die Melodie ist mir unbekannt. Nach etwa einer Minute nehme ich den Dialog auf: „Was ist das für ein Song? Hab ich noch nie gehört.“ Stefan: „Kein Wunder, den hat noch keiner gehört, Ich habe ihn diese Nacht geschrieben.“ Er ist somit in den Dialog der Wörter eingetreten. Der Song, den noch keiner gehört hat, ist sein Song – bisher sein Geheimnis. Er summt ihn mir vor, also will er mir sein Geheimnis verraten. Ob er wohl sein Geheimnis in Wörtern ausdrücken kann? Ob sein Mut schon dazu ausreicht? 1
In Kap. 5.2 findet der Leser diesen Jugendlichen wieder im Kontext der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Der Auszug aus dem Stundenprotokoll illustriert das dort Ausgeführte.
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
Ich möchte ihm zu verstehen geben, dass ich dieses Angebot zur Nähe, zum Kontakt verstanden habe: “Na, da bin ich ja bevorzugt, dass ich ihn hören kann. Gibt es auch einen Text dazu?“ Stefan hört auf zu summen: „Ja, ist aber noch nicht fertig, Willst du ihn hören?“ Ich schließe daraus, dass er bereit ist, sein Geheimnis mit mir zu teilen, wenn ich ihm zusichere, dass ich Interesse daran habe. Wieso ist er unsicher, ob sein Gegenüber, im Augenblick ich, Interesse an ihm hat? Muss er deswegen alles zerstören, um sich des Interesses der Mitmenschen zu sichern? Der Song ist noch nicht fertig – so wie Stefan, der Jugendliche, selbst. Ich möchte den Song hören. Stefan singt mir mit lauter Stimme den Song vor. Dabei schaut er mich an und versucht, seine Ruster-Locken hinter seine Ohren zu kriegen. Der gereimte Text erzählt von einem einsamen Mann, der in der Wüste am Verdursten ist, in der glühenden Sonne. Ich möchte ihn auf die Kraft seiner Kreativität aufmerksam machen und ihn zugleich wissen lassen, dass ich „mit seinen Augen sehe und mit seinen Augen höre“: „Musik und Text passen super zusammen – ich seh und spür die endlose Wüste.“ Stefan bleibt im Dialog der Metaphern: „Mmhh. . . endlose Wüste, kein Wasser, keine Pflanzen, einfach nichts, nur Sonne und Sand.“ Mir fällt auf, dass in seiner Aufzählung dessen, was es in der Wüste nicht gibt, keine Lebewesen vorkommen: „Einsam und irgendwie gefährlich. Keine Menschen, keine Tiere, nichts und niemand lebt dort.“ Stefan geht nicht darauf ein: „Das ist das Ende, das ist der Anfang vom Ende. Da wirst du urdurstig, aber es gibt kein Wasser, nirgends. nowhere. Nowhere man – erinnerst du dich an den Song von den Beatles? Müsste so ungefähr deine Jugend gewesen sein.“ Obwohl Stefan einerseits in der einsamen Wüste ist, nimmt er doch Kontakt zu mir auf, nimmt mich wahr, wenn er auf „meine Jugend“ Bezug nimmt – ein erster Versuch, „mit meinen Augen zu sehen“, ein Erwachen des Gemeinschaftsgefühls? Stefan: „Ziemlich verrückt, aber in Ordnung, Komisch. So alt und noch immer in Ordnung. Kannst dich an das erinnern, wie sie in dem Film durch die Türen rennen? – nicht leicht, da rauszufinden.“
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Er hat Toleranz für die Individualität des anderen, so auch für meine, auch wenn ihn das „Anderssein“ verwundert: „So alt und noch in Ordnung“ verstehe ich als an mich gerichtet – er begegnet mir („alt“) mit Wertschätzung („in Ordnung“). Damit haben wir eine tragbare Ebene der Zusammenarbeit in gegenseitiger Wertschätzung. Ich kann ihn also darauf aufmerksam machen, dass es einen Ausweg geben kann. Vielleicht kann ich ihm sogar die Idee geben, dass Mut weiterhelfen kann: „Aber sie haben es geschafft.“ Stefan antwortet mit einem Wort der Passivität: „Zufall.“ Ich antworte mit einem Wort, das dieser Passivität und des Ausgeliefertseins die konstruktive Aktivität entgegensetzt: „Mut.“ Stefan: „Wieso Mut? Was meinst du damit?“ Stefan zeigt Interesse an einer Alternative zum passiv-destruktiven Handeln, da er nachfragt. Sein Überwindungsstreben ist lebendig geworden. In weiteren Sitzungen entdecken wir, dass er zerstört, weil er sich nicht zutraut, aufzubauen, aber auch, dass jemand, der so „gut“ zerstören kann wie er, offensichtlich viel Kraft hat, aber noch nicht den Mut, mit dieser Kraft etwas Sinnvolles anzufangen. Stefan ist über die Erkenntnis, dass im Zerstören seine Kraft versteckt ist, zuerst sehr verwundert, zugleich begeistert. Er beginnt zu träumen, was ein Bursch mit so viel Kraft wohl machen könnte, wenn er älter ist. Im Probehandeln in der Fantasie entwirft er einen alternativen Lebensstil. Besonders gefällt ihm dabei die Vorstellung, ein berühmter Musiker zu werden. Er strebt nach dem Besonderen, der Überlegenheit, was er in entmutigter Weise bereits in seinen Symptomen der Zerstörung, von ihm unverstanden, gezeigt hatte. Seine Entmutigung drückt sich auch in den Schlafstörungen aus: die schulischen Anforderungen nicht bewältigen zu können, weil der Schlafmangel ihn daran hindert, ist eine Möglichkeit der Selbstwertsicherung: sein Schulversagen ist so für ihn aus seiner Übermüdung und den vielen Fehlzeiten in der Schule erklärt – hätte er ausreichend Schlaf bekommen und die Schule regelmäßig besucht, aber trotzdem die Anforderungen der Schule nicht bewältigten können, so wäre dadurch sein Selbstwert massiv bedroht gewesen. Seine Symptomatik nährt seine Fiktion der Überlegenheit. Das Markieren seiner Affekte innerhalb der von ihm gewählten Metaphern hat ihn in den Dialog mit seinen Gefühlen und zu seinem Mut geleitet.
3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen Thomas Stephenson Im Folgenden sollen zwei Fallgeschichten illustrieren, wie hilfreich es sein kann, in individualpsychologischen Analysen „kreative Produkte des Patienten als Ausdrucksform des Lebensstils für die Analyse heranzuziehen“ (Reinert 2007, 37).
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
Der Drachenjunge Dies ist die Geschichte des „Drachenjungen“. Er kam zu mir, weil er in der Schule auffällig geworden war. Er „verbreitete Angst“. Unter Einsatz seines Taschengeldes und sonstiger Gegengeschäfte brachte er größere Jungen dazu, ihn in den Pausen und im Schulhof als Bodyguard zu begleiten, und er trug immer Waffen mit sich. Es waren kleine, zum Teil selbstgebastelte Verteidigungsinstrumente, nicht wirklich gefährlich, auch kam es nie zu tatsächlichen Auseinandersetzungen, in denen jemand verletzt werden hätte können. Aber insgesamt war das Verhalten des Jungen so irritierend, dass der Leiter der Schule der Mutter „dringend nahelegte“, eine diagnostische Abklärung dieses Verhaltens zu veranlassen und gegebenenfalls für ihren Sohn therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nach ersten diesbezüglichen Informationen und einer telefonischen Terminvereinbarung erwartete ich also den „Angstverbreiter“, nicht wissend, was da auf mich zukommen würde. Dann klopfte es an der Tür, und durch die Türe trat, nachdem er vorher artig auf mein „Herein“ gewartet hatte, ein schüchtern wirkender, für sein Alter eher kleingewachsener blonder Bub. Er grüßte höflich und erwies sich im Weiteren in jeder Beziehung kooperativ: von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass er froh war, nun einen Erwachsenen zu haben, der ihm in kontinuierlicher Zugewandtheit die Möglichkeit bot, sein Inneres sichtbar zu machen, vor mir und vor ihm selbst. Tatsächlich erwies sich seine Innenwelt als ein Schauplatz dramatischer aggressiv geprägter Konflikte, wie gleich die erste Zeichnung, die er in der anfänglichen diagnostischen Phase anfertigte, überdeutlich zeigt:
Abb. 1 Die Drachenfamilie
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Es handelte sich um die Zeichnung der „Verzauberten Familie“ (Kos u. Biermann 2002), für die ich im folgende Anweisung gab: „Stell Dir eine Familie vor, irgend eine Familie, die Du Dir ausdenkst. Dann stell Dir vor, es kommt ein Zauberer zu der Familie und verzaubert alle in irgendwen oder irgendwas. Der Zauberer ist so mächtig, das er sie in alles verzaubern kann, was man sich nur vorstellen kann. Wenn Du dir das vorgestellt hast, dann zeichne bitte auf, wie das jetzt aussieht.“ Nachdem er fertig gezeichnet hatte, bat ich ihn, den Figuren einen Namen und ein Alter zu geben und dann, mir eine „kurze, aber spannende Geschichte“ zu erzählen, wie denn das Ganze sich ereignet habe. Die Geschichte verlieh dem ohnehin sehr dynamischem Bild ein zusätzliche dramatische Dimension: „Es war einmal ein Zauberer, der kam zur Familie Müller. Er verzauberte alle in Drachen, denn er wollte mit einer Drachenarmee die ganze Welt beherrschen. Doch er hatte nicht mit Gegenwehr gerechnet und kam in den Flammen um.“ Die Auswertung bestimmter Details der Zeichnung ergab, dass er Figuren gewählt hatte, die zwar einen anderen Namen trugen, aber in ihrer Anzahl und ihrer Position insgesamt seiner ursprünglichen Familienkonstellation entsprachen: (in der Zeichnung von links nach rechts:) leiblicher Vater, leibliche Mutter, ein kleineres Geschwisterchen und er selbst. Besonders auffallend war, dass auch die Altersverteilung exakt jener in seiner realen Ursprungsfamilie entsprach – allerdings waren alle 2 Jahre jünger! Dieses und ein nächstes auffallendes und zunächst rätselhaftes Detail aus der diagnostischen Phase konnten im Laufe der nachfolgenden therapeutischen Prozesse geklärt werden: Im Zuge der Vorgabe des „Schwarzfuß-Tests“ (Corman 2006), in dem eine Reihe von Bildern die Abenteuer des Schweinchen Schwarzfuß zeigen, irritierte ihn die zunächst von mir abseits hingelegte Karte der „Schweinchenfee“. Er unterbrach seine „Arbeit“ an den gerade vor ihm liegenden Karten, nahm sie die ihn sichtlich faszinierende Karte in die Hand und betrachtete sie lange mit einem seltsam „entrückten“ Gesichtsausdruck: Dann sagte er langsam und ein wenig wie in Trance: „Diese Karte ist seltsam, da kann man nichts fühlen. . . Die Fee, die tut mit ihrem Glanz alles einnebeln . . . aber es ist schon gut, dass man eine Schweinchenfee hat.“ Und nach einer langen Pause,
Abb. 2 Die Schweinchenfee
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
noch immer gebannt auf das Bild starrend: „Aber das ist doch ungerecht: sie kann doch nicht einen fünfjährigen als Spion ins feindliche Lager schicken!“ Als ich – selbst gebannt über diesen kryptischen „Orakelspruch“ – ihn fragte, was er denn damit meine, wirkte er, als ob er aus der Trance erwachen würde, schüttelte den Kopf und sagte etwas irritiert: „Ich habe keine Ahnung, warum ich das gesagt habe.“ Viel später, im Zuge einer längeren therapeutischen Arbeit, erhellten sich beide Rätsel, als ihm eine Szene einfiel, die er bis zu diesem Zeitpunkt verdrängt hatte: Als Fünfjähriger hatte er beim Spielen in den Sachen des Vaters etwas gefunden, das er zunächst freudestrahlend der Mutter brachte, nicht ahnend, was er damit auslösen würde. Die Mutter nahm das „corpus delicti“ – und reichte die Scheidung ein. In den darauffolgenden dramatischen Ereignissen im Zuge des Scheidungsprozesses entwickelte er unbewusst die Vorstellung, er wäre an der Trennung der Eltern schuld, und um dieses unerträgliche Schuldgefühl zu mildern, setzte er diesen „Kunstgriff “ (wie Adler solche Abwehrvorgänge zu bezeichnen pflegte) ein: in seiner Phantasie hatte ihn seine Mutter „als Spion ins feindliche Lager geschickt“. Nunmehr verdrängt, erzeugte das Schuldgefühl hohen inneren Druck, der etliche Jahre später aus erneutem Anlass noch gesteigert wurde. Zwei Jahre, bevor er zu mir kam, starb der neue Partner der Mutter. Die Zeichnung der „Drachenfamilie“, in der die Zeit, in der die „Personen der Handlung“ agierten um zwei Jahre zurückgedreht war, zeigt die fatale innere Situation des Jungen: Die in einer Wunschphantasie noch in einer Familie vereinten vier Personen stellen sich gemeinsam dem „Feind“, dem „Eindringling“. Allerdings in einer seltsamen Konstellation: der kleine Drache steht statt dem Vaterdrachen an der Front! Er muss für die Sicherheit der Familie sorgen – und ist aus zwei Gründen heillos überfordert: zum Einen erkennt man an der Haltung des kleinen Drachen die Ambivalenz: sie entspricht jener Haltung, die kleine Kinder einnehmen, wenn sie von den Erwachsenen hochgenommen bzw. in die Arme geschlossen werden wollen – wenn da nicht gleichzeitig die Zähne und das Feuer des Drachen gar so viel Aggression vermitteln würden! Und mitten in die gewaltige Spannung der Ambivalenz (er möchte (in einer fatalen „Doppelung“ der ödipalen Situation) gegen den (neuen) Rivalen kämpfen, sowohl um den Platz seines Vaters zu verteidigen (des alten ödipalen Rivalen, den er in seiner Phantasie schon ausgeschaltet hatte, den ihm Rücken zu haben daher eigentlich das Gegenteil von Sicherheit bedeutet), als auch um seinen eigenen Platz, den er inzwischen bei der Mutter hatte, nicht zu verlieren) – inmitten dieses realen Geschehens mit seinen unbewusst phantasierten Zusatzbedeutungen – stirbt der „Rivale“ in der Realität! Zum zweiten Mal, einmal mit fünf Jahren (also mitten in der ödipalen Auseinandersetzung) und einmal zwei Jahre bevor er zu mir kam, entstand ein massiver Anlass für unbewusste Schuldgefühle. Weder an der Scheidung noch an dem Tod des zweiten Partners hatte er sich jemals bewusst Schuld gegeben, erst die Zeichnungen und die Produktionen während der Therapie zeigten seine starken unbewussten Schuldgefühle. Nachdem in der diagnostischen Phase „die Spur gelegt“ war und nachdem wir ein starkes therapeutisches Bündnis geschlossen hatten (er wollte angesichts der Zeich-
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nungen und der „Schweinchenfee“ selbst wissen, was da „in ihm los ist“), entfaltete sich in mehreren Schritten vor uns ein Bild des Grauens. Wir arbeiteten mit verschiedenen Materialien, das Zeichnen hatte es ihm aber besonders angetan. Er setzte sich, so erzählte er mir, auch zwischen unseren Stunden zu Hause manchmal hin und zeichnete. Er erklärte mir das einmal so: „Da spüre ich auf einmal, dass da was raus muss, dann greif ich mir irgend ein Blatt Papier und zeichne einfach drauflos, bis es heraußen ist. Wenn ich dann sehe, was da rauskommt, bin ich manchmal so entsetzt, dass ich das Papier nehme, zerreiße und in den Papierkorb werfe. Aber dann denke ich mir, dass ich es ja dem Dr. Stephenson zeigen möchte, damit wir damit arbeiten, dann nehme ich es heraus, klebe es mit Tixo wieder zusammen und bringe es zur nächsten Stunde mit!“ Es begann mit einer Serie von drei Zeichnungen, die den beginnenden Öffnungsprozess drastisch markieren:
Abb. 3 Drei Stufen der „Öffnung“ unbewusster Bereiche
Wir sehen zunächst nur geometrische Formen, eine menschliche Dynamik ist noch nicht in Sicht. Im zweiten Blatt aber erscheinen auf einmal zwei Gesichter und eine Krallenhand – und im dritten Bild herrscht bereits jenes Chaos von Angst und Aggression, wie es in ihm – nur mühsam und unvollständig vom Bewusstsein weggehalten – ständig wirksam ist. In der nächsten Phase der Therapie konnten wir die Kraft des Narrativen nutzen: die Abbildung zeigt wieder – diesmal noch detailreicher und deutlicher – den Primärprozess: kein Oben und kein Unten (er konnte selbst nicht sagen, welche Lage der Zeichnung die „richtige“ sei) kein rechts, kein links, keinerlei sekundärprozesshafte Ordnung, nur die im Chaos der „freien Assoziation“ verbundenen Inhalte, die eine Menge von Symbolen enthalten, die auf diese zentrale Dimension seines Selbsterlebens und seinen unbewusst geformten Lebensstil verweisen, in dem die Rollenverteilung immer jene von Täter und Opfer, von Verfolgtem und Verfolger, von Mord und Totschlag ist: Särge und Galgen, KZ (das links unten sichtbare vergitterte Fenster bezeichnete er als Teil eines Konzentrationslagers), Judenstern und Nazisymbol, Totenköpfe und Knochen und vieles ähnliches mehr. Und dann kam langsam „Ordnung“ in die Sache: wir hatten schon einige Zeit mit dem Gestalten von Geschichten zugebracht, als er in einer Stunde folgende Zeichnung anfertigte (Abb. 5):
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
Abb. 4 Primärprozesshaftes Chaos mit ersten szenischen Aspekten
Abb. 5 Die Weihnachtsgeschichte
Er betitelte sie „die Weihnachtsgeschichte“. In ihr gibt es einen im Zentrum abgebildeten „Helden“, der eines Abends, als er in den Park geht, eine Reihe von Abenteuern besteht, die, von links mit dem „Weihnachtsengel“ beginnend, über den „Panzer im Geschenkpapier“ bis hin zum „Kolosseum, in das gerade frische Bischöfe eingeliefert werden – den Löwen zum Fraß!“ (rechts oben) einen Reigen bilden. und schließlich der Tiger, der – als der Held wieder zu Hause vor dem Weihnachtsbaum
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steht, hinter diesem brüllend hervorspringt. Eine Welt voller Angst, dass alles, was gut scheint, sich zum Schlimmen (und das heißt gegen ihn) wendet! In der dritten Phase strukturierte sich das Geschehen noch mehr: ich habe zur Illustration eine Abbildung, in der die Instanzen ES, ICH und ÜBERICH mit ihren bewussten und unbewussten Anteilen symbolisiert sind, darüber gestellt – die Parallelen sind tatsächlich frappierend:
Abb. 6 „KILLER!“
Von unten greift eine („ES-“)Krallenhand nach dem Grabkreuz in der Mitte, das auf dem Grab eines Ermordeten „austreibt“ – und von oben droht das „DamoklesSchwert“, das vom strafenden „göttlichen Prinzip“ (so seine Worte) ausgesendet wird, um den Mörder zu bestrafen! Damit war die vierte und letzte Phase eingeleitet: Jetzt – im Schutze einer gewachsenen therapeutischen Beziehung und vor dem Hintergrund bereits einiger erfolgreich geschlagenen „Bewusstwerdungsschlachten“ – eröffnet sich die zentrale Dynamik in eindrucksvoller Deutlichkeit: In Abb. 7 versucht sich das Skelett vor dem Symbol der verführenden Mutter (die geometrische Figur rechts oben – mit Brüsten, Stöckelschuhen und dem Wort „Leben“) zu schützen indem es ihr „Keine Bewegung!“ zuruft – und gleichzeitig auf eine Abwehrformation deutet, die massiver kaum denkbar ist: sein Herz ist umgeben von Sprengstoffringen und Stacheldraht, es kann weder heraus, noch kann jemand zu ihm hinein. In Abb. 8 entbirgt sich die Wurzel seiner Symptomatik und in Abb. 9 die Basis für sein Lebensgefühl und das unbewusst gehaltene Formungsprinzip seines Lebensstils: Der „Angstverbreiter“ ist selbst erfüllt von schrecklicher Angst, denn er ist umzin-
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
Abb. 7 „Keine Bewegung!“
Abb. 8 „Angstverbreitung“
gelt von Gefahren. Die Quelle der Bedrohungen hatte sich schon in der „Killer“Zeichnung offenbart: die Schuldgefühle, die ihn aufgrund der beiden Vaterverluste plagten, an denen er Hauptschuld phantasierte, sind seine Verfolger, und die Mutter verführt statt zu beschützen, da schien dem Jungen kein anderer Ausweg mehr offen zu bleiben, als jenen Weg zu wählen, den die letzte Zeichnung in ihrem Titel am oberen Rande des Blattes weist:
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Abb. 9 „Vernichte die Liebe mit Hass“
„Liebst Du, um zu hassen? Lebe, um zu lieben! Hasse um zu leben um zu lieben. Vernichte die Liebe mit Hass!“ Die Geschichte des Drachenjungen hat mir die transformative Kraft kreativer Gestaltungen gezeigt, die nicht nur einen klareren Einblick in unbewusste Dynamiken verschaffen kann, sondern auch in einem gemeinsam gestalteten analytischen Geschehen eine Verarbeitung ermöglicht. Und sie hat mir viele individualpsychologische Annahmen plausibel gemacht, indem sie mich verstehen ließ, wie sehr in diesem Fall die Dynamik von Minderwertigkeitsgefühlen geprägt ist, die den Jungen in ihrer unheilvollen Allianz mit massiven, nur mit großem Aufwand und unter hohen „Kosten“ und mit fatalen sozialen „Nebenwirkungen“ verdrängten Schuldgefühlen zum panikerfüllten Verfolgten machten, der nur durch die Überkompensation eines durch Angst gesteigerten Geltungsstrebens die ständig drohende Katastrophe in Schach halten kann, Und wie ein modulierendes Spiegeln und eine (aus)haltende Mitbewegung in der gemeinsamen Reflexion wieder eine stabile Basis des Gemeinschaftsgefühls und damit einer angstfrei erlebten Gemeinschaft im Zuge des analytischen Prozesses möglich macht. Der Drachenjunge hat seinen Weg gefunden, und er ist ein Experte in Angstbewältigung geworden.
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
Der geliehene Penis Frau J. O. gebar ihr zweites Kind. Es war wie bei ihrer ersten Tochter: die Schwangerschaft war wunderbar. Sie füllte sich „komplett“ und rundherum zufrieden. Doch dann, nach der Geburt, teilten ihr die Ärzte mit, dass das Baby Probleme mit den Atemwegen habe. Diese Mitteilung löste einen Nervenzusammenbruch aus. Sie entnahm den Worten der Ärzte nur, dass es „kaputt“ sei. Dies stand in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Problemen des Kindes, die mit einiger Achtsamkeit und entsprechenden Behandlungen weitgehend neutralisiert werden konnten. Doch sie empfand Panik und verspürte den vehementen Impuls, „zum Vater zu laufen, es ihm zurückzugeben und dann ganz weit weg zu laufen.“ In dieser Situation kam Frau J. O. in meine Praxis. Auf den ersten Blick wirkte sie auf mich wie ein Junge. Ungeschminkt, kurze Haare, weiter Pullover, Jeans und Turnschuhe, verlegenes Lächeln. Die therapeutische Arbeit konvergierte schnell auf einen Punkt hin: ihre übersteigerte Reaktion nach einer wunderbaren Schwangerschaft beim Gewahr-Werden der „Behinderung“ des Babys war ihr selbst unerklärlich, dass hier dem Geschehen eine unbewusste Bedeutung zugemessen wurde, die die eigentliche Brisanz des „kaputten“ Babys ausmachte, war uns beiden schnell klar. Der Fokus war gegeben. Nach einiger Zeit, in der wir uns in gemeinsamen Suchbewegungen sowohl in Richtung ihrer Vergangenheit als auch im Kontext ihrer gegenwärtigen Situation immer mehr mit den Bedingungen vertraut gemacht hatten, unter denen sie „Frau geworden“ war, erzählte sie in einer Stunde von einem Bild, das ihr im Zustand zwischen Wachen und Einschlafen gekommen sei, und das sie nicht mehr losgelassen habe. Sie fragte, ob sie es mir aufzeichnen könne, es sei so schwer zu beschreiben. Ich gab ihr ein Blatt Papier und einen Filzstift, und sie legte sofort los: Der analytische Prozess, innerhalb dessen es uns gelang, dieses Bild (Abb. 10) zu entschlüsseln, führte uns direkt zu jener unbewussten Phantasie, die der Boden war, auf dem beide Phänomene Erklärung fanden: ihre besondere Zufriedenheit und das Gefühl „komplett“ zu sein in der Schwangerschaft – und die Panik bei dem GewahrWerden, dass „es“ „kaputt“ sei, die zu dem Impuls führte „es dem Vater zurückzugeben und davonzulaufen“. An der Zeichnung fiel uns mehreres auf, unter anderem, dass die Frau dadurch, dass sie mit so extrem gebogenen Beinen vor dem Mann steht, sehr klein wirkt, fast selbst wie ein Kind. Gleichzeitig wirkt der Bogen der Beine auch wie ein sehr dicker Bauch – der Bauch einer Schwangeren! Und in der Perspektive, in der man auf diese Anordnung von Mann und Frau blickt, erscheint der Penis des Mannes auf den ersten Blick als Teil der Frau, in der Interpretation der gebogenen Beine als schwangerer Bauch sogar genau dort, wo der Embryo wäre. Als wir das sehen konnten, begann ein sehr heftiger emotional aufwühlender Prozess bei Frau J. O. Sie erinnerte sich immer intensiver und immer detailreicher an die Situation in ihrer Pubertät, wo sie im Zuge der Scheidung ihrer Eltern immer zwischen Vater und Mutter gependelt war. Der Vater wurde von ihr vergöttert, er war
Thomas Stephenson
259
Abb. 10 Der geliehene Penis
im Gegensatz zu ihrer Mutter (die sie nur als „verhärmte Hausfrau“ erinnert, die vor ihr den Vater und seine neue, sehr attraktive Frau verfluchte) für sie das Idealbild des kreativen, schöpferisch-potenten Mannes. Über viele Zwischenstationen in der Bearbeitung ihrer Versuche, zu einer sexuellen Identität zu finden, kamen wir schließlich bei der zentralen unbewussten Phantasie an. Eine Phantasie, die sich tief in ihr gebildet hatte und sie ihre Schwangerschaft, mit der sie sich das Gefühl verschafft hatte, „komplett“ zu sein, als so „wunderbar“ erleben ließ. Sie hatte beide Male bei der Zeugung die unbewusste Vorstellung entwickelt, während des Aktes sich den Penis des Mannes zu „borgen“, um so das Symbol für Kreativität und schöpferische Potenz in ihrem Bauch zu tragen. Das Kind, das dann wuchs, war für sie mit diesem Symbol gleichgesetzt. Als sie es geboren hatte, konnte sie nur einen Teil der Phantasie behalten, wenn sie es noch weiter „ausborgen“ durfte. Da es aber nicht mehr Teil ihres Körpers war, verlor es an kompensatorischer Kraft. Die Kinder stammten von zwei verschiedenen Vätern, die nicht mit ihr zusammenlebten, und denen sie es „nicht zumuten“ konnte, das Sorgerecht zu übernehmen. Daher brachte sie die Kinder auch nicht zu den Vätern, verlangte aber auch keine Alimente (für etwas , was man sich „geborgt“ hat, kann man ja nicht auch noch Geld verlangen). Als sie jedoch beim zweiten Mal ein „behindertes“ Kind zur Welt brachte, hatte das für sie die unbewusste Bedeutung, den „geborgten Penis“ nun „kaputt“ gemacht zu haben. Und dies erklärte uns sowohl die Panik, die sie bei der Mitteilung der Ärz-
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3.5.2 Die transformative Kraft kreativer Gestaltungen
te ergriffen hatte, als auch den Impuls „es dem Vater zurückzugeben und davon zu laufen“. Der Fokus dieser Analyse war erfasst und aufgelöst. Denn im Licht des Bewusstseins erschien auch die Irrationalität des Geschehens und die Zuordnung ihrer Phantasien zu den belasteten Identitätsfindungsprozessen der Pubertät wurde möglich. Die Analyse ermöglichte dann noch ein Durcharbeiten des verdrängten Anteils in der Vater-Beziehung, eine innere Emanzipation wurde möglich, und sie begann sowohl die leiblichen Väter des Kindes in ihre organisatorische und finanzielle Verantwortung zu nehmen, was ihr ermöglichte, ein Kunststudium zu beginnen. Ihre Kreativität hatte nun andere Wege gefunden, als das Schöpferische in unbewusste Inszenierungen einfließen zu lassen, in denen sie ihren phantasierten Mangel an kreativer Potenz durch aufwändige Überkompensationen beantwortete. Ihre Gestaltungskraft hatte sie aus der Neurose herausgeführt, hinein in das erfüllte Leben einer Künstlerin. Das „Nachspielen“ der „Grundmelodien“ der KlientInnen auf der „Klaviatur der Matrix“ Im Folgenden soll abschließend ein Beispiel dafür gegeben werden, wie der in den Kapiteln „Individualpsychologische Entwicklungstheorie“ und „Individualpsychologische Krankheitslehre“ skizzierte Theoriehintergrund in diesem Fall konkret genutzt werden kann. Im Sinne der dort empfohlenen Verwendung als „Klaviatur“, auf der die „Grundmelodie“ der KlientInnen „nachgespielt“ werden kann, um im Zuge dessen zu einem tieferen Verständnis des (im Zuge des analytischen Geschehens deutlich werdenden) unbewussten Lebensplans zu gelangen, wird in die Matrix, die als „Vorlage und Erinnerung“ mit abgebildet ist, ein Auszug aus einer Fallreflexion anlässlich der Zeichnung eingetragen. Für LeserInnen, die das Lesen des drucktechnisch bedingt sehr kleingedruckten Textes in der Mitte als zu beschwerlich empfinden, sei der Textausschnitt hier nochmals wiedergegeben: „. . . und so spiegelt sich in der Haltung der Frau, die – selbst noch als Kind erscheinend – sich gleichzeitig vom Mann halten lässt und (ihr Minderwertigkeitsgefühl überkompensierend) sich dabei mit dem Machtsymbol des Mannes „ziert“, obwohl sie selbst mit den überdeutlichen Brüsten und dem von ihr geborenen Kind als „Beweis“ sehr deutlich als erwachsene Frau gekennzeichnet ist, von „Autonomie“ bis „Generativität“ durchgängig eine noch nicht gelungene Balance in den Lösungen der Lebensaufgaben wieder. In der Identifikation mit dem Kind, solange es in ihr ist (In-Subjektivität) scheinen ihr die Konflikte, denen sie sich sowohl im dyadischen als auch im triangulierten Wir gegenüber sieht, erspart zu bleiben. Ihre Affektregulierung hingegen dekompensiert in dem Moment, in dem ihr Minderwertigkeitsgefühl als „Tochter-Frau“ nicht mehr in den Wir-Stufen kompensierbar ist. Die Zeichnung zeigt, wie wenig noch ihr Geltungsstreben in einer empfundenen und ge-
Abb. 11 Fallbearbeitungsausschnitt in der Anwendung der „Matrix“ (siehe auch Kapitel 2: Abb. 1, Seite 74; Abb. 6, Seite 137; Abb. 7, Seite 150) Reifegrad der Struktur
I. Rückzug ⇔ Fusion (soz. Gleichwertigkeit) II. Selbstbewert. ⇔ Fremdbewert. (Geltungsstr.) III. Separation/Individuation ⇔ Bindung/Abhängigkeit (Partnerschaftlichkeit) IV. Autarkie ⇔ Unterwerfung/Unselbstständigkeit (Kooperation) V. Identifikation männlich ⇔ weiblich (Rolle) VI. Loyalität A ⇔ Loyalität B (Gem.gefühl) VII. Triadische Konflikte (Tert. Intersubj.)
Art des Konflikts bzw. der Diskrepanzen und des Mangels Diskrepanzthema ⇔ Diskrepanzthema (IP-Thema)
„Kosten“ der Abwehr (Realitätsbezug, Freiheitsgrade, Reflexionsressourcen etc.) bewirkt durch „Qualität“ des „SelbstContainments“
… und so spiegelt sich in der Haltung der Frau, die – selbst noch als Kind erscheinend – sich gleichzeitig vom Mann halten lässt und (ihr Minderwertigkeitsgefühl überkompensierend) sich dabei mit dem Machtsymbol des Mannes „ziert“, obwohl sie selbst mit den überdeutlichen Brüsten und dem von ihr geborenen Kind als „Beweis“ sehr deutlich als erwachsene Frau gekennzeichnet ist, von „Autonomie“ bis „Generativität“ durchgängig eine noch nicht gelungene Balance in den Lösungen der Lebensaufgaben wieder. In der Identifikation mit dem Kind, solange es in ihr ist (In-Subjektivität) scheinen ihr die Konflikte, denen sie sich sowohl im dyadischen als auch im triangulierten Wir gegenüber sieht, erspart zu bleiben. Ihre Affektregulierung hingegen dekompensiert in dem Moment, in dem ihr Minderwertigkeitsgefühl als „Tochter-Frau“ nicht mehr in den Wir-Stufen kompensierbar ist. Die Zeichnung zeigt, wie wenig noch ihr Geltungsstreben in einer empfundenen und gelebten Gleichwertigkeit aufgehoben werden kann. Psychopathologisch gesehen maskiert („hysterischer Modus“) sie in ihrem „Präsentiersymptom“ des „Nervenzusammenbruchs“ ihren Grundkonflikt (V: Identifikation männlich ⇔ Identifikation weiblich) auf einem relativ hohen Strukturniveau, allerdings mit einer entwicklungshemmenden Kontinuität/Wechsel-Konstellation: in dem Impuls, das „kaputte Kind“ als „beschädigten geborgten Penis“ „dem Vater“ zurückzugeben, versucht sie die prekär gewordene Identifikation als Frau und Mutter aufzulösen und die innere Allianz als Tochter mit dem die Mutter ablehnenden Vater aufrecht zu erhalten. In der Inszenierung ihrer virtuellen Positionen im intermediären Transformationsraum der analytischen Situation durch modulierende Spiegelung und aushaltende Mitbewegung auf der Basis des relativ hohen Strukturniveaus und des in der Zeichnung gut markierten bereits bewusstseinsnahen inneren Konfliktgeschehens eine relativ rasche Transformation des Lebensplans im Zuge ermutigender …
UBW: verdrängt/unbeachtet/ unverstanden/unvalidiert
(Hysterie) • „Inhaftierung“ (Zwang) • „Stellvertretung“ (Phobie) • „Zerstrahlung“ (Angstneurose) • „Zerstückelung“ (Perversion) • „Vorwegnahme“ (Depression) • „Doping“ (Sucht) • „Wechselsprung“ (Borderline) • „Auflösung“ (Psychose) • „Materialisierung“ (Psychosomatik)
• „Vernebelung“
Modus von Abwehr und Kompensation „Fiktion & Bewegungsart“ („Diagnose“)
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(“Destrudo“, „Thanatos“, „Aggressionstrieb“)
Lebensekel
Stagnation
Isolierung
Identitätsdiffusion
Minderwert.gefühl
Schuldgefühl
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Auf „Trennung“ und „Auflösung“ ausgerichtete drängende Impulse
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Entwicklungshemmende Kontinuität/Wechsel-Kombinationen
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Lust/Unlust Sicherheit/Minderwertigkeit
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Entwicklungsbefördernde Kontinuität/Wechsel-Kombinationen
SZENE: Auslöser, Themenaktivierung, Rollenverteil. Spannungsaufbau, Spannungslösung
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(“Libido“, „Eros“, „Sexulatrieb“)
Auf „Bindung“ und „Erhaltung“ ausgerichtete drängende Impulse
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Kooperative Subjekttransformation (Virtuelle Positionen, Intermediärer Transformationsraum, reflektierte Projektivität)
Integrität
Generativität
Intimität
Identität
Werksinn
Initiative
Autonomie
Urvertrauen
prozedural/symbolisch/reflektiert
Koordination Kolaboration Kooperation Kokonstruktion
Intersubjektivität
•
•
•
•
Bindung
„Dyadisches Wir“ „Trianguliertes Wir“ „Gruppen-Wir“ „Menschheits-Wir“
1. 2. 3. 4.
Kompetenzbündel des Gemeinschaftsgefühls
Wir-Stufen des Gemeinschaftsgefühls (aus der Ich-Dezentrierung):
Dimensionen des Gemeinschaftsgefühls: „Gefühl von Gemeinschaft“ „Gefühl für Gemeinschaft“
Mentalisierung
Affektregulierung
Phasenspezifisch geformtes, von innen und außen aktivierbares, durch wechselseitige modulierende Spiegelung und wechselseitige (aus)haltende Mitbewegung im Gemeinschaftsgefühl immer wieder kompensierbares Minderwertigkeitsgefühl und in der Gleichwertigkeit aufgehobenes Geltungsstreben
262
3.5.3 Psychotherapie und Gesellschaft
lebten Gleichwertigkeit aufgehoben werden kann. Psychopathologisch gesehen maskiert („hysterischer Modus“) sie in ihrem „Präsentiersymptom“ des „Nervenzusammenbruchs“ ihren Grundkonflikt (V: Identifikation männlich ⇔ Identifikation weiblich) auf einem relativ hohen Strukturniveau, allerdings mit einer entwicklungshemmenden Kontinuität/Wechsel-Konstellation: in dem Impuls, das „kaputte Kind“ als „beschädigter geborgter Penis“ „dem Vater“ zurückzugeben, versucht sie die prekär gewordene Identifikation als Frau und Mutter aufzulösen und die innere Allianz als Tochter mit dem die Mutter ablehnenden Vater aufrecht zu erhalten. In der Inszenierung ihrer virtuellen Positionen im intermediären Transformationsraum der analytischen Situation durch modulierende Spiegelung und aushaltende Mitbewegung auf der Basis des relativ hohen Strukturniveaus und des in der Zeichnung gut markierten bereits bewusstseinsnahen inneren Konfliktgeschehens eine relativ rasche Transformation des Lebensplans im Zuge ermutigender . . . “. 2
3.5.3 Psychotherapie und Gesellschaft Bernd Rieken Kemal Radulović – so wollen wir ihn nennen – war gebürtig aus Bosnien-Herzegowina, lebte seit geraumer Zeit in Wien, hatte dort ein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolviert, arbeitete in einem angemessenen Beruf und sprach ausgezeichnet Deutsch. Er war knapp 30 Jahre alt, als er wegen einer Blut- und Verletzungsphobie die Therapie begann. Sie dauerte gut zwei Jahre, er kam einmal pro Woche, wollte die „Kur“ im Sitzen, aber nicht im Liegen absolvieren 3 und beendete sie zufrieden nach insgesamt 70 Stunden. Die Eltern, ebenfalls Akademiker, waren vom Temperament her sehr unterschiedlich: der Vater eher zurückgezogen und verhalten, die Mutter dominant, autoritär, mitunter übergriffig, Angst einflößend – und genau sie war das Problem von Kemal Radulović. Um sich ihrer zu erwehren, baute er eine Mauer um sich herum auf, die sich mit der Zeit gleichsam verselbstständigte und in ihm den Eindruck erweckte, ein gefühlskalter Mensch zu sein, dem es jeglicher Empathie ermangele. Außerdem spürte er Charakterzüge in sich, die er von seiner Mutter kannte, bezeichnete er sich doch als dominant bis tyrannisch, wobei seine Liebesbeziehungen bisher von kurzer Dauer und wenig befriedigend waren. Die Phobie wurde durch den Bosnienkrieg, der das Land zwischen 1992 und 1995 mit seinen Gräueln heim-
2 3
Die Unvollendetheit des Satzes soll die Priorität der „Bewegung“ markieren, in der sich das hier vorgeführte „Nachspielen“ der „Grundmelodie der Klientin“ realisiert. Normalerweise liegen bei mir alle Patienten, egal ob sie einmal oder viermal wöchentlich kommen, außer es besteht die Gefahr, psychotisch zu werden. Jene merkwürdige Regel, die in Analytiker-Kreisen kursiert, nach welcher „man“ bis zwei Stunden pro Woche sitzen und ab drei Stunden liegen „muss“, halte ich für ein Prokrustesbett.
Bernd Rieken
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suchte, daher wohl verstärkt, war aber nicht die Ursache, da die Wurzeln auf die Kindheit zurückgingen, in der er bereits eine krankhafte Furcht vor Verletzung und Blut hatte. Unter der Gefühlskälte litt er genauso wie unter den Schuldgefühlen, und im Zuge der Therapie kristallisierte sich schon recht bald heraus, dass die Phobie im Dienste der Sicherung stand und einen unbewussten Zweck verfolgte: Sie war der untrügliche Ausdruck dafür, dass er doch ein Mensch war, der empfinden konnte, und nicht die kalte Maschine, für die er sich hielt! Bereits in der 18. Stunde wurde ihm indes bewusst, dass er „durch das Sprechen die Mauer abbaue und dann schutzlos sei und die Empfindung habe, mir ausgeliefert zu sein. Das habe mit mir nichts zu tun, ergänzte er, weil es aus ihm komme, Ratio und Gefühl gingen da unterschiedliche Wege“ (Stundenprotokoll vom 26.08.2006). Und später, nachdem die Phobie bereits weitgehend abgeklungen war, fragte er sich besorgt, was von seiner Menschlichkeit übrigbleibe, da die übertriebene Furcht doch ein Ausdruck derselben war (57. Std. vom 15.12.2007). Neurosen sind ein eigentümlicher Versuch, den Selbstwert zu stabilisieren und subjektive Sicherheit zu erheischen, doch Herr Radulović wurde seines Problems allmählich überdrüssig und fand Alternativen, denn seine Verträglichkeit im Umgang mit anderen Menschen nahm zu, und das Team, welches ihm in seiner Arbeitsstätte unterstellt war, galt bald als jenes, in welchem eine sehr gute, weil menschliche Atmosphäre vorherrschte. Etwas Weiteres kam hinzu, er begann sich verstärkt für seine Heimat und ethnische Herkunft zu interessieren. Er war Moslem und somit Bosniake, das heißt ein Angehöriger der islamischen Bevölkerungsgruppe in Bosnien, die im sozialistischen Jugoslawien bis Ende der 1960er Jahre offiziell nicht anerkannt war. Aus der Sicht von Herrn Radulović galten die Bosniaken als Menschen zweiter Klasse, und sie würden bis heute an einem kollektiven Minderwertigkeitsgefühl leiden. Im Laufe der Therapie wandelte sich seine Perspektive jedoch, und ihm wurde klar, dass es sich bei der Volksgruppe insofern um eine besondere Ethnie handelt, als sie jene Moslems sind, welche seit Jahrhunderten am weitesten westlich siedeln und darüber hinaus eine slawische Sprache beherrschen. Ein sichtbares Anzeichen für die allmähliche Akzeptanz seiner ethnischen Identität war, dass er mir eines Tages den Roman „Der Derwisch und der Tod“ des bosnischen Autors Meša Selimović schenkte (Selimović 1994). 4 Die Geschichte spielt im 17. Jahrhundert, also zu einer Zeit, da Bosnien eine westliche Provinz des Osmanischen Reiches war. Der Titelheld ist ein nachdenklicher Mensch, der einerseits in der traditionellen Kultur tief verankert ist, andererseits über eine nahezu psycho-
4
Im Gegenzug bekam er ein Exemplar meiner Habilitationsschrift, die sich ebenfalls einer spezifischen Ethnie, nämlich den Friesen, widmet (Rieken 2005).
264
3.5.3 Psychotherapie und Gesellschaft
analytische Fähigkeit zur Introspektion verfügt, 5 weswegen sich „Ost“ und „West“, ähnlich wie bei Herrn Radulović, in einer Person vereinigen. Das Gefühl, menschlicher Eigenschaften zu ermangeln, ist zwiefach bedingt, einmal biographisch als Schutzmaßnahme, um sich gegenüber der dominanten Mutter abzugrenzen, zum anderen ethnisch, weil die Bosniaken sich im Vergleich zu den anderen, sie umgebenden Kulturen als minderwertig empfanden bzw. empfinden. Auf meine Frage, welchen Einfluss Herr Radulović stärker gewichte, antwortete er: den der Mutter, weil er ihrer bestimmenden Wirkung ständig ausgesetzt gewesen sei (58. Std. vom 22.12.2007). Diese Antwort wird zwar jeden Analytiker erfreuen, aber so klar sind die Verhältnisse wiederum nicht, denn man könnte die Mutter auch als typische Repräsentantin gesellschaftlicher Strukturen betrachten, die im Mittelmeerraum vorherrschen und in denen die innerfamiliäre Macht auf die Frauen zentriert ist. Außerdem handelt es sich dabei um prononciert patriarchalische Kulturen, in denen dem weiblichen Geschlecht nur wenige Entwicklungsmöglichkeiten außerhalb der Familie geboten werden, sodass sie kompensatorisch bestrebt sind, innerhalb derselben das Regiment zu führen. Darüber hinaus kann auch jenes Minderwertigkeitsgefühl, das aus dem Umstand resultiert, einer marginalisierten Ethnie anzugehören, unbewusst zur Machtausübung beigetragen haben. Zwar konnte und sollte in der analytischen Situation die Problematik des Patienten greifbar anhand der Mutter aufgearbeitet werden, doch macht die Geschichte des Herrn Radulović gleichzeitig deutlich, dass auch gesellschaftliche Einflüsse existieren, die durchaus prägend sein können. Wären sie es nicht, dann hätte er nicht das Augenmerk auf sie gelenkt und wäre seiner ethnischen Identität im Laufe der Therapie weniger bewusst geworden. Ich betone das deswegen, weil man als Fachmann dazu neigt, die eigene Perspektive zur eigentlichen zu erklären und andere zu vernachlässigen. Läse ein Kulturwissenschaftler die Stundenprotokolle, so würde er sich wahrscheinlich auf die gesellschaftlichen und soziokulturellen Aspekte konzentrieren und die psychologischen weniger beachten. Mir erscheint es demgegenüber angemessener, beiden Seiten Aufmerksamkeit zu widmen. Denn wenn „Einsicht“ ein kuratives Element ist, kann sie sich auch auf gesellschaftliche Einflüsse beziehen, nicht nur auf psychologische, etwa Übertragungsmuster. Resümierend sei festgehalten, dass die 70-stündige Therapie auf die krankhafte Furcht fokussiert war und diese bereits nach circa einem Dreivierteljahr keinen 5
Ein kurzer, beeindruckender Textauszug möge das verdeutlichen: „Ich habe mich gefragt, ob es nicht besser wäre, dieses Schreiben abzubrechen, damit nicht alles schwerer würde, als es schon ist. Denn wenn es auf unerklärlichen Wegen aus mir sogar das herausholt, was ich nicht sagen wollte, was nicht mein eigener Gedanke war oder doch mein mir selbst nicht recht bekannter Gedanke, der sich im Dunkel meines Innern verborgen hatte, nun aber eingefangen wird von einem aufgestörten Empfinden, das mir nicht mehr gehorcht – wenn das alles zutrifft, so ist das Schreiben ein erbarmungsloses Verhör, ein teuflisches Vorhaben, und es wäre vielleicht besser, die sorgfältig zugespitzte Rohrfeder zu zerbrechen, das Tintenfass auf die Steinplatten vor der Tekieh [= Derwisch-„Kloster“, B. R.] auszugießen – möge der schwarze Fleck mich dann ermahnen, nie mehr den Zauber anzutasten, der böse Geister weckt“ (Selimović 1994, 8).
Bernd Rieken
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Leidensdruck mehr verursachte. Als „Ersatz“ für den Nachweis der Menschlichkeit, sprich die Phobie, wurde Herr Radulović weniger dominant im Umgang mit anderen, wirkte sehr verträglich auf sein Arbeitsteam ein und identifizierte sich mehr und mehr mit dem humanen Potential seiner Ethnie, der Bosniaken. Die Aufarbeitung der, um Nestroy zu zitieren, „Liebesgeschichten und Heiratssachen“ (Nestroy 1981b), hätte indes einer längeren Analyse bedurft. Dessen war sich Herr Radulović übrigens durchaus bewusst, doch hatte er keinen diesbezüglichen Leidensdruck.
4 Neurowissenschaften und Individualpsychologie Brigitte Sindelar „Der Dialog zwischen Psychoanalyse und den neurobiologischen Wissenschaften hat etwas Verführerisches. Er lockt mit nicht nur subjektiv gewonnenen Ergebnissen über das psychische Innenleben durch ganz neue methodische Zugänge. Andererseits leistet der bisherige Wissensstand nur einen geringen Beitrag zu einer Erweiterung des theoretischen und praxeologischen Horizonts der Psychoanalyse“ (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2008b, 124). Damit hat sich die Situation zwischen der Psychotherapie und der Hirnforschung im Vergleich zu den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entscheidend verändert: der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit seitens der Neurowissenschaften an die Tiefenpsychologie einerseits, der Vorbehalt der Psychoanalyse gegenüber der Hirnforschung andrerseits, der als Reduktionismus des Seelischen misstraut wurde, ist einem Dialog gewichen (Roth 2006). Wird das Korsett des Strebens nach einer fiktiven Objektivität, die Wissenschaftlichkeit auf Naturwissenschaftlichkeit einengt, abgelegt, so ergibt sich eine wechselseitige Befruchtung zwischen Tiefenpsychologie und Neurowissenschaften: „Wenn man den imperialen Anspruch relativiert, ergeben sich freilich zwischen Neuro- und Psychotherapiewissenschaft interessante Dialoge“ (Buchholz 2005, 2). Die Hirnforschung der letzten Jahre hat Beweise für Postulate, Theorien und Hypothesen geliefert, die von den Geisteswissenschaften aufgestellt wurden (vgl. Leuzinger-Bohleber, Mertens, Kokkou 1998; R. Schmidt 2005). Mittlerweile überlegen also Tiefenpsychologen die Anwendbarkeit neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf ihre Thesen, während Neurowissenschaftler darüber nachdenken, was ihre Ergebnisse zum Verständnis des Wirkmechanismus der psychotherapeutischen Behandlung beitragen können, und stellen diesen Wissensdialog auch jeweils in Zusammenhang: „Der Schlüssel zu unserem heutigen Verständnis der neurobiologischen Grundlagen der psychischen Funktionen liegt im Begriff der Neuroplastizität und der schon von Freud vorweggenommenen Erkenntnis, dass alle Leistungen des menschlichen Gehirns auf Neuronennetzwerken beruhen“ [. . . ] „Nicht zuletzt gelingt an diesen Stellen der empirische Nachweis sowie die Präzisierung und Erweiterung spezifischer Aspekte des Freud’schen Unbewußten überzeugend“ (van Gisteren 2008, 141, 145). Van Gisteren (2008) zitiert folgend in dieser seiner Arbeit Roths neurowissenschaftliche Sicht zur Wirksamkeit von Psychotherapie, die er auf drei neurobiologischen Wegen für vorstellbar hält, zum Zwecke der Abbildung der dialogischen Zusammenschau hier aus der Publikation van Gisterens zitiert: B. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
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4 Neurowissenschaften und Individualpsychologie
„(1. Anmerkung BS) . . . Stärkung der Ebene des bewussten Ich durch Einfluss auf den cingulären und orbitofrontalen Cortex auf die Amygdala (und assoziierte subcortikale Zentren) . . . (2. Anmerkung BS) . . . im Auflösen der ‚verknoteten‘ limbischen Netzwerke und damit im Beseitigen des Übels an den Wurzeln . . . (3. Anmerkung BS) . . . aufgrund andersartiger emotionaler Erfahrungen in der Amygdala ‚Ersatzschaltungen‘ angelegt werden . . . Therapie wäre dann die Induktion der Bildung dieser kompensatorischen Netzwerke“ (Roth 2006, 13, zit. nach van Gisteren 2008, 148 f.). Besonders bemerkenswert an den Ausführungen Roths erscheint, dass er damit nicht nur den neurobiologischen Niederschlag von Psychotherapie, sondern möglicherweise sogar bereits verschiedenen Psychotherapiemethoden oder vielleicht auch Interventionstechniken spezifisch unterschiedliche neurobiologische Korrelate anspricht. Ein Brückenschlag zwischen Neurowissenschaften und Tiefenpsychologie fand bis dato vor allem mit der Psychoanalyse statt: Eric R. Kandel, der zunächst über die Gedächtnisforschung die Funktionsweise des Gehirns untersuchte, spannte den Bogen zu der Idee, dass die Psychoanalyse auf eben diese Funktionsweise Einfluss nehmen kann und dass das Verständnis der biologischen Prozesse zu einem erweiterten oder veränderten Verständnis der psychischen Störungen führt (Kandel 2006). Dass die Integration der Wissenschaften nicht nur der Erkenntniserweiterung dient, sondern auch in der Praxeologie bedeutsam ist, forderte bereits Adler ein: „Die Seelenkunde sowie die Pädagogik müssen sich mehr als bisher auf die Erfahrungen des Neurologen und Psychiaters stützen“ (Adler 1914j, 41). Der Diskurs zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse fand seinen Niederschlag in der Theorie einer „Neuro-Psychoanalyse“, die die Schnittstelle zwischen geistig-seelischen Phänomenen und den Strukturen und Funktionen des Gehirns, zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse als von der Neuropsychologie ausgehend, aber bereits von Freud im Hinweis auf die Unvereinbarkeit der dynamisch-funktionalen Natur seelischer Vorgänge mit der Annahme einer lokalisierenden pathologischen Anatomie vorausgedacht, versteht (Kaplan-Solms und Solms 2005). Eine erste Integration der Neurowissenschaften mit der Psychoanalyse liegt zwar bereits in der Person Freud begründet, der seine wissenschaftlichen Forschungen zum Menschen mit der Publikation seiner Arbeit „Zur Auffassung der Aphasien: Eine kritische Studie“ (Freud, 1891b) begann, bevor er die Psychoanalyse „gebar“, jedoch ordnete er selbst den Charakter seiner Arbeit mehr der Kunst als der wissenschaftlichen Medizin zu und widersprach damit dieser Verknüpfung: „Alle glauben, dass ich meinem Werk naturwissenschaftlichen Charakter zuschreibe und dass in der Heilung von Geisteskrankheiten meine hauptsächliche Befähigung liege. Dies ist ein schrecklicher Irrtum, der seit Jahren fortbesteht und den
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richtigzustellen ich nicht in der Lage bin. In Wirklichkeit habe ich die Natur eines Künstlers. [. . . ] Meine Bücher gleichen in der Tat eher Werken der Phantasie denn Abhandlungen über Pathologie“ (Freud 1934 in einem Interview mit Giovanni Papini, zit. nach Hillman 1986, 7). Diese Sichtweise vertritt auch Hillman: „Damals [Anm.: in seinen Vorlesungen 1975] skizzierte ich das Konzept einer Psychologie der Seele, die auch eine Psychologie der Imagination ist, eine die weder auf der Hirnphysiologie noch auf struktureller Linguistik noch auf Verhaltensanalyse aufbaut, sondern sich die Prozesse der Imagination zum Ausgangspunkt nimmt“ (Hillman 1986, 8). Diese Vernetzung der Wissenschaften entspricht dem individualpsychologischen Menschenbild, da es die unteilbare Einheit von Körper, Geist und Seele auf einer Metaebene realisiert: „Dank verfeinerter Methoden der naturwissenschaftlichen Hirnforschung – zum Beispiel der Anwendung moderner bildgebender Verfahren – kam die Neurobiologie zu Ergebnissen, die mit den Aussagen der tiefenpsychologischen Schulen korrespondieren, sie ergänzen oder auf fruchtbare Weise in Frage stellen. Es hat sich ein Dialog ergeben, der für die Weiterentwicklung unseres Denkens unverzichtbar geworden ist“ (R. Schmidt 2005, 85). Dass Grundkonzepte der Individualpsychologie und der Neurobiologie gut zusammenpassen, ist eigentlich nicht verwunderlich, findet sich doch die Einheit von Körper, Geist und Seele bereits im strukturellen Aufbau des Gehirns aus Stammhirn, zuständig für Körperfunktionen, limbischem System, dem neuronalen Aktionsfeld der Emotionen, und dem Cortex, der neuronalen Arena kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Unteilbarkeit in der neuronalen Vernetzung und zugleich die individuelle Ausformung und Formbarkeit in der neuronalen Plastizität wieder. Streicht die Entwicklungsneurobiologie die Bedeutung von emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des menschlichen Gehirns heraus, indem es den Aufbau und die Stabilisierung neuronaler Netzwerke in den Zusammenhang mit Beziehungserfahrungen, die Geborgenheit und Sicherheit erleben lassen, stellt, so erinnert dies an das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes (Adler 1908d), dieses zugleich als neurobiologische „Erfahrung“ erklärend: Die vorgeburtliche Erfahrung der Verbindung erzeugt im Kind die Erwartung, dass diese Verbundenheit Fortsetzung findet: das Kind möchte in dieser Verbundenheit bleiben und sucht daher alles, was an diese Verbundenheit erinnert. Findet es Zeichen der Verbundenheit, gibt dies dem Kind Sicherheit und Geborgenheit. Das Oxytocin, das Hormon, das beim Geburtsvorgang die Wehen auslöst und die Muttermilchejektion stimuliert, wird vom Kind aus der
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4 Neurowissenschaften und Individualpsychologie
Muttermilch aufgenommen und erzeugt im Gehirn des Kindes Oxytocin-spezifische Erregungsmuster. Dabei schaut das Kind beim Stillen, also zeitgleich, die Mutter an. Daraus entsteht die Vernetzung des Erregungsmusters des Anschauens, Gehaltenwerdens und der Oxytocin-Ausschüttung in Vernetzung. In der Folge löst der Blickund Berührungskontakt zwischen Mutter und Kind dieses Erregungsnetzwerk aus, das Kind fühlt sich „im Blick“ der Mutter geborgen (vgl.: „der Glanz in den Augen der Mutter“, Kohut 2001), was zur Oxytocin-Ausschüttung führt; später auch durch den Berührungs- und Blickkontakt mit anderen Menschen auslösbar, wodurch dem Oxytocin der Namen „Bindungshormon“ beschert wurde. Streicht die Entwicklungsneurobiologie die Bedeutung von emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des menschlichen Gehirns heraus, indem es den Aufbau und die Stabilisierung neuronaler Netzwerke in den Zusammenhang mit Beziehungserfahrungen, die Geborgenheit und Sicherheit erleben lassen (Hüther 2003), stellt, so finden wir dies im Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes wieder, das befriedigt werden muss, bevor sich das Kind der Gemeinschaft zuwenden kann und sein Gemeinschaftsgefühl entwickeln kann. Überwindungsstreben zur Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen formuliert der Neurobiologe Gerald Hüther als das Bedürfnis nach Entwicklung, die am besten dann gelingt, wenn das Bedürfnis, sicher gebunden zu sein, gleichzeitig erfüllt wird und spricht damit unausgesprochen das Streben nach der Gemeinschaft aus, das danach sucht, innerhalb der Gemeinschaft seinen sicheren Platz zu finden und einen Beitrag zum eigenen Wachstum und dem der Gemeinschaft zu leisten. Nicht nur individualpsychologisch, sondern auch neurobiologisch betrachtet ist der Mensch ein soziales Wesen, das auf Kooperation ausgerichtet ist und dessen Gehirn der Sozialisation bedarf, um sich entwickeln zu können: „. . . dass der Bau und die Funktion des menschlichen Gehirns in besonderer Weise für Aufgaben optimiert sind, die wir unter dem Begriff ‚psychosoziale Kompetenz‘ zusammenfassen. Unser Gehirn ist demnach weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan“ (Hüther 2006, 18). Gemeinschaftsgefühl sieht die Individualpsychologie als Potential, das erst mittels Erleben entwickelt werden muss, so wie die Neurowissenschaften das Gehirn als auf Kooperation ausgerichtet sehen, aber der Sozialisation bedürftig, um sich entwickeln zu können. Sozialisation aber bedarf der Fähigkeit zur Empathie, also „mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen“ (Adler 1928f, 315), die neurobiologisch sowohl den Spiegelneuronen (Rizzolatti u. Sinigaglia 2008) als auch den Funktionen des präfrontalen Cortex zugeordnet wird (Hüther 2004). Gemeinschaftsgefühl als komplexe Persönlichkeitsdimension im Spiegel der Neurowissenschaften wieder zu finden bedarf einer Zusammenschau von neurobiologischen Detailerkenntnissen, worin wiederum eine Ganzheitlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses, also eine zutiefst individualpsychologische Herangehensweise liegt (siehe Rabenstein 2011).
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Adler postuliert, dass der Charakter eines Menschen durch seine frühkindlichen Erfahrungen geprägt wird und als Lebensstil die Bewegung des Seelenlebens formt. Die bereits intrauterine Aktivierung des für die Emotionalität zuständigen limbischen Systems, das dann in den ersten drei bis fünf Jahren durch Erfahrungen seine grundlegende Strukturierung erfährt (Krens u. Hüther 2005) erscheint als neurobiologischer Beleg für das Postulat des Lebensstils, die „Folie für alle Umwelteinflüsse, da jedes menschliche Gehirn nur als sozialisiertes Gehirn überlebens- und reifungsfähig ist (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2008b, 132). Weist die Entwicklungsneurobiologie aus, dass das limbische System bereits intrauterin beginnend und in den ersten drei bis fünf Lebensjahren grundlegend strukturiert wird (Roth 2001), so verweist dies inhaltlich auf das Konzept des Lebensstils, der durch die frühkindlichen Erfahrungen der ersten fünf Lebensjahre in seinen Grundzügen geprägt wird und das Bewegungsgesetz des Seelenlebens bestimmt – die „Macht der inneren Bilder“ (Hüther 2004) bildet den meist unverstandenen Lebensstil ab. Das Selbstwirksamkeitskonzept, vom präfrontalen Cortex neuronal getragen, dessen neuronale Verschaltungen sich am langsamsten, aber fortdauernd entwickeln, erinnert an den mutigen Lebensstil, der der Ermutigung bedarf, um zu diesem zu werden, und diese dadurch erfährt, dass seine „Sehnsucht nach Aufgaben, an denen er wachsen kann“ (Hüther 2009) gestillt wird. Sieht Adler das Kind als schöpferisches Wesen, das nicht vollkommen durch seine Erfahrungen determiniert ist, sondern aktiv mitbeteiligt an seiner Entwicklung, also autopoietisch, so entspricht dies dem neurobiologischen Forschungsergebnis, dass wir durch die Art, wie wir unser Gehirn „bedienen“, dieses auch gestalten, also eine Art neurobiologisch wirksamer Kreativität uns Gestaltungsraum für unseren Lebensstil bietet (Hüther 2006). Wenn Ciompi, von den emotionalen Grundlagen des Denkens ausgehend, eine „fraktale Affektlogik“ entwirft, in der er Affekte als „grundlegende Operatoren von kognitiven Funktionen“ (Ciompi 2005, 93) und zugleich „Im Größten das Kleinste – Im Kleinsten das Größte“ (ebd., Deckblatt) erkennt, so lässt dies ebenfalls den Begriff des Lebensstils assoziieren, der die Einheitlichkeit der Seelenbewegung bestimmt. Tendenziöse Apperzeption als Versuch, Wahrzunehmendes den bereits erworbenen Denk- und Fühlstrukturen im Dienste des lebensstiltypischen Sicherheitsstreben anzupassen, steht im Einklang mit der Funktionsweise der primären und sekundären sensorischen corticalen Hirnarealen, die Wahrnehmungsprozesse durch Hypothesenbildung konstruieren (Roth 2006; Schmidbauer 2004) – ein Postulat, das auch die kognitive Psychologie in ihren Modellen zur Wahrnehmung erstellte (Neisser 1967; Norman 1973). Die Finalität, die Zielgerichtetheit des menschlichen Seelenlebens, findet sich wieder in den Motivationssystemen (Bauer 2006). Die Neurobiologie, heute zu einer Art Leitdisziplin geworden, bereichert durch objektivierbare Befunde zu seelischen Erkrankungen das Wissen um psycho-physische Zusammenhänge, wenngleich „Neuromythologien“ (Resch u. Westhoff 2008, 140) psychische Prozesse auf biologischen Prozessen beruhend auszuweisen in einer Art Rückschritt im Fortschritt wissenschaftliche Vergangenheiten der James-LangeTheorie der Emotionen aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die Gefühle
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als Begleiterscheinung von körperlichen Reaktionen verstand (nach Becker-Carus, 2004), assoziieren lässt. Hinterfragenswert ist die Überlegung, inwieweit die psychische Symptome begleitenden Beeinträchtigungen neurobiologischer Prozesse, sofern diese nachweisbar sind, jene als therapienotwendig rechtfertigen: Resch und Westhoff (ebd.) führen dazu als Beispiel die Abgrenzung der Simulation von der Dissoziation durch deren cerebrale Korrelate an, weisen aber zugleich darauf hin, dass implizit damit psychische Symptome ohne verifizierbare organische Grundlage als „gemacht“ verdächtigt werden können. Neurobiologische Befunde psychischer Symptome als Beitrag zur Entstigmatisierung psychischer Störungen zu verstehen würde allerdings bedeuten, sich weiterhin in einer Matrix der Stigmatisierung seelischer Krankheiten zu bewegen. Ergebnisse der Neurobiologie und der Genforschung fordern auch die Auseinandersetzung mit deren Implikationen für die Psychotherapiewissenschaften heraus: Das Streben, das menschliche Gen zu entschlüsseln, um dadurch die genetischen Anlagen jeder einzelnen menschlichen Eigenschaft und Verhaltensweise isolieren zu können, hatte zum Ziel, den menschlichen „Bauplan“ zu verstehen und vielleicht auch in dessen Anlagen korrigierend einzugreifen. Implizit erinnert Letzteres unheilvoll an Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts. Konsequent weiter gedacht, wäre zu erwarten, dass dieses Wissen in einer „Biomacht“ (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2009) als einer aus ethischer Sicht kritisch zu würdigender Kompetenz der Wissenschaft mündet, die nach einer „Neuroethik“ verlangt: „[. . . ] dann verliert sich der Unterschied zwischen Heilung und Verbesserung, zwischen Krankheit und Optimierung.“ (Lehmkuhl u. Lehmkuhl 2009, 169). Der Neurobiologe Gerald Hüther relativiert die Vorrangstellung, die den Neurowissenschaften aktuell zugeordnet wird, wenn er meint, dass dabei niemals wirklich neue Erkenntnisse gewonnen werden, sondern häufig an das angeknüpft wird, was schon einmal gedacht worden war (Hüther 2003), in Übereinstimmung mit dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, der auf die zeitliche Abfolge der Erkenntnisgewinnung hinweist, wenn er meint, dass nun die Neurobiologen manches „auch“ wüssten (Juul 2008). Diskussionen darum, ob die Zusammenschau zwischen Neurowissenschaften und Psychotherapie nützlich oder entbehrlich sei: „Dabei zeigt sich, dass die Neurobiologie nicht notwendig für diese Diskussion [mentaler Prozesse und des freien Willens, Anm. B. S.] ist“ (Tretter 2008, 180), erinnern an eine Gleichwertigkeitsproblematik, metaphorisch den „männlichen“, weil „objektiven“ Neurowissenschaften, und den „weiblichen“, weil hermeneutischen Geisteswissenschaften, im Speziellen den Psychotherapiewissenschaften, zugeordnet.Dies verleitet zu einer Art des männlichen Protestes, wenn der Neurobiologie vorgeworfen wird, „noch nicht die Exaktheit der theoretischen Physik erlangt“ zu haben, und in einem Rundumschlag der kämpferischen und zugleich larmoyanten Abwertung mit impliziter Selbsterhöhung festgestellt wird: „Die Neurobiologie scheint offensichtlich ihre Durchschlagskraft vorwiegend durch den Verlust an umfassender Bildung der restlichen akademischen Intelligenz zu bekommen“ (ebd., 200).
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Ein kooperativer, also „gemeinschaftsgefühlhafter“ Dialog der Wissenschaften ist die Alternative, und, wie wir spätestens seit Adler wissen müssten, auch eine sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft förderliche Herangehensweise, in gemeinsamer Akzeptanz des Wissens, dass der menschliche Erkenntnishorizont „obligat beschränkt“ ist (Ciompi 2005).
5 Spezialgebiete 5.1 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Brigitte Sindelar
5.1.1 Anmerkungen zu psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter “Life is a serious business for some young people, especially if they have mistaken ideas about how they should be, how people and the world should be, and how they need to be to find a place in their families and with their peers” (Reynolds 2008, 32). Heranwachsende geraten bei der Bewältigung der Lebensaufgaben zunehmend in seelische Not: „Internationale epidemiologische Studien haben ergeben, dass bei einem Prävalenz-Zeitraum von bis zu einem Jahr jedes fünfte Kind bzw. jeder fünfte Jugendliche unter einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung leidet“ (Steinhausen, 2006, 30). Störungen der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung haben in der westlichen Welt körperliche Kinderkrankheiten in ihrer Bedrohlichkeit für das Kind verdrängt (vgl. Sindelar 2011), wobei zwei Altersgipfel in der Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen sichtbar werden: der erste in der Altersgruppe der Sechs- bis Zehnjährigen, der zweite in der Altersgruppe der vulnerablen Phase der Pubertät und Adoleszenz, also der Dreizehn- bis Sechzehnjährigen. Im Kindesalter, also im ersten Altersgipfel, sind doppelt so viele Buben wie Mädchen betroffen, während sich im zweiten Altersgipfel der Adoleszenz die Geschlechterverteilung angleicht (Ihle, Esser 2002, Steinhausen 2006). Dabei sind bei Mädchen internalisierende Störungen wie Essstörungen und psychosomatische Erkrankungen häufiger, bei Buben überwiegen die externalisierenden Störungen wie aggressives Verhalten und Dissozialität (Ihle, Esser, 2002). Bei der kinderpsychiatrischen Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) werden bei einer derzeit weltweit bei durchschnittlich über fünf Prozent liegenden Prävalenz, die allerdings extreme Unterschiedlichkeiten innerhalb der Fülle von Publikationen aufweist (Polanczyk et al. 2007), bei einem Geschlechterverhältnis von 3:1 Buben als weitaus häufiger betroffen identifiziert. Werden in einer Review-Studie zu psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter über die letzten zwanzig Jahre als die häufigsten Störungen Angststörungen berichtet (Waddell u. Shepherd 2002), so belegen diese Ergebnisse die Ansicht von Adler, der die Angst als Symptom der neurotischen Sicherung bei übermächtigem Minderwertigkeitsgefühl für seelische Störungen im Kindesalter verantwortlich machte (Adler 1927a). Dabei ist festzuhalten, dass die symptomdeskriptive Diagnosestellung der international gebräuchlichen Klassifikationssysteme ICD und DSM konzeptuell keine Ätiologien für das Entstehen psychischer Störungen im KindesB. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
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und Jugendalter ausweisen, womit aus psychoanalytisch-individualpsychologischer Sicht die Angststörung als eine von vielen Möglichkeiten der Symptommanifestation zu betrachten ist – Angst hat viele Gesichter. Angst als Resultat der Entmutigung, die das Minderwertigkeitsgefühl überhand nehmen lässt und die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls behindert, lässt auch andere Symptome wachsen, deren Finalität auf der „unnützlichen Seite des Lebens“ im Dienste der Sicherungstendenzen steht. Sie ist das Ergebnis mangelnder emotionaler Sicherheit, Dissozialität das Resultat eines mangelnden Gemeinschaftsgefühls, Entmutigung der gemeinsame Nenner. Bleiben psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter unbehandelt, haben sie persistierenden Charakter ins Erwachsenenalter und stellen damit einen Risikofaktor für die Volksgesundheit dar: „There is mounting evidence that many, if not most, lifetime psychiatric disorders will first appear in childhood or adolescence“ (Costello, Egger u. Angold 2005, 972). Seelische Störungen von Kindern und Jugendlichen sind somit von prospektiver Bedeutung für die Gesundheit der menschlichen Gemeinschaft, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist also nicht nur eine seelische Heilbehandlung für Menschen einer definierten Altersgruppe, sondern auch eine sekundärpräventive Maßnahme für die Gesellschaft.
5.1.2 Zur Tradition der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der Individualpsychologie Der Beginn der Kinderpsychotherapie war mit „Der kleine Hans“ – die „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ (Freud 1909b) gesetzt: in Anwendung seiner Erkenntnisse aus der Analyse Erwachsener suchte Freud mit dem Vater des Kindes die psychischen Ursachen der Phobie zu verstehen, die unbewussten emotionalen Konflikte aufzudecken, und erreichte dadurch die Heilung. „Die Seele des schwer erziehbaren Kindes“, 1930 erschienen, markiert eine Schwerpunktsetzung der Individualpsychologie in der kinder- und jugendpsychotherapeutischen Arbeit (Adler 1930e), die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen war jedoch von deren Beginn an ein Anwendungsgebiet der Individualpsychologie, wenngleich in ihren Anfängen nicht explizit als solche ausgewiesen: Die Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen im Anschluss an seinen Kurs „Über praktische Erziehungskunst und Menschenkunde“, abgehalten an der Volkshochschule „Volksheim“ in Wien-Ottakring im Jahr 1918/19, kann als Beginn der ambulanten individualpsychologischen Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen in Wien betrachtet werden. Ihre Fortsetzung und Ausweitung fanden diese in den 1959 eröffneten Wiener Instituten für Erziehungshilfe, „Child Guidance Kliniken“, deren Arbeitsweise individualpsychologisch geprägt wurde durch ihren psychiatrischen Leiter, den Individualpsychologen Knut Baumgärtel, und die psychologische und psychotherapeutische Leiterin, die Individualpsychologin Marianne Stockert (Stockert 1974). Das Naheverhältnis von individualpsychologischer Erziehungsberatung und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bildet sich im Buchtitel: „Ambulante Psychotherapie für Kinder und Jugendliche“ mit seinem Untertitel: „25 Jahre
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Institut für Erziehungshilfe (Die Wiener Child Guidance Clinic)“ ab. Die 1977 von Max Friedrich, Kinder- und Jugendpsychiater und Individualpsychologe, im Schuldienst etablierten „Psychagogen und Psychagoginnen“ verstehen sich als im Vorfeld der Psychotherapie nach individualpsychologischen Konzepten tätig und setzen in der Vernetzung von der Einzelarbeit mit dem Kind mit der Teamarbeit mit dem Lehrpersonal das von Adler geprägte Verständnis individualpsychologischer Zuständigkeit um, ein Konzept, das auch – wohl ohne Kenntnis dieser Entwicklung in Österreich – in den USA als „Kinder Therapy“, die als „Filial Therapy“ im besonderen Umfeld der Schule Lehrkräfte als „therapeutic agents“ einsetzt, Anwendung gefunden hat (White, Flynt u. Draper 1997). Das von Gertrude Bogyi 2002 ins Leben gerufene psychotherapeutische Ambulatorium „Die Boje“ als Zentrum für die individualpsychologische Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen bei Kindern- und Jugendlichen sieht seinen Auftrag in der Psychotherapie. In Österreich ist die individualpsychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in ihrer Weiterentwicklung nicht nur mit der Pädagogik, sondern auch aufs Engste vernetzt mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch deren Begründer und Individualpsychologen Walter Spiel (1920–2003), dem Sohn des Pädagogen und Individualpsychologen Oskar Spiel (1892–1961). Auch Walter Spiel engagierte sich für die breite Anwendung der Individualpsychologie in Problemfeldern der Erziehung, wie zum Beispiel in der Serie „Elternschule“ des österreichischen Fernsehens in den 70ger Jahren des vorigen Jahrhunderts. (Weiteres zur Vernetzung von Individualpsychologie, Erziehung und Pädagogik siehe Kap. 5.4.)
5.1.3 Die besonderen Bedingungen der Kinderund Jugendlichenpsychotherapie Bereits von Anna Freud (1968) und seitdem vielfach wiederholend wird in Arbeiten zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie darauf hingewiesen, dass zwischen der psychotherapeutischen Behandlung von Erwachsenen im Vergleich zu der von Kindern und Jugendlichen ein grundlegender Unterschied zu beachten ist, nämlich dass nur in Ausnahmefällen das Kind selbst, üblicherweise aber die Eltern, und da wiederum häufig nicht in Einigkeit zwischen Vater und Mutter, psychotherapeutische Hilfe suchen, an den Symptomen der Kinder meist Eltern und Personen aus dem pädagogischen Umfeld des Kindes stärker leiden als die Kinder selbst, weswegen diese den Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung des Kindes anstreben (vgl. Datler 1996). „Ein Kind kommt zunächst nicht freiwillig in die Therapie: Beginn, Aufrechterhaltung und Vollendung der Behandlung wird nicht durch eigene Verantwortung getragen, sondern obliegt der Entscheidung der Eltern. Viele der Vorbedingungen, die wir beim Erwachsenen als unerlässlich für den Erfolg einer Behandlung ansehen, fehlen einem Kind, neben Krankheitseinsicht und Freiwilligkeit, oftmals auch der Leidensdruck“ (Leixnering u. Bogyi 1997, 22).
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5.1 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Dabei sind die Vorstelllungen und Erwartungen der Erwachsenen, die die psychotherapeutische Behandlung des Kindes initiieren, regelmäßig von zwei interagierenden Aspekten geprägt: einerseits werden psychische Probleme eines Kindes oftmals als Resultat elterlicher Erziehungsinkompetenz und damit als elterliches Versagen angesehen und daher von den Eltern als schuldhaft erlebt. Eltern nehmen also den ersten Kontakt zur professionellen Hilfe bereits in dem Gefühl der Hilflosigkeit und der Minderwertigkeit auf: „Eltern suchen Beratung und Therapie dann auf, wenn ihre eigenen Anstrengungen fruchtlos geblieben sind.“ (Hüther u. Bonney 2010, 111). Besonders bei externalisierenden Störungen wird das unangepasste Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen zusätzlich seitens des familiären und sozialen Umfeldes als Erziehungsinsuffizienz der Eltern attributiert. Wenn Kinder Sorgen machen, beginnt üblicherweise eine Suche nach dem Schuldigen, der zuerst im außerfamiliären Umfeld, wie zum Beispiel der Lehrkraft oder der Kindergartenpädagogin (bzw. dem Kindergartenpädagogen, allerdings wird dieser Beruf selten von Männern wahrgenommen) zugeschrieben. Besteht die Symptomatik nach einem Wechsel der Klasse, der Lehrkraft, der Schule, des Kindergartens fort, so wird diesen Betreuungspersonen außerhalb der Familie die „Unschuld“ bestätigt. Dann wird der Vater und bevorzugt die Mutter, die für die Erziehung des Kindes als zuständig erachtet werden, als schuldig an den Symptomen angeklagt und oft auch von diesen selbst anerkannt, aber nicht unbedingt zugegeben. Besondere Brisanz gewinnt die Suche nach dem Schuldigen in der Situation des getrennten Elternpaares, in der häufig die wechselseitige Schuldzuweisung ohnehin mehrfach strapaziert wird. Immer noch wird die Meisterschaft in der verantwortungsvollsten, aber auch schwierigsten gesellschaftlichen und persönlichen Aufgabe, in der Erziehung der Kinder, als eine angeborene Fähigkeit eingefordert. Eltern, die sich in ihrer Elternschaft minderwertig fühlen, können allerdings auch weiterhin dem Kind nicht die für eine gedeihliche Entwicklung notwendige Sicherheit vermitteln. Im erstaunlichen Widerspruch dazu steht andererseits, dass Eltern zugleich nur selten Bescheid darüber wissen, dass die frühesten Beziehungserfahrungen, die emotionalen Bindungen der ersten Kindheitsjahre das Saatgut sind, aus dem Charakter und Persönlichkeit wachsen. Und so geht dem Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung ein manchmal Jahre andauernder Prozess voraus, in dem Schuldige statt einer Problemlösung gesucht werden. Haben die Eltern mehr als ein Kind und sind die anderen Kinder symptomfrei, so werden diese Kinder als „Zeugen“ der Erziehungskompetenz der Eltern gesehen, in der Vorstellung, dass die Schuld nicht bei den Eltern liegen könne, da ja sonst alle ihre Kinder Symptome einer psychischen Störung aufweisen müssten. Dann endet die Suche nach dem Schuldigen beim Kind selbst, dem dann unterstellt wird, dass es seine Symptomatik durch einen Mangel an Kooperationsbereitschaft willentlich aufrechterhält (vgl. Sindelar 2008). Das Kind bzw. der Jugendliche ist darauf angewiesen, ob jemand seine Symptome als Ausdruck seiner seelischen Not versteht. „Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen hat darüber hinaus noch besonders zu berücksichtigen, dass sie eine Behandlungsform für Schutzbefohlene darstellt, die
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oft die Tragweite ihrer eigenen Störung nicht in allen Dimensionen zu erkennen vermögen“ (Resch u. Schulte-Markwort 2008, 1). In der unbewusst motivierten Hoffnung, das Gefühl elterlicher Minderwertigkeit und Schuld abladen zu können, erwarten Eltern von der psychotherapeutischen Behandlung des Kindes dann oftmals quasi die „Reparatur“ ihres Kindes. Die Eltern zur Compliance und zur Mithilfe in der psychotherapeutischen Behandlung des Kindes zu ermutigen, sie in ihrem Expertenstatus, ihr Kind betreffend, ernst zu nehmen und zu unterstützen, ist die erste Aufgabe und die Herausforderung an den Psychotherapeuten zu Behandlungsbeginn.
5.1.4 Besondere Kenntniserfordernisse zur psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen Die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen setzt besondere Kenntnisse voraus, die in der Ausbildung oft nur randständig vermittelt werden, ohne die allerdings die Erfüllung der besonderen Anforderungen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie nicht gewährleistet sein kann. „Wir sind der Auffassung, daß die Kinderpsychotherapie etwas Allgemeines und etwas Besonders vereint. Das Allgemeine ist das, was man allen psychotherapeutischen Behandlungsformen zuschreibt. [. . . ] Die Kinderpsychotherapie zeichnet sich darüber hinaus aber noch durch die Besonderheit des Kindseins und die kindliche Lebens- und Erlebnissituation aus. Das Kind ist keine Miniaturausgabe des Erwachsenen. Seine psychotherapeutische Behandlung ist deshalb auf seine psychischen, physischen und geistigen Besonderheiten abzustimmen“ (Reinelt, Bogyi, Schuch, 1997, 11). Dies bedingt, dass der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut nicht nur über umfassende Kenntnisse der Psychotherapie, sondern auch über entwicklungspsychologisches Wissen verfügen muss, um den Erfordernissen der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gerecht werden zu können. Kindliche Entwicklung vollzieht sich im Netzwerk von körperlicher, emotionaler, sozialer und kognitiver Entwicklung, ist immer das Ergebnis des Zusammenspiels von Anlage, Ausreifung und Einfluss von Umweltfaktoren (Resch et al. 1999; Friedrich 2003). Daher muss der Kinderpsychotherapeut über die Stadien der kognitiven Entwicklung Bescheid wissen, um sowohl seine sprachlichen Äußerungen dem Sprachverständnis des Kindes passend zu wählen als auch die Sprache des Kindes entsprechend verstehen zu können. Er muss über die Stadien der Denkentwicklung informiert sein, um Denkweise und Vorstellungs- und Abstraktionsvermögen des Kindes berücksichtigen zu können. Kenntnisse über den Verlauf der sozialen Entwicklung, der moralischen Urteilsbildung und der sozialen Kompetenzen sind Voraussetzung, um in der Kommunikation mit dem Kind zum Dialog zu finden. Dabei genügt es nicht, idealtypische Entwicklungsverläufe zu kennen, die Meilensteine der kindlichen Entwicklung altersspezifisch zuordnen zu können. Auch
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5.1 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Abweichungen von der „Entwicklungsnorm“, wie zum Beispiel in isolierten bzw. umschriebenen Entwicklungsrückständen der Sprache, der Motorik, im Erwerb der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens müssen dem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bekannt sein, um sie in ihrer Auswirkung für die seelische Entwicklung des Kindes entsprechend beachten zu können. Teilleistungsschwächen als partielle Rückstände der kognitiven Entwicklung können in einem somatopsychischen Bezugsrahmen als Ausdruck einer Organminderwertigkeit verstanden werden, wobei der locus minoris restitentiae im Sinne des minderwertigen Organs das funktionelle Hirnorgan im Sinne Lurias darstellt: „Teilleistungsschwächen machen ein Kind anfälliger und irritierbarer. Daher sind Lernstörungen bei teilleistungsschwachen Kindern, durchaus vergleichbar mit dem Konzept der Organminderwertigkeit, als Reaktion des anfälligen „Organs“ der Hirnstruktur zu interpretieren. Teilleistungsschwächen bedeuten also eine Organminderwertigkeit, wobei das reagierende Organ das Gehirn ist“ (Sindelar 2008, 234). Entwicklungsrückstände stellen das Kind vor erhöhte Anforderungen in der Bewältigung seiner lebensphasenspezifischen Entwicklungsaufgaben, was das Minderwertigkeitsgefühl verstärken kann und in der Folge zu symptomhaften Kompensationsversuchen führen kann. Im Konkurrenzvergleich mit den Gleichaltrigen, der oft von Bezugspersonen aus Familie und Schule auch noch geschürt wird, erschwert das daraus resultierende Gefühl der Unterlegenheit den Zugang zur Gemeinschaft und die Ausbildung eines stabilen Gemeinschaftsgefühls. Kindliche Entwicklung unterliegt sowohl Risikofaktoren, die die Vulnerabilität eines Kindes steigern, als auch kann sie durch protektive Faktoren, die im Beziehungsumfeld des Kindes gegeben sein können, positiv beeinflusst werden. Resch definiert die individuelle Anpassungsfähigkeit eines Kindes, dessen adaptives Potential, als die Summe von Vulnerabilitätsfaktoren und protektiven Faktoren. Das soziale Umfeld kann protektive Faktoren bieten, die unter Risikobedingungen vor einer negativen Entwicklung schützen (Resch et al. 1999). Allerdings sind die affektiven Bindungen innerhalb und außerhalb der Familie, die emotionale Unterstützung in Belastungszeiten ermöglichen, sowie die externe soziale Unterstützung, gegeben in der Integration in Gruppen und in der Schule, einem Wandel unterworfen. Von deren aktuellem Stand muss der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut jeweils Kenntnis haben, also sie auch laufend aktualisieren. Daraus leitet sich ab, dass der Psychotherapeut von Kindern und Jugendlichen auch mit den jeweils aktuellen Gegebenheiten und Bedingungen, die ein Kind oder Jugendlicher in seinem „Arbeitsumfeld“ Schule und Berufsausbildung vorfindet, vertraut sein muss. Aber nicht nur die Bedingungen des Bildungssystems mit seinen Einflüssen auf das Kind, auch die jeweiligen gesellschaftlichen Trends, die medialen Einflüsse und die Werte, Normen und impliziten Menschenbilder der Jugendkulturen müssen insbesondere dem Jugendlichenpsychotherapeuten geläufig sein, da ja im zweiten Altersgipfel psychischer Störungen, dem Lebensalter der Adoleszenz, der Peer-
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Group besondere Bedeutung als Einflussgröße auf die Entwicklung zukommt (Friedrich 2005). Zu den Umwelteinflüssen, die für den kindlichen Lebensraum relevant, weil gestaltend sind, gehört auch die Gesetzeslage. Kenntnisse über das Jugendschutzgesetz in seiner jeweils aktuellen und regionalen Fassung gehören ebenso zum Basiswissen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wie die Vertrautheit mit dem Schulgesetz. Die gesteigerte Veränderlichkeit familiärer Gemeinschaften, abgebildet zum Beispiel im Anstieg der Scheidungsrate in Österreich von 29,5 % im Jahr 1988 auf 49,5 % (in Wien auf 64,1 %) im Jahr 2007 (Quelle: Statistik Austria), hat nicht nur eine höhere Anforderung an die Anpassungsleistung des Kindes durch Verlust und Gewinn von Bezugspersonen zur Folge. Kinder sind außerdem gefährdet, in die Konflikte der erwachsenen Bezugspersonen involviert zu werden und dabei von den Eltern in Funktionsrollen im Zuge der elterlichen Auseinandersetzung gedrängt zu werden (Friedrich 2004). Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut hat daher über aktuelle Entwicklungen im Obsorgerecht informiert zu sein, um angstvolle Fiktion des Kindes von gesetzlicher Realität unterscheiden zu können – und dies natürlich auch im begleitenden Beratungsgespräch mit den Eltern und den weiteren erwachsenen Bezugspersonen des Kindes.
5.1.5 Die besondere Sprache der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen Niemals wieder im Leben verändert sich der Mensch so sehr wie in den Jahren der Kindheit und Jugend: der Jugendliche ist sich selber als Kleinkind so wenig gleichartig wie er es nie wieder im Leben sein wird. Zugleich „ist das Kind der Vater des Mannes“ („The Child is Father of the Man“ – Zeile aus dem Gedicht: „My Heart Leaps Up“ von William Wordsworth, 1770–1850). Daher ist auch die Kinder- und Jugendlichentherapie zwar eine umschriebene Spezialisierung innerhalb der Psychotherapie, aber psychotherapeutisches Handeln mit einem Kind genau so wenig gleichartig dem mit einem Jugendlichen wie das Kind dem Jugendlichen. Die geringe Gleichartigkeit ist insgesamt ein Faktum, das der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eigen ist: auch der Psychotherapeut und sein Patient sind zueinander weit weniger gleichartig als in der Erwachsenentherapie: sie sprechen nicht dieselbe Sprache und denken nicht in denselben Bahnen, Mustern und Strukturen. Die Aufgabe des Psychotherapeuten, sich empathisch in die Denk- und Erlebenswelt des Kindes oder Jugendlichen begeben zu können, erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit zur reflektierten und kontrollierten Regression, in der der Therapeut einerseits in die innere Realität des Kindes oder Jugendlichen einzutauchen bereit ist, andrerseits nicht in ihr untergehen darf. In der psychotherapeutischen Arbeit mit Erwachsenen findet ein gemeinsames „Zurückfühlen“ statt, in der Arbeit mit Kindern oder Jugendlichen fühlt nur der Psychotherapeut alleine dorthin „zurück“, wo sein Patient ist, um dann, wenn er das Kind oder den Jugendlichen erreicht hat, ihn in dessen Regression zu begleiten, sollte diese für den psychotherapeutischen Prozess erforderlich sein.
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5.1 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Die Sprache der Kinderpsychotherapie ist das Spiel. Im Spiel, in Bildern und Geschichten drückt das Kind sowohl seine aktuelle seelische Not, seine Sichtweise seiner Beziehungen zu seinem Umfeld, seine innerpsychischen Konflikte als auch biographische Inhalte aus. Im Spiel stellt das Kind seine seelische Not dar, die es nicht in Worte fassen könnte. „In der psychotherapeutischen Behandlung des Kindes spielt die sprachliche Mitteilung eine wesentlich geringere Rolle als beim Erwachsenen. Ein besonders geeignetes Medium, sein Erleben auszudrücken, stellt das Spiel dar. Dieses kann man geradezu als die via regia der Kinderpsychotherapie bezeichnen. Es ermöglicht, sich mitzuteilen und Probleme und Konflikte (vor erst) verschlüsselt darzustellen“ (Reinelt, Bogyi, Schuch, 1997, 11). Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten müssen daher vielsprachig sein. Sie müssen in der Lage sein, alters- und entwicklungsspezifische Kommunikationsformen in der Arbeit mit kindlichen und jugendlichen Patienten anzuwenden, also nonverbale Ausdrucksformen wie zum Beispiel Spielen, Zeichnen und Malen und in der verbalen Kommunikation Symbolik und Metaphern, zum Beispiel die Arbeit mit Märchen und Geschichten, sowohl zu verstehen als auch zu sprechen. Daher hat der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut nicht nur, wie vorher ausgeführt, über umfassende Kenntnisse der Entwicklungspsychologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie zu verfügen, sondern muss auch imstande sein, die Sprachen, die das Kind wählt, zu sprechen, also muss er imstande sein, sowohl mit gegenständlichen Materialien als auch mit Phantasien und Metaphern zu spielen. Diese besondere Anforderung an die innere Bereitschaft des Psychotherapeuten zur Flexibilität, hier wörtlich als Biegsamkeit im Sinne der Beweglichkeit des Fühlens, des Denkens und der Sprachlichkeit gemeint, ist wahrscheinlich mit ein Grund, warum sich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sehr oft auch innerhalb der Patientengruppe der Unmündigen – denn dies ist dem Kind und dem Jugendlichen jedenfalls gemeinsam – spezialisieren, also bevorzugt entweder mit Kindern oder mit Jugendlichen arbeiten, weil sie meist für eine dieser Lebensspannen talentierter sind als für die andere. Spekulativ bleiben kann derzeit nur eine Antwort auf die Frage, inwieweit diese Spezialisierung auf Kinder oder Jugendliche in der Biographie des Therapeuten motiviert ist – wehrt er die Emotionen seiner eigenen Kindheit ab und spezialisiert sich deswegen auf Jugendliche oder wendet er sich diesem Lebensalter deswegen zu, weil ihm die seelischen Sorgen dieses Alters aus eigenem Erleben besonders gut einfühlbar sind? (Diese Frage, die in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in die Aufmerksamkeit drängt, ist natürlich auch generalisierbar: arbeiten wir am liebsten und vielleicht auch am erfolgreichsten mit Patienten, deren Sorgen uns aus Eigenerfahrung vertraut sind oder meiden wir gerade diese, weil sie uns zu sehr vertraut sind und daher unsere persönlichen Identitätsgrenzen gefährden?) Da das Lebensalter des kindlichen oder jugendlichen Psychotherapiepatienten seine Wahl der Sprache der Psychotherapie wesentlich gestaltet (es ist zum Beispiel
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nicht zu erwarten, dass ein Jugendlicher spontan die Holzeisenbahn zum Hauptakteur seines Dialogs mit dem Psychotherapeuten wählt oder ein fünfjähriges Kind seine Gefühle in einem selbstkomponierten Song in der musikalischen Ausgestaltung einer bestimmten Musikrichtung ausdrückt), erscheint es nun an dieser Stelle der Betrachtung des psychotherapeutischen Spiels sinnvoll, Kinderpsychotherapie und Jugendlichenpsychotherapie zu unterscheiden, um dann wiederum vom Material abstrahiert deren Gemeinsamkeiten zu erkennen: Das gemeinsame Spiel trägt den dynamischen Prozess zwischen Kind und Therapeut, in dem das Kind in seinem eigenen Tempo und Art und Weise die gegenwärtigen und vergangenen, bewussten wie auch unbewussten Themen darstellt, die sein Leben beeinflussen. Das Spiel bietet Gelegenheit sowohl zur Mitteilung als auch zur Katharsis und im Weiteren zur Verarbeitung und zur Erprobung von alternativen Konfliktlösungen im „Als Ob“ innerhalb des geschützten Raumes der therapeutischen Beziehung. Aufgabe des Psychotherapeuten ist, sowohl die Botschaft zu verstehen als auch in derselben Sprache, die das Kind gewählt hat, zu antworten, zugleich aber auch mit dem Ziel der Be- und Verarbeitung, entsprechend dem aktuellen Entwicklungsstand des Kindes, die Übersetzung der vom Kind dargestellten Gefühle in die gesprochen Sprache vorzunehmen. „Die Kindertherapie erfordert vom Therapeuten ein Höchstmaß an Flexibilität in seinem Handlungsbereich. Der Therapeut versucht ständig, den Überblick über das ganze erhaltene Material vor Augen zu haben, Parallelen und Wiederholungen zu erkennen und es in die Übertragungs-Zusammenhänge einzuordnen. Auf der einen Seite betreffen sie die Ergebnisse des Kindes und die Änderungen seiner inneren Situation, auf der anderen Seite hat der Therapeut laufend den familiären Kontext zu berücksichtigen“ (Bogyi 1997, 189). Die Kunst des Therapeuten besteht darin, dem Kind den für seine Entfaltung, für die Darstellung seiner seelischen Not und für die Verarbeitung seiner seelischen Konflikte notwendigen Raum zu bieten. Dieser Raum, den der Psychotherapeut des Kindes bereit zu stellen hat, ist vielschichtig, denn der psychotherapeutische Prozess findet auf mehreren Ebenen statt, die im Wechselspiel interagieren: die Ebene des Spiels mit physischem Material ist der sichtbare und beobachtbare Vorgang, der eingebunden ist in die Interaktion zwischen Psychotherapeut und Kind. Der psychotherapeutische Prozess entsteht im Netzwerk des Tuns und der Beziehung: „Die Aufgabe des Therapeuten ist eine doppelte: einerseits sich auf das Spiel mit dem Kind einzulassen und andererseits einen haltenden Rahmen zur Verfügung zu stellen“ (Günter 2010, 338). Das Kind bestimmt, was es spielen will, wählt also aus dem Angebot, das ihm der Therapeut zur Verfügung stellt. Die Wahl des Spielmaterials durch das Kind wiederum erlaubt dem Psychotherapeuten zu verstehen, aus welcher libidinösen Phase seines Lebens und seiner Entwicklung das Kind erzählt (Ude-Pestel 1975). Die Ausstattung des Raumes der Kinderpsychotherapie hat daher Materialangebote zu enthalten, die es dem Kind ermöglichen, entsprechend seinem Ausdrucksbedürfnis
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zu wählen, ohne das Kind durch Überfülle zu überfordern. Angebote von Material zur Darstellung von oralen, analen und ödipalen Themen müssen genau so verfügbar sein wie Material zum Rollenspiel und zur Darstellung sozialer Interaktionsprozesse. Dabei kommt die Kreativität und Phantasie des Kindes zu Hilfe: Kinder sind imstande, aus unterschiedlichsten Materialien das herzustellen, was sie für die Darstellung ihrer Gefühle benötigen, es muss nicht jedes nur erdenkliche Ding gegenständlich vorhanden sein, oft reicht an Material Papier und Bleistift, wie zum Beispiel beim Einsatz von Winnicotts „Squiggle-Technik“, einem Spiel, das Therapeut und Patient über aus Kritzeleien des einen zur Figur gestalteten Zeichnungen des anderen miteinander kommunizieren lässt (Winnicott 1971a; Günter 2003; ders. 2010). Auch Bogyi weist im Zusammenhang mit der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern in akuten Belastungssituationen darauf hin: „In der therapeutischen Arbeit mit Kindern gibt es eine entscheidende Kraft, die dieser Arbeit entgegenkommt: die Kreativität der Kinder. Sie finden für ihre spezifische Konfliktlage genau die Spiele, mithilfe derer sie ihre Bearbeitung des Traumas vorantreiben. Von uns ist gefordert, sich wach und sensibel darauf einzustellen, zu verstehen versuchen, was das Kind in der Spielsymbolik zeigt und den wechselseitigen Inszenierungen zu folgen“ (Bogyi 2003, 39). Die erste Aufgabe des Therapeuten ist, dem Kind den kreativen Raum zu bieten und ihm als Mitspieler verfügbar zu sein. Er mischt sich nur sparsam und nur im Auftrag und auf Einladung des Kindes ein, das ihm die Rolle, die er zu spielen hat, zuteilt und quasi „Regie“ führt. Innerhalb seiner Rolle kommt ihm nun die spiegelnde Funktion zu, er kommentiert entweder aus der Rolle, die ihm das Kind zugeteilt hat, oder aus der eines Beobachters das Spiel und die Darstellung des Kindes. Kindern fordern dabei die handelnde Präsenz des Psychotherapeuten unmittelbar ein. Daher ist seine permanente Selbstreflexion gefragt, die ihn daran hindert, vom Kind dargestellte Gefühle zurückzuweisen bzw. deren Darstellung zu hemmen, weil er selbst sie fürchtet, oder sich in das dargestellte Bild zu verlieben, verführt durch die Faszination, seine aus den theoretischen Konzepten seiner psychotherapeutischen Methode gewachsenen Annahmen über das Kind und dessen Innenwelt bestätigt zu sehen. Das psychotherapeutische Spiel bietet aber nicht nur den kreativen Raum als Projektionsfläche der inneren Welt des Kindes, sondern ist zugleich Beziehungsraum zwischen dem Kind und dem Therapeuten, in dem Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung, der projektiven Identifizierung, des Holding als Funktion der „primären Mütterlichkeit“ im Sinne Winnicotts (Winnicott 1998) und des Containing als Beziehungsangebot der Mutter an den Säugling (Bion 1992) stattfinden. Die Begriffe „Holding“ und „Containing“ lassen Anknüpfungspunkte an Adlers Begrifflichkeit des „Zärtlichkeitsbedürfnisses des Kindes“ zu (Adler 1908d). BehrmannZwehl (2003) bezieht diese Aspekte der Beziehung zwischen Mutter und Kind auf die psychotherapeutische Arbeit mit Kleinkindern. Der Therapeut fungiert also als „Container“, indem er Gefühle und Affekte wahrnimmt, mitschwingt, sie markiert
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und in Worte übersetzt, um sie damit für das Kind bewusst erlebbar zu machen. Die Unmittelbarkeit der Darstellung von Ängsten und Aggressionen, die das Kind ja nicht reflektiert, während es spielt, trifft den Psychotherapeuten immer wieder mit Wucht, der es standzuhalten gilt, um die Gefühle für das Kind aushaltbar und damit bearbeitbar zu machen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich der Psychotherapeut selbst als kompetent in dem vom Kind gewählten Spiel fühlt. Das Spiel ist Hilfsmittel, in dem sich ein Prozess entwickeln und darstellen lässt: „Das, was eigentlich erforderlich ist, ist das therapeutische Rüstzeug. Es sind die fest verankerten, in Fleisch und Blut übergegangenen Vorstellungen von den Entwicklungsbedingungen der kindlichen Psyche und die damit verknüpfte Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf die vom Patienten selbst nicht verstandenen Mitteilungen einzulassen, auch wenn sie noch so verdreht, ängstigend und zunächst uneinfühlbar scheinen mögen“ (Günter 2010, 351). Wie in der Erwachsenentherapie auch, in der der Patient einerseits erzählt, was ihm bewusst ist, andrerseits aber das Erfahrene und Erlebte innerhalb der Beziehung zum Psychotherapeuten agiert, so berichtet das Kind auf der Bühne des Spiels, gestaltet zugleich die Beziehung zum Psychotherapeuten entsprechend seiner bisherigen Lebenserfahrung. Das Spiel ist aber immer nicht nur Bericht, sondern auch Reinszenierung, Enactment, zugleich Frage oder gar Appell an den Psychotherapeuten, was es sowohl zu erkennen als auch zu unterscheiden als auch zu beantworten gilt. Verbalisierung des Spielgeschehens durch den Therapeuten hilft manchmal, aber nicht immer zur Klärung der momenthaften Finalität des kindlichen Handelns. Dies sei an einem Beispiel aufgezeigt: Ein siebenjähriges Mädchen, das jüngste von drei Kindern einer Patchworkfamilie, kommt wegen massiver Trennungsangst mit schulphobischen Symptomen in psychotherapeutische Behandlung. In den ersten Stunden spielt sie im Sceno-Kasten eine heile Familienwelt, in der alle Bezugspersonen ihrer realen Welt freundlich, friedlich und fröhlich in Gemeinschaft sind. Der Therapeutin werden abwechselnd Rollen eines dieser Familienmitglieder zugewiesen, in der sie versorgende und integrative Aufgaben zu übernehmen haben, die Regieanweisungen des Kindes sind unmissverständlich und garantieren einen harmonischen Ablauf der Zusammenkünfte der Szeno-Püppchen. Stellt das Mädchen damit einen Wunsch dar? Erzählt sie von der Fassade einer heilen Welt, die die Familie um den Preis der Konfliktverdrängung aufrecht erhält? Entspricht dies den realen Erfahrungen des Mädchens? Rasch könnte der Therapeut verführt sein, in der vorgeführten Harmonie den Beginn der Angstsymptomatik zu orten und die Trennungsangst des Mädchens als ihren Beitrag zur Erhaltung dieser Scheinharmonie mit dem Ziele des Wachens über die Konfliktverdrängung zu interpretieren. Vorsichtige Versuche der Therapeutin, auf mögliche Konfliktszenarien aufmerksam zu machen, wie zum Beispiel: „Da gibt es nur einen Liegestuhl – wer wird denn den jetzt verwenden dürfen?“, werden von dem Kind deutlich zurückgewiesen mit der Anmerkung, dass ohnehin
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immer nur einer aus der Familie müde ist und sich ausruhen muss. In der fünften Stunde wechselt das Mädchen spontan Spielmaterial und Inhalt: diesmal wählt sie das Spiel in der Sandkiste aus. Die Sandspieltherapie, aus der Perspektive der Tiefenpsychologie C. G. Jungs von Kalff (1966) umfassend in Symbolik und Wirkweise beschrieben, findet auch in der individualpsychologischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Einsatz: ein in den Maßen genormter (57 cm × 72 cm × 7 cm) wasserdichter Kasten wird etwa zur Hälfte mit feinem Sand gefüllt, der so angefeuchtet werden muss, dass das Modellieren damit möglich ist. Verschiedenes Spielmaterial wie Püppchen, Tiere, Bausteine, kleine Gefäße, Autos etc. steht dem Kind zum Bauen in der Sandkiste zur Verfügung, ebenso in einem bereitgestellten Gefäß, zum Beispiel einer Gießkanne, eine zusätzliche Menge an Wasser, damit auch Meere, Seen oder Überschwemmungen dargestellt werden können. In meiner Praxis bevorzuge ich die Verwendung von Sandkisten mit blauer Grundfläche, da dies die Darstellung von Wasserflächen für das Kind vereinfacht. Der Sandkasten bietet somit einerseits die „Bühne“ zur symbolischen Artikulation von Gefühlen, gibt andrerseits durch seine Begrenzung der Phantasie des Kindes schützende Ordnung. Das Mädchen stellt nun in der Sandkiste eine Naturkatastrophe mit überflutenden Überschwemmungen dar, ein schreckliches Gewitter, bei dem eine weibliche Puppe getötet wird. Was will sie damit erzählen? Drückt sie ihre vernichtende Wut gegen ein weibliches Familienmitglied aus und möchte dieses kathartisch vernichten? Erzählt sie von ihrer Angst um sich selbst und möchte sie gerettet werden? Oder berichtet sie von einem traumatischen Erlebnis, das ein weibliches Familienmitglied betroffen hat? Jede dieser Interpretationen liegt im Bereich des Möglichen, verlangt aber eine völlig andere handelnde Antwort vom Therapeuten: die Wut im geschützten Rahmen der Therapie und konkret der Sandkiste darstellen zu dürfen, ohne durch moralische Appelle daran gehindert zu werden, wäre befreiend und ein Schritt in die Verarbeitung. Bedeutet die Darstellung dagegen Angst vor einer Bedrohung, wäre es notwendig, das Püppchen zu retten, um Sicherheit und Geborgenheit erleben zu lassen. Erzählt ihr Spiel von einem realen Ereignis, braucht dieses Trauerarbeit um die verunglückte Bezugsperson. Oder sind vielleicht alle drei Interpretationen richtig und jede davon an der Darstellung beteiligt? Oder ist keine davon richtig, sondern eine ganz andere in Vorbereitung? Die Chance, als Therapeut hier falsch zu antworten, ist groß und hätte jeweils für den Prozess höchst hemmende Folgen: wird die Szene als Ausbruch der verdrängten aggressiven Gefühle missdeutet und das Mädchen zum weiteren aggressiven Agieren ermutigt, die Szene stellt aber die Angst des Mädchens dar, so fühlt es sich von der Therapeutin alleingelassen und zugleich auch bedroht. Wird die Vernichtung des Püppchens als Angst des Mädchens gedeutet und mit Handlungen des Schutzes und der Rettung beantwortet, obwohl eigentlich verdrängte Aggression endlich ihren Weg des Ausdrucks findet, so werden diese wieder zurückgedrängt, wenn die Therapeutin
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das Püppchen rettet. Und erzählt das Spiel von einer stattgefundenen Traumatisierung, die vielleicht in der gesamten Familie totgeschwiegen wird, wäre die Rettung des Püppchens durch den Therapeuten eine Verstärkung dieser Verleugnung, die Ermutigung zu weiterem aggressivem Agieren gegen das Püppchen eine Verstärkung der Angst im Sinne einer Retraumatisierung. Und selbst wenn diese Situation für dieses Kind enträtselt werden kann, gilt diese Lösung nur für diese eine Situation und ist nicht auf andere Spielsituationen mit anderen Kindern generalisierbar, ja nicht einmal auf die Therapie dieses Kindes, denn in einer anderen Phase der Therapie kann eine ähnlich anmutende Darstellung wiederum eine völlig andere innerpsychische Bedeutung haben. Eine Wiederholung dieser Spielszene kann nun wiederum im Interesse der Verarbeitung stehen, aber möglicherweise auch die Darstellung eines neuen Themas in ähnlicher Symbolik bedeuten. Wird als eine der Funktionen des Psychotherapeuten in der Kindertherapie genannt, dass er die Bedürfnisse des Kindes zu akzeptieren und sinnvoll damit umzugehen hat (P. Kernberg et al. 2001), so setzt dies voraus, dass die Bedürfnisse des Kindes richtig wahrgenommen und verstanden wurden. Und da sich Unbewusstes ja nicht erfragen lässt, wie in dem angeführten Beispiel die Hypothesen der Therapeutin über die Bedeutung der Spielszene, also über das dargestellte Bedürfnis des Kindes, nicht durch Nachfragen beim Kind verifizierbar oder falsifizierbar sind, ist die unmittelbare Introspektion und Reflexion der Gefühle, die diese Handlung des Kindes im Therapeuten auslöst, die letztlich einzig verlässliche Auskunftsquelle, die Herausforderung dabei allerdings, Containment von Gegenübertragung und eigener Abwehr zu unterscheiden. Dasselbe gilt natürlich auch für die Prozesse, die das Kind in die Interaktion mit dem Psychotherapeuten einbringt. Realität ist, dass auch in der Situation der psychotherapeutischen Sitzung der Erwachsene dem Kind überlegen ist. Die Gleichwertigkeit zwischen ihm und dem Kind ist die Prämisse, auf der der Psychotherapeut seine Beziehung zum Kind aufbaut, allerdings muss er sich vergegenwärtigen, dass dies nicht zwingend dem Erfahrungswert des Kindes entspricht. Ist es selbst für erwachsene Psychotherapiepatienten schwierig, internalisierend zu verstehen, dass der Psychotherapeut nicht wertet, umso schwieriger ist es für das Kind, das ja noch in dem Zustand lebt, erzogen zu werden, also wertende Rückmeldungen auf sein Handeln und oft auch auf sein So-Sein seitens der Erwachsenen zu bekommen – ein weiterer Aspekt der geringeren Gleichartigkeit zwischen Patient und Therapeut in der Kinder- und Jugendlichentherapie im Vergleich zur Erwachsenentherapie: „Des Weiteren halten wir es für beachtenswert, dass sich die Kinderpsychotherapie von der Erziehung des Kindes unterscheidet. Aber es ist keinesfalls so, dass die Kinderpsychotherapie und die Erziehung des Kindes gegensätzliche Pole darstellen, zwischen denen es keine Berührung gibt“ (Reinelt, Bogyi, Schuch 1997, 11 f.). Welche Bedeutung ein Kind den Erziehungsbemühungen seiner Eltern, anderer Familienmitglieder und Pädagogen gibt, ist natürlich individuell und lebensstiltypisch
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unterschiedlich: ob es um Anpassung, um Gefallen oder um Protest bemüht ist, ob es je nach Geschlecht der Bezugsperson, je nach Lebensfeld, in dem es dieser begegnet, diesen Umgang mit seinem Erzogen-Werden moduliert, eines ist jedenfalls sicher: das Kind bewegt sich in seinem Fühlen und Verhalten immer im Bezugsrahmen der Erziehung. Und der Psychotherapeut des Kindes hat diesem essentiellen Aspekt des kindlichen Lebens in seinen Erwartungen, seinen Handlungen, aber auch seinen Gegenübertragungsreaktionen Rechnung zu tragen. Dass in der psychotherapeutischen Sitzung Verhaltensweisen und Äußerungen, wie zum Beispiel die Darstellung von Chaos, von Maßlosigkeit und Gier, von Aggression, Neid, Wut und Verzweiflung, der Gebrauch von Schimpfwörtern, die „Respektlosigkeit“ dem Erwachsenen gegenüber, also sozial Unerwünschtes nicht nur erlaubt – denn das würde ja wiederum im Gegenpol zu „verboten“ stehen –, sondern von inhaltlicher Wichtigkeit, aber nicht moralischer Bedeutung sind, muss vom Kind erst erfahren werden. Dass zugleich das professionelle Setting auch schützende und sichernde Grenzen im Verhalten setzt, ist ein für das Kind völlig neuer Erfahrungsradius, in dem es erst lernen muss, sich zu bewegen (übrigens nicht nur das Kind als Patient der Psychotherapie, auch für die Psychotherapeuten, die mit der Arbeit mit Kindern beginnen, stellt dies eine Lernanforderung dar). Kinder stellen dar, was ihnen widerfahren ist. Die Unmittelbarkeit, mit der Kinder dann ihre Gefühle und ihre biographischen Erfahrungen in die Beziehung zum Therapeuten einbringen, kann den Therapeuten in zweierlei Form erschrecken und ihn dadurch in seinem therapeutischen Handeln beschränken oder auch in die Irre leiten: das Kind sucht Lösung aus seinen innerpsychischen Konflikten, indem es sich mit der als bedrohlich erlebten Bezugsperson, also zum Beispiel mit einem strafenden oder vernachlässigenden oder auch verzärtelnden Eltern- oder Großelternteil, mit Konfliktpartnern innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen, mit Personen aus dem schulischen Umfeld wie zum Beispiel Lehrern, identifiziert. In dieser Rolle verweist es den Therapeuten in die Rolle des Kindes, also seines eigenen Erlebens. So erfährt der Therapeut die tiefen Gefühle der Angst, der Scham, der Schuld, der Minderwertigkeit, die ihm das Kind in seiner Identifizierungsrolle vermittelt. Die Intensität dieses Gefühls in Empathie einfühlbar zu machen, aber nicht davon so wie das Kind überschwemmt zu werden, verführt zur Abwehr, wenn die Gegenübertragungsreaktion nicht ausreichend rasch reflektiert werden kann. Und dann steht dem Therapeuten in der Kinder- und Jugendlichentherapie ein Fluchtweg zur Abwehr offen: er beruft sich innerlich auf seinen Status als Erwachsener und reagiert moralisierend, erzieherisch und Schuld zuweisend, begibt sich also aus seiner Hilflosigkeit in einen Machtkampf, bei dem er die Wahl der „Waffen“ bestimmt, und seine Waffe ist dann erzieherisches Verhalten. Damit gewinnt er vielleicht den Machtkampf, verliert aber auf jeden Fall das therapeutische Bündnis mit dem Kind. Eine andere Form des Erschreckens, das den Psychotherapeuten in Angst versetzen kann und damit seiner für die Weiterentwicklung des Prozesses notwendigen Flexibilität berauben kann, ist das Miterleben der Tiefe von bedrohlichen Gefühlen und Ängsten im Kind. Dies sei an einem Beispiel erläutert:
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Ein Bub kommt mit fünf Jahren wegen extremer Wutanfälle, die den Besuch des Kindergartens ohne Einzelbetreuung unmöglich machen und auch im Zusammenleben mit den Eltern zu heftigen Konflikten führen, die die Eltern an die Grenze ihrer Belastbarkeit treiben, in psychotherapeutische Behandlung. Der Bub hat seine ersten zwei Lebensjahre in einer schwer traumatisierenden Situation verbracht, in der er häufig Zeuge von Gewalt war, selbst schweren körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch ausgesetzt war. Seine Adoptiveltern sind ihre Elternschaft mit der romantischen Erwartung angetreten, dass ihre Liebe diese Narben auf der Seele des Kindes heilen lassen und das Kind in Dankbarkeit gesunden würde. Nun sind sie schwer enttäuscht einerseits darüber, dass sie für ihren Einsatz nicht das von ihnen erwartete „gelungene“ Kind bekommen, andrerseits auch geplagt von tiefen Minderwertigkeitsgefühlen, weil sie aus ihrer Sicht an der Aufgabe, diesem Kind die seiner Entwicklung förderliche Erziehung zukommen zu lassen, gescheitert sind. Die Scham dafür hat sie bisher daran gehindert, sich Hilfe zu holen, bevor die Situation mit dem Kind derart eskalierte, wie sie es zu Beginn der Therapie war. Der Bub verbringt die ersten Sitzungen damit, die Therapeutin körperlich und verbal zu attackieren, den Raum möglichst konsequent zu verwüsten, um dann wiederum während der Stunden laut um Hilfe schreiend aus dem Therapieraum zu der im Wartezimmer angespannt ausharrenden Mutter zu stürmen mit der Klage, dass ihm die Therapeutin weh getan habe. Die von vornherein gegebene Ambivalenz der Mutter gegenüber der Psychotherapie, von der sie sich rasche „Reparatur“ und rezepthafte Handlungsanweisung für einen effizienten Umgang mit dem Kind erwartete und diese auch einforderte, wird dadurch von Sitzung zu Sitzung größer. Der Therapieabbruch wird in dieser Eingangsphase der Therapie durch den Buben selbst verhindert, der dann außerhalb der Stunde den Eltern gegenüber aggressiv einfordert, dass er weiterhin die psychotherapeutischen Sitzungen in Anspruch nehmen darf, weil er die Therapeutin „so schön quälen“ könne. Nach etwa zehn Sitzungen, in denen der Bub in erschöpfender Wiederholung die Erfahrung macht, dass er die Therapeutin nicht vernichten kann und auch nicht dazu verführen, dass sie ihm Leid antut, wechselt er abrupt zur Sandkiste, um darin eine Überflutung aus Matsch und Wasser zu veranstalten, diesmal aber ohne die Grenzen (der Sandkiste) wesentlich zu überschreiten – die Hinweise der Therapeutin, dass der Matsch in der Sandkiste zu bleiben hat, nimmt er mit Erleichterung an. Die ihn ertränkende Angst und Einsamkeit, die er jedes Mal, wenn er die Sandkiste in eine Lache von sandigem Schlamm verwandelt hat, und seine Hände und Arme bis zum Ellbogen in fast tranceartiger Stille darin versenkt, ist für die Therapeutin weit schwieriger auszuhalten als die vorherigen Angriffe des lebendigen Buben und nur erträglich dadurch, dass sie auch ihre Hände und Arme in dem Schlamm versenkt. Das lässt er zu, scheinbar ohne darauf zu achten. Erst nach mehreren Sitzungen, in denen er diese Form des Spiels in Schweigen wiederholt, erlaubt er ihr, seine Hände in diesem Schlammmeer zu berühren. Nach einigen weiteren Sitzungen des vorsichtigen Begegnens ihrer Hände im Schlamm steigt er in einer gemeinsamen Begegnung der Hände aus dem Schlamm auf.
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Die Übersetzung, die Transformation von symbolisch Dargestelltem in Sprache ist ein Weg, der dem Kind hilft, sich seiner Affekte gewahr zu werden, sich in diesen angenommen, verstanden und akzeptiert zu fühlen, um sie in der Folge verarbeiten zu können. In der Kindertherapie ist die Technik des Spiegelns, also die Übersetzung des Dargestellten in Worte, das Benennen von Gefühlen und Affekten und damit innerhalb des Schutzes der therapeutischen Beziehung, selbstverständlich dem Niveau der Sprachentwicklung des Kindes, aber auch seiner kognitiven Reife anzupassen und daher nur bedingt möglich: „Eine Erwägung bei der Wahl der Deutungen beruht auf unserer Einschätzung und Erwartung der Fähigkeit des Kindes, das, was wir ihm mitteilen, aufzunehmen. [. . . ] Wir dürfen die Fähigkeit des Kindes, Deutungen zu verstehen und aufzunehmen, nicht überschätzen. Die spezielle Reaktion auf die Deutung sagt etwas über die Persönlichkeit des Kindes, vor allem über seine Abwehrorganisation aus“ (Bogyi 1997, 199). Besonders bedacht hat der Therapeut des Kindes zu sein, Deutungen nicht zum Zwecke der Abwehr von Gefühlen, die nicht nur das Kind, sondern auch ihn zu überwältigen drohen, einzusetzen, quasi als Rückzug auf die Ebene einer „professionellen“ Rationalisierung. Damit würde er bestenfalls auch die Rationalisierung, aber nicht die Verarbeitung befördern und damit das Kind durch Deutungen vorzeitig auf reifere Ebenen des Denkens und der Begriffsbildung drängen (Ekstein 1987). „Es geht nicht um treffende Deutungen, sondern um die therapeutische Nutzung des ‚Spielraumes‘ oder ‚Möglichkeitsraumes‘, in dem das Kind der Regisseur ist und bleibt, und das Tempo seiner inneren Entwicklung bestimmt“ (Bogyi 2003, 39). Ist das Spiel die via regia in der Kinder Psychotherapie, so ist dieser Weg dem Jugendlichen üblicherweise in dieser Form der unmittelbaren Darstellung seiner bewussten und unbewussten Emotionen nicht mehr zugänglich. Zugleich aber ist der Jugendliche noch wenig geübt in der Benennung von Gefühlen, im sprachlichen Ausdruck gelegentlich auch schüchtern und unsicher, und vermeidet ihn daher. Lässt er sich doch auf den Dialog über seine innersten Verletzlichkeiten und Verletztheiten ein, ist er oft nach einer psychotherapeutischen Sitzung selbst erschrocken über seinen Mut. Dann plagt ihn die Sorge, dass sein Vertrauen unbedacht war und er befürchten müsste, dass seine Geheimnisse verraten werden könnten. Das Vertrauen des Jugendlichen zu erwachsenen Personen ist ein fragiles Kunstwerk, sein Wunsch nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit steht im Spannungsfeld zu seiner Sehnsucht nach Geborgenheit, Vertrauen und Nähe. Der empfindliche Selbstwert des Jugendlichen, der bevorzugt in der Maske der Schnoddrigkeit auftritt, macht ihn besonders vulnerabel. Der Gedanke, sich durch seine Offenbarungen – wobei nur er selbst definiert, was eine solche ist –, zu blamieren, begleitet ihn ständig und beeinflusst sein
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Verhalten. Dieser Umstand verlangt eine besondere Sorgfalt und Behutsamkeit seitens des Therapeuten bezüglich seiner Verschwiegenheit. Gerade für den Jugendlichen ist es daher von essentieller Bedeutung, dass er sich sicher sein kann, dass seine Mitteilungen und Äußerungen absolut vertraulich behandelt werden. Diese Sicherheit ist für ihn oder sie aber nie durch die ausdrückliche Zusicherung der Verschwiegenheitspflicht durch den Therapeuten gegeben, sondern muss von ihm mehrfach erfahren werden. Und er wird die Vertrauenswürdigkeit des Therapeuten, beabsichtigt und wissend, aber auch unbewusst, in der therapeutischen Beziehung immer wieder prüfen und in Frage stellen. Eine kurze Sequenz aus einer Sitzung mit einem Jugendlichen möge dies illustrieren: der jugendliche Patient kommt zum wiederholten Male etwa zehn Minuten verspätet zu seiner Sitzung und ergeht sich wortreich in der Rechtfertigung dafür, die er in der Unpünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel zu finden glaubt. Er meint, das sei eine Katastrophe, weil seine Eltern sich ohnehin dauernd über seine Unpünktlichkeit alterieren würden, und daher über sein Zuspätkommen zur Therapie natürlich besonders, weil sie ja trotzdem die volle Sitzung bezahlen müssten. Hinter dieser wortreichen Ausführung des Jugendlichen steckt natürlich die Frage nach der Verlässlichkeit der Verschwiegenheitszusicherung der Psychotherapeutin, denn die Eltern könnten ja nur dann verärgert über seine Unpünktlichkeit in der Therapie sein, wenn sie davon wüssten. Und dies wiederum wäre ja nur dann möglich, wenn die Therapeutin die Eltern darüber informierte, also ihre Zusicherung der Verschwiegenheit nicht einhielte. Anders als Kinder, aber ebenso mehr im Handeln denn im gesprochenen Wort stellen Jugendliche ihre Fragen, äußern ihre Sorgen und Zweifel und sind darauf angewiesen, dass der Therapeut ihre Botschaft versteht und dieser antwortet. Wäre ich nun auf die Beziehung zwischen dem Burschen und seinen Eltern zu sprechen gekommen, hätte ich seine eigentliche Frage nicht beantwortet und mich aus der psychotherapeutischen Begegnung mit ihm distanziert, ihn also in seiner Sorge alleine gelassen. Hätte ich hinterfragt, ob er Angst hätte, dass ich dies seinen Eltern erzählen würde, hätte ich ihn ebenfalls in seiner Meinung bestätigt, dass niemand, und offensichtlich auch ich nicht, ihn verstehen könne, denn sonst hätte ich dies ja nicht fragen müssen, sondern gewusst, dass die Bedeutung seiner wortreichen Rechtfertigung für sein Zuspätkommen eben diese Frage war, und auf diese geantwortet. Die Antwort in Form der Frage, was er denn brauchen würde, um mir zu glauben, dass ich seinen Eltern nichts erzählte, da er das jetzt schon wieder gefragt hatte, beruhigte ihn. Er beantwortete sie mit einer Handlung des Vertrauensbeweises: er spielte mir die von ihm soeben komponierten Musik, die bisher noch niemand zu Gehör bekommen hatte, vor. Das Jugendlichenalter, von Else Freistadt in präziser Metapher als „Im Zwischenland“ bezeichnet (Freistadt 1926), ist eine Lebenszeit, in der die Verunsicherung und das Minderwertigkeitsgefühl ständiger Begleiter der seelischen Befindlichkeit sind. Der Jugendliche hat, wie es Friedrich beschreibt, drei große Aufgaben zu lösen, exis-
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tenzielle Fragen für sich zu beantworten: er ist auf der Suche nach Identität, steht also vor der Frage: wer bin ich?, auf der Suche nach Identifikation, also nach einem Vorbild, das ihm Orientierung und Richtung gibt, und auf der Suche nach Intimität, der intimen Zweisamkeit mit einem Partner, die die Ablösung von der Kernfamilie voraussetzt (Friedrich 2005). In die schon allein durch die körperlichen Veränderungen, insbesondere die hormonelle Umstellung, unruhige Lebenszeit fällt der zweite Altersgipfel des Auftretens von psychischen Störungen bei Heranwachsenden. Die Pubertät ist zugleich die Lebensphase, in der in der Kindheit noch nicht bewältigte, unabgeschlossene emotionale Entwicklungsaufgaben aktualisiert werden, nach Bearbeitung rufen, damit der Jugendliche sicher seinen Weg in das Erwachsenenleben antreten kann. Zum Lebensalter der Adoleszenz gehört auch ein in seiner Finalität der Entwicklungsaufgabe der Ablösung vom Elternhaus durchaus sinnhaftes Misstrauen Erwachsenen gegenüber, von denen man sich in diesem Alter unverstanden fühlt. Daher ist zu Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung eines Jugendlichen der Psychotherapeut zuerst einmal gefordert, seine Rolle als Vertrauensperson des Jugendlichen anzustreben und abzusichern. Im Lebensalter der Pubertät, womit diesmal die körperliche Veränderung gemeint ist, stehen infolge der hormonellen Veränderungen, die sich natürlich auch in einer Destabilisierung neuronaler Netzwerke des präfrontalen Cortex niederschlagen (Hüther 2003), bestimmte Ich-Funktionen weniger verlässlich zur Verfügung als noch in den Lebensjahren davor. Stimmungsschwankungen, denen der Jugendliche hilflos ausgeliefert ist, Schwächen in der Impulskontrolle und im planenden Verhalten sind diesem Lebensalter eigen (vgl. Friedrich 2005). Zugleich ist der Jugendliche innerlich mit einer reichen Fantasietätigkeit beschäftigt und oft auch in ihr gefangen. Dies führt zu einer Abwendung von den realen Gegebenheiten, von den Anforderungen des Alltags, oft auch zum Schutz vor Überforderung, und erschwert dem Jugendlichen, auch wenn er nicht unter einer psychischen Störung leidet, die Bewältigung von Alltagsanforderungen. Das Jugendlichenalter ist eine Lebenszeit, in der die Begabung zum Tagtraum auch dem Probehandeln in der Vorstellung dient und so das Finden der Antwort auf die drei großen Fragen der Adoleszenz, der Identität, der Identifikation und der Intimität (s. o.) unterstützt. Das Verschwimmen der Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit in diesem Alter erinnert an die magische Denkform des Fünfjährigen, wenngleich natürlich die Inhalte der Fantasien andere. Diese reiche Fantasietätigkeit ist zugleich ein Agens, das in der Psychotherapie hilfreich ist. Der Fortschritt zum formal-logischen Denken stellt dem Jugendlichen nun auch die Fähigkeit zur Abstraktion und Generalisierung zur Verfügung, die in Vernetzung mit seiner reichen Fantasietätigkeit vom Psychotherapeuten behutsam in den Prozess einzubringen und für diesen nutzbringend zu verwenden ist. Nun ist auch das Denken und Formulieren in, aber auch das Verstehen von Metaphern für den Jugendlichen möglich. Zugleich ist es für ihn schwierig, in direktem Blickkontakt mit einem Erwachsenen, von dem er sich in diesem Alter nicht nur beachtet, sondern auch beobachtet fühlt, in einen verbalen Dialog zu treten. Jugendlichen ist
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es oft leichter möglich, sich in einen Dialog über ihre für sie selbst so unklaren Gefühle zu begeben, wenn sie „nebenbei“ eine Handlung setzen, die nur wenig Aufmerksamkeit braucht – viele Eltern erleben dies zum Beispiel in der Alltagssituation, dass Gespräche mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter im Jugendlichenalter am fruchtbarsten während einer Autofahrt zu führen sind. Das Handeln in der Psychotherapie von Jugendlichen kann also zwei sehr unterschiedliche Funktionen haben: einerseits kann es sehr wohl auch der Darstellung von Befindlichkeiten und Gefühlen dienen – Minderwertigkeitsgefühle, Versagensängste und Machtstreben sind beispielsweise durchaus auch mittels eines Schachspiels auszudrücken, sogar der Konflikt mit Autoritäten kann recht unmittelbar über ein Agieren um die Verletzung oder Veränderung von Spielregeln eingebracht werden, und sogar die Figuren des Schachspiels bieten sich als Projektionsflächen für Übertragungsgefühle an. Wie auch in der Kindertherapie liegt die Entscheidung für das therapeutische Material beim Jugendlichen selbst. Allerdings fällt dem Jugendlichen die Wahl wesentlich schwerer als dem Kind, weil er sie nicht mehr in der Unbefangenheit des Kindesalters treffen kann. Er muss, bevor er sich einem Material zuwendet, vor sich selbst immer wieder prüfen, ob die Beschäftigung mit diesem Material nicht als „kindisch“ angesehen werden könnte, besonders von ihm selbst, und zensuriert dadurch oft sein Handeln. Somit verliert in der Psychotherapie mit Jugendlichen die Arbeit mit kreativem Material an Bedeutung, ohne ganz zu verschwinden, sodass das gemeinsame Zeichnen, wie zum Beispiel die „Squiggle-Technik“ (s. o.) für so manchen Jugendlichen durchaus noch ein akzeptables Medium ist. Die zweite Funktion, die die Arbeit mit Material in der Psychotherapie von Jugendlichen hat, ist eher vergleichbar einer „Begleitmusik“ des verbalen Dialogs, die für den Jugendlichen den Druck, der im Rahmen des Gesprächs für ihn entstehen kann, verringert, auch Nachdenkpausen ermöglicht, Nähe in einer nonverbalen und daher von ihm oft weit weniger als bedrohlich empfundenen Form erleben lässt. Jugendlichen ist es zumeist nur sehr begrenzt möglich, „Probleme zu besprechen“, weil sie mit der Erwartungshaltung, Anweisungen und Wertungen zu bekommen, Aufträge zu erhalten, die für sie ohnehin nicht erfüllbar sind, in die therapeutische Situation gehen. Gelingt es aber, dem Jugendlichen zu vermitteln, dass der Therapeut ohne Wertung und Erziehungsanspruch an der Welt, in der der Jugendliche lebt, interessiert ist, so ist die Arbeit mit Metaphern und Symbolen, die nun vor allem als bildsprachliche Mitteilung über die inneren Bilder des Jugendlichen geschehen, ein fruchtbarer Weg. Zur Illustration der psychotherapeutischen Arbeit mit Metaphern, die der Jugendliche selbst in die Therapie einbringt, sei ein kurzer Dialog aus einer psychotherapeutischen Sitzung hier angeführt. Der zu Therapiebeginn Fünfzehnjährige wurde auf Wunsch seiner Eltern, nicht auf seinen eigenen Wunsch, zur psychotherapeutischen Behandlung gebracht. Anlass war sein zunehmend aggressives Verhalten, das sich unter anderem darin manifestierte, dass er wertvolle Gegenstände, auch eigene, zerstörte. Außerdem litt er an Einschlafstörungen, in der Folge war sein
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Schulerfolg durch Schlafmangel und häufiges Fernbleiben von der Schule gefährdet. Die Eltern hegten auch den Verdacht eines hohen Cannabis-Konsums. Aus seiner Anamnese leicht zu verstehen war der unbewusste Hintergrund seines aggressiven Verhaltens, ohne dass diese Kausalität und Finalität natürlich dem Buben selbst bewusst war: In seiner Biografie fand sich eine schwere, lebensbedrohliche körperliche Erkrankung in den ersten drei Lebensjahren. Er war in seiner Kindheit schwächlich und musste in körperlicher Schonung aufwachsen. Das daraus resultierende overprotective, oder in individualpsychologischer Terminologie benannt, verzärtelnde Verhalten seiner Mutter, unterstützt auch von seinem Vater, ist als aus der massiven Sorge um das Kleinkind gewachsen nachvollziehbar, bedeutete aber zugleich die andauernde Botschaft an das Kind, dass es schwach und den altersentsprechenden Anforderungen nicht im gleichen Maße wie seine Altersgenossen gewachsen wäre. Adler hat diese Genese der Neurose im Jugendlichenalter beschrieben: „Eine große Anzahl von Fehlschlägen im Jugendalter tritt bei den verzärtelten Kindern auf. Das Näherkommen der Erwachsenenverantwortlichkeit ist eine besondere Anstrengung für solche Kinder, die gewöhnt waren, dass ihre Eltern alles für sie erledigen“ (Adler 1931b, 149). Nun im Zuge der Adoleszenz konfrontiert mit der Aufgabe, sich aus dem elterlichen Schutz zu lösen, um seine Aufgaben erfüllen zu können, fand er sich in der entmutigten Selbsteinschätzung wieder, dass er schwach, schwächer als die anderen, also im Vergleich zu seinen Alterskollegen „minderwertig“ sei, obwohl zu diesem Zeitpunkt seine körperliche Schwäche bereits überwunden war – er war ein vollkommen gesunder Jugendlicher von zartem Körperbau, aber bereits mit in Entwicklung begriffenen sekundären Geschlechtsmerkmalen ausgestattet. Seine Lebenserfahrung, die seinen Lebensstil geprägt hatte, war allerdings, dass er schwach sei und den an ihn gestellten Anforderungen in weit geringerem Maße gewachsen als es in seinem Alter zu erwarten wäre. In dieser Interdependenz zwischen Minderwertigkeitsgefühl und dem Streben nach sozialer Gleichwertigkeit war der Bursch durch seine Entmutigung gefangen, so dass ihm die Kompensation seines Minderwertigkeitsgefühls auf sozial verträgliche Weise nicht gelang. Sein Streben nach Geltung und Macht als Sicherungstendenz fand seine Finalität auf der „unnützlichen Seite“, er musste sich Beweise für seine Kraft und Macht zu seiner eigenen Sicherung durch Zerstörung, die für ihn die Körperkraft nachwies, beschaffen. Den schulischen Anforderungen auszuweichen, deren Erfüllung er sich unbewusst ebenfalls nicht zutraute, gelang ihm durch die massiven Einschlafstörungen. Denn so konnte er schulisches Versagen dem Schlafmangel zuschreiben und lief nicht Gefahr, sich als dem Lernstoff nicht gewachsen zu erleben. Durch sein Fernbleiben von der Schule konnte er die Fiktion, dass er hochbegabt sei und dies nur wegen seines Schlafmangels und der vielen Fehlstunden in seinen Schulleistungen nicht sichtbar würde, aufrechterhalten. So klar der Hintergrund und die Finalität seiner Sympto-
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matik für mich als seine Psychotherapeutin war, so wenig hätte der Jugendliche von einer Deutung profitiert. Diese hätte ihm in von ihm als demütigend erlebter und damit wiederum entmutigender Form die Konfrontation mit seinem Minderwertigkeitsgefühl beschert, das seine Neurose ihn in seiner Symptomatik einerseits verbergen, andererseits demonstrieren ließ. In der zwölften Sitzung beginnt der Bursch von einem Zeichentrickfilm zu erzählen, ein Zeichentrickfilm von und über die Musikgruppe „Beatles“, den sich sein Vater in Erinnerung an seine Jugendzeit gekauft habe und den er sich angeschaut habe. Mit seinem wertenden Kommentar, dass der Film ziemlich gut sein, obwohl schon so alt, meint er vielleicht seinen Vater, vielleicht auch mich, diese Hypothese bleibt unverifiziert. Im weiteren Dialog beschäftigen wir uns mit Figuren aus dem Film, den „Blue Meanies“, die die Liebe auf der Welt zerstören wollen, indem sie die Musik vernichten – also offensichtlich Wesen mit einer dissozialen Verhaltensstörung aufgrund eines Mangels an Gemeinschaftsgefühl und belastet durch ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl, das sie daran zweifeln lässt, in der Gemeinschaft anerkannt und aufgenommen zu werden. Ihnen gegenüber stehen die Beatles als Zeichentrickfiguren, die die Welt retten wollen, dabei aber keine „Superhelden“ sind, sondern in vielen Szenen des Films, die der Bursch für seine Erzählung und Reflexion aus dem Film auswählte, oft scheitern, tollpatschig in missliche Lagen geraten. Sie lassen sich aber nicht entmutigen und retten so in Zusammenarbeit mit anderen Figuren, auch mit Figuren der älteren Generation, die Musik und damit die Liebe in der Welt. Am Ende resozialisieren sie sogar noch die Blue Meanies, ohne dass diese ihre Identität, also ihre Individualität (dargestellt in ihrem Aussehen) aufgeben müssen, sehr wohl aber ihre Zerstörungswut loslassen können. Was immer jemand anderer in diesem Film wahrnimmt, für diesen Burschen war er eine Metapher für seine Neurose, die er mithilfe dieses Films in der psychotherapeutischen Arbeit nun verstehen konnte, die die Zerstörungswut als Versuch, das Minderwertigkeitsgefühl zu verbergen, entlarven konnte. Getragen von einer für den Jugendlichen verlässlichen Beziehung sind behutsame Verknüpfungen zwischen Metapher und persönlichen Gefühlen des Jugendlichen zwar immer möglich, aber für den Erfolg einer Therapie nicht unbedingt notwendig: Ich erinnere mich an die Psychotherapie mit einem Jugendlichen, in der wir uns ein Jahr lang ausschließlich über den Jugendstil unterhalten hatten. In unserer letzten Sitzung stellte er selbst den Bezug deutend her und meinte, ob ich denn gewusst hätte, dass er eigentlich nicht von Häusern und Möbeln und Bildern, sondern immer von sich selbst gesprochen hätte. Er hätte das ziemlich bald verstanden, es wäre ihm aber unmöglich gewesen, mit mir weiter zu arbeiten, hätte ich ihm das auf den Kopf zugesagt. In dieser letzten Sitzung mit diesem Jugendlichen, der wegen eines selektiven Mutismus in Therapie gekommen war, dominierte das von Heisterkamp angesprochene gavisische Element (Heisterkamp 2010) – es war eine Sitzung des gemeinsamen erleichterten Lächelns und Lachens in vertrautem Verstehen, das er
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mit auf seinen Weg genommen hat. Auch er hatte sich seinen Weg der Darstellung seiner Gefühle in der Therapie selbst gewählt und gefunden, seine Kreativität, wie vorhergehend angemerkt (vgl. Bogyi 2003) hatte ihn in der ersten Stunde im Bücherregal des Behandlungszimmers zielsicher ein kunsthistorisches Buch zum Jugendstil finden lassen, das uns dann mit seinem reichen Bildmaterial durch die gesamte psychotherapeutische Arbeit begleitet hatte. Jugendliche suchen im Psychotherapeuten nicht nur den Vertrauensträger und Helfer, sondern auch den Partner, der sie dabei unterstützt, aus dem Wirrwarr ihrer Gefühle herauszufinden, der sie ermutigt, sich den Aufgaben des Erwachsenenlebens in Gemeinschaft, Partnerschaft und Beruf bzw. Berufsausbildung zu stellen. Um vom Jugendlichen ernst genommen werden zu können, muss der Psychotherapeut einerseits mit seinen Welten, die für ihn von Bedeutung sind, vertraut sein, auch zum Beispiel die gerade aktuelle Sprache, Musikrichtungen, Film und Fernsehen, Internetseiten und andere Attribute der Jugendkulturen kennen, darf sich aber keinesfalls anbiedernd verhalten, denn Jugendliche haben ein sehr feines Empfinden für Authentizität und würden sich durch einen Psychotherapeuten, der sich in Habitus und Sprache als Jugendlicher verkleidet, nicht ernst genommen fühlen und auch ihn nicht ernst nehmen können. Bezogen auf das Jugendalter formuliert Adler: „Wenn sie nicht wirklich mutig sind, bieten sie eine Art Spottbild des Erwachsenen“ (Adler 1931b, 148). Im übertragenen Sinn ist diese Aussage auch auf den Psychotherapeuten von Jugendlichen anzuwenden: er muss aktuell informiert sein über die Ideen-, Gedanken- und Lebenswelt der Jugendlichen. Aber wenn er nicht wirklich mutig ist in seiner Aufgabe als Psychotherapeut, wird er zu einer Karikatur eines Jugendlichen.
5.1.6 Besondere Beziehungskompetenzen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Das Kind ist eingebettet in sein soziales und familiäres Umfeld und daher immer aus den daraus erwachsenden Erziehungs- und Beziehungserfahrungen zu verstehen: „Von außen her fluten die Wellen des sozialen Lebens bis in die Kinderstube und beeinflussen ununterbrochen das Kind“ (Adler 1931m, 468/469). Die Betonung der sozialen Bezogenheit des Menschen, die Feststellung, dass der Lebensstil eines jeden Menschen in den ersten Kindheitsjahren durch die Erfahrung, die das Kind macht, entwickelt und geprägt wird, weist die Individualpsychologie zugleich als diejenige psychotherapeutische Methode aus, die die Familie als ätiologisches Feld für die Entwicklung psychischer Störungen sieht, wie es viel später dann die systemische Familientherapie fokussiert. Darauf weisen auch Carlson und Yang hin: „Alfred Adler was the first psychologist of the modern era to do family therapy. His approach was systemic long before systems theory had been applied to psychotherapy.“ (Carlson u. Yang 2008, 197) Damit ist in jeder psychotherapeutischen Behandlung das Kind, später dann im Bezugsrahmen der Familientherapie „Symptomträger“ genannt, nie für
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sich alleine zu behandeln. Dabei sieht Adler das Kind niemals als passives Produkt seiner Umwelt, sondern als ein Wesen mit eigener schöpferischer Gestaltungskraft, also mit Ressourcen. Zugleich ist das Kind bei weitem abhängiger von seiner Umwelt als der Erwachsene und darauf angewiesen, dass seine Umwelt seine Symptome als Ausdruck einer psychischen Störung wahrnimmt und dem Kind die psychotherapeutische Behandlung ermöglicht. Dazu gehört nicht nur das Einverständnis des Obsorgeberechtigten, ohne welches die Behandlung des Kindes nur in der Ausnahmesituation der Selbst- und Fremdbedrohung, wie zum Beispiel Selbstmordgefährdung oder AmokDrohung, erlaubt ist, sondern auch die Compliance im Setting, wie zum Beispiel Termine regelmäßig und in ausreichender Dauer wahrzunehmen. Das Kind kann zumeist nicht selbstständig dafür sorgen, dass die für den Behandlungsprozess notwendige Sitzungsfrequenz eingehalten wird, dass die Behandlung ausreichend lang fortgeführt werden kann und nicht frühzeitig abgebrochen wird, sondern ist darauf angewiesen, dass es zur Therapie gebracht wird und diese fortführen darf. Diese Abhängigkeit des Kindes von seinen Obsorgeberechtigten betrifft damit natürlich auch den Psychotherapeuten, Obsorgeberechtigte interagieren also innerhalb des psychotherapeutischen Prozesses. Diese Abhängigkeit des Kindes von seinem engeren und weiteren sozialen Umfeld spielt eine essentielle und gestaltende Rolle im psychotherapeutischen Prozess selbst. Eltern und Umfeld müssen einbezogen und in die Psychotherapie eingebunden werden. Dem Therapeuten kommen dabei mehrfache Aufgaben zu: er übersetzt die kindlichen Gefühle von ihrer Ausdrucksform des kindlichen Verhaltens in die Sprache der Erwachsenen, er informiert über die kindliche Entwicklung, er klärt über die Konsequenzen der erzieherischen Einflussnahme der Eltern auf. Die Finalität von Symptomen, für den Psychotherapeuten evident, bleibt dem szenischen Verstehen der Eltern ohne Hilfe des Psychotherapeuten verschlossen – wäre dem nicht so, hätte das Kind einen anderen Weg als die Entwicklung einer Neurose gefunden, um sein Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit und Weiterentwicklung erfüllen zu können. Eltern fehlt zumeist die Kenntnis und das Wissen über die Mechanismen und Methoden, die Interventionen, die Kinderpsychotherapie wirksam werden lassen. Fantasien und Vorstellungen, oftmals Vorurteile, wie die Psychotherapie eines Kindes oder Jugendlichen abzulaufen hat, gestalten unausgesprochen bereits die erste Kontaktaufnahme der Eltern mit dem Therapeuten. Die Bedeutung des Spieles sowohl für die kindliche Entwicklung als auch dessen tragende Funktion im psychotherapeutischen Prozess mit dem Kind, die Form der metaphorischen Dialogführung mit den Jugendlichen ist den Eltern zumeist unbekannt. Aufgabe des Psychotherapeuten ist es, den Eltern zu helfen, die Botschaft, die in der Symptomatik des Kindes liegt, zu verstehen und sie zu einem Arbeitsbündnis zu führen, in dem sie ihre Rolle zur seelischen Gesundung des Kindes erlernen und ausfüllen können. Dabei nimmt das Erklären, also der kognitiv getragene Dialog mit den Eltern zu Beginn der Therapie des Kindes in der Beratung der Eltern sicherlich einen einleitenden Raum ein, kann aber nicht mehr als den Prolog darstellen.
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Elternarbeit bedeutet aber nicht, den Eltern Handlungsanweisungen zu geben. Diese können nicht hilfreich sein, solange die Eltern und Bezugspersonen nicht ihre innere Einstellung zum Kind ändern können. Elternarbeit bedeutet daher, die Eltern bei dem Prozess dieser Änderung ihrer inneren Einstellung zu unterstützen und sie dabei zu begleiten: „Wir können viel mehr erreichen, wenn wir mit Erfolg versuchen, mit den Eltern eine bestimmte Art von Pakt zu schließen, und wenn wir die Eltern dafür gewinnen können, ihre Haltung zu ändern und im Sinne unserer Grundsätze mit uns zusammenzuarbeiten“ (Adler 1930a, 248). Selbst wenn Eltern – verständlicherweise – Erziehungsratschläge einfordern, kann ein Therapeut, der diese Forderung mit einem „Rezeptkatalog“ beantwortet, nur scheitern: er könnte ja immer nur im Nachhinein zu einer Konfliktsituation alternative Handlungsmöglichkeiten anbieten, die in einer nächsten Situation wiederum nicht passend wären, da die Situationen niemals ident sind. „Erziehungsrezepte“ generalisieren zu können setzt voraus, dass der Hintergrund der Konfliktsituationen dem Verstehen der Eltern zugänglich geworden ist – was dann allerdings Handlungsanweisungen ohnehin überflüssig machen würde. Psychotherapeuten, die Elternarbeit als Handlungsanleitung gestalten, sind ihren eigenen Allmachtphantasien erlegen. Eltern stimmen in ihren Erziehungszielen mit dem Therapeuten üblicherweise überein: aus dem Kind möge ein eigenverantwortlicher, zufriedener Erwachsener werden, der seine Aufgaben in der Gesellschaft, der Familie, dem Beruf entsprechend wahrnehmen und erfüllen kann. Die Wege, die die Eltern der Kinder und Jugendlichen gegangen sind, um dieses Ziel zu erreichen, waren allerdings offensichtlich nicht zielführend. Dazu hält Adler fest: „Eltern sind letztlich keine Pädagogen mit besondern Fähigkeiten und können sich zumeist nur an dem orientieren, was an sie weitergegeben wurde“ (Adler 1930a, 247). Dieses notwendige Einbinden der Eltern setzt aber eine über die formale Compliance zum Setting hinausgehende Bereitschaft der Eltern bzw. Obsorgeberechtigten voraus, nämlich die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Handlungen und Vorstellungen zu hinterfragen und zu korrigieren. Dies gelingt nur dann, wenn der Psychotherapeut sein Erkennen dieses falschen Weges in der Erziehung, den die Betreuungspersonen bis jetzt gegangen sind, nicht mit Tadel beantwortet, denn dies würde die Eltern wiederum in ihren Schuldgefühlen stärken und weiter entmutigen: „Den Eltern sollten niemals Vorwürfe gemacht werden, auch wenn es dafür gute Gründe gäbe“ (Adler 1930a, 248). Wie erwähnt, erleben Eltern ihre Erziehungsarbeit als gescheitert, wenn ihr Kind unter einer psychischen Störung leidet, und sind daher mit einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl der elterlichen Inkompetenz belastet, wenn sie professionelle Hilfe für ihr Kind suchen: „Wenn die Eltern zu uns kommen, um beraten zu werden, so tun sie das im Gefühl einer großen Unvollkommenheit“ (Adler 1930e, 344). Sie brau-
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chen daher Ermutigung, um sich auf einen neuen Weg im Umgang mit dem Kind zu machen, der das Kind aus seiner psychischen Störung herausführt. Beziehungsaspekte zwischen dem Psychotherapeuten und den Bezugspersonen des Kindes finden Eingang in die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen, denn es entsteht nicht nur eine Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Kind, sondern auch zwischen dem Therapeuten und den Bezugspersonen des Kindes. Diese Beziehungsebene, den Prozess seiner Beziehung zu den Eltern des Kindes hat der Psychotherapeut zu beachten, zu reflektieren und zu gestalten. Im Zuge der Elternarbeit ist der Kinder- und Jugendlichentherapeut mit verschiedenen Projektionen aus dem familiären Gefüge des Kindes konfrontiert. Um zu einer konstruktiven Arbeitsbeziehung mit den Eltern zu gelangen, hat der Therapeut zu akzeptieren, dass die Eltern des Kindes diesem als reale Bezugspersonen nahe stehen und die Innenwelt des Kindes prägen. Die Herstellung eines Arbeitsbündnisses mit den Eltern verlangt vom Kinder- und Jugendlichentherapeuten ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, eine parteilose Empathie sowohl dem Kind bzw. dem Jugendlichen als auch den Eltern gegenüber und daher auch Kompetenz in der Psychotherapie Erwachsener. Der Therapeut muss willig und imstande sein, das, was er den Eltern an Verstehen verfügbar machen will, so zu formulieren und so zu dosieren, dass es von den Eltern konstruktiv verarbeitet werden und zu einer Veränderung führen kann: „Es ist wichtig, mit den Eltern in richtiger Weise zu sprechen. [. . . ] Erst muss man die Eltern gewinnen, man darf sie nicht vor den Kopf stoßen“ (Adler 1930e, 344). Nur wenn es dem Psychotherapeuten gelingt, die Zusammenarbeit mit den Eltern entsprechend konstruktiv zu gestalten, dann wird auch eine erfolgreiche Behandlung des Kindes möglich sein. Dabei steht er vor Herausforderungen, die nur der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen inne wohnen: ganz besondere Mechanismen der Übertragung und Gegenübertragung werden in der Beziehung zwischen Eltern und Therapeut des Kindes wirksam, die sich im Zuge einer Psychotherapie eines Erwachsenen nie ergeben können. Oft ist es eine Herausforderung an die Gegenübertragungsanalyse für den Therapeuten, Eltern genauso als der Hilfe und Unterstützung bedürftig wahrzunehmen und anzunehmen wie das Kind. Besonders wenn er mit Kindern und Jugendlichen psychotherapeutisch zu arbeiten beginnt, gerät der Psychotherapeut in Gefahr, in eine Überidentifikation mit dem Kind zu geraten und den Eltern Gefühle entgegen zu bringen als wären sie die Feinde des Kindes. Kinder lösen auch im Psychotherapeuten Gefühle aus, die mit seiner eigenen Kindheit vernetzt ist. Sie berühren, betreffen, erzeugen Bilder, die die Gefahr der Verstrickung bergen. Bei aller Betroffenheit ist es unabdingbar, dass der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut das Kind in seinem sozialen Kontext wahrnimmt und sein Ziel, die konstruktive Gestaltung dieses sozialen Kontexts zu unterstützen, nicht aus den Augen verliert. Im Verlauf seiner Arbeit mit dem Kind erkennt der Therapeut im konkreten Detail die neurotisierende Art und Weise, in der die Eltern mit dem Kind zusammen leben, wie sie sich auf das Kind beziehen, und findet bestätigt: „Problems, or dysfunctions, in families re-
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sult from discouragement or a lack of acceptance within the family.“ (Carlson u. Yang 2008, 197). Dies lässt ihn leicht in die Position geraten, dass er meint, er müsse den Eltern nur „beibringen“, wie sie mit dem Kind förderlich umgehen können. Damit, aus dieser inneren Haltung, richtet er jedoch ein Gefälle der Wertigkeiten zwischen ihm und den Eltern ein, indem er den Eltern aus der Position eines Überlegenen begegnet. Stößt er dann auf Widerstand der Eltern, ist er mit ihrer neurotischen Abwehr konfrontiert, dann läuft er Gefahr, die Haltung der Eltern, die aus der Abwehr ihres Erlebens der Minderwertigkeit erwächst, zu konsolidieren. Ein Machtkampf zwischen Eltern und Therapeut ist die Folge, der größte Verlierer in diesem Machtkampf ist das Kind. Eltern tendieren auch dazu, den Therapeuten mit dem Kind zu identifizieren und in der Elternberatung mit dem Therapeuten so umzugehen, wie sie es mit dem Kind tun. Sie konfrontieren ihn mit Vorwürfen, fordern und üben Druck aus, verlangen Ergebnisse, sind enttäuscht und unzufrieden, zum Beispiel wenn sich das Kind nicht in der Art oder zumindest nicht so rasch weiter entwickelt, wie sie es von der Behandlung erwarten. Sie bringen ihm also insgesamt die Gefühle entgegen, die sie dem Kind gegenüber hegen. Ist der Psychotherapeut in einer Überidentifizierung mit dem Kind gefangen, wird er versucht sein, sich so wie das Kind zu verhalten, also sich zu rechtfertigen, wütend zu werden, sich hilflos und machtlos zu fühlen, obwohl gerade dieses Phänomen, reflektiert und kunstvoll genützt, die Therapie deutlich voran bringen kann. Eine häufige Rollenzuordnung von Eltern an den Therapeuten des Kindes ist auch die einer Konkurrenz in der Beziehung zum Kind. Wenn das Kind eine vertrauensvolle Bindung an den Therapeuten aufbaut, also die Basis etabliert ist, auf der die psychotherapeutische Arbeit stattfinden kann, so löst dies auch immer wieder in Eltern Gefühle der Eifersucht aus. Verlustangst um ihr Kind, die Sorge, durch den Psychotherapeuten aus der Rolle der hervorragenden Wichtigkeit im Leben des Kindes gedrängt zu werden, ist zwar sicherlich ein Interaktions- und Beziehungsmuster, das die Eltern aus dem Makrokosmos des realen Lebens in den Mikrokosmos der therapeutischen Beziehung hineintragen, wird aber natürlich von ihnen nicht so wahrgenommen, sondern exklusiv auf die Beziehung zwischen Kind und Therapeut bezogen. Kinder greifen diese Gefühle auch oft konfliktprovozierend auf. Ich erinnere mich an den kleinen Buben, der seine Mutter in Wut- und Ohnmachtsgefühle gegenüber der Therapeutin brachte, als er ihr erzählte, dass die Therapeutin ihr ausrichten ließe, er müsse ein bestimmtes Kriegsspielzeug unbedingt zum kommenden Geburtstag geschenkt bekommen. Besonders schwierig ist es in diesem Zusammenhang immer wieder für Eltern zu akzeptieren und auszuhalten, dass sie zwar über den Therapieverlauf und auch über die zu bearbeitenden Inhalte informiert werden, nicht aber über das, was das Kind oder der Jugendliche in der Therapie konkret getan, gespielt oder gesprochen hat. Dennoch ist die Verschwiegenheit des Psychotherapeuten, seine Pflicht, das therapeutische Geheimnis zu wahren, unabdingbare Voraussetzung für einen Fortschritt im psychotherapeutischen Prozess. Vertrauen in die fachliche Kompetenz und Verlässlichkeit des Therapeuten, die aufzubauen er mit-
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zuwirken verpflichtet ist, ist das Agens, diese Eifersucht der Eltern besprechbar und bearbeitbar zu machen. Von besonderer Bedeutung, wenngleich im wissenschaftlichen Diskurs nur wenig angesprochen, ist das Alter des Kindes- und Jugendlichenpsychotherapeuten: der jugendliche Patient erlebt einen Therapeuten, der selbst noch jung an Jahren ist, als jemanden, der seiner eigenen Erlebniswelt noch näher steht als ein älterer Therapeut. Dies erleichtert dem Patienten das Vorurteil, dass er von diesem jungen Therapeuten eher verstanden werden kann als von einem Therapeuten, der aus der Sicht des Jugendlichen der Generation seiner Eltern oder Großeltern angehört. Ist dies zu Beginn der Therapie dem Beziehungsaufbau förderlich, so erschwert es allerdings im therapeutischen Prozess Übertragungsphänomene, da der Jugendliche Wertungen und Haltungen seiner Eltern oder Großeltern weniger leicht auch dem Therapeuten unterstellen kann. Erfahrungsgemäß spielt dies in der Psychotherapie von Kindern bis zur Pubertät eine weit geringere Rolle – Kinder differenzieren weniger innerhalb der Altersgruppe der Erwachsenen. Für die Eltern eines Jugendlichen dagegen ist es bei weitem schwieriger, Vertrauen in die professionelle Kompetenz eines an Alter jungen Therapeuten zu setzen, da sie ihm die Lebenserfahrung absprechen, die Eltern für eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis ihrer Situation sehen. Zumeist fällt es Eltern nicht leicht, dieses Hindernis in ihrer Beziehung zum Therapeuten anzusprechen, oft auch schwer, es selbst zu erkennen. Es liegt wiederum an der therapeutischen Kunstfertigkeit des Therapeuten, dies in einer konstruktiven Form in der Therapie nutzbar zu machen und auch die Kränkung auszuhalten, die er vielleicht durch diese Unterstellung der persönlichen Inkompetenz seitens der Eltern erlebt. Diese Übertragungsphänomene, diese Rollenzuweisungen wachsam zu erkennen, die zugeordnete Rolle zwar wahrzunehmen, aber nicht zu übernehmen, sondern dem Verstehen nutzbar zu machen, darin liegt die Kunst der Arbeit mit den Eltern. Die Intervention muss dann sorgsam gewählt werden: Spiegelndes Reflektieren wird von Eltern sehr rasch als Vorwurf verstanden, Deutungen als Besserwissertum des Therapeuten wahrgenommen, das, je nach Lebensstil der Eltern, entweder mit demütiger Anpassung oder mit trotziger Abwehr beantwortet wird, keinesfalls aber einen Entwicklungsprozess fördert. Die tendenziöse Apperzeption zu erkennen, zu verstehen, und sie konstruktiv nützen zu können ist eines der Interventionsmittel, das in der Elternarbeit gefragt ist, aber vom Psychotherapeuten ein hohes Maß an Sicherheit in seinem therapeutischen Selbstverständnis verlangt, um ihn mit den Angriffen seitens der Eltern konstruktiv umgehen zu lassen. Die Beziehungskompetenz des Therapeuten umfasst auch die Fähigkeit, innerhalb der Beziehung sowohl zu handeln als auch gleichzeitig zu reflektieren, sich auf die Entwicklungsbedürfnisse sowohl des Kindes oder Jugendlichen als auch seiner Eltern einzustellen, einerseits offen, authentisch und empathisch, andererseits zurückhaltend und behutsam zu sein (vgl. Lehndorfer 2008). Auch Eltern haben ihren Lebensstil, der in ihrer frühen Kindheit geprägt wurde. Mit diesem Lebensstil erziehen sie nicht nur ihr Kind, sondern beziehen sich auch dementsprechend auf den Therapeuten. Aufgabe des Therapeuten ist es nun,
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in einer Sprache, die der der Eltern genauso adäquat ist wie sein Spiel dem kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklungsstand des Kindes, wiederum Affekte zu markieren, anzunehmen, aber auch zu hinterfragen. Dazu führt Lehndorfer aus: „Eine für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten notwendige Kompetenz ist die eigene triadische Fähigkeit. Sie beinhaltet den Dritten zuzulassen, ihn zu tolerieren, mit ihm kooperieren zu können und zugleich dem Kind und oder dem Jugendlichen einen therapeutischen Raum zu schaffen und zu erhalten“ (Lehndorfer 2008, 267). So kann es ihm gelingen, aus den hinderlichen Schuldgefühlen der Eltern eine für das Kind nützliche Besorgnis werden zu lassen und den Eltern wieder ein Gefühl ihrer eigenen Kompetenz verfügbar zu machen, das sie zur konstruktiven Elternschaft ermutigt. Gerade in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist aufgrund der besonderen Bedingungen das Setting genauestens zu hinterfragen, insbesondere im Zusammenhang mit den speziellen Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen. Die Frage, ob es für den psychotherapeutischen Prozess förderlicher ist, wenn derselbe Therapeut mit den Eltern und dem Kind bzw. dem Jugendlichen arbeitet, ob er die Gespräche mit den Eltern gemeinsam mit dem Kind bzw. Jugendlichen oder alleine führt, ist nicht, wie so oft vertreten, eine Frage der psychotherapeutischen Methode, sondern eine Frage der Indikation. Dabei sind sowohl Faktoren, die im Therapeuten liegen, zu beachten, also zum Beispiel wie gut fühlt er sich der Aufgabe gewachsen, sich in professioneller Empathie ohne Überidentifikationen auf die Arbeit einzulassen, als auch Bedingungen, die die Eltern und das Kind bzw. der Jugendlichen mitbringen. Zu letzteren kann zum Beispiel das für die Eltern vielleicht unüberwindbare Hindernis stehen, dass sie den Therapeuten für zu jung halten, aber auch ein unüberwindbares Misstrauen des Kindes oder Jugendlichen in die Verschwiegenheit des Therapeuten. In Fällen von Missbrauch oder Misshandlung ist dies von besonderer Brisanz, in der so gut wie immer eine Zusammenarbeit von zwei Therapeuten, von denen einer mit dem Kind oder Jugendlichen, einer mit den Eltern arbeitet, die für den therapeutischen Prozess günstigere Wahl ist.
5.1.7 Besondere ethische Bedingungen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Wenngleich das Anliegen dieser Schrift die Betrachtung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie aus der Sicht der psychoanalytischen Individualpsychologie ist, sind Anmerkungen zur speziellen ethischen Situation unabdingbar, denn: „Sie [Anm.: die ethischen Fragen] rühren an unser Selbstverständnis der eigenen therapeutischen Haltung, der Überzeugung unserer Maßnahmen.“ (Lehmkuhl 2003, 10). Fragen der Ethik haben, wenn auch insgesamt in Veröffentlichungen zur Kinder-
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und Jugendlichenpsychotherapie eher randständig behandelt, in wissenschaftlichen Arbeiten von Individualpsychologen ihren Stellenwert gefunden (vgl. Leixnering u. Bogyi 1997; Datler 1996; Lehmkuhl 2003). Die Besonderheiten der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen sind daher in Bezug auf die ethische Situation und die Ethikregeln, die in der psychotherapeutischen Behandlung einzuhalten sind, zu reflektieren und zu diskutieren, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen eine Therapieform für Schutzbefohlene darstellt (vgl. Resch, Schulte-Markwort 2008). Die psychotherapeutische Behandlung nimmt aufgrund der hohen Beeinflussbarkeit von Heranwachsenden weitreichend Einfluss im Sinne der Weichenstellung für die weitere Persönlichkeitsentwicklung und damit die Lebensgestaltung: „Durch seine Abhängigkeit von den Erwachsenen ist das Kind auch hinsichtlich der Therapie weitaus manipulierbarer als der Erwachsene.“ (Leixnering u. Bogyi 1997, 22), wodurch sich ethische Fragen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie „deutlich und verschärft“ stellen (Lehmkuhl 2003, 10). Die Zielsetzung der Psychotherapie auch bei Kindern und Jugendlichen liegt in der Veränderung und der Korrektur ihres Lebensstils. Somit stellen sich bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme der Behandlung folgende Fragen: „In welchem Umfang sollen sie [die Kinder, Anm. B. S.] bei der Planung und Entscheidung von Therapiemaßnahmen mit einbezogen werden? Entsprechen sich Wünsche des Kindes/Jugendlichen und seiner Eltern? Wie lassen sich gemeinsame Therapieziele definieren?“ (Lehmkuhl 2003, 10). Unter Bezugnahme auf den österreichischen Berufskodex der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (in der aktuellen Fassung vom 9.3.2010), dessen Inhalte mit denen in anderen Ländern konkordant sind (siehe Resch, Lehmkuhl u. Schulte-Markwort 2008), verdienen folgende kritische Aspekte der Ethik in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie besondere Beachtung: Unter III. Vertrauensverhältnis, Aufklärungs- und besondere Sorgfaltspflichten in der psychotherapeutischen Beziehung wird festgehalten: „3. die Verpflichtung der Angehörigen des psychotherapeutischen Berufes und das Recht der Patientinnen und der Patienten auf strikte Wahrung der Freiwilligkeit der psychotherapeutischen (Kranken-)Behandlung (jedenfalls muss die Einwilligung zur Behandlung vorliegen); 4. die Verpflichtung der Angehörigen des psychotherapeutischen Berufes und das Recht der Patientinnen und der Patienten auf umfassende Aufklärung, insbesondere über Art und Umfang der geplanten psychotherapeutischen (Kranken)Behandlung; diese Aufklärung hat auch das Setting, die Frequenz, die allfällige Gesamtdauer – soweit abschätzbar –, die Honorierung, Urlaubsregelung und alle sonstigen Informationen zu umfassen, die zur Klärung des besonderen Vertragsverhältnisses erforderlich sind“ (Berufskodex der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Österreich, 5).
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Nun suchen Kinder und Jugendliche nur in den seltensten Fällen von sich aus psychotherapeutische Hilfe, sondern werden, wie bereits ausgeführt, von ihren Sorgeberechtigten zur Psychotherapie gebracht. Damit steht der Psychotherapeut bereits zu Beginn der Behandlung vor der Frage, inwieweit er es für angebracht, nötig und dem Kind oder Jugendlichen zumutbar hält, dessen „informed consent“, die „informierte Zustimmung“, einzuholen und sie über Eigenart und Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung zu informieren oder ob die Entscheidung für den Beginn einer Behandlung von den Eltern nach Rücksprache mit dem Psychotherapeuten zu treffen ist (vgl. Datler 1996, Leixnering u. Bogyi 1997). Konsens herrscht über die Antwort im Theoretischen: „Das Kind/der Jugendliche als Indexpatient muss von Beginn an alters- und entwicklungsgemäß in die Diagnostik und Behandlung einbezogen werden“ (Resch, Lehmkuhl u. Schulte-Markwort 2008, 12), wenngleich damit die Frage der Wahrung der strikten Freiwilligkeit noch nicht beantwortet ist. Auch wenn Kinder und Jugendliche die Tragweite ihrer psychischen Störung noch nicht abschätzen können, so verspüren sie nach meiner jahrzehntelangen Erfahrung überwiegend sehr wohl den Leidensdruck ihrer Symptomatik und sind daher in der Hoffnung auf Entlastung überwiegend mit der Behandlung einverstanden. Aber natürlich gibt es auch Krankheitsbilder, bei denen dieses Einverständnis zur Behandlung nicht gegeben ist, weil das vom Kind oder Jugendlichen vermutete Behandlungsziel dem Ziel der neurotischen Symptome diametral entgegengesetzt ist, wie zum Beispiel bei der Anorexia nervosa. Daher ist eine Vernachlässigung der ethischen Regel der Freiwilligkeit und des Respekts für die Autonomie manchmal im Einklang mit dem Gebot der Schadensvermeidung und der Verpflichtung zur Hilfe unvermeidbar: „Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten muss unter Umständen vernachlässigt werden, insbesondere dann, wenn nur eine paternale Einstellung des Therapeuten das längerfristige Wohl des Kindes gewährleistet“ (Lehmkuhl und Lehmkuhl, 2003, 47). Daraus folgt eine Hierarchie der Ethikregeln in der besonderen Situation der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie: „Informed consent und forcierte Behandlung müssen sich daher nicht ausschließen, sondern sollten mit dem Prinzip der Fürsorge vereint werden“ (ebd.) Weiters sieht der österreichische Berufskodex für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vor: „8. die Auskunftspflicht gegenüber einer gesetzlichen Vertreterin oder einem gesetzlichen Vertreter (etwa eines Kindes oder Jugendlichen) gemäß § 14 Abs. 4 des Psychotherapiegesetzes besteht allenfalls in Bezug auf jene bei der Aufzeichnungspflicht bereits angeführten Punkte – die in der Behandlung der Psychotherapeutin oder dem Psychotherapeuten anvertrauten Geheimnisse bleiben auch gegenüber der gesetzlichen Vertreterin oder dem gesetzlichen Vertreter absolut geschützt“ (Berufskodex der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Österreich, 7). Gerade die Verschwiegenheitspflicht des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gegenüber den gesetzlichen Vertretern seines Patienten stellt immer wieder ei-
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ne besondere Herausforderung im Arbeitsbündnis dar. Die Verschwiegenheitspflicht besteht auch gegenüber dem Kind und dem Jugendlichen. Eltern müssen über die Therapie informiert werden, aber nicht über die Inhalte im Detail. Wie bei Erwachsenen ist die Schweigepflicht bei Gefahr im Verzug zu hinterfragen (zum Beispiel akute Selbstmordgefährdung). „Ferner sollte der Inhalt des Gespräches zwischen Kind und Therapeut nicht ohne die Einwilligung des Kindes weitergegeben werden. Gerade Eltern dürfen nicht als diejenigen angesehen werden, die ein bevorzugtes Recht haben, alles zu wissen, was das Kind während der Behandlung sagt und tut“ (Leixnering u. Bogyi 1997, 24). Nur wenn es dem Psychotherapeuten gelungen ist, den Eltern die Sicherheit zu vermitteln, und den Eltern gelungen ist, diese Sicherheit aufzubauen und davon auszugehen, dass sie durch die Psychotherapie des Kindes oder des Jugendlichen weder in ihren Erziehungsrechten noch in ihren Erziehungspflichten eingeschränkt werden, wird das Einhalten der Verschwiegenheitspflicht nicht zum Konfliktpotential in der psychotherapeutischen Arbeit werden. Das Vermitteln dieser Sicherheit durch den Psychotherapeuten steht in engem Zusammenhang mit seiner Selbstsicherheit in Bezug auf die Effizienz seiner Arbeit: wenn er der Überzeugung ist, dass seine Hilfestellung die Eltern dazu führen wird, ihre Erziehungsrechte und Erziehungspflichten im Sinne der positiven Entwicklung des Kindes wahrzunehmen, wird er keine unbewussten Einschränkungsversuche der Eltern unternehmen, sondern dem „Imperativ der Freiwilligkeit“ vertrauen (Furtmüller 1912, nach Ansbacher u. Ansbacher 2004, 122), denn er weiß: man kann alles tun, wenn man weiß, was man tut. Denn wenn man weiß, was man tut, tut man nicht mehr alles.
5.2 Psychosomatik Brigitte Sindelar „Psychosomatische und somatopsychische Interaktionen und Zusammenhänge beherrschen unser Leben, sowohl im normalen, gesunden als auch im gestörten, kranken Zustand“ (Mentzos 2010, 188). Dennoch sind psychosomatische Störungen, gemeinsam mit den Depressionen, innerhalb des diagnostischen Spektrums psychischer Störungen diejenigen, die den abwehrenden Umgang der Gesellschaft mit dem Seelenleben am deutlichsten widerspiegeln: Wird das Verursachungsmoment des seelischen Leidenszustands zur körperlichen Symptomatik anerkannt, dann ist dies außerhalb des professionellen Rahmens der Psychotherapie und Psychiatrie zugleich eine vom Umfeld des Patienten häufig in abwertender Weise mit Minderwertigkeit und Schwäche attributierte Leidenssituation. Diese kann zumeist dann abgelegt werden, wenn eine mittels medizinischer Labordiagnostik fassbare organische Dysfunktionalität nachgewiesen wurde. Gelingt dieser Nachweis, rückt in der Wahrnehmung des sozialen Umfeldes die psychosomatische Störung aus dem Bannkreis der Psyche in die somatische Erkrankung und gewinnt damit soziale Akzeptanz, was Mitgefühl und Unterstützung für den Patienten in seinem körperlichen Leiden schafft. Im Schlagschatten dieser Verschiebung in die sozial akzeptierte Krankheitsform verdünnt sich die Chance des Patienten auf psychotherapeutische Hilfe, was mehrjährige organmedizinische Diagnose- und Behandlungsanstrengungen mit unbefriedigenden Ergebnissen sowohl im Genesungsprozess als auch im ökonomischen Aufwand zur Folge hat (vgl. Ringel u. Kropiunigg 1983). Es scheint, dass die Psyche das Stiefkind des Menschseins ist, dem die Beleidigung des Körpers vorgeworfen wird, wenn ihr Leiden ihm Beschwerden verursacht. In der Individualpsychologie hatte die Psychosomatik von Beginn an ihren Stellenwert, abzulesen aus der bereits vor mehr als hundert Jahren publizierten Studie „Über die Minderwertigkeit von Organen“ (Adler 1907a), was allerdings folgend wenig explizite Beachtung finden sollte: „Innerhalb der von Freud begründeten psychoanalytischen Schule war dann Adler der erste seiner Mitarbeiter, der das Problem einer Verbindung von Soma und Psyche und die Frage nach der Organwahl bei der Organneurose energisch anging. Umso erstaunlicher ist es, dass sein Name in den von der Psychoanalyse her weitergedachten Modellen kaum erwähnt, ja von einzelnen Autoren überhaupt verschwiegen wird“ (Schmidt 1989a, 135). Vieles, was Adler offenbar wusste und auch in umfangreicher Publikationstätigkeit zu vermitteln versuchte, taucht oftmals viel später im Kleid einer neuen Terminologie als neue Erkenntnis auf:
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„In vielen Therapierichtungen und Wissenschaften haben individualpsychologische Konstrukte und Gedankengänge Eingang gefunden und sind als Spurenelemente wirksam geworden oder als Bausteine und Rohstoff in anderer Gestalt verwertet worden“ (Albrecht 2011, 154). Die Theorie und Praxis der Psychosomatik ist eine davon. Das Studium der damaligen Überlegungen Adlers zur Organminderwertigkeit und deren Bedeutung für die Entwicklung neurotischer Symptome ist natürlich im Sinne der Teilnahme an der historischen Entwicklung der Individualpsychologie zu verstehen und hat zu berücksichtigen, dass 100 Jahre der Forschung auch Erkenntnisgewinn bedeutet. Der Blick auf die darauf folgend stattfindende Entwicklung der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie zeigt klar die Vorreiterrolle Adlers auf: „dass Adler ein Pionier war im Kampf um die Behauptung einer Leibseeleganzheit in der zeitgenössischen Medizin. Tatsächlich nämlich sind Adlers Gedanken über den Zusammenhang zwischen körperlicher Symptombildung und seelischer Befindlichkeit größtenteils keineswegs historischer Ballast, sondern immer noch lebendige Anregung zu einem tiefenpsychologischen Verständnis körperlicher Erkrankungen als seelisches Ausdrucksphänomen“ (R. Schmidt 1990, 178). Das Konzept einer Dualität von Körper und Psyche, in einem mechanistischen humanmedizinischen Menschenbild niedergelegt, bewirkte, dass Fortschritte in der medizinischen Diagnostik, die die Möglichkeit der Lokalisierung von körperlichen Symptomen erweiterten, die Einteilung von körperlichen Leidenszuständen in „wirkliche“ und seelisch bedingte Störungen zur Folge hatten (vgl. von Uexküll in: R. H. Adler et al. 2008). Von Uexküll kritisiert ein ausschließlich und ausschließend naturwissenschaftliches Modell der Humanmedizin und begreift psychische und somatische Abläufe als interaktive und interdependente Funktionen eines einheitlichen Systems einer individuellen Prägung der Weltsicht. Er forderte einen Paradigmenwechsel in der Medizin, der den „Dualismus einer Medizin für Körper ohne Seelen und einer Medizin für Seelen ohne Körper“ überwindet (Bastian u. Hansch 2007). Diese Sichtweisen sind also deckungsgleich mit dem Leitgedanken Adlers, den Menschen als unteilbare Einheit von Körper, Geist und Seele zu verstehen, der eingebettet ist in die Gemeinschaft, der seine Wahrnehmungen mithilfe der lebensstiltypischen tendenziösen Apperzeption individuell gestaltet: „Adlers ganzheitliches Modell lässt also eine Trennung von Soma und Psyche nicht zu“ (R. Schmidt 1990, 179). Ebenso weist Adler die Unterscheidung von exogener zu endogener Krankheitsätiologie klar zurück und beantwortet damit die Frage nach dem Einfluss der Umwelt versus dem der Vererbung so, wie es heute die Neurobiologie bestätigt: „Es gibt keine Erscheinung, die nicht bedingt wäre durch exogene und endogene Faktoren“ (Adler 1934h, 574). In widerspruchsfreier Übereinstimmung damit versteht Rudolf die biologische, personale, interpersonelle und soziokulturelle Ebene als Perspektiven der Psychoso-
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matik und macht zugleich auf eine Problematik der dazu erforderlichen Interdisziplinarität in Forschung und Praxis aufmerksam: „Interdisziplinarität heißt vor allem das eigene Gebiet auch vom Standpunkt des anderen sehen lernen [. . . ]. Es erfordert relativ viel Toleranz, aus der Hochschätzung der eigenen Methode heraus die übrigen Verfahren nicht für Unsinn zu halten“ (Rudolf in: Rudolf, Henningsen 2008, 10). Das Konzept der Organminderwertigkeit, das die Anfälligkeit eines Organs für Störungen durch psychische Faktoren annimmt, findet sich wieder bei Franz Alexander, einem der Pioniere der Psychosomatik des vorigen Jahrhunderts: Er betonte die Bedeutung der Anlagefaktoren, die im Zusammenspiel mit unbewussten emotionalen Konflikten eine individuelle körperliche Disposition für die Pathogenese psychosomatischer, und in diesem Verständnis so wie in den frühen Schriften Adlers eigentlich somatopsychischer Symptome darstellen, also quasi eine erhöhte Vulnerabilität eines Organs, die reaktiv auf emotionalen Stress aus lebensgeschichtlichen Belastungen zur Ausbildung somatischer Erkrankungen führen kann (Alexander 1950). Individuell und unbewusst ausgewählt durch die jeweilige Organminderwertigkeit eines Menschen kann daraus eine psychosomatische Reaktion oder psychosomatische Erkrankung des jeweiligen Organs, wie Ringel unterscheidet (Ringel 1973), werden. In ähnlichem Sinne versteht Mentzos psychosomatische Symptome „als Externalisierung unerträglicher innerer psychischer Spannung in den Körper anlässlich einer sich bietenden Gelegenheit“ (Mentzos 2010, 189). Denn nicht die Krankheit ist vererbt, sondern die Anfälligkeit für diese. Diese Ansicht vertritt auch Adler, wenngleich er sie positiv formuliert: „Wenn die körperliche Eigenart des Patienten unter Verhältnisse gebracht würde, bei denen er sich im Gleichgewicht hält, müsste er nicht erkranken“ (Adler 1934, 579 f.). Auslösende und krankheitserhaltende Faktoren bewirken, dass die Anfälligkeit des Organs in einer Erkrankung bis hin zu deren Chronifizierung mündet, vergesellschaftet mit einer Alexithymie, der Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken (Bräutigam, Christian, von Rad 1997). Auch diese These ist kongruent mit dem Konzept der „Minderwertigkeit von Organen“ (Adler 1907a), die unter entsprechenden Lebensbedingungen zur somatischen Erkrankung führen kann, von Adler erstmals formuliert in einer Zeit, als er noch Mitarbeiter Freuds war: „Adler stellt [. . . ] die grundsätzliche These auf, dass Krankheit zu ihrer Entstehung des Entgegenkommens einer Minderwertigkeit von Organen bedarf. Das gilt nicht nur für genuin angesehene Erkrankungen, sondern auch für die Infektionskrankheiten und Karzinomerkrankungen [. . . ] Vererbt wird die Minderwertigkeit des Organs“ (R. Schmidt, 1990, 180). Anschließend an das Konversionsmodell Freuds als Übersetzungsmodus unbewusster, im Speziellen sexueller Triebkonflikte in körperliche Symptome liefert Adler damit einen Beitrag zum psychosomatischen Verständnis von Krankheiten (vgl. Bruder-Bezzel 2007). Ging Adler anfangs noch von einer stark biologischen Orientierung aus, so findet sich in seinen späteren Arbeiten die Erweiterung der morpholo-
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gisch und hereditär verankerten Sichtweise auf die Funktionalität von Organen – was an den Paradigmenwechsel der klinischen Neuropathologie und der Grundlagenforschung der Neurowissenschaften in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Defektologie und einem mechanistisch geprägten Bild der Hirnfunktionen hin zur neuronalen Funktionalität bzw. Dysfunktionalität und neuronalen Plastizität erinnert – siehe zum Beispiel Lurias Begrifflichkeit des „funktionellen Hirnorgans“ (Luria 1973). Damit erweitert sich auch das Spektrum psychosomatischer Krankheitsbilder um cerebrale Störungen, was wiederum einem zutiefst individualpsychologischen Verständnis des Menschen in der Untrennbarkeit von Körper, Geist und Seele entspricht. Adler benennt den Symptomzusammenhang von Körper und Seele zuerst „Organjargon“, im Weiteren „Organdialekt“, zu verstehen als eine entsprechend seinem Menschenbild im „Wortschatz“ erweiterte Sprache, die den Affekt durch Bezugnahme auf den Körper sowohl im sprachlichen als auch im gestischen Ausdruck markiert. Der Organdialekt drückt innerpsychische Prozesse aus, ist eine „Form des Redens“, der „Modus dicendi“, durch den Unbewusstes an die Oberfläche tritt: „Er [der Organdialekt, Anm. B. S.] ist ein früher körpersprachlicher Ausdruck für das dramatische innerpsychische Geschehen von nach dem Objekt ringenden Zärtlichkeitsbedürfnissen, Frustration bei seiner Zurückweisung, der Verschränkung von Aggression und Angst, Schuldgefühlen und Scham und dem Kampf männlicher und weiblicher Impulse in uns“ (Schmidt 1989a, 185). Zugleich ist er zielgerichteter Ausdruck, der eingebunden ist in den individuellen Lebensstil und dessen Finalität zu entschlüsseln, also herauszufinden ist: „was mit der Sexualisierung oder einem anderen Organdialekt des Denkens und Fühlens bezweckt ist“ (Adler 1912c, 251). Daran erinnert Mentzos’ Formulierung der „Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen“ (Mentzos 2010). Um die „Sinnhaftigkeit“ psychosomatischer Symptome machen sich also auch aktuelle Forscher der psychotherapeutischen Wissenschaft Gedanken und verweisen damit implizit wiederum auf die grundsätzlichen Gruppierungen des Konfliktausdrucks versus des diffusen Affektausdrucks (siehe weiter unten): „Handelt es sich um einen sinnvollen Vorgang mit einer (unbewussten) Intentionalität und Finalität? Oder geht es – deterministisch betrachtet – nur um einen sinnlosen, funktionslosen (wenn auch oft psychogen entstandenen) und mehr oder weniger passiv erlittenen Zusammenbruch der Abwehr?“ (Mentzos 2010, 189). Adler hat diese Frage folgend beantwortet: Wie jedes neurotische Symptom ist das psychosomatische Symptom Ausdruck des individuellen Lebensstils des Patienten, der mittels dieses Symptoms zu einer entmutigten Scheinlösung von Lebensproblemen findet, also zielgerichtet im Interesse des Strebens nach der Überwindung einer Minderwertigkeit, das missglückt:
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„Einem individualpsychologischen Verständnis entspräche die Annahme einer psychosomatisch-somatopsychischen Ganzheit, in welcher Soma und Psyche zusammenwirken, in welchem die Gewichte aber auch – im Rahmen dieser Ganzheit – von einer zur anderen Seite verschoben sein können. Immer – wie auch die Gewichte verschoben wären – müsste Krankheit auch verstanden werden als Ausdrucksform des ganzen Menschen, wie Adler sagt, als Ausdrucksform des Lebensstils“ (R. Schmidt 1990, 180). Im Dienste des Überwindungsstrebens bietet das körperliche Leidenssymptom, ausgedrückt im Organdialekt, im Unbewussten ein Versteck für Minderwertigkeitsgefühle um den Preis der körperlichen Leiden: „Er (der Organdialekt, Anm. BS) wird zum Regulativ, welches der Stabilisierung des Selbstwertgefühls dient. Er dient der Abwehr von Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühlen“ (R. Schmidt 1990, 185). Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Mentzos: „Die Funktion der Symptombildung besteht darin, dass der Patient einen Teil des inneren Drucks reduzieren kann, ohne den anderen oder sich selbst den eigentlichen Schmerz zu verraten. [. . . ] Das Symptom bietet also auch die Möglichkeit der Konkretisierung und der indirekten Mitteilung, was nicht nur den beschriebenen (primären), sondern auch einen sekundären Krankheitsgewinn mit sich bringt wie Nachsicht oder Fürsorge seitens der Umgebung“ (Mentzos 2010, 190). Somit erfüllt der Organdialekt in Übereinstimmung von Adlers frühen Konzepten mit aktuellen Theorien zur Psychosomatik mehrere Funktionen: 1. Emotionen und Affekte aus einer vorsprachlichen und daher nicht in Worten fassbaren und erinnerbaren Lebenszeit finden ihren Ausdruck. 2. Die Sprache des Körpers in der Somatisierung übernimmt eine Dolmetschfunktion bei mangelnder Symbolisierungsfähigkeit (vgl. Mentzos 2010). 3. Die körperliche Symptomatik schützt sowohl vor der Selbstwahrnehmung von Gefühlen, die dem Ich-Ideal widersprechen, als auch vor Antworten auf Gefühlsäußerungen seitens der Umwelt, die kränkend, verletzend und somit den Selbstwert gefährdend sein könnten: „Organdialekt indessen macht möglich, Mitteilungen an die Umwelt zu richten, ohne dass deren eigentliche Bedeutung dem Absender bewusst zu werden braucht“ (Lamer 1984, 157). In Analogie zu Darwins Entwurf zur Entstehung der Arten, der Finalität und Gerichtetheit jener mit Hilfe der Annahme erklärt, dass von den zahlreichen zufälligen Mutationen diejenigen zurückbleiben und zum Überleben selektiert werden, die am besten zu den gegebenen Bedingungen passen, stellt Mentzos die Überlegungen zur Finalität psychosomatischer Erscheinungen in einen epidemiologischen Gesamtzusammenhang:
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„dass von den zahlreichen im Leben vorkommenden körperlichen Erkrankungen und daraus entstehenden Beschwerden oft diejenigen unbewusst selektiert und länger als andere als ‚Leidensquelle‘ beibehalten werden, die für die Ausdrucksebene des inneren Leidens ‚geeignet‘ sind, die also zu diesem Leiden Analogien aufweisen und somit zu ihnen passen. Die kausal determinierten körperlichen Vorgänge einerseits und das vom Intrapsychischen her stammende Ausdrucksbedürfnis andererseits treffen sich also sozusagen auf halbem Wege, und dies in einer Kette von aufeinanderfolgenden und zu einander führenden Schritten“ (Mentzos 2010, 190). Psychosomatosen können somit im Kontext eines vorerst konstruktiv-aktiv anmutenden Lebensstils, der sich im weiteren Lebenslauf als passiv-destruktiv mit möglicherweise auch autoaggressiven Komponenten entpuppt, verstanden werden. So wird das Sicherungsstreben letztendlich in eine Sackgasse der unnützlichen Überlegenheit durch die Stärke der Schwäche geführt, um somit Hilflosigkeit und Ohnmacht zu verbergen, aber diese damit zugleich zu erreichen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des „Burn-out-Syndroms“: durch die Fiktion der Unverletzlichkeit und unbegrenzten persönlichen Kapazität verführt, die Grenzen der eigenen Kraft zu überschreiten, findet sich der vormals Hervorragende zumeist ziemlich abrupt in der Situation des an Erschöpfung Erkrankten wieder und damit auf der gegenüberliegenden Extremposition innerhalb der Gemeinschaft. Dabei regen biografische Gegebenheiten zum Versuch der Überkompensation an, lassen das Überwindungsstreben zum Überlegenheitsstreben mutieren, das dann letztlich in einer Selbstüberforderung mündet und damit zielsicher das Vermiedene in der psychosomatischen Erkrankung zur Lebenswirklichkeit werden lässt, wie unter anderem am Beispiel des ärztlichen Heilberufes belegt (Gathmann u. Semrau-Lininger 1996). Wenn die Seele im Ringen um eine erfolgreiche Bewältigung der Lebensaufgaben scheitert, führt das Naheverhältnis zwischen Psychosomatosen und Depression zu diagnostischen Überschneidungen, die Realität des Erlebens abbildend, was einen Circulus vitiosus von psychosomatischen und somatopsychischen Erscheinungen in Bewegung setzt (Gathmann 1986). Zurückgehend auf Otto Fenichel, Sandor Ferenczi und Felix Deutsch erkennt die Psychosomatik auch heute noch grundsätzlich zwei Gruppen von Störungen und differenziert diese danach, ob die Symptomatik den (unbewussten bzw. unverstandenen) Konflikt in einer Symbolsprache darstellt oder eher als vegetative Phänomene eines diffusen Affektäquivalents zu verstehen ist, später von von Uexküll unterschieden in „Ausdruckserkrankungen“ einerseits und „Bereitstellungserkrankungen“ andrerseits (von Uexküll 1963). In einer Theorie der Spezifität trifft Alexander bei sieben somatischen Krankheitsbildern, den „Holy Seven“, eine Zuordnung aus der Art der psychosomatischen Erkrankung zur Art des Konflikts (Alexander 1950). Diese Zuordnung hat sich als nicht bedingungslos generalisierbar, aber dennoch in der Einzelfalldiagnostik als immer wieder hilfreich erwiesen. Aktueller sind wissenschaftliche Bestrebungen, die versuchen, Gemeinsamkeiten im Persönlichkeitsprofil, oder, mit Adler ausgedrückt, im Lebensstil von Men-
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schen, die unter derselben Krankheit leiden, zu finden, wenngleich nicht explizit im Fokus individualpsychologischer Forschungen (G. Titscher 1984). Die salutogenetisch orientierte Präventivmedizin verwendet dazu den Begriff des „life style“ und meint damit Verhaltensweisen sowie Arten der Lebensführung, die der Gesundheit förderlich bzw. abträglich sind, so zum Beispiel im Zusammenhang mit HerzKreislauferkrankungen, aber auch mit Karzinomerkrankungen, wie die Spezialisierung der Psychoonkologie ausweist. Die Frage, wie es überhaupt möglich ist, „dass intrapsychische Spannungen, unlustvolle Gefühle, unlösbar erscheinende Konflikte, tief greifende seelische Traumatisierungen, also psychische (und daher subjektiv erlebte oder potenziell erlebbare) Vorgänge zu fassbaren körperlichen Symptomen führen“ (Mentzos 2010, 188), ist einerseits erhellt, andrerseits aber noch nicht befriedigend ausgeleuchtet: „Alle psychischen Vorgänge werden von damit korrespondierenden cerebralen Prozessen begleitet. Es bietet sich an, anzunehmen, dass die somatischen Veränderungen bei den verschiedenen Organen und körperlichen Systemen durch neuronale Aktivierung des Gehirns und deren Leitung in die Peripherie zu Stande kommen. Nicht das ist es also, was uns Schwierigkeiten macht, sondern jene zwar feststellbare, aber begrifflich nicht fassbare Korrespondenz dieser Parallelität zwischen psychischen und cerebralen Prozessen“ (Mentzos 2010, 188). So sieht es auch Adler: „Es ist nicht viel darüber bekannt, wie ein seelischer Eindruck an die Organe herankommt, aber dass es sich um eine Gesamtwirkung handelt, ist keine Frage“ (Adler 1934h, 573). Schmidt filtert aus Adlers Schriften drei individualpsychologische Modelle zum Verständnis der Psychosomatik heraus: „1. das in seiner Theorie implizit enthaltene Modell einer unteilbaren Ganzheit des Menschen, nach dem jede Krankheit Ausdrucksform des Lebensstils ist; 2. legt er mit seinem Modell der Organminderwertigkeit eine grundsätzliche Theorie vor, nach welcher neurotische Entwicklungen im wesentlichen verursacht werden zum Versuch der Kompensation hereditär gegebener Organminderwertigkeiten; 3. [. . . ] Der Organdialekt wird beschrieben als ein psychosomatischer Abwehrmechanismus im Sinne des Organmodus“ (R. Schmidt 1990, 177). Auch wenn das psychosomatische Symptom einen sekundären Krankheitsgewinn der Schonung und des Mitgefühls seitens des sozialen Umfeldes einbringt, so ist dieser Gewinn oft rasch verspielt, sobald die körperlichen Symptome als psychosomatisch ausgewiesen sind. Und dann nährt das körperliche Symptom das, was es eigentlich zu vermeiden abzielte: die Angst.
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„Entbehrt er des mitmenschlichen Haltes, so fühlt er sich isoliert und fällt der Angst anheim, die alle physischen und psychischen Funktionen drosselt. Angst ist die Empfindung innerer Unfreiheit und mangelhafter Selbstverwirklichung, deren destruktive Macht aus dem Psychischen tief ins Organische hineinreicht; auf dem Wege dieses Affektes entgleist die Organfunktion und vermag wohl auf Dauer Organschäden zu setzen, die schließlich als Krankheit in Erscheinung treten. Erkrankung in psychosomatischer Sicht ist demnach Produkt einer Lebensführung, in der aus verfehlter Übereinstimmung mit sich selbst Selbstverwirklichung, Freiheit und Mitmenschlichkeit geschädigt oder verlorengegangen sind“ (Rattner 2000, 32). Angst hat viele Gesichter. Im psychosomatischen Symptom erscheint sie als Gegenwarts- und Zukunftsangst vor weiterem Schmerz, vor Abhängigkeit und Hilflosigkeit, vor Siechtum und Tod. Ihr wahres Gesicht ist die Lebensangst.
5.3 Körperpsychotherapie Bernd Rieken An der analytischen Körperpsychotherapie scheiden sich die Geister, es gibt wenige Befürworter und Praktiker auf dem Gebiet, 1 dagegen viele Skeptiker und einige vehemente Gegner. Zu Letzteren zählt Thea Bauriedl, die dezidiert von der „Unvereinbarkeit zwischen Psychoanalyse und Körpertherapie“ spricht (Bauriedl 1998, 342). 2 Sie warnt davor, jene „mit anderen Konzepten zu ‚mischen‘ und dabei letztlich zu einer ‚allgemeinen Psychotherapie‘ überzugehen“ (ebd., 343), was wenig überzeugend klingt, da kein analytischer Körpertherapeut darauf verzichten würde, die Berührungen seiner Patienten analytisch zu bearbeiten. Thea Bauriedl glaubt indes, vor allem in den Arbeiten Tilmann Mosers Formen sexuellen Missbrauchs zu erkennen, und warnt daher vor Therapeuten, „die körperliche Berührungen oder gar sexuelle Beziehungen mit ihren Patienten für die Methode der Wahl ansehen“ (ebd., 362) – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass diese „standesrechtliche und eventuell strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten haben, wenn sie ihre Patienten und Patientinnen missbrauchen“ (ebd.). Das klingt recht emotional und ist wohl auch so gemeint, aber Bauriedl übersieht „die wichtigste These der analytischen Körpertherapie: Die Berührung dient der Entsexualisierung“ (Moser 2001, 22). Das wird dann klar, wenn man sich vor Augen hält, dass es eine heilsame Erfahrung sein kann, körperlich berührt zu werden, ohne dass „etwas passiert“, das heißt ohne dass es zu Grenzüberschreitungen kommt. In Norbert Elias’ fulminanter Schrift „Über den Prozess der Zivilisation“ können wir nachlesen, wie im Europa der Neuzeit die Kontrolle der menschlichen Affekte mehr und mehr rigidere Formen angenommen hat (Elias 1992). Er beschreibt das unter anderem am Beispiel der Tischsitten, vor allem anhand der Verwendung von Messer und Gabel (ebd., Bd. 1, 110–174). Ein markantes Beispiel für den Zivilisationsprozess dürfte auch das von Gerhard Schulze – wie Elias ebenfalls ein Soziologe – so genannte „Hochkulturschema“ sein, welches in erster Linie durch eine „Zurücknahme des Körpers“ charakterisiert sei, etwa „konzentriertes Zuhören, stilles Betrachten, versunkenes Dasitzen“ (Schulze 1996, 143). Diese Vorgänge hängen wahrscheinlich mit dem europäisch-neuzeitlichen Prozess der Mechanisierung zusammen, welcher nicht nur unsere äußere Welt grundlegend verändert hat, sondern auch unsere Seele, weil es dabei um „bescheidene Dinge“ geht, denen wir in unserem Alltag tagtäglich begegnen und die „unsere Lebenshaltung bis in ihre Wurzeln erschüttert“ haben (Giedion 1987, 20; vgl. Rieken 1997). An sich ist die Mechanisierung vom Prinzip der Bewegung durchdrungen, wie etwa die Newton’schen Axiome 1 2
Als umfangreiches Lehrbuch sei empfohlen: Geißler u. Heisterkamp 2007; als Einführung aus psychoanalytischer Sicht Moser 2001, aus individualpsychologischer Sicht Heisterkamp 1993. Für die Hinweise auf den Beitrag von Bauriedl (1998) sowie auf die weiter unten in diesem Kapitel erwähnten Arbeiten von Heisterkamp (1998) und Sechehaye (1955) danke ich herzlichst Dr. Annette Hohaus (Wien).
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5.3 Körperpsychotherapie
zeigen, aber es gehört gleichzeitig zum Selbstverständnis der Physik und der in ihrer Tradition stehenden Wissenschaften, die Natur und den Menschen in feste Formen zu bannen, um sie zu „zivilisieren“ (vgl. Bammé et al. 1983). Das aber ist gleichzeitig eine Crux, weil der Mensch ein „bewegliches“ Wesen sein möchte und aus individualpsychologischer Sicht Bewegung oder Entwicklung Schlüsselbegriffe sind, um den Lebensstil mit seinem teleologisch-dynamischen Streben zu erfassen. Das gegenläufige Prinzip ist das Streben nach Sicherheit, das in seiner neurotischen Form nicht nur die Seele, sondern auch den Leib in die Erstarrung führen kann. Dann aber kann es zu unproduktiven Wiederholungsmustern kommen, welche eine Analyse unnötig in die Länge ziehen, indem der abstinent-distanzierte Analytiker unbeweglich hinter der Couch sitzt und der Patient regungslos auf ihr liegt. In solchen Fällen kann es mitunter angeraten sein, durch Berührungen den Prozess wieder in Fluss zu bringen. Doch sie eignen sich nicht allein für den neurotischen Kontext, sondern auch dann, wenn die Ebene der Grundstörung erreicht ist und der Analytiker die Funktion eines Primärobjekts übernehmen sollte. Der symbolische Ausdruck dafür sei dann oft „irgendeine Form körperlichen Kontakts mit dem Analytiker, am häufigsten der Wunsch, seine Hand oder einen seiner Finger halten [. . . ] zu dürfen usw.“ (Balint 1997a, 178). Demnach kann „symbolische Wunscherfüllung“ (Sechehaye 1955) mitunter der Linderung seelischer Pein dienlich sein, worauf übrigens auch Ellenberger hinweist (1996, 53–58). Ein anschauliches Beispiel stammt von Marguerite Sechehaye, die von ihrer schizophrenen Patientin Renée berichtet, welche nach Äpfeln verlangt, diese dann aber nicht isst. Anfänglich sei Sechehaye vollkommen im Dunkeln getappt, wie dieses Bedürfnis befriedigt werden könne, bis die Patientin eines Tages gemeint habe, sie wolle keine gekauften Äpfel, sondern solche von der Mutter, dabei auf die Brust ihrer Analytikerin zeigend (s. Sechehaye 1955, 42 f.): „Da verstand ich endlich, was ich tun musste! Wenn die Äpfel die Muttermilch darstellen, muss ich sie ihr geben wie eine Mutter, die ihr Kind stillt: Ich muss ihr selbst das Symbol geben, direkt und ohne Vermittler [. . . ]. Ich holte einen Apfel, und indem ich ein Stück abschnitt, um es ihr zu reichen, sagte ich zu ihr: ,Es ist Zeit, die gute Milch von den Äpfeln der Mutter zu trinken. Mama wird sie dir geben“. Da lehnte sich Renée an meine Schulter, legte den Apfel an meine Brust und aß mit geschlossenen Augen, feierlich und voll unermesslichem Glück“ (ebd., 43). Die leibliche Mutter habe die Milch mit Wasser verdünnt und Renée nicht mehr sättigen wollen. Stattdessen seien später die jüngeren Geschwister in ihrer Gegenwart gesäugt worden und Renée in den Zustand primärer Autoerotik regrediert, später schizophren geworden (ebd., 43 f.). Durch ihr Verhalten habe die Mutter „den Wunsch nach Nahrung verurteilt. Es war also verboten, sich zu ernähren, und folglich war auch der Wunsch zu leben strafbar“ (ebd. 44). Demgegenüber sei ihr durch die symbolische Erfüllung primäre Liebe zuteil geworden, wodurch die Aggression gegenüber der leiblichen Mutter und sich selbst gegenüber reduziert worden sei. Damit
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habe sich auch die „schizophrene Kompensation“, nämlich die Vorstellung, eine Königin zu sein, erübrigt (ebd., 106). Im weiteren Verlauf der Analyse habe sich Renée stabilisiert und später keinen Rückfall mehr erlitten (ebd., 107). 3 Offensichtlich hat sie etwas Reales benötigt, um zu genesen, nämlich den Apfel als konkreten und symbolischen Gegenstand sowie die leibliche Berührung mit der Therapeutin – um sich aus der Erstarrung zu lösen und wieder beweglicher zu werden, die Entwicklung in Gang zu setzen. Dazu ein Beispiel aus eigener Praxis. Herrn Murauer – so möchte ich ihn nennen – absolvierte zwei Therapien mit je zwei Stunden pro Woche bei mir, die erste um die Jahrtausendwende, die zweite 2008 bis 2010, jeweils ungefähr zwei Jahre lang. Ende der 1990er Jahre studierte er Medizin an der Universität Wien, litt aber unter vehementen Selbstwertproblemen und hatte Angst, den Studienabschluss zu verfehlen. Seine Probleme standen in Zusammenhang mit der Mutter, denn sie war dort abwesend, wo er sie benötigt hätte, und sie war dann vorhanden, wenn es überflüssig gewesen wäre. Mit anderen Worten: Sie war einerseits lieblos und egoistisch, kannte andererseits keine Grenzen und wollte sein Leben bis ins kleinste Detail bestimmen. Daher absolvierte er die erste Therapie, die in Hinblick auf das vordergründige Therapieziel von Erfolg gekrönt war: Er wurde mit sehr guten Noten zum Doktor der Medizin promoviert. Einige Jahre waren vergangen, Herr Murauer konnte mittlerweile eine gut gehende Facharztpraxis für Psychiatrie sein eigen nennen, aber er war dadurch nicht glücklicher geworden. Zwar war er wohlgelitten und hatte ein hohes fachliches Ansehen bei seinen Patienten, doch belastete ihn ausgerechnet dieser Umstand, weil er eine große Diskrepanz zwischen professioneller und privater Rolle feststellen musste, denn er fühlte sich außerhalb der Ordination ziemlich hilflos und minderwertig. Das hatte fraglos mit seiner Mutter zu tun, die ihn stets kritisierte, nie mit ihm zufrieden war und, seit er Geld verdiente, immerfort materielle Zuwendungen von ihm erwartete, obgleich es ihr finanziell nicht schlecht ging. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, das nun endlich – in der zweiten Therapie – bearbeitet werden konnte: Sex empfand er als schmutzig, Frauen, die er begehrte, konnte er nicht lieben, und Frauen, welche er liebte, nicht begehren. Hintergrund war ein sexueller Missbrauch im Alter von fünf oder sechs Jahren durch einen nahen Verwandten. Gegenüber diesem Vorfall hatte er in der Analyse bisher emotionalen Abstand gehalten, wiewohl wissend, dass er der Aufarbeitung bedurfte. Irgendwann war die Zeit dafür jedoch reif, wie das folgende Stundenprotokoll deutlich macht: „Heute hatte er zwei Erlebnisse, zunächst eine Patientin, die vom Vater unsittlich am After berührt worden war. Und in der U-Bahn sah er einen Vater, der sich bösartig gegenüber seinen kleinen Kindern verhielt. All das löste heftige Emotionen aus. Wir thematisieren erneut den Missbrauch: Die Wut auf die Mutter, die ihn
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Renée wurde nach ihrer Heilung von Marguerite Sechehaye adoptiert und später unter ihrem Namen Louisa Sechehaye-Duess selber Psychoanalytikerin (s. Cifali 2005).
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5.3 Körperpsychotherapie
nicht beschützte, und dann der Umstand, dass er sich an niemanden wenden konnte, nachdem es geschehen war. Aber ich spüre, es ist auch ein körperlicher Schmerz. Ich schlage vor, dass er sich wieder 4 auf den Bauch legt. Dann sage ich, dass ich eine körpertherapeutische Intervention machen möchte; wenn er das nicht wolle oder es zu viel werde, möge er mir das mitteilen. Ich lege die eine Hand auf sein Gesäß, die andere auf den Rücken, circa fünf Minuten lang. Anschließend schildert er, wie es ihm damit ergangen ist: Es sei ungewohnt, Angst und Unbehagen hätten sich zunächst eingestellt, dann aber das Gewahr-Werden, nicht ausgeliefert zu sein, sondern sagen zu können, wenn es ihm missfalle. Nun kommt die Erinnerung – erstmals bewusst – an den brennenden Schmerz von damals und daran, dass er den Penis des Verwandten im After auch heute noch spürt, wenn er an den Missbrauch erinnert wird. Meine eher erahnte Intention: Was der Täter damals aufgerissen bzw. geöffnet hat, möchte ich wieder schließen (50. und 51. Std. 5 vom 14.05.2010). Dann eine Woche später: „Seit der letzten Stunde fühle er sich nach außen distanzierter, die Gefühle strömten nicht mehr so hinaus, und die der anderen träfen ihn auch nicht mehr so. Eine Borderline-Patientin habe ihn wegen eines Medikaments bedrängt, er sei standhaft geblieben, [. . . ] und es sei relativ emotionslos über die Bühne gegangen. Er [. . . ] bemerke außerdem einen entspannteren Umgang mit seiner Mutter. All das irritiere ihn auch, denn es sei neu. Er führt es auf die letzte Stunde und die Körpertherapie zurück. Wahrscheinlich sei bis zu einem gewissen Grad geschlossen worden, was vorher offen gewesen“ (52. und 53. Std. vom 21.5.2010). In den darauffolgenden Stunden wurde der Missbrauch weiter durchgearbeitet, unter anderem in Form eines Rollenspiels, bei dem er sich vorstellen sollte, dass er der kleine Bub sei und dass auf dem Besuchersessel der Onkel sitze, dem er seine Meinung sagt: Er zählt in einem längeren Monolog alles auf, was der Missbrauch zur Folge hatte, und das in einer Weise, wie er es noch nie getan – so konzentriert. Unter anderem sagt er, dass er deshalb sich so viel von anderen Menschen habe gefallen lassen, weil all das nicht an jenes herangereicht habe, was der Onkel ihm angetan habe; so schlimm habe alles andere nicht sein können (60. u. 61. Std. vom 16.7.2010). In der darauffolgenden Woche nahm er noch einmal auf das Rollenspiel Bezug und meinte, dass er sich seit der letzten Doppelstunde besser fühle. „Das hänge damit zusammen, dass er im Rollenspiel seinem Onkel die Meinung habe sagen können. Er 4 5
Das hatte ich bereits in dem Zusammenhang einmal vorgeschlagen, wodurch wir den verdrängten Emotionen ein wenig näherkamen. Da ich eigentlich keine freien Stunden hatte, kam er zur für mich einzig möglichen Zeit, nämlich freitags Abend. Doch da ich etwa jede dritte Woche am Freitag Lehrveranstaltungen an der Universität hatte, einigten wir uns darauf, Doppelstunden zu machen.
Bernd Rieken
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fühle sich jetzt leichter, der Alltag sei nicht mehr so mühselig“ (62. u. 63. Std. vom 23.7.2010). Tatsächlich besserte sich sein Befinden in den folgenden Monaten spürbar. So gelang es ihm, sich von seiner Mutter in hinreichender Weise abzugrenzen und sie in ihre Schranken zu weisen, ohne dass es zum Bruch mit ihr gekommen wäre. Vor allem aber fand er zu einem natürlicheren Umgang mit der Sexualität und ging eine Bindung zu einer Frau ein, die er nicht nur liebte, sondern mit der er auch ein befriedigendes Geschlechtsleben hatte. Darüber hinaus verlor sich weitgehend die Angst, welche er vor anderen Menschen hatte, denn das Misstrauen wurzelte im Missbrauch, und so war seine stete Befürchtung, von den Personen seiner Umgebung hintergangen und auf ähnliche Weise ausgenutzt zu werden, wie es ihm nicht nur mit dem männlichen Verwandten ergangen, sondern auch vonseiten der Mutter geläufig war. Der Fallausschnitt macht deutlich, dass Berührungen auf der Couch auch und gerade bei sexuellem Missbrauch heilsam sein und den Fluss der Therapie beschleunigen, möglicherweise sogar erst hinreichend ermöglichen können. Indem ich meine Hand auf Herrn Murauers After legte, wurde symbolisch jene Wunde geschlossen, welche durch den Verwandten aufgerissen worden war. Und indem ich die andere Hand auf der Wirbelsäule platzierte, bemühte ich mich darum, symbolisch sein Rückgrat zu stärken. Man könnte sich jetzt fragen, wie es dabei um die Abstinenz bestellt ist. Darauf kann ich mit Günter Heisterkamp antworten, dass diese „keine Frage des physikalischen Abstandes, sondern der psychischen Verfassung“ sei (Heisterkamp 1998, 20). Als körpertherapeutisch arbeitender Individualpsychologe versteht er Abstinenz „als eine um den Individuationsprozess des Patienten zentriert bleibende Mit-Bewegung“ und fehlende Abstinenz „als eine Entgleisung des therapeutischen Dialogs in eine BeNötigung, in der sich Patient und Therapeut in ihrem labilen oder labilisierten Selbstwertgefühl wechselseitig auf Kosten des anderen zu stabilisieren versuchen“ (ebd.). Körpertherapie vermag, um es zusammenzufassen, den analytischen Prozess sinnvoll zu ergänzen, wenn die körperlich-seelische Erstarrung nicht allein verbal hinreichend gelockert werden kann oder wenn frühe Defizite vorhanden sind, die durch Berührung eine gewisse Stillung zu erfahren vermögen. Indes existieren Vorbehalte vonseiten der analytischen Gemeinschaft gegenüber der Körpertherapie, die im engen Sinn mit rigiden Abstinenzvorstellungen zu tun haben und in einem weiteren Sinn mit dem „Prozess der Zivilisation“ bzw. der Mechanisierung, die in der europäischen Kultur zu einer gewissen Körperfeindlichkeit und Erstarrung geführt haben.
5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie Roland Wölfle
5.4.1 Einführung Alfred Adler hat schon in den 1920er Jahren mit Gruppen gearbeitet, aber kein gruppentherapeutisches Konzept entwickelt – Sigmund Freud auch nicht. Nicht nur das: Er hat überhaupt nicht mit Gruppen gearbeitet und lehnte Gruppentherapie ab (vgl. Titze 1986, 229). Trotzdem haben sich Gruppentherapiemodelle mit dem Attribut „analytisch“ international durchgesetzt, individualpsychologische nicht. Warum ist das so? Die Antwort ist einfach. Die Gruppenpsychotherapie ist ein eigenständiges Verfahren und ist mit der Methodik der Psychoanalyse ebenso wenig gleichzusetzen wie mit anderen Verfahren. Mit anderen Worten: Gruppenanalyse ist alles andere als eine Anwendung der Psychoanalyse auf eine Gruppensituation. So betont etwa S. H. Foulkes, der Begründer der Gruppenanalytischen Gruppenpsychotherapie, dass diese Methode zwar analytische Grundsätze berücksichtige, gleichzeitig aber auch mit dem Setting einer Gruppensitzung mit einer Sessel-Couch-Situation, dem ausschließlichen Ort der Psychoanalyse, nicht vergleichbar sei, weil „die Gruppensituation soziodramatische und psychodramatische Eigenschaften mit enthält“ (Foulkes 2007, 156). Jede Arbeit mit Gruppen folge gruppendynamischen Gesetzmäßigkeiten und diese könnten von keiner therapeutischen Schule für sich beansprucht werden. Das Wesen gruppenpsychotherapeutischer Wirksamkeit sei unspezifisch. Demzufolge ist es also falsch, „analytisch“ mit „psychoanalytisch“ gleichzusetzen und die Annahme, ein analytisches Gruppentherapiekonzept gehöre in die Schule der Psychoanalyse ist somit ein Trugschluss. Demzufolge kann es aber auch kein originäres individualpsychologisches Gruppentherapiekonzept geben, auch wenn die Entwicklung der Gruppenpsychotherapie in vielerlei Hinsicht mit Individualpsychologinnen und -psychologen verknüpft war und ist – von Adler und Dreikurs über Bierer und Rattner bis Heisterkamp und Schmidt. Diese Beiträge zu sichten und methodische Konzepte gegenüber zu stellen ist eine der Zielsetzungen dieser Arbeit. Auch wenn das Wesen der Gruppenpsychotherapie unspezifisch ist und weit über die therapeutischen Schulen hinaus reicht, können die einzelnen therapeutischen Richtungen mit ihren theoretischen Grundannahmen und ihrer praktischen Herangehensweise dieser Interventionsform eine individuelle Färbung verleihen, die natürlich auch individualpsychologisch sein kann. Derartige Aspekte herauszuarbeiten und zusammenzufassen ist ein weiteres Anliegen dieses Artikels. Als isolierte und einheitliche Methode kann es eine „individualpsychologische Gruppentherapie“ nicht geben, als gruppenpsychotherapeutische Variante, die individualpsychologische Konzepte und das sozial ausgerichtete individualpsychologische Menschenbild mit der konsequenten Betonung der Gleichwertigkeit und der de-
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5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie
mokratischen Teilhabe in sämtlichen therapeutischen oder gesellschaftlichen Gruppenprozessen integriert, aber sehr wohl.
5.4.2 Anfänge der Gruppenpsychotherapie in der Individualpsychologie Alfred Adler als Gruppentherapeut Alfred Adler wird in vielen Texten als wesentlicher Pionier der Gruppenpsychotherapie angesehen. Stellvertretend möchte ich auf S. H. Foulkes eingehen, der über Adler schreibt, dass dieser „unleugbar die Gemeinschaft betont und das Individuum in Beziehung zu ihr gesehen“ (Foulkes 2007, 15) hat und „möglicherweise“ hat er selbst „gelegentliche Gruppendiskussionen oder therapeutische Gemeinschaftssitzungen . . . in psychotherapeutischen Kliniken oder bei ähnlichen Gelegenheiten abgehalten“ (ebd.). Adler und seine Weggefährten begannen ab 1919 mit Gruppen zu arbeiten. Zielgruppen waren Schüler, Lehrer oder Eltern, aber auch Delinquente und Kriminelle. In diesem Kontext gibt es eine der wenigen Literaturstellen, in welchen sich Adler selbst auf die Gruppenarbeit bezieht, wobei er in diesem ursprünglich 1931 auf Englisch erschienen Text („What Life“) nicht von Gruppentherapie, sondern von „mass treatment“ (zit. nach Titze 1986, 232) spricht. Mit den Betroffenen sollte über den Wert von Gemeinschaft gesprochen werden und ihre privaten Deutungen der Welt und der so niedrigen Einschätzung ihrer eigenen Möglichkeiten sollten relativiert werden. In einer Erläuterung zu diesem Text schreiben Ansbacher und Ansbacher: „Gruppentherapie scheint eine logische Entwicklung für die Individualpsychologie zu sein, mit ihrer Bedeutung des „common sense“ im Gegensatz zur „privaten Intelligenz““ (Ansbacher u. Ansbacher 2004, 280). Gemäß dieser Autoren machte Adler nur Vorschläge, führte derartige Behandlungen aber selbst nicht durch. Sehr wohl leistete er aber „bezüglich einer Methode, die gewisse Aspekte der Gruppentherapie aufweist, Pionierarbeit“ (ebd., 281). Dabei beziehen sich die Autoren auf die Methode, die Adler in der Erziehungsberatung anwandte: „Der gemeinsame Faktor dieser Form von Therapie und der eigentlichen Gruppentherapie liegt darin, dass die Probleme eines Individuums vor einer Gruppe besprochen und dadurch objektiviert werden“ (ebd.). Gruppenarbeit in Schulen und in der Kindererziehung Schulklassen als Erlebnisgemeinschaften zu interpretieren und mit diesen Kooperation, Solidarität, Akzeptanz, Mitmenschlichkeit und soziale Verantwortung zu üben, war vielen Individualpsychologen, die häufig als Lehrerinnen und Lehrer tätig waren, ein großes Anliegen. In den individualpsychologischen Versuchsschulen der 20erund 30er-Jahre wurden therapeutische Gruppenprozesse aktiviert. Eine Lehrperson sollte wie ein Gruppentherapeut wirken und die Kinder dazu ermutigen, sich in andere hineinzuversetzen und einen Perspektivenwechsel von der privaten und selbst-
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bezogenen Logik zu einem mehr gemeinschaftsorientiertem Denken herbeiführen: „Der Perspektivenwechsel, das ist das Entscheidende“ (Birnbaum 1932, zit. nach Titze 1986, 234). Alice Rühle-Gerstel hielt fest, dass „Ermutigung und wechselseitige Therapie [. . . ] meist unbewusst und ohne planmäßiges Zutun“ (Rühle-Gerstel 1930, 60) erfolgen würden. Der Reformpädagoge Oskar Spiel stieß 1921 zu Adler und verband nach seiner Rückkehr nach Österreich auch in der Nachkriegszeit pädagogisches Handeln mit gruppentherapeutischen Elementen. Er verstand die Klasse als eine Erlebnis- und Arbeitsgemeinschaft, die mit psychologischen Mitteln gezielt beeinflusst werden könne, was er in seinem 1947 erstmalig erschienenen Buch „Am Schaltbrett der Erziehung“ ausführlich darstellte. Es gilt nach Titze als berechtigt, derartige Interventionsprozesse mit ihrer „therapeutischen Moderation“ (Titze 1986, 235) in die Nähe von Gruppenpsychotherapie zu stellen. Gemeinschaftsgefühl und Gesellschaft – historische und transkulturelle Aspekte in der Individualpsychologie Während die zunächst politisch klar links positionierte Individualpsychologie gegen autoritäre Machtstrukturen und erzieherische Gewalt sowie für Demokratie und Teilhabe kämpfte, scheint in der Nachkriegszeit der Aspekt der Anpassung einen höheren Stellenwert bekommen zu haben – und das nicht nur in der Individualpsychologie. So schreibt der Gruppenanalytiker Foulkes: „Darüber hinaus aber scheint mir diese Art, Gruppen zu führen, den Weg zu weisen für die Möglichkeit einer zeitgemäßen Erziehung zum verantwortungsbewussten Staatsbürger. Es ist die besondere Mischung zwischen Autorität und Freiheit, die mir als erstrebenswertes Ideal vorschwebt“ (Foulkes 1974, 8). Bei Walter Spiels Arbeit „Über Gruppentherapie“, laut Titze die erste individualpsychologische Arbeit, die sich explizit mit Gruppenpsychotherapie auseinandersetzt (Titze 1986, S. 237), wird etwa die Einordnung in die Gesellschaft im Sinne von Ferdinand Birnbaum als „gesunde Sklavenhaltung“ (Spiel 1950, 166) verstanden und „der sozial angepasste Mitmensch ist das Ziel“ (ebd.). Für die Gruppenpsychotherapie gelte aus Sicht der Individualpsychologie, die Gruppe als „soziale Gelegenheit“ (ebd.) zu betrachten, in welcher Gemeinschaft erlebbar werde und trainiert werden könne. Schließlich spricht Spiel von einer „Gemeinschaftstherapie“, in welcher Heilung „in der Gemeinschaft, durch die Gemeinschaft und für die Gemeinschaft“ (ebd., 172) erfolge. Der wenig operationalisierte Begriff des Gemeinschaftsgefühls hat in der Individualpsychologie verschiedene Ausdeutungen erfahren. Neben der Arbeits- und Erlebnisgemeinschaft der Versuchsschulen oder dem „Wir“ zwischen Mutter und Baby als erste Gemeinschaft (vgl. Ringel 1992, 11 ff.) erstreckt es sich bis zum Vorbild für ein Zusammenleben der Menschen für alle Ewigkeit und bis zum völkisch mythologisierten Ideal eines Fritz Künkel, der vor seiner Annäherung an der Nationalsozialismus sehr umfassende und ganzheitliche heilpädagogische Gruppen aufbaute und
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5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie
die heilende Kraft der Gruppe explizit benannte (vgl. Siebenhüner, 133 ff.). So kommt Lehmkuhl hinsichtlich der Entwicklung der Gruppentherapie zur Auffassung, dass sich „das Konzept des Gemeinschaftsgefühls eher hemmend und nicht stimulierend auf die weitere Ausführung der Methode“ (Lehmkuhl 2002b, 16) ausgewirkt hätte. Shunsako Noda, ein Mitglied der Japanese Adlerian Society, betont, dass es im Osten eine stärkere Betonung von Kollektiv und Gemeinschaft gebe, somit habe auch Gruppentherapie einen hohen Stellenwert. Bemerkenswert erscheint der Hinweis, dass die Individualpsychologie mit dem zentralen Element des Gemeinschaftsgefühls „von allen Psychologien und Philosophien des Westens [. . . ] das dem Buddhismus ähnlichste System darbietet“ (Noda 1985, 219). Auch „Karma“ und „Lebensstil“ würden viele Analogien aufweisen. Meditationstechniken haben in Nodas Gruppen einen hohen Stellenwert. Sie würden die Achtsamkeit und die Bewusstheit auf das Hier und Jetzt ausrichten und darauf abzielen, sich selbst besser als zu dieser Welt zugehörig zu erfahren. Zur Bedeutung von Gruppentherapie führt Noda aus, dass es „meist fast bedeutungslos“ (Noda 1989, 122) sei, Gemeinschaftsgefühl zu predigen. „Die einzige Möglichkeit zu wissen, was Gemeinschaftsgefühl ist, besteht darin, es zu erfahren“ (ebd., 122), etwa in der Verbundenheit einer gemeinsamen Meditation. Meditation hat nach Noda fünf nützliche Wirkungen (ebd., 123): 1. 2. 3. 4. 5.
verbessert die Fähigkeit, die Realität zu überprüfen, verringert Minderwertigkeitsgefühle, fördert Selbstannahme, erleichtert Veränderungen des Lebensstils, hilft Gemeinschaftsgefühl zu entwickelt.
Rudolf Dreikurs, der Gründervater der „klassischen“ individualpsychologischen Methode Rudolf Dreikurs stellte schon 1922 erste gruppentherapeutische Versuche an (vgl. Spiel 1950, 169), zunächst im stationären Setting der neurologischen Klinik in Wien und später auch ambulant in seiner Praxis. Im Rahmen einer Sitzung der Ärztlichen Arbeitsgemeinschaft des Wiener Vereins für Individualpsychologie vom 13.5.1930, geleitet von Erwin Wexberg, hielt er einen Vortrag über die damals noch „Kollektivtherapie“ genannte Gruppenpsychotherapie, den er später publiziert hat (Dreikurs 1958, 845 ff.). Demnach war Adler der erste, der mit Gruppen Öffentlichkeit in die Therapie gebracht hat. Auch systemische Ansätze werden vertreten: „Wir behandelten immer die ganze Familie, nicht den vereinzelten Kranken. Die Gruppe war daher für uns immer eine natürliche Gegebenheit, ob sie nun auf die Familie beschränkt war, oder darüber hinausging“ (Dreikurs 1958, 846). 1930 schon wurden von Dreikurs, Wexberg und anderen Autoren wesentliche Wirkfaktoren und Phänomene erwähnt. So ist beispielsweise jedes Gruppenmitglied in das Übertragungsnetzwerk eingebunden, oder in das „Beziehungsgefüge“ (Spiel 1950, 168) und im Gegensatz zur Einzeltherapie steht nicht nur ein konkretes Zielobjekt für Übertragungsprozesse zu Verfügung, sondern es sind mehrere, was für den Therapeuten manchmal
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auch entlastend sein kann: „Eines der wichtigsten Ergebnisse scheint, dass sich in der Kollektiv-Therapie nicht alles gegen den Arzt richtet“ (Dreikurs 1958, 846). Auch die „Universalisierung“ (Yalom 2010, 28 ff.) wurde schon 1930 angesprochen: „Das Gefühl der Einzigartigkeit ihrer Beschwerden (wird) gründlich zerstört“ (Dreikurs 1958, 847).
5.4.3 Individualpsychologische Großgruppen Zu den ambitioniertesten Gruppenprojekten von Individualpsychologen gehören mit Sicherheit die Großgruppenexperimente von Friedrich Liebling, der nach seinem Studium in Wien 1938 nach Schaffhausen emigrierte, und vom 45 Jahre jüngeren Josef Rattner, der als junger Mann von Liebling adoptiert worden war. Rattner selbst schreibt über seine Beziehung zum Adler-Schüler Liebling und zur Individualpsychologie: „Wir standen auf dem Boden der Individualpsychologie, die wir umsichtig weiterentwickelten. Vor allem begründeten wir damals die Großgruppentherapie, die ein Novum in der Psychotherapie darstellte“ (Rattner 2002, 177). Die Züricher Großgruppe wurde 1952 gegründet und bestand dort zunächst noch weiter, nachdem Rattner 1967 nach Berlin ging, um dort eine eigene Großgruppe zu gründen, die im Gegensatz zur Züricher Gruppe, die 1986 in den Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM) überging und sich 2002 auflöste, als therapeutische Gruppe langzeitlich Bestand hatte. Rattner vertritt die Auffassung, dass es sich bei seinen Großgruppen um eine „wertvolle Innovation“ und um „ein geeignetes Therapie- und Lernmilieu“ (ebd., 180) handle, denn in der Gruppe würden sich „Helfer und Kollegialität“ sowie „idealistische Freunde und Gesinnungsgenossen“ (ebd., 181) finden. Ronald Wiegand sieht allerdings bei derartigen Großgruppenmodellen, die eine spezielle Form des Zusammenlebens repräsentieren würden, Analogien zu religiösen Gemeinden. Die Gruppe solle Heimat bieten und „wo ICH war, soll WIR werden“ (Wiegand 2002, 367). Die Gruppen seien sehr hierarchisch strukturiert, mit einer klaren Führungsrolle der Therapeuten und einer Oberschicht gegenüber den Neulingen und Novizen. Wiegand sieht weiters Entsprechungen zur „totalen Institution“, einem Begriff, der vom Soziologen Erving Goffman 1961 geprägt wurde und zum Ausdruck bringt, dass eine Institution wie ein Asyl, ein Kloster oder eine Kaserne einen allumfassenden Charakter annehmen könne. Eine sekundäre Anpassung unter Aufgabe der bisherigen Identität sowie die Forderung absoluter Loyalität würden gefordert. Wiegand schreibt u. a. auch psychotherapeutischen Instituten einen totalitären Charakter zu. Kurt Hemmer (Hemmer, 375 ff.) sieht die Großgruppenmodelle nicht so negativ und gesteht dem Konzept von Josef Rattner zu, dass es den Vorwurf, die Individualpsychologie verfüge über keine eigene Gruppenkonzeption, entkräfte und er kommt in seinen Betrachtungen zur Großgruppentherapie zum Schluss, dass die „RattnerGruppe“ im Gegensatz zur psychoanalytischen Großgruppe als „alleinige Therapie für hilfesuchende Menschen [. . . ] durchaus geeignet ist“ (ebd., 384).
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5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie
5.4.4 Die therapeutische Gemeinschaft Nach Thomas Reinert konstituiert sich diese durch die lebensstiltypische Teilhabe der einzelnen Mitglieder und kann für die Wahrnehmung, Thematisierung und Bearbeitung individueller, struktureller oder Beziehungsprobleme genutzt werden (Reinert 2002, 260). Sie kann auch als fortlaufende Großgruppe verstanden werden, in der der Leiter „die wesentliche Aufgabe [hat], die Arbeitsebene zu erhalten“ (ebd., 260). Joshua Bierer war ein früher Vertreter dieses Ansatzes. Aus Wien stammend absolvierte er eine individualpsychologische Ausbildung und bezeichnete sich nach Clarke als „grateful disciple“ (Clarke 2004, 52) von Alfred Adler. Er emigrierte nach London und etablierte im stationären Bereich sozialpsychiatrische Konzepte, in welchen er individualpsychologische Ideen konsequent verwirklichte und unter anderem auch die erste Tagklinik Englands begründete. Clarke berichtet, dass der Marxist und Zionist Bierer unterschiedliche Formen von Einzel- und Gruppentherapie sowie von Rehabilitation und Resozialisation kombinierte und sich als den Erfinder der „British social psychiatry“ bezeichnete. Mehr als Maxwell Jones soll er in der therapeutischen Gemeinschaft auch Pflegepersonal als „occupational therapists“ in den Prozess einbezogen haben. Es soll ihm auch gelungen sein, in seinen Einrichtungen eine sehr liberale Atmosphäre zu schaffen und Clarke schreibt über ihn, dass er ein Repräsentant des Liberalismus wurde. Vielleicht sei er vor allem deshalb, weil er sich früh zur Ruhe setzte, nicht wie Maxwell Jones oder Wilfred R. Bion zu einer der „Legends in British Psychiatry“ (ebd. S. 62) geworden. Foulkes, der mit Bierer offensichtlich schon seit der gemeinsamen Zeit in Wien befreundet war, schreibt über ihn, dass er „große Verdienste als Pionier eines therapeutischen Ansatzes innerhalb der Krankenhausgemeinschaft sowie in Tageskrankenhäusern und therapeutischen Klubs“ (Foulkes 2007, 18) erworben hätte. Über eine individualpsychologisch fundierte therapeutische Gemeinschaft in der stationären Drogentherapie habe ich 2010 anlässlich einer Tagung mit dem Vortrag „Die stationäre Drogentherapie als eine praktische Anwendung der Individualpsycholgie nach Adler und Dreikurs“ berichtet. Dabei gibt es über den Tag und die gesamte Woche eine strukturierte Abfolge von Einzeltherapien, Klein- und Großgruppen, Psychoedukation und Sozio- und Erlebnistherapie, verbunden mit einem achtsam-respektvollen und wertschätzenden gegenseitigen Umgang „auf Augenhöhe“, mit demokratischer Mitbestimmung und mit Partizipation, beispielsweise durch die Teilnahme von Patientinnen und Patienten an den Teamsitzungen und an verschiedenen Planungs- und Entscheidungsprozessen. Dabei spielen auch weitere individualpsychologische Elemente wie Zusammenarbeit, „Lernen aus Konsequenzen“ oder eine genaue Analyse und Bearbeitung von offenen oder subtilen Entwertungsvorgängen sowie die Ermutigung, aktive Verantwortung für das gemeinsame Projekt einer Drogenstation zu übernehmen, eine große Rolle.
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5.4.5 Einteilung individualpsychologischer Gruppenpsychotherapien Kurt B. Günther schreibt in seinem Wörterbuchbeitrag über „Individualpsychologische Gruppentherapie“ (Günther 2007, 306 f.), dass es zwei Richtungen gebe, die sich an unterschiedlichen Konzepten orientieren würden: Zum einen an der Gruppenpsychoanalyse von S. H. Foulkes, zum anderen am „klassisch-individualpsychologischen, zielorientierten Arbeiten mit Lösungen und Stärken“. Ich möchte an dieser Stelle versuchen, diese Einteilung noch etwas zu erweitern und in weiter Folge zu erläutern. 1. Gruppen, die direkt aus der Individualpsychologie hervorgegangen sind 1.1. Klassische individualpsychologische Gruppenpsychotherapie 1.2. Individualpsychologische therapeutische Gruppenarbeit in Pädagogik und Erziehung 1.3. Die individualpsychologische Großgruppe 1.4. Therapeutische Gemeinschaften auf der Grundlage der Individualpsychologie 2. 2.1. 2.2.
2.3. 2.4.
Individualpsychologische Gruppen mit Bezug zu anderen Konzepten und Techniken Analytische Gruppenkonzepte (nach Foulkes, Hegel-Evers oder Bion): s. z. B. Gfäller über Gruppenanalyse (Gfäller 1988; Gfäller 2002, 50 ff.) Andere Verfahren wie Psychodrama, Gestaltpsychologie, Musiktherapie oder Körpertherapie; s. z. B. Seidel über Körpertherapie und Psychodrama (Seidel 2002a, 305 ff.; Seidel 2002b, 322 ff.) Integrative Konzepte z. B. „Individualpsychologische Gruppenanalyse“ nach Schmidt 1996 Individualpsychologische Elemente in Gruppentherapien für bestimmte Situationen oder Patientengruppen Damit sind beispielsweise Gruppenpsychotherapie im stationären Kontext oder Gruppenpsychotherapie für Kinder und Jugendliche, Suchtkranke oder für Borderline-Patienten gemeint, z. B. die „Individualpsychologische Lebensstil-Fokal-Analyse“ nach Reinert für stationär oder ambulant behandelte Suchtpatienten (Reinert 2000, 35 ff.).
5.4.6 Die „klassische“ individualpsychologische Gruppenpsychotherapie Dabei handelt es sich um eine Fortführung der Konzepte von Adler und Dreikurs, die sich vor allem in den USA und Kanada erfolgreich etabliert haben. Sie werden auch in Europa weiterhin praktiziert, insbesondere im Kontext von Beratung und Training. Die Art und Weise, wie Adler selbst öffentliche Gruppenberatungen abhielt, hat in den USA mit dem „large, open-forum group model“ (Sonstegard et al. 2004, 96) eine konsequente Fortsetzung gefunden.
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5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie
Rudolf Dreikurs, der 1935 nach Chicago emigrierte, arbeitete auch dort mit Gruppen und gewann mehrere Persönlichkeiten wie Raymond Corsini oder Manford A. Sonstegard als enge Mitarbeiter. Von Rudolf Dreikurs selbst erschien in den USA 1960 ein Buch über Gruppenpsychotherapie und es entwickelte sich die „Teleoanlyse“. Dreikurs und Sonstegard publizierten 1968 einen Text mit dem Titel „The teleoanalytic approach to group counseling“ (Sonstegard et al. 2004, XX) und es heißt, dass diese Methode „a destillation of some of the significant ideas of Alfred Adler as applied to group work“ (ebd., X) darstellt. Zu den Adlerianischen Elementen, die in die Gruppenarbeit integriert werden, gehören u. a.: „holism, teleological orientation, community feeling and social interest, lifestyle and its assessment and the encoauragement process“ (ebd.). Für den Gruppenprozess stellen die Autoren ein Fließdiagramm zu Verfügung, wobei „The Question“ (ebd., 61) eine große Rolle spielt, also die sogenannte „Vermeidungsfrage“, in welcher gefragt wird, was der Patient oder die Patientin tun würden, wenn er oder sie von heute auf morgen von den Beschwerden und Problemen befreit würden. Daraus ließen sich diagnostische Rückschlüsse auf neurotische Abwehrstrategien ziehen. Die klassische adlerianische Methode stellt keinen Anspruch auf tief gehende Persönlichkeitsänderung, auf eine tiefenpsychologische Bearbeitung von intrapsychischen Konflikten oder die Bearbeitung von Aspekten von Übertragung und Gegenübertragung. Begriffe wie „transference“ oder „countertransference“ wird man im Stichwortverzeichnis vergeblich suchen. Dafür werden vorbestehende Rahmenbedingungen wie die Anzahl der Stunden pro Woche oder vorgegebene Gruppenregeln abgelehnt, weil dies als autoritäre Vorgabe und Machtdemonstration verstanden werden könnte. Vielmehr sollten die Vereinbarungen gemeinsam und demokratisch ausgehandelt werden. Auch die Dauer einer Gruppe ist nicht vorgegeben. Es soll so intensiv gearbeitet werden, als ob es nur diese eine Stunde gäbe. Max Friedrich (1978, 108 ff.) weist ebenfalls auf die Problematik von Machtdemonstrationen durch die Gruppenleitung hin. Er rechnet auch Schweigen und Abstinenz dazu. Der Behandler sollte über eine gesellige und herzliche Reaktionsfähigkeit verfügen, aber auch den Mut haben, als „living person“ seine Gefühle erkennen zu lassen. Friedrich bekennt sich zu einem aktiven Stil des Gruppenleiters, der Meinungen äußern sowie eindeutig und authentisch sein soll. Auffassungsunterschiede zwischen nordamerikanischen und deutschsprachigen Autoren Im Jahr 2000 erfolgte durch Henry Stein (San Francisco) und Martha Edwards (New York) in der Zeitschrift für Individualpsychologie eine Darstellung einer Variante der klassischen Methode, in welcher es um die Arbeit mit mangelnden Entwicklungserfahrungen geht (Stein u. Edwards 2000, 100 ff.). Darin werden u. a. auch die Grundzüge klassischer adlerianischer Psychotherapie mit ihren zwölf Stadien dargestellt: 1. Empathie/Beziehung, 2. Information/Anamnese,
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3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
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Klärung der Problematik mittels sokratischen Dialogs, Ermutigung, Erkenntnisse hinsichtlich des Minderwertigkeitsgefühls, Verstehen des Lebensstils, Angebot korrigierender Entwicklungserfahrungen, z. B. mit Rollenspiel, aktiver Imagination und anderen kreative Methoden, Entwicklung neuer Handlungsmuster, Verstärkung, Gemeinschaftserfahrung, Formulieren neuer Ziele, Unterstützung und Förderung, Nachtherapeutischer Dialog über Werte und Sinnfragen.
Allgemein geht es um einen „diplomatischen, warmen, empathischen und sokratischen Behandlungsstil“ mit einer Atmosphäre von Respekt und Gleichwertigkeit. Die Methode könne sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting angewendet werden. Im praktischen Teil wird auf die Problematik einer Teilnehmerin einer Ausbildungsgruppe eingegangen, die darüber getrauert hätte, dass ihre Mutter sie nicht hätte haben wollen. Dabei wurde die Situation genutzt, dass fünf Frauen anwesend waren, die in mehreren Rollenspielen nach Art einer „multiplen Mutter“ Eigenschaften verkörpern sollten, die sich die Teilnehmerin von ihrer Mutter gewünscht hätte. In den Kommentaren mehrerer psychoanalytisch orientierter individualpsychologischer Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Österreich wird harsche Kritik geübt, die teilweise sehr heftig und polemisch ausfällt. Von einer „Variante des Themas Frankenstein“ (Tenbrink 2000, 134) wird gesprochen, von „undynamisch, eindimensional und dirigistisch“ (ebd., 135), „Theorienachlässigkeit“ (ebd., 137) oder einer „Neigung zu omnipotenter Beherrschung und Manipulation der Patienten“ (ebd.). In einem anderen Kommentar mit dem Titel „Deutsche Psychoanalyse“ wird von einer „typisch (?) europäischen Überheblichkeit“ (Wiegand 2000, 149 ff.) gesprochen, die nach der Lektüre dieses Artikels entstehen könnte. Auf einer Metaebene betrachtet gibt diese Artikelfolge jedenfalls spannende Einblicke in die gespaltene Identität der Großgruppe „Internationale Individualpsychologische Vereinigung“.
5.4.7 Integrative Konzepte Therapeuten aus dieser Gruppe sehen die Individualpsychologie als wesentliche Elemente ihrer Konzepte, verstehen sich aber auch als Vertreter einer analytischen Tradition und sind offen hinsichtlich der Integration anderer, insbesondere non-verbaler Techniken wie Körpertherapie, Psychodrama, Musiktherapie, bildnerisches Gestalten und andere. Non-verbale Techniken Über deren Sinnhaftigkeit in der Gruppenarbeit heutzutage noch Grundsatzdiskussionen zu führen, gilt entsprechend der Literaturübersicht als müßig, sie sind schon
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längst selbstverständlicher Bestandteil vieler Konzepte. So schreibt beispielsweise Seidel, dass „die Bereicherung der analytischen Psychotherapie durch körperorientierte Verfahren vollzogen“ (Seidel 2002a, 321) sei. Rainer Schmidt hat schon vor über 20 Jahren dazu geschrieben: „Alle gestalterischen Ausdrucksmittel wie Spiel, Tanz, schöpferisches Gestalten oder Pantomime sind im gruppentherapeutischen Prozess anwendbar“ (Schmidt 1989b, 426). Das „transaktionale Wirkungsgefüge“ Günter Heisterkamp betont, dass sich ein vielschichtiges „transaktionales Wirkungsgefüge“ (Heisterkamp 1986, 349) schon manifestiere, bevor eine verbale Interaktion überhaupt abgelaufen sei. In der Gruppe würden lebensstiltypische Wirklichkeiten belebt und eingefahrene Sicherheitsmechanismen reaktiviert, nicht nur bei den Teilnehmern, sondern auch beim Leiter. Die „teilnehmende Interaktion“ (ebd., 359) ermögliche komplexe Lernprozesse, insbesondere in „kooperativen Formen des Miteinanders“ (ebd., 360). Der Gruppenprozess korrespondiere mit dem Wandlungsprozess der Einzelnen, sowohl in der Progression als auch im Widerstand, welcher der lebensstiltypischen Sicherung der alten Muster diene. Mit dem „dialektischen Prinzip der alternierenden Akzeptierung und Verweigerung“ (ebd., 365) wird auf die schwierige Lage des Gruppenleiters hingewiesen, wonach einerseits der empathische Bezug zu allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bewahrt werden müsse, andererseits müsse eine Distanzierung vom Kollektiv erfolgen, sofern Sicherungstendenzen vorherrschen würden. Deuten könne die Entwicklung des Gruppenprozesses blockieren. 17 Jahre später geht Heisterkamp erneut auf das „Wirkungsgefüge“ ein, das einer spezifischen Strukturierung bedürfe, um heilsam wirken zu können. Er spricht von einem Möglichkeitsraum und Spielraum, worin der Patient seine biografischen Ressourcen und seine schöpferischen Kräfte zur Entfaltung bringen sowie neue Stellungnahmen zu den Lebensaufgaben erfinden und erproben könne. Dabei spiele die „vorauseilende Liebe des Therapeuten“ (Heisterkamp 2003, 302), eine große Rolle, damit sich Beziehungserfahrungen ereignen könnten, in denen sich der Patient „wahrgenommen, angenommen, begrüßt, willkommen geheißen und geliebt fühlt“ (ebd.). Individualpsychologische Gruppenanalyse nach Rainer Schmidt Auch Rainer Schmidt sieht im Gemeinschaftsgefühl ein zentrales Element der Individualpsychologie. Durch die Erfahrung der zwischenmenschlichen Beziehungen könne in der Gruppengemeinschaft ein gesundes Identitäts-, Selbstwert- und Selbstgefühl entwickelt werden, aber auch Verantwortung könne geübt werden. Nach seiner Überzeugung bietet die Gruppe mehr als andere Settings die Möglichkeit, durch die Rückmeldungen der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Wirkung eigener Äußerungen und Handlungen sehr unmittelbar zu erfahren. Ein und dieselbe Äußerung könne bei mehreren Personen sehr unterschiedliche und individuelle Reaktionen bewirken, was essentiell zum Wesen der Schule Alfred Adlers gehöre, die jeden Menschen als einzigartiges und individuelles Wesen verstehe. Zur Gemein-
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schaft gehöre, das „Wir“ in den Vordergrund stellen: Die Individualpsychologie „ist eine Psychologie des Wir“ (Schmidt 1987, 156). Ein Therapeut solle Mitgefühl haben und zeigen dürfen. Ein Therapeut, der sich aus der gemeinsamen Betroffenheit flüchte, sei wenig hilfreich. Schmidt (Schmidt 1989b, 420 ff.) betont in einem anderen Text, der erstmalig 1982 in seinem Lehrbuch erschienen ist und von Gfäller hinsichtlich individualpsychologischer Gruppenpsychotherapie als „erstes Konzept“ (Gfäller 1995, 219) bezeichnet wird, dass die Individualpsychologie, auch wenn sie eine Tiefenpsychologie ist, eine gewichtige sozialpsychologische Tradition habe. Somit könne ein individualpsychologisches Gruppentherapiemodell nicht in erster Linie von einem energetisch-triebdynamischen Ansatz ausgehen. Stattdessen sollte es sich auf die wichtigsten individualpsychologischen Grundannahmen beziehen, nämlich die „Gleichwertigkeit des Menschen in der Gemeinschaft“ und die „finale Ausrichtung aller Ausdrucksformen des Menschen“ (Schmidt 1989b, 422). Sämtliche Kindheitserinnerung sowie sämtliche aus der Kindheit aufscheinende Bilder und Phantasien seien in Verbindung mit der tendenziösen Apperzeption zu sehen. Dabei handelt es sich um ein fundamentales Konzept der Individualpsychologie, wie es etwa von Alice Rühle-Gerstel mit dem Satz: „Die Individualpsychologie lehrt uns, dass alles tendenziös vor sich geht“ (Rühle-Gerstel 1930, 53) auf einen kurzen Nenner gebracht wird. Auf Begriffe wie „Übertragung“ oder „Gegenübertragung“ möchte Schmidt nicht verzichten. Die Gegenübertragungen des Analytikers seien, verglichen mit denen in der Einzelanalyse, gleichzeitig komplexer und abgemilderter (Schmidt 1996, 199). Gerade weil der Therapeut auch als Mitbetroffener in den Prozess der Gruppe eingebunden sei, sollte er „eine für die Gruppenteilnehmer erkennbare Person sein“ (ebd.). Und: „Er kann und soll z. B. auch über sich Auskunft geben. Das hat mit dem Verzicht auf Abstinenz nichts zu tun“ (ebd.). Traumarbeit in der Gruppenpsychotherapie nach Rainer Schmidt Dazu beschreibt Schmidt seine Vorgangsweise in folgenden fünf Schritten (Schmidt in Lehmkuhl 2002, 340 f.): 1. Der Träumer erzählt seinen Traum, welcher im analytischen Prozess der Gruppe fast immer auf der Linie der von der Gruppe jeweils aktualisierten Problematik liegt. 2. Der Gruppenleiter wiederholt den Traum und vergewissert sich, dass der Traumtext genau erfasst wurde. 3. Alle Gruppenmitglieder meditieren über den Traum, nehmen ihn in sich hinein, sie versuchen ihn zu ihrem eigenen Traum zu machen, entwickeln dabei eigene Bilder und achten auf Widerstände und eigene Themen, die für sie bei dieser Traumreise deutlich werden. 4. Jedes Gruppenmitglied berichtet über sein Erleben und seine Erfahrungen mit dem Traum, wobei durchaus sehr unterschiedliche Aspekte des Traumes ausgeleuchtet werden.
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5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie
5. Der Träumer reflektiert die Angebote aus der Gruppe und teilt seine Wahrnehmungen und Gefühle mit. Zu dieser Arbeit hat Schmidt im Rahmen eines Traumseminars bei den Lindauer Psychotherapiewochen ausgeführt, dass jeder Traum ein Problem anspreche und auch eine Lösung enthalte. Schmidt hat auch noch einen sechsten Schritt vorgeschlagen, wonach alle Gruppenmitglieder mittels aktiver Imagination versuchen können, den Traum „als gelenkten Tagtraum weiterzuträumen“ (Schmidt 1989b, 426), um zu sehen, welche Möglichkeiten und Optionen er noch enthalte. Über die Einbeziehung musiktherapeutischer Elemente Die Einbeziehung musiktherapeutischer Elementen im Rahmen der stationären Suchtkrankenbehandlung habe ich 2001 beschrieben (Wölfle 2001, 304–319) und darauf hingewiesen, dass durch die verschiedenen Wahrnehmungen, Assoziationen und Verarbeitungen eines Geräusches, eines Klanggebildes oder eines improvisierten Musikstückes ein differenziertes Gesamtbild entstehen kann, aus welchem sehr gut auf Ambivalenzkonflikte mit all ihren Spannungen und auf lebensstiltypische Aspekte geschlossen werden kann. Die Vielschichtigkeit und Gegensätzlichkeit der Beiträge aus der Gruppe erleichtert es, Distanz zur tendenziösen Apperzeption herzustellen und zu einer komplexen Sicht einer Situation zu kommen, da all die unterschiedlichen Gefühle und Bedürfnisse integriert sind, die die Gruppenteilnehmer wahrgenommen und gespürt haben. In der gemeinsamen Reflexion entsteht ein differenziertes Gesamtbild, welches das Potential in sich trägt, isoliertes und bisher unverstandenes Material in einen stimmigen Kontext zu bringen und in seiner Bedeutung zu verstehen. In der Arbeit mit musiktherapeutischen Medien kann aber auch ein freies Gruppenspiel und somit das kollektive Unbewusste der Gruppe aufgeführt und zum Klingen gebracht werden. Neben der sekundären verbalen Bearbeitung dieser Erfahrung lässt sich auch die Freude am gemeinsamen Spiel erleben – nicht selten als lustvoll erlebtes Gemeinschaftsgefühl pur. Eine gemeinsame Improvisation stellt ein eigenständiges und unverwechselbares Werk der Gruppe dar. Manchmal sind alle Beteiligten stolz auf das, was sie geschaffen haben, was für die Entwicklung des Selbstwertgefühls sehr hilfreich ist. Nicht zuletzt können alle Beteiligten die angenehme Erfahrung machen, dass Psychotherapie auch Spaß machen kann und dadurch eine bessere Motivation gewinnen, begonnene Prozesse auch nach der stationären Therapie fortzusetzen. Input und „wildes Assoziieren“ in Settings außerhalb der Psychotherapie Wie oben dargestellt wurde, ist die Abfolge von Input, Assoziation, Reflexion und Integration ein Merkmal verschiedener Settings, wobei es von untergeordneter Bedeutung ist, ob der Input verbal oder nonverbal erfolgt.
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Der Analytiker Mathias Lohmer zeigt, dass sich diese Technik auch in der Organisationsberatung bewährt und beruft sich dabei u. a. auf Michael Balint. So erfolgt nach einer Fallschilderung in einer Gruppe ein „wildes Assoziieren“ (Lohmer 2000b, 28), während sich der Referent ausblendet. Dieses regressive und „ungesteuerte, springende Gesprächsgeschehen erlaubt einen Zugang zum Unbewussten“ (ebd.). Die „verblüffende Erfahrung“ (ebd.) bestehe darin, dass sich die nicht erkannte Problematik des Referenten geradezu zwangsläufig auf die Gruppe übertrage, deren Teilnehmer sich in die psychischen Befindlichkeiten des Anderen einfühlen und an dessen inneren Welt teilhaben würden. Was Lohmer als „Muster der inneren Welt“ (ebd., 29) beschreibt, ist mit dem individualpsychologischen Konzept des Lebensstils gut kompatibel. Auch für Lohmer liegt der Schlüssel für Änderung im Verstehen komplexer und unbewusster Zusammenhänge. Die Inszenierung im Hier und Jetzt der Gruppensituation förderte die kreative Erhellung von Zusammenhängen, die durch rationales Überlegen allein nicht evident würden.
5.4.8 Diskussion und Zusammenfassung: Die „Marke“ Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie Auf die Frage, wie weit es gerechtfertigt ist, schulenspezifische Theorien auf die Gruppenpsychotherapie anzuwenden, wurde anfangs schon eingegangen. Die Überzeugung des Psychoanalytikers Foulkes und Begründers der Gruppenanalyse, dass die Anwendung der Konzepte der Psychoanalyse für die Gruppenpsychotherapie nicht zulässig sei, wurde ebenfalls schon erwähnt. Demnach kann die Analyse einer Einzelperson nicht mit der Analyse einer Gruppe und ihrer Matrix verglichen werden (vgl. Foulkes 2007, 10). Eine schulenspezifische Zuordnung „würde die grundsätzliche Bedeutung der Gruppensituation an sich übersehen“ (ebd., 11). Im Gegensatz dazu heißt es jedoch in einem psychotherapeutischen Lexikon der Psychotherapie, die Gruppenanalyse sei eine „Form der Gruppenpsychotherapie, die sich der Konzepte der Psychoanalyse bedient“ (Peters 2007, 223). Derartige Aussagen müssen nach der Auffassung von Foulkes und anderen verworfen werden – und Foulkes muss es wissen, schließlich gilt ja er als derjenige, der die Gruppenanalyse als Gruppenanalytischen Psychotherapie begründet hat. Eine konstruktive Lösung dieser Frage bietet Irvin D. Yalom in seinem aktuellen Lehrbuch über Gruppenpsychotherapie an. Er hält eine Trennung zwischen „Fassade“ und „Kern“ (Yalom 2010, 12 ff.) für sinnvoll. Die Fassade besteht demnach aus „dem Aufputz, der Form, den Techniken, der Spezialsprache und der Aura, die jede ideologische Schule umgibt“ (ebd.) Der Kern hingegen besteht aus „den Aspekten des Gruppenerlebens, die für den therapeutischen Prozess entscheidend sind: den eigentlichen Veränderungsmechanismen“ (ebd.), die er früher auch „Heilfaktoren“ genannt hätte, jetzt aber nicht mehr, da Veränderung oder Entwicklung realistisch, hingegen Heilung oft nur eine Illusion sei. Psychoanalyse, Individualpsychologie, Psychodrama oder andere Schulen sind demnach eindeutig der Fassade zuzuordnen. Sie machen sozusagen die Marke des
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5.4 Individualpsychologische Gruppenpsychotherapie
jeweiligen Produkts aus. Somit reduziert sich die Untersuchung der Frage nach der Individualpsychologischen Gruppenpsychotherapie darauf, was denn nun die „Marke Individualpsychologie“ ausmacht: 1. Gemeinschaftsgefühl Die meisten individualpsychologischen Autoren betonen den Aspekt der Gemeinschaft. Allerdings wurde dieser Begriff sehr kontroversiell benutzt, um nicht zu sagen missbraucht. „Gemeinschaftsgefühl“ operationalisierbar und zur Grundlage einer Technik zu machen, wurde wiederholt versucht, eine übereinstimmende Lösung scheint aber noch nicht gefunden. 2. Die Lebensstile der Gruppenmitglieder Weiters ist auch die Analyse der Lebensstile als kompensatorisches Verhaltensmuster mit ihrer Dialektik aus Kausalität und Zweckgerichtetheit ein spezifisches individualpsychologisches Merkmal, das sämtliche Übertragungsaspekte im Beziehungsgefüge einer Gruppe konstituiert. 3. Andere individualpsychologische Aspekte Genannt und in die verschiedenen Konzepte integriert sind individualpsychologische Begriffe wie die tendenziöse Apperzeption, Kompensation, die schöpferische Kraft oder die ganzheitliche Sicht des Individuums in seine Eingebundenheit in der Gruppe als soziale Gemeinschaft und in der Gesellschaft. 4. Individualpsychologische Haltung Dabei geht es vor allem um Partnerschaftlichkeit, Wertschätzung, Vermeidung offener und subtiler Entwertung, Kooperation, Partizipation, gegenseitige Verantwortlichkeit, Mitgefühl sowie um eine konsequente nicht autoritäre und demokratische Einstellung. Bei aller Kritik an der klassischen Methode und den überzeugenden integrativen Konzepten von Schmidt, Heisterkamp und anderen ist es gerechtfertigt, am Ende eines Artikels über Individualpsychologische Gruppentherapie den Beitrag und das Engagement von Rudolf Dreikurs explizit zu würdigen. Er war wohl der erste Individualpsychologe, der Settings entwickelt hat, wie sie heute noch angewendet werden. Dreikurs hat wie Adler selbst die gesellschaftspolitische Bedeutung der Individualpsychologie im Allgemeinen betont und in der Gruppentherapie mit ihren sozialpsychologischen Aspekten und ihrer demokratischen Sprengkraft im Besonderen. Nicht umsonst gehören Gruppenbildungen und Ansammlungen von mehreren Personen zum Ersten, was in repressiven und diktatorischen Systemen verboten wird. Um offen über sich sprechen zu können, müssen sich der Gruppenleiter oder die Gruppenleiterin um ein Klima der Gleichwertigkeit, der radikalen Akzeptanz und einer partnerschaftlichen Kooperation bemühen – im Dienste von Befreiung und Freiheit. Denn diese „ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der Gruppenpsychotherapie und der Grund, warum sie nur in einer wirklich demokratischen Atmosphäre geübt werden kann“ (Dreikurs 1958, 848).
5.5 Erziehung – Schule – Pädagogik Brigitte Sindelar
5.5.1 Individualpsychologische Erziehung als interdisziplinäre Verantwortlichkeit Psychotherapie und Pädagogik haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: jedwede Technik, die der jeweiligen Profession zur Verfügung steht, hat als conditio sine qua non ihrer Anwendbarkeit die Beziehung zum Kind. Beide bedürfen der Beziehung zum Kind, um wirksam zu werden, wobei die Kinderpsychotherapie die Heilung von psychischen Störungen, die Pädagogik die Bildung in ihren Mittelpunkt stellt. Die Verschränkung der beiden Anliegen findet sich bereits im Sammelband „Heilen und Bilden“ (Adler u. Furtmüller 1913). Auch die aktuelle Individualpsychologie setzt sich mit der Beziehung zwischen Psychotherapie und Pädagogik auseinander: Datler diskutiert Psychotherapie als Spezialfall pädagogischer Praxis (Datler 2005b, 2006a, 2006b). Stephenson analysiert die Psychoanalytische Pädagogik in seiner Auseinandersetzung mit dem Paradigmenbegriff, da es sich dabei um „. . . jene Version der Pädagogik handelt, die auf dem Paradigma der Tiefenpsychologie aufbaut und dieses in ihre Modelle und Konzepte pädagogischen Handelns zu integrieren versucht“ (Stephenson 2003, 24). Engel wiederum wird fündig auf ihrer „Spurensuche nach einer psychoanalytischpädagogischen Version eines Bildungsbegriffs“ (Engel 2008, 74 ff.), indem sie mittels Textanalyse von Publikationen, in denen Vertreterinnen und Vertreter der psychoanalytischen Pädagogik Aussagen zur Bildung getroffen haben, die Auswirkungen des psychoanalytischen Menschenbildes auf die Sichtweise von Bildung aufspürt. Die Nähe zwischen den beiden Disziplinen der Psychotherapie und der Pädagogik findet auch in der Wortwahl zu wissenschaftlichen Diskursen der Strömungen innerhalb der Individualpsychologie in Europa ihren Ausdruck, wenn Stephenson „die Polarität von ‚mütterlicher Liebestherapie‘, in der fehlende positive Erfahrungen nachgeholt werden können, und ‚paternistischer Vernunfttherapie‘, in der in strenger Abstinenz des Analytikers bzw. der Analytikerin Strukturveränderungen des Analysanden bzw. der Analysandin via Übertragungs-/Gegenübertragungsdeutung gefordert sind“, aufzeigt (Stephenson 2011a, 17). Erziehung als eines der Anwendungsfelder individualpsychologischen und psychoanalytischen Wissens zu verstehen ist nicht nur naheliegend, sondern eigentlich selbstverständlich, da in beiden Tiefenpsychologien frühkindliche Erfahrungen als Determinanten des Erwachsenendaseins in seelischer Gesundheit und psychischer
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5.5 Erziehung – Schule – Pädagogik
Störung gesehen werden. Darauf weist auch Adler hin: „Freud, dem wir die Aufklärung über die ungeheure Rolle infantiler Eindrücke, Erlebnisse und Entwicklungen beim Normalen und Neurotiker verdanken,“ (Adler 1904a, 27). Auch Freud war sich der Zuständigkeit der Psychoanalyse für Fragen der Pädagogik bewusst: „Nur an einem Thema kann ich nicht so leicht vorbeigehen, nicht weil ich besonders viel davon verstehe oder selbst soviel dazugetan habe. Ganz im Gegenteil, ich habe mich kaum je damit beschäftigt. Aber es ist so überaus wichtig, so reich an Hoffnungen für die Zukunft, vielleicht das Wichtigste von allem, was die Analyse betreibt. Ich meine die Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik, die Erziehung der nächsten Generation“ (Freud 1933a, 575 f.). Daher ist die intensive Beschäftigung mit Erziehungsfragen, wie sie von Sigmund Freuds Tochter Anna fokussiert wurde, eine logische Konsequenz psychoanalytischen Wissens. Dies würdigte auch ihr Vater: „Ich freue mich wenigstens sagen zu können, dass meine Tochter Anna Freud sich diese Arbeit zur Lebensaufgabe gesetzt hat, mein Versäumnis auf solche Art wiedergutmacht“ (ebd.). Wenngleich Freud selbst sich demnach als wenig mit Fragen der Erziehung befasst sah, so wurden seine oben zitierten Gedanken zur Anwendung der Psychoanalyse auf die Pädagogik von den Psychoanalytikern der ersten Stunde sehr wohl umgesetzt: die Pädagogin Anna Freud vernetzt Pädagogik und Psychoanalyse in ihren Vorlesungen: „Psychoanalyse für Pädagogen“ (A. Freud 1971), der Pädagoge und Psychoanalytiker August Aichhorn (1878–1948) wendet psychoanalytisches Wissen in der damaligen Fürsorgeerziehung verwahrloster Jugendlicher an (Aichhorn 1925), Anna Freuds Schüler, der Pädagoge und Psychoanalytiker Rudolf Ekstein (1912–2005) setzt sich in: „From Learning for Love to Love of Learning“ mit der Emotionalität des Lernens auseinander (Ekstein u. Motto 1969). Die Individualpsychologie war bereits in ihren Anfängen mit Themen der Erziehung und Pädagogik befasst und in ihrem Selbstverständnis der Vernetzung von Psychotherapie, Erziehung und Pädagogik, durchaus auch im Sinne einer primärpräventiven Zielsetzung, verbunden (Adler u. Furtmüller 1913; Seelmann 1926). Eine Reihe von Individualpsychologen hat sich in der Folge den Themen der Pädagogik und der Erziehung verpflichtet gefühlt. Die individualpsychologische Versuchsschule im 20. Wiener Gemeindebezirk, geführt von Ferdinand Birnbaum, Franz Scharmer und Oskar Spiel (vgl. Datler, Gstach u. Wininger 2009), belegt die Anwendbarkeit und Nützlichkeit individualpsychologischer Lehre außerhalb der Krankenbehandlung in der erzieherischen und pädagogischen Praxis. Wenn Oskar Spiel, ausgehend von der konkreten Darstellung von Konfliktsituationen im Schulalltag, das Leitbild pädagogischen Verhaltens einerseits in der Analyse des kindlichen Lebensstils, andererseits in der Ermutigung im Rahmen des Beziehungsgefüges zwischen Lehrern und Schülern darstellt (O. Spiel 1947), so bietet er damit einen Leitfaden an, der allerdings bis dato weiterhin nur mangelhaft im Rahmen der Schule seine Anwendung gefunden hat.
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Die individualpsychologischen Erziehungsberatungsstellen an den Volkshochschulen waren vom Sozialdemokraten Adler als niederschwellige Einrichtung zur seelischen Volksgesundheitsfürsorge für Kinder und Eltern konzipiert. Sie hatten einerseits den Charakter eines psychotherapeutischen Ambulatoriums, andererseits bot ihr Setting als „Lehrberatungsstelle“ in Verbindung von Praxis und Lehre Studierenden der Individualpsychologie die Möglichkeit der beobachtenden Teilnahme an psychotherapeutischen Sitzungen (vgl. Datler, Gstach u. Wininger 2009). Diese Anwendung der Individualpsychologie in der Erziehungsberatung mündete in der Stadt Wien in der Einrichtung von individualpsychologisch geprägten Beratungsund Psychotherapiezentren für Kinder und Jugendliche, den Instituten für Erziehungshilfe („Child Guidance Clinic“), deren Namensgebung durch die Verschränkung von „Guidance“ und „Clinic“ wiederum die Nähe von psychischer Störung und Erziehung impliziert. Auch die individualpsychologische Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung hat mittlerweile Tradition (Rüedi 1995). Diese individualpsychologische Kompetenz und Zuständigkeit wurde in den letzten zwanzig Jahren in Wien in Segmenten des Schulwesens institutionell realisiert, und zwar sowohl im Rahmen der Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern (s. Matschiner-Zollner 1995) als beispielsweise auch im Aufbau einer Berufsgruppe im öffentlichen Schuldienst, den Psychagoginnen und Psychagogen, die auf Initiative des Kinder- und Jugendpsychiaters und Individualpsychologen Max H. Friedrich in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ihre Arbeit innerhalb der Schulen im vorpsychotherapeutischen Feld aufnahm und in den folgenden Jahrzehnten in der Anwendung individualpsychologischen Gedankengutes im Methoden übergreifenden Dialog mit der Psychoanalyse im „Rudolf Ekstein Zentrum“ ihre Verankerung fand (siehe http://www.rez.at). Im Jahre 2010 erfuhr die „Psychagogik“ eine akademisierte Definition durch die Installierung eines universitären Master-Studienlehrganges unter individualpsychologischer Leitung durch Wilfried Datler. Die Anwendung der Individualpsychologie in Erziehung und Pädagogik wurde und wird international wahrgenommen und umgesetzt, wie zum Beispiel in den umfangreichen beratungsfokussierten Veröffentlichungen des in Wien geborenen und in Chicago verstorbenen Psychiaters Rudolf Dreikurs: „Kinder fordern uns heraus“ wurde sowohl im anglo-amerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum zum Klassiker der Erziehungsberatung (Dreikurs u. Soltz, 1964). Adler selbst stellt den Zusammenhang zwischen seelischer Gesundheit bzw. psychischen Störungen und Erziehung, in der er das präventive Potential erkannte, als gegeben dar, wenn er festhält: „Was den Arzt in allernächste Nähe zu den Erziehungsfragen bringt, ist der Zusammenhang der seelischen Gesundheit mit der körperlichen“ (Adler 1918d, 78). Diese Feststellung impliziert zudem eine die Professionen übergreifende, interdisziplinäre Zuständigkeit für Erziehungsfragen, was schon allein die Wahl des Untertitels: „Studien aus dem Gebiet der Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik“ der 1923 so benannten „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“ abbildet. (Datler, Gstach u. Wininger 2009, 11).
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5.5 Erziehung – Schule – Pädagogik
Dass auch die Nervenheilkunde mit Erziehungsfragen befasst zu sein hat, ist nach Adlers Ansicht unabdingbar: „Es zeigt sich insbesondere vom Standpunkt der nervenärztlichen Behandlung, von welcher ungeheuren Bedeutung ein wohlbegründetes, fundiertes Verständnis der Erziehungsfragen ist und wie notwendig es bis zu einer gewissen Grenze auch für jeden Arzt ist, die Erziehungsfragen zu beherrschen“ (Adler 1918d, 77). Diesem Auftrag Adlers folgte auch die Kinder- und Jugendps in Österreich, wie zum Beispiel die Serie im österreichischen Fernsehen: „Elternschule“ (1973 und 1974), gestaltet von Walter Spiel als Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut und Lida Winiewicz als Drehbuchautorin, zeigt, oder aber auch die an Eltern gerichteten Publikationen zur Erziehungshilfe des Kinder- und Jugendpsychiaters Max H. Friedrich „Kinder ins Leben begleiten“ (Friedrich 2003) und „Irrgarten Pubertät“ (Friedrich 2005) dokumentieren. Seit Adlers umfangreichen Schriften zu Erziehungsfragen blieb die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung der familiären und schulischen Erziehung für die Entwicklung des Charakters und der Neurosen ein integraler Bestandteil der Individualpsychologie (vgl. Datler, Gstach u. Wininger 2009).
5.5.2 Erziehung im Wandel der Zeit Erziehung ist schon im Wortstamm ein zur Ambivalenz anregender Begriff, vermittelt „ziehen“ doch die semantische Konnotation des Zwanges. Dennoch hat sich der gewalttätige und autoritäre Erziehungsstil der Antike, in seiner Ideologie zusammengefasst in dem Satz, der dem griechischen Komödiendichter Menandros (342–290 a. c.) zugeschrieben wird: „῾Ο μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται“ („der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen“) (zit. nach Goethe 2002, 7), bis heute erhalten. Die Langlebigkeit des gewalttätigen Erziehungsstils ist am Anfang des 17. Jahrhundert historisch belegt: So gibt 1601 König Heinrich IV. von Frankreich der Erzieherin seines Sohnes Louis, der im Alter von neun Jahren zu König Ludwig XIII. gekrönt wurde, als Maxime der Erziehung vor: „Ich befehle Ihnen, ihn immer zu peitschen, unabhängig davon, ob er willig oder ungezogen ist. Denn ich weiß aus meiner eigenen Erfahrung, dass mir selbst nichts besser getan hat“ [Anm.: Übersetzung aus dem Englischen B. S.] (Wallace, Franklin u. Keegan, 1994, zit. nach Slater u. Bremner 2006, 4). 1762 veröffentlichte Rousseau in seinem Roman „Emile“ seine Erziehungsideen, die, vom Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit des Kindes ausgehend, Erziehung als Unterstützung des kreativen Potentials des Kindes verstehen, dagegen die Einflüsse der Gesellschaft als Risiko für die kindliche Entwicklung befürchten (Rousseau
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1762). Erst 1989 wurde das Gewaltverbot gegen Kinder im österreichischen Gesetz verankert (BGBl. Nr. 162/1989, § 146a), wozu der österreichische Kinderarzt Hans Czermak (1913–1989) wesentlich beigetragen hatte. Erst zu Jahresbeginn 2011 wurden die UN-Kinderrechte in die österreichische Verfassung aufgenommen. Trotz der gesetzlichen Verankerung der körperlichen und seelischen Gewaltlosigkeit in der Erziehung, womit die Ohrfeige als Erziehungsmittel als gesetzeswidrig definiert ist, lässt die Schwererziehbarkeit der erzogenen Erzieher auch heute noch in der beratenden Elternarbeit dieser Idee, dass Gewalt ein geeignetes Erziehungsmittel sein könnte, begegnen. Ein Ehepaar adoptiert ein Waisenkind im Alter von knapp zwei Jahren aus einem Kinderheim, in dem die Betreuungsbedingungen das Überleben zur existenziellen Glanzleistung machen. Das körperlich und seelisch schwer verwahrloste Kleinstkind kann seine somatischen und kognitiven Defizite in der neuen Familie mithilfe seiner Adoptiveltern erstaunlich rasch aufholen. Was den Eltern aber große Mühe macht, sind die für sie unsichtbaren Narben auf der Seele des Kindes, die zu einer mangelnden Selbstkontrolle und Anpassungsfähigkeit an die sozialen Gegebenheiten und zu einer massiv erhöhten Angstbereitschaft des Kindes führen. Das Kind ist außerstande, sich im Kindergarten in die Gemeinschaft einzufinden, deren Spielregeln zu akzeptieren, Frustrationen ohne Wutausbrüche und tätliche Angriffe gegen andere Kinder zu ertragen. Da das Kind aber mittlerweile in seiner körperlichen Reife und seiner motorischen Geschicklichkeit sowie in seinen sprachlichen und anderen kognitiven Leistungen altersadäquat imponiert, bleibt den Adoptiveltern die emotionale und soziale „Unfertigkeit“ des Kindes nicht nachvollziehbar. Sie versuchen in der Folge, in Absprache und Übereinkunft mit den Kindergartenpädagoginnen, das Kind durch Strenge und „Konsequenz“, umgesetzt als Erpressung des Kindes, dazu zu bringen, sich den Gegebenheiten des sozialen Zusammenlebens anzupassen. Als die Appelle an den gut entwickelten Verstand des Kindes fruchtlos bleiben, sehen die Eltern die Anwendung von körperlicher und emotionaler Gewalt als ihre einzige Möglichkeit: Fehlverhalten wird mit Strafen wie Wegsperren, Entzug von Lieblingsspielsachen, Liebesentzug und der Drohung, das Kind werde, wenn es sich nicht angepasster verhalte, wieder ins Kinderheim zurückgebracht, geahndet. Nachdem auch diese Maßnahmen nicht zum erwünschten und erwarteten Ziel führen, dem Kind sein „schlechtes“ Verhalten auszutreiben, sondern im Gegenteil dieses zunimmt, greifen die Eltern zu dem Mittel, in dem sie sich ihrer Überlegenheit dem Kleinkind gegenüber sicher sind: Fehlverhalten wird mit Ohrfeigen oder Schlägen auf das Hinterteil des Kindes beantwortet. Als auch diese Methoden außer einer psychosomatischen Reaktion des Vaters auf die emotionale Überbelastung durch das Zusammenleben mit dem Kind und einer depressiven Verstimmung der Mutter keine Wirkungen zeigen, suchen die Eltern mit dem Kind psychotherapeutische Hilfe. Mittlerweile ist allerdings das Kind bereits massiv in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt, die Eltern hoffnungslos entmutigt in ihrer Perspektive der Elternschaft, alle drei überzeugt, ihren Aufgaben nicht gewachsen
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zu sein. Den Eltern wurde aus ihrem Umfeld auch immer wieder ihre „Erziehungsunfähigkeit“ attestiert und zum Vorwurf gemacht. Dass das Schlagen von Kindern gesetzlich verboten ist, war ihnen bis zur Aufnahme der psychotherapeutischen Behandlung unbekannt. Unbekannt und unverstanden war für sie aber auch, dass die ersten Kindheitsjahre nicht nur den für sie zum Zeitpunkt der Adoption leicht erkennbaren körperlichen und geistigen Entwicklungsrückstand des Kindes zur Folge hatten, sondern auch die seelische Entwicklung und damit die Fähigkeit des Kindes, sich altersadäquat zu verhalten, beeinträchtigt hatten. Gewaltfreie Erziehung als der kindlichen Entwicklung förderlich anzuerkennen und dies auch zu realisieren, bedeutet aber auch, Gewalt in ihren beiden Achsen der körperlichen und der emotionalen Gewalt wahrzunehmen. Emotionale Gewalt versteckt sich oft in mancherseits noch immer als sinnvoll angesehenen Erziehungsinterventionen, wie zum Beispiel der Strafe, die sogar noch im professionellen pädagogischen Bezugsrahmen von Kindergarten und Schule als probates Erziehungsverhalten verstanden wird: „Nicht zu unterschätzen ist die emotionale Gewalt. Diese ist maskiert und meist nicht als aktiver, sondern als passiver Gewaltakt zu werten. Jeder Entzug von Zuneigung, ja schon von Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind stellt eine Gewalthandlung dar, da es für ein Kind keine strengere Strafe geben kann, als isoliert zu werden. Die Abwendung eines Elternteils von seinem Kind bedeutet einen Liebes- und Vertrauensentzug. Auch wenn das Kind erkennt, dass diese Handlung mit einem Fehlverhalten zu tun hat, ist es für das Kind nicht einsichtig, weshalb es so behandelt wird. Keine Handlung darf nach sich ziehen, dass sich das Kind in seiner Existenz bedroht fühlt, und so liegt es an den Eltern, darüber nachzudenken, ob die jeweils gesetzten Maßnahmen in der Erziehung auch wirklich adäquat sind“ (Friedrich 2003, 106). Immer noch wird unerwünschtes kindliches Verhalten mit dem Erteilen von Strafen beantwortet. Die Idee, dass eine mit dem Verhalten in keinem kohärenten inhaltlichen Zusammenhang stehende unangenehme Handlung etwas am zukünftigen Verhalten des Kindes in die sozial erwünschte Richtung verändern könnte, überlebt entgegen jedweder Erfahrung aus den eigenen Kindheitsjahren. Angst vor Strafe als Handlungsmotivator zu gebrauchen wird noch immer weitgehend ohne kritische Hinterfragung seitens der Erziehenden als Erziehungsstil akzeptiert und eingesetzt, ohne die innewohnende Botschaft zu hinterfragen: Bei einem Fortbildungsseminar für Pädagogen zu Erziehungsfragen im Jänner des Erscheinungsjahres dieses Buches berichtet ein Teilnehmer: ein Schulkind lehnt den Schulbesuch massiv ab und zeigt dies seiner Lehrerin unverhohlen durch Beschimpfungen der Lehrerin und der Einrichtung Schule im Allgemeinen, durch Abwertun-
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gen und Ignorieren von Handlungsanweisungen, durch das fehlerhafte Erledigen von Hausübungen. Die Lehrerin führt nun in Absprache mit den Eltern als Korrektiv – zumindest von ihr als solches gedacht – ein, dass das Kind zur Strafe für jede fehlerhafte Hausübung eine Stunde länger in der Schule verbleiben müsse, um die Hausübung zu korrigieren. Die Konsequenz, die das Kind daraus zieht, ist schlüssig und nachvollziehbar: da die fehlerfreie Erledigung der Hausübungen außerhalb seiner Macht steht, entscheidet es, ab sofort zu Hause gar keine Hausübungen mehr zu bearbeiten. Erziehung ist nur dann als der Entwicklung des Kindes dienlich zu sehen, wenn sie soweit gereift ist, dass sie auf Strafen zu verzichten weiß. Ein „Lebensstil der Erziehung“, der, wie beim Einsatz von Strafen gegeben, destruktiv-aktiv dominiert ist, befördert eine ebensolche Kindesentwicklung. Eltern sind heute zumeist gut informiert über die Möglichkeiten, die körperliche und kognitive Entwicklung eines Kindes zu fördern, aber informationsdepraviert über die kindlichen Bedürfnisse der emotionalen und sozialen Entwicklung. Ob sich in diesem Faktum eine gesellschaftliche Wertordnung der Priorität der körperlichen und geistigen Tüchtigkeit gegenüber der seelischen Gesundheit, erwachsen aus einer Kenntnisarmut der Erwachsenen über das Seelenleben der Kindheit, das ja auch einmal ihres war, abbildet, wäre eine der Prüfung würdige Hypothese. „Unter den Erscheinungen, die dem menschlichen Verstand ihre Rätsel aufgeben, nimmt das Phänomen Kindheit eine besondere Stellung ein“ (A. Freud 1980, 2860). Erziehungsstile haben im Laufe der menschlichen Geschichte Veränderungen erfahren – dem autoritären Erziehungsstil wurde von der antiautoritären Erziehung diametral widersprochen, um im demokratischen, im liberalen und im partnerschaftlichen Erziehungsstil neue Wege zu suchen. “With the weakening of autocratic control at all levels of social functioning in the nation, the community, the school, and the family, every individual gains the right to determine his own direction. This self-determination is fundamental in a democracy. Our children share this right of self-determination and make considerable use of it, frequently to the bewilderment and embarrassment of parents and teachers who discover that they can no longer impose their will. What the child decides to do depends largely on his own concepts, his perception of himself and others, and his methods of finding a place for himself, he will use socially accepted and constructive means. However, if he loses confidence in his ability to succeed with useful means, he will give up or switch to the useless side of life. This loss of confidence in himself and in his ability is discouragement.” (Dinkelmeyer u. Dreikurs 2000, 2 f.). Die Veränderungen im menschlichen Zusammenleben im letzten Jahrhundert haben auch die Werte der Erziehung gewandelt: War bis zu den sechziger Jahren des
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5.5 Erziehung – Schule – Pädagogik
vorigen Jahrhunderts die Wohlerzogenheit des Kindes das angestrebte Erziehungsziel, so wurde diese in der Gegenbewegung der antiautoritären Erziehung zum Verdachtsmoment einer psychischen Störung. Die darauf folgenden Orientierungen der liberalen und demokratischen Erziehungshaltung finden derzeit ihre individuellen Ausprägungen und Kombinationen in Familie und Schule, ohne dass das Ziel der Angstfreiheit der Kinder damit erreichbar gewesen wäre, wie die zunehmende Prävalenz von Angststörungen im Kindesalter belegt (Waddell u. Sheperd 2002). Die autoritäre Erziehung, die die Affekte und Triebe des Kindes als unerwünscht verstand und durch das Erziehungsmittel Angst in den unbewussten Hintergrund der kindlichen Seele zu drängen bemüht war, kannte als erstes Erziehungsziel den Gehorsam. Dass Gehorsam das Zurückdrängen der eigenen Wünsche und Bedürfnisse bedingt, war den Erziehenden bewusst und von ihnen gewollt. Das Ausmaß des Gehorsams war der Maßstab der gelungenen Erziehung. Die Erziehung zum Gehorsam bildet einen Charakter, der durch eine schwache Identität und eine Polarisierung seines Weltbildes dazu neigt, im Erwachsenenleben anstelle der autoritären Eltern autoritär-starken Personen oder Ideologien nachzufolgen, um die innere Leere zu kompensieren, abgespalten von seiner Lebendigkeit. Die Folge ist ein Mangel an Mitgefühl, das Fehlen der ethischen Verantwortlichkeit und die Bereitschaft zur Gewalt bis hin zur psychopathologischen Entwicklung (vgl. A. Miller 1980; Gruën 2002; ders. 2003). Ringel ruft 1987 dezidiert dazu auf, Kindeserziehung als Risikofaktor der gesellschaftlichen Entwicklung ernst zu nehmen: „[. . . ] wenn sich unsere Situation diesbezüglich nicht wirklich entscheidend ändert, d. h. wenn es uns nicht gelingt, immer mehr Kinder ohne Neurotisierungen aufwachsen zu lassen, dann werden in Zukunft Heere von Psychotherapeuten nicht ausreichen, um Feuerwehr zu spielen gegen die Brandfläche, die auf uns zukommt“ (Ringel 1987a, 145).
5.5.3 Erziehungsfeld Familie 1904, also noch vor seiner Trennung von Freud, beginnt Alfred Adler seinen Aufsatz „Der Arzt als Erzieher“ mit der Feststellung: „Das Problem der Erziehung, wie es Eltern und Lehrer auf ihrem Wege vorfinden, ist eines der schwierigsten“ (Adler 1904a, 26). Kindererziehung ist damals wie heute eine der anspruchsvollsten Lebensaufgaben, die den Erziehenden ein hohes Maß an Flexibilität, an Kreativität, an Selbstsicherheit, an Ausdauer und Geduld und vielem anderem mehr abverlangt. Zugleich jedoch ist es die Aufgabe, für die es keine Ausbildung gibt, ganz im Gegenteil: Eltern erinnern zumeist aus ihrer eigenen Kindheit, wie sie nicht erziehen wollen, allerdings ohne daraus ableiten zu können, wie sie es besser machen können. Erziehungskompetenz ist das, was, gesellschaftlich gesehen, als selbstverständlich, quasi von Natur aus gegeben, mit Eintritt in die Elternschaft vorausgesetzt wird. Kommt
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es in der kindlichen Entwicklung zu Problemen, so wird das häufig von Eltern als schuldhaft und beschämend, als ihr elterliches Versagen erlebt. Dies macht es für die Eltern umso schwieriger, sich fachliche Hilfe zu suchen. Adlers Hinwendung zu Fragen der Erziehung richtet sich sowohl an die Eltern, die den Lebensstil des Kindes in der „Kinderstube“ prägen, als auch an die Lehrerinnen und Lehrer, die dem Kind im Rahmen der Erziehungsgemeinschaft Schule die Klasse als Gemeinschaft der Arbeit und des Erlebens Hilfestellung zur Entwicklung bieten. Gelingende Erziehung führt das Kind in die Gemeinschaft: Dass aus dem Kind ein selbstbewusster und eigenverantwortlicher Erwachsener werden möge, der seine Aufgaben in Partnerschaft und Familie, Arbeit und Gesellschaft zufriedenstellend und befriedigend erfüllen kann, ist üblicherweise konsensuales Ziel der an der Erziehung des Kindes beteiligten Erwachsenen. Weit geringer ist bis heute die Einigkeit darüber, wie dieses Ziel zu erreichen sei, auch wenn die Meilensteine dieses Weges klar gesetzt sind: „Kinder und Jugendliche brauchen Lenkung und Erklärungen ebenso wie Wertschätzung und Achtung, wenn sie sich prosozial entwickeln sollen“ (Rüedi 2007, 280). Eltern geraten in ihrer Erziehungsaufgabe durch Kenntnismangel in eine Überforderungsfalle, um dann in, mit den Augen des Kindes gesehen, mächtigen Figuren Erziehungshilfe zu suchen – nur so ist zu verstehen, warum Eltern alljährlich dem „Nikolaus“ als die elterliche Autorität verstärkender Person Botschaften an ihre Kinder übergeben, kindliche Verhaltensweisen einfordernd, die sie für sinnvoll und notwendig, aber für innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung nur mangelhaft erreichbar halten. Nun ist aber das Einfordern des Gehorsams nicht der einzige Irrweg, auf den Erziehende in der Situation der sie überfordernden Elternschaft geraten können. „Irrtümer der Erziehung“ (Löwy 1926) führen auf „Irrwege der Erziehung“ (Sindelar 2011) und hindern Eltern daran, das Erziehungsziel zu erreichen, wie es Löwy vor Generationen in aktueller Stimmigkeit formuliert: „Kindern nicht nur das Leben, sondern sie auch dem Leben zu geben, ist die Aufgabe der Eltern“ (Löwy 1926, 288). Dass jedwedes erzieherische Handeln dahin gehend zu überprüfen ist, ob es das Kind ermutigt oder entmutigt, ist der rote Faden, der die Schriften zur individualpsychologischen Erziehung durchzieht: “Regardless of how parents or teachers may justify what they do, if their actions are discouraging, they increase the child’s maladjustment” (Dinkelmeyer u. Dreikurs 1963, 3). In bemerkenswerter inhaltlicher Konkordanz formulieren im Abstand von fast hundert Jahren Alfred Adler aus der Sicht seiner Individualpsychologie und Gerald Hüther auf der Basis neurobiologischer Forschungsergebnisse das Risiko der Überbehütung, von Adler Verzärtelung, von Hüther Verwöhnung genannt, in Polarität zum Entwicklungsrisiko der lieblosen (Adler) oder vernachlässigenden (Hüther) Erziehung. Beide führen zum selben seelischen Problem, von Adler „Entmutigung“, von Hüther „mangelndes Selbstwirksamkeitskonzept“ (Hüther 2003) genannt: „Das Selbstvertrauen des Kindes, sein persönlicher Mut ist sein größtes Glück. Mutige Kinder werden auch später ihr Schicksal nicht von außen erwarten, sondern von ihrer eigenen Kraft“ (Adler 1904a, 33).
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Auch über das Fundament der gelingenden Erziehung sind sich Adler und Hüther einig, wenn Hüther – übrigens auch in Übereinstimmung mit der Bindungsforschung (Bowlby 2005) – als eines der beiden menschlichen Grundbedürfnisse die sichere Gebundenheit, Adler die Befriedigung des kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses als conditio sine qua non nennt: „Das wichtigste Hilfsmittel der Erziehung ist die Liebe“ (Adler 1904a, 29). Sicher gebundene, in ihrem Zärtlichkeitsbedürfnis befriedigte Kinder setzen die Finalität ihres Strebens in den Entwicklungsfortschritt – sie streben danach, das, was sie noch nicht können, zu erlernen, oder, anders formuliert, Minderwertigkeit zu überwinden und so ihren sicheren Platz in der Gemeinschaft zu erlangen, zum eigenen und zu deren Nutzen. Dieses natürliche Bedürfnis des Kindes bedarf der Unterstützung durch ihre Bezugspersonen. Stellen diese dabei überhöhte, für das Kind unerfüllbare Forderungen, dann entmutigen sie es und führen es in die Irre, da das Kind, das fortlaufend erlebt, nicht zu genügen, und daher gewiss ist, minderwertig zu sein. Dieses Kind hat keine andere Wahl als durch Macht über andere eine fiktive Sicherheit zu erreichen. Es wird dieses Machtstreben individuell unterschiedlich gestalten. Wird es dabei durch den Vergleich mit Geschwistern oder Cousins und Cousinen oder auch mit Kindern aus dem Freundeskreis, die ihm als Vorbild präsentiert werden, zum Konkurrenzkampf angeregt, so wird es nicht mehr danach trachten, seine eigene Minderwertigkeit zu überwinden, sondern die Überlegenheit über andere anstreben. Bietet ihm die Schule eine ebensolche Orientierung, indem die Lehrkraft zum Beispiel eine Rangordnung der Leistungen innerhalb der Klasse erstellt, in der sie angibt, auf welchem „Platz“ das Kind mit seinen Leistungen gelandet ist, so verfestigt sich die Meinung des Kindes, der Charakter der Gemeinschaft sei die Gegnerschaft, in der es zu übertrumpfen gilt. Die Entwicklung der derzeit im Berufsleben gefragten und eingeforderten Team-Fähigkeit – einer Variante des Gemeinschaftsgefühls – wird durch diesen Erziehungsstil behindert, dafür aber die Entwicklung des „nervösen Charakters“ befördert: „Stets ist ein Messen, ein Vergleich mit anderen vorausgegangen, erst mit dem Vater, dem stärksten in der Familie, zuweilen mit der Mutter, mit den Geschwistern, später mit jeder Person, die dem Patienten entgegentritt“ (Adler 1912a, 54). Nehmen dagegen die Bezugspersonen dem Kind auch die Aufgaben, die es durchaus bereits selbst lösen könnte, ab, so mündet dieses Erziehungsverhalten genauso in der Entmutigung des Kindes: Das Kind macht die Erfahrung, dass ihm die Erwachsenen die Lösung seiner altersspezifischen Entwicklungsaufgaben nicht zutrauen, und anerkennt selbstverständlich deren überlegene Beurteilungskompetenz, die ihm die Botschaft übermittelt, dass es zu schwach sei, seine Aufgaben zu erfüllen. Dieses Kind, durch Verzärtelung, oder, in aktualisierter Terminologie „overprotection“, entmutigt, wird seine Sicherheit in der Abhängigkeit suchen und fiktiv auch finden, indem es durch die ihm anerzogene Schwäche Macht über seine Mitmenschen ausübt und sie zur Dienerschaft macht.
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Diese beiden entmutigenden Bezogenheiten der Eltern auf das Kind sind gut kombinierbar, insbesondere in einem Ungleichgewicht der Bewertungen von Schulerfolg und sozialer Kompetenz: Entbinden Eltern bzw. Bezugspersonen das Kind von allen anderen, für das Kind gut erfüllbaren Aufgaben, um ihm – aus der Sichtweise der Eltern – genug Energie und Zeit für schulische Anforderungen zu verschaffen, so verschränken sich Überforderung und Verzärtelung zu einer unglückseligen Potenz der Entmutigung. Diese wird dann nochmals multipliziert durch Schuldzuweisungen an das Kind, das diese Verzärtelung nicht durch entsprechende Schulleistungen bedankt. In dieser Ambivalenz zwischen Überforderung und Verzärtelung gefangen, erstarrt die Entwicklungsbewegung des Kindes. Eltern – und natürlich auch Lehrkräfte – sind erzogene Erwachsene mit ihrer jeweils individuellen Finalität ihres Verhaltens und ihrer inneren Einstellungen – ihr Lebensstil gestaltet somit auch ihre Erziehungshaltung. Den der kindlichen Entwicklung abträglichen verzärtelnden, überfordernden, vernachlässigenden Erziehungsstil nur festzustellen, dreht den Spieß um und bedroht die Bezugspersonen in ihrem Selbstwert, solange sie ihnen nicht zugleich den Zugang zum Verstehen ihrer eigenen Finalität ermöglicht – ihr Ziel ist ja keineswegs, ein „erziehungsschwieriges“ Kind, das im Erwachsenenalter seine Lebensaufgaben nicht erfüllen kann, heranzuziehen. Im Gegenteil stimmen sie ja mit dem vorher formulierten Erziehungsziel üblicherweise ohne Widerspruch überein. Und doch ist, wie das Gewordensein des Kindes oder Jugendlichen zeigt, ihre unverstandene Finalität eine andere: „Elternschaft ist ein Sein der Überlegenheit dem Kind gegenüber, das allerdings auch zur Ausübung von Macht verführt“ (Sindelar 2011, 202). Die Überlegenheit dem Kind gegenüber bedarf vorerst keiner eigenen Anstrengung, da sie ja sowohl der Elternschaft als auch dem Lehrberuf von vornherein innewohnt. Das unverstandene Handlungsmotiv, diese Überlegenheit zu erhalten, richtet in der Fiktion, dass damit die Überlegenheit dem Kind gegenüber gesichert sein könnte, den Erziehungsstil auf die Erhaltung der Unterlegenheit des Kindes aus, indem dieses überfordert und verzärtelt wird. Allerdings mündet auch dieses elterliche neurotische Sicherungsstreben im Gegenteil: In Abhängigkeit und Unterlegenheit festgehaltene Kinder übernehmen die Macht auf der unnützlichen Seite des Lebens durch von ihnen selbst kreativ gestaltete neurotische Symptome, die Eltern und Erzieher in die Position der Ohnmacht katapultieren. In der Symptomwahl inszeniert das Kind dann den zugrunde liegenden Konflikt, der verstanden werden will, bevor eine Lösung gefunden werden kann (vgl. Adler 1931m). Zugleich bieten Kinder durch ihr So-Sein Eltern und auch Lehrkräften eine ganz besondere Chance zur eigenen persönlichen Weiterentwicklung, indem sie ungelöste Persönlichkeitsfragen der Erwachsenen aufzeigen. Finden die Eltern konstruktive Antworten auf die Fragen, die ihnen ihre Kinder durch ihr Verhalten stellen, können sie dadurch ihren etablierten Lebensstil bereichern: „Die Geburt eines Kindes, vor allem des ersten Kindes, bedeutet für die Eltern eine tief greifende Infragestellung, Umgestaltung und Neuordnung ihres bisherigen Beziehungsgefüges“ (BehrmannZwehl 2003, 103). Gelingt die konstruktive Beantwortung der Fragen der Erziehung
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nicht, so wird die Erziehung der Kinder als Last erlebt, die den Gewinn der Elternschaft und des Lehrerdaseins schrumpfen lässt: „Bereicherndes Beziehungserleben mutiert dann zur Erziehungsarbeit“ (Sindelar 2011, 203).
5.5.4 Erziehungsfeld Schule „Nach den frühen familiären Bezugspersonen des Kindes kommt der Schule eine zentrale Rolle als Einflussfaktor auf den Lebensstil des Kindes zu, sowohl was sein Selbstverständnis innerhalb der Gemeinschaft betrifft, aber vor allem natürlich, was seine Einstellung zur eigenen Leistungsfähigkeit und zur Leistungsbereitschaft und Einsatzfreude anbelangt“ (Sindelar 2011, 4). Erziehungsfeld Schule und Erziehungsfeld Familie stehen in der Erziehung der Kinder vor der Herausforderung, einander in wertschätzender Begegnung zu unterstützen – eine Chance, die Gefahr läuft, durch Konkurrenzdenken zwischen Eltern und Lehrkräften zum Risiko eines Machtkampfes zu werden, dessen Opfer das Kind ist. Auf die Verantwortlichkeit, die dabei den professionellen Pädagogen zukommt, weist bereits Adler hin: „Obgleich sowohl Eltern als auch Lehrer auf ihre Weise zum Gelingen der Erziehungsarbeit beitragen können – Eltern korrigieren die Mängel der Schule, Lehrer korrigieren die Mängel der häuslichen Erziehung –, ist festzuhalten, dass die Lehrer in unseren großen Städten und unter den modernen sozialen Bedingungen den größeren Teil der Verantwortung zu tragen haben“ (Adler 1930a, 247). Dies verweist auf die notwendige fachliche und persönliche Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer: „Es geht also um die Verbindung von Professionalität und Menschlichkeit, die demnach wesentlicher Bestandteil von Bildung und Beratung sein muss“ (Landt-Hayen 2007, 69). Didaktische Kompetenz definiert nur in der Vernetzung mit pädagogischer Qualifikation das Inhaltsprofil des Wortes „Lehrkraft“: “The community needs parents, leaders, and citizens who are understanding, skillful, reasonable, and responsible. Increasingly, we look to the school to develop these qualities in the students they educate and graduate, and, concurrently, we tend to blame the school, rightly or wrongly, when graduates fail to meet these standards. Hence today’s schools cannot ‘get by’ merely by teaching the basic skills – they are also expected to produce graduates who are personally, socially, and intellectually adequate and effective. Because such qualities cannot be developed through traditional methods of drill and recitation, it becomes more imperative than ever before that teachers understand the processes of education and the development of human behavior. This means that every teacher must to some extent become a practicing psychologist” (Lindgren 1967, XI).
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Zweck der (individual-)psychologischen Kenntnisse der Lehrerschaft ist, das kindliche Verhalten und Handeln in seiner Botschaft und in seiner Finalität entschlüsseln zu können und dadurch den pädagogischen Handlungsspielraum zu entfalten: „Das Verstehen ermöglicht dem Lehrer, nicht immer wieder so zu reagieren, wie es der Schüler provoziert, sondern ‚Antworten‘ zu geben, die dem Schüler neue Erfahrungen ermöglichen“ (Heine 2010, 158). Somit ist das Fähigkeitsprofil von Lehrpersonen, gestaltet durch deren Aus- und Weiterbildung, determinierend für deren Effizienz in der Erfüllung ihrer Aufgabe. Moniert die Gesellschaft misslingende schulische Bildung und Erziehung der Kinder, so ist die Heilung der Bildung in der Hilfestellung für die Lehrpersonen zu finden: „The first need is to help the teacher“ (Dinkelmeyer u. Dreikurs 2000, 4). Ein Mangel an „Lehrkraft der Lehrkräfte“, festgemacht an viel diskutierten Evaluationen des Wissensstandes von Schülern und Schülerinnen, wie zum Beispiel den seit 2000 im dreijährigen Turnus in den meisten Mitgliedsländern der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) durchgeführten PISA-Schulleistungsstudien (OECD 2011), zeigt deren Hilfsbedürftigkeit auf: “Teachers come into the classroom poorly equipped for their profession. Teacher preparation programs often omit even basic psychology about discipline, motivation, and purposive behavior. While teachers are increasingly held accountable for the achievement and behavior of their students, they are handicapped by this lack of knowledge and skills. Individual Psychology consultation can remediate these challenges” (Carlson, Dinkmeyer u. Johnson 2008, 480). Dass der Lebensstil der professionellen Erzieher nicht nur auf deren Effizienz in der Erfüllung ihrer Aufgabe, sondern auch auf deren Lebensqualität und psychische Gesundheit Einfluss nimmt, steht nachgewiesener Maßen außer Frage: „Multiple regression analyses indicated that 14.4 % of the variance in school counselor burnout was explained by the lifestyle themes of self-esteem and perfectionism“ (Wachter, Clemens u. Lewis 2008, 432). Wenngleich das Gelingen der Erziehung gemeinsame Aufgabe und Ziel sowohl der häuslichen als auch der schulischen Erziehung ist, so ist der Schule der Auftrag der Wissensbildung zugeordnet, der aber schon aufgrund der Struktur und Funktionalität des menschlichen Gehirns untrennbar von der Persönlichkeitsbildung ist. Stephenson (2005; 2006 nach Engel 2008) nennt als Voraussetzungen für zufriedenstellende Bildungsprozesse die Verbindung von Affekt, Aktivität und Wahrnehmung einerseits, das Bestehen von Beziehungen mit sicheren Bindungen andererseits und Bildung als unabschließbaren Entwicklungsprozess und steht damit im Einklang mit den Ergebnissen der neurobiologischen Forschung. Schulische Bildung ist somit nie isoliert vom Beziehungsgeschehen zwischen Lehrpersonen und Schülern und Schülerinnen zu verstehen, wie ja auch die Tatsache, dass Schulerinnerungen so gut wie nie Wissenserinnerungen, sondern Erinnerungen eines emotional konnotierten intersubjektiven Geschehens sind, belegt:
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„Denn die gesamten schulischen Bildungsprozesse sind eingebettet in das interaktive und dialogische Beziehungsgeschehen zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen. Nur in einer förderlichen Lehrer-Schüler-Beziehung lässt sich der schulische Wissenstransfer gestalten und durch eine verbesserte Beziehungskompetenz optimieren“ (Mergel-Hölz u. Willerscheidt 2010, 389). Bildungspolitische Diskussionen sowie die Tatsache, dass außerschulische Unterstützung in der Wissensbildung sowohl in der Familie als auch in dem Dienstleistungsbereich der „Nachhilfe“ oder Lerninstitute mittlerweile zum Alltag der Schuljahre gehört, sind auch unter dem Gesichtspunkt zu hinterfragen, inwieweit sich ein Delegationsmechanismus zwischen Elternhaus und Schule entwickelt: Familiäre Bezugspersonen fordern die Schule auf, die emotionale und soziale Bildung der Jugend verstärkt zu betreiben, während die Schule die Wissensvermittlung an die Familie delegiert, indem sie vom Elternhaus verlangt, mit den Schulkindern zu lernen – dies macht nachdenken darüber, inwieweit sich Elternhaus und Schule selbst entmündigen von ihrer jeweils spezifischen Obsorgepflicht für die Unmündigen, getragen von Selbstverzärtelung einerseits, wechselseitiger Überforderung andrerseits. Alfred Adler war in seinen Veröffentlichungen immer um eine Sprachlichkeit bemüht, die der Verstehbarkeit seiner Botschaften für Laien des Faches Priorität einräumte, den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit riskierend. Damit folgte er dem Streben, durch die Freigabe seines jeweils aktuellen Wissensstandes einen Beitrag zur Entwicklung der Gemeinschaft zu leisten, zugleich ohne Scheu, bereits Gedachtes durch neu Verstandenes wieder in Frage zu stellen oder auch zu verwerfen, wie zum Beispiel die Entwicklungen seiner theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Aggressionstrieb oder dem Begriff der Organminderwertigkeit zeigen. Beobachtet man die Publikationen individualpsychologischer Autorinnen und Autoren, so findet sich durchgängig eine Linie, die erkennen lässt, dass weiterhin nicht die neurotische Sicherung des Minderwertigkeitsgefühls, indem Populärwissenschaftlichkeit ausgegrenzt wird, sondern das Gemeinschaftsgefühl die Feder führt: Forschung und wissenschaftlicher Diskurs gedeihen in gegenseitiger Wertschätzung mit beratungsfokussierten Beiträgen. Die Form der Kenntnisvermittlung an die Zielvorstellung der Förderung der Gemeinschaft anzupassen, entspricht dem individualpsychologischen Selbstverständnis der sozialen Verantwortlichkeit und somit auch für Fragen der familiären und schulischen Erziehung: “Individual Psychology, developed by Alfred Adler, is one of the most applicable theories that can be used in the school setting. [. . . ] Additionally, Adler’s ideas on social interest are applied to contemporary principles of social justice” (ZiomekDaigle, McMahon u. Paisley 2008, 450).
5.6 Psychoedukation, Beratung, Coaching, Counselling Brigitte Sindelar In Adlers Schriften sind Beratung und Behandlung nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern zeigen Fließübergange. Die Beratung war von Anbeginn ein Anwendungsfeld der Individualpsychologie, vor allem bei Erziehungsproblemen. (zur Rolle der Individualpsychologie in der Erziehung vgl. Kap. 5.1 und 5.5). Die individualpsychologische Beratungstätigkeit war aus Adlers Sicht nicht an eine bestimmte Profession gebunden, erkennbar auch daran, dass er den „Arzt als Erzieher“ (Adler 1904) anspricht. Einblick in die Beratungstechnik Adlers geben die veröffentlichten Mitschriften seiner Fallbesprechungen, mit denen Adler die Grundzüge seiner Arbeitstechnik darlegte. Adler plante ein mehrbändiges Werk zur Technik der Individualpsychologe, dessen dritter Band, den er am Ende des Vorwortes zum zweiten Band ankündigte (Adler 1930e), der individualpsychologischen Diagnostik sowie der Technik und der Stellung des Beraters gewidmet sein sollte (Datler, Gstach u. Wininger 2009). Dieser Band ist nie erschienen. Beratung ist eine Tätigkeit, die in verschiedensten psychosozialen und medizinischen Berufen gefragt ist und auch ausgeübt wird, dabei allerdings oft wenig reflektiert, weil in ihrer Einflussgröße auf das Leben des Beratenen zumeist unterschätzt. Die kritische Sollbruchstelle in der Effizienz der Beratung ist die Entmutigung versus der Ermutigung: Beratung, die sich als Handlungsanweisung und Rezeptologie versteht und auf diese reduziert, hat zwangsläufig die Entmutigung des Beratenen zur Folge, da sie Handlungen vom Beratenen verlangt, die dieser nicht leisten kann. Einen effizienten Ratschlag gibt es nicht: „Wichtig ist ferner, [. . . ] im Anfang strikte Antworten an den (zu, Ergänzung BS) Beratenden sowie an dessen Angehörige zu vermeiden. Der Individualpsychologe darf nicht vergessen, dass abgesehen von seiner geübten Fähigkeit des Erratens er auch für andere, darin nicht Geübte, den Beweis erbringen muss“ (Adler 1933b, 167). Was Adler damit anspricht, ist, dass Beratung die Änderung der inneren Einstellung des Ratsuchenden zur konkreten Problemlage erfordert, und diese wiederum Erkenntnis und Einsicht seitens des zu Beratenden zur Voraussetzung hat. Daher muss Beratung, der jeweiligen Problemlage des individuellen Menschen gerecht, zuerst die lebensstiltypische Haltung zur konkreten Fragestellung des zu Beratenden ans Licht bringen, bevor sie ermutigen kann, neue Entscheidungs- und Handlungswege zu entwickeln. Beratung verlangt daher eine orientierte Kreativität seitens des Beraters, für die dessen Menschenbild die Grundlage stellt. Ermutigung ist eine zentrale Zielvorgabe im Beratungsgeschehen.
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5.6 Psychoedukation, Beratung, Coaching, Counselling
Im pädagogischen Bezugsrahmen der Schule und des Lehrberufs fand und findet die individualpsychologische Beratung ein breites Bedarfsfeld vor (siehe Kapitel 5.5). Die Schule ist allerdings nur eines der Anwendungsgebiete von Beratung (vgl. dazu Kap. 5.5). Jeder Arzt ist im Zuge seiner ärztlichen Tätigkeit mit Beratungsarbeit konfrontiert. Paramedizinische Berufsgruppen wie Hebammen, Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäden, aber auch in der Berufsausbildung Jugendlicher Tätige sind zur Beratung aufgefordert und daher in ihrer Beratungskompetenz gefragt: „Beratungsarbeit heißt [. . . ] Ermutigungsarbeit und ressourcenorientiertes Lernen an einem zukunftsorientierten Lernort“ (Glowsky 2010, 150). Auch in der Weiterbildung, die jeden Beruf begleitet, ist zunehmend Beratungsbedarf zu orten: „Damit wird professionelle Beratung für alle, die im Bereich der Weiterbildung arbeiten, zu einer Kernkompetenz“ (Sauer-Schiffer 2010, 107). Mittlerweile hat die Beratung in unterschiedlichen Benennungen und in unterschiedlichen Bereichen, weit über Fragen zur psychischen Gesundheit hinausgehend, Verbreitung gefunden. Im angloamerikanischen Bereich verwischen sich die Grenzen zwischen Psychotherapeut und „Counselor“. Coaching ist mittlerweile in der Wirtschaft, in der beruflichen Karrieregestaltung, in der Unterstützung von Führungskräften fest verankert, verstanden als „gemeinsame Wege in einem begleiteten Prozess mit dem Fokus auf Veränderung und Wandel“, definiert durch den „Weg hinein“ in die „zurückgelegte Lebenszeit“, den „Weg hindurch“, auf dem es gilt, „dem Jetzt standzuhalten und Einverständnis mit dem, was ist, zu erlangen“, und dem zielgerichteten „Weg hinaus“, der „neue Weichenstellungen an alten Wegkreuzungen“ ermöglicht (Winner 2006, 118). Gemeinsam ist diesen verwandten Feldern, dass ihr Anliegen nicht die Behandlung einer psychischen Störung ist, sondern die Lösung umgrenzter Aufgaben und Fragestellungen bzw. die Optimierung dieser Lösungen. Beratung ist daher immer ressourcenorientiert auf ein definiertes Ziel ausgerichtet. Zunehmend gewinnt die Psychoedukation als Spezialgebiet der Beratung an Bedeutung, die sowohl im Bereich der Prävention psychischer Störungen als auch in der Hilfestellung für Angehörige von Menschen, die von psychischen Störungen betroffen sind, zur Anwendung kommt. Dabei liegt der Auftrag in der Psychoedukation in der Optimierung der Ressourcen durch Information und Aufklärung einerseits, also durch Wissensvermittlung, durch die Anleitung zur Entwicklung von Strategien und Handlungsalternativen in Problemsituationen andrerseits. Mittlerweile findet sich Psychoedukation als Angebot der psychosozialen Unterstützung in störungsspezifischer Zuordnung, wie zum Beispiel für die Angehörigen von Patienten, die an einer schizophrenen Störung oder einer affektiven Störung leiden. Das psychodynamische Modell der Individualpsychologie erscheint besonders geeignet, Interventionstechniken zu Beratung, Coaching, Counselling und Psychoedukation zu entwickeln: Tendenziöse Apperzeption schränkt den Radius der Antwortmöglichkeiten auf Problemsituationen ein – diese zu reflektieren und einer Realitätsprüfung zu unterziehen, erweitert das Spektrum der Handlungsalternativen. Die Finalität des Lebensstils ist, von einer Minussituation in eine Plussituation zu
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gelangen. Entmutigung lässt ungeeignete Wege zur Erreichung dieses Ziels beschreiten – Ermutigung eröffnet konstruktive und nützliche Wege zur Bewältigung von Aufgaben. Dies stimmt mit der Ausgangslage und dem Ziel von Beratung und Coaching überein.
5.7 Spiritualität und Religion Thomas Stephenson Vom „Schicksal dieser minderwertigen Organe, der Sinnesorgane, des Ernährungsapparates, Respirationstraktus, Harn-, Genitalapparats, der Zirkulationsorgane und des Nervensystems“ (Adler 1908, 53) bis zum „Gottesbegriff [. . . ] der [. . . ] dem dunklen Sehnen des Menschen [. . . ] als konkretes Ziel der Vollkommenheit am meisten entspricht“ (Adler 1933b, 158) und einer Individualpsychologie, die antritt, „dort, wo die Religionen ihren Einfluss verloren haben, das heilige Gut der Allmenschlichkeit zu schützen und zu fördern“ (Adler 1933c, 203) – welch eine Entwicklung! Die Frage nach „Religion und Spiritualität“, wie sie in diesem Kapitel gestellt wird, ist eine aus mehreren Gründen heikle. Einerseits erleben wir als seriöse PsychotherapiewissenschaftlerInnen in Mitteleuropa immer wieder unfreiwillige Begegnungen mit „esoterischen Plastikreligionen . . . , bei denen ein Funke östlicher Weisheit mit einer Fülle von westlichem Schwachsinn untrennbar verschweißt markttauglich angeboten wird“ (Lütz 2005, 11). In diesen finden wir zumeist ein „aufgeblähtes Selbst“ sowohl der selbst ernannten „Gurus“ als auch im Kielwasser einer von diesen angeheizten Dynamik ein Schwanken ihrer Adepten zwischen selbstauflösendem Minderwertigkeitsgefühl angesichts der kolossalen Astralität des „Meisters“ und einem ins „Nirwana“ aufgelösten Unendlichkeitsgefühl. Dementsprechend wird von der „Erleuchtungsfalle“ gesprochen (Horn 2008) und vor Grenzüberschreitungen zwischen Psychotherapie und Religion gewarnt (Prothmann 2008). Die Überwertigkeit des „Religiösen“ und „Spirituellen 1 “ wird wiederum kontrastiert mit Bagatellisierungen existenzieller Fragen, dann bedeutet die „persönliche Psychohygiene [. . . ] genügend Schlaf, Ernährung und Bewegung mit Entspannung und Mediation, [. . . ] Distanzierungstechniken, Spiritualität, Humor, ein schönere Arbeitsplatz [. . . ] sowie wenig zusätzlich Belastendes im Alltag“ (Rauber 2009, 281; eigene Hervorhebung, T. S.). Nun ist zwar das Zeichen wahrer Meister eben Gelassenheit, unaufgeregte Selbstund Fremdeinschätzung und achtsam-liebevolle Gestaltung des gemeinschaftlichen
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Einen guten und aktuellen Überblick über die Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Spiritualität“ und über theoretische und empirische Erforschung des Umgangs mit Spiritualität in der Psychotherapie gibt Anton A. Bucher (Bucher 2007). Verschiedene HerausgeberInnenbände sammeln dann Stellungnahmen zu den spirituellen Dimensionen der Psychotherapie aus den unterschiedlichen psychotherapeutischen Richtungen und Schulen, wie z. B. bei Joachim Galuska und Albert Pietzko (Galuska u. Pietzko 2005).
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Alltags, dennoch ist das tiefe Bedürfnis des Menschen nach Rückbindung („re-ligio“) an die menschlichen Grundfragen des „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? 2 “ durch die Einreihung in „gutes Essen und gute Verdauung, Spiel und Spaß und nicht viel Aufregung“ wohl kaum adäquat erfasst 3 . Vielmehr geht es nicht hier nicht nur um eine „Psychoanalyse des Glaubens“ (Gerlach, Schlösser u. Springer 2004) sondern um die Ungeheuerlichkeit des Realen schlechthin, wie beispielsweise Lacan es in den Blick nimmt, und unsere Reaktion darauf: „Das Reale, bei Lacan negativ definiert als dasjenige, was weder symbolisch erfasst noch imaginiert werden kann, soll hier in die Nähe jenes ‚Unmöglichen‘ gebracht werden, das auch die Dekonstruktion umkreist (Derrida 1991, 409). Weit davon entfernt, sich als bloßes Phantasma in den Köpfen postmoderner Theoretiker abhandeln zu lassen, lässt sich mit diesem Begriff etwas für die Generationen nach Nietzsche, Freud und Heidegger Signifikantes auf den Punkt bringen: das ungefilterte Andrängen von Heil- und Sinnlosigkeit und das Durchbrochenwerden der Oberflächen und Medien, mittels deren Menschen ihr Leben darstellen durch etwas Undarstellbares, Traumatisches und Unmögliches, das nicht nur die Religion an ih-
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Als Gauguin 1898 kurz vor seinem Selbstmordversuch sein berühmtes Gemälde mit diesen drei Fragen als Titel schuf, legte Alfred Adler gerade sein „Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe“ vor. In diesem kritisiert er heftig die Missstände in der „männliche[n] Bekleidungsindustrie“ (Adler 1898, VI), sucht „das Schlachtfeld der Arbeit nach Verwundeten und Leichen ab“ (ebd., V) und er, der schon dieser seiner frühesten Schrift den Menschen „nicht als Einzel- sondern als Gesellschaftsprodukt untersucht“ (ebd.), sieht nur in „einigen Staaten Nordamerikas“ (ebd., 10) bessere Verhältnisse. Vier Jahrzehnte danach wird er vor seinem Tod eben diese Staaten Nordamerikas als jene sehen können, in denen sein „Sinn des Lebens“ in den Versionen der Individualpsychologie, die dort von ihm angeregt wurden, fruchtbar gemacht wird. Ken Wilber hat das sehr prägnant auf den Punkt gebracht: „Ist es nicht schlichtweg seltsam, daß überhaupt etwas – irgendetwas – geschieht? Da war nichts, dann ein Großer Knall, und hier sind wir nun alle. Das ist doch alles andere als geheuer. Auf Schellings brennende Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ hat es schon immer zwei Typen von Antworten gegeben. Antworten des ersten Typs könnte man als Philosophie des „Hoppla“ bezeichnen. Das Universum ereignet sich ganz einfach, und es steckt nichts dahinter; alles ist letztlich beliebig und zufällig, es ist halt, es geschieht einfach – „Hoppla!“. Der Name dieser Hoppla-Philosophie ist in der Moderne Legion, vom Positivismus bis zum Wissenschaftlichen Materialismus, von der Linguistischen Analyse bis zum Historischen Materialismus, vom Naturalismus bis zum Empirismus. Und so durchdacht und erwachsen sie gelegentlich auch zu sein scheint, sie läuft im Grunde doch immer auf dieselbe Antwort hinaus: „Frag nicht!“ Die Frage selbst (also: Weshalb geschieht überhaupt irgendetwas? Weshalb bin ich hier?), heißt es da, ist schon wirrköpfig, pathologisch, unsinnig oder infantil. Solche wirrköpfigen Fragen gar nicht mehr stellen, das sei das Kennzeichen von Reife, des Erwachsenwerdens in diesem Kosmos. Ich glaube das nicht. Ich glaube, die „Antwort“ dieser „modernen und reifen“ Disziplinen – nämlich „Hoppla!“ und folglich „Frag nicht!“ – stellt so ungefähr das Infantilste an Reaktion dar, was überhaupt menschenmöglich ist“ (Wilber 1996, 9).
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re Grenzen führt, sondern auch Ethik, Politik und das Symbolische insgesamt. Das damit verbundene Schwanken der Religion lässt die Frage auftauchen, was es denn mit dem Religiösen überhaupt noch auf sich haben kann. Lässt sich überhaupt noch die als für das religiöse charakteristisch erachtete Scheidung sakral/profan sinnvoll aufrechterhalten? Oder haben wir mit dem religiösen nicht eher eine Art ‚verrückte Wette‘ auf das Unmögliche zu bedenken, da wir es mit ‚etwas‘ zu tun haben, das nicht nur als Bedingung der Möglichkeit von Sinn, sondern auch als Bedingung der Unmöglichkeit von Sinnhaftigkeit zeichnet?“ (Burda 2008, 8). Fragen zum „Sinn des Lebens“, die über das Einzelindividuum hinaus und auf ein die Spanne eines Einzellebens übersteigendes Gefühl der höheren (oder tieferen) Verbundenheit mit allen Menschen oder sogar allen Lebewesen (oder allem Sein) verweisen, sind nicht nur immer wieder Inhalte, die in verschiedenen Therapien auftauchen, sondern sie entsprechen auch Interpretationsweisen des für die Individualpsychologie zentralen Begriffs des Gemeinschaftsgefühls, wie Adler sie selbst nahegelegt hat: „Wir sind mitten im Strom der Evolution . . . In dieser kosmischen Verbindung, wo das Leben des Einzelnen ein Teil ist . . . [bedeutet] Gemeinschaftsgefühl vor allem ein Streben nach einer Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muss, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat“ (Adler 1933a, 158; 160). Alfred Adler – und ebenso die moderne Individualpsychologie – steht in der Beantwortung religiöser und spiritueller Fragen weder auf dem Standpunkt Sigmund Freuds, für den religiöse Überzeugungen im Wesentlichen Elemente von Abwehrprozessen und Zustände höheren Gewahrseins und umfassender Verbundenheit nur Ausdruck pathologischer Regression waren, noch auf jenem Carl Gustav Jungs, der in seiner Beschäftigung mit dem „kollektiven Unbewussten“ Mystik und Okkultismus als mögliche Quellen für entsprechende Antworten mit einbezog. Wenn es darum geht, einen kurzen Blick auf die Adler’sche Position und auf aktuelle Beschäftigungen der individualpsychologischen Community mit diesem Themenkreis zu werfen, bedarf es vorab einer prinzipiellen Klärung, worüber wir jeweils reden. Denn Religion und Spiritualität können in drei Varianten für die Psychoanalytische Individualpsychologie relevant werden: 1. Als Elemente der innerpsychischen Dynamik von KlientInnen und damit als von diesen in die analytische Situation eingebrachte Inhalte („Material“). Hier stellt sich aus dem Kontext der analytischen Situation heraus immer die Frage, inwieweit diese „dem neurotischen Muster darin ähneln, dass die selbst entworfenen Richtlinien in starrer Weise als Idole gehandhabt und festgehalten werden.“ (Wiegand 2007, 181) bzw. inwieweit sie Abwehr und Wiederholungszwang in Gang setzen. In der Analyse dieser Aspekte entscheidet sich erst, welche
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5.7 Spiritualität und Religion
entwicklungsbefördernden und welche entwicklungshemmenden Bewegungen diese Elemente für die Persönlichkeitsentwicklung des Klienten bzw. der Klientin bedeuten. Hier sollte das geringste Problem für die Individualpsychologie bestehen, die Inhalte und Attitüden wie jedes andere „Material“ behandeln zu können. 2. Als Elemente einer therapeutischen Grundhaltung („Ethik“). Jeder Therapeut und jede Therapeutin bringt sich, gewollt oder ungewollt, als ganze Persönlichkeit in den analytischen Prozess ein. Das bedeutet, dass auch die eigenen expliziten oder impliziten Antworten der AnalytikerInnen auf religiöse und spirituelle Fragestellungen direkt oder indirekt in die gemeinsame Arbeit einfließen. Ob nun das Thema explizit von KlientInnen eingebracht wird, oder Elemente der Interaktion bei TherapeutIn diese Themen aktiviert, es ist eine Frage der therapeutischen Grundhaltung, die eigenen Stellungnahmen zu diesen wie allen anderen Fragen des Lebens nicht in eine missionarische Überzeugungsarbeit einmünden zu lassen, sie aber auch nicht als irrelevant für den Prozess abzutun, sondern sie als eine Variable des analytischen Prozesses zu berücksichtigen und daher auch die Ergebnisse dieser Aktivierung „zum Nutzen der analytischen Arbeit zu verwenden – für konstruktive Einsichten, die Wachstum und Entwicklung fördern.“(Gasser-Steiner 2005, 189). Das kann bedeuten, dass der Analytiker, wenn er die bei ihm aktivierten Einstellungen bzw. seine Reaktionen auf jene des Klienten „nicht als einen Aspekt seiner eigenen neurotischen Reste erkennt, [. . . ] er dieses Erlebnis als wahrscheinlich für das Problem des Patienten aufschlussreich an und als etwas [sieht], das es wert ist, von ihm und dem Patienten gemeinsam untersucht zu werden“ (Mitchell 2005, 333). Hier sind lediglich die Fragen, die der Diskurs zur „self disclosure“ bearbeitet (s. d. a. 3.1.3) zu klären, die prinzipielle Behandlung dieses Aspektes jedoch sollte ebenfalls unproblematisch sein. 3. Als Gegenstand psychotherapiewissenschaftlicher Forschung („Menschenbild ⇔ Weltbild“) Dieser Aspekt enthält die brisantesten Elemente. Nun ist zwar die resümierende Feststellung, die Michael Utsch 2007 zur bisherigen Behandlung dieses Themas in der Individualpsychologie traf, vielleicht etwas überzogen, aber sie bringt pointiert einen Grundgedanken in den Blick: „Die religionspsychologischen Erträge adlerianischer Provenienz sind gering. Je nach Gusto wurden die Grundannahmen Adlers beispielsweise als authentisch evangelisch (Ellerbrock, 1982, 1985; Günther, 1996. 2001) bzw. katholisch (Brandl, 1997; Krieger, 1998), als taoistisch (Lang, 2002) oder als genuin buddhistisch (Noda, 1985; Brunner, 2002) deklariert. Es kann aber alles auch ganz anders sein: Ein sich selber als Agnostiker und Freigeist verstehender Individualpsychologe wertete religiöse Überzeugungen generell als ‚kompensatorischen
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Größenwahn‘ ab und führte weiter aus: ‚Religiosität, Nationalismus und Rassismus gehören zu den wichtigsten Kompensationsmechanismen, mit denen ein zerbrochenes Selbstbewusstsein schlecht und recht gekittet wird‘ (Rattner, 1990, S. 235). Eine Kommentierung dieser Polemik erübrigt sich wohl aus heutiger Sicht. Neben anderen Themen werden derzeit die religionspsychologischen Implikationen der Selbstpsychologie, Objektbeziehungstheorie und der Bindungstheorie untersucht. Wäre das nicht eine günstige Gelegenheit, individualpsychologische Aspekte zur Bedeutung von Religiosität und Spiritualität genauer in den Blick zu nehmen, wo doch gerade Brücken zwischen Adlers Gedankengut und den drei genannten analytischen Theorieansätzen geschlagen werden? Bislang scheinen aber Richtungskämpfe im Vordergrund zu stehen, denn Adler wird sowohl christlich, taoistisch, buddhistisch als auch agnostisch vereinnahmt. Aus diesen Sackgassen kann nur die Beschäftigung mit dem individualpsychologischen Menschenbild herausführen“ (Utsch 2007, 169 f.). Hier ist tatsächlich noch viel Arbeit für die individualpsychologische Community zu leisten, die weit über Anwürfe wie eine „lebensstilorientierte Bibelerschließung“ (Günther 2004; ders. 2009, 465) oder dergleichen hinausgehen müssen. Die Ausgangslage für eine diesbezügliche Weiterentwicklung eines differenzierten anthropologischen Hintergrundes religiöser und spiritueller Dimensionen der conditio humana in einer individualpsychologischen Behandlung dieses Themenbereiches ist allerdings etwas spröde, und zwar v. a. aus zwei Gründen: Zum einen ist Adlers einzige explizite und ausführlichere Beschäftigung mit dem Thema in der Auseinandersetzung mit Ernst Paul Ferdinand Jahn, einem Berliner Pfarrer zu finden und wird einem etwaigen Anspruch als systematische Ausdifferenzierung seines Theoriengebäudes durch Integration von religiös bzw. spirituell zu nennenden Elementen der conditio humana in das individualpsychologische „Begriffsnetz“, speziell der paradigmatischen Termini „Gemeinschaftsgefühl“, „Kompensations-“, „Geltungs-“ und „Machtstreben“ in keiner Weise gerecht. Zum anderen sind die letzten Jahre seines Schaffens selbst durch eine missionarische Grundhaltung geprägt, die seine Ausführungen in Vorträgen und Schriften seine Individualpsychologie immer mehr mit den Klängen missionarischen Eifers ausstatteten. Dieser Ductus ist einer gedeihlichen Arbeit in der Verwaltung dieses Erbes hin zu einer systematischen Theoriegestaltung nicht förderlich, vielmehr geht es auch hier um eine differenzierte Einarbeitung neuerer Erkenntnisse zu den Entwicklungstheorien und Psychopathologien (die ja untrennbar mit den anthropologischen Grundannahmen in Verbindung stehen) in die individualpsychologischen Überlegungen zu Religion und Spiritualität. Die prinzipielle Akzeptanz von Ambivalenz, Konflikt, Mehrdeutigkeit, Paradoxie als jene Elemente der conditio humana, die gerade der Entwicklung eines „Gemeinschaftsgefühls sub specie aeternitatis“, wie Adler es fordert, immer wieder den Boden zu entziehen scheint, kann ja nicht nur als unumgängliche Grundbedin-
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5.7 Spiritualität und Religion
gung sondern viel mehr noch als eben jenen Boden zu sehen, auf dem die „nächste Stufe der Bewusstheit“ erreicht werden kann 4 .
4
Aus den Überlegungen des Kapitels können z. B. folgende Anregungen zur Bearbeitung „spiritueller“ Dimensionen des analytischen Prozesses innerhalb individualpsychologischer Konturierungen entstehen: Das unaufhebbare Aufgespanntsein zwischen chaosfordernden und den chaosordnenden Kräften, in der Psychoanalyse repräsentiert in den Paaren Eros-Thanatos bzw. Libido-Destrudo, eröffnet ja – so erleben wir es zumindest in unseren Analysen – einen spezifisch menschlichen Entwicklungsraum, der gleichzeitig des Menschen eigene(r) Schöpfung(sraum) wird. Diesen Entwicklungsraum immer wieder reflexiv „neu“ zu eröffnen (also als „Seiendes durch Reflexion“ („noch einmal“) erschaffen) verweist über eine bestimmte Interpretation des Gemeinschaftsgefühls auf ein evolutionäres Konzept von Bewusstheit. Die Hauptwirkung jeder Psychotherapie, vor allem aber jener von Analysen kann diesbezüglich auch in einer Wechselwirkung zwischen den „zwei Seiten jedes Augenblicks“ gesehen werden. Im Widerspiel von phantasierten und realen Interaktionen, von Projektion und Reflexion, Externalisierung und Internalisierung ist die eine Seite diejenige, die gewissermaßen „das Sein einatmet“ (reale Interaktionsergebnisse, Internalisierung, Reflexion) und die andere ist jene, die das Sein „ausatmet“ (Phantasie, Projektion, Externalisierung). In der „kooperativen Subjekt-Transformation“, die sich als Effekt der therapeutischen Situation einstellt, gibt es eine synchrone Triplizierung dieses janusköpfigen Augenblicks: („gleichzeitig“) ein Augenblick in mir, („gleichzeitig“) ein Augenblick in Dir, („gleichzeitig“) ein Augenblick in uns. Das Annehmen des je Eigenen im Durchgang durch das je Andere und dieses je Anderen im Durchgang durch dieses je Eigene ist dann in seiner Vollendung als kooperatives Annehmen des je Gemeinsamen im Durchgang durch das je Trennende das erste und letzte Ziel von Psychotherapie.
6 Beispiele aus dem Bereich der Sozialund Geisteswissenschaften Bernd Rieken An einer psychoanalytischen Hochschule sollten, so Freud, neben der Tiefenpsychologie, Biologie und Psychiatrie auch Fächer gelehrt werden, „die dem Arzt ferne liegen und mit denen er in seiner Tätigkeit nicht zusammenkommt: Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft. Ohne eine gute Orientierung auf diesen Gebieten steht der Analytiker einem großen Teil seines Materials verständnislos gegenüber“ (1926e, 281). Die Gründerväter der Tiefenpsychologie, also Freud, Adler und Jung, haben das ernst genommen, neben ihrer wissenschaftlich-analytischen und praktischen Arbeit haben sie sich auch mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragen befasst. 1 Heute dominiert eindeutig der klinische Bereich; das hat mit der Explosion des Wissens zu tun, die es einem schwer macht, selbst in den engen Grenzen des eigenen Faches auch nur halbwegs den Überblick zu bewahren. Daher ist es aus Zeitgründen kaum möglich, sich auch noch außerhalb desselben kundig zu machen, zumal von der Profilierung im eigenen Wissenschaftsbereich die Karriere mit abhängt. Außerdem hat Allgemeinbildung nicht mehr den gleichen Stellenwert wie vor 100 Jahren, als die akademische Welt noch stärker von humanistischen Idealen geprägt war. An ihre Stelle sind vielfach funktional-utilitaristische Erwägungen getreten, man befasst sich primär mit dem, was der Karriere bzw. der professionellen Tätigkeit im engeren Sinne nützt. Großteils ist das Systemzwängen geschuldet, aber es kann auch kleinbürgerlichen Vorstellungen entspringen, wenn man darunter einen geistigen Horizont versteht, der aufgrund spezifischer Sozialisationsbedingungen wenig Bereitschaft zeigt, über die Tellergrenzen des Eigenen und Vertrauten hinauszuschauen. Dabei lassen sich durchaus gute Gründe anführen, in einem Lehrbuch zur modernen Individualpsychologie geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Aspekte mit einzubeziehen. Zum einen können sie Ausdruck von Weltoffenheit und Neugierde sein, zum anderen dienen sie der viel beschworenen, aber wenig praktizierten Interdisziplinarität und dem ihr innewohnenden Synergievorrat. Vor allem aber zeigen sie an, dass der Tiefenpsychologie ein spezifisches Potential innewohnt, das anderen 1
In Hinblick auf die Individualpsychologie eignet sich als Einstieg für Fragen zur Gesellschaft und Kultur der siebte Band der Studienausgabe von Alfred Adler (Adler 1897–1937/2009); bezüglich Politik und Gesellschaft: Girkinger 2007, 121–154; mit Blick auf Dichtung, Kultur, Gesellschaft: Brachfeld 2002; hinsichtlich Dichtung die sehr ausführliche Dissertation: Schimmer 2001, sowie Hoefele 1986; für die Volkserzählung, das heißt Märchen, Sage, moderne Sage, Schwank und Witz: Rieken 2003a; ders. 2004; vgl. auch Rieken 2010a; ders. 2010b.
B. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
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6 Beispiele aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften
Therapieschulen fehlt. Denn weder behavioristische noch humanistische Richtungen werden von den geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen in nennenswertem Ausmaß wahrgenommen, wenn sie ihre eigenen Gegenstände aus einer psychologischen Perspektive betrachten, sondern primär analytische Schulen. Der wesentliche Grund dafür dürfte sein, dass der tiefenhermeneutische Zugang, wie er sich in den vielen Fallgeschichten aus analytischer Feder zeigt, den Geisteswissenschaften mit ihrem Feingefühl für die „Kunst der Interpretation“ (Staiger 1963a; ders. 1963b) und dem Vermögen, „zwischen den Zeilen zu lesen“, entgegenkommt. Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass kulturwissenschaftliche Phänomene von Analytikern oftmals dogmatisch betrachtet werden, was dem offenen Horizont der Geisteswissenschaften widerspricht. Es ist weder zielführend noch befriedigend, in kulturellen Phänomenen nichts anderes als den Ödipuskomplex, den Minderwertigkeitskomplex oder die ewig gleichen archetypischen Bilder zu entdecken. Die Tiefenpsychologie verliert dadurch an Tiefe, denn wenn man im Vorhinein bereits weiß, was herauskommt, büßt sie an dem ein, was sie eigentlich ausmacht, nämlich ein wenig Licht in die dunklen, geheimnisumwitterten Bereiche der menschlichen Existenz zu werfen, die man nie zur Gänze wird ausloten können. Insofern sind geisteswissenschaftliche Zugänge angemessener, weil sie ihre Gegenstände mit dem offenen Horizont eines pluralistischen Methodenverständnisses zu erfassen versuchen. Tiefenpsychologische Herangehensweisen können von ihnen in das „Orchester“ der Betrachtungsarten integriert werden, ohne dass sie zur einzig „wahren“ Methode erklärt werden müssten. Ähnlichkeiten zwischen dem Interpretieren von Patienten-Erzählungen und geisteswissenschaftlichen Phänomenen sind indes markant. Wahrscheinlich sind sie es, welche Freud dazu veranlasst haben zu schreiben, der Analytiker stehe ohne Kenntnisse der Kulturgeschichte „einem großen Teil seines Materials verständnislos gegenüber“. Außerdem vermag durch die Berücksichtigung der kulturellen, gesellschaftlichen oder existenziellen Perspektive, wie bereits im Kapitel über den Traum erläutert (3.3), die individuelle Dimension symbolisch in eine allgemeinere erweitert zu werden, indem der Patient bemerkt, dass seine Probleme ein Teil der menschlichen Angelegenheiten insgesamt oder zumindest bestimmter mentaler Strukturen sein können. Mitunter sind es aber auch ganz praktische Gründe, die dafür sprechen, zum Beispiel in der Dichtung ein wenig bewandert zu sein. Eine Patientin mit negativ getöntem Weltbild und depressiver Symptomatik, die zum Teil aus der Ebene der Grundstörung gespeist wurde, erzählte in der Analyse einmal, dass sowohl das Märchen vom „Aschenputtel“ (Grimm 1999, 116–122; KHM 21) als auch Heinrich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“ sie besonders beeindruckt habe (Kleist 1972a). 2 Das sei typisch für sie, fügte sie hinzu, denn Aschenputtel werde bis ans Ende von der bösen Stiefmutter und ihren Töchtern 2
Vgl. zu dieser Patientin auch Rieken 2006, 202 ff.
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drangsaliert, und das Kleist’sche Drama ende in Gram, weil das liebreizende Käthchen nicht mit dem Grafen vom Strahl zusammenfinde. Ich stutzte ein wenig, denn dass Aschenputtel, wie fast jedes Märchen, gut ausgeht, weiß wahrscheinlich jedes Kind. Dann kramte ich wegen Kleists Schauspiel in meinen Erinnerungen und sagte, nachdem mir der Schluss desselben wieder eingefallen war: „Da irren Sie sich. Die beiden heiraten am Ende. Und ‚Aschenputtel‘ geht ebenfalls gut aus“. Das wollte meine Patientin, befangen in ihrer tendenziösen Apperzeption, zunächst nicht glauben, allein sie ließ sich dann doch eines Besseren belehren, und allmählich begann sie sich an den tatsächlichen Ablauf des Dramas genauso wie an das Ende des Märchens zu erinnern. Im weiteren Verlauf der Therapie relativierte sich das negative Weltbild meiner Patientin allmählich, weswegen man annehmen kann, dass ihr Unbewusstes sich an das wirkliche Geschehen in den Texten erinnern konnte und gewissermaßen ein Zeichen setzen wollte, um ihr deutlich zu machen, dass trotz ihrer Grundstörung ein Fünkchen Hoffnung bestand. Nun wird man einwenden können, dass die Therapie auch ohne literarische Kenntnisse aufseiten des Therapeuten ihren Gang genommen hätte, und das ist sicher richtig. Aber das Wissen um den tatsächlichen Inhalt des Kleist’schen Schauspiels und das Ende des „Aschenputtel“ war doch ein wichtiger Hinweis auf den beginnenden Wandel. Nun wird kein Therapeut all die Bücher gelesen oder Filme gesehen haben, von denen die Patienten ihnen berichten. Aber es wäre möglich, sekundäre Informationsquellen über diese Medien zu Rate zu ziehen, wenn man es für sinnvoll hält. Außerdem bietet die Überprüfung des Textes oder Films die seltene Möglichkeit, Aussagen und Meinungen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, also festzustellen, ob es sich dabei um Konstruktion oder Rekonstruktion handelt.
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6.1 Dichtung und Volkserzählung 6.1.1 „Die ganze Welt ist eine Bühne“1 Von den „Kunstgriffen“ des Seelenlebens war bereits in Kap. 1.2 die Rede; psychoanalytisch betrachtet sind damit in erster Linie die Abwehrmechanismen gemeint, individualpsychologisch die Fiktionen – jene mehr oder weniger irrealen Vorstellungen, nach denen wir unser Leben ausrichten und bei denen wir „so tun, als ob“ wir sie erreichen könnten, obwohl wir es nie zur Gänze schaffen und mitunter nicht einmal halbwegs. Einfacher formuliert: Psychopathologie kann unter anderem definiert werden als ein Phänomen, bei dem man sich und anderen in wichtigen Bereichen des Lebens etwas vorspielt, vortäuscht. Unzulänglichkeiten, die wir als eine Belastung empfinden und uns in einem empfindlichen Ausmaß beeinträchtigen, möchten wir oftmals vor uns und anderen verbergen. Wie bereits des Öfteren betont, hat die Tiefenpsychologie ein an Defiziten orientiertes Weltbild, weil sie unsere Spezies als ein Mängelwesen betrachtet. Mit C. G. Jung können wir das noch schärfer fassen: „Es hat eben etwas Furchtbares an sich, dass der Mensch auch eine Schattenseite hat, welche nicht nur etwa aus kleinen Schwächen und Schönheitsfehlern besteht, sondern aus einer geradezu dämonischen Dynamik“ (Jung 1996, 32). Wenn sich hinter moralischem Verhalten Triebimpulse verbergen und unter der Maske des Macht- und Geltungsstrebens oder in der Inszenierung „feiner Unterschiede“ Minderwertigkeitsgefühle verstecken, dann ist man in der Regel nicht geneigt, einen „Blick hinter die Kulissen“ zuzulassen und nach tiefer liegenden Motiven zu fahnden. Die dichterische Seite dieses Phänomens ist die Theatrum-mundi-Metapher (vgl. Alewyn 1989; Curtius 1993, 148–154; Rieken 2006, 197–200), die Vorstellung, dass wir auf der Lebensbühne auftreten und nur Rollen spielen, um unsere „wahre“ Existenz dahinter zu verbergen – kurzum es geht dabei um die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Schein. So heißt es in Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“: „Wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann wie in einem Zimmer mit Spiegeln überall nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schafskopf, nichts mehr, nichts weniger. Die Unterschiede sind so groß nicht, wir alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genies, und zwar das Alles in Einem [. . . ]. Schlafen, Verdaun, Kinder machen das treiben alle, die übrigen Dinge sind nur Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nämliche Thema“ (Büchner 1984, 63 f.).
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„All the world’s a stage, And all the men and women merely players: They have their exits and their entrances; And one man in his time plays many parts, His acts being seven ages“ (Jacques in William Shakespeare: As You Like It, II, 7.). Übersetzung: „Die ganze Welt ist eine Bühne, Und alle Frauen und Männer bloße Spieler: Sie haben ihre Ausgänge und ihre Eingänge; Und man spielt sein Leben lang viele Rollen, Die ganzen sieben Lebensalter hindurch“ (Shakespeare 1979a, 281).
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6.1 Dichtung und Volkserzählung
Der Dichter legt diese Worte Camille Desmoulins in den Mund, jenem Revolutionär, der nach anfänglicher Begeisterung den harten Kurs Robespierres nicht mehr mittragen wollte und gemeinsam mit Georg Danton und anderen Mitstreitern durch die Guillotine hingerichtet wurde. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ waren die Ideale der Französischen Revolution, die sie am Ende verraten sahen. Weltanschaulich stand sie in der Tradition Rousseaus und war von einer Machbarkeits- und Tabularasa-Philosophie geprägt, welche an die grundlegende Erneuerung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse glaubte, weil sie den Menschen als ein prinzipiell gutartiges Wesen betrachtete. Der zunehmend willkürlicher und despotischer werdende Verlauf der Französischen Revolution führte indes bei vielen Mitkämpfern zur Desillusionierung, und in diesem Kontext sind die oben zitierten Worte Camille Desmoulins zu verstehen. Das Abnehmen der Maske ist ein eindeutiger Bezug auf die Bühnenmetapher, und das Bild, das dann folgt („Wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann wie in einem Zimmer mit Spiegeln überall nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schafskopf “), ist sehr eindringlich, weil das Vorhandensein mehrerer Spiegel das „wahre“ Antlitz des Menschen vervielfacht, sodass es uns aus allen Ecken und Winkeln entgegen springt, sich uns aufdrängt – und darüber hinaus auch noch durch die Spiegelung in den Spiegeln bis ins Unendliche potenziert werden kann. Weil es sich dabei um einen Schafskopf handelt, sind die Menschen nicht mehr als ein dummes Tier, und darin gleichen sie einander allzumal („Die Unterschiede sind so groß nicht“). Gutartigkeit und Boshaftigkeit, Beschränktheit und Klugheit finden sich in jedem („Schurken und Engel, Dummköpfe und Genies“), desgleichen die biologischen Bedürfnisse („Schlafen, Verdaun, Kinder machen“), alles andere seien nur „Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nämliche Thema“, was im Klartext heißt, dass die Menschen sich und einander etwas vorgaukeln, wenn sie von hehren Idealen sprechen. Und damit sind die Ideen der Französischen Revolution zur Illusion geworden, denn die wohltönenden Phrasen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ werden „in Wirklichkeit“ von Tieren in Menschengestalt gedroschen, weil sie genauso despotisch, machtgierig und grausam wie ihre Vorgänger des feudalabsolutistischen Ancien Régime sind. Camille Desmoulins vertritt sehr pessimistische Ansichten in Bezug auf den Menschen. Sie sind auch Ausdruck des Säkularisierungsprozesses, der die europäische Moderne kennzeichnet. Die christlichen Botschaften haben an Plausibilität eingebüßt, und wenn an ihre Stelle keine weltlichen Werte treten, stellt sich die Sinnfrage, und es besteht die Gefahr, verzweifelt oder zynisch zu werden. Eines der bekanntesten Beispiele dafür sind die im Umkreis der Romantik entstandenen „Nachtwachen“ eines unbekannten Autors, der sich Bonaventura nennt. Darin können wir die folgenden Zeilen lesen: „Was soll es auch überhaupt mit dem Ernste, der Mensch ist eine spaßhafte Bestie von Haus aus, und er agiert bloß auf einer größern Bühne als die Akteure der kleinern [. . . ]. Der Totenkopf fehlt nie hinter der liebäugelnden Larve, und das Leben
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ist nur das Schellenkleid, das das Nichts umgehängt hat, um damit zu klingeln und es zuletzt grimmig zu zerreißen und von sich zu schleudern. Es ist alles Nichts und würgt sich selbst auf und schlingt sich gierig hinunter“ (Bonaventura 1974, 74 f.). Die „Nachtwachen“ gelten in der Philologie als „ein wichtiges Belegstück für die Geschichte des deutschen Nihilismus“ (Schulz 1983, 438). Sie sind eine Anklage gegen die Vermessenheit des Menschen, der ein buntes Schellenkleid trägt und sich wichtig dünkt, obwohl darunter das Nichts klafft. Der Germanist Gerhard Schulz bringt diese Problematik genau auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Selbsterhöhung wandelt sich durch Erkenntnis zum Selbstverlust“ (ebd., 440). Mitunter sind allerdings individuelle Abwehrmechanismen und kollektive Verdrängungsleistungen so ausgeprägt, dass man dem drohenden Selbstverlust infolge Selbsterkenntnis einen Riegel vorschieben kann, was vielleicht auch etwas Tröstliches oder Beruhigendes an sich hat. Deutlich zeigt sich das in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“, in dem die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Wilhelminischen Kaiserreich kritisch seziert werden. Der Protagonist heißt Diederich Heßling, und erzählt wird seine Lebensgeschichte von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Es handelt sich mithin um einen Entwicklungsroman, jedoch in parodistischer Umkehrung, weil geschildert wird, wie aus einem sensiblen Kind ein unbarmherziger und rücksichtsloser Papierfabrikant wird. Die Erzählung beginnt mit den folgenden Worten: „Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“ (H. Mann 1977, 5). Damit ist bereits viel gesagt, denn er mag die unwirtliche Welt da draußen weder sehen noch hören. Das ist kein Wunder, denn der innerfamiliäre Repräsentant des gesellschaftlichen Systems, sein Vater, ist „fürchterlicher als Gnom und Kröte“ aus dem Märchenbuch, „und obendrein sollte man ihn lieben“ (ebd.). Das gelingt ihm auf gewisse Weise, denn „wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich solange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief “ (ebd.). Wenn wir dies in eine psychologische Sprache gießen, können wir sagen, dass die Beziehung zwischen Vater und Sohn sehr ambivalent ist, weil sich Diederich vor ihm fürchtet, aber sich gleichzeitig mit ihm als Angreifer identifiziert. Ähnlich zwiespältig ist das Verhältnis zur Mutter, die zwar „mit dem Kind ‚aus dem Herzen‘“ betet, es „aber Hals über Kopf und verzerrt von Rachsucht“ auch schlägt (ebd., 6). Achtung hat er vor ihr nicht, denn „ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm“ (ebd., 7). Als er in die Schule kommt, beglückt ihn „die Zugehörigkeit [. . . ] zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus“, weil „die Macht,
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die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war“ (ebd., 8). Es braucht nicht zu überraschen, dass er den Drang spürt, die Gebieter nachzuahmen, doch benötigt er dafür zunächst keine Menschen: „Ihm genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holländers [= Bei der Papierherstellung eine Maschine zum Zerkleinern der Faserstoffe, Anm. B. R.] und sah die Trommel die Lumpen ausschlagen. ‚Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!‘ murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es“ (ebd., 8). Liest man den Roman zur Gänze, kann man die innere und äußere Entwicklung eines Menschen nachvollziehen, den Adorno später als „autoritären Charakter“ bezeichnen sollte (Adorno 1982). Gleichzeitig ist der Protagonist ein typisches Überkompensationsschicksal im Adler’schen Sinn, denn Diederich Heßlings Minderwertigkeitsgefühle sind besonders drückend, weswegen „das Kind in seiner Angst, für sein zukünftiges Leben zu kurz zu kommen, sich mit dem bloßen Ausgleich nicht zufriedengibt und zu weit greift (Überkompensation). Das Streben nach Macht und Überlegenheit wird überspitzt und ins Krankhafte gesteigert“ (Adler 1927a, 76). Triebpsychologisch und -biologisch formuliert verwendet Diederich die anderen zur Abfuhr seiner energetischen Spannung, während er aus dem Blickwinkel des Fiktionalismus einer sichernden Leitlinie anhängt, die nach einem einfachen SchwarzWeiß-Schema die Welt in ein Oben und ein Unten einteilt. Er will „groß“ werden, wird es auch und spielt den Mächtigen, aber darunter verbirgt sich weiterhin das sensible, ängstliche Kind, das er einmal war. So braucht es nicht wunder zu nehmen, dass es zum Ende des Romans hin einmal zur Erschütterung seines Selbstverständnisses kommt, als er genau dieses Theaterhaften ansichtig wird. Eines Tages belauscht er nämlich ein Gespräch zwischen Buck sen. und dessen Sohn Wolfgang, im Roman die Antipoden Heßlings, da im liberalen Bürgertum verwurzelt und die Ideale der 48er Revolution hochhaltend. Gleichzeitig werden sie aber auch als widersprüchliche Persönlichkeiten skizziert, weil sie dem Maskenspiel der Gesellschaft nicht vollkommen abhold sind und sich außerdem oftmals resignativ-passiv verhalten: Der Vater ist zwar Idealist, aber inaktiv, während der Sohn sich frühzeitig aus der Konfrontation mit Heßling zurückzieht. In einem Park sprechen sie über die 100-Jahr-Feier Wilhelms des Ersten, die kurz zuvor stattgefunden hat. Buck sen. sagt: „‚Dies mystisch-heroische Spektakel wird nachher mit Ketten von uns abgesperrt sein, und wir werden zu gaffen haben: Was von allem der Endzweck war. Theater, und kein gutes.‘ Nach einer Weile – die Dämmerung graute – sagte der Vater: ‚Und du, mein Sohn? Auch dir schien es einmal der Endzweck, zu spielen.‘
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‚Wie meinem ganzen Geschlecht. Mehr können wir nicht. Wir sollten uns leicht und klein nehmen heute, es ist die sicherste Haltung angesichts der Zukunft; und ich sage nicht, dass es mehr war als Eitelkeit, weshalb ich die Bühne wieder verlassen habe. Lächerlich, Vater, ich bin gegangen, weil einmal, als ich spielte, ein Polizeipräsident geweint hatte. Aber bedenke auch, ob dies erträglich war. Feinheiten letzten Grades, Einsicht in Herzen, hohe Moral, Modernität des Intellektes und der Seele stelle ich für Menschen dar, die meinesgleichen scheinen, weil sie mir zuwinken und betroffene Gesichter haben. Nachher aber liefern sie Revolutionäre aus und schießen auf Streikende. Denn mein Polizeipräsident steht für alle‘“ (H. Mann 1977, 347 f.). Im weiteren Verlauf des Gesprächs beschwört Buck sen. die Ideale des Humanismus und des Geisteslebens, um dann mit den folgenden Worten zu schließen: „Der würde nicht gelebt haben, der nur in der Gegenwart lebte“ (ebd., 348). Diederich, der die ganze Zeit gelauscht hat, beschleicht, als er das hört, „das Gefühl, aus einem bösen, wenn auch größtenteils unbegreiflichen Traum zu kommen, worin an den Grundlagen gerüttelt worden war. Und trotz dem Unwirklichen, das alles Gehörte an sich hatte, schien hier tiefer gerüttelt worden zu sein, als je der ihm bekannte Umsturz rüttelte“ (ebd.). Der nächste Absatz beginnt allerdings wieder mit einer anderen Tönung, lautet doch die erste Zeile: „In der Gegenwart gab es freilich greifbarere Angelegenheiten“ (ebd., 349). Diederich Heßling identifiziert sich mehr und mehr mit Wilhelm II. und seiner kaiserlichen Macht, bis er am Ende zum wichtigsten Mann in seiner kleinen Heimatstadt aufgestiegen ist. Aus psychologischer Perspektive wird man ihm attestieren, dass Überkompensationsmechanismen in hinreichender Weise vorhanden sind und seine Abwehrmechanismen insoweit funktionieren, als sie die kindlichen Traumata nicht zu lebendig werden lassen. Aber er lebt auch in der passenden Gesellschaft mit ihrem „Willen zum Schein“, welche äußerliche Macht und Stärke bevorzugt und archaischen Männlichkeitsidealen verpflichtet ist. Daher wäre es müßig, psychologische und gesellschaftliche Einflüsse voneinander trennen zu wollen, denn sie bilden eine unentwirrbare Einheit, weil Familien- und Gesellschaftssystem in Wechselwirkung miteinander stehen. Wahrscheinlich ist ein wenig deutlich geworden, dass die Bühnenmetapher mehr ist als nur ein ästhetisches Phänomen, das bestenfalls für Literaturwissenschaftler von Interesse wäre. Vielmehr thematisiert sie ein grundlegendes Problem menschlicher Existenz, nämlich das Verhältnis von Sein und Schein, mit anderen Worten, sie geht der Frage nach, wer man eigentlich ist und worin der Sinn des Lebens besteht. Dadurch existieren Berührungspunkte mit tiefenpsychologischen Problemen, die sich ebenfalls damit befassen und insbesondere durch die Analyse der Persönlichkeit das Eigentliche vom Schein zu sondern trachten.
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6.1 Dichtung und Volkserzählung
6.1.2 „Oben“ und „Unten“ in der Volkserzählung Wenn wir nun von der „Beletage“ der Hochkultur in die „Niederungen“ der Volkserzählung hinabsteigen, so wird damit nicht angezeigt, dass wir auf minder wichtige menschliche Probleme stießen; sie werden nur etwas grobschlächtiger abgehandelt, weil die Charakterisierung der Figuren weniger differenziert erfolgt als in der Dichtung. 2 Die Themen sind dagegen vielfach die gleichen, beispielsweise stehe im Märchen „der Zwiespalt zwischen Schein und Sein an allererster Stelle“, so der bekannte Volksprosaforscher Max Lüthi (1990, 142; s. ebd. 142–145). Aschenputtel (Grimm 1999, 116–122; KHM 21) etwa ist in ihrer undankbaren Rolle als Dienstmagd der bösen Stiefmutter und ihren Töchtern nur dem Scheine nach marginalisiert, denn tatsächlich weiß sie um ihren Wert, schöpft Kraft aus der Bindung an die leibliche Mutter und verfolgt unbeirrt ein Ziel, nämlich auf den Ball zu gehen. Umgekehrt fühlen sich ihr Aschenputtels Stiefschwestern überlegen, drangsalieren sie obendrein auf bösartige Weise und sind dem Schein verpflichtet. Denn sie fordern eitles Blendwerk, etwa schöne Kleider oder Perlen, während sich Aschenputtel etwas Substanzielles wünscht, nämlich den Haselreis, aus dem dann der Gaben spendende Baum auf dem Grab seiner Mutter entsteht. Die Stiefschwestern haben keinen rechten Bezug zur Wirklichkeit, weswegen es nur folgerichtig ist, wenn ihnen am Ende von den Tauben die Augen ausgepickt werden: Verblendet sind sie von vornherein, blind am Schluss der Erzählung. Ähnlich verhält es sich mit der bösen Königin in Sneewittchen (ebd., 235–244; KHM 53). Sie hält sich für groß und mächtig, ist es aber nur dem Scheine nach, da sie sich immer und immer wieder mithilfe des Spiegels bestätigen lassen muss, sie wäre wirklich die Schönste im ganzen Lande. Würde sie sich tatsächlich so fühlen, bedürfte sie nicht ständiger Bestätigung, und so ist es nur folgerichtig, dass sie ganz verzweifelt ist, als sie erfährt, nur die Zweitschönste zu sein. Das erinnert an das individualpsychologische Alles-oder-Nichts-Prinzip: Wenn man nicht das Optimum erreicht, ist alles nichts wert. Wäre sie wirklich eine „Königin“ im Sinne von „souverän“, dann würde es ihr nichts ausmachen, dass eine einzige Person existiert, die schöner als sie ist. Im „Tapferen Schneiderlein“ (ebd., 107–115; KHM 20) ist die Spannung zwischen Sein und Schein bereits im Titel angelegt, denn es handelt sich offensichtlich um einen Schneider in Diminutivform, der deswegen den Menschen vorspielt, tapfer zu sein. Das zeigt sich bereits daran, dass die „Siebene auf einen Streich“ (ebd., 108), die er großartig auf den Gürtel stickt, sich auf die erschlagenen Fliegen beziehen, aber das erzählt er natürlich niemandem. Entsprechend gestaltet sich der Anfang des Märchens, durch den der Protagonist eingeführt wird: 2
Die individualpsychologische Rezeption der Volksprosa beschränkt sich im Wesentlichen auf das Märchen; vgl. dazu die Literaturangaben in Schimmer 2001, 66–69. Eigene Arbeiten befassen sich auch mit Schwank, Sage und moderner Sage, in der Regel interdisziplinär im Schnittfeld Ethnologie/Tiefenpsychologie (Rieken 2000; 2003b; 2003c; 2004a; 2004b; 2008a; 2009b; 2009c; 2010e; 2011d; vgl. ferner 2010a; 2010b).
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„An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab, und rief ‚gut Mus feil! gut Mus feil!‘. Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, es steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus, und rief ‚hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Ware los‘. Die Frau stieg die drei Treppen mit ihrem schweren Korbe zu dem Schneider herauf, und musste die Töpfe sämtlich vor ihm auspacken. Er besah sie alle, hielt die Nase dran, und sagte endlich ‚das Mus scheint mir gut, wieg sie mir doch vier Lot ab, liebe Frau, wenns auch ein Viertelpfund ist, es kommt mir nicht darauf an‘. Die Frau, welche gehofft hatte, einen guten Absatz zu finden, gab ihm, was er verlangte, ging aber ganz ärgerlich und brummig fort“ (ebd., 107). Diskrepanzen offenbaren sich auf mannigfache Weise in dem Text und weisen auf den Gegensatz zwischen Sein und Schein hin, der eng mit der Beziehung zwischen oben und unten verbunden ist. Der Protagonist näht „aus Leibeskräften“, obzwar er ein „zartes Haupt“ hat und nur ein Schneiderlein ist. Er verspricht der Bäuerin, sie werde, wenn sie zu ihm heraufkomme, „ihre Ware los“. Sie ist unten, er ist oben, aber unterm Dach befanden sich früher – im Gegensatz zu heute – die billigsten Wohnungen, weil man den Weg über die viele Stufen hinweg als zu beschwerlich befand. 3 Der Hinweis auf das Loswerden der Ware, von dem sich die Bäuerin einen guten Verdienst erwartet, steht wiederum in einem Spannungsverhältnis zum geringen Kauf von vier Lot. Aber der Schneider gibt sich gönnerhaft, denn er sagt, es könne auch ein Viertelpfund, also 125 Gramm, sein, „es kommt mir nicht darauf an“, was einen weiteren Gegensatz bildet, indem er den Großzügigen spielt, aber nur eine kleine Menge abnimmt. Und dafür muss sie umständlich alle Töpfe auspacken, damit er sie ausführlich und langwierig beschnuppern kann, so als wäre er vom Fach und verstünde viel vom Mus. Er drangsaliert die Bäuerin, behandelt sie von oben herab, was sicher auch damit zu tun hat, dass er ein Stadtbürger ist, sie hingegen vom Lande kommt. Umgekehrt wird seine Kundschaft höheren Ständen angehören als er, weil nur diese sich in der Regel einen Schneider leisten konnten. Später begegnet unser Held den Riesen und muss mit ihnen kämpfen. Dazu gibt es eine interessante Interpretation des Germanisten Winfried Freund, der in etwas reduktionistischer Weise behauptet, das Märchen wäre „nur interpretierend mit dem Instrumentarium literarischer Textdeutung“ zu erschließen (Freund 1996, 10). Er polemisiert einerseits gegen die Reduktion auf „positivistische Erkenntnis“ (ebd.), womit er die volkskundliche Erzählforschung meint, andererseits gegen den Missbrauch durch „tiefenpsychologische Willkür“ (ebd.), schreibt dann aber über „Das tapfere Schneiderlein“ Folgendes:
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Daher wurde der erste Stock als Beletage bezeichnet, und dort wohnte meistens der Hausherr, war man doch dem direkten Einfluss der Straße enthoben, musste aber nicht allzu weit hinaufgehen.
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„Mit dem Riesen auf dem Gipfel des Berges tritt dem Schneider die aus der Perspektive des kleinen Mannes ins Gigantische gesteigerte Welt und eine Verkörperung der so genannten höheren Mächte entgegen. Erst nach der erfolgreichen Überwindung seines eigenen Minderwertigkeitsgefühls und der in ihm selbst begründeten Übersteigerung seiner Wirklichkeit ist er imstande, sich zu behaupten und durchzusetzen. In den Augen der Welt, die aus der Sicht des Schneiders in all seiner Beschränktheit riesenhaft erscheinen muss, ist er wirklich nur ein ‚miserabler Kerl‘, wie ihn der Riese tituliert. Aber gerade aus dem Zwergenbewusstsein erwachsen Rieseneinfälle, die eigene Kleinheit zu kompensieren“ (ebd., 59 f.). Der Autor hat anscheinend gar nicht bemerkt, dass er sich hier der Sprache der Tiefenpsychologie bedient, gegen die er einige Seiten zuvor heftigste Einwände erhebt. Offensichtlich sind bestimmte Termini der Individualpsychologie sosehr zum Allgemeingut geworden, dass man um ihre Herkunft gar nicht mehr weiß. Rein inhaltlich betrachtet, ist dem Autor allerdings zuzustimmen, das Schneiderlein ist auf jeden Fall durch auffallende Kompensationsbestrebungen charakterisiert. Das macht auch der Schluss des Märchens deutlich, als er bereits mit der Königstochter verheiratet ist. Im Traume verrät er sich ihr, denn er spricht von seiner früheren beruflichen Tätigkeit: „Junge, mach mir den Wams, und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen!“ (Grimm 1999, 115). Der Leser erfährt wieder einmal, dass das Schneiderlein Menschen, die unter ihm stehen, herablassend-aggressiv behandelt, und der Königstochter wird gewahr, dass sie keinen Prinzen, sondern einen Handwerker geheiratet hat. Sie berichtet anderentags ihrem Vater davon, und er befiehlt daraufhin seinen Dienern, in der darauffolgenden Nacht vorm Schlafgemach des jungen Paares solange zu warten, bis das Schneiderlein eingeschlafen ist. Dann sollen sie ihn fesseln und auf ein Schiff verfrachten, um ihn endgültig loszuwerden. Doch ein Lakai, der ihm gewogen ist, berichtet ihm davon, weswegen er in der folgenden Nacht nur so tut, als würde er einschlafen, und dabei die folgenden Worte spricht: „‚Junge, mach mir den Wams, und flick mir die Hosen, oder ich will dir die Elle über die Ohren schlagen! ich habe siebene mit einem Streich getroffen, zwei Riesen getötet, ein Einhorn fortgeführt, und ein Wildschwein gefangen, und sollte mich vor denen fürchten, die draußen vor der Kammer stehen!‘ Als diese den Schneider also sprechen hörten, überkam sie eine große Furcht, sie liefen, als wenn das wilde Heer hinter ihnen wäre und keiner wollte sich mehr an ihn wagen. Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag ein König“ (ebd.). Das passt zwar wiederum zu seiner Schlitzohrigkeit, die zweifelsohne ein gewisses Talent zu Kompensationsstrategien voraussetzt, doch ruht sein Schicksal auf dem Schein, denn jeder weiß nun, dass er nicht eigentlich ein König, sondern nur ein einfaches Schneiderlein ist. Aber er schafft es, sich in dieser Position zu behaupten,
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weil er alle einschüchtert und sie dadurch Angst vor ihm bekommen. Er „löst“ das Problem durch Macht und Kontrolle und glaubt, oben zu sein, doch wie der erste Traum zeigt, ist er immer noch ein Schneiderlein, das sich hinter der Maske eines Königs versteckt. Man könnte jetzt noch weitere Überlegungen anstellen, etwa wie es für ihn möglich sein kann, eine tragfähige und erquickliche Beziehung zu seiner Frau zu haben, obwohl sie sich getäuscht fühlen und auf ihn herabschauen muss. Aber das wäre wahrscheinlich schon zu viel an psychologischen Überlegungen, denn eine differenzierte Betrachtung tragischer Dimensionen der menschlichen Existenz lässt sich die Volksprosa nicht angelegen sein. Nicht ohne Grund nimmt „Das tapfere Schneiderlein“ im Grimm’schen Werk eine Sonderstellung ein, steht es doch mit seinem burlesken Gehalt an der Grenze zum Schwank und wird daher auch als Schwankmärchen bezeichnet. Damit ist ein neues Stichwort gefallen, und wir können uns nun dem Vorläufer des Witzes zuwenden. Der Schwank ist als eine kurze Erzählung definiert, in der eine überlegene Person überlistet wird. Unterhaltend und belehrend soll dadurch auf die Diskrepanz zwischen Sein und Schein aufmerksam gemacht werden, und zwar mit Hilfe einer überraschenden Wendung, wobei das aggressiv getönte Faktum des Bloßstellens, das sich bereits in der Etymologie widerspiegelt (mittelhochdeutsch „swanc“ = Schlag, Fechthieb), durch den humorvollen Gehalt abgefedert wird (s. Rieken 2000, 28). Ein typisches Beispiel ist die folgende Erzählung: „Das war früher, als der Doktor noch mit Pferd und Wagen im Winter alle 14 Tage herumgekommen ist und seine Patienten besucht hat. Und nun ist er auch zu einem Schmied gekommen, der krank war; Fieber hat er gehabt. Und als er auf der nächsten Tour wieder hinkommt, geht es dem Schmied besser. Da fragt er ihn, was er gemacht hat. ‚Ja, ich habe Sauerkraut gegessen‘, sagt der Schmied. Da schreibt der Arzt in sein Buch, wo er das notiert: Gegen Fieber hilft Sauerkraut. Und als er dann 14 Tage später wieder ins Dorf kommt, ist der Schneider krank und hat ebenfalls Fieber. Da sagt der Doktor zu ihm: ‚Musst Sauerkraut essen, das hilft‘. Als er dann die nächste Tour wiederkommt, ist der Schneider tot. Da schreibt der Doktor in sein Buch: Hilft für’n Schmied, doch nicht für’n Schneider“ (Buse 1992, 46; eigene Übersetzung, B. R.). 4
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Niederdeutscher Originaltext: „Dat is fröher wesen, wo de Dokter denn noch mit Peerd un Wagen in Winter alle veerteihn Daag rümkamen is un siene Patienten besöcht het. Un nu is’e dar ok bi’n Smitt kamen, de is krank wesen, het Feber hat. Un wie’e denn de annere Tour we’r henkummt, veerteihn Daag later, do is de Smitt beter. Do fraagt’e em, wat he maakt het. ‚Ja, ik heff Suurkruut eten‘, seggt de Smitt. Do schrifft he in sien Book, wo he dat notiern deit: Gegen Fieber hilft Sauerkraut. Un wie he denn veerteihn Daag later we’r in’t Dörp henkummt, do is de Snieder krank un het ok Feber. Do seggt de Doktor to em: ‚Musst Suurkruut eten, dat helpt‘. Wie he denn de annere Tour wellerkummt, do is de Snieder doot. Do schrifft de Dokter in sien Book: Helpt för’n Smitt, doch nich för’n Snieder“.
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Sozialgeschichtlich 5 erfahren wir einiges über die schwierigen Bedingungen der Krankenbehandlung am Lande in der norddeutschen Tiefebene des 19. Jahrhunderts: Der Arzt ist an einem Wintertag mit Pferd und Wagen auf wahrscheinlich schlechten Wegen unterwegs und hat eine so große Praxis, dass er die Dörfer und Gehöfte nur alle 14 Tage aufsuchen kann. Der Text ist aber auch medizingeschichtlich interessant, weil Fieber anscheinend in Einklang mit der Humoralpathologie als eigene Krankheit angesehen wird und nicht als ein Symptom einer Krankheit, wie es in der Schulmedizin der Moderne der Fall ist. Somit befindet sich unser Arzt auf dem Stand der antiken und mittelalterlich-frühneuzeitlichen Heilkunst, nicht aber auf dem der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin. Auch sonst versagt er in gehörigem Ausmaß, weil er sich passiv verhält und auf den Hausverstand bzw. das Erfahrungswissen 6 seines Patienten angewiesen ist. So verordnet er dem Schmied keine Medizin, sondern fragt ihn beim nächsten Besuch, wodurch das Fieber verschwunden sei. Das merkt er sich und wendet sein neu erworbenes Wissen sogleich beim nächsten Patienten, dem Schneider, an. Der aber stirbt, woraus er jedoch nicht den Schluss zieht, etwas Falsches empfohlen zu haben, sondern dass Sauerkraut nur Schmieden hilft, nicht jedoch Schneidern. Das ist wirklich witzig, weil der Doktor einen ganz und gar unlogischen Schluss zieht, indem er glaubt, der Beruf des Kranken wäre ursächlich verantwortlich für den Erfolg des Sauerkrauts. Der Gegensatz zwischen Sein und Schein wird hier als Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Rang und tatsächlichem Können thematisiert, denn der wirklich Dumme ist nicht der „einfache“ Bauer, sondern der Arzt. Der Erzähler bedient sich der Kompensation, indem er deutlich macht, dass der Doktor hinsichtlich seines Könnens und trotz seines Status in Wirklichkeit unter ihm steht und von „vorgestern“ ist. Der Schwank thematisiert menschliche Probleme auf humorvoll-aggressive Weise und bleibt, wenn man ihn an der Elle der Dichtung misst, eher der Oberfläche verhaftet. Das gilt auch für das Märchen, weil es, um einen Ausdruck Max Lüthis zu verwenden, durch Flächenhaftigkeit charakterisiert ist. Damit ist gemeint, dass es „überhaupt und in jedem Sinne ohne Tiefengliederung ist. Seine Gestalten sind Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt; ihnen fehlt die Beziehung zur Vorwelt und zur Nachwelt, zur Zeit überhaupt“ (Lüthi 1992, 13). Märchenhelden empfinden keinen Schmerz, ihnen werden Augen ausgestochen oder Füße abgehackt, allein es wirkt belanglos, und die vermeintliche Grausamkeit desselben ist auf eigentümliche Weise sublimiert, denn die Protagonisten zeigen keine Gefühle. Ähnliches gilt für das Verhältnis zur jenseitigen Welt. Sie gehört wie selbstverständlich zum Diesseits, weswegen Lüthi von der Eindimensionalität des Märchens spricht, weil beide Welten Teil einer einzigen Dimension zu sein scheinen und die Begegnung mit dem Numinosen keinerlei Erschütterung in den Protagonisten auslöst, sondern
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Die folgenden Ausführungen im Wesentlichen nach Rieken 2003b. Sauerkraut als Vitamin-C-haltiges Gemüse, das auch im Winter zur Verfügung steht.
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als ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Daseins angenommen wird (s. ebd., 8– 12). Das ist in der Volkssage völlig anders, denn dort begegnen wir gleichsam leibhaftigen Menschen, die Schmerzen empfinden, von Ängsten geplagt werden und erschauern, wenn sie mit der dämonischen Welt in Berührung kommen. Sie spielt auch nicht, wie das Märchen, in einem imaginären Irgendwo-Irgendwann, sondern ist zeitlich und räumlich viel konkreter. Die Sage ist daher weit entfernt von der Flächenhaftigkeit des Märchens und auch von seiner Eindimensionalität, denn sie ist dualistisch aufgebaut, sie teilt sich auf in ein „Innen und Draußen, in Heimat und Fremdheit, in Haus und Ausgeliefertsein, in Hier und Jenseits“ (Bausinger 1958, 248). Dabei wohnt das Andere, Fremde, Dämonische gleich nebenan, es ist der Alltagswelt benachbart und kann jederzeit in sie einbrechen, etwa Geister am dörflichen Friedhof, Untote, die den Menschen im nahen Wald begegnen, oder die Nachbarin, welche den bösen Blick zu haben scheint, weil sie als Hexe verschrien ist. Und die Sage kommt längst nicht immer zu einem glücklichen Ende – ganz im Gegensatz zu den meisten Märchen –, sodass sie uns auch von den tragischen Dimensionen und den Abgründen des menschlichen Lebens erzählt. Daher wundert es mich, dass ihr bisher kaum Aufmerksamkeit von tiefenpsychologischer Seite zuteilwurde, 7 während das Märchen immerfort und aufs Neue Deutungen erfährt. Dabei sollte man es, will man sich nicht in Spekulationen verlieren, eher vorsichtig interpretieren, weil innere Vorgänge in der Regel nicht als solche geschildert, sondern in äußere Handlungen umgesetzt werden. Von Dornröschens Gefühlen etwa erfahren wir nichts, wir können sie nur durch Äußeres interpretatorisch erfassen, indem wir die Dornenhecke, in der sich junge Männer verfangen, als eine schützende Instanz sehen, die sie benötigt, um reif für die Liebe zu werden. Besonders schön hat das Lüthi formuliert: „Es ist eine natürliche Erscheinung [. . . ], dass das Mädchen sich in sich zurückzieht, dass beide Geschlechter eine Zeit lang schüchtern und zurückhaltend oder stachlig, trotzig, abweisend werden; eine Dornenhecke scheint um den jungen Menschen zu wachsen und ihn nach außen abzuschirmen. Aber im Schutze solcher Zurückgezogenheit reift er heran und wird zu einem neuen, einem stärkeren, helleren Leben erwachen“ (Lüthi 1998, 14). Die Sage ist dagegen direkter, wie die beiden folgenden Beispiele deutlich machen. 8 „Zu Gries in Paßnaun benützte eine Stiefmutter ihren Sohn als Reitpferd zu den Hexengelagen. Sie hatte einen Zaubersattel, und wenn sie denselben auf den Bur-
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Tief schürfende Interpretationen der Sage aus jungianischer Sicht: Isler 1971; ders. 2000; tiefenpsychologisch-ethnologische Perspektive: Rieken 2000, 58–81; 2003c, 167–223; 2008a; 2009b; 2011d. Die folgenden Ausführungen nach Rieken 2004a.
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schen warf, wurde er in ein Rösslein verwandelt. Diese Verwandlung hielt solange an, bis sie wieder heimgeritten war und den Sattel abnahm. Eines Tages übernahm sein Bruder die Rolle, dem der andere von der Verwandlung durch den Sattel erzählt hatte. Als dieser nun seine Stiefmutter, die Hexe, an Ort und Stelle gebracht hatte, natürlich ebenfalls in ein Ross verwandelt, band sie ihn an einem Baume an; er rieb aber so lange an dem Baume, bis der Sattelgurt platzte. Wie nun der Sattel herunterfiel, war er wieder Mensch. Nun warf er den Sattel auf die Stiefmutter, und richtig wurde sie in eine Stute verwandelt. Darauf heimreitend, ließ er sie von einem Schmiede beschlagen. Zuhause angekommen, nahm er den Sattel weg und führte sie in ihre Schlafkammer. Als man am folgenden Tag nachzusehen ging, lag sie tot im Bette; die Hufeisen an Händen und Füßen waren glühend“ (Heyl 1989, 37, Nr. 46; vgl. die Variante in Alpenburg 1861, 199 f., Nr. 202). Die Erzählung lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Man kann aus psychoanalytischem Blickwinkel das Reiten als Synonym für den Geschlechtsverkehr ansehen, zumal die Tabuschwelle niedriger ist, weil es sich bei der Frau um keine Blutsverwandte handelt. Aus jungianischer Sicht wird die Hexe als Verkörperung der negativen Anteile des archetypischen Bildes der Großen Mutter verständlich, wenn man an die verschlingenden, aussaugenden und umgarnenden Eigenschaften derselben denkt. Schließlich ist auch ein individualpsychologischer Zugang möglich, weil es um Aggression, Macht und Ohnmacht geht. Die Sage entwirft ein realistischeres Bild vom Menschen als das Märchen, denn ihre Protagonisten schreiten nicht unbeirrt voran, sondern werden von Ängsten geplagt, und oft genug sind sie auf die Hilfe anderer angewiesen. Das ist auch hier der Fall, denn offenkundig vermag sich der erste Bruder gegenüber der Stiefmutter nicht zu erwehren und überlässt dem anderen seinen Platz. Vielleicht ist jener der jüngere, jedenfalls aber der schwächere von beiden. Dafür spricht die Verwendung der Diminutivform „Rösslein“, während es vom zweiten heißt, er verwandele sich in ein „Ross“. Vielleicht hat ihn die Hexe gerade deswegen ausgewählt, weil sie ihn für den Kraftloseren hält. Der andere Bruder wird hingegen aktiv und findet schließlich eine Lösung, indem er den Sattel auf die Stiefmutter wirft und sie sich dadurch in eine Stute verwandelt. Nun ist er oben, sie unten, und er reitet dergestalt nach Hause, wo sie stirbt, das heißt vollständig und zur Gänze machtlos wird. Neben den psychologischen Interpretationen aus den drei analytischen Schulen kann man die Erzählung auch in einen allgemeineren Kontext stellen, indem man auf jene Abgründe hinweist, welche zuweilen unter der Oberfläche des familiären Zusammenlebens schlummern. Dazu zählt etwa das Gefühl, von einem Elternteil misshandelt oder missbraucht zu werden, während der andere nichts sieht oder nichts sehen möchte, wie es hier anscheinend der Fall ist, weil der Vater mit keiner Silbe erwähnt wird. Demnach kann das Vertraute auf einmal fremd und bedrohlich, das „heimelige“ Elternhaus „unheimlich“ werden. In beiden Adjektiven ist das Substantiv „Heim“
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enthalten, aus dem sich nach Kluges etymologischem Wörterbuch das Adjektiv „heimlich“ ableitet, welches mit dem folgenden Aspekt verbunden sei: „Wer sich in das Heim zurückzieht, verbirgt sich vor anderen, vor Fremden“ (2002, 402). Das „Heimelige“ kann „unheimlich“ werden, bestimmte Wörter können also etwas und ihr Gegenteil bedeuten, ein Umstand, auf den der Altphilologe Carl Abel sowie Sigmund Freud hinweisen, wenn sie vom „Gegensinn der Urworte“ sprechen (Abel 1884; Freud 1910e). Das Altvertraute wird mitunter fremd und befremdlich, das Heim zu einem Ort des Schreckens und der Grausamkeit, und genau das macht den Gehalt des Unheimlichen aus (vgl. Rieken 2010f, 118–121). Bedenkt man das, so geht es auch in diesem Fall um das Verhältnis von Sein und Schein, nämlich um einen Schein, den es vor den anderen zu wahren gilt, damit nichts nach außen dringt. Kulturgeschichtlich betrachtet erzählt uns die Geschichte von der Diskriminierung der Frau durch das Patriarchat und das Christentum – und den damit verbundenen Ängsten aufseiten des Mannes (vgl. Rieken 2003c, 118–122; 178–183). Aus psychodynamischer Sicht ist es ja vollkommen evident, dass Unterdrückung immer mit Angstabwehr bzw. der (Über-)Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen zu tun hat. Und tatsächlich gelingt es Frauen auch im Patriarchat, Machtstrukturen zu entfalten, nur sind diese weniger nach außen gerichtet, wie es beim Mann der Fall ist, sondern eher auf das Heim begrenzt, und zwar oftmals in einer leiseren, weniger auffälligen Form. Patienten berichten häufig davon, dass bei Auseinandersetzungen im Elternhaus der Vater mitunter greifbarer, weil konfrontativer war, während Mütter eine „Beißhemmung“ auslösten, da sie sich einerseits als schwächer präsentierten, andererseits in eher indirekter Form angriffen, indem sie nicht offene Beschimpfungen aussprachen, sondern auf subtile Weise ein schlechtes Gewissen erzeugten, etwa „Mama ist aber traurig, wenn du dies oder das tust“. In der vorliegenden Sage überschreitet die Stiefmutter entgegen üblichen Gepflogenheiten jedoch die Schwelle des Hauses, wenn sie zu den „Hexengelagen“ aufbricht – und wird prompt dafür bestraft. Vielleicht spielen auch regionale Aspekte eine Rolle. Die Erzählung spielt im Paznaun, einem Tiroler Seitental, das früher schwer zugänglich war (s. Rieken 2010f, 40 f.), sodass sich dort der Glaube an dämonische Mächte unter Umständen länger gehalten hat als anderswo. Möglicherweise haben auch konfessionelle Gründe damit zu tun, denn Hexensagen findet man besonders häufig in Bayern, Salzburg und Tirol (s. Alpenburg 1861, 200), also in katholischen Gegenden. Im zweiten Beispiel, einer modernen Sage, die in der ehemaligen DDR spielt, geht es ebenfalls um eine mächtige Frau, doch fällt auf sie ein günstigeres Licht, da sie zunächst physischer Gewalt ausgesetzt ist. „Eine junge Tierärztin in Suhl/Thüringen war oft nachts mit ihrem Wagen unterwegs, weil sie eine Reihe von LPG’s zu betreuen hatte, die weit von ihrem Wohnort entfernt lagen. Eines Nachts war sie wieder spät mit ihrem Wartburg auf der Heimfahrt, als sie im Scheinwerferlicht zwei Männer winkend am Straßenrand stehen sah. Aus Mitleid hielt sie an und nahm die beiden mit. Kaum waren sie im Wagen, zogen sie ein großes Messer und zwangen die Fahrerin, auf eine Seitenstraße
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einzubiegen, wo sie sie nacheinander vergewaltigten. Nachdem alles vorüber war, erwies sich die Frau jedoch als ausgesprochen höflich und fragte die Männer, ob sie nicht Lust hätten, den angebrochenen Abend in Freundschaft zu beschließen und auf einen Drink mit in ihre Wohnung nach Suhl zu kommen. Die beiden waren überrascht, willigten aber ein. In der Wohnung angekommen, mixte die Ärztin einen Cocktail mit einem starken Schlafmittel und schläferte die beiden Täter ein. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, waren sie beide kastriert“ (Brednich 1991, 88, Nr. 65). Zentrales Motiv in der Erzählung ist die sexuelle und aggressive Triebbefriedigung, zunächst als Vergewaltigung, dann in Form der Kastration aus Gründen der Rache. Darüber hinaus kommt auch das Wechselspiel von unten und oben, von Minderwertigkeitsgefühl, Kompensation und Machtausübung zum Tragen. Eine Vertreterin des „schwachen“ Geschlechts gerät in die Einflusssphäre zweier Angehöriger des „starken“ Geschlechts, die ihre physische Überlegenheit auf brutale Weise ausnutzen. Doch gibt die Frau nicht kleinmütig bei, sondern vermag mittels einer List die Männer ihrer Männlichkeit zu berauben. Das Unten-Sein hat solche Kräfte aktiviert, dass das Opfer am Ende, außer dem psychischen Schaden durch die Vergewaltigung, oben steht und darüber hinaus zur Täterin geworden ist. Vergleichbar ist sie mit der Hexe aus der ersten Erzählung, denn sie hat Fertigkeiten erlangt, über die andere nicht verfügen. Als studierte Medizinerin ist es für sie kein Problem, den einschläfernden Cocktail zu mixen, und sie revanchiert sich gewissermaßen in ihrer Funktion als Tierärztin, indem sie mit geübtem Schnitt den Männern ihre „viehischen Begierden“ austreibt. So gesehen erweisen sich beide Erzählungen auch als repräsentativ für den kulturellen Kontext, in dem sie stehen. In der ersten Geschichte ist die Frau mit magischer Potenz ausgestattet, während die Macht der Tierärztin rational begründbar ist, nämlich durch das Hochschulstudium. Außerdem ist der Einfluss des Patriarchats in der modernen Erzählung weniger drückend, denn die Tierärztin steht am Ende als Siegerin da und braucht nicht, wie die Hexe, unschädlich gemacht zu werden. Interessant ist darüber hinaus, dass die Vergewaltigungsgeschichte in der DDR spielt, also in einem Land, in der die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Solidarität untereinander programmatischer Auftrag waren. 9 So gesehen erweist sie sich, in Einklang mit der sozialistischen Moral, als selbstbewusste Vertreterin des weiblichen Geschlechts.
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Daher war vielleicht das Mitnehmen der beiden Anhalter zu später Stunde weniger spektakulär als in der BRD.
6.2 Homo ludens – Spiel, Kultur und Psyche „Homo ludens“ ist gewissermaßen die positive Kehrseite der Theatrum-mundi-Metapher. Der in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommene Begriff geht auf das gleichnamige Buch des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga zurück, dessen Untertitel „Vom Ursprung der Kultur im Spiel“ lautet (Huizinga 1981). Säuberlich grenzt er den Homo ludens von der Bühnenmetapher mit ihrer moralischen Tendenz ab, dem „Stoßseufzer über die Eitelkeit alles Irdischen“ (ebd., 13). Ihm gehe es demgegenüber darum, „das echte, reine Spiel selbst als eine Grundlage und einen Faktor der Kultur zu erweisen“ (ebd.). Das unternimmt er im Folgenden anhand einer Vielzahl von Beispielen aus der Kulturgeschichte, von inszenierten Mythen in alten Kulturen bis zur Rechtsprechung der Gegenwart, bei der klare Rollen mit eindeutigen Funktionen, nämlich die des Anklägers und des Verteidigers, festgelegt sind. Ausführlich befasst sich Huizinga mit der Bedeutung des Wettstreits in archaischen Kulturen, etwa dem Potlach in British Columbia, bei dem es sich um eine Festfeier handelt, die von zwei rivalisierenden Gruppen veranstaltet wird, wobei eine davon mit großem zeremoniellem Aufwand der anderen Partei Geschenke übergibt. Nach einer gewissen Zeit muss die zweite Gruppe das Fest wiederholen und ihre Gegner zu übertrumpfen versuchen (s. ebd., 70). Ähnliche Bräuche existierten weltweit, und allenthalben gehe es dabei „um das Gewinnen, das Überlegen-Sein, um Ruhm, Prestige und nicht zuletzt Revanche“ (ebd., 71). Breiten Raum nimmt bei Huizinga auch das Verhältnis zwischen Spiel und Dichtung ein. Um diese zu verstehen, müsse „man fähig sein, die Seele des Kindes anzuziehen wie ein Zauberhemd, und die Weisheit des Kindes der des Mannes vorzuziehen“ (ebd., 133). Das ist eine schöne Formulierung, und sie erinnert daran, dass Dichtung mit „Illusion“ zu tun hat, einem Begriff, der zwar bereits im Lateinischen als „Täuschung“ einen negativen Beigeschmack hat, aber im ursprünglichen Wortsinn auf „ludus“ zurückgeht, das interessanterweise nicht nur „Spiel“ oder „Schauspiel“ bedeutet, sondern auch „Schule“. „In-lusio“ wäre dann wörtlich ein Hineinspielen, ein Sich-hinein-Versetzen, und genau darum geht es ja in der Dichtung. Wir wissen zwar, dass die Romanhelden nicht eigentlich existieren, aber wenn wir uns in das Buch versenken, vergessen wir den Alltag, tauchen in ihre Welt ein und nehmen sie ernst, obwohl wir wissen, dass sie nicht wirklich existieren. „In der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung“, schreibt Huizinga (ebd., 21). Denn zur Sphäre des Alltags gehört das ernsthafte Tun, zu der des Spiels hingegen das So-tun-als-Ob. Illusion ist demnach die Bereitschaft, sich auf ein Spiel einzulassen und ein Teil desselben zu werden. Das gilt für Lesestoffe und erst recht für den Spielfilm. Der Kinosaal ist dafür besser geeignet als der Fernseher im Wohnzimmer – nicht nur wegen der Raum füllenden Leinwand, sondern auch, weil es rundherum dunkel ist und man von externen Störfaktoren abgeschirmt ist (s. Rieken 2008b, 205 f.) Wenn Dichtung und Film unter dem Gesichtspunkt des Spiels betrachtet werden, liegt es nahe, sich aus dieser Perspektive auch die Sprache anzuschauen. Sie ist in dem
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6.2 Homo ludens – Spiel, Kultur und Psyche
Zusammenhang wichtig, denn „spielend springt der sprachschöpfende Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten hinüber“ (Huizinga 1981, 13; s. auch ebd., 150–156). Viele unserer Worte sind Metaphern, haben eine übertragene Bedeutung, und man verwendet sie, wenn in der Alltagssprache keine eigentlichen oder befriedigenden Benennungen vorhanden sind, etwa Fuß des Berges, Flussarm, Stuhlbein, Motorhaube, Lebensabend, Warteschlange, Rabeneltern. Auch aus den Wissenschaften sind mannigfache Beispiele vorhanden, etwa Glühbirne, Atomkern oder Schwarzes Loch (s. Rieken 2010c). „Metá“ heißt „über“ und „phérein“ „tragen“, beim metaphorischen Sprachgebrauch wird etwas Ähnliches vom Stofflichen zum Gedachten „übertragen“. Das hat mit dem Spiel als einem So-tun-als-Ob zu tun, denn Ähnlichkeiten sind keine Identitäten, aber man tut so, als passten sie punktgenau zusammen. Metaphern rufen Emotionen hervor, weil sie mit Bildern arbeiten, und gleichzeitig haben sie etwas Spielerisches an sich, damit auch etwas Befreiendes, weswegen es nicht zu überraschen braucht, dass sich gelingende Psychotherapien in der Regel durch eine quantitative Zunahme metaphorischer Wendungen aufseiten des Patienten auszeichnen, wie der Psychotherapieforscher Buchholz festgestellt hat (2003a). Man benötigt bereits einen gewissen Abstand zu sich, darf nicht mehr sosehr in seine Problematik verstrickt sein, um seelische Vorgänge mithilfe sprachlicher Bilder zu beschreiben. Dazu passt auch Huizingas Begriffsbestimmung des Spiels, wenn er es als eine „freie Handlung“ bezeichnet. Gleichzeitig heißt es aber von ihr, dass sie „als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann“ (Huizinga 1981, 22). Letzteres gilt gewiss fürs Kinderspiel, dessen Bedeutung für die Entwicklung des Einzelnen nicht extra begründet zu werden braucht (s. Kap. 5.1; vgl. Mogel 2008). Aber ob Ersteres – die Frage nach der „freien Handlung“ – ebenfalls zutrifft, ist so eindeutig nicht zu beantworten, denn das Spiel steht auch unterm Einfluss von Leib und Seele. Zwar leben Kinder, wenn sie ins Spiel versunken sind, gleichsam in einer anderen Welt und sind insofern befreit von den Widrigkeiten des Realen, aber es dient gleichzeitig der Spannungsabfuhr, ist der Psychohygiene förderlich und anderem mehr, kann aber umgekehrt auch Aggressionsschübe hervorrufen oder den Ehrgeiz anstacheln. Damit befinden wir uns aber nicht mehr in der „echten, reinen“ Welt des Geistes, sondern mitten im Leben leib-seelischer Befindlichkeiten. Huizinga ist ein Kulturhistoriker alter Schule, der das Geistesleben losgelöst von den physischen und psychischen Gegebenheiten betrachtet. Daher ist seine Definition des Spiels zwar nicht unberechtigt, aber einseitig, zumal die Grenzen zwischen dem Kausalen und der so genannten Freiheit äußerst fließend sind. Aus individualpsychologischer Sicht mit ihrer systematischen Thematisierung des So-tun-als-Ob ist das völlig evident. Fiktionen im Sinne Vaihingers verwendet nämlich jeder, stets ist man „in den Maschen seines Schemas verstrickt“ (Adler 1912a, 71). Das gelte für „den Gesunden, der es benützt, um ein reales Ziel zu erreichen“, genauso wie für „den Neurotiker, der nicht zur Wirklichkeit zurückfindet und an seine Fiktionen glaubt“ (ebd.).
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Die Grenzen sind aber nicht nur hinsichtlich der Frage nach psychischer Gesundheit oder Krankheit fließend, sondern auch bezogen auf die seelische Entwicklung von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Dennoch wollen wir Johan Huizinga ein wenig die Treue halten und Entwicklung unter dem Aspekt des Spiels betrachten, indem wir auf den identitätsstiftende Nutzen der Imitation und Identifikation hinweisen. Das erscheint wegen der Bedeutung des Fiktionalen für die Individualpsychologie sinnvoll. Identitätsbildung erfolgt zunächst mithilfe der „signifikanten Anderen“ (Mead 1995), das heißt bewunderter Vorbilder, die größer, stärker und mächtiger erscheinen als man selber ist; sie sind das Ziel der kindlichen Sehnsucht. 1 Im Laufe der Entwicklung werden Akzente teilweise anders gesetzt, es finden Identifikationen mit neuen Vorbildern und Modellen statt, die abstraktere Züge annehmen, das Ergebnis eigener kreativer Vorstellungen sind und mit denen man sich vor allem auch emotional verbunden fühlt. Stets handelt es sich, um Rudolf Hernegger zu zitieren, um eine „Gesamtausrichtung nach einem Vorbild, eine Gesamtorientierung auf ein Ziel mit einer Wertskala und einer Hierarchie von Zwischenstufen und Motiven“ (Hernegger 1982, 334), wobei Hernegger diese Gesamtausrichtung, ähnlich wie Adler, als „Lebensstil“ bezeichnet (ebd., 334 f.). Worin besteht nun der Zusammenhang mit dem Fiktionalismus? Er betrifft zum einen die Imitation, indem man so tut, als ob man der signifikante Andere wäre. Das kann im Kinderspiel geschehen oder als Rollenverhalten im Alltag, indem man bestimmten Erwartungen entspricht („Sei ein vernünftiges Kind!“) oder eigene Vorstellungen realisiert: Man versucht so zu sein, wie man gerne sein möchte. Etwas anderes kommt hinzu: Auch das Vorbild, mit dem man sich identifiziert, ist insofern fiktiv, als die Identifikation nicht mit dem tatsächlichen Wesen erfolgt, sondern mit einer subjektiven Vorstellung von ihm, und zwar durch die Projektion der eigenen Wünsche und durch die selektive Wahrnehmung jener Seiten des Vorbildes, die der subjektiven Verfassung entsprechen (s. ebd., 222). Es ist daher plausibel, wenn Adler in dem Zusammenhang von einem den Meridianen vergleichbaren „unwirklichen abstrakten Schema“ spricht, das der Mensch verwendet, um sich in der Welt zu orientieren (1912a, 71). Außer auf Imitation und Identifikation lässt sich der Begriff der Fiktion auf den der Identität anwenden. Zwar werden im Laufe der Entwicklung bestimmte Aspekte signifikanter Anderer internalisiert und mit eigenen Lebenserfahrungen sowie eigenen kreativen Anteilen zur Identität verschmolzen, doch hat diese in erster Linie nicht endgültigen, sondern vorläufigen Charakter. Als „leitende Fiktion“ ist sie ein Ideal, das man ansteuert, jedoch nicht erreicht, und das aus mehreren Gründen. Zum einen ist die Identität als „zweite Haut“ des Menschen ein soziokulturelles Produkt und hat demzufolge nicht die Festigkeit biologischer Strukturen. Die „Identität“ eines Tieres manifestiert sich in Trieben und Instinkten, während der Mensch seine Weltoffenheit mit Unsicherheit zu bezahlen hat. Da ein System umso anfälliger ist, 1
Das Folgende nach Rieken 1996.
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6.2 Homo ludens – Spiel, Kultur und Psyche
je vielschichtiger es ist, ist der Mensch als das komplexeste Produkt der Evolution auch besonders labil. Plessner schreibt in dem Zusammenhang, dass im Gegensatz zum Tier, welches ganz „aus seiner Mitte heraus lebt“, der Mensch ein „exzentrisches Lebewesen“ sei und außerhalb seiner selbst stehe, weswegen er sich zu dem, was er sei, erst machen müsse (1965, 309). Zum anderen haben kollektive Identifikationsmuster als dominante Orientierungssysteme im Laufe der Neuzeit zunehmend an Plausibilität eingebüßt und individualisierenden Tendenzen Platz gemacht. Diese aber sind um einiges fragiler als kollektive, Orientierung und Geborgenheit vermittelnde Strukturen, weswegen an den Einzelnen höhere Ansprüche gestellt werden, um zu einem befriedigenden und sinnerfüllten Leben zu kommen. Abschließend wollen wir festhalten, dass sowohl die Bühnenmetapher als auch der Homo ludens wichtige Aspekte des menschlichen Daseins erfassen. Es handelt sich dabei um die zwei Seiten des Spielerischen, einmal aus dem negativen Blickwinkel der Täuschung und Selbsttäuschung, zum anderen aus der positiven Perspektive, förderlich sowohl für die Entwicklung der Kultur als auch des Individuums zu sein. Freud nimmt implizit vorrangig auf die Bühnenmetapher Bezug, indem er Kultur als den mühsamen Versuch versteht, das den Menschen dominierende Triebpotential zu unterdrücken oder zu besänftigen. Das sieht Adler in seiner eigenen Triebtheorie ähnlich, wenn er etwa schreibt, der „stärkere Aggressionstrieb“ erwähle sich bestimmte Berufe wie Richter, Polizist, Lehrer, Geistlicher oder Arzt (1908b, 73). Außerdem bezieht er sich in seiner Neurosenlehre auf den Inszenierungscharakter vor allem der Überkompensation, welche so tut, als wäre das Individuum besonders groß, mächtig, interessant oder belesen, während die unbewussten Minderwertigkeitsgefühle besonders ausgeprägt sind. Darüber hinaus sieht Adler aber auch die förderliche Seite des Spiels, das heißt nicht nur die Bühnenmetapher, sondern auch den Homo ludens, indem er die realitätsnäheren Fiktionen auf die psychische Entwicklung überträgt. Indem man durch Imitation und Identifikation so tut, als wäre man der „signifikante Andere“, reduzieren sich im Laufe der Zeit die Minderwertigkeitsgefühle, auch wenn sie nie ganz verschwinden. Insofern ist die Individualpsychologie eine sehr differenzierte Theorie des Humanen.
6.3 Politik und Gesellschaft 6.3.1 Barack Obama und die US-Amerikaner Die Geschichte von Barack Obamas Aufstieg zum ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA liest sich wie ein Märchen und ist auch eines. 1 Goethe beschreibt dieses nämlich „als Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin und wider schwebt und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt“ (Goethe 1994a, 145). Das Unwahrscheinliche als Grundelement des Märchens ist demnach die Brücke zwischen dem Wirklichen und Unmöglichen, hat also Berührungsflächen mit der Realität. Das legt auch die Wortbedeutung von „unwahrscheinlich“ nahe, denn das Adjektiv kann gelesen werden als etwas, das nur unwahr erscheint. Demnach vermag mitunter etwas real zu werden, von dem man zumeist nicht glauben würde, dass es eintritt, und dann hat man „unwahrscheinliches Glück“. Das sieht auch Obama so, als er im Jahre 2004 auf dem Nationalkonvent der Demokraten in Boston spricht und durch seinen Auftritt schlagartig berühmt wird: „Tonight is a particular honor for me because, let’s face it, my presence on this stage is pretty unlikely“ (Obama 2004). Dort eine Rede zu halten, sei eine besondere Ehre für ihn, weil seine Anwesenheit „ziemlich unwahrscheinlich“ sei. Daher versucht er im Folgenden zu begründen, wie es dazu gekommen sei, dass er trotzdem vor den Delegierten stehe: Schon der Großvater habe „larger dreams for his son“ gehabt, und diese hätten bewirkt, dass er durch harte Arbeit, Beharrlichkeit und Ausdauer ein Stipendium bekommen habe, um an einem „magical place“ zu studieren, den USA – einem Land, „that shone as a beacon of freedom“ (ebd.). Ein Staat, der „wie ein Leuchtfeuer der Freiheit glänzte“, muss in der Tat ein magischer Ort sein, ein Märchenland, in welchem Wünsche wahr werden, von denen man vorher bestenfalls zu träumen wagte. Im Folgenden rollt Obama die Lebensgeschichte seiner Vorfahren weiter auf: Als sein Vater in den USA studiert habe, habe er seine Frau kennengelernt. Ihr Vater, also Baracks Großvater mütterlicherseits, habe während der Weltwirtschaftskrise zunächst in der Ölförderung und auf Bauernhöfen gearbeitet, sich dann aber nach dem Angriff auf Pearl Harbour zum Kriegsdienst verpflichtet und unter George Patton gedient, jenem berühmten General der Westalliierten, der im Krieg gegen Hitlers Armee legendären Ruhm erlangt hat. Nach Kriegsende hätten Baracks Großeltern mithilfe der G. I. Bill of Rights – eines Gesetzes, das Kriegsveteranen den Zugang zu den Universitäten ermöglichte – studieren und durch günstige staatliche Kredite ein Haus bauen können. Und für ihre Tochter, Baracks Mutter, hätten auch sie große Träume gehabt, „a common dream, born on two continents“ (ebd.). Seine eigenen Eltern seien nicht allein durch „an improbable love“, eine unwahrscheinliche Liebe, verbunden gewesen, sondern auch 1
Die folgenden Ausführungen nach Rieken 2010d.
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6.3 Politik und Gesellschaft
durch ein dauerhaftes Vertrauen „in the possibilities of this nation“ (ebd.). Daher seien sie ganz zuversichtlich gewesen, dass ihr Sohn die besten Schulen des Landes besuchen werde, obschon sie nicht reich gewesen seien, denn in einem großzügigen Amerika könnten auch die weniger Begüterten ihre Möglichkeiten verwirklichen. Daher stehe er nun vor den Delegierten in dem Wissen, dass seine Geschichte ein Teil der größeren amerikanischen Geschichte und dass in keinem anderen Land der Welt eine Biografie wie die seine möglich sei. Im nächsten Absatz zitiert er die berühmte Präambel aus der Unabhängigkeitserklärung von 1776: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ (ebd.). Indem Obama seine eigene Lebensgeschichte mit dem „American dream“ verbindet, erreicht er Zweierlei: Zum einen werden seine autobiographischen Äußerungen nicht als „Ego-Trip“ missverstanden, zum anderen präsentiert er sich als ein gut integrierter Bürger der Vereinigten Staaten. Denn er muss das Kunststück vollbringen, als Afroamerikaner von der etablierten Gesellschaft akzeptiert zu werden, weshalb es zu vermeiden gilt, wie ein „Deus ex machina“ gleichsam aus dem Nichts aufzutreten und dadurch wie ein Fremdkörper zu erscheinen. Er legitimiert sich also, indem er den viel beschworenen „American dream“ bzw. die Verheißungen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beim Wort nimmt, wobei der Hinweis auf das „Streben nach Glück“ als ein unveräußerliches Recht tatsächlich etwas Einzigartiges darstellt. In keiner anderen Verfassung der westlichen Welt findet man ihn, 2 auch nicht in den Grundrechtskatalogen jener europäischen Staaten, die wie die USA vom Machbarkeitsdenken und Fortschrittsglauben der Aufklärungsphilosophie geprägt sind. Aus individualpsychologischer Sicht ist es klar, dass im Fall Obamas, wie bei jedem anderen Menschen auch, kompensatorische Kräfte am Werk sind. Aus seiner Autobiografie (Obama 2008) geht nämlich hervor, dass er sich lange Zeit nicht integriert fühlte, sondern hin- und hergerissen war zwischen der Welt der „Weißen“ und der der „Schwarzen“. Außerdem ließen sich seine Eltern, die angeblich durch „an improbable love“ verbunden gewesen seien, bereits nach drei Jahren scheiden, was wohl ebenfalls dazu beigetragen hat, sich als Außenseiter zu fühlen. Aus psychologischer Sicht ist es daher gut nachvollziehbar, dass er zum Lobgesang auf den „common dream, born on two continents“ anhebt und sich mittlerweile als vollständig integrierten Amerikaner darstellt. Wenn Obama seinen Werdegang in Zusammenhang mit dem „American Dream“ betrachtet, sagt das aber nicht nur etwas über ihn aus, sondern auch über das Land, in dem er lebt. Der Lobgesang auf die amerikanischen Tugenden gleicht aus europäischer Perspektive einer Beschwörung, die mit religiöser Inbrunst vorgetragen
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Man findet es allerdings als politisches Ziel im Königreich Bhutan, das eine staatliche „Kommission für das Bruttonationalglück“ eingesetzt hat.
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wird und reichlich übertrieben wirkt. Aus individualpsychologischer Sicht stehen die Gründe dafür klar vor Augen, denn ein Zu-Viel ist immer die Kompensation für ein Zu-Wenig. Das Streben nach Glück, die Beschwörung von Freiheit und Gleichheit lesen sich auf dem Papier mit Wohlgefallen, doch die amerikanische Realität mit ihren gewaltigen Einkommensunterschieden und den massiven ethnischen Konflikten spricht eine deutlich andere Sprache. Wenn man Amerikaner trifft, versichern sie indes, dass sie sich „happy“ fühlen und einen „great day“ haben. „Eine gewisse Grundstimmung des Positiven, Optimistischen und Tatkräftigen ist verpflichtend, wenn man die Grenzen des guten Anstands nicht überschreiten will; ganz anders als der wohlbemessene Grant, den mitteleuropäische Menschen des Morgens in der Straßenbahn an den Tag legen“, schreibt der Grazer Soziologe Manfred Prisching in treffender Weise (2006, 29). Die permanent zur Schau getragene positive Grundstimmung ist Ausdruck eines naiven Fortschrittsglaubens, einer Machbarkeitsideologie und eines Sendungsbewusstseins, das die tragischen Dimensionen der menschlichen Existenz ausklammert. Ähnlich verhält es sich mit dem „I love you“, dessen sich Ehepaare und Familien dauernd versichern, denn die amerikanische Mentalität wurzelt, wie es Gert Raeithl in einer psychohistorischen Monografie plausibel macht, mehrheitlich in einem Philobatismus, der die „freundlichen Weiten“ (Balint 1999, 64) des „Go West“ liebe und durch schwache Objektbeziehungen charakterisiert sei (1981; ders. 2008; s. Kap. 2.5.2). Eine gewisse Neigung zur Oberflächlichkeit der US-Mentalität wurde bereits im Kapitel über die Ich-Psychologie (2.5.1) thematisiert. Sie hat historische Gründe, denn Amerikaner schauen nur ungern zurück, weil sie dann erkennen müssten, wie sehr der Aufbau der amerikanischen Gesellschaft mit dem Blut der indigenen Bevölkerung bezahlt ist. Außerdem fehlt ihnen jene mehr als 2000-jährige Geschichte, auf welche die europäischen Vorfahren stolz sind. Der Völkermord an den Indianern erzeugt unbewusste Schuldgefühle, der Mangel einer Jahrtausende alten Hochkultur unbewusste Minderwertigkeitsgefühle, und beides ruft kompensatorische Tendenzen hervor. Das amerikanische Selbstverständnis mit seinen beschwörenden Floskeln beruht demnach in einem hohen Ausmaß auf einer kollektiven Verdrängungsleistung und ist daher eher dem Schein verpflichtet, während die europäische Mentalität trotz Aufklärungsphilosophie stärker durch ein skeptizistisches Menschen- und Weltbild geprägt ist, das authentischer wirkt.
6.3.2 Der Fall Guttenberg und die politische Kultur in Deutschland Ähnlich wie Barack Obama galt Karl-Theodor zu Guttenberg als Hoffnungsträger, aber er scheiterte wider Erwarten und musste als Verteidigungsminister zurücktreten, nachdem sich im Februar 2011 herausgestellt hatte, dass ein Großteil seiner Dissertation fremden Quellen entstammt, die als solche nicht kenntlich gemacht wurden (Guttenberg 2009). Dabei war er die Lichtgestalt des deutschen Konservativismus,
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6.3 Politik und Gesellschaft
schien er doch traditionelle Werte mit einem zeitgemäßen Auftreten zu verbinden und sich darüber hinaus von der Mehrheit der Politiker durch Aufrichtigkeit und Authentizität zu unterscheiden. Laut Meinungsumfragen war er der beliebteste Minister im Kabinett Merkel, und selbst nach Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe und der Aberkennung des Doktortitels durch die Universität Bayreuth blieben seine Sympathiewerte auf relativ hohem Niveau. Das mag mit einem mangelnden Verständnis der Bevölkerungsmehrheit für den Wert der Wissenschaft zu tun haben, hängt aber auch damit zusammen, dass Guttenberg Elemente der populären Kultur nutzte, indem er etwa gemeinsam mit seiner Frau und dem Fernsehmoderator Johannes F. Kerner im Dezember 2010 nach Afghanistan reiste, um von dort in einer Talkshow des Privatsenders Sat.1 zu sprechen. Wer indes zum Popstar avanciert, hat bald eine Fangemeinde um sich geschart, die umso mehr zu ihrem Idol hält, je stärker es in Bedrängnis gerät. Man könnte ihn wahrscheinlich, ähnlich wie Obama, als Märchenhelden bezeichnen, denn er entstammte, gleich seiner Frau, „edlem Geblüt“, und viele Menschen waren der Meinung, dass er gut aussehe, immer tadellos gekleidet sei, gewählt spreche und gute Manieren habe. Insofern dürfte immer noch gelten, was Adolf Bach bereits in seiner „Deutschen Volkskunde“ von 1960 über das populäre Denken geschrieben hat, nämlich dass es sich vom ersten Eindruck bzw. von Äußerlichkeiten beeinflussen lasse (1960, 476): „Das Märchen glaubt, dass der innere Wert eines Menschen sich schon in seiner Körperlichkeit verrate. Der Schöne ist immer auch gut, der Hässliche immer auch böse“ (ebd.). Außerdem hielt die Kanzlerin trotz des Bekannt-Werdens der Plagiatsvorwürfe zunächst an Guttenberg fest und begründete das damit, keinen wissenschaftlichen Angestellten, sondern einen Verteidigungsminister ins Kabinett berufen zu haben. Das war machtstrategischen Überlegungen geschuldet, weil wichtige Landtagswahlen bevorstanden, doch war eine derartige Argumentation auf Dauer nicht haltbar. Zum einen wiesen die Medien darauf, dass es zutiefst unglaubwürdig sei, wenn sich jemand als grundehrlicher Mensch präsentiere und gleichzeitig unehrlich in seiner Dissertation arbeite, und zum anderen empfand die Wissenschaft Merkels Aussage als unerträgliche Provokation und Herabsetzung ihrer Tätigkeit. Allerdings bemerkt der Konstanzer Literaturprofessor Thomas Weitin in selbstkritischer Absicht, dass auch in der Wissenschaft ein „Guttenberg-Effekt“ existiere (Weitin 2011): „Die ‚Exzellenzinitiativen‘ des Bundes haben den Druck auf die Forscher an den Universitäten extrem verstärkt. Bücher, die früher einfach geschrieben wurden, werden nun in Form immer neuer, meist zusammengeschriebener Drittmittelanträge zu Welterklärungsprojekten aufgeblasen“ (ebd.). Insofern kann man annehmen, dass die heftigen Reaktionen aufseiten der Wissenschaft auch dem Umstand geschuldet waren, dass ihr mit Guttenbergs Dissertation ein Zerrspiegel vorgehalten wurde – was ja im Allgemeinen heftige Emotionen auslöst, meinte doch bereits der große österreichische Dichter Franz Grillparzer: „Wir
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sind gegen keine Fehler an andern intoleranter, als welche die Karikatur unsrer eigenen sind“ (Grillparzer 1892, 166). Doch sollen diese kritischen Überlegungen keineswegs die Plagiatsvorwürfe bagatellisieren, denn Guttenberg hat in seiner Dissertation in einem Ausmaß und einer Dreistigkeit abgeschrieben, die jeden Wissenschaftler nur den Kopf schütteln lassen. Das beginnt bereits mit der Einleitung, deren erste Passagen großteils wörtlich einem Leitartikel der Passauer Professorin Barbara Zehnpfennig aus der FAZ entnommen sind. Sie schreibt: „‚E pluribus unum‘, ‚Aus vielem eines‘ – so lautete das Motto, unter dem vor rund 200 Jahren die amerikanischen Staaten zur Union zusammenfanden, und dieses Motto ist programmatisch zu verstehen“ (Zehnpfennig 1997). Und bei Guttenberg lauten die ersten Worte (!) in seiner Einleitung folgendermaßen: „‚E pluribus unum‘, ‚Aus vielem eines‘ – so lautete das Motto, unter dem vor über 215 Jahren die amerikanischen Staaten zur Union zusammenfanden. Ein Motto, das programmatisch zu verstehen ist (Guttenberg 2009, 15). Die einzigen Unterschiede zwischen den beiden Zitaten bestehen in der Trennung der Hauptsätze durch Beistrich oder Punkt sowie in der Ersetzung von „vor rund 200 Jahren“ durch „vor über 215 Jahren“. Und auch im weiteren Verlauf der Einleitung werden Passagen aus Zehnpfennigs Artikel in entsprechender Weise übernommen. Aber sie stehen nur pars pro toto, denn das Internetforum GuttenPlag – eine interessante Variante kollektiver Intelligenz – fand heraus, dass auf ungefähr Dreiviertel aller Seiten gar nicht oder nicht adäquat zitierte Beiträge anderer Autoren aufscheinen. 3 Unter der Rubrik „Herausragende Fundstellen“ findet man zum Beispiel ein „durchgehendes 8-Seiten-Plagiat sowie Fragmente auf weiteren 27 Seiten aus einer Quelle, samt übernommener Gliederung: S. 102–110“. 4 Aufschlussreich ist auch jenes Prinzip, das auf der Webseite als „Guttenbergs Gießkanne“ bezeichnet wird: „Auch bei seinem Doktorvater Prof. Peter Häberle hat Guttenberg 29 Mal abgeschrieben und dabei 234 Zeilen kopiert. Damit gehört die Arbeit des Doktorvaters zu den Top 10 der meistkopierten gefundenen Quellen. In diesen Fällen wurde allerdings nicht der Fließtext kopiert, sondern die Nachweise in den Fußnoten. Wie mit einer Gießkanne besprenkelt Guttenberg seine Dissertation mit der wissenschaftlichen Arbeit seines Doktorvaters. Wir bezeichnen diese Form des Plagiats deshalb als Guttenbergs Gießkanne [. . . ]. 3 4
http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Plagiate (15.03.2011). Es wurde darauf verzichtet, diese Quellenhinweise in die Bibliographie aufzunehmen. Daher findet man sie hier. http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Herausragende_Fundstellen (15.03.2011).
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Durch die Übernahme der Fußnoten seines Doktorvaters enthalten der Anmerkungsapparat und das Literaturverzeichnis ohne weiteres Zutun eine Vielzahl von Titeln, die Häberle für relevant und wichtig erachtet hat. Aber: die Dokumentation und Einordnung von Quellen ist Kern wissenschaftlicher Textarbeit. Das hier dokumentierte Vorgehen zeigt, dass an vielen Stellen der Arbeit nicht einmal der Versuch einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung unternommen wurde“. 5 Wie allgemein bekannt ist, wurde die Dissertation mit „summa cum laude“ bewertet und erschien im altehrwürdigen Verlag von Duncker und Humblot, dessen Motto „Vincit Veritas“ lautet, also „die Wahrheit siegt“. Man fragt sich, wieso den Gutachtern die mannigfachen Stilbrüche nicht auffielen, die sich aus der wörtlichen oder fast wörtlichen Übernahme von Texten ganz unterschiedlicher Herkunft ergeben, etwa studentischen Seminararbeiten, Zeitungsartikeln oder wissenschaftlichen Standardwerken. Auf der Webseite des Internet-Buchhändlers Amazon werden sie jedenfalls ironisch kommentiert, heißt es dort doch unter anderem: „Diese Doktorarbeit erfüllt wahrlich höchste akademische Ansprüche. Kein Abschnitt gleicht dem anderen, der Autor vermag es meisterhaft, seinen Stil rhetorisch und inhaltlich zu variieren, denn Langeweile und staubtrockene Texte sind sicher das letzte, was man in der heutigen schnelllebigen Zeit noch erdulden mag. Dies hat offenbar keiner so gut erkannt wie die ehrwürdige Jura-Fakultät in der Traditionsstadt Bayreuth: Summa cum laude“. 6 Der Bremer Rechtsprofessor Andreas Fischer-Lescano, der durch eine Rezension den Fall Guttenberg ins Rollen brachte, hält den wissenschaftlichen Ertrag der Arbeit für mehr als bescheiden 7 und bringt die sehr gute Benotung mit mentalen Strukturen im „Süden“ in Verbindung. In einem Beitrag für die „Frankfurter Rundschau“ bezieht er sich nämlich auf einen Aufsatz von Niklas Luhmann, der den Titel „Kausalität im Süden“ trägt, worin es um die Tendenz in Mittelmeerstaaten geht, das Recht kreativ anzupassen (Fischer-Lescano 2011b). Man könne, schreibt Luhmann, „gerade in Süditalien beobachten, dass die Gewohnheit, in Netzwerken der Hilfe, der Förderung und der erwartbaren Dankbarkeit zu denken, erhalten geblieben, aber von der gesell5 6 7
http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Guttenbergs_Gie%C3%9Fkanne (15.03.2011). Rezensent Fabian B. http://www.amazon.de/product-reviews//ref=cm_cr_dp_all_ helpful?ie=UTF&showViewpoints=&sortBy=bySubmissionDateDescending (16.03.2011). „Der wissenschaftliche Ertrag der Arbeit ist bescheiden. Das liegt vor allem daran, dass der Autor seinen Verfassungsbegriff nicht hinreichend entfaltet und damit weit hinter der wissenschaftlichen Diskussion zurückbleibt. Zu Guttenbergs Argumentation mäandert vor sich hin und zermürbt die Leser_innen durch seitenlanges Politsprech und die Nacherzählung rechtspolitischer Diskussionen im Konvent. Der Autor macht auch nicht ansatzweise deutlich, worin der aktuelle Erkenntniswert der seitenlangen Dokumentation zu den Gottesbezügen in Verfassungstexten liegt. Das Gesamturteil ‚summa cum laude‘ erscheint darum mehr als schmeichelhaft“ (FischerLescano 2011a, 112).
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schaftlichen Stratifikation auf die Organisationen übertragen worden ist“ (Luhmann 1995, 23). Die Bezugnahme auf Luhmanns Aufsatz durch Fischer-Lescano entbehrt nicht einer gewissen Zuspitzung, denn es werden Parallelen zwischen Bayern und dem Mezzogiorno gezogen. Ob man das tatsächlich auch, wie es Fischer-Lescano tut, auf das Verhalten der Universität Bayreuth gegenüber dem Bekanntwerden der Plagiatsvorwürfe beziehen kann (Fischer-Lescano 2011b), vermag ich nicht zu beurteilen, würde aber auf zwei andere Aspekte hinweisen. Erstens spielte das Netzwerk der CSU eine Rolle, denn für deren Vorsitzender Horst Seehofer schienen die ethischen Aspekte der Causa Guttenberg überhaupt keine Bedeutung zu haben, und er betonte stattdessen die gemeinschaftsbildenden Elemente nach dem Rücktritt des Verteidigungsministers: „Ich persönlich werde alles dafür tun, dass er der deutschen Politik und seiner politischen Familie erhalten bleibt“ (Fischer u. Gebauer 2011). Der Hinweis auf die „politische Familie“ ist sicher ein strukturbildendes Element im Freistaat (und darüber hinaus), das gewisse Ähnlichkeiten mit der von Luhmann analysierten „Kausalität im Süden“ aufweist. Der zweite Aspekt, der in dem Zusammenhang Bedeutung hat, ist die bereits oben aufgeworfene Frage, warum den Gutachtern die mannigfachen Stilbrüche in der Dissertation nicht aufgefallen sind. Fischer-Lescano würde hier wahrscheinlich ebenfalls südliche Kausalitäten vermuten, ich persönlich glaube eher, dass sich die beiden Professoren vom Auftreten und Habitus Guttenbergs beeindrucken ließen. Schon allein das Vorwort der Dissertation dürfte diesbezüglich eine wertvolle Quelle darstellen, denn es heißt dort unter anderem: „Ein unerreichtes (nicht lediglich) wissenschaftliches Kraftfeld und die Teilnehmer verpflichtendes Erbe war und ist das nunmehr zu Recht ‚legendär‘ zu nennende ‚Häberle-Seminar‘ [Häberle war der Erstgutachter, Anm. B. R.] [. . . ]. Der Gedanke an die Teilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft – und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qualität eigenen Gemurmels“ (Guttenberg 2009, 6). Dem Dissertationsbetreuer wird geschmeichelt, indem seine Seminare als ein „Kraftfeld“ bezeichnet werden, das bisher unerreicht gewesen sei, über die Wissenschaft hinauswirke und „den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft“ umwehe. Das sind pathetische Worte, die in einer modernen Dissertation eher unüblich sind. In Kontrast dazu steht allerdings, dass Guttenberg im Nachhinein Teile seiner Arbeit schlicht und einfach als „Blödsinn“ bezeichnete (Frank 2011). Damit aber diskreditierte er nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Doktorvater, dem er zuvor noch gehuldigt hatte. Diskrepanzen zeigen sich aber auch an anderen Stellen des Zitats, und zwar zunächst in dem unscheinbar wirkenden Adverb „nunmehr“. Laut dem DudenWörterbuch hat es die Bedeutung „von jetzt an“ (1994, Bd. 5, 2411), weswegen man sich die Frage stellen kann, wieso das Häberle-Seminar „von jetzt an“ als legendär zu „nennen“ sei. Einen Sinn ergibt das nur, wenn man es auf die Person des Autors
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bezieht: Ist das Seminar legendär, seit Guttenberg es besucht hat? Ist es für ihn legendär, weil er es besucht hat? Das wäre noch die freundlichste Interpretation, aber hinsichtlich der Sprachlogik ist sie die weniger plausible, denn die Infinitivformulierung „zu nennende“ schließt ja gerade das persönliche Element aus zugunsten einer unbestimmten Allgemeinheit. Die aber steht im Kontrast zum bestimmten „Von jetzt an“, die sachlogisch nur einen Sinn ergibt, wenn man sie auf seine Person bezieht. Daher kann man es drehen und wenden, wie man will, das „Nunmehr“ ist aufs Engste mit der Person Guttenberg verzahnt, was einer gewissen Selbststilisierung gleichkommt. Entsprechendes gilt für „den Anspruch höchster Qualität eigenen Gemurmels“. Die Aussage, „höchste Qualität“ zu liefern, ist im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit ebenfalls eher ungewöhnlich, weil man sich normalerweise als Person nicht selber derart hochtrabend anpreist. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Zitat um einen inhaltlichen Gegensatz, denn mit „Gemurmel“ verbindet man in der Regel nicht „höchste Qualität“. Im Duden wird es als „(dauerndes) Murmeln“ (1993, Bd. 3, 1281) umschrieben, worunter Folgendes zu verstehen sei: „mit gedämpfter Stimme (in tiefer Tonlage), meist nicht sehr deutlich etw. sagen, was oft nicht für andere bestimmt ist“ (1994, Bd. 5, 2321). In Dissertationen müssen die Sachverhalte aber klar und deutlich formuliert werden und darüber hinaus für andere, nämlich den wissenschaftlich interessierten Leser, bestimmt sein. Wenn jedoch etwas für andere nicht bestimmt sein soll, will man es möglicherweise vor ihnen verbergen, und das könnte einer unbewussten Logik folgen: Guttenberg wollte den Eindruck „höchster Ansprüche“ erwecken, aber gleichzeitig verschleiern, dass sein Werk in weiten Teilen auf einer Täuschung beruht. Das machen bereits die ersten Sätze aus dem Vorwort deutlich: „Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in sich. Manche kleine wie epochale Erschütterung führt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht der Nostalgie“ (Guttenberg 2009, 5). Abgesehen davon, dass der Genitiv „dieser Tage“ besser durch den Dativ „in diesen Tagen“ ersetzt werden sollte, irritiert bereits der „Schimmer der Ernüchterung“. Denn dabei handelt es sich um ein kaum passendes sprachliches Bild, weil „Schimmer“ etwas Positives impliziert, wie es etwa im Ausdruck „Hoffnungsschimmer“ der Fall ist. Dann der nächste Satz: Was heißt „Systemfrage“, zu der „manche kleine wie epochale Erschütterung führt“? Welches System ist damit gemeint? Das politische System der EU? Oder der Einzelstaaten? Oder etwas ganz anderes? Das ist alles unklar, genauso wie die Aussage, dass manche Tradition der Nostalgie weiche. Diesen Satz versteht überhaupt niemand, denn er ist in hohem Maße erklärungsbedürftig: Welche Tradition ist gemeint, und inwiefern weicht sie der Nostalgie? Hinzukommt, dass ein Gegensatz zwischen den beiden Begriffen konstruiert wird, obwohl ihre Inhalte sich teilweise überschneiden, denn Nostalgie hat mit der Sehnsucht nach Traditionellem zu tun.
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Und ähnlich geht es weiter im Vorwort, es wirkt großteils gestelzt, aufgesetzt, gleichzeitig unklar, undeutlich und somit schwer verständlich, im Grunde eine Zumutung für den Leser. Es wird der Anschein hoher Sprachkunst erweckt ähnlich wie bei Oberprimanern oder Erstsemestern, die sich erstmals an einen Besinnungsaufsatz oder an eine Proseminararbeit wagen und ihre Unsicherheit zu überspielen versuchen, indem sie danach trachten, besonders „bemüht“ und „gescheit“ zu schreiben. Bereits hier hätte den Gutachtern auffallen können, dass mit der Dissertation etwas nicht stimmt, vor allem, wenn man die Stilbrüche berücksichtigt, die im Hauptteil der Arbeit aufgrund der Plagiate zuhauf vorhanden sind. Aufschlussreich ist auch ein weiterer Satz aus Guttenbergs Vorwort, nämlich dass seine Dissertation „einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfällen“ bzw. „der vereinzelten Wahrnehmung eines ‚Kairos‘“ entspringe (Guttenberg 2009, 5). In der griechischen Antike bedeutet der Kairos den „günstigen Augenblick, der dem Menschen schicksalhaft entgegentritt, aber von ihm als der rechte Moment sinnvollen Handelns erkannt und genutzt werden muss“ (Brockhaus, Bd. 11, 1990, 329; vgl. Ritter, Gründer u. Gabriel, Bd. 4, 1976, 667 ff.). Das heißt: Ohne Glück und Kairos wäre die Dissertation nicht zustande gekommen; Anstrengung, Fleiß, Ausdauer und intellektuelle Fähigkeiten, welche in anderen Fällen zum Doktorat führen, hätten hier nicht ausgereicht. Abgesehen davon wirkt es merkwürdig, sich im Vorwort einer wissenschaftlichen Arbeit, ähnlich wie Gustav Gans in den Disney-Comics, als eine Art „Schoßkind des Glücks“ zu bezeichnen (Barks, Bd. IX, 2008, 93). Überdies handelt es sich dabei um ein zweischneidiges Schwert, was sich in den Comic-Heften daran zeigt, dass der Gänserich in einigen Barks-Geschichten an seinem Hochmut scheitert und stattdessen Familie Duck einen Erfolg landet: „Gustav Gans, jaja, der kann’s, doch unser Schwein ist auch nicht klein“ (ebd., Bd. VII, 2007, 120). Die Unzuverlässigkeit des Glücks ist ein altes Motiv und als „Rad der Fortuna“ in die Kulturgeschichte eingegangen (vgl. Krause 2010; Meyer-Landrut 1997; Reichert 1985): Man greift in seine Speichen, wird hinauf-, aber dann auch wieder hinabgetragen. Kleist gibt dieser Vorstellung eine besondere Note, wenn er den übermütigen Prinzen von Homburg sagen lässt: „Auf deiner Kugel, Ungeheures [. . . ] roll heran“ (Kleist 1972b, 624), denn eine rollende Kugel lässt sich nur schwer beherrschen. Der Volksmund liebt es demgegenüber einfacher, indem er formuliert: „Hochmut kommt vor dem Fall“. Der Leser wird es bereits erahnen: Mit dem Fall Guttenberg bewegen wir uns wieder einmal auf dem Gebiet der Bühnenmetapher (vgl. Kap. 6.1.1). Auf sie griff auch die Presse auffallend häufig zurück, als sie sich mit der Plagiatsaffäre befasste. Dazu nur einige Beispiele: Die „Zeit“ sprach von einem „Guttenberg’schen Schauspiel“ (Polke-Majewski 2011), Arnulf Baring bezeichnete den ehemaligen Verteidigungsminister in der „Welt am Sonntag“ als „Mogelpeter vor dem Herrn“ (Broder u. Mahlzahn 2011), die „Süddeutsche Zeitung“ irritierte „die Zwielichtigkeit dieses Scheins“ (Prantl 2011b), und für dasselbe Blatt war die Rücktrittserklärung „das wirkungsvolle Schlussbild eines Bühnenstücks [. . . ]. Guttenberg [. . . ] beendete seine Selbstinszenierung mit der zartbitteren Inszenierung seines Abgangs“ (Prantl 2011a).
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6.3 Politik und Gesellschaft
Das lässt sich anhand des Textes der Rücktrittserklärung durchaus belegen: Ähnlich wie im Vorwort der Dissertation sprach er von den „höchsten Ansprüchen, die ich selbst an meine Verantwortung anlege“ (Guttenberg 2011), und auch im letzten Passus der Erklärung stilisierte er sich erneut: „Abschließend ein Satz, der für einen Politiker ungewöhnlich klingen mag. Ich war immer bereit, zu kämpfen, aber ich habe die Grenzen meiner Kräfte erreicht“ (ebd.; eigene Hervorhebung, B. R.). Das Eingeständnis eigener Schwäche wird umgehend in Stärke verwandelt, wogegen im Prinzip nichts einzuwenden wäre, geschähe es nicht auf Kosten anderer Politiker: Diese, so die indirekte Botschaft, sind nicht so ehrlich wie er und zeigen auch keine menschlichen Schwächen. Das ist ein immer wiederkehrendes Merkmal, stets betonte er, er wäre anders als „normale“ Politiker, was seine Kollegen aus anderen Fraktionen selbstverständlich erzürnte. So meinte der SPD-Politiker Rainer Arnold in einem Interview mit dem Nachrichtensender n-tv: „Guttenberg hat einen falschen Schein um sich aufgebaut. Das zieht sich bei ihm durch wie ein roter Faden. Bei Veranstaltungen holt er sich seinen ersten Applaus – er war bei mir im Wahlkreis –, indem er sagt: ‚Ich bin so froh, bei Ihnen hier in Frickenhausen zu sein, um endlich dem Zirkus in Berlin zu entfliehen.‘ Da tobt der Saal. Er bedient jedes noch so abgedroschene Vorurteil gegen Politik und tut so, als gehöre er nicht dazu“ (Arnold 2011). Anders zu sein als andere, ist kein Vergehen, aber man kann auch Individualität zeigen, ohne andere Personen herab- und sich selbst heraufzusetzen. Das war bei Guttenberg nicht so, immer wieder stilisierte er sich in die Höhe, indem er seine Kollegen entehrte, wobei die Selbstinszenierung mitunter seltsame Blüten trieb, wie das folgende Zitat aus der „Welt“ deutlich macht: „Der Politikberater Michael Spreng lästerte genüsslich über Guttenbergs Auftritt auf einer Gala, frisch aus Afghanistan eingetroffen und noch in BundeswehrKlamotten, ‚obwohl in jeder Regierungsmaschine drei Anzüge hängen‚“ (Wallbraun 2011). Bei Guttenberg stand der Antrieb im Vordergrund, immer „höchsten Ansprüchen“ genügen zu müssen. Das war auf die Dauer sehr anstrengend und hing wohl auch, wie er im Vorwort seiner Dissertation schreibt, mit „sanftem, aber unerbittlichem familiären [sic!] Druck und wohl auch ein wenig [mit] der beklagenswerten Eitelkeit“ zusammen (Guttenberg 2009, 6). Interessant – und durchaus als Fehlleistung im psychoanalytischen Sinn zu werten – ist der Grammatikfehler, die Verwendung des Akkusativs statt des Dativs ausgerechnet im Adjektiv „familiär“. 8 Unabhängig davon 8
Um den Duden zu zitieren: „Früher hieß es bei artikellosem Gebrauch z. B. mit trockenem französischen Rotwein, d. h., das zweite Adjektiv wurde im Dativ Singular Maskulinum und Neutrum schwach dekliniert. Diese Praxis gilt heute nicht mehr; beide Adjektive haben die starke Endung -em“ (Duden 2009, 271).
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macht das Zitat deutlich, dass Guttenberg eine doppelte Last bedrückte, zum einen die seiner Familie, zum anderen seine eigene. Um Derartiges zu bewältigen, bedarf es eines immensen Energieaufwandes, der dann verringert werden kann, wenn man sich nicht nur über die anderen stellt, sondern diese auch herabzieht und unter sich platziert. Adler schreibt in dem Zusammenhang, dass es sich dabei um Menschen handele, die „ihrem hoch gesteckten Ziel entsprechend, zu großen, auffallenden Bewegungen ausholen. Mit einer besonderen Hast, mit starken Impulsen, die weit über das gewöhnliche Maß hinausgehen, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung, suchen sie ihre eigene Position sicherzustellen. Auf diese Weise werden sie auffallend, greifen störend in das Leben anderer ein und nötigen sie naturgemäß, sich zur Wehr zu setzen“ (Adler 1927a, 76). Zu dieser Auffälligkeit zählten auch „Eitelkeit, Hochmut und ein Streben nach Überwältigung des andern um jeden Preis [. . . ]. Eine solche Stellungnahme zum Leben ist aber nicht nur für die Umgebung störend, sie wird sich auch dem Träger dieser Erscheinung selbst unangenehm fühlbar machen, indem sie ihn mit den Schattenseiten des Lebens sosehr erfüllt, dass ihm daraus keine echte Lebensfreude sprießt“ (ebd., 77). Nun wird man tiefenpsychologische Überlegungen zur Überkompensation nicht eins zu eins auf die Politik übertragen können, denn diese lebt von Konflikten und massiven gegenseitigen Anschuldigungen. Außerdem spielen in dem Fall soziokulturelle Einflüsse eine große Rolle, denn wenn jemand in einem Schloss aufwächst und daran gewöhnt ist, von einer Schar Bediensteter umsorgt zu werden, wäre es wenig zielführend, hinter massiven Anspruchshaltungen sogleich unzulängliche Primärobjekte zu vermuten. Doch auf der anderen Seite braucht man dem tiefenpsychologischen Zugang nicht jegliche Berechtigung abzusprechen, denn Guttenberg stellte seine Persönlichkeit in einem Ausmaß in den Vordergrund, das weit über den normalen Bereich hinausging. Die enorme Selbststilisierung, verbunden mit dem Drang, andere Menschen herabzusetzen, sind daher als Überkompensation zu werten und lassen Schlüsse auf Minderwertigkeitsgefühle zu, die in der Kindheit als besonders drückend erlebt wurden. Psychologische Aspekte wurden im Übrigen auch von einigen Zeitungskommentatoren erwähnt. So meinte der „Spiegel“, dass die öffentliche Meinung stets behauptet habe, die vermeintliche „Sicherheit komme aus dem Schloss, der glanzvolle Auftritt, die starke Rede, das feste Selbstbewusstsein. Es ist aber auch möglich, dass Unsicherheit aus diesem Schloss kommt. Dass einem die fast tausendjährige Geschichte der Familie eine schwere Last aufbürdet“ (Darnstädt et al. 2011, 29).
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6.3 Politik und Gesellschaft
Ähnlich äußerte sich der konservative Publizist Arnulf Bahring in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“: „Es lohnt sicher auch ein Blick auf die Familie zu Guttenberg und ihre angeheirateten Verwandten. Da findet man alles. Einen Patensohn von Adolf Hitler ebenso wie einen fanatischen, italienischen Stalinisten. Donnerwetter, was da aufeinander prallte! Ich vermute, dass die Ursachen dieses Dramas vor allem in der Familiengeschichte zu suchen sind. Vielleicht wollte er unbewusst sogar scheitern. Solche Fälle gibt es“ (Broder, Mahlzahn 2011; eigene Hervorhebung, B. R.). Ein Vergleich mit Barack Obama macht das noch deutlicher. Dieser kompensiert in normalen Bahnen, indem er andere Menschen nicht herabsetzt und sogar seinen Vorgänger George W. Bush mit Kritik verschonte. Außerdem stilisiert er sich nicht zu etwas ganz Einzigartigem in die Höhe, sondern betrachtet sich als einen integrierten Bürger der Vereinigten Staaten und koppelt seinen Aufstieg aufs Engste an die vermeintliche oder tatsächliche Erfolgsgeschichte der USA. Das macht den großen Unterschied gegenüber Guttenberg aus, auch wenn beide als „Märchenhelden“ gefeiert wurden bzw. werden. Vielleicht wird jetzt auch noch deutlicher, dass in der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Schein, das in der Kulturgeschichte seit der Frühen Neuzeit als Theatrum-mundi-Metapher thematisiert wird, ein wichtiger Zugang zum tiefenpsychologischen Verständnis begründet ist (s. Kap. 6.1.1). „Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen“, könnte man als einen psychoanalytischen Grundsatz formulieren und hinzufügen, dass es die Aufgabe der Tiefenpsychologie ist, „einen Blick hinter die Kulissen“ zu werfen. Insofern hat der Fall Guttenberg paradigmatische Bedeutung. Als historische Person wird er wahrscheinlich verblassen, während Obama bereits jetzt schon als erster afroamerikanischer Präsident in die Geschichte eingegangen ist, zumal er eher auf der Seite des Homo ludens stehen dürfte (s. Kap. 6.2).
6.4 Katastrophenforschung Die Katastrophenforschung boomt, im deutschsprachigen Raum ebenso wie im internationalen Rahmen, und das nicht nur in den Natur-, sondern auch den Geisteswissenschaften. 1 Ein Motiv für Letztere mag das Unbehagen an den „harten“ Disziplinen sein, die sich zu wenig mit den mentalen Auswirkungen von Desastern befassen. Ein anderes ist die Zunahme konkreter Schäden durch Naturkatastrophen in den letzten vier Jahrzehnten (s. Berz 2001, 4), wodurch eine gewisse „Krisenstimmung“ aufgekeimt ist, die mit dem erwachenden Umweltbewusstsein zu tun hat. In den 1960er Jahren begann man nämlich, über die „Grenzen des Wachstums“ nachzudenken sowie die technizistische Fortschritts- und Machbarkeitsphilosophie zu relativieren. In dem Zusammenhang ist auch an die Diskussion um den Klimawandel zu denken, weil dadurch die brisante Frage eröffnet worden ist, inwieweit er anthropogen beeinflusst wird. Unbewusst dürfte dabei die Vorstellung eine Rolle spielen, dass die Natur sich am Menschen rächt, weswegen aus einer verdrängten Angst heraus Naturkatastrophen eine gewisse Faszination auf die Wissenschaft ausüben (s. Rieken 2010f, 27). Die psychologischen Disziplinen befassen sich seit jeher mit den seelischen Folgen von Traumatisierungen oder Belastungen, und sie beschäftigen sich dabei auch eingehend mit individuellen Schicksalen. Doch wegen des primär professionellheilenden Anliegens besteht kaum Interesse an eine Einbindung in den weiteren Horizont der Katastrophenforschung. Dies aber kann die Perspektive erweitern, zählen dazu doch historische oder soziale Dimensionen, welche der Frage nachgehen, wie die Menschen früher mit derartigen Schicksalsschlägen fertig wurden bzw. wie soziale Gruppen als Gesamtheit darauf reagieren. Dazu gehören aber auch naturwissenschaftliche Aspekte wie geologische oder witterungsbedingte Ursachen von Desastern und ingenieurwissenschaftliche Anliegen, zum Beispiel die Verbesserung von Schutzmaßnahmen an Flussläufen oder im Gebirge. All das könnte dem therapeutischen Prozess einen zusätzlichen Erkenntniswert bieten. Umgekehrt fehlt den nicht-psychologischen Disziplinen zumeist der Zugang zur intimen individuellen Dimension, die vor allem für Psychoanalytiker Teil ihres Selbstverständnisses ist. Obwohl man Katastrophen mit einiger Berechtigung in den Kontext einer Kulturgeschichte der Angst stellen könnte, wird dieser Begriff vermieden und stattdessen von „Risiko“ gesprochen, denn das lässt sich angeblich eindeutig definieren, während Angst weniger fassbar ist, weil sie Tiefendimensionen berührt und letztlich auch am Selbstverständnis jener Wissenschaftler nagt, welche „objektive“ Forschung betreiben wollen (s. ebd., 141–145). Bedenkt man all das, so kann es sinnvoll sein, die Multiperspektivität der Katastrophenforschung mit dem differenzierten und tief schürfenden Blick der Psychoanalytiker zu verbinden. In eigenen Monografien (Rieken 2005; ders. 2010f) und Auf-
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Siehe den Überblick in Rieken 2010f, 25–34; dort auch weitere Literaturhinweise.
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sätzen (ders. 2007c; 2007d; 2010g) wird versucht, den tiefenpsychologischen Zugang vor allem mit ethnologischen Aspekten in historischer und gegenwärtiger Perspektive zusammenzufügen. Dazu einige Überlegungen bzw. Beispiele: Der Mensch strebt danach, in seine Lebensgeschichte einen „roten Faden“ zu weben, um ein gewisses Ausmaß an Kontinuität zu erleben. Eine Katastrophe bedeutet demgegenüber einen Einschnitt, der diese zu etwas Isoliertem, zu einem Fremdkörper macht, den man zunächst nicht versteht. Da indes unverstandene Fakten als bedrohlich empfunden werden, tendieren die Menschen dazu, „die ihnen begegnenden Phänomene in Sach- und Entwicklungszusammenhänge einzuordnen, um ihnen dadurch den Stachel der Bedrohlichkeit zu nehmen“ (Köller 2004, 837). Schriftliche Quellen, die seit dem Mittelalter fließen, zeigen diesen Wunsch deutlich, und er zielt aus aristotelischer Perspektive in zwei Richtungen: Wirkkausal wurden Katastrophen im christlichen Europa stets mit dem strafenden Gott in Verbindung gebracht: Er schickt eine Lawine oder eine Überschwemmung, weil die Menschen gesündigt haben. Aber daneben existierte auch die zielkausale Perspektive, denn er tat es, um sie zur Vernunft zu bringen und ein Leben im Sinne der christlichen Ethik zu führen. Aus individualpsychologischer Sicht wird der Mensch dadurch mit Bedeutung und Macht aufgeladen, indem Gott das Augenmerk auf ihn richtet. Somit ist er kein „Zigeuner am Rande des Universums [. . . ], das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“ (Monod 1971, 211). Kompensation ist auch deswegen notwendig, weil das unmittelbare Erleben einer Katastrophe mit Gefühlen extremer Hilflosigkeit verbunden ist. Auch psychoanalytisch ist das gut nachzuvollziehen als Identifikation mit dem Angreifer (A. Freud 1984, 85 f.). Darüber hinaus rufen derartige Situationen regressive Prozesse hervor, die mit der Aktivierung magischer Vorstellungen zu tun haben. Von Piaget wissen wir um die Bedeutung des epistemologischen Egozentrismus, also davon, dass Kinder glauben, sie seien der Mittelpunkt des Geschehens und alles drehe sich um sie. Die Auffassung, dass Gott es auf die Menschen abgesehen hat, wenn er eine Katastrophe schickt, fügt sich daher nahtlos auch in die Theorie des magisch aufgeladenen Egozentrismus ein (Piaget 1980). Im populären Denken begegnen wir diesem Argumentationsmuster heute wieder, allerdings in einer Weise, die an die Erfordernisse des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters angepasst ist. Seit der Diskussion um den anthropogenen Klimawandel sind Katastrophen nämlich nicht mehr ein Ausdruck des strafenden Gottes für sündhaftes Tun, sondern ein Ausdruck der „zornigen“ Natur über das „sündhafte“ Umweltverhalten der Menschen. „Will die Erde uns loswerden?“, fragte besorgt die Bildzeitung nach dem Tsunami vom 26. Dezember 2004, dem in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans mehr als 200.000 Menschen zum Opfer fielen (zit. n. Rieken 2005, 361). Und das „Weekend Magazin“ vom 18. März 2011 konstatierte in Anbetracht der kurz zuvor erfolgten Dreifachkatastrophe in Japan mit Erdbeben, Tsunami und beschädigten Atomkraftwerken: „Die Erde schlägt zurück“, um hinzuzufügen: „Immer wenn wir der Natur Gewalt antun, lernen wir, was Naturgewalten uns antun können“ (Roth 2011, 16).
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Früher war es Gott, heute sind es das Klima bzw. die Natur, welche uns bestrafen, aber in jedem Fall handelt es sich um besonders mächtige Wesen, die ihr Augenmerk auf den Menschen richten und sich mit ihm befassen, sodass er nicht bedeutungslos ist. Die Natur- und Geowissenschaften argumentieren zwar beim Klimawandel rein wirkkausal, 2 doch das zielkausale Moment ist im Menschen tief verankert, weil es dabei um nichts weniger als die Sinnfrage geht. Wir finden es aber nicht nur im populären Denken, sondern auch im intellektuellen Milieu der säkularisierten Moderne. So lautet etwa ein aktueller Sachbuchtitel: „Die Erde schlägt zurück. Wie der Klimawandel unser Leben verändert“ (Hutter, Goris 2009). Und nach dem Tsunami von 2004 waren die Medien tief erschüttert nicht nur wegen des unvorstellbaren Leidens, sondern auch, weil das Geschehen zunächst vollkommen sinnlos erschien. „Spiegel“-Reporter hatten unter anderem einen Fischer interviewt, der durch den Tsunami seine Mutter verloren hatte. Er tröstete sich mit den Worten, dass sie das Meer geliebt haben müsse und das Meer sie, woraufhin der Journalist sich und uns fragt: „Muss es? Gäbe es dann so etwas wie eine Erklärung für das, was geschah? Gäbe es einen Sinn hinter dem, was das Meer am Morgen des 26. Dezember der Mutter des Fischers Thyagarajan antat, einem seiner vielen, vielen tausend Opfer?“ (Beste et al. 2005, 96 f.). Ähnlich äußerte sich die „Zeit“ in ihrer ersten Ausgabe nach der Tragödie. Während man beim Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center immerhin noch habe fragen können, ob die US-Amerikaner „nicht irgendwo, irgendwie – und sei es noch so entfernt – durch ihre Art zu leben, in der Welt zu herrschen und an ihr zu verdienen, den Fanatikern den Ansatz eines Vorwandes lieferten“ (Leicht 2004, 1), sei das im Falle des Tsunamis nicht möglich. Denn „diese asiatische Zerstörungswelle löste eine Flut ohne jede Sünde aus – und ebendeshalb schlechterdings unverständliches Leid; ein Leid also, das sich weder in Anklage noch in Trost aufheben lässt“ (ebd.; ausführlicher Rieken 2005, 343–362). Die Zielursache, auf die insbesondere die Individualpsychologie das Augenmerk lenkt, ist demnach auch bei der Verarbeitung von Katastrophen tief verwurzelt. Die soeben skizzierten Überlegungen sollen darüber hinaus deutlich machen, dass eine interdisziplinäre Verbindung zwischen kulturgeschichtlichen und tiefenpsychologischen Fragestellungen wertvoll sein kann. Das gilt auch für das folgende Beispiel, in dem es allerdings weniger um theoretische Gedanken geht als um ein konkretes Beispiel aus einer Feldforschung. 2
Von den klimawirksamen Spurengasen hat durch die Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) vor allem das Kohlendioxid (CO2 ) stark zugenommen. Dieses aber ist in der Lage, langwellige Strahlung (Infrarotstrahlung), die von der erwärmten Erde ausgesandt wird, zu absorbieren und in Wärmeenergie umzuwandeln. Das ist im Wesentlichen der anthropogene Anteil am Klimawandel, zumindest nach Meinung der meisten Experten.
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6.4 Katastrophenforschung
Im Jahre 1999 wurde der Tiroler Urlaubsort Galtür von einer bisher nie dagewesenen Lawinenkatastrophe heimgesucht. Neun Jahre später habe ich Interviews mit Einheimischen geführt, in denen vor allem der Frage nachgegangen wurde, inwieweit sie das Desaster verarbeitet haben (Rieken 2010f): erstaunlich gut, war das Resümee, weil sie über eine hohe Resilienz verfügen, die vor allem mit mentalitätsspezifischen Faktoren zu tun hat, nämlich erstens mit einer funktionierenden Dorfgemeinschaft als sozialem Netz und zweitens einer tief verankerten Weltanschauung, die ihnen Sinn vermittelt, der katholischen Religion. Obwohl gerade der Katholizismus psychotherapeutischen Zugängen in der Regel mit Ressentiments begegnet, haben die Galtürer drittens genau das getan, was ihnen jeder Therapeut geraten hätte, nämlich über die dramatischen Erlebnisse in extenso zu reden, und das solange, bis sie sich davon einigermaßen befreit fühlten – statt die Erlebnisse einfach „unter den Teppich zu kehren“, wie es leider allzu oft geschieht, wenn lokale Gemeinschaften von Katastrophen getroffen werden. Daneben gab es aber auch wenige andere Interviews, in denen deutlich wurde, dass die Verarbeitung des Desasters mit größeren Schwierigkeiten verbunden war. Ein berührendes Gespräch hatte ich mit einem Mann, der sehr reflektiert über die Lawinenkatastrophe nachdachte und mir zu verstehen gab, dass er zwar an der Verarbeitung des dramatischen Geschehens erfolgreich gearbeitet habe, teils auch mit therapeutischen Mitteln, doch ein gewisser Schatten über sein Leben geblieben sei. Im Laufe des Interviews stellte sich nämlich heraus, dass die Lawine eine besondere symbolische Kraft für ihn hatte: Ihm war von klein auf eine gewisse aggressive und autoaggressive Tendenz eigen, und die sah er versinnbildlicht in der zerstörerischen Energie des außerhalb der Norm stehenden Naturereignisses. Trotz einer gewissen melancholischen, schwermütigen Tendenz wirkte er aber keinesfalls neurotisch auf mich, zumal er an dieser Problematik gearbeitet hatte, und wer das genauer nachvollziehen möchte, kann es auch nachlesen (ebd., 121–128). Es mag überraschen, keine Psychopathologie zu unterstellen, denn seit Freud (1917e) und Adler (1914d) sind wir daran gewöhnt, Melancholie als ein krankhaftes Phänomen zu betrachten, obgleich beide Autoren durch ihre Arbeiten viel dazu beigetragen haben, der psychiatrischen Diskriminierung Einhalt zu gebieten. In dieser ist Melancholie bis heute auf schwere „Störungen“ – ein hässliches Wort – eingeengt, man findet sie als Alternativbegriff zur „schweren depressiven Episode“ (im ICD 10 unter F 32.2) oder als „melancholische Depression“ im Rahmen affektiver Psychosen (Tölle u. Windgassen 2009, 238–247). Doch ihre Medizinierung „vergisst, dass es Weltzustände und existenzielle Situationen gibt, in denen die Melancholie eine angemessene Haltung darstellt“, schreibt der Kulturhistoriker Hartmut Böhme (1988, 266). Im Mittelalter galt sie indes als Todsünde („Acedia“), und auch Freud erhebt den moralischen Zeigefinger, wenn er Trauer von Melancholie unterscheidet. Während durch Trauerarbeit libidinöse Energie allmählich vom verlorenen Liebesobjekt abgezogen werde und man sich erneut der Realität zuwenden könne (s. Freud 1917e, 430), klammere der Melancholiker sich ans Verlorene, wodurch „sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt“ (ebd., 435; vgl. Warsitz 2008). Ähnlich Adler:
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Melancholiker rechneten von klein auf mit der Unterstützung durch andere Personen und würden eine Fiktion aufrechterhalten, „nach welcher das Leben ein schwieriges, ungeheures Wagnis vorstellt, die überwiegende Mehrzahl der Menschen aber aus feindlichen Individuen und die Welt aus unbequemen Hindernissen besteht“ (1914d, 129). Es gibt aber Konstellationen, die uns in tiefe Verzweiflung stürzen und bei denen man Wunden und Schrammen davonträgt, die nie ganz und mitunter nicht einmal hinreichend ausheilen. Bevor die naturwissenschaftliche Schulmedizin ihren Siegeszug um die Welt antrat, wusste man das noch, dominierte im alten Europa doch die Humoralpathologie, zu deren Grundverständnis vier unterschiedliche Charaktertypen gehörten, von denen der Melancholiker einer war. 3 Und dabei handelt es sich keineswegs um pathologische Zuschreibungen. Eines der berühmtesten Werke zu dem Thema ist die „Anatomie der Schwermut“ des anglikanischen Geistlichen Robert Burton aus dem 17. Jahrhundert. Im Untertitel lautet sein Werk: „Über die Allgegenwart der Melancholie, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten“ (Burton 2003). Nimmt man das beim Wort, dann ist die Melancholie nicht etwas Auszumerzendes, sondern ein Zustand, mit dem man leben muss, weil er allgegenwärtig ist. Die Gleichsetzung von Depression und Melancholie beruht auf mangelndem kulturgeschichtlichem Wissen. Insbesondere bei traumatischen oder schwer belastenden Ereignissen wie Katastrophen kann Melancholie eine angemessene Reaktion sein; das lässt sich wirkkausal mit dem Hinweis auf die Schwere des Ereignisses erklären und zielkausal damit begründen, dass das Leben tragische Dimensionen mit umfasst und die Melancholie diesem Umstand Rechnung trägt – zumindest von der Antike bis weit in die Neuzeit, bevor die moderne Schulmedizin mit ihrem naiven Fortschrittsglauben den Siegeszug antrat. Hier kann also die Tiefenpsychologie von der Kulturgeschichte lernen. Umgekehrt kann die herkömmliche Katastrophenforschung von der Tiefenpsychologie profitieren, wenn es um eine umfassende Verarbeitung der dramatischen Geschehnisse geht. Ein wirk- und zielkausaler Zugang führt zu einem besseren Verständnis und hilft den Menschen, die „einschneidenden“ Erlebnisse in die eigene Biografie zu integrieren, den „roten Faden“ einigermaßen zu kitten und Gefühle der Hilflosigkeit zu kompensieren.
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Die anderen sind Sanguiniker, Choleriker und Phlegmatiker.
7 Ausbildung, Profession und Wissenschaft 7.1 Professionelle Ausbildung als „Konfession“ Bernd Rieken Die Kritik an der professionellen Ausbildung ist fast so alt wie diese selbst. Freud hat schon 1937 darauf hingewiesen, „dass die Analytiker in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht durchwegs das Maß von psychischer Normalität erreicht haben, zu dem sie ihre Patienten erziehen wollen“ (Freud 1937c, 93). Die Ursache ist in einem grundlegenden Widerspruch begründet: Analysen sollen den Menschen innerlich freier machen, doch sich einer Ausbildung zu unterziehen, heißt sich anzupassen. Während man an der Universität „nur“ Angst davor haben muss, als zu dumm oder zu unwissend dazustehen, kommt in der analytischen Ausbildung ein weiteres Moment hinzu, nämlich als zu „gestört“ enttarnt zu werden. Ähnlich wie ein Medizinstudent, der auf einmal glaubt, all jene Krankheitssymptome zu spüren, von denen er in den Lehrveranstaltungen gehört hat, sieht sich der Ausbildungskandidat plötzlich mit einer Unzahl neurotischer Merkmale konfrontiert – und das nicht einmal vollkommen unbegründet. Zum einen sind die Grenzen zwischen seelischer Gesundheit und Krankheit äußerst fließend, zum anderen sind es in der Regel psychisch Leidende, die sich zu diesem Beruf hingezogen fühlen. Das ist im Grunde sinnvoll, man möchte die Beschwerden produktiv verarbeiten und in Formen verwanden, die der Gesellschaft nützen. Außerdem kann man die seelischen Nöte anderer am ehesten dann verstehen, wenn man sie selber erlebt oder zumindest teilweise bzw. in Spuren erlebt hat. Aber der konstruktive Umgang damit setzt eine möglichst repressionsarme Ausbildung und Lehranalyse voraus – und das ist bis heute nicht gegeben. Ende der 1940er Jahre beklagt der stets kritische und unerschrockene Michael Balint die „willige Annahme der exotischen Legenden, Unterwerfung unter die dogmatische und autoritative Behandlung ohne viel Protest und ein überaus respektvolles Benehmen“ (Balint 1997c, 317), wobei Letzteres den Ängsten der Kandidaten geschuldet sein dürfte und als Identifikation mit dem Angreifer verstanden werden kann. Otto F. Kernberg prägt in den 1980er Jahren die griffige Formel, dass „die organisatorische Struktur psychoanalytischer Institute [. . . ] am ehesten einer Kombination von (technischer) Berufsschule und Priesterseminar“ entspreche (zit. n. Kächele 1991, 389). Pohlen und Bautz-Holzherr kritisieren in den 1990er Jahren „die Schulbildung in der Psychoanalyse“ als „das Ergebnis eines Identifizierungsprozesses, an dessen Ende die totale Bindung des Kandidaten an den Apparat steht“ (1995, 170). Sie sprechen auch vom „Fundamentalismus des psychoanalytischen Apparats“ (ebd.). Daran dürfte sich bis heute nicht viel geändert haben, das „Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe“ von 2008 sieht die aktuelle Situation unter anderem dadurch B. Rieken et al., Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis © Springer-Verlag/Wien 2011
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7.1 Professionelle Ausbildung als „Konfession“
charakterisiert, „dass der Kandidat sich nur schwer auf einen regressiven Prozess einlassen kann, weil er befürchtet, angesichts seiner regressiven Wünsche und Fantasien als Psychoanalytiker nicht geeignet zu sein“ (Streeck 2008, 433). Skeptische Töne gegenüber der Lehranalyse sind auch auf individualpsychologischer Seite vorhanden. Heft 1/1990 der „Zeitschrift für Individualpsychologie“ ist der Ausbildung gewidmet und schlägt durchaus kritische Töne an (Lehmkuhl u. Lehmkuhl, Huttanus 1990, 26–30; Fröhlich-Gildhoff 1990). Aus eigener Feder stammt ein Beitrag, in dem die mangelnde Authentizität des Analytikers in Verbindung gebracht wird mit dem rigiden Ausbildungssystem (Rieken 2003a, 347–350; vgl. ders. 2011b, 241–244). Das führte zu einer heftigen Diskussion in der Zeitschrift für Individualpsychologie (Datler et al. 2005a; vgl. Stephenson 2011b), bei der aber bezeichnenderweise die Problematik des Ausbildungssystems vollkommen ausgeklammert blieb. Das braucht nicht zu überraschen, da die Wiener Gruppe des Österreichischen Vereins für Individualpsychologie angestrengt den Anschluss an die Psychoanalyse sucht und darum bemüht ist, unbeugsam nach orthodoxen Regeln zu verfahren. Dabei wird übersehen, dass es in der Freud’schen Analyse seit jeher unorthodoxe, Authentizität befürwortende Strömungen gibt, von Ferenczi über Balint bis zur relationalen Psychoanalyse Stephen Mitchells. Balint vergleicht die Ausbildung mit den Initiationsriten indigener Kulturen (1997c, 317), und das ist treffend, weil der Dogmatismus in den Vereinen und die stilisierte Deutungsmacht der Lehranalytiker mit ihrem Bemühen um die Vermittlung der „reinen Lehre“ und der „richtigen analytischen Haltung“ ihre Entsprechung in archaischen Strukturen findet. Das folgende Zitat des Ethnologen Klaus E. Müller macht das deutlich: „Hinter dem inquisitorischen Gestus der Protagonisten rigoroser Erkenntnishygiene hebt sich, wie schattenhaft, die Attitüde der Ältestenversammlung im Männerhaus primordialer [= ursprünglicher, B. R.] Dorfgemeinschaften ab, in dem die Geronten der Gruppe in hermetischer Abgeschiedenheit Rats pflogen und, auf ihre größere Erfahrung und überlegene Einsicht pochend, bestimmten, wie die Welt zu verstehen und das Geschehen zu deuten sei. Ihr ehernes Bezugsfundament bildete dabei freilich stets der ‚kanonische‘ Grundsatz, dass jenseits der eigenen Regelwelt ‚unreine‘, verkehrte, barbarische, ja akosmisch-chaotische Verhältnisse herrschen, mit denen sich einzulassen nur Unglück, Krankheit und Tod bringen kann“ (K. E. Müller 2002, S. 108). Das Pochen auf „größere Erfahrung und überlegene Einsicht“ bekommt man als Kandidat von Lehrtherapeuten immer wieder zu hören. Dahinter steht die Angst, die „eigene Regelwelt“ mit „verkehrten“ Elementen zu „verunreinigen“. Das Leiden an den repressiven Elementen der Ausbildung kommt auch in Berichten ehemaliger Kandidaten über ihre Ausbildung zum Vorschein (Drigalski 1980; Kaiser 1996; Rosenkötter 1986; Speyer 1997). Zumeist hält man sich im Umgang mit anderen bedeckt, gibt sich freundlich, ist aber distanziert und auf der Hut, über per-
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sönliche Probleme wird kaum gesprochen. Schon aus diesem Grund ist eine universitäre Ausbildung als Alternative zu den Vereinen empfehlenswert, weil dazu auch ein Studentenleben gehört, das ungezwungenere Formen des Beisammenseins zulässt. Nach unseren Erfahrungen an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien (s. u.) sprechen die Studenten mit guten Freunden auch über persönliche Probleme aus den Lehranalysen. Orthodoxe Bedenken, dass alle Themen aus derselben ausschließlich in dieselbe gehören, können wir nicht teilen, weil die Emotionen auch dann für den analytischen Prozess fruchtbar gemacht werden, wenn man sie im Freundeskreis thematisiert. Einer „offenen Gesellschaft“ im Sinne Poppers (2003) ist die Vereinsausbildung jedenfalls nicht förderlich, und sie erschwert durch ihre rigorosen Identifikationsmechanismen außerdem das wissenschaftliche Denken, welches eine gewisse Distanz zum Gegenstand erfordert. Allerdings befinden wir uns damit in einem gewissen Dilemma, welches von so grundsätzlicher Art ist, dass wir ein neues Kapitel beginnen wollen.
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7.2 Wissenschaft und „Glaube“ Bernd Rieken Es ist ungewöhnlich, dass ein hoch professioneller Beruf wie der des Psychotherapeuten nicht an Universitäten gelehrt wird, sondern die Ausbildung privaten Vereinen obliegt. Es sind zwar gegenwärtig Bestrebungen im Gange, diese zu akademisieren, doch umgesetzt wurde das bisher nur in Österreich an der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU). Es handelt sich dabei um einen Spagat, denn Wissenschaft ist zur Objektivität verpflichtet, während Profession mit „Glauben“ verbunden ist, nämlich dem Glauben, das Richtige zu tun. Im Sinn der Dynamik selbst erfüllender Prophezeiungen ist Letzteres durchaus berechtigt. Wer von dem überzeugt ist, was er tut, hilft auch seinem Patienten. Wenn man einen Arzt konsultiert, möchte man nicht nur eine Diagnose erhalten, sondern sich auch ein Medikament verschreiben lassen, von dem man annimmt, dass es wirkt. Die Philosophie des „anything goes“ wäre wenig hilfreich, der Patient wäre ratlos, würde der Arzt ihm mitteilen, dass die Schulmedizin genauso ihre Berechtigung habe wie Humoralpathologie, TCM, Homöopathie, Phytotherapie oder gar eine Teufelsaustreibung bzw. 50 Vaterunser, weswegen er sich die Art der Behandlung selber aussuchen dürfe. Also bedarf es auch des „Glaubens“, doch sollte diesem so viel an Wissenschaft beigemischt sein, dass man nicht in den Dogmatismus der traditionellen Ausbildungsvereine hineingleitet. „Lösen“ wird man dieses Problem nicht, aber vielleicht kann man lernen, eine gewisse Spannung auszuhalten, indem man für sich und andere akzeptiert, dass die Entscheidung für eine bestimmte Psychotherapieschule keine „objektiv“ richtige Wahl ist, sondern sich aus der Lebensgeschichte ergibt. Möglicherweise könnte auch ein Hinweis auf soziale Rollen nützlich sein, die es zu erfüllen gilt: Im engen Kreis der eigenen Richtung sind subjektive Überzeugungen angebrachter als im größeren der pluralistischen Therapeutengemeinschaft. Ich selber versuche das als Hochschullehrer zu lösen, indem ich akzeptiere, in den individualpsychologischen Seminaren andere Rollen und andere Aufgabe zu erfüllen als in den Schulen übergreifenden Lehrveranstaltungen, etwa im Doktoratsstudium, das für alle Richtungen geöffnet ist und mitunter sogar zu wechselseitigen Befruchtungen führt. Das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und „Glaube“ schlägt sich auch im Umgang mit dem „empirischen Material“ nieder. Es besteht eine große Kluft zwischen der Psychotherapieforschung großen Stils und den Fallvignetten bzw. -darstellungen aus der Feder praktizierender Therapeuten (vgl. Reiter, Steiner 1996, 175 f.). Diese gelten unter Wissenschaftlern als subjektivistisch und entzögen sich quantifizierbarer, somit objektivierbarer Datengewinnung. Demgegenüber nehmen praktizierende Therapeuten von der Großforschung kaum Notiz, weil sie sie mit Blick auf ihre praktische Tätigkeit für irrelevant und realitätsfremd erachten. Denn Datenmengen großen Ausmaßes, wie sie für das gegenwärtige Wissenschaftssystem typisch sind, können sie auf die konkrete Behandlungssituation kaum anwenden (vgl. Buchholz 1999, 67 ff.; Reiter u. Steiner 1996, 175 f.).
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7.2 Wissenschaft und „Glaube“
Fallvignetten haben allerdings auch ihre Tücken, wie die folgende Untersuchung deutlich macht. Buchholz und Reiter haben klinische Falldarstellungen in psychoanalytischen und familiendynamischen Fachzeitschriften hinsichtlich ihres Erkenntniswertes untersucht. Die häufigste Form der Fallgeschichte sei der „Fünf-Zeiler, also die Form mit minimalem Informationsgehalt; lange Fallgeschichten oder gar Transkripte sind in beiden Schulen sehr selten. Wir sprechen von der ‚Sonatenform der Fallgeschichte‘: Einer langen theoretischen Exposition folgt eine knappe Durchführung am Fall, der wiederum eine Reprise des theoretischen Themas folgt“ (Buchholz 2000). Ähnlich verlaufen auch die Diskussionen in den analytischen Ausbildungsvereinen. Jemand stellt einen Fall vor und leitet daraus seine Theorie ab. Ein Kollege widerspricht, indem er erklärt, er habe einen anderen Patienten, bei dem es sich ganz anders verhalte. Eine solche Diskussionskultur hängt mit dem Dogmatismus der Vereine zusammen, der wissenschaftliche Standards vermissen lässt. Ohne dem nomothetischen Ideal eines Grawe (1994) frönen zu wollen, ist daher auf die Notwendigkeit empirischer Standards zu pochen. Das bedeutet hinsichtlich der Fallgeschichten, dass sie ausführlich genug sein müssen, um sich als Leser ein eigenes Bild machen und den Text auf mögliche Leerstellen oder Widersprüche abklopfen zu können. Außerdem sollte man sich immer die Frage stellen, inwieweit der skizzierte Fall nicht nur für sich steht, sondern auch auf ein Allgemeines verweist, mithin symbolische Bedeutung hat. Wenn Freud mit wenigen Fallgeschichten die geistige Welt des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat, dann muss er in den Menschen etwas Grundlegendes angesprochen haben – trotz mangelnder „Objektivierbarkeit“ und „Quantifizierbarkeit“. Offensichtlich genügen mitunter Krankengeschichten, die zwar einer gewissen intellektuellen Nachvollziehbarkeit genügen, aber doch „wie Novellen zu lesen sind und [. . . ] sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“ (Freud 1895d, 227). Helmut Thomä (1991, 398) hat in dem Zusammenhang auf Jürgen Habermas Bemerkung vom „szientistische[n] Selbstmissverständnis der Metapsychologie“ Freuds hingewiesen (Habermas 2008, 292–322), womit der Versuch gemeint ist, die Psychoanalyse trotz ihrer geisteswissenschaftlichen Seite auf naturwissenschaftlichen Grundlagen aufzubauen. 1 Adjektive wie „positiv(istisch)“ oder „empiri(sti)sch“ hät1
Harald Wasser trifft den Punkt genau, wenn er darauf hinweist, dass „das Subjekt der Analyse getilgt und auf die bloße Mechanik eines selbstgesteuerten Apparates reduziert wird. Dadurch tritt der Psychoanalytiker als Subjekt einem Gegenstand gegenüber, der objektiv-dinghaften Gesetzen unterliegt und so zum Objekt im Sinne eines Dinges wird. Ein solches Objekt, eben weil es ausschließlich objektiven Gesetzen unterliegt, kann nicht mehr gleichzeitig Subjekt sein“ (Wasser 1995, 121). Dass Freud andererseits eben dieses Subjekt und seine Lebensgeschichte in die Krankengeschichte eingeführt hat, ist die andere, gegensätzliche Seite seines Werks. Diesen Widerspruch kann man aus meiner Sicht, wie bereits erwähnt, am ehesten durch den auf Kant (2005a) zurückgehenden Perspektivitäts-Gedanken entschärfen, wie ihn etwa Köller (2004) in der Gegenwart begründet hat.
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ten seit Habermas’ Kritik einen negativen Beigeschmack unter Analytikern (Thomä 1991, 398), was zur Forderung nach einer „eigenständige[n] psychoanalytische[n] Hermeneutik“ geführt habe (ebd.). Dieser Anspruch sei allerdings nicht erfüllt worden, und zwar vor allem deswegen nicht, weil sich „psychoanalytische Deutungen von anderen Interpretationen“ unterschieden (ebd., 399). Thomä bemängelt nämlich, „dass der ‚Rückzug in die Hermeneutik‘ [. . . ] im Allgemeinen gerade nicht mit geisteswissenschaftlichen Untersuchungen psychoanalytischer Dialoge einhergeht“ (ebd., 398). Dies aber wäre sinnvoll, und wir wollen das im nächsten Kapitel zu begründen versuchen.
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7.3 Geisteswissenschaftliche Zugänge Bernd Rieken Wie schon im Kapitel über den Traum erwähnt (3.3), ist der sich an Goethe anlehnende literaturwissenschaftliche Symbolbegriff weitaus offener als der psychoanalytische. Dieser ist selbst im modernen Verständnis relativ eng gefasst, diene Symbolisierung doch, so das „Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe“, ausschließlich „der Verarbeitung von Wünschen, Ängsten und Konflikten, die sich als psychischer Niederschlag der kindlichen Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen ergeben“ (Löchel 2008, 736). Bei Goethe lesen wir hingegen, es sei „die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“ (Goethe 1994b, 471). Das ist ein weitaus offenerer Horizont als der psychoanalytische, und selbst wenn man konzediert, dass jeder „seine Kindheit über den Kopf gestülpt [bekommt] wie einen Eimer“ und „ ein ganzes Leben lang [. . . ] an uns herunter[rinnt]“ (Doderer 1986, 5), so kommt man doch nicht umhin festzuhalten, dass man durch eine Analyse in der Regel etwas freier wird und der Geist sich reger entfalten kann als zuvor. Um das zu unterstützen, kann man durchaus auf Freud zurückgreifen: „Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee“ (1933a, 86). Daher hat ein offener Symbolbegriff seine Berechtigung, und ohne das Leib-Seele-Problem näher zu beanspruchen, sei doch betont, dass die traditionelle Dreiteilung von Körper, Seele und Geist nicht allein heuristischen, sondern auch praktischen Wert hat. Denn die „psychophysische Dominanz“, in der sich Patienten oftmals zu Beginn einer Analyse befinden, wird im Laufe der Zeit gelockert durch ein Mehr an „Geist“, und insofern ist es angemessen, sich auch der Perspektive der „Geistes-Wissenschaften“ zu bedienen. Noch etwas kommt hinzu, nämlich die von Goethe erwähnte „lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“. Das ist eigentlich ein Widerspruch in sich, das Unerforschliche ist und bleibt per definitionem ein fremdes Land, aber anscheinend kann „Offenbarung“ dem ein wenig abhelfen. Diese ist keine rationale Einsicht, mehr ein Schauen – das auch nur augenblicksweise – und intersubjektiv kaum vermittelbar. Was daher übrig bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Unerforschliche großteils ein Rätsel bleibt, jedenfalls im intellektuellen Nachvollzug. Und das ist eine Absage an den dogmatischen Glauben, das weite Land der Seele bis in seine letzten Details ausmessen zu können, wenn man nur Freud, Adler, Jung oder sonst wen bemüht. – Weit gefehlt, der Mensch bleibt bis zu einem gewissen Grad unbekannt und ein Geheimnis, daran kann auch „Einsicht“ nichts ändern. Die Geisteswissenschaften haben aber noch einen Vorteil, sie müssen nicht mit „Zahlen und Figuren“ (Novalis o. J. a, 166) rechnen und sind nicht der Meinung, dass es ausschließlich quantifizierbaren Wissens bedarf, um etwas zu erkennen. Das sollte dem psychoanalytischen Denken eigentlich recht sein. Der Objektivitätsbegriff ist nämlich noch nicht sehr alt, rund 150 Jahre (s. Daston u. Galison 2007), und da-
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7.3 Geisteswissenschaftliche Zugänge
vor ließ es sich die Wissenschaft angelegen sein, die „Wahrheit“ zu erforschen. Zu ihr aber führen mannigfache Wege, und durch Ernst Cassirer wissen wir, dass sich dazu die „symbolischen Formen“ eignen, zu denen nicht nur die Wissenschaft im engeren Sinn zählt, sondern auch Dichtung oder Mythologie (Cassirer 1994). Insofern wird vielleicht etwas verständlicher, dass Freud im Kanon einer psychoanalytischen Hochschule auch diesen Disziplinen einen Platz einräumen wollte (1926e, 281). Hier ist nicht der Raum vorhanden, auf all die vielen Möglichkeiten einzugehen, welche geisteswissenschaftliche Zugänge der Psychotherapie zu bieten vermögen. Ansatzweise wurde bereits in einigen Kapiteln anhand konkreter Fallbeispiele zu illustrieren versucht, was es bedeuten mag, im „Besondere[n] das Allgemeinere“ zu erblicken, um den jeweiligen Patienten eine symbolische Funktion im weiteren Sinn zukommen zu lassen (Kap. 3.3 u. 3.5.3). Darüber hinaus wurden am Beispiel der Theatrum-mundi-Metapher Querverbindungen zur Dichtung aufgezeigt und im Verein mit dem Homo ludens auf die grundlegende Bedeutung von Spiel und Täuschung für das Leben im Allgemeinen und die Psychotherapie im Besonderen hingewiesen, was Adler unter dem Begriff Fiktion fasst (Kap. 6.1 u. 6.2). Schließlich wurde am Beispiel der Katstrophenforschung auch auf mögliche Synergieeffekte mit Ethnologie und Geschichte hingewiesen. So wollen wir abschließend nur noch zwei konkrete Bereiche hervorheben, aus denen sich eine Bereicherung für die Tiefenpsychologie ergeben kann. Ein Standardwerk zur literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie ist immer noch Eberhard Lämmerts Habilitationsschrift „Bauformen des Erzählens“ von 1955 (die „Halbwertszeit“ ist in den Geisteswissenschaften nicht so knapp bemessen wie in den Naturwissenschaften). Ein wichtiger Aspekt ist das Verhältnis von erzählter Zeit zur Erzählzeit. Jene ist der Zeitraum, über den berichtet wird, diese die Zeit, welche man benötigt, um den Text zu lesen. Normalerweise ist die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit, wenn etwa einige Tage oder Wochen auf wenigen Seiten abgehandelt werden, aber es gibt auch Ausnahmen, etwa den inneren Monolog, weil Gedanken schneller fließen als man Worte spricht. Generell ist aus dem Verhältnis zwischen erzählter und Erzählzeit abzulesen, wie wichtig das Geschilderte für den Protagonisten bzw. den Autor ist. Er kann den Inhalt breit ausmalen, aber auch raffen. Wenn der Autor ausführlich (= lange Erzählzeit) über einen knappen Zeitraum (= kurze erzählte Zeit) berichtet, ist dieser für ihn wichtig. Wenn der Patient das gleiche tut, kann das auch so sein, aber es ist auch das Gegenteil möglich, weil er sich mit etwas Unbedeutendem längere Zeit aufhält, um sich nicht auf ein brisantes Feld vorzuwagen. Im umgekehrten Fall gilt Entsprechendes: Berichtet der Autor knapp (= kurze Erzählzeit) von einem ausgedehnteren Vorgang (= lange erzählte Zeit), ist er nicht zentral, und für den Patienten kann wieder das Gleiche gelten oder das Gegenteil, sofern er einen Widerstand hat. In jedem Fall aber sagt das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit etwas über die Bedeutung des Erzählten aus. Entsprechendes gilt für die von Lämmert so genannte Erzählerdistanz, die wir nicht zu erläutern brauchen, weil die Anwendung auf die Psychotherapie klar ist. Er
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unterscheidet drei Arten: 1. die szenische Darstellung „vermag Details zu geben und versucht in der Nachbildung ‚natürlicher Sukzession‘ größte Wirklichkeitsnähe zu erreichen“ (1975, 87). 2. Der Bericht, der „den weitesten Spielraum zwischen Einlässigkeit und straffer Zusammenfassung großer Zeiträume“ aufweist (ebd.). 3. „Betrachtungen und Erörterungen über den Verlauf der Dinge [. . . ] aus noch größerer Distanz den Vorgängen gegenüber“ (ebd.). Das zweite Beispiel: Aus der volkskundlichen Erzählforschung sind Bezüge in zweierlei Hinsicht möglich. 1. Durch Rückgriff auf Strukturen alltäglichen Erzählens, wie sie sich aus der Gattungsspezifik von Märchen, Sage und Schwank ergeben (s. Bausinger 1958): „Während die Sage mit einem engen Bezug zur eigenen Lebenswelt das Fremde, Bedrohliche und Verdrängte bzw. Unbewusste thematisiert, geht es im Märchen, ähnlich wie in den meisten Spielfilmen, um das ‚Prinzip Hoffnung‘, um den Sieg des Guten und der Zu-kurz-Gekommenen über das Böse und Ungerechte. Der Schatz im Märchen, den man findet, steht für die Hoffnung auf das Glück [. . . ]. Doch auch Elemente des Schwanks kommen im alltäglichen Erzählen der Gegenwart nicht zu kurz, denn er thematisiert ebenfalls eine grundlegende Einstellung gegenüber der Welt. Es ist – zumindest an der Oberfläche – nicht der Ernst der Sage und des Märchens, welche die dunklen bzw. Hoffnung verheißenden und lichtvollen Seiten der menschlichen Existenz zum Gegenstand haben, sondern er ist geprägt von dem Vermögen, auf humorvolle Art und Weise Distanz zu den unzulänglichen oder peinlichen Seiten des Daseins zu erlangen“ (Rieken 2000, 211 f.). Strukturen der traditionellen Volksprosa kommen auch im alltäglichen Erzählen und somit in den Schilderungen von Patienten vor. Ihre Nähe zu Märchen, Sage oder Schwank bzw. Witz lassen Rückschlüsse auf innere Befindlichkeiten zu. 2. befasst sich die volkskundliche Erzählforschung mittlerweile auch mit dem autobiografischen Erzählen, was vor allem Albrecht Lehmann zu verdanken ist. Analog zu den traditionellen Genres hat er moderne Gattungen des Erzählens beschrieben. Dazu gehören die Rechtfertigungsgeschichte, in denen es darum geht, wunde Punkte aus der eigenen Lebensgeschichte zu erklären bzw. schönzufärben (Lehmann 1980), oder der Vergleich, den Lehmann definiert als „meistens zweigliedriges, meistens kurzes, thesenhaft abstrahierendes in Oppositionen angelegtes Mittel der Erkenntnis, der Klärung von moralischen oder rechtlichen Positionen, der Veranschaulichung und Unterhaltung in Gesprächssituationen“ (Lehmann 1991, 198). Neben dem „Vergleich historischer Zeiten“ analysiert er in seiner Habilitationsschrift den „Nationenvergleich“ (Lehmann 1983, 74–87). Während es bei der Rechtfertigungsgeschichte um innere Konflikte geht, dient der Vergleich der eigenen Positionierung im Kontext der Selbstwertproblematik. Mit dem „Vergleich historischer Zeiten“ ist die „Gutealte-Zeit-Geschichte“ verwandt (Rieken 2000, 84–89; ders. 2010e), welcher ein Trostpotential gegenüber der Gegenwart innewohnt, womit sie indirekt auf ein Leiden
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hinweist. Doch spielt auch das Bedürfnis, andere herabzusetzen, eine Rolle, in dem Fall die jüngere Generation. Die Beispiele dürften deutlich gemacht haben, dass ein Blick über den analytischen Zaun hinaus in Richtung Geisteswissenschaften die Perspektive erweitert und Erkenntniswert für die analytische Praxis haben kann. Das gilt insbesondere auch für den Symbolbegriff.
7.4 Elemente einer psychodynamischen Psychotherapiewissenschaft Bernd Rieken Das Plädoyer für geisteswissenschaftliche Zugänge in der Psychotherapie lässt sich auch damit begründen, dass die Interpretation von Texten ein zentrales Element darstellt, sind es doch Erzählungen von Patienten, mit denen wir uns befassen. Daher ist es ein begrenzender Zugang, wenn man in den USA lange Zeit nur dann zur Ausbildung zugelassen wurde, sofern man zuvor Medizin studiert hatte. Ähnlich problematisch ist der Umstand, dass in der BRD ausschließlich Ärzte und Psychologen den Beruf des Therapeuten ergreifen können bzw. Pädagogen, sofern sie sich auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen beschränken. Bedenkt man die geisteswissenschaftlichen Dimensionen therapeutischen Handelns, wäre es genauso legitim, zum Beispiel Literaturwissenschaftler, Historiker, Philosophen oder Ethnologen zuzulassen. Insofern ist es sinnvoller, dass der Zugang zur Ausbildung in Österreich weitaus offener gestaltet ist. Die Begrenzung auf Ärzte oder Psychologen ist aber nicht nur wegen der Ausblendung geisteswissenschaftlicher Inhalte problematisch, sondern auch wegen des methodischen Reduktionismus, den Medizin und Psychologie großteils charakterisieren. Während etwa in der phänomenologischen Psychiatrie der Nachkriegszeit noch Querverbindungen zur Philosophie gesucht wurden (vgl. Schott u. Tölle 2006, 154–161), orientiert man sich heute am naturwissenschaftlichen Ideal der nomothetischen Forschung. Medizin soll „evidenzbasiert“ sein, und Hypothesen werden gebildet, die man durch eine entsprechende „Versuchsanordnung“ zu prüfen gedenkt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht keineswegs darum, diesem Verständnis von Wissenschaft die Berechtigung abzusprechen. Ohne quantitative Ergebnisforschung, welche die Effizienz psychotherapeutischer Interventionen glaubhaft zu machen schien, könnte man immer noch, wie weiland Eysenck, aus einem begrenzten Methodenverständnis heraus behaupten, Psychotherapie wäre wirkungslos (Eysenck 1952). 1 Es soll nur dem Alleinvertretungsanspruch des nomothetischen Ideals für das Gebiet der Humanwissenschaften Einhalt geboten werden und darüber hinaus dem Glauben, es wäre „objektive“ Forschung möglich. Denn seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (2005a) wissen wir um die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens und um seine perspektivische Gebundenheit. Außerdem hat die Physik als Grundlagenwissenschaft für Medizin und Psychologie sich längst vom Objektivitätsideal verabschiedet. „Heute hält in der theoretischen Naturwissenschaft niemand mehr die Naturgesetze für das wirkliche Wesen der Natur, sondern nur noch für ein Denkmodell“ (Bammè et al. 1983, 127 f.). Das hängt mit den Erfolgen der Quantenphysik zusammen, durch die der Beobachter als beeinflussende Größe wieder eingeführt wurde, aber auch mit der Systemtheorie, welche von Wech1
Sachbuchautoren behaupten das allerdings immer noch, z. B. Degen 2000; Zimmer 1998.
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7.4 Elemente einer psychodynamischen Psychotherapiewissenschaft
selwirkungen ausgeht, in dem Fall zwischen forschendem Subjekt und erforschtem Objekt. Zudem spielt die Fuzzy Logic eine Rolle, bei der es sich um eine Theorie handelt, die mit unscharfen Begriffen operiert – damit geisteswissenschaftlichen Auffassungen durchaus nahe steht –, oftmals aber zu genaueren Ergebnissen gelangt als die „exakte“ Forschung der klassischen Physik (vgl. Drösser 1995). Darüber hinaus existiert ein weiteres Problem, denn der streng naturwissenschaftliche Theorie- und Methodenkanon steht sich bei der Übertragung seiner experimentell erzielten Ergebnisse auf die Alltagsrealität selber im Wege. Beispielsweise sagt das Milgram-Experiment (Milgram 1985) nichts über Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten aus, sondern nur gegenüber Universitätspsychologen im Labor. Denn der Theoriebegriff der empirischen Psychologie „erlaubt im strengen Sinn nur Gesetze, die der experimentellen Prüfung zugänglich sind, er erlaubt damit keine Gesetze, die über das Verhältnis von experimenteller Realität und wirklicher sozialer Realität Aussagen machen“ (Vinnai 1993, 43). Doch es kommt noch etwas anderes hinzu, das ganz entscheidend ist. Wenn etwa Jürgen Bortz keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied zwischen physikalischer und psychologischer Forschung sieht (Bortz und Döring 2006, 17), dann ist es auch konsequent zu behaupten, dass „Untersuchungsideen mit [. . . ] philosophischen Inhalten (z. B. [. . . ] Sinn des Lebens etc.)“ für empirische Forschungen ungeeignet seien (Bortz 1984, 16). Aber genau um diese Fragen geht es bei einer Psychotherapie, denn man befindet sich in seelischer Not, sieht keinen Ausweg mehr und verzweifelt an der Sinnhaftigkeit des Lebens. Um es mit den Worten des Ethnologen Lauri Honko zu formulieren: „Jede auch nur etwas ernstere Krankheit bedeutet ein erschütterndes, die Fortdauer des Daseins in Frage stellendes Ereignis im Menschenleben. Allen Erkrankten ist gemeinsam, dass sie von den ersten Stadien ihrer Krankheit an bemüht sind, deren Art und Ursachen irgendwie zu erklären. Die Aufstellung einer Art von Theorie scheint geradezu eine menschliche Notwendigkeit zu sein“ (Honko 1959, S. 19). Und angemessen ist für viele Menschen eine Theorie dann, wenn sie in Erfahrung gebracht haben, woher ihr Leiden kommt und welchen Sinn es hat, mit anderen Worten, wenn das Bedürfnis nach der Beantwortung von Wirk- und Zielursache befriedigt worden ist. In seiner „Logik der Psychotherapie“ entwirft der Psychotherapieforscher Gottfried Fischer „philosophische Grundlagen der Psychotherapiewissenschaft“, so der Untertitel (2008). Während in der biologischen Psychiatrie und experimentellen Psychologie das Modell funktioneller Abhängigkeiten (unabhängige/abhängige Variablen) als Ideal betrachtet werde, um möglichst präzise Kausalbeziehungen zu erfassen, seien in der Psychotherapie „intentionale Erklärungen“ das theoretische Ziel, also „Handlungspläne, Absichten, Ziele, aber auch Motive und Gefühle“ (ebd., 21). Dabei gehe es aber nicht nur um bewusste, sondern auch um unbewusste Intentionalität, wobei diese nach Meinung Fischers von Freud entdeckt und erstmals erforscht worden wäre (ebd., 24).
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Das ist eine interessante Sicht, und es ist Fischers Verdienst, Intentionalität als Abgrenzungskriterium gegenüber der herkömmlichen Psychotherapieforschung aus Medizin und Psychologie fruchtbar gemacht zu haben. Dadurch kann die Psychotherapiewissenschaft als eigenständige Disziplin an Konturen gewinnen, sodass sie nicht mehr als „Magd“ der Medizin oder Psychologie ein eher randständiges Dasein fristet, indem sie von ihnen „mit betreut“ wird. Allerdings ist Fischers Begrifflichkeit etwas unpräzise, denn er spricht von „intentionale[n] Erklärungen“ sowie von „Absichten“ und „Motive[n]“, vermischt mithin Wirk- und Zielursache im aristotelischen Sinn. Damit wird aber indirekt klar, dass es ihm offenkundig nicht darum geht, beide Aspekte der Ursache gegeneinander auszuspielen, sondern sie als gleichwertig zu berücksichtigen, was auch unser Anliegen ist. Wenn er allerdings behauptet, Freud wäre der Entdecker der unbewussten Intentionalität, dann tut er das, was Psychoanalytiker gern tun, nämlich zu behaupten, dass Freud bereits alles Wichtige gesagt hätte. Seine diesbezügliche Begründung ruht ohnehin auf etwas tönernen Füßen, denn er weist nur darauf hin, dass Freud bei Franz Brentano Vorlesungen gehört habe (ebd.), also jenem Brentano, der die Intentionalität für die Psychologie fruchtbar gemacht hat (Brentano 2008). Wir brauchen wohl nicht eigens zu begründen, dass es Alfred Adlers Verdienst ist, die Frage nach dem unbewussten Ziel und Zweck menschlichen Handelns thematisiert zu haben. Unabhängig davon sind Wirk- und Zielursache sowohl bei Freud als auch bei Adler vorhanden. Die ursächlich wirkende (= causa efficiens) Libido zielt ja auf Spannungsreduktion ab (= causa finalis), während das zielgerichtete Streben nach sozialer Gleichwertigkeit oder Macht (= causa finalis) seinen Ursprung (= causa efficiens) in den Minderwertigkeitsgefühlen der frühen Kindheit hat. Beide – Freud wie Adler – richten indes ihr Hauptaugenmerk nur auf jeweils einen Aspekt, und das tun sie auch, um sich voneinander abzugrenzen. Möglicherweise hätten Einseitigkeiten in den Theorien reduziert werden können, wenn sie die jeweils andere Seite mit berücksichtigt hätten, aber das war aufgrund der persönlichen Feindschaft nicht möglich. Wenn sich nun Einigkeit darin erzielen ließe, dass neben der Kausalursache auch die Zielursache befruchtend auf die Psychotherapieforschung zu wirken vermag, dann könnte neben dem analytischen Denken (i.S. detaillierter Betrachtung einzelner Elemente) auch das ganzheitliche einen Platz finden. Dessen Vernachlässigung in der Naturwissenschaft hat bereits Goethe kritisiert, als er meinte, sie analysiere die Teile, doch fehle ihr oftmals „das geistige Band“ (Goethe 1993a, 63 [Vers1939]). Das ist ein wichtiges Stichwort, das uns unter anderem bereits im Kapitel zur Katastrophenforschung (Kap. 6.4) als „roter Faden“ der Lebensgeschichte begegnet ist, den es zu kitten gilt, nachdem einem etwas Traumatisches widerfahren ist. Auf die innige Verbindung zwischen Zweck und Ganzheit wurde bereits hingewiesen (Kap. 2.1.1): Unbelebte Materie lässt sich mühelos teilen, ein lebendiger Organismus aber nicht, weil er anderenfalls sterben würde. Ähnlich verhalte es sich, so Erwin Wexberg, mit einem Haus. Man könne es – wäre man jemand, der Häuser nicht kennt – als eine Ansammlung unzusammenhängender Einzelteile betrachten. Doch wenn man ein „Häuserbewohner“ sei, dann ergebe das Haus als Ganzes
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„einen Sinn, weil wir diesem Haufen unbelebter Materie einen Zweck gegeben haben. So hat für uns das Haus eine Art Leben, freilich ein Leben, das wir ihm verliehen haben. Und weil es im Sinn dieser erborgten Lebendigkeit organisiert ist, erscheint es uns als ein Ganzes“ (Wexberg 1987, 12 f.). Jetzt tritt auch noch klarer hervor, weswegen Empiriker, die an der Naturwissenschaft geschult sind, mit Begriffen wie „Sinn“ oder „Zweck“ nicht viel anzufangen wissen: Sie sind auf Bereiche unterhalb des Lebendigen kaum anwendbar, und daher findet ein Methodeninstrumentarium, das an der Physik orientiert ist, zu diesen spezifischen Bereichen des Humanen keinen rechten Zugang. Überdies wendete die antike und mittelalterlich-frühneuzeitliche Naturphilosophie den Zweckbegriff auch auf tote Materie an und gelangte dadurch in den Bereich metaphysischer Spekulation. Die Aussage, ein Stein falle zu Boden, weil er zum Mittelpunkt der Erde als dem natürlichen Ort der Ruhe wolle (Aristoteles 1995, VIII, 4, 255a–255b), ist heute kaum nachvollziehbar, ähnlich wie die Frage, zu welchem Zweck ein Flugzeug abstürzt, denn akzeptabel ist nur noch die Frage, warum das geschehen ist. Einzig metaphysische Dogmatiker halten noch an der Zielursache im Bereich des Subhumanen fest, etwa bestimmte Kreise in der katholischen Kirche wie der österreichische Kardinal Schönborn, der vom „göttlichen Design“ spricht und vom höheren, nämlich göttlichen Ziel der Evolution, das „mit letzter Ursache, Zweck oder Plan gleich bedeutend ist“ (Schönborn 2005; s. dazu Rieken 2010g; vgl. Spaemann u. Löw 1985). Wenn wir nun neben der – bewussten wie unbewussten – causa efficiens und causa finalis auch dem analytischen und dem ganzheitlichen Denken ihre Berechtigung zusprechen, dann haben wir bereits einige wichtige Aspekte genannt, die einer psychodynamisch orientierten Psychotherapiewissenschaft Konturen zu geben vermögen. Es tritt aber noch ein weiteres Spezifikum hinzu, nämlich der „analogische Rationalitätstypus“ (Gloy 2000; dies. 2001, 207–276) oder, weniger hochtrabend formuliert, das Ähnlichkeitsdenken. Ebenso wie die Frage nach der Zweckursache hat die analogische Reflexion im Zuge der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung an Plausibilität eingebüßt, war früher aber dominierend, wie etwa Humoralpathologie oder Mikrokosmos-Makrokosmos-Theorie deutlich machen. Überbleibsel des Analogiedenkens sind zum Beispiel die Vergleichende Anatomie, die Homöopathie mit der Simileregel oder die Gestaltwahrnehmung in der Psychologie (s. Rieken 2010c). In den psychodynamischen Therapieverfahren spielt das Ähnlichkeitsdenken indes eine prominente Rolle. Das gilt vor allem für Übertragung und Projektion, denn man überträgt ähnliche Beziehungsmuster auf den Therapeuten wie in der Kindheit, und man projiziert ähnliche Eigenschaften auf andere, die in einem selbst vorhanden sind. Entsprechendes gilt für die so genannte Behandlungstechnik. Die berühmte Frage, was einem denn spontan zu diesem Traum oder zu jenem Ereignis einfalle, ruft oftmals Erinnerungen an ähnliche Konstellationen aus der Vergangenheit hervor. Mitunter treten dabei belastende oder traumatische Ereignisse an die Oberfläche, und diese gilt es dann durchzuarbeiten, was bedeutet, das gleiche Leiden in abgeschwächter Form emotional nachzuerleben, wodurch in der Regel eine Reduktion
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des Leidens ermöglicht wird. Und das ist ebenfalls von genuin analogischer Qualität, denn es existiert Gleiches genauso wie Unterschiedliches: Das Trauma wird in ähnlicher Weise durchlebt wie früher, doch der Rahmen ist ein anderer, nämlich die nicht schädigende Beziehung im therapeutischen Kontext. Wenn wir abschließend bedenken, dass die Psychotherapieforschung auch naturwissenschaftliche Dimensionen mit umfasst, etwa neuronale Grundlagen des Gedächtnisses, neurobiologische Grundlagen psychischer Störungen oder der gesamte Bereich der Neuropsychoanalyse, dann wird rasch deutlich, dass wir es mit einer besonderen Wissenschaft zu tun haben. Denn dass eine Disziplin sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Geisteswissenschaften verankert ist, kommt nicht häufig vor, zu nennen wären etwa Geografie, Archäologie oder Ethnologie. Das Spezifische der Psychotherapiewissenschaft könnte meines Erachtens allerdings im offenen Horizont des Zugangs begründet sein, nämlich in der Berücksichtigung der aristotelischen Ursachenlehre (causa efficiens und causa finalis), einer analytischen und ganzheitlichen Betrachtungsweise sowie der Berücksichtigung des Analogiedenkens. Darüber hinaus muss auch die Selbsterfahrung genannt werden, denn Psychotherapie beschäftigt sich mit Fragen, die allein auf kognitivem Wege nicht hinreichend zu erfassen sind, weil es um emotional hoch besetzte Phänomene geht. 2 Es lässt sich wohl eine Dissertation zum Thema Liebe verfassen, ohne jemals geliebt zu haben, doch ob man sie dann in hinreichender Weise verstehen wird, steht auf einem anderen Blatt. Wenn man sich all das vor Augen hält, dann kann deutlich werden, dass es die Psychotherapie verdient hat, sich als eigene Disziplin in der Wissenschaftslandschaft zu etablieren.
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Daher ist an der SFU nicht nur Selbsterfahrung im Magisterstudium unabdingbare Voraussetzung, sondern auch im Doktoratsstudium und darüber hinaus für die Habilitation. Das mag in den Ohren von Analytikern selbstverständlich klingen, ist es aber keineswegs, wenn man sich die Wissenschaftslandschaft anschaut. Wahrscheinlich gibt es sonst nirgendwo Doktoratsprogramme oder Habilitationsordnungen, die neben der wissenschaftlichen Qualifikation auch Selbsterfahrung voraussetzen.
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7.5 Integrative Modelle – Profession und Wissenschaft Brigitte Sindelar
7.5.1 Die Akademisierung der Psychotherapie Alfred Adler etablierte eine Ausbildungsform, die Praxis und Lehre aufs Innigste verflocht: in den Beratungsstellen nahmen seine Schüler und Schülerinnen an seinen Gesprächen mit Erwachsenen, mit Kindern und Jugendlichen und deren Eltern beobachtend teil, im Anschluss daran reflektierte er mit ihnen sowohl die Inhalte als auch den Prozess. In reicher Vortrags- und Publikationstätigkeit vermittelte er die theoretischen Modelle der Individualpsychologie, wobei er diese auch immer wieder in Bezug setzte zu anderen Wissenschaftsdisziplinen, wie zum Beispiel der Medizin, aber auch auf Themenstellungen des menschlichen Lebens allgemein in Anwendung brachte. Diese Ganzheit in Forschung und Lehre in ihrer Offenheit, sich nicht nur auf die Psychopathologie und psychotherapeutische Behandlung zu beschränken, kann als Vorlage für ein den aktuellen Ausbildungserfordernissen gerecht werdendes Curriculum zur Ausbildung in psychoanalytisch-individualpsychologischer Psychotherapie gesehen werden. Im Zuge der Ausbildung wissenschaftliche Kompetenzen zu vermitteln lässt erwarten, dass der Psychotherapeut auch später in seinem Berufsleben wissenschaftlich interessiert bleibt und damit seinen Kenntnisstand dem jeweiligen State of the Art anpasst, zugleich auch eine wissenschaftskritische Sichtweise einerseits, eine über den „Tellerrand“ der eigenen Methode hinausgehende Position andrerseits einnehmen kann. Angesichts der hohen Verantwortlichkeit für den weiteren Lebensweg eines Menschen, die der psychotherapeutischen Arbeit zukommt, ist eine entsprechend fundierte Ausbildung eine conditio sine qua non: Die im Bereich der psychotherapeutischen Ausbildung entstandene Kluft zwischen Profession und Wissenschaft aufzuheben lässt eine Steigerung der Qualität der Ausbildung zum Wohl der Patienten erwarten. Trotz der gesetzlichen Verankerung des Berufsstandes des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin in Österreich 1990 mangelt es dem Beruf dennoch an eigener Identität, da der Zugang zur Aufnahme in die Ausbildung einen einschlägigen Quellberuf voraussetzt und so den psychotherapeutischen Beruf zu einem „Additivfach“ einer pädagogischen oder psychosozialen beruflichen Identität macht. Bei allen Unterschieden der psychotherapeutischen Methoden ist das Gemeinsame in dem Ziel, dem Patienten in der Entwicklung seiner Autonomie zu unterstützen, zu orten: „Autonomie ist also ein zentraler Begriff, [. . . ] soweit therapeutische Arbeit mit Einsicht und mit nicht direktivem Vorgehen sowie mit zunehmender Selbstverantwortung zu tun hat“ (Rieken 2007b, 61). Inwiefern eine Profession, der es selbst an Autonomie in ihrem Selbstverständnis mangelt, diesen Auftrag zu erfüllen ausgerüs-
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tet ist, ist hinterfragenswürdig, und ebenso, inwieweit der Charakter der „Zweitidentität“ nicht vielleicht auch den Stellenwert, der dem Seelenleben in der Gesellschaft zugeordnet ist (s. Kap. 5.2), widerspiegelt und dies sogar verfestigt. Psychotherapie ist laut österreichischem Psychotherapiegesetz eine „Behandlung psychosozial oder auch psychosomatisch bedingter Verhaltensstörungen und Leidenszustände mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden“ (361. Bundesgesetz vom 7. Juni 1990, 248). Wie auch im Gesetzestext in weiterer Folge ausgeführt, ist daher die Kenntnis der „Grundlagen der Forschungs- und Wissenschaftsmethodik“ (ebd.) verlangt. Zur Ausbildung in der Anwendung wissenschaftlicher Methoden ist ein integratives Modell des Ausbildungscurriculums, das Wissenschaft und Profession vernetzt, die logische Konsequenz. Skepsis gegenüber einer Akademisierung der Psychotherapie steht im Widerspruch zur Gleichwertigkeit von Seele und Körper, vielleicht als ein Symptom eines Minderwertigkeitsgefühls der Psychotherapie gegenüber der Medizin zu verstehen. Die im Jahr 2005 akkreditierte und 2010 reakkreditierte Sigmund Freud PrivatUniversität Wien-Paris bietet ein den Bologna-Kriterien entsprechendes Studium der Psychotherapiewissenschaften als Grundstudium, ebenso ein psychotherapeutisches Propädeutikum. Damit ist in Österreich der Grundstein für eine Akzeptanz der Gleichwertigkeit von Körper und Seele gelegt, da die Struktur und die Lehrinhalte des Studiums eine ganzheitliche wissenschaftliche Sichtweise des Menschen in seiner Einheit von Körper, Geist und Seele ausweist und die Psychotherapie akademisiert wurde.
7.5.2 Die Ausbildung in psychoanalytischer Individualpsychologie In jeder Ausbildungssituation findet sich die Bewegung wieder, die dem menschlichen Leben von Anbeginn zu eigen ist: der Auszubildende strebt danach, seine „Minderwertigkeit“ in diesem Bereich, nämlich der Psychotherapie, zu überwinden, also von einer Minus- in eine Plussituation zu kommen. Somit ist, genau genommen, jede Ausbildung durchaus vergleichbar dem Bewegungsgesetz kindlichen Entwicklung, ja sogar deren Phasen darin wiederzuerkennen (vgl. Kap. 2.2.). Aus dieser metaphorischen Analogie lassen sich Empfehlungen ableiten, deren Übertragung auf die Ausbildungssituation der Ausbildungsqualität durchaus zuträglich ist: „Bedenkt man, dass eigentlich jedes Kind dem Leben gegenüber minderwertig ist und ohne ein erhebliches Maß von Gemeinschaftsgefühl der ihm nahe stehenden Menschen gar nicht bestehen könnte, fasst man die Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes ins Auge, die so lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein, dann muss man annehmen, dass am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht. Dies ist die treibende Kraft, von dem alle Bestrebungen des Kindes ausgehen und sich entwickeln, die ein Ziel erfordert, von dem das Kind alle Beruhigung und Si-
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cherstellung seines Lebens für die Zukunft erwartet und die einen Weg einzuschlagen zwingt, der zur Erreichung dieses Zieles geeignet erscheint“ (Adler 1927a, 72). Tauschen wir in diesem Text die Begrifflichkeiten der kindlichen Welt gegen die Begrifflichkeiten der Psychotherapieausbildung aus, so werden die Erfordernisse an Struktur und Durchführungsform der psychoanalytisch-individualpsychologischen Ausbildung deutlich: „Bedenkt man, dass eigentlich jeder angehende Psychotherapeut der therapeutischen Arbeit gegenüber minderwertig ist und ohne ein erhebliches Maß von Gemeinschaftsgefühl der ihn Ausbildenden gar nicht bestehen könnte, fasst man die Unbeholfenheit des angehenden Psychotherapeuten ins Auge, die so lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem psychotherapeutischen Beruf nur schwer gewachsen zu sein, dann muss man annehmen, dass am Beginn jeder psychotherapeutischen Ausbildung ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht. Dies ist die treibende Kraft, von dem alle Bestrebungen des angehenden Psychotherapeuten ausgehen und sich entwickeln, die ein Ziel erfordert, von dem der angehende Psychotherapeut alle Beruhigung und Sicherstellung seines Lebens für die Zukunft erwartet und die einen Weg einzuschlagen zwingt, der zur Erreichung dieses Zieles geeignet erscheint“. Ein Spezifikum eines den Anforderungen an die Berufsausübung adäquaten Ausbildungscurriculums hat die Verknüpfung von professioneller Ausbildung mit der Psychotherapiewissenschaft zu sein. Daher sind neben spezifisch individualpsychologischen Ausbildungsinhalten auch methodenübergreifende Lehrveranstaltungen zu absolvieren. Ziel der individualpsychologischen Ausbildung ist, zur psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten auf Basis einer analytisch orientierten Individualpsychologie zu befähigen. Dazu sind Kenntnisse zur historischen Entwicklung der Individualpsychologie, die den sicheren Rahmen der methodenspezifischen psychotherapeutischen Identität unterstützen, und theoretische Kenntnisse der individualpsychologischen Grundkonzepte, der individualpsychologischen Persönlichkeitstheorie, der individualpsychologischen Entwicklungstheorie und Krankheitslehre Voraussetzung. Individualpsychologische Therapien umfassen die ganze Bandbreite zwischen niederfrequenten bis zu hochfrequenten Arbeitsweisen, dabei Kurzzeit- oder Fokaltherapien genauso wie Langzeittherapien verwendend, wobei in Anpassung an die Persönlichkeitsstruktur des Patienten dabei sowohl stützend-ermutigende als auch aufdeckende Vorgangsweisen zur Anwendung kommen und das, je nach den spezifischen Bedürfnissen des Patienten sitzend oder liegend auf der Couch. Dogmatische Festlegungen nach „der richtigen Methode“, nach einer vorab definierten Sitzungsfrequenz, wie etwa „bis zwei Stunden pro Woche sitzend, ab drei Stunden pro Woche
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liegend“ sind dabei abzulehnen, weil dies die individuellen Bedürfnisse des Patienten negiert. Daher bedarf die psychotherapeutische Arbeit der Kenntnisse sowohl zur Durchführung von langfristigen individualpsychologischen Analysen als auch von mittelfristigen individualpsychologischen Psychotherapien, wobei im psychotherapeutischen Alltag letztere das Setting darstellen, das für die weitaus größere Patientengruppe zur Anwendung kommt. Die Orientierung eines Ausbildungscurriculums am Begriff der umfassenden Behandlung laut § 1 des österreichischen Psychotherapiegesetzes (361. Bundesgesetz vom 7. Juni 1990) bedeutet, dass eine Qualifikation für die Durchführung von Einzeltherapien, für Diagnostik und Indikationsstellung samt Überweisungskompetenz vermittelt wird. Im Rahmen der allgemeinen individualpsychologischen Psychotherapieausbildung sind darüber hinaus Grundlagen zu legen für eine Weiterbildung in individualpsychologischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, in individualpsychologischer Gruppentherapie, sowie in der individualpsychologischen Psychotherapie geistig behinderter Menschen. Die individualpsychologische Psychotherapie ist eine partnerschaftliche Handlung, die sowohl behandlungstechnisch als auch zutiefst dialogisch vorgenommen wird. Daher ist die differenzierte Selbstwahrnehmung und Selbstkenntnis des Psychotherapeuten Vorbedingung zur psychotherapeutischen Kompetenz, der im praktischen Teil die Selbsterfahrung in Form der Lehranalyse und einer die gesamte Ausbildung begleitenden Gruppenanalyse Rechnung getragen wird. Dem Erwerb praktischer psychotherapeutischer Kenntnisse dienst das klinische Praktikum und die Praktikumssupervision sowie die psychotherapeutische Tätigkeit und ihre Supervision.
7.5.3 Die psychotherapeutische Lehrpraxis – ein Modell der vertiefenden Praxisausbildung So umfassend eine Ausbildung zur psychotherapeutischen Arbeit in Theorie und Praxis auch sein mag, so entlässt sie den Absolventen jedenfalls als Anfänger. Die besondere Verantwortlichkeit des psychotherapeutischen Heilberufs für die Menschen, die sich in ihrem Leiden ihm anvertrauen, ist als besonders hoch einzuschätzen. Insbesondere die Reflexionstiefe des psychotherapeutischen Prozesses, des dialogischen Geschehens zwischen Patient und Therapeut, ist erfahrungsabhängig in ihrer Qualität. Im Handwerksberuf kommt eine dreistufige Ausbildung vom Lehrling über den Gesellen zum Meister zur Anwendung, die stark beziehungsbezogen zwischen Ausbildner und Auszubildendem ist und sich bewährt hat. In Analogie dazu beendet jeder Psychotherapeut seine Ausbildung im Status eines Gesellen, sein „Gesellenstück“ sind die unter Supervision gehaltenen psychotherapeutischen Sitzungen. Was in allen Ausbildungsordnungen zu kurz kommt, ist das Lernen am Vorbild, auch wenn es im Rollenspiel simuliert wird. Jede Supervision ist die Reaktion eines Ausbildners auf einen Bericht, und berichtet kann nur werden, was wahrgenommen wurde.
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Auch in der ärztlichen Ausbildung findet sich diese Grundstruktur der Ausbildung wieder, wie sie im Handwerksberuf gegeben ist: Nach dem Studium hat der Jungmediziner Gelegenheit, als Assistenzart zu arbeiten und dabei sowohl die Möglichkeit, einem zur Ausbildung befugten Arzt zuzuschauen, ihn zu beobachten, dessen Gedankengänge der Diagnostik und Behandlung nachzuvollziehen und auch jederzeit die Möglichkeit, ihn zu Hilfe zu rufen, wenn er sich der Diagnostik oder der Behandlung des Kranken nicht gewachsen fühlt. Damit gewinnt er Erfahrung und Sicherheit, Anregung zur Weiterbildung, entdeckt seine Wissens- und Kenntnislücken, was ihm und seinen aktuellen und zukünftigen Patienten zugutekommt. Diesem definitiv als Mangel der Ausbildung auszuweisenden Fehlen des Vorbildes, an dem, wie im Handwerksberuf, der Lehrling und später weiter der Geselle lernen kann, um seine eigene Arbeitsweise auf der Basis der erlernten Methode zu entwickeln, wäre in einer Adaptierung der Ausbildungsordnung notwendigerweise und auch relativ leicht entgegenzuwirken. Jeder Geselle eines Handwerks hat mannigfach Gelegenheit, seinen Meister bei der Erledigung anspruchsvollerer Arbeiten zu beobachten, nachzufragen, sich zusätzliche Erklärungen einzuholen. Jeder angehende Arzt hat in Analogie zur Handwerksausbildung vor Erreichen seiner venia practicandi ebensolche Möglichkeiten. Dies ist auch dem angehenden Psychotherapeuten verfügbar zu machen. Dieses Modell aus der Handwerkszunft habe ich in meiner Praxis umgesetzt, indem ich sie zur Lehrpraxis umgestaltet habe. Meine „Lehrlinge“ standen am Ende ihrer Lehrlingszeit, als ich sie in meine psychotherapeutische Praxis zur Mitarbeit aufnahm. Im ersten Jahr ihrer Lehrzeit war ihre Aufgabe zuerst einmal die beobachtende Teilnahme an Erstgesprächen, in der ich ihnen Modell sowohl in der verbalen Kommunikation und Intervention als auch in den nonverbalen Kommunikationsformen und Interventionstechniken des Psychotherapeuten bieten konnte, genauso ihre Beobachtungsfähigkeit der verbalen und nonverbalen Äußerungen des Patienten verfeinern konnte, indem ich sie jeweils nach der Sitzung zu ihren Beobachtungen befragte. Außerdem wurde jede psychotherapeutische Behandlung von mir eingeleitet, ich hielt die erste Sitzung, an der der in Ausbildung befindliche Psychotherapeut teilnahm und sie nachher mit mir reflektieren konnte, ich dabei auch erklären konnte, was mich zu welcher Handlung oder Äußerung motiviert hatte. In hochfrequenten Teamsitzungen, die ausschließlich der Supervision vorbehalten waren, entstand ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen meinen in Ausbildung befindlichen Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, das sie zur Intervision anregte und gegenseitige Unterstützung in den anfangs natürlich häufig auftretenden Erlebnissen der Überforderung ihrer Fähigkeit zum Holding und Containing bot. Das mehrfach vorgebrachte Argument, dass die Rolle des Supervisors und des Dienstgebers unvereinbar seien, weil Leistungsdruck und das Gefühl, vom Vorgesetzten beobachtet zu werden, der Öffnung hinderlich sei, ist meiner Ansicht und
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Erfahrung nach eine Resignation des Vorgesetzten gegenüber der Herausforderung, ermutigend auszubilden und den Selbstwert seiner Mitarbeiter und zugleich Lehrlinge so zu stärken, dass Kritik nicht als Kränkung, sondern als Hilfestellung zur Verbesserung der Kompetenz angenommen werden kann. Die Rolle des lehrenden Therapeuten in der psychotherapeutischen Lehrpraxis verlangt von ihm bzw. ihr eine hohe persönliche Präsenz, in der er Führungskompetenz, Organisationsfähigkeit und betriebswirtschaftliches Können sowie letztendlich auch wirtschaftliche Einsatz- und Risikobereitschaft einzubringen hat, da die Betriebsmittel in Form der Räumlichkeiten, der Einrichtung und der technischen Ausstattung vom Leiter der Lehrpraxis bereitgestellt werden müssen. Außerdem hat er die Anforderung zu lösen, die Rolle des Vorgesetzten und die Rolle des Supervisors zu integrieren. Die Bereitschaft, die Letztverantwortung für die Qualität der psychotherapeutischen Arbeit, aber auch des Organisationsablaufes der Lehrpraxis, der wesentlich komplexer ist als in der Einzelpraxis, und für die wirtschaftliche Sicherheit der Lehrpraxis zu tragen, ist Voraussetzung für die Führung einer Lehrpraxis. Die Funktion der Leitung einer Lehrpraxis hat weiters Konsequenzen für das Tätigkeitsprofil des Leiters, da sich dessen Tätigkeiten von der psychotherapeutischen Arbeit zu Leitungs- und Supervisionsaufgaben verschieben, ohne dass er die eigene psychotherapeutische Arbeit deswegen ganz aufgeben darf, schon alleine deswegen, weil er Modell und Beobachtungsgelegenheit geben muss. Die Ausbildung zum ärztlichen Beruf sieht nach Abschluss des Studiums eine mehrjährige Tätigkeit des ärztlichen Berufsanfängers unter der Anleitung und Aufsicht eines erfahrenen Arztes im Krankenhaus oder mittlerweile auch in der ärztlichen Lehrpraxis vor. Dieses Modell der Ausbildung zum „Behandler“ des Körpers auf die Ausbildung zum „Behandler“ der Seele zu übertragen, ist nach meiner mittlerweile jahrzehntelangen Erfahrung in dieser Arbeitsweise bestens geeignet, um die Qualität der postgradualen psychotherapeutischen Bildung gegenüber der derzeit üblichen ausschließlichen seminaristischen Weiterbildungskultur um ein Vielfaches an Effizienz zu übertreffen. Die Freude am Lehren muss allerdings der vorrangige Motivator sein, um die Leitung einer psychotherapeutischen Lehrpraxis zu übernehmen.
7.5.4 Der nervöse Charakter der Psychotherapiemethoden Im persönlichen Rückblick der letzten vierzig Jahre, die ich die Entwicklung der Psychotherapie „teilnehmend beobachte“, besticht nicht nur das Wachstum der Vielfalt der Methoden, sondern lässt sich auch unschwer eine in individualpsychologischen Modellvorstellungen benennbare Psycho(therapiemethoden)dynamik feststellen: zu der Zeit, in der ich meine Ausbildung absolvierte, standen als Alternativen die Individualpsychologie und die Psychoanalyse zur Verfügung – mehr Methoden der Psychotherapie gab es damals nicht, die Verhaltenstherapie stand in ihren Anfängen, die systemische Familientherapie war gerade „gezeugt“. Die Ausbildungsordnung, damals auf der Ebene des österreichischen Vereins für Individualpsychologie gere-
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gelt, sah neben den seminaristisch organisierten Lehrveranstaltungen zur Theorie an praxisbezogener Ausbildung die Lehranalyse sowie die „Kontrollanalyse“ durch zwei Kontrollanalytiker vor, wobei die Kontrollanalyse die Supervision auf die Gegenübertragung und damit auf den intersubjektiven und interaktionellen Prozess zwischen dem Patienten und dem angehenden Psychotherapeuten fokussierte. Dabei war nicht nur erlaubt, sondern von den Ausbildungsleitern erwünscht, dass einer der beiden Kontrollanalytiker ein Psychoanalytiker der Freud’schen Schule sei 1 . Die Idee dahinter war, den angehenden Psychotherapeuten von vornherein den „Blick über den Tellerrand“ mitzugeben, was als Bereicherung der Kompetenz konnotiert wurde. Die heutige „Szene“ der psychotherapeutischen Ausbildungsvereine lässt eine völlig andere Position beobachten: hinter einer – allerdings rissigen – Fassade der friedlichen Koexistenz verbergen sich Konkurrenzkämpfe, nicht nur zwischen den Methoden, sondern auch innerhalb der Methoden und sogar innerhalb der Berufsvertretungen, die Machtstreben statt Überwindungsstreben bei einem eklatanten Mangel an Gemeinschaftsgefühl diagnostizieren lassen und so manchen Ausbildungsvereinen einen „nervösen Charakter“ verleihen, der, motiviert durch einen Minderwertigkeitskomplex, nach Überlegenheit anstatt, mutig seine Minderwertigkeiten überwindend, nach einem Platz in der Gemeinschaft strebt, einem aktiv-destruktiven Lebensstil verpflichtet. Eine klare und Orientierung gebende Antwort zur Frage des Methodenpluralismus, die mich am Ende meiner eigenen individualpsychologischen Ausbildung beschäftigte, verdanke ich meinem Kontrollanalytiker Rudi Ekstein (1912– 2005), Psychoanalytiker und Schüler Anna Freuds: Motiviert aus der Unsicherheit, ob ich wohl ausreichend kompetent sei für den Beruf der Psychotherapeutin, angesichts der sich gerade konstituierenden weiteren Psychotherapie-„Schulen“, fragte ich ihn nach seinem Rat, welche dieser Methoden ich denn nun weiter lernen sollte. Er antwortete: „Ein Psychotherapeut braucht viele Brillen. Psychotherapeut bist du dann, wenn du viele Brillen hast und keine brauchst.“ (mündliche Mitteilung Rudolf Ekstein, Ende der 70er Jahre). Curricula, die diesen zutiefst individualpsychologischen Grundgedanken der Ganzheitlichkeit auch auf die psychotherapeutische Identität in ihrer unverwechselbaren Individualität, von einem Freudianer formuliert, entsprechen, optimieren die Ausbildung.
1
Dies bescherte mir den Reichtum, diesen Teil meiner Ausbildung bei Rudolf Ekstein absolvieren zu dürfen.
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In runden Klammern steht das Erscheinungsjahr der zitierten Ausgabe; sofern es sich dabei nicht um die Erstauflage, sondern um eine spätere handelt, steht dahinter in eckigen Klammern das Jahr der Erstauflage. Abweichend davon steht bei den Schriften Adlers und Freuds hinter dem Namen in runden Klammern das Jahr der Erstauflage gemäß der üblichen Zitierweise und am Schluss der Literaturangabe das Erscheinungsjahr der verwendeten Ausgabe. Zitiert wird, sofern in ihnen enthalten, nach der „Studienausgabe“ (Adler) bzw. den „Gesammelten Werken“ (Freud).
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Sachverzeichnis
A Abstinenz 210, 213, 215–217, 219, 243, 319, 328, 331, 335 Abwehrmechanismen 3, 26, 96, 175, 213, 219, 363, 365, 367 ADHS 275 Adoleszenz 176, 243, 275, 280, 292, 294 Affekt 40, 238, 310, 347 Affektlogik 271 Affektregulierung 70, 107, 120, 154, 163, 260 Aggressionstrieb 43, 44, 57, 58, 160–163, 348 Akademisierung 417, 418 Alles-oder-Nichts-Prinzip 215, 368 Als-Ob 204 „American Dream“ 382 Analogiedenken 414, 415 Angst 100, 143–145, 167, 170, 172, 173, 175, 179, 180, 183, 188, 207, 213, 214, 217, 219, 228, 235, 243, 253, 255, 257, 262, 275, 276, 286–289, 291, 310, 314, 317–319, 340, 342, 366, 371, 393, 399, 400 Anpassungsleistung 235, 281 Antike 1–4, 35, 36, 58, 165, 338, 389, 397 Aufklärung 13–16, 19, 21, 23, 28, 71, 88, 303, 336, 350 Ausbildung 4, 5, 19, 28, 48, 76, 80, 88, 107, 133, 165, 210, 226, 279, 280, 309, 326, 342, 399–401, 411, 417–423 Ausbildungscurriculum 419, 420 Ausbildungsverein 214 Authentizität 194, 211, 213, 214, 219, 237, 384, 400 B Bedeutungsperspektive 11 Begegnungen 173, 245, 353 Beratung 34, 297, 327, 337, 346, 349–351 Beratungsgespräch 281 Beratungskompetenz 350
Berufsausübung 419 Berufskodex 303, 304 Beziehungsangst 172 Bildungssystem 280 Bindungstheorie 50, 89 Bühnenmetapher 26, 364, 367, 377, 380, 389 Burn-Out 91, 92, 312 C Causa efficiens siehe Wirkursache, 60–62, 413–415 Causa finalis siehe Intentionalität; Zielursache, 60–62, 180, 413–415 Coaching 349, 350 Containing 224, 284, 421 Coping-Strategien 91 Cortex 268, 269, 271, 292 Counselling 349, 350 D Defekt 184, 185, 237 Defektologie 310 Depression 25, 312, 396, 397 Depressionen 307 depressive Position 104, 182 Dezentrierung 95, 132 Diagnostik 49, 183, 221, 227–229, 304, 308, 420, 421 Dialog 4, 86, 197, 211, 222, 226, 227, 246–249, 267, 269, 273, 279, 283, 290, 293, 295, 297, 319, 328, 329, 337 Dissozialität 275, 276 Drei-Berge-Versuch 12 Drei-Personen-Psychologie 237 Dualität 308 Dysfunktionalität 307, 310 E Egozentrismus
12, 394
468
Ehe 16, 167–169, 172 Eifersucht 300, 301 Eindimensionalität 372, 373 Eindringen eines Geistes 8 Einzelpraxis 422 Eitelkeit 162, 377, 390 Elemente 19, 20, 24, 36, 47, 83, 116, 123, 135, 142, 151, 177, 326, 327, 329, 332, 355–357, 384, 387, 411, 413 Eltern 33, 34, 58, 65, 66, 88, 111, 117, 178, 188, 210, 234, 236–238, 258, 262, 277–279, 281, 288, 289, 291, 293, 294, 297–305, 322, 337–343, 345, 346, 381, 382, 417 Elternarbeit 298, 299, 339 Elternschaft 173, 278, 302, 345, 346 Emotion 173, 206, 210 Empathie 83, 186, 191, 192, 210, 218, 224, 262, 270, 299, 302 Enactment 104, 197, 224, 285 Entwicklung 15, 31, 32, 36, 46, 49, 51, 53, 66, 81, 89–91, 93, 95, 99, 101–105, 110–112, 114, 117–119, 121–123, 126, 128, 132, 133, 135, 137–139, 154, 165, 168, 169, 175, 176, 178, 183–186, 191, 197, 200, 206, 225, 227, 236, 243, 269–271, 275–281, 283, 289, 290, 296, 297, 305, 308, 317, 322, 330, 332, 333, 338, 340–345, 348, 350, 353, 356, 357, 366, 379, 380, 417–419 Entwicklungsaufgaben 76, 344 Entwicklungsneurobiologie 269–271 Entwicklungspsychologie 225, 282 Entwicklungspsychotherapie 225 Entwicklungsroman 365 Entwicklungsrückstände 280 Entwicklungsverläufe 279 Ermutigung 135, 177, 225, 271, 287, 299, 326, 349 Erotik 166, 172 Erregungsnetzwerk 270 Erstgespräch 221–229, 245 Erzählerdistanz 408 erzählte Zeit 408 Erzählzeit 408 Erzieher 33, 35, 339, 342, 345, 347, 349 Erziehung 15, 33, 82, 165, 178, 208, 277, 278, 287, 289, 296, 298, 323, 335–344, 346–348 Erziehungsberatung 32, 322 Erziehungsberatungsstellen 337 Erziehungsfragen 337, 338, 340 Erziehungsinkompetenz 278 Erziehungskompetenz 278 Erziehungsmittel 339, 342
Sachverzeichnis
Erziehungsratschläge 298 Erziehungsstil 338, 340, 341, 344, 345 Essentialismus 212 Ethik 303, 355, 394 Ethikregeln 304 Ethnologie 6, 189, 236, 368, 415 F Fallgeschichte 24, 404 Fallvignette 403, 404 Fallvignetten 101 Familie 6, 11, 87, 90, 134, 160, 167, 168, 199, 204, 251, 252, 280, 285–287, 296, 298, 324, 339, 342–344, 346, 348, 387, 391, 392 Feminismus 167 Fiktion 62, 64, 88, 89, 118, 141, 145, 205, 210, 211, 215, 249, 281, 294, 312, 345, 379, 397 Fiktionalität 62 Finalität 71, 211, 227, 292, 294, 297, 310, 311, 344, 345, 347, 350 Flächenhaftigkeit 372, 373 Frauenbewegung 201 Frauenfrage 167, 169 Frustration 82, 163, 172, 310 Funktionalität 310, 347 Fuzzy Logic 412 G Ganzheit 58, 83, 122, 173, 177, 227, 311, 313, 413, 417 Geborgenheit 18, 93, 163, 204, 238, 269, 270, 286, 290, 380 Gedächtnisforschung 268 Gegenfiktion 88 „Gegensinn der Urworte“ 375 Gegenübertragung 66, 69, 186, 187, 193, 195, 203, 206, 214, 218, 219, 284, 287, 299, 328, 423 Gehirn 62, 75, 126, 267–271, 280, 313, 347 Gehorsam 44, 92, 145, 237, 342, 343 Geisteswissenschaften 25, 267, 359–361, 407, 410 Gemeinschaft 5, 6, 11, 31, 35, 46, 48, 66, 71, 72, 87, 89, 91, 99, 106, 110, 111, 114, 116–123, 136, 141, 168, 181, 219, 246, 257, 270, 276, 280, 285, 295, 296, 308, 312, 322–324, 326, 331, 339, 343, 344, 346, 348, 423 Gemeinschaftsgefühl 44, 56, 57, 70, 71, 76, 81, 87–89, 93, 104, 105, 116, 132–136, 139, 152, 154, 155, 172, 187, 193, 198, 223, 248, 270,
Sachverzeichnis
280, 323, 324, 330, 332, 348, 355, 358, 418, 419, 423 Gender 166, 169 Genforschung 272 Geschlechterrollen 165 Geschlechtsverkehr 179, 374 Geschlechtszugehörigkeit 165 Gesellschaft 14, 29, 58, 87, 93, 165, 166, 176, 177, 181, 191, 211, 231, 262, 276, 298, 307, 323, 334, 343, 347, 359, 366, 367, 381, 382, 399, 401, 418 Gestaltpsychologie 59, 327 Gestalttherapie 59 Gestik 226, 245 Gesundheitsvorsorge 92 Gewalt 289, 323, 339, 340, 342, 375, 394 Gewaltlosigkeit 339 Gewaltverbot 339 Gleichartigkeit 281, 287 Grundangst 179 Grundbedürfnisse 89, 192, 344 Grundrechte 13, 187, 211, 382 Grundstörung 184–187, 213, 217, 228, 237, 239, 316, 360, 361 Grundvertrauen 117 „gute alte Zeit“ 204 „Gute-alte-Zeit-Geschichte“ 409 H Haupthistokompatibilitätskomplex 159 Heilkunde 1 Hermeneutik 26, 405 Hirnforschung 62, 75, 267 Holding 50, 284, 421 Homo ludens 377, 380, 392, 408 Homosexualität 115, 170, 172, 173 Humanismus 367 Humanmedizin 308 Humoralpathologie 1, 372, 397, 403 I Ich-Identität 176 Ich-Psychologie 104, 175–177, 181, 383 Identifikation 143, 182, 186, 206, 260, 379, 380, 394 Identität 33, 50, 51, 69, 78, 87, 88, 101, 111, 115, 134, 154, 178, 181, 190, 200, 259, 263, 264, 292, 295, 325, 330, 342, 379, 417, 419 Imitation 379, 380 Individualisierung 10, 181, 236
469
Individualität 11, 12, 35, 42, 73, 89, 91, 93, 100, 107, 222, 236, 237, 249, 295, 390, 423 Industrialisierung 17, 27 Inszenierung 26, 51, 162, 197, 223, 226, 227, 333, 363, 389 Intentionalität 59, 61, 62, 83, 233, 310, 412, 413 Interpersonalität 194 Intersubjektivität 70, 83, 105, 108, 116, 118, 120, 123, 124, 129, 131–134, 136, 190, 193, 198, 199, 212 Intuition 19, 20, 138 J Jugendliche 248, 275, 278, 281, 282, 290–293, 295, 296, 300, 301, 304, 327, 337, 343 K Katastrophe 257, 291, 394 Katastrophenforschung 91, 393, 413 Katharsis 149, 283 Kinder 5, 12, 34, 35, 88, 120, 183, 247, 259, 276–282, 284, 286–288, 290, 291, 298–300, 302–304, 322, 327, 337–339, 342–347, 363, 364, 378, 394, 420 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 276, 277, 281, 302, 303 Kinder- und Jugendpsychiatrie 277, 282, 337, 338 Kinderstube 88, 296 Kindes- und Jugendalter 275, 276 Kindeserziehung 342 Kindheitserinnerungen 228 Kindheitsjahre 278, 340 Komorbidität 229 Kompensation 20, 43, 55, 57–59, 64, 97, 144, 167, 169, 180, 192, 270, 294, 313, 372, 376, 383, 394 Konflikt 45, 69, 72, 73, 76, 81, 82, 99, 142, 144, 145, 152, 153, 175, 182, 184, 199, 227, 235, 293, 312, 345, 357 Konstruktivismus 207, 212, 213 Kontext 1, 2, 19, 98, 99, 135, 155, 165, 168, 184, 203, 205, 224, 235, 247, 258, 283, 299, 312, 316, 322, 327, 332, 355, 364, 374, 376, 393, 409, 415 Kontrollanalyse 423 Konversionsmodell 309 Kooperation 84, 85, 121, 122, 134, 138, 194, 211, 219, 270, 334
470
kooperative Subjekttransformation 52, 105, 112, 139 Körper 4, 7, 8, 45, 79, 118, 149, 159, 165, 169, 173, 185, 216, 238, 259, 269, 307–311, 407, 418, 422 Körperpsychotherapie 315 Körpersprache 225 Krankheitsgewinn 311 Kultur 14, 26, 29, 33, 58, 159, 166, 180–182, 237, 263, 319, 359, 377, 380, 383, 384 Kulturgeschichte 19, 175, 359, 360, 377, 389, 392, 393 „Kunstgriffe“ 25, 205, 363 L Latenz 176 Lebensangst 314 Lebensplan 113, 204, 260, 262 Lebensqualität 221 Lebensstil 27, 42, 47, 61, 68–70, 79, 82, 88–90, 92, 93, 96, 97, 104, 170, 171, 173, 178, 211, 222, 224, 225, 227–229, 247, 249, 253, 255, 271, 294, 296, 301, 303, 310–313, 316, 324, 327, 329, 333, 336, 343, 345–347, 350 Lehranalyse 207, 209, 399, 400, 420, 423 Lehre 9, 57, 59, 88, 177, 336, 337, 400, 417 Lehrer 26, 33, 59, 199, 210, 322, 342, 343, 346, 347, 380 Lehrpraxis 420–422 Libido 57–60, 74, 77, 78, 82, 157, 161, 179, 180, 233, 358, 413 Liebe 18, 77, 106, 107, 111, 117, 158, 168, 172, 173, 179, 181, 182, 189, 257, 289, 295, 316, 330, 340, 344, 373, 381, 415 Liebesbeziehung 172 Liebestherapie 21, 186, 219, 335 Literaturwissenschaft 359 M Macht 11, 16, 26, 44, 57, 71, 79, 88, 99, 146, 159, 168, 171–173, 231, 233, 264, 294, 314, 341, 344, 345, 363, 365–367, 371, 374, 376, 394, 413 Machtstreben 44, 89, 93, 168, 170, 179, 210, 293, 344, 423 Mäeutik 3, 4 männlicher Protest 44, 161, 166–169, 179, 200, 201, 212, 272 Männlichkeit 166, 167, 184, 205, 376
Sachverzeichnis
Märchen 18, 20, 282, 360, 361, 368–370, 372–374, 381, 384, 409 Mechanisierung 38, 315, 319 Melancholie 1, 28, 396, 397 Menschenbild 19, 32, 55, 63, 71, 72, 203, 205, 269, 308, 310, 349, 357 Mentalisierung 70, 99, 100, 104, 107, 108, 112, 123, 126, 131, 154, 163, 196 Metapher 26, 291, 295 Mikrokosmos-Makrokosmos-Theorie 20, 414 Milgram-Experiment 412 Mimik 226, 245 Minderwertigkeitsgefühl 55–58, 60, 61, 63, 89, 111, 113, 114, 116, 120, 121, 151, 155, 161, 167, 177–179, 188, 192, 210, 260, 263, 275, 276, 280, 291, 295, 298, 329, 353, 376, 418, 419 Minderwertigkeitskomplex 15, 360, 423 Missbrauch 78, 289, 315, 317–319, 369 Mittelalter 11, 13, 18, 394, 396 Moralvorstellungen 171 Motivation 68, 332 Mutter 25, 50, 85, 86, 119, 120, 122, 123, 126, 131, 133, 134, 138, 159, 167, 181, 183, 185, 188, 189, 200, 207, 216, 218, 224, 238, 250–252, 255, 256, 258, 259, 262, 264, 270, 277, 278, 284, 289, 294, 300, 316–319, 323, 329, 339, 344, 365, 374, 381, 395 „mütterliche Liebestherapie“ 21, 186, 213, 219, 225, 335 N Nähe 41, 75, 104, 106, 115, 116, 135, 136, 167, 171, 173, 177, 182, 216–218, 234, 238, 290, 293, 335, 337, 409 „Nationenvergleich“ 409 Neopsychoanalyse 104, 175, 179 Nervenheilkunde 338 Neurobiologie 269, 271, 272, 308 Neuropsychologie 268, 415 Neurose 6, 38, 43, 45, 104, 106, 122, 143, 160, 166, 170, 179–181, 201, 203, 205, 229, 260, 295, 297 Neurowissenschaften 267, 268, 270, 272, 310 Nihilismus 365 Numinos 372 O Oben-Sein
184, 205
Sachverzeichnis
Objektbeziehungstheorie 32, 184, 186, 206, 357 Objektivität 12, 13, 157, 267, 403 Obsorgerecht 281 Ockhams Rasiermesser 55 ödipale Ebene 184, 237 Ödipuskomplex 185, 360 Ohnmacht 169, 246, 312, 345 Oknophil, Oknophilie 187, 188 Organdialekt 310, 311, 313 Organminderwertigkeit 25, 43, 94, 169, 280, 308, 309, 313, 348 Oxytocin 269, 270 P Pädagogik 31, 35, 46, 176, 268, 277, 327, 335–337 Paradies 185, 204 Paradigmenwechsel 36, 38–40, 193, 308, 310 paranoid-schizoide Position 104, 182, 183, 186 Patchworkfamilie 285 „paternistische Vernunfttherapie“ 21, 186, 213, 218, 335 Patriarchat 179, 375 Penisneid 166, 179, 199–201 Persönlichkeitsprofil 312 Perspektive 7, 12, 14, 32, 56, 60, 61, 147, 163, 169, 178, 189, 196, 198, 200, 206, 211, 234, 258, 263, 264, 286, 339, 360, 367, 370, 373, 377, 380, 382, 393, 394, 410 Perspektivität 404 Perversion 146, 170, 171 Philobat, Philobatismus 187 Physik 23, 41, 203, 209, 272, 316, 411, 412, 414 Postmoderne 158 posttraumatische Belastungsstörung 90, 277 Potential 9, 88, 90, 94, 99, 110, 129, 135, 265, 280, 332, 337, 338, 359 Potlach 377 Praktikum 420 Praktikumssupervision 420 Praxis 34, 49, 50, 72, 80–83, 87, 103, 143, 144, 148, 153, 154, 160, 203, 205, 210, 211, 245, 258, 286, 308, 309, 317, 324, 335–337, 410, 417, 420, 421 Praxisausbildung 420 Primärobjekt 17, 185–188, 206, 208, 217, 238 Profession 201, 335, 349, 399, 403, 417, 418 Projektil 7 Propädeutikum 418
471
Prostitution 170 Protagonist 365, 366, 368, 369 Protektive Faktoren 90 Psychagogik 33, 277, 337 Psychiatrie 32, 62, 87, 148, 176, 191, 307, 317, 359, 412 Psychische Gesundheit 87 Psychodynamik 69, 123, 142, 152 Psychoedukation 350 Psychosomatik 142, 307–309, 311–313 Psychosomatosen 312 Psychotherapiegesetz 48, 418 Psychotherapiewissenschaft 62, 141, 411, 413, 414, 419 Pubertät 5, 116, 189, 236, 258, 260, 275, 292, 301, 338 Q Quantenphysik 209, 411 Quellberuf 417 R Rechtfertigungsgeschichte 409 reflektierte Projektivität 70 Reframing 62 Regression 80, 183, 187, 188, 281, 355 Reinszenierung 285 Relationale Psychoanalyse 109, 129, 189 Renaissance 11, 28, 225 Resilienz 89–91 Resilienzfaktoren 89, 91, 93 Resilienzforschung 90 Risiko 245, 338, 346 Risikofaktor 92, 342 Rollenbild 167 Rollenzuordnung 300 Rollenzuweisungen 301 Romantik 13, 17, 18, 23, 26, 28, 71, 231, 364 S Sage 359, 368, 373–375, 409 Säkularisierung 364 Salutogenese 94 Sandspieltherapie 286 Schamane 4–6 Schamanismus 4, 6, 28 Schauerromantik 16, 18 schizophren 147, 176, 316 Schizophrenie 147, 176, 316 Schuld 92, 144, 216, 252, 278, 279, 288 Schuldgefühle 183, 256, 383
472
Schule 15, 35, 46, 73, 91, 101, 134, 139, 147, 184, 186, 249, 250, 277, 278, 280, 294, 321, 330, 333, 336, 340–344, 346–348, 350, 365, 378, 423 Schüler 59, 67, 186, 209, 211, 322, 336, 417, 423 Schulmedizin 205, 397 Schwank 359, 368, 371, 372, 409 Schwarz-Weiß-Denken 56, 183 Schwererziehbarkeit 339 Seele 2, 3, 5, 7–10, 17, 23, 25, 35, 37, 42, 59, 165, 185, 188, 216, 269, 276, 289, 308, 310, 312, 315, 339, 342, 367, 378, 407, 418, 422 Seelenleben 2, 23, 28, 42, 45, 152, 168, 171, 184, 193, 222, 232, 271, 307, 341, 363, 418 seelische Gesundheit 87, 211 Sein und Schein 27, 368, 369, 371, 372, 375, 392 Selbstenthüllung 213–216, 218 Selbsterfahrung 86, 415 Selbstwert 65, 66, 249, 263, 290, 311, 422 Selbstwertgefühl 65, 91, 107, 114, 116, 145, 180, 192, 311, 319 Selbstwirksamkeit 89, 91 Selbstwirksamkeitskonzept 271 Sexualität 41, 146, 157, 158, 160, 161, 163, 165, 166, 168–173, 243, 319 Sexualtrieb 74, 75, 165, 179 sexuelle Perversion 167, 171 sexuelle Revolution 172 sexuelle Störungen 171 sexueller Jargon 172 Sicherheit 14, 57, 88, 108, 112, 113, 133, 152, 160, 163, 179, 180, 184, 187, 218, 221, 223, 226, 245, 246, 252, 263, 269, 270, 278, 286, 297, 305, 316, 325, 344, 421, 422 Sicherungstendenz 188, 233, 294 Sigmund-Freud-Privatuniversität 53, 197 Sinn 20, 24, 35, 55, 60, 61, 68, 78, 81, 89, 91, 95, 97, 104, 112, 113, 115, 116, 124, 125, 128, 155, 158, 166, 170, 173, 177, 183, 185, 192, 200, 204, 207, 211, 231, 234, 235, 241, 296, 319, 355, 366, 367, 387, 388, 390, 395, 396, 403, 408, 412–414 so tun, als ob 25, 26, 62, 63, 79, 204, 363, 379 Sozialisation 28, 41, 219, 270 Spiegelneuronen 270 Spiel 17, 27, 34, 48, 66, 107, 236, 277, 282–287, 289, 290, 302, 323, 324, 330, 332, 336, 338, 354, 377–380, 408 Stammhirn 269 Stigmatisierung 91, 272
Sachverzeichnis
Strafen 340, 341 Stress 91, 93, 309 Subjektivität 12 Supervision 214, 420, 421, 423 Supervisor 421 Symbol 239, 255, 259, 316 Symbolik 239, 286, 287, 407 symbolische Wunscherfüllung 316 Symbolisierung 226, 407 Symptom 39, 41, 59, 142, 148, 170, 175, 275, 310, 313, 314, 372, 418 Symptomfreiheit 222 Systemtheorie 411 T Tabuverbrechen 9, 10 Technik 87, 185, 186, 206, 210, 243, 244, 333–335, 349 Tendenziöse Apperzeption 350 Text 25, 31, 34, 44, 62, 78, 199, 231, 232, 248, 322, 331, 372, 404, 408, 419 theatrum-mundi-Metapher siehe Bühnenmetapher, 26, 28, 363, 392 Todsünde 396 Trauer 396 Traum 231–239, 246, 331, 332, 360, 367, 371, 407, 414 Traumatisierung 287 Traumdeutung 232 Trieb 9, 43, 44, 74, 87, 182, 183, 213 U Übergangsobjekt 189 Übergangsriten 189 Überkompensation 57, 71, 201, 257, 312, 391 Übertragung 8, 20, 21, 46, 69, 81, 126, 128, 130, 149, 154, 193, 203, 205, 206, 208, 213, 218, 239, 284, 299, 302, 335, 414 Überwindungsstreben 249, 311, 312, 423 unheimlich 5, 8, 16, 374, 375 Unsicherheit 177, 178, 184, 205, 222, 379, 389, 391, 423 Unten-Sein 184, 376 Urmisstrauen 111, 112, 116 Ursache 13, 39, 55, 59, 60, 263, 399, 413, 414 Urvertrauen 111, 112 V Vater 26, 36, 78, 79, 81, 130, 133, 181, 200, 207, 208, 242, 251, 252, 258, 260, 262,
Sachverzeichnis
473
276–278, 281, 294, 295, 317, 336, 339, 344, 365–367, 370, 374, 375, 381 „Vergleich historischer Zeiten“ 409 Verhaltensforschung 163 Verlust der Seele 7, 10 Vernunfttherapie 21, 213, 218, 335 Verschwiegenheitspflicht 291, 304, 305 vielsprachig 282 Volkserzählung 359, 363, 368 Volksmedizin 7 Vollkommenheit 177, 355 Vulnerabilität 309
wirkkausal siehe Causa efficiens, 64, 233, 238, 394, 397 Wirkursache siehe Causa efficiens, 64, 233, 238, 394, 397 Wissenschaft 6, 18, 23, 36, 88, 94, 209, 212, 241, 272, 310, 384, 387, 393, 399, 403, 408, 411, 415, 417, 418 Witz 56, 359, 409 Wunscherfüllung 233, 316
W
Zärtlichkeitsbedürfnis 57, 89, 178, 183, 225, 269, 270, 344 Zentralperspektive 12 zielkausal siehe Causa finalis; Intentionalität, 233, 235, 394, 397 Zielursache siehe Causa finalis; Intentionalität, 233, 235, 394, 397 Zwei-Personen-Psychologie 237
Wechselwirkung 176, 178, 358, 367 Weiblichkeit 165–167, 184, 199 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 92, 94, 95 Wiederholungszwang 69, 126, 130, 203–205, 210, 355
Z
Namensverzeichnis
Nicht ins Namensverzeichnis aufgenommen wurden Alfred Adler und Sigmund Freud, da deren häufige Nennung im Fließtext kein sinnvolles Nachschlagen mithilfe des Registers ermöglichen würde. A Abel, Carl 375 Adler, Rolf H. 308 Adorno, Theodor W. 366 Ahrens, Thea 231 Ahrens, Ullrich 231 Aichhorn, August 191, 336 Akeret, Robert U. 70 Albrecht, Helmut 308, 409 Alewyn, Richard 363 Alexander, Franz 20, 206, 309, 312 Allen, Jon G. 106, 182, 412 Allen, Woody 106, 182, 412 Alpenburg, Johann Nepomuk Ritter von 374, 375 Alt, Peter André 231 Altmeyer, Martin 193 Andriessens, Elsa 49 Angold, Adrian 276 Ansbacher, Heinz L. 47, 65, 68, 102, 179, 180, 228, 305, 322 Ansbacher, Rowena 47, 65, 68, 102, 179, 180, 228, 305, 322 Antoch, Robert F. 138, 151, 211, 242 Ardrey, Robert 158 Argelander, Hermann 188, 223 Aristoteles 2, 3, 13, 58, 60, 234, 414 Arnold, Rainer 57, 390 Atwood, George E. 194 B Bach, Adolf 384 Bachmann, Manuel
20
Balint, Michael 184–189, 195, 206, 213, 232, 237, 316, 383, 399, 400 Bammé, Arno 316 Barks, Carl 389 Barta, Annelotte 49 Barthes, Roland 158 Bastian, Till 49, 308 Battegay, Raymond 75 Bauer, Joachim 271, 372 Baumeister, Roy F. 89 Baumgärtel, Knut 276 Bauriedl, Thea 45, 56, 315 Bausinger, Hermann 373, 409 Bautz-Holzherr, Margarethe 399 Beavin, Janet H. 179 Becker, Ruth 272 Becker-Carus, Christian 272 Beckmann, Jan P. 55 Beebe, Beatrice 106 Behrmann-Zwehl, Ellen 284, 345 Beitl, Richard 183 Ben-Amos, Dan 236 Benjamin, Jessica 85–87, 190, 193 Berman, Leo 195 Berz, Gerhard 393 Beste, Ralf 395 Bettighofer, Siegfried 206 Bilz, Rudolf 159 Bion, Wilfred Ruprecht 99, 119, 224, 284, 326, 327 Birnbaum, Ferdinand 48, 323, 336 Bitter, James Robert 166 Blanck, Gertrude 175, 232 Blanck, Rubin 175, 232 Blank-Knaut, Beate 200
476
Bogyi, Gertrude 70, 277, 282–284, 287, 290, 296, 303–305 Bohleber, Werner 206 Böhme, Gernot 1, 185 Böhme, Hartmut 1, 185, 396 Bolognini, Stefano 191 Bonaventura 26, 364, 365 Böning, Jobst 146 Bonney, Helmut 278 Bortz, Jürgen 412 Bowlby, John 51, 106, 107, 225, 344 Brahms, Albert 14 Braun, Christina von 165, 169 Bräutigam, Walter 309 Brecht, Karen 175 Brednich, Rolf Wilhelm 376 Bremner, Gavin 338 Brentano, Franz 61, 413 Breuer, Simone 40, 146 Brey, Carina 49 Britton, Ronald 84 Broder, Henryk 389, 392 Bronfen, Elisabeth 231 Bruder-Bezzel, Almuth 31, 32, 35, 44, 46, 50, 72, 165, 167–169, 172, 225, 309 Brüggen, Wilhelm 134 Brunner, Reinhard 23, 57, 90, 102, 179, 187, 211, 356 Brunner, Romuald G. 90 Bucher, Anton 353 Buchholz, Michael 13, 95, 193, 194, 223, 267, 378, 403, 404 Büchner, Georg 363 Burckhardt, Jacob 11, 12 Burda, Gerhard 73, 355 Bürgin, Dieter 118 Burton, Robert 397 Busch, Bernd 31 C Carlson, Jon 47, 296, 300, 347 Carus, Carl Gustav 23 Cashdan, Sheldon 103 Cassirer, Ernst 408 Cervone, Daniel 76 Charcot, Jean M. 37–39, 41, 243 Christian, Paul 309 Christian-Widmaier, Petra 98 Cifali, Mario 317 Ciompi, Luc 271, 273 Clarke, Liam 326
Namensverzeichnis
Clemens, Elysia V. 347 Conci, Marco 193 Costello, E. Jane 276 Cremerius, Johannes 21, 23, 186, 205, 209, 213 Curtius, Ernst Robert 363 Czermak, Hans 339 D Darnstädt, Thomas 391 Daston, Lorraine 407 Datler, Wilfried 48–50, 56, 162, 214, 242, 277, 303, 304, 335–338, 349, 400 Degen, Rolf 411 Deutsch, Helene 199 Devereux, Georges 6 Dinkelmeyer, Don 341, 343, 347 Dinkmeyer, Don Jr. 347 Doderer, Heimito von 203, 407 Dollard, John 163 Döring, Nicola 412 Dornes, Martin 98, 105, 106, 163 Douglas, Mary 231 Draper, Kay 277 Dreikurs, Rudolf 242, 321, 324–328, 334, 337, 341, 343, 347 Drews, Sibylle 175 Drigalski, Dörte von 400 Drösser, Christoph 412 Dülmen, Richard van 11 Dulz, Birger 147 Dusy, Martina 49 E Edwards, Martha E. 328 Egger, Helen 276 Ehalt, Hubert Christian 27 Ehlers, Wolfram 98 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 157, 158 Eichendorff, Joseph Freiherr von 17, 18, 59 Eife, Gisela 59, 83, 84, 97, 104, 108, 119, 135, 223, 225, 227 Ekstein, Rudolf 290, 336, 423 Eliacheff, Caroline 133 Elias, Norbert 315 Ellenberger, Henry F. 1, 7–9, 13 Emrich, Wilhelm 11 Engel, Monika Paramita 335, 347, 363, 364 Erdheim, Mario 24, 231 Erikson, Erik H. 56, 104, 110–113, 115–117, 176–179
Namensverzeichnis
Ermann, Michael 124, 175, 181–183, 186, 189, 206, 231, 234, 237–239 Ernst-Hieber, Elisabeth 216 Esser, Günter 275 Essers, Hans 205, 206 Eysenck, Hans-Jürgen 411 F Fairbairn, William 191 Fairfield, Barbara 47 Fazekas, Tamás 138 Federn, Ernst 160, 161 Ferenczi, Sándor 36, 186, 195, 205, 206, 241, 312 Ferguson-Dreikurs, Eva 93, 94 Ferro, Antonino 124, 138 Fischer, Gabriele 146 Fischer, Gottfried 3, 4, 62 Fischer, Sebastian 387 Fischer-Lescano, Andreas 386, 387 Fleck, Ludwig 241 Flynt, Mary 277 Focke, Ingo 81 Fonagy, Peter 79, 106, 107, 134, 141, 190, 192 Foulkes, Siegfried H. 321–323, 326, 327, 333 Fox, Robin Kate 173 Frank, Jerome D. 1 Frank, Joachim 387 Freistadt, Else 169, 291 Freud, Anna 175, 277, 336, 341, 394, 423 Freund, Michael 369 Frick, Jürg 90, 91 Friedrich, Max H. 277, 281, 291, 292, 328, 337, 338, 340 Fröhlich-Gildhoff, Klaus 400 Fromm, Erich 180, 181, 237 Füri, Sandra 160 Furtmüller, Carl 161, 180, 305, 335, 336 G Gabriel, Eberhard 1, 2, 14, 55, 60, 389 Galison, Peter 407 Galuska, Joachim 353 Gasser-Steiner, Peter 50, 196, 197, 211, 212, 242, 356 Gathmann, Peter 312 Gebauer, Matthias 387 Gehlen, Arnold 57 Geiger, Tristan 49 Geißler, Peter 45, 101, 315
477
Gellert, Christian Fürchtegott 16 Gergely, Györgi 79, 106 Gergen, Kenneth J. 181 Gerigk, Horst-Jürgen 62 Gerlach, Alf 72, 354 Gfäller, Georg 327, 331 Giedion, Sigfried 315 Girkinger, Michael 359 Gisteren, Ludger van 267 Glowsky, Jürgen 350 Gloy, Karen 20, 58, 60, 414 Gödde, Günter 13, 23, 95 Goethe, Johann Wolfgang von 58, 59, 74, 159, 239, 338, 381, 407 Goris, Eva 395 Grabner, Elfriede 7 Grawe, Klaus 404 Green, André 106 Greenspan, Stanley I. 110, 225 Griffith, Jane 47 Grillparzer, Franz 384, 385 Grimm, Jacob 360, 368, 370, 371 Grimm, Wilhelm 18, 360, 368, 370, 371 Grözinger, Albrecht 118 Gründer, Karlfried 1, 2, 14, 32, 33, 49, 201, 389 Grüsser-Sinopoli, Sabine 146 Gruën, Arno 342 Gstach, Johannes 32, 336–338, 349 Günter, Michael 283–285 Günther, Kurt B. 49, 50, 327 Günther, Matthias 357 Guntrip, Harry 195 Gurjewitsch, Aaron J. 11 Guttenberg, Karl-Theodor Freiherr zu 383–392 Gysling, Andrea 185, 186, 195, 206 H Habermas, Jürgen 404, 405 Haffner, Rolf 208 Haller, Tobias 8 Handlbauer, Bernhard 31, 41, 160 Hansch, Dietmar 308 Hardt, Jürgen 190 Hartmann, Heinz 133, 175, 192 Hartmann, Nicolai 64, 204 Hasenfratz, Hans-Peter 2 Hasenfratz, Michael 74 Haynal, André 195, 206 Heine, Günter 347
478
Namensverzeichnis
Heisterkamp, Günter 48, 49, 51, 80, 101, 112, 119, 168, 171, 198–200, 211, 221, 242, 295, 315, 319, 321, 330, 334 Helsper, Werner 181 Hemmer, Kurt 325 Henningsen, Peter 309 Hernegger, Rudolf 176, 379 Herpertz, Sabine C. 49 Hesse, Herrmann 20, 221 Heyl, Johann Adolf 374 Hieber, Steffen 216 Hillman, James 63, 222, 269 Hinterhuber, Hartmann 8, 88, 93–95 Hirsch, Mathias 79 Hoefele, Joachim Bernd 359 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 16, 26, 37 Holder, Alex 98 Honko, Lauri 7–9, 412 Horn, Klaus 353 Horney, Karen 179, 180, 199 Hsü, Elisabeth 1 Hubley, Penelope 132 Huizinga, Johan 377–379 Hume, David 60 Hüther, Gerald 89, 270–272, 278, 292, 343, 344 Hutter, Claus-Peter 395 Hyssälä, Liisa 91, 92 I Ihle, Wolfgang 275 Inhelder, Bärbel 12 Isler, Gotthilf 373 J Jacoby, Russell 58, 162, 177 Jaeggi, Eva 210 Jagmetti-Fischer, Elvira 49 John, Oliver 62, 76, 107 Johnson, E. Jean 347 Jong, Erica 172 Jung, Carl Gustav 5, 36, 63, 97, 98, 198, 205, 231, 232, 359, 363, 407 Jüttemann, Gerd 2 Juul, Jesper 272 K Kächele, Horst 234, 399
101, 158, 183, 206, 214, 232,
Kahl, Ulrike 49 Kaiser, Helmut 400 Kalff, Dora 286 Kandel, Eric R. 268 Kann, Victor G. 49, 81 Kant, Immanuel 13, 404 Kaplan-Solms, Karen 268 Kaus, Otto 170, 171 Kenner, Clara 35, 169, 193 Kernberg, Otto F. 147, 148, 212, 287, 399 Kernberg, Paulina F. 287 Keupp, Heiner 176 Kind, Jürgen 129 King, Russel A. 88, 94 Klein, Melanie 182–184, 186, 189, 199, 206 Kleinert, Jens 146 Kleist, Heinrich von 360, 361, 389 Kluge, Friedrich 375 Klüwer, Rolf 119 Kohut, Heinz 148, 191–193, 198, 232, 270 Kokkou, Michael 267 Köller, Wilhelm 12, 207, 394, 404 König, Karl 196 Kornadt, Hans-Joachim 163 Kraft, Hartmut 5, 6 Kral, Gerald 228 Kranke, Derrick 91 Krappmann, Lothar 176 Krause, Burkhardt 389 Krens, Inge 271 Krieger, David J. 206, 356 Kriz, Jürgen 212 Kropiunigg, Ulrich 307 Kruse, Stefan 199 Krutzenbichler, H. Sebastian 205 Kuballa, Wolfgang 28 Küchenhoff, Joachim 118 Kuhn, Thomas S. 241 Künkel, Fritz 170, 171, 323 Künkel, Ruth 168, 169 Kutter, Peter 24, 157, 158, 160, 163, 206, 207, 213, 239 Kyprianou, Markos 93 L Lachmann, Frank M. 106 Lamer, Jürgen 311 Lämmert, Eberhard 408 Landt-Hayen, Levke 346 Lang, Hans Jürgen 50, 163, 356 Langer, Vivien 214
Namensverzeichnis
Lattmann, Urs P. 49 Lauer, Gerhard 14 Leary, Mark R. 89 Lehmann, Albrecht 409 Lehmkuhl, Gerd 62, 97, 163, 166, 169, 200, 225, 242, 267, 271, 272, 302–304, 324, 331, 400 Lehmkuhl, Ulrike 62, 97, 163, 166, 169, 200, 225, 242, 267, 271, 272, 302–304, 324, 331, 400 Lehndorfer, Peter 301, 302 Leixnering, Werner 277, 303, 305 Leuzinger-Bohleber, Marianne 267 Lewis, Matthew Gregory 16, 193, 347 Lidz, Theodore 176 Lindgren, Henry Clay 346 Löchel, Elfriede 239, 407 Löffler, Ulrich 14 Lohmer, Mathias 333 Lorenzer, Alfred 119, 126 Löw, Reinhard 414 Löwy, Ida 343 Luhmann, Niklas 386, 387 Luria, Aleksandr 280, 310 Lüthi, Max 368, 372, 373 Lütz, Manfred 353 Lyotard, Jean François 212 M Mahrer, Alvin M. 47 Malcolm, Janet 64 Mann, David 186, 206 Mann, Heinrich 365, 367 Maroda, Karen 194, 195 Matschiner-Zollner, Margot 48, 161, 162, 196, 214, 242, 337 Mayer, Arno 28 McMahon, H. George 348 Mead, George Herbert 177, 379 Meise, Ullrich 88, 93, 95 Meltzer, Donald 233, 234 Mentzos, Stavros 73, 142–146, 148, 149, 163, 307, 309–313 Mergel-Hölz, Hildegard 348 Merian, Svende 172 Mertens, Wolfgang 234, 267 Meyer, Silke 389 Meyer-Landrut, Ehrengard 389 Milgram, Stanley 412 Miller, Alice 342
479
Mitchell, Stephen A. 190, 193–195, 197, 198, 207, 209, 211, 212, 214, 244, 356 Mitscherlich, Alexander 200 Moeller, Michael Lukas 173 Mogel, Hans 378 Mohrbach, Werner 97 Monod, Jacques 394 Morgenthaler, Fritz 115 Mosak, Harold H. 47, 48, 102 Moser, Tilmann 23, 45, 243, 315 Motto, Rocco L. 336 Müller, Ingo Wilhelm 1 Müller, Klaus E. 4–6, 10, 189, 208, 400 Müller, Thomas 24, 158, 160, 163, 206, 207, 213, 239 Müller-Ebeling, Claudia 5 Müller-Pozzi, Heinz 138, 158, 163 Munthe, Axel 37 N Neisser, Ulric 271 Nestroy, Johann 237, 265 Neuner, Michael 146 Nicolay, Lucien 97 Nietzsche, Friedrich 236 Noda, Shunsaku 324, 356 Norman, Donald 271 Novalis 18–20, 407 Nunberg, Hermann 160, 161 O Obama, Barack 381–384, 392 Oberhoff, Bernd 133 Ogden, Thomas H. 133, 224 Orange, Donna M. 190, 194, 195 Ornstein, Anna 87 Ornstein, Paul H. 87 P Paisley, Pamela 348 Parin, Paul 146 Parzer, Peter 90 Paul, Jean 18, 204 Pawlowsky, Gerhard 191 Penning, Petra 97, 198 Pervin, Lawrence A. 76 Petzold, Hilarion 101, 190 Peuckert, Will-Erich 12 Pfäfflin, Friedemann 101
480
Namensverzeichnis
Pflichthofer, Diana 190 Piaget, Jean 12, 131, 394 Pietzko, Albert 353 Piewitz, Arne 172 Platon 2, 3, 58 Plessner, Helmut 380 Pohlen, Manfred 399 Polanczyk, Guilherme 275 Polke-Majewski, Karsten 389 Pontalis, Jean-Bertrand 73 Popper, Karl Raimund 401 Powers, Robert L. 47 Prandstetter, Joachim 161 Prantl, Heribert 389 Presslich-Titscher, Eva 44, 48, 70, 73, 75, 242 Prisching, Manfred 383 Pritz, Alfred 101, 146 Prothmann, Leo 353 Putz-Meinhardt, Edeltraud 200 Q Quinodoz, Danielle
117
R Raab, Gerhard 146 Rabenstein, Susanne 270 Rad, Michael von 309 Raeithl, Gert 383 Raguse, Hartmut 118 Rahm, Dorothea 190 Rattner, Joseph 31, 63, 314, 321, 325, 357 Rauber, Lisa 49, 50, 353 Reboly, Katharina 146 Reichert, Klaus 389 Reinelt, Toni 279, 282, 287 Reinert, Thomas 249, 326, 327 Reiter, Ludwig 403, 404 Rella, Franco 231 Resch, Franz 49, 89, 90, 228, 271, 279, 280, 303, 304 Reynolds, Jill 275 Riedhammer, Christian 49 Rieken, Bernd 1, 2, 16, 20, 23, 26, 48, 53, 55, 57, 62, 63, 91, 92, 104, 111, 157, 162, 163, 175, 177, 181, 185, 187, 203, 204, 206, 212, 214, 215, 231, 232, 236, 242, 262, 263, 315, 359, 363, 368, 371–373, 375, 377–379, 381, 393–396, 399, 400, 403, 407, 409, 411, 414, 417 Ringel, Erwin 48, 237, 242, 307, 309, 323, 342
Ritter, Joachim 1, 2, 14, 55, 60, 389 Rizzolatti, Giacomo 270 Rohde-Dachser, Christa 147, 200, 201 Röhrich, Lutz 56, 159 Rosenkötter, Lutz 400 Rössler, Wulf 91 Roth, Gerhard 83, 95, 267, 268, 271, 394 Roth, Kornelius 146 Roudinesco, Elisabeth 73 Rousseau, Jean-Jacques 338 Rudolf, Gerd 308, 309 Rüedi, Jürg 31, 49, 337, 343 Ruff, Margarethe 10 Rühle-Gerstel, Alice 166, 169, 323, 331 Rutz, Wolfgang 88, 93, 95 S Santiago-Valles, William F. 167 Sasse, Heiner 62, 129 Sassenfeld, André J. 192 Sauer-Schiffer, Ursula 350 Schachter, Joseph 138 Schäfer, Johanna 200 Schapp, Wilhelm 62 Scharmer, Franz 336 Schiemann, Gregor 61 Schimmer, Leopold 368, 388 Schlesier, Renate 200 Schlösser, Anne-Marie 72, 354 Schmidbauer, Manfred 271 Schmidbauer, Wolfgang 1, 20, 172 Schmidt, Rainer 53, 70, 97, 180, 233, 267, 269, 307–311, 313, 327, 330–332, 334 Schnitzler, Arthur 231 Schönborn, Christoph 414 Schönpflug, Wolfgang 18 Schore, Allan N. 127 Schott, Heinz 13, 24, 411 Schreiber, Barbara 119 Schuch, Bibiane 49, 279, 282, 287 Schülein, Johannes August 84, 190 Schulte-Markwort, Michael 228, 279, 303, 304 Schulz, Gerhard 13, 365 Schulze, Gerhard 19, 200, 315 Searle, John R. 62 Sebestyén, György 27 Sechehaye, Marguerite 315–317 Seelmann, Kurt 336 Seidel, Ulrich 327, 330 Selimović, Meša 263, 264 Semrau-Lininger, Claudia 312
Namensverzeichnis
Shakespeare, William 209, 363 Shanker, Stuart G. 110 Shelley, Mary 16, 88, 94 Shepherd, Cody 275 Shulman, Bernard H. 47, 48 Siebenhüner, Sabine 323 Siefert, Helmut 1 Sindelar, Brigitte 83, 87, 120, 165, 175, 221, 245, 267, 275, 278, 280, 335, 343, 345, 346, 349, 417 Sinigaglia, Corrado 270 Slater, Alan 338 Sloterdijk, Peter 133 Soldt, Philipp 72 Solms, Mark 268 Soltz, Vicki 337 Sonntag, Michael 2 Sonstegard, Manford A. 327, 328 Spaemann, Robert 62, 414 Sperber, Manès 31, 187 Sperry, Len 47, 48 Spiel, Oskar 48, 277, 323, 336 Spiel, Walter 48, 277, 323, 324, 338 Städele, Michalea 146 Stadler, Anne-Els 49, 50 Staiger, Emil 360 Steele, Miriam 110 Stein, Henry T. 328 Steiner, Beate 49 Steiner, Egbert 403 Steinhausen, Hans-Christoph 275 Stemberger, Gerhard 303 Stephan, Inge 185 Stephenson, Katharina 124 Stephenson, Thomas 31, 39, 40, 49, 51, 52, 64, 70–72, 83, 95, 101, 119, 126, 135, 161, 189, 197–199, 212, 214, 225, 241, 242, 249, 253, 335, 347, 353, 400 Stern, Daniel 106, 108, 190 Stern, Harold 80 Stockert, Marianne 276 Stoker, Bram 16 Stoller, Robert J. 146 Stolorov, Robert D. 190, 194 Stone, Leo 80 Strauß, Johann 237 Streeck, Ulrich 119, 127, 154, 223, 225, 400 Streeck-Fischer, Annette 225 Stückelberger, Alfred 3 Stuhr, Ulrich 70 Sullivan, Harry Stack 180 Suprina, Joffrey S. 173
481
Sutherland, John D. 195 Szejer, Myriam 133 T Tahmasebi, Abbas 49 Target, Mary 79, 106, 141, 192 Tenbrink, Dieter 329 Thiessen, Barbara 167 Thomä, Helmut 158, 183, 193, 206, 214, 232, 234, 404, 405 Thomas von Aquin 60 Titscher, Eva 228 Titscher, Georg 313 Titze, Michael 23, 57, 102, 179, 180, 187, 211, 321–323 Tölle, Rainer 13, 24, 396, 411 Tretter, Felix 272 Treusch-Dieter, Gerburg 2 Trevarthen, Colin 132, 133 Trunkenpolz, Kathrin 50 Tymister, Hans Josef 49 U Ude-Pestel, Anneliese 283 Uexküll, Thure von 308, 312 Unger, Torsten 14 Urbach, Reinhard 26 V Vaihinger, Antje 190 Vaihinger, Hans 25, 62, 64 Vietta, Silvio 13 Vinnai, Gerhard 412 Virchow, Rudolf 93 Voitl-Mikschi, Regine 50, 214, 224, 242 W Wachter, Carrie A. 347 Waddell, Charlotte 275, 342 Wahl, Pit 62, 73 Wallbraun, Swantje 390 Walpole, Horace 16 Walther, Gerrit 11 Ware, Robert C. 98, 369 Warsitz, Rolf-Peter 84, 396 Wasser, Harald 404 Watzlawick, Paul 179 Wedekind, Claus 160 Weitin, Thomas 384 Welter, Nicole 211
482
Wengler, Bernd 50 Westhoff, Kerstin 271, 272 Wexberg, Erwin 61, 102, 188, 211, 233, 234, 324, 413, 414 White, Joanna 277 White, Kristin 163 Wiegand, Ronald 97, 179, 325, 329, 355 Wilber, Ken 354 Wildt, Bert Theodor te 146 Wilhelm von Ockham 55 Willerscheidt, Jochen 348 Wininger, Michael 336, 337, 349 Winner, Dagmar 350 Winnicott, Donald W. 119, 122, 124, 163, 188, 189, 206, 224, 284 Witte, Karl-Heinz 97, 214, 242 Wittgenstein, Ludwig 55 Wolf, Maryanne 75, 126, 127
Namensverzeichnis
Wuketits, Franz M. 162 Wustmann, Corinna 90 Wyatt, Tristram D. 159 Y Yalom, Irvin D. 198, 325, 333 Yang, Julia 296, 300 Z Zanki, Malgorzata 146 Zaretsky, Eli 56, 231 Zehnpfennig, Barbara 385 Zimmer, Dieter E. 411 Ziomek-Daigle, Jolie 348 Zrenner, Kurt Maria 208 Zumer, Peter 97
Über die Autoren
Univ.-Prof. Dr. Dr. Bernd Rieken,
geb. 1955 in Ostfriesland, Professor für Psychotherapiewissenschaft (PTW) und Leiter der Abteilung Doktoratsstudium PTW an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (SFU), 2005 Habilitation mit einer Monografie zur Katastrophenforschung und Privatdozent für Europäische Ethnologie an der Universität Wien, 2005–2006 Vertretungsprofessur W 2 am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der LMU München, freiberuflicher Psychotherapeut und Lehrtherapeut für Individualpsychologie an der SFU, Leiter (gemeinsam mit Dorothea Oberegelsbacher) des Wahlpflichtfachs Individualpsychologie an der SFU. Dr. Brigitte Sindelar,
geb. 1952, klinische Psychologin, individualpsychologische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin für Individualpsychologie sowie Lehrende an der Sigmund Freud PrivatUniversität im Studiengang Psychotherapiewissenschaften, Oktober 2006 bis Mai 2008 Aufbau und Leitung der psychotherapeutischen Ambulanz für Kinder und Jugendliche an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, Leitung einer psychotherapeutischen Lehrpraxis in Wien. Univ.-Doz. Dr. Thomas Stephenson,
klinischer Psychologe und Psychotherapeut (Individualpsychologische Analyse); Dozent für Psychoanalytische Pädagogik und Sonder- und Heilpädagogik am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien; Assistenzprofessor an der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU) Wien (Doktoratsstudiengang Psychotherapiewissenschaft), Lehrtherapeut im Magister-Studium/Wahlpflichtfach Individualpsychologie an der SFU.